Die junge Mommsen Studentische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften

Bd. 2 Berlin, September 2020

www.junge-mommsen.de Vorwort

Das Verfassen von schriftlichen Hausarbeiten bildet zweifelsfrei den Kern der in geschichtswissen- schaftlichen Studiengängen geforderten Studienleistungen. Doch nicht zuletzt auch aus Mangel an Musterbeispielen herrscht gerade zu Studienbeginn oft eine große Unklarheit darüber, was eine gelungene Hausarbeit denn eigentlich ausmacht. Einerseits wird das Erlernen der dafür notwen- digen Kompetenzen auf diese Weise von vornherein erschwert, andererseits bleibt somit auch im weiteren Verlauf des Studiums der Lernprozess weitgehend auf die eigenen Arbeiten beschränkt und das Potenzial, aus den Leistungen und Fehlern der Kommiliton*innen zu lernen, in dieser Hin- sicht ungenutzt. Um den Einstieg ins Studium zu erleichtern und den Blick auf die im Studium ver- fassten Arbeiten der Kommiliton*innen zu weiten, ist innerhalb der Fachschaftsinitiative Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin die Idee gereift, hervorragende Hausarbeiten frei und online verfügbar zu machen. Als ein schöner Nebeneffekt erreichen auf diese Weise studentische Arbeiten ein größeres Lesepublikum, die eigentlich zu schade für die Schublade sind. Nicht zuletzt wird Stu- dent*innen damit die Möglichkeit geboten, erste Erfahrungen im wissenschaftlichen Publizieren zu machen. Aus diesem Gedanken ist im Frühjahr 2019 der eigenständige und gemeinnützige Verein Die junge Mommsen e. V. hervorgegangen, der für die gleichnamige, jährlich erscheinende studen- tische Zeitschrift die Herausgeberschaft innehat. Die Erstausgabe ist schließlich im Sommer 2019 als E-Zeitschrift mit Open-Access auf dem Edoc-Server der HU erschienen. Um die in die Erstaus- gabe geflossene Arbeitszeit auch haptisch erfahrbar zu machen, ist zusätzlich zu Beginn des Win- tersemesters 2019/2020 eine Printversion mit einer Auflage von 350 Ausgaben erschienen, die an die Erstsemestler*innen verteilt wurde. Zusammen mit über 1000 Downloads über den Edoc-Server kommt die Erstausgabe damit bisher auf eine Gesamtauflage von über 1350 (Stand August 2020). Vor diesem Hintergrund freuen wir uns sehr, nun im Sommer eines vielfach turbulenten Jahres 2020 den zweiten Band unserer Zeitschrift publizieren und dieses Projekt damit fortsetzen zu können.

Mit dem öffentlichen Call for Papers nahm der Arbeitsprozess für den zweiten Band bereits im Früh- jahr 2020 seinen Anfang. Student*innen der HU sendeten uns bis zum 16. Februar ihre beste Haus- oder Bachelorarbeit im Fach Geschichte aus dem Vorjahr ein und wir durften mit Freude feststellen, dass die Einsendungen noch zahlreicher waren als im letzten Jahr. Um ein faires Auswahlverfah- ren zu gewährleisten, wurden die Arbeiten von einem Redaktionsmitglied anonymisiert und unter den restlichen Mitgliedern der Redaktion zur Begutachtung aufgeteilt. Wir lasen und bewerteten die Arbeiten nach einheitlichen Kriterien, wobei die Originalität des Themas, die Lesbarkeit und die Stichhaltigkeit der Argumentation uns hierbei als Eckpfeiler dienten. Die schriftlichen Kurzgutach- ten und eine weiterführende Diskussion in unserer Redaktionssitzung führten schließlich zu unserer Entscheidung für sieben Arbeiten, die uns für den zweiten Band als publikationswürdig erscheinen. Nach dem Auswahlverfahren begann mit dem anschließenden Lektorat vor allem für die Autor*in- nen an diesem Punkt die eigentliche Arbeit. Gemeinsam mit jeweils einem Redaktionsmitglied ver- einheitlichten sie Zitierweise und Formalia und gaben ihrer Arbeit den letzten Feinschliff.

Obgleich wir ausschließlich studentische Arbeiten publizieren, möchten wir dem Anspruch einer wissenschaftlichen Zeitschrift gerecht werden und entschieden uns daher auch dieses Jahr wieder für eine einheitliche Zitierweise in der kompletten Ausgabe. Student*innen können durch den for- malen Aufbau der jungen Mommsen so vor allem eine Anregung bekommen, wie ein in sich ko- härentes Format auszusehen hat, denn dieser Anspruch wird auch an jede Hausarbeit gestellt. Für welche Zitierweise sich Student*innen jedoch letztlich bei ihren eigenen Arbeiten entscheiden, liegt aber natürlich in ihrem Ermessen und sollte zudem auch bestenfalls mit den jeweiligen Be- treuer*innen vorher abgesprochen werden. Die junge Mommsen soll, wie bereits oben erwähnt, vor allem dazu dienen, durch hervorragende Hausarbeiten positive Beispiele aufzuzeigen, welche den Student*innen eine methodische Orientierung beim Anfertigen ihrer eigenen Hausarbeiten bieten. Natürlich dienen die Arbeiten aufgrund ihrer Qualität auch als Informationsquellen, jedoch sollte jede*r von Fall zu Fall entscheiden, ob es angemessen ist, eine studentische Arbeit in einer eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu zitieren.

Zum Schluss möchten wir uns im Namen der Redaktion bei allen Beteiligten an diesem Projekt be- danken, deren tatkräftiges und ehrenamtliches Mitwirken das Erscheinen dieses zweiten Bandes er- möglicht hat. Zunächst möchten wir uns bedanken bei den Autor*innen, die über die Bereitstellung ihrer Arbeiten hinaus in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Redaktion ihre Arbeiten hinsicht- lich der formalen Anforderungen angepasst und teilweise auch mit einigen inhaltlichen Anpassun- gen zur finalen Version ausgearbeitet haben. Bedanken möchten wir uns auch bei den zahlreichen Einsender*innen derjenigen Arbeiten, die es leider nicht in den zweiten Band geschafft haben. Schließlich bei den Student*innen unserer Redaktion: Vielen Dank an Sahin Balur, Daniel Beschareti, Nils Exner, Paula Friedrich, Alisa Gadas, Angelina Michalak, Sören Rampf, Selma Schuches, Jasper Stange und Konstantinos Tsakmaklis für die eingehende Lektüre, Begutachtung und dem Lektorat der ausgewählten Arbeiten. Paul Diekmann sei dafür gedankt, dass er gleich in dreifacher Hinsicht am zweiten Band mitgewirkt hat, indem er die Anonymisierung der Arbeiten übernommen, eine eigene Arbeit eingereicht und zudem nach dem abgeschlossenen Auswahlprozess im Lektorat auch auf Redaktionsseite mitgewirkt hat. Ein besonderer Dank gilt Selma Schuches, die sich in mühsamer De- tailarbeit dem Layout gewidmet hat. Wir können uns nur wünschen, dass sich auch in den kommen- den Jahren Student*innen so zahlreich und tatkräftig für dieses Projekt ehrenamtlich engagieren!

Meriam Bendakir und Leon Blohm für die Redaktion Impressum

Die junge Mommsen, Band 2 Herausgegeben von „Die junge Mommsen e. V.“, Berlin im September 2020 Redaktion: Sahin Balur, Meriam Bendakir, Daniel Beschareti, Leon Blohm, Paul Diekmann, Nils Exner, Paula Friedrich, Alisa Gadas, Angelina Michalak, Sören Rampf, Selma Schuches, Jasper Stange, Konstantinos Tsakmaklis https://doi.org/10.18452/21953 www.junge-mommsen.de [email protected]

Die junge Mommsen e. V. Friedrichstraße 193 10117 Berlin Inhaltsverzeichnis

Johannes Schnelle ...... 6 „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ Cəmil Ağazadə und seine Orientrestaurants im Berlin der Zwischenkriegszeit.

Paul Diekmann ...... 34 Die Rolle des MFA in der portugiesischen Nelkenrevolution

Nico Geisen ...... 48 Das soziale Leben der Naturdinge Der Naturalienhandel im Rahmen der Dänisch-Halleschen Mission in Tranquebar (1767–1813)

Juliane Verena Sprick ...... 86 „Das weibliche Element“ Der Blick der Berliner Tagespresse auf die ersten Parlamentarierinnen

Malte Fischer ...... 114 Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren Eine Betrachtung der Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus in der Wohnsituation und der anhaltenden Stigmatisierung

Julius Rülke ...... 140 Die Deutsche Wochenschau im Dritten Reich Analysiert im Kontext der Niederlage vor Stalingrad am Beispiel der Deutschen Wochenschau Folge 648 vom 03.02.1943

Tabea Nasaroff ...... 150 Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung Chancen und Herausforderungen einer integrierten Erfahrungsgeschichte 6 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

„… und im Inneren empfängt einen der Ori- ent.“ Cəmil Ağazadə und seine Orientrestau- rants im Berlin der Zwischenkriegszeit. Johannes Schnelle

Humboldt-Universität zu Berlin

Diese Arbeit wurde ursprünglich im Rahmen eines Masterstudiums als Seminararbeit im Mastersemi- nar „Themen der Zentralasien-Forschung / Debatten der Zentralasien-Forschung. Kaukasien" einge- reicht.

Inhalt

Einleitung...... 6

1. Die geheimnisvolle Vergangenheit des Cəmil Ağazadə (1892–1926)...... 8 2. Kurze Geschichte zweier Restaurants. Das „Azerbajdžan“ und das „Schark“ (1926–1928)...... 12 3.1. Zwischen und Nationalsozialismus. Das „Orient“, die „Djamil-Bar“ und der große Erfolg (1929–1938)...... 15

3.2. Ağazadə im Fadenkreuz der Geheimen Staatspolizei (1938–1939) ...... 23 3.3. Exkurs: Josef „Ontschik“ Kimelmann und der Klang des „Orient“ ...... 26

4. Nachkriegszeit. Schließung des „Orient“ und Ağazadəs Tod (1945–1953)...... 29 Schluss ...... 30 Quellen- und Literaturverzeichnis...... 31

Einleitung

Im Berlin der Zwischenkriegszeit hielten sich schätzungsweise 1800 bis 3000 Muslime aus über 40 Ländern auf,1 darunter Araber, Afghanen, Inder, Perser, Türken und auch eine kleine Anzahl

1 David Motadel, Islamische Bürgerlichkeit. Das soziokulturelle Milieu der muslimischen Minderheit in Berlin 1918–1939, in: José Brunner/Shai Lavi (Hrsg.), Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Identität, Göttingen 2009, S. 103–121, hier S. 104. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 7

Aserbaidschaner.2 Schwerpunktmäßig wohnten sie in der Gegend um den Kurfürstendamm, der Vergnügungsmeile des Berliner Westens. Hier entstand ein Geflecht aus politischen und religiösen Vereinen, Studentenvereinigungen, Firmen, Cafés und Restaurants, das Gerdien Jonker treffend als „Little Orient“ 3 beschrieben hat.

Die Geschichtswissenschaft hat sich bis heute vor allem für die religiösen und politischen Dimen- sionen des muslimischen Berlins jener Zeit interessiert. 4 Paradigmatisch für diesen Ansatz steht der Titel eines Aufsatzes von Gerhard Höpp, der sich als erster intensiv mit der islamischen Ge- schichte Berlins und Brandenburgs befasst hat: „Zwischen Moschee und Demonstration“.5 Die Ge- schichte der Lokale und Unternehmen aber, die Teil der alltäglichen Lebenswelt des „Little Orient“ waren, in der Religion und Politik keine vordergründige Rolle spielten, ist darüber weitestgehend unerforscht geblieben. Dabei lassen sich gerade über eine Beschäftigung mit diesem Aspekt inte- ressante Rückschlüsse über die Kontexte ziehen, in denen sich muslimisches Leben im Berlin der Zwischenkriegszeit abspielte.

Die vorliegende Arbeit soll das nicht in umfassender Form tun, sondern lediglich ein Schlaglicht auf das alltägliche „Little Orient“ werfen. Sie ist dem rätselhaften Leben und den Restaurants des in Transkaukasien oder der iranischen Provinz Aserbaidschan geborenen Cəmil Ağazadə gewid- met. Seine Identität war Anfang der 30er Jahre im orientalischen Berlin ähnlich umstritten wie die des Schriftstellers Essad Bey.6 Sein 1929 gegründetes Restaurant „Orient“ avancierte in kurzer Zeit zum wohl populärsten orientalischen Restaurant Berlins der Zwischenkriegszeit. Wer war dieser Ağazadə? Was ist die Geschichte seiner Restaurants? Welchen Orient gab es hier? Welche Aus-

2 Die 1920 in Berlin gegründete „Aserbeidschanische Kolonie“ hatte anfänglich 150 Mitglieder, die ver- mutlich alle aus Kaukasien stammten, siehe Hilal Munschi, Wer ist der Verfasser des Buches „Oel und Blut im Orient“? Eine unglaubliche Mystifikation, in: Berliner Tribüne, 1. Februar 1930. Bis Ende der 20er Jahre fiel ihre Zahl wahrscheinlich in den zweistelligen Bereich. Für die Zwischenkriegszeit ist auch die Anwe- senheit von iranischen Aserbaidschanern in der deutschen Hauptstadt bezeugt, genaue Zahlen fehlen aber. 3 Gerdien Jonker, The Ahmadiyya Quest for Religious Progress. Missionizing Europe 1900–1965, Leiden/ Boston 2016, S. 87. 4 Hier seien nur einige Arbeiten der mittlerweile recht umfangreichen Forschung genannt: Ernst Bau- knecht, Muslime in Deutschland von 1920 bis 1945, Köln 2001. Gerhard Höpp, Zwischen Moschee und Demonstration. Muslime in Berlin, 1922–1930, in: Moslemische Revue 3 (1990), S. 135–146 und 4 (1991), S. 230–238; ders., Arabische und islamische Periodika in Berlin und Brandenburg. 1915 bis 1945. Ge- schichtlicher Abriss und Bibliographie, Berlin 1994; ders., Die Wünsdorfer Moschee: Eine Episode islami- schen Lebens in Deutschland, 1915–1930, in: Die Welt des Islams Bd. 36, H. 2 (1996), S. 204–218; Jonker, The Ahmadiyya Quest for Religious Progress; Motadel, Islamische Bürgerlichkeit. 5 Höpp, Zwischen Moschee und Demonstration. 6 Zur Biographie Essad Beys vgl. Gerhard Höpp, Mohammed Essad Bey. Orient nur für Europäer?, in: asien afrika lateinamerika Bd. 25 Nr. 1 (1997), S. 75–97; Tom Reiss, The Orientalist. In Search of a Man Caught between the East and the West, London 2006; Sebastian Januszewski, Essad Bey in Berlin (1921–1933), Berlin 2017. 8 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

wirkung hatte die Machtübernahme der Nationalsozialisten? Und was können uns sein Leben und seine Restaurants über die Lebenswelt der Berliner Muslime jener Zeit verraten?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, sind sowohl Aktenbestände verschiedener in Berlin und Brandenburg angesiedelter Archive,7 als auch eine Reihe von zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften ausgewertet worden. Für die freundliche Unterstützung bei der Recherche sei an dieser Stelle Martin Luchterhandt und Bianca Welzing-Bräutigam vom Landesarchiv Berlin und Frank Schmidt vom Brandenburgischen Landeshauptarchiv gedankt. Ein besonderer Dank geht an Salavat Ischakov, der – wenn auch erfolglos – in Moskau versuchte, Licht in die dunkle Vergan- genheit Ağazadəs zu bringen.

Zuletzt noch einige technische Anmerkungen: aserbaidschanische Namen werden im Text im modernen aserbaidschanischen Lateinalphabet wiedergegeben, russische, so sie nicht in einge- deutschter Form gebräuchlich waren, nach DIN transliteriert. Da die iranische Botschaft bis Mitte der 30er-Jahre die Bezeichnung „persische Gesandtschaft“ trug, findet diese Bezeichnung entspre- chend Verwendung.

1. Die geheimnisvolle Vergangenheit des Cəmil Ağazadə (1892– 1926)

Wer war Cəmil Ağazadə, der Besitzer des Charlottenburger „Orient“-Restaurants, wirklich? Was war seine Geschichte? Über diese Fragen kursierten zu Beginn der 30er Jahre in den orientalischen Emigrantenkreisen Berlins wilde Gerüchte. Die Wochenzeitung Berliner Tribüne griff diese auf und brachte sie in ihrer Ausgabe vom 29. März 1932 unter der Überschrift „Orientalisches Tscheka-Rät- sel via U-Bahn Uhlandstraße“ auch einem deutschen Lesepublikum zur Kenntnis.8 Ağazadə wurde hier vorgeworfen, unlautere Beziehungen sowohl zum sowjetischen Geheimdienst als auch zur persischen Gesandtschaft zu unterhalten. Damit verbunden war die Behauptung, er habe seinen tatsächlichen Lebenslauf verschleiert, über den man in der Redaktion der Berliner Tribüne sehr gut Bescheid zu wissen schien. So sei Ağazadə im Gegensatz zu seinen eigenen Angaben gar „kein Perser“, auch wenn „er sich im Besitze eines persischen Passes und angeblich auch der persischen Staatsangehörigkeit“9 befinde. Er stamme vielmehr „aus einer kleinen russischen Provinzstadt im

7 Nämlich (in alphabetischer Reihenfolge): Bauamt Charlottenburg-Wilmersdorf, Brandenburgisches Lan- deshauptarchiv Potsdam, Bundesarchiv Berlin, Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) Berlin, Landesarchiv Berlin. 8 Orientalisches Tscheka-Rätsel via U-Bahn Uhlandstraße, in: Berliner Tribüne, 29. März 1932. 9 Ebd. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 9

südöstlichen Winkel Transkaukasiens.“10 Nachdem er sich dort in verschiedenen Berufen betätigt habe, sei er im Zuge der Oktoberrevolution nach Moskau gelangt und habe dort ein orientalisches Restaurant eröffnet, das vor allem kommunistische Politiker aus den muslimischen Sowjetrepub- liken frequentiert hätten. Vermutlich habe er schon zu diesem Zeitpunkt im Dienste der Tscheka gestanden. Immerhin sei das unter Restaurantbesitzern wie Ağazadə damals so üblich gewesen. Erst in Moskau habe er sich einen persischen Pass beschafft – und das, ohne jemals selbst in dem Land gewesen zu sein. Dies, zusammen mit dem Umstand, dass er nach einem gescheiterten Res- taurantprojekt in Berlin als Koch in der sowjetischen Handelsvertretung gearbeitet und sich schon nach einigen Monaten im Besitz „erheblicher Geldmittel“11 befunden habe, die ihm die Eröffnung seines jetzigen Restaurants erlaubten, hätte den Verdacht der orientalischen Emigranten erregt. Ağazadəs „Orient“-Restaurant, so schloss der Artikel, gehöre jedenfalls „zu den mysteriösesten und aufklärungsbedürftigsten Kapiteln des westlichen Berliner Vergnügungslebens!“12

Schon in der folgenden Ausgabe wurde dem Beschuldigten Platz für eine umfangreiche Replik eingeräumt und das „Tscheka-Rätsel“ gleich in der Überschrift für gelöst erklärt.13 Ağazadə bestä- tigte hier einige Angaben zu seiner Biographie aus dem Artikel der Vorwoche, beteuerte aber, „von Geburt aus Perser“14 zu sein und nie die russische Staatsbürgerschaft besessen zu haben. Zwar habe er bis 1926 tatsächlich ein orientalisches Lokal in Moskau betrieben und auch 10 Mo- nate als Küchenchef in der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin gearbeitet, das Geld für sein „Orient“-Restaurant sei aber von einem deutschen Geldgeber gekommen. Jegliche Verbindung zur Tscheka oder sonstige politische Betätigung stritt er ab.

Wahrscheinlich war an dem Vorwurf, Ağazadə stehe mit dem sowjetischen Geheimdienst im Bun- de, auch tatsächlich wenig dran. Konkrete Hinweise für eine Zusammenarbeit schienen jedenfalls nicht vorzuliegen. Auch der verantwortliche Redakteur der Berliner Tribüne sprach im Anschluss an die Gegenrede Ağazadəs nur noch von „Gerüchten und Vermutungen“, die „in gewissen orien- talischen Kreisen Berlins“ umgingen und jetzt eine „einwandfreie Aufklärung“ erfahren hätten.15 Die Angst vor der unsichtbaren Hand Moskaus war zu Beginn der 30er-Jahre gerade unter den anti-bolschewistisch eingestellten Emigranten aus der Sowjetunion allgegenwärtig.16 Erfolgrei- che und mitunter tödliche Operationen des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes in der europäi-

10 Orientalisches Tscheka-Rätsel via U-Bahn Uhlandstraße, in: Berliner Tribüne, 29. März 1932. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Das gelöste „Tscheka“-Rätsel via Bahnhof Uhlandstraße, in: Berliner Tribüne, 5. April 1932. 14 Ebd. 15 Alle Zitate ebd. 16 Literarische Bearbeitung fand das Motiv permanenter Angst vor sowjetischen Spionen innerhalb der russischen Emigration Berlins im Thriller Petersburg am Wittenbergplatz von 1931, vgl. R. G Batalin, Pe- tersburg am Wittenbergplatz, Detmold 1931. 10 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

schen Emigration und die sensationellen Enthüllungen über dessen Organisation und Netzwer- ke durch den 1930 nach Paris geflohenen Top-Agenten Agabekov hatten mit dazu beigetragen, das Bedrohungsgefühl unter ihnen auf einen Höhepunkt zu bringen und ein Klima permanenten Misstrauens zu erzeugen.17 So genügten oft schon kleinere Verdachtsmomente als Anlass für De- nunziationen, wie sie Ağazadə hier erfuhr. Was aber ist mit der Frage nach seiner Herkunft? Die Berliner Tribüne sah ihre biographische Skizze merkwürdigerweise durch Ağazadəs Stellungnah- me „im wesentlichen“ 18 bestätigt, obwohl er doch auch hier widersprochen hatte.

Eine Aufenthaltsanzeige vom Ende der dreißiger Jahre, die sich in den Unterlagen der Potsdamer Staatspolizeistelle erhalten hat, untermauert seine Erzählung, offenbart aber auch eine Verbin- dung nach Kaukasien.19 Dem Dokument zufolge war Ağazadə tatsächlich im Iran geboren, näm- lich am 12. Januar 1892 in Täbris, dem urbanen Zentrum der im Norden des Landes lebenden Aserbaidschaner. Europäische Reisende des 19. Jahrhunderts waren überrascht, auf den Straßen und Basaren einer der bedeutendsten iranischen Städte ausschließlich Aserbaidschanisch – von ihnen als „Turki“ oder „Türkisch“ bezeichnet – zu hören und kaum einen Perser innerhalb der Stadt- mauern zu finden.20 Laut Aufenthaltsanzeige hatte Ağazadə anschließend in der Türkei und dann in Kaukasien gelebt, bevor er zum Jahresende 1926 in Berlin eintraf. Als seine Heimatgemeinde ist hier nicht etwa Täbris vermerkt, sondern die beiden in Karabach gelegenen Städte Schuscha und Tərtər. Auch zu seiner beruflichen Biographie findet sich eine Angabe: vor seiner Karriere als Schankwirt sei er Gutsbesitzer gewesen.

Nimmt man Täbris als Geburtsort an, so ist davon auszugehen, dass er zur aserbaidschanischen Bevölkerung der Stadt gehörte. Der Umstand, dass Ağazadə sich in den 30er Jahren öffentlich als Perser bezeichnete, steht dazu nur auf den ersten Blick im Widerspruch. Einmal deshalb, weil der Bezeichnung „Perser“ und dem davon abgeleiteten Adjektiv „persisch“ im deutschen Sprachge- brauch der Zeit nicht nur eine ethnische, sondern vor allem eine politische Bedeutung zukam. Bis der iranische Schah Reza Pahlavi 1935 die persischsprachige Eigenbezeichnung „Iran“ auf inter-

17 Der 1896 in Aşgabat geborene Georgij Agabekov hatte vor seiner Desertion hohe Posten im sowjeti- schen Auslandsgeheimdienst OGPU bekleidet. Seine zwei zu Beginn der 30er Jahre in Berlin auf Russisch veröffentlichten Enthüllungsbücher schreckten nicht nur die Emigranten, sondern auch eine Reihe von Regierungen auf, die daraufhin in ihren Ländern einen Teil der sowjetischen Spionagenetzwerke aus- heben konnten, vgl. G. S. Agabekov, Č. K. za rabotoj, Berlin 1931, S. 5. 18 Das gelöste „Tscheka“-Rätsel via Bahnhof Uhlandstraße. 19 Brandenburgisches Landeshauptarchiv (fortan BLHA) Rep. 35A Staatspolizeistelle Potsdam – Aufent- haltsgenehmigungen, Buchstabe A, Agasade, Djamil, Ausländerformblatt. 20 Vgl. z. B. den Reisebericht der britischen Diplomatengattin Mary Sheil aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und den des ebenfalls britischen Journalisten Walter Harris vom Ende des 19. Jahrhunderts: Mary L. Sheil, Glimpses of Life and Manners in Persia with Notes on Russia, Koords, Toorkomans, Nestorians, Kh- iva and Persia, London 1856, S. 93; Walter B. Harris, From Batum to Baghdad via Tiflis, Tabriz, and Persian Kurdistan, Edinburgh 1896, S. 98. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 11

nationaler Ebene einführte, war „Persien“ der offiziell gebräuchliche Landesname. Und Perser war somit, wer sich im Besitz eines entsprechenden Passes befand, ungeachtet ethnischer Zusammen- hänge. Hinzu kommt, dass eine distinktive Identität unter den Aserbaidschanern Irans noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kaum eine Rolle spielte. So war es unter iranisch-aserbai- dschanischen Intellektuellen der Zeit durchaus üblich, sich mit ihrem Heimatland zu identifizieren, ja es gab unter ihnen nicht wenige, die sogar aktiv für eine Persifizierung der Aserbaidschaner und anderer ethnischer Minderheiten des Landes eintraten.21 Das war ganz im Sinne der assimilato- rischen Nationalitätenpolitik Reza Pahlavis, die ab den 20er Jahren auf die Konsolidierung eines iranischen Staatsnationalismus im Sinne einer spezifisch persischen Identität hinarbeitete.22 Vor diesem Hintergrund hätte sich ein abweichendes Identitätsbekenntnis Ağazadəs möglicherweise auch nachteilig auf seine exzellenten Beziehungen zur persischen Gesandtschaft in Berlin aus- gewirkt.

Letzte Zweifel an der offiziellen Version zur Herkunft Ağazadəs lassen sich nicht ausräumen. Im- merhin unterhielt die Berliner Tribüne exzellente Kontakte zu orientalischen Emigranten in Berlin – darunter auch der führende Vertreter der Aserbeidschanischen Kolonie Hilal Münşi –, und diese konnten aus guten Gründen zum Schluss gekommen sein, dass dessen Geschichte nicht stimmte. Sei es, weil sie ihn von früher kannten, sei es, weil er anhand bestimmter Auffälligkeiten wie zum Beispiel seinem Dialekt einer bestimmten Gegend oder Bevölkerungsgruppe zugeordnet werden konnte. Der ursprüngliche Artikel schien auf konkreten und detaillierten Angaben zu beruhen, die sich schon deshalb nicht so leicht von der Hand weisen lassen, weil sie von Ağazadə selbst zu- mindest teilweise bestätigt wurden. Im Berlin der Zeit lassen sich jedenfalls auch andere kaukasi- sche Aserbaidschaner nachweisen, die sich nach dem Sturz der kurzlebigen Aserbaidschanischen Republik (1918–1920) durch die Bolschewiki und der anschließenden Sowjetisierung Aserbaid- schans einen iranischen Pass besorgt hatten.23

Keine Zweifel bestehen aber darüber, dass Ağazadə vor seiner Ankunft in Berlin tatsächlich we- nigstens einen Teil seines Lebens in Transkaukasien verbracht und bereits in Moskau ein orienta- lisches Restaurant betrieben hatte. Erfahrungen, die für seine orientalischen Restaurants in Berlin eine zentrale Rolle spielen sollten.

21 Vgl. Brenda Shaffer, Borders and Brethren. Iran and the Challenge of Azerbaijani Identity, 2002 Cam- bridge (Massachusetts), S. 39–43 und 50–53. 22 Ebd., S. 47–49. 23 Das betraf z. B. den Unternehmer Xudadat bəy Hacıhəsənski, mit dem Ağazadə in Berlin eng zusammen- arbeitete (vgl. hierzu folgendes Kapitel). 12 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

2. Kurze Geschichte zweier Restaurants. Das „Azerbajdžan“24 und das „Schark“ (1926–1928)

Warum Ağazadə sein Moskauer Restaurant im Jahr 1926 geschlossen hatte, warum er sich dann entschied, ausgerechnet nach Berlin überzusiedeln, ließ sich nicht ermitteln. Seit Mitte Dezember 1926 war er als Bewohner des Berliner Parkhotels am Zoo registriert,25 im Februar 1927 folgte ihm hierhin auch seine russischstämmige Frau Elizaveta mit ihrer gemeinsamen Tochter Nelly.26

Abb. 1 u. 2: Passfotos von Elizaveta und Nelly Ağazadə aus den Beständen der Staatspolizeistelle Potsdam. Aufnahme- datum: vermutlich zweite Hälfte der 30er Jahre. Quelle: BLHA Rep. 35A Staatspolizeistelle Potsdam – Aufenthaltsge- nehmigungen, Buchstabe A, Agasade, Elisabeth u. Agasade, Nelly.

Zu diesem Zeitpunkt steckten Ağazadə und sein Geschäftspartner, der aserbaidschanische Unter- nehmer Xudadat bəy Hacıhəsənski,27 bereits mitten in den Vorbereitungen für die Eröffnung ihres

24 Hier wird der Name des Lokals in russischer Transliteration wiedergegeben, da sich keine eindeutige deutsche Schreibweise finden ließ. In den zahlreichen Annoncen in der russischsprachigen Berliner Ta- geszeitung Rul‘ wird der Name stets in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Möglicherweise war dies auch auf dem Restaurantschild der Fall. 25 Vgl. BLHA Rep. 35A Staatspolizeistelle Potsdam – Aufenthaltsgenehmigungen, Buchstabe A, Agasade, Djamil. 26 Elizaveta Ağazadə wurde laut Aufenthaltsanzeige am 16. Oktober 1900 als Elizaveta Bogdanova in Täbris geboren, Nelly Ağazadə am 1. Mai 1918 in Schmiser, vgl. ebd., Agasade, Elisabeth und Agasade, Nelly. Die Bezeichnung des Geburtsortes von Nelly ist wahrscheinlich fehlerhaft. Eine Suche mit mehreren lateinischen, arabischen und kyrillischen Schreibweisen ergab bei einer google-Suche, deren Algorith- mus ja stets auch abweichende Schreibweisen einbezieht, keine Treffer. Vermutlich handelt es sich bei „Schmiser“ um eine Verballhornung von Schuscha in Karabach, wo Ağazadə nachweislich gelebt hat. 27 Xudadat bəy Hacıhəsənski (ab 1934 Mum), geb. um die Jahreswende 1887/88 in Qusili (Karabach), floh nach der bolschewistischen Machtübernahme in Aserbaidschan als wohlhabender Unternehmer aus Baku. Er erreichte Berlin im März 1921 und gründete hier eine Reihe von Firmen, u. a. 1921 das „Persische Handelshau M. S. Alieff und Kh. Gadjigasansky“ in der Lutherstr. 10 und 1928 die „Pension Tempo“ (ab „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 13

ersten Restaurants: das „Azerbajdžan“ in der Uhlandstraße 20–21. Als diese am Abend des 15. März 1927 feierlich stattfand, war das ein Ereignis im orientalischen Berlin. Die russischsprachige Ber- liner Tageszeitung Rul‘ teilte ihren Lesern in einer kleinen Notiz mit, dass u. a. Vertreter des türki- schen Konsulats und der persischen Gesandtschaft, zahlreiche Mitglieder der georgischen und ägyptischen Kolonien sowie angesehene Personen aus der deutschen Gesellschaft sich zu diesem Anlass die Ehre gegeben hatten.28 Die authentische orientalische Küche habe, so hieß es weiter, schon in den ersten Tagen die Sympathien des Publikums gewonnen. Aus den regelmäßig er- schienenen Annoncen in der Rul‘ sind wir über die Speisekarte des „Azerbajdžan“ gut informiert.29 Sie bot eine bunte Mischung aus vor allem kaukasischen, persischen und russischen Gerichten, aber auch Eigenkreationen, wie die Eisspezialität „Plombir à la Aserbaidschan“. Dazu wurden „bes- te Weine und Biere“ serviert. Mittags ab halb eins konnte man hier für wenig Geld drei- bis fünf- gängige Menüs bestellen, ab fünf Uhr nachmittags à la carte. Dann trat auch die kleine Kapelle von Naumčik Kavkazskij – dem 1890 in Kiew geborenen jüdischen Geigers Naum Nodelmann30 – auf, die bei Gelegenheit den Gästen mit kaukasischen Tänzen einheizte. Trotz des erfolgreichen Auf- takts liefen die Geschäfte aber schon bald schlecht. Zwar avancierte das Lokal zu einem Treffpunkt der Transkaukasier in Berlin.31 Auch nahm das literarische Berlin Notiz, wie ein Brief Ernst Tollers vom 28. April 1927 beweist, in dem er seinem Schriftstellerkollegen Alfred Kerr das „Azerbajdžan“ – „ein kleines, bescheidenes Restaurant“, „herrliche türkische, persische und russische Gerichte“ – wärmstens empfahl.32 Die große Kundschaft blieb jedoch aus. Als in der Rul‘ vom 29. Mai des Jahres das letzte Mal eine Annonce des Restaurants erschien, war Hacıhəsənski, der bis dahin als Direktor fungiert hatte, bereits ausgeschieden. Kurze Zeit später gab es das „Azerbajdžan“ nicht mehr.

Abb. 3: Werbung für die Abendveranstaltung „In den Bergen Kaukasiens“ im „Azerbajdžan“, aus: Rul‘, 22. Mai 1927.

1935 „Hotel Tempo“) am Kurfürstendamm 59/60. Er starb 1953 in Berlin und wurde auf dem Türkischen Friedhof beigesetzt. 28 Storonnie soobščenija, in: Rul‘, 20. März 1927, S. 8. 29 Vgl. z. B. ebd.; Annonce, in: Rul‘, 3. April 1927, S. 12. 30 Vgl. Art. „Naum Nodelmann“, in: Lexikon verfolgter Musiker und MusikerInnen der NS-Zeit, Link: https:// www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002103, abgerufen am 05.07.2019. 31 Orientalisches Tscheka-Rätsel via U-Bahn Uhlandstraße, in: Berliner Tribüne, 29. März 1932. 32 Alle Zitate Stefan Neuhaus u. a. (Hrsg.), Ernst Toller. Briefe. 1915–1939, Göttingen 2018, S. 616. 14 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

Am 14. August eröffnete Ağazadə das Restaurant aber erneut, diesmal unter dem Namen „Schark“. Schon die Namenswahl ließ darauf schließen, dass nunmehr ein größerer Personenkreis angespro- chen werden sollte, bezeichnet dieses ursprünglich aus dem Arabischen (arab. šarq) stammende und in vielen orientalischen Sprachen gebräuchliche Wort doch den Osten, den Orient als Ganzes. Dieser Anspruch wird auch aus der Werbung deutlich, die Ağazadə neben der Rul‘ auch in der rus- sischsprachigen Zeitschrift Russkij Berlin und in Der Islamische Student, dem gemeinsamen Organ der muslimisch-akademischen Vereinigung „Islamia“ und der arabischen Studentenvereinigung „El Arabiya“, schaltete. So hieß es zum Beispiel in einer Annonce in der Russkij Berlin: „Von Russland bis Armenien/vom Kaukasus bis Persien/von der Türkei bis Arabien/von Ägypten bis Indien. Wo trifft sich der ganze Orient in Berlin? Im Restaurant Schark“33. Auch in Der Islamische Student wurde das Restaurant als „Sammelpunkt der Araber u. Orientalen Berlins“34 beworben. Dass Kaukasien weiterhin aber der wichtigste Bezugspunkt für das Restaurant blieb, wird nicht zuletzt aus der Illustration deutlich, die diesen Werbesprüchen beigegeben wurde (Abb. 4). Sie zeigt keines der klassischen, damals in Deutschland verbreiteten Orientmotive, sondern ein Bild aus der russischen Vorstellungswelt vom Orient:35 eine alpine Landschaft, den Kaukasus. Im Vordergrund eine Berg- wiese, auf der Steine so angeordnet sind, dass sie den Namen des Restaurants ergeben, daran anschließend mit Nadelbäume bestandene Hänge und eine schroffe Hochgebirgskette, über der eine Sonne aufgeht, in der noch einmal mit arabischen Buchstaben der Name des Restaurants auftaucht.

Doch auch dem „Schark“ war keine lange Lebensdauer beschieden. Daran konnten selbst die Ver- pflichtung des populären russischen Sängers und Kabarettisten Grinevskij im Oktober und Ra- battaktionen für Künstler, Studenten und Abonnenten nichts ändern. Die letzte Annonce brachte die Rul‘ Anfang Dezember, um den Jahreswechsel 1927/28 war dann Schluss. Die ersten beiden Berliner Restaurants Ağazadəs waren nach weniger als einem Jahr schon wieder Geschichte. In den Bauakten des Hauses, in dem sie sich befunden hatten, erfahren wir vom wenig erfreulichen Nachspiel dieses Scheiterns. Anfang März 1928 suchte nämlich ein Beamter der Baupolizei das Restaurant auf und fand es verschlossen vor. Der Portier des Hauses gab zu Protokoll, dass eine Besichtigung der Räumlichkeiten unmöglich sei, da Ağazadə die Schlüssel nicht herausgebe. Es schwebe eine Räumungsklage.36

33 Vgl. Russkij Berlin 4 (1927). Übersetzung aus dem Russischen des Autors. 34 Vgl. Der Islamische Student 1 (1927). 35 Zum russischen Kaukasusbild vgl.: Eva-Maria Auch, Mythos Kaukasus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2006), S. 29–38. 36 LAch B Rep. 207 Nr. 551, Bl. 158. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 15

Abb. 4: Werbung für das „Schark“, aus: Der Islamische Student 1 (1927).

3.1. Zwischen Weimar und Nationalsozialismus. Das „Orient“, die „Djamil-Bar“ und der große Erfolg (1929–1938)

Nach seiner bereits erwähnten Anstellung als Küchenchef in der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin wagte Ağazadə einen dritten Versuch und eröffnete im Sommer 1929 das Restaurant „Ori- ent“. Die Anfänge waren im Gegensatz zum „Azerbajdžan“ deutlich bescheidener. Das kleine Lokal befand sich zu Beginn in der ersten Etage der Grolmanstraße 47, einem Backsteinbau direkt an ei- nem Stadtbahnbogen, über den in regelmäßigen Abständen die S-Bahn ratterte. Abends musste man die Kneipe im Erdgeschoss durchqueren, um überhaupt in die Gaststube zu kommen. Mit zu- nehmender Popularität wurde das „Orient“ aber schon Ende 1930 ein paar Meter näher Richtung Kurfürstendamm in die Grolmanstraße 39 verlegt. Aus einem Leserbrief an die Wochenzeitung Berliner Herold vom Januar 1932 geht hervor, dass anfangs auch die neuen Räumlichkeiten dem großen Andrang der Gäste nicht gerecht wurden: 16 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

Das kleine, nett eingerichtete Räumchen war immer zum Bersten voll, so daß viele oft keinen Platz mehr fanden und wieder gehen mußten. Der Betrieb wurde so stark, daß der Besitzer, ein Perser, das Lokal im Spätherbst [1931] erheblich vergrößerte.37

Zwei Wochen später erschien in derselben Zeitung eine wohlwollende Kritik des Restaurants, der wir Einzelheiten über dessen Aufmachung entnehmen können:

Von außen grüßt einem [sic] ein Halbmond und im Inneren empfängt einen der Orient. Ein liebenswürdiger Perser Agasade […] hat hier eine gemütliche Gaststätte eingerichtet, wie man sie seinesgleichen wenig in Berlin finden wird. Alle Wände sind mit bemalten echten Stoffen bespannt, die die vielen Märchen aus dem bilderreichen Leben der Perser zeigen und so eine gemütliche Wärme in die durch Bogen miteinander verbundenen Räume bringen.38

In der warmen Jahreszeit konnten die Gäste nun außerdem auf einer mit Blumen geschmückten Sommerterrasse vor dem Restaurant Platz nehmen und von dort dem Treiben auf der Grolman- straße und dem nahen Kurfürstendamm zuschauen.39

Das „Orient“ zog zu Beginn der 30er-Jahre neben russischem und orientalischem auch viel deut- sches Publikum an, darunter nicht wenig Prominenz. Allabendlich trafen sich hier zum Beispiel be- kannte Persönlichkeiten aus der Berliner Filmwelt.40 In diesen Kreis gehörte auch die erfolgreiche UFA-Schauspielerin Brigitte Helm, die vor allem mit der weiblichen Hauptrolle in Fritz Langs „Met- ropolis“ von 1927 Filmgeschichte geschrieben hatte. Von ihr wissen wir, dass sie im Januar 1933 an der russischen Neujahrsfeier im „Orient“ teilnahm, deren Höhepunkt ein Auftritt des berühmten russischen Chansoniers Aleksandr Vertinskij war, bevor bis in den Morgen zu kaukasischen Tänzen gefeiert wurde.41 Auch der damals so erfolgreiche wie umstrittene Journalist und Schriftsteller Essad Bey dürfte zu den Gästen des Restaurants gehört haben. Zumindest lässt er in seinem 1938 in Wien veröffentlichten zweiten Roman Das Mädchen vom Goldenen Horn, der das muslimische Berlin der 20er Jahre zur Kulisse hat, einen Tscherkessen den Wunsch aussprechen, er wolle „Kla- vierspieler im Restaurant Orient werden“42.

Wie aber kam es, dass Ağazadə nach zwei gescheiterten Restaurantprojekten plötzlich solch ein Erfolg beschieden war? Aus den zahlreichen positiven Kritiken, die in den frühen 30er Jahren in der deutsch- wie russischsprachigen Presse Berlins erschienen, lassen sich einige Antworten auf diese Frage finden.43 Sie heben einmal die außerordentliche Qualität der Küche hervor, die wie

37 Ein ausländischer Grobian, in: Berliner Herold, 10.–16. Januar 1932. 38 Im Orient am Kurfürstendamm, in: Berliner Herold, 24.–30. Januar 1932. 39 Im Orient, in: Berliner Herold, 29. Mai–4. Juni 1932. 40 Josef Ontschik wieder in Berlin, in: Berliner Tribüne, 9. Februar 1932. 41 Haben Sie schon gehört?, in: Berliner Tribüne, 24. Januar 1933. 42 Kurban Said, Das Mädchen vom Goldenen Horn, Basel 1973 [1938], S. 23. Kurban Said war ab der zweiten Hälfte der 30er Jahre das Pseudonym Essad Beys. 43 Vgl. neben bereits aufgeführten Kritiken z. B.: Billige Preise im „Orient“, in: Berliner Tribüne, 6. Dezember 1932; Orientalische Küche am Kurfürstendamm, in: Berliner Herold, 4.–10. Dezember 1932; Rul‘, 27. Sep- tember 1931, S. 8. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 17

schon im „Azerbajdžan“ und „Schark“ vor allem kaukasische, persische und russische Speisen bot, aber auch das ein oder andere Gericht vom Balkan oder aus Zentralasien im Repertoire hatte. Da- bei wird besonders auf die Spezialität des Hauses, den kaukasischen Schaschlik, verwiesen, der auf Spießen über offenem Holzkohlefeuer gegrillt wurde und in verschiedenen Variationen bestellt werden konnte. Neben dem Essen zeigten sich die Kritiker aber auch von der Musik begeistert, die Abend für Abend das Restaurant erfüllte. Dann trat nämlich – meist nur von einem Pianisten begleitet – Josef Kimelmann alias „Ontschik“ mit seiner Violine auf, einer der berühmtesten Unter- haltungsmusiker und Kapellenleiter Berlins zu dieser Zeit.44 Nicht wenige werden seinetwegen hier eingekehrt sein, zumal es damals durchaus üblich war, eine Gaststätte speziell zum Musik- hören aufzusuchen. Als Drittes wird in den Rezensionen immer wieder auf die günstigen Preise im „Orient“ Bezug genommen, die deutlich unter der Marktgrenze lagen. 1932 kosteten einzelne Ge- richte zumeist zwischen 20 und 60 Pfennigen, ein 3-Gängemenü nur 90 Pfennige.45 Das war noch einmal wesentlich billiger als in Ağazadəs früheren Restaurants und besonders in den schwierigen Zeiten der Weltwirtschaftskrise ein großer Vorteil im Wettbewerb um knappe Kundschaft. Ein Res- taurantkritiker ging bezüglich der Preispolitik Ağazades sogar so weit, zu behaupten, dieser sei nicht nur ein geschäftstüchtiger Wirt, sondern auch „ein sozial denkender Mensch, der den Zeit- verhältnissen Rechnung zu tragen weiß.“46 Der Kritiker war davon offensichtlich so angetan, dass er seinen Artikel mit einem kleinen, selbstgereimten Werbevers abschloss: „Ist die Kasse auch noch so klein, stets wird dir wohl im ‚Orient‘ sein!“47 Dass das Restaurant nun häufig Gegenstand solch positiver Kritiken war, spielte für seinen Erfolg neben dem guten Essen, der guten Musik und den niedrigen Preisen sicher auch eine wichtige Rolle.

Ağazadə selbst tat ebenfalls einiges, um die Bekanntheit seines Lokals zu erhöhen. Einmal ganz konventionell, indem er Werbepostkarten drucken ließ und regelmäßig in einer Reihe deutsch- und russischsprachiger Tages- und Wochenzeitungen Berlins Anzeigen schaltete.48 Während die Postkarten verschiedene Ansichten des Restaurants zeigten (Abb. 7–11), waren die Anzeigen von einer Bildsprache geprägt, die auf den Islam bzw. den islamischen Orient verwies. Mit der Mond- sichel fand hier das wohl bekannteste islamische Symbol als Markenzeichen des Restaurants Ver- wendung (Abb. 5), mitunter auch in der Kombination mit einem fünfeckigen Stern, wie sie vor allem von der osmanischen und türkischen Flagge bekannt war (Abb. 6).

44 Siehe Kapitel: Exkurs: Josef „Ontschik“ Kimelmann und der Klang des „Orient“. 45 Billige Preise im „Orient“. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Anzeigen ließen sich in folgenden Zeitungen nachweisen: Berliner Herold, Berliner Tribüne, Tempo, Rul‘ und Novoe Slovo. 18 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

Abbildung 5, aus: Berliner Herold, 30. Dezember 1932. Abb. 6, aus: Berliner Tribüne, 31. August 1933.

Darüber hinaus beschritt Ağazadə zu Werbezwecken aber auch unkonventionellere Wege. So mischte er sich Anfang April 1932 mit einem kleinen Stand unter die Aussteller der zum zehnten Mal stattfindenden Reichs-Gastwirts-Messe in Berlin. Einem kurzen Bericht aus der Berliner Tribüne lässt sich entnehmen, dass Ağazadə hier mit Proben seiner Kochkünste sowohl die Aufmerksam- keit als auch die Sympathien des Publikums gewann. Das gelang ihm offensichtlich auch deshalb, weil sein Auftritt positive Orientvorstellungen – der Orient als Ort geheimnisvoller, verschleierter Exotik – bediente und negative – der Orient als Ort wilder, schmutziger Unzivilisiertheit – unterlief:

Unter den unzähligen Attraktionen der 10. Jubiläums-Gastwirtsmesse am Kaiserdamm nahm der Stand 164 eine unbestrittene Sonderstellung ein. Er war zwar einer der kleinsten, aber er hatte es in sich! An diesem Stand enthüllte nämlich Djamal Bey Agasade, der Inhaber des Restaurants ‚Orient‘ in der Grolmanstraße 39 die Küchengeheimnisse des Orients. Was ist ein echtes kaukasisches Schaschlyk? Wie wird es bereitet? Wie kommt eine echte Baclava zu- stande? Und wie entstehen alle jene anderen seltsamen Gerichte, deren Namen wir oft kaum auszusprechen vermö- gen? Djamal Bey Agasade beantwortete diese Fragen ad oculus [sic] in seiner ruhigen, bedächtigen Art, und man bestaunte immer wieder die große Sauberkeit und ungemeine Akkuratesse, mit der alle diese Gerichte zubereitet werden. Zweifellos wird diese kulinarische ‚Show‘ dem schmucken, kleinen Orient-Lokal in der Grolmanstraße zahl- reiche neue Freunde verschafft haben.49

Auch die ersten Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren für Ağazadə eine Zeit fortgesetzter Prosperität. Zwar dauerte es nicht lange, bis die mit der Überwachung von Aus- ländern und des Musiklebens beauftragten Institutionen – nämlich die Geheime Staatspolizei und die Reichsmusikkammer – begannen, ihm das Leben schwer zu machen. Doch der wirtschaftli- che Erfolg hielt an. Betrug der Umsatz des „Orient“ 1933 noch 73.430 RM, so stieg er bis 1938 mit 133.000 RM auf fast das Doppelte.

49 Der Orient kocht, in: Berliner Tribüne, 12. April 1932. Man beachte, dass Ağazadə hier vom Journalisten mit der türkisch-aserbaidschanischen Anredeform „bey“ und nicht einem persischen Äquivalent be- zeichnet wird. Eine kurze positive Besprechung fand Ağazadəs Messeauftritt auch hier: Rückblick auf die Reichs-Gastwirts-Messe, in: Berliner Herold, 10.–16. April 1932. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 19

50Einher ging diese Entwicklung mit einer fortlaufenden Expansion des Restaurantbetriebes. Im Sommer 1934 verlegte Ağazadə das Lokal in eine der repräsentativsten Ecken des Berliner Wes- tens, in die Fasanenstraße 74, nur wenige Schritte vom Kurfürstendamm entfernt. Ein Journalist der Berliner Tribüne schrieb anlässlich der Wiedereröffnung des schon aufgrund seiner neuen orientalischen Fassade auffälligen Restaurants einen kleinen Artikel, dem wir eine lebendige Be- schreibung der neuen Räumlichkeiten und der darin arbeitenden Menschen verdanken:

Tritt man durch die kleine Tür hinein, ist man im ersten Augenblick von dem Anblick be- und gefangen: anstelle der Wandbehänge aus billigen orientalischen Stoffen sind schwere Teppiche und Brücken getreten und in dem ersten offenen Raum liegt ein echter alter persischer Teppich, der selbst gebraucht heute noch mehrere tausend Mark wert ist. Aus diesem Raum, an dessen Rückwand die hell erleuchtete Theke steht, schließt sich ein gleichfalls offener drei- geteilter Raum. Links auf erhöhtem Podest ist neben einer Anzahl von Tischen die Kapelle untergebracht worden, damit sie nach allen Seiten hin ungestörte Klangwirkung hat; unter dem Podest setzt sich der eben erwähnte offene Raum weiter fort und nach rechts zu schließt endlich eine sehr hübsche ausgebuchtete Riesennische an. Inhaber des Orients ist nach wie vor Herr Agazade, an der Theke amtiert seine schöne schlanke Frau und die Kapelle setzt sich aus zwei ‚Schicken‘ zusammen; will sagen aus einem wirklichen Schick, der der Meister des Klaviers ist und einem ‚Ontschick‘ [sic] der die Gäste, namentlich aber die Frauen mit dem meisterhaften Strich seiner Geige bezau- bert. Auch die Bedienung durch die altbekannten und altbewährten Serviererinnen ist die gleiche geblieben; nur daß sie jetzt anstelle der früheren Hosen sehr kleidsame Röcke wie überhaupt eine hübsche Tracht tragen.51

Im Juni und Juli 1936 wurde der Betrieb mit der Einrichtung der nach Ağazadəs Vornamen be- nannten Tanzbar „Djamil-Bar“ dann erneut erheblich erweitert.52 Dies geschah nicht zuletzt mit Blick auf die zahlreichen in- und ausländischen Besucher, die für die Olympischen Spiele im August in der Stadt erwartet wurden. Die Bar befand sich direkt über dem „Orient“ und war über eine Treppe mit diesem verbunden. Die zwei Zimmer im vorderen Bereich stellten auch stilistisch eine Fortsetzung des Restaurants dar. Neben einem weiteren Speisezimmer befand sich hier ein Kaffeeraum, in dem man nach orientalischer Art auf Kissen sitzend seinen Mok- ka einnehmen konnte (Abb. 10). Im hinteren Bereich schlossen sich dann ein Vereinszimmer und der eigentliche Bar- und Tanzraum an (Abb. 11). Letzterer stand nicht nur durch seine mo- derne, metallisch-kühle Einrichtung in auffälligem Kontrast zum Rest des „Orient“. Auch musi- kalisch wurden neue Töne angeschlagen. Eine zweite Kapelle spielte hier oben nämlich Jazz.53

50 LArch A Rep. 342-02 Nr. 27141, Bl. 3. 51 Der neue „Orient“, in: Berliner Tribüne, 29. September 1934. 52 BA Charlottenburg-Wilmersdorf, Bauakte Fasanenstr. 74, Bd. 2, Bl. 254 u. 262. 53 Darauf deutet zumindest die Verpflichtung des Pianisten und Sängers Wolfgang Schmidt hin, der bis März 1938 in der Sherbini-Bar des Ägypters Mustafa El-Sherbini engagiert war, einem der wichtigsten Jazzlokale Berlins, LArch A Rep. 243-01 Nr. 12, Unterlagen zum Rechtsstreit zwischen dem Pianisten Wolf- gang Schmidt und dessen ehemaliger Arbeitgeberin, der Inhaberin der Sherbini-Bar in der Uhlandstr. 18, Yvonne Fürstner, genannt de Nasr. Zur Geschichte der Sherbini-Bar vgl. Drittes Reich (Arabische Bars in Berlin während des Dritten Reiches), in: Nachlass Höpp, Signatur: 01.21.080, https://www.zmo.de/bi- blio/nachlass/intern/hoepp/int01_21/01_21_080.pdf, abgerufen am 05.07.2019.

. 20 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

Abb. 7: Das „Orient“ in der Grolmanstr. 39. Die Dame am Zapfhahn ist vermutlich Ağazadəs Frau Elizaveta. Aufnahme- datum: frühe 30er Jahre. Quelle: Werbepostkarte aus der Sammlung des Autors. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 21

Abb. 8: Ağazadə mit Serviererinnen vor dem „Orient“ in der Fasanenstraße 74. Aufnahmedatum: vermutlich 1934. Quelle: Werbepostkarte aus der Sammlung des Autors.

Abb. 9: Innenansicht des „Orient“ in der Fasanenstraße 74. Aufnahmedatum: vermutlich 1934. Quelle: Werbepostkarte aus der Sammlung des Autors. 22 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

Abb. 10: Kaffeeraum der „Djamil-Bar“. Aufnahmedatum: vermutlich 1936. Quelle: Werbepostkarte aus der Sammlung des Autors.

Abb. 11: Bar- und Tanzraum der „Djamil-Bar“. Aufnahmedatum: vermutlich 1936. Quelle: Werbepostkarte aus der Sammlung des Autors. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 23

3.2. Ağazadə im Fadenkreuz der Geheimen Staatspolizei (1938– 1939)

In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre rückten das „Orient“ und sein Besitzer ins Visier der Gehei- men Staatspolizei. Dieser war das Restaurant mit seinen zahlreichen jüdischen und ausländischen Gästen, zu denen auch Mitglieder der sowjetischen und iranischen Vertretungen gehörten, ein Dorn im Auge.54 Die Aktivitäten, die die vor allem ab 1938 gegen Ağazadə entwickelte, sollten nicht nur dessen geschäftlichen Pläne sabotieren, sondern auch seinen weiteren Aufent- halt in Deutschland in Frage stellen.

Bereits im Sommer 1935 war Ağazadə mit seiner Familie vor die Tore der Stadt nach Groß Glienicke gezogen und bewohnte seitdem ein Einfamilienhaus in der Kurpromenade 45.55 Das Haus war Teil der Siedlung Wochenend West, die seit Ende der 20er Jahre am Ostufer des Groß Glienicker Sees gegenüber vom alten märkischen Bauerndorf Groß Glienicke entstanden war. Hier hatte sich eine ganze Reihe prominenter Berliner Persönlichkeiten aus Industrie, Sport und Kultur niedergelassen, darunter die „Grande Dame“ des deutschen Films Olga Tschechowa.56 Dass Ağazadə nun inmitten einer solch illustren und zweifellos betuchten Gesellschaft lebte, macht noch einmal deutlich, wel- chen Erfolg und Wohlstand ihm das „Orient“ in nur wenigen Jahren beschert hatte.

Die malerische Lage der Ortschaft, ihre zahlungskräftigen Einwohner und die vielen Ausflügler aus der nahen Hauptstadt weckten den Geschäftssinn Ağazadəs. Nach seinen Plänen sollte in der Kurpromenade 51/52 eine weitere Gaststätte entstehen: der „Pavillon Orient“. Die Adresse befand sich zwei Fußminuten vom Badestrand am Groß Glienicker See entfernt und vermutlich war der „Pavillon“ als klassisches Ausflugslokal konzipiert, mit Betrieb lediglich während der Sommer- monate. Dass die Konzession, die Ağazadə 1938 beantragte, am Ende verwehrt wurde, ist auf eine Intervention der Gestapo zurückzuführen. So geht aus einem Tätigkeitsbericht des u. a. mit der Behandlung staatsfeindlicher Ausländer befassten Referats II A des Geheimen Staatspolizei- amtes in Berlin vom 4. Juli 1938 hervor, dass man den zuständigen Potsdamer Regierungsprä- sidenten angewiesen hatte, den Antrag Ağazadəs abzulehnen. 57 Ağazadə könne „im Sinne des Gaststättengesetzes als nicht zuverlässig angesehen werden“, da sein Berliner Betrieb ob „der dort verkehrenden Juden und Ausländer einen sehr schlechten Ruf genießt“. 58

54 Vgl. den Bericht des Kontrollbeamten der Reichsmusikkammer Woschke vom Februar 1937, in dem es heißt, das „Orient“ und die „Djamil-Bar“ würden „ausschließlich“ von Ausländern, darunter „sämtliche Diplomatischen- [sic] sowie Handelsvertreter der Sowjetunion“, besucht, LArch A Rep. 243-01 Nr. 59, Sonderbericht des Kontrolleurs Woschke vom 2.2.1937. 55 BLHA Rep. 35A Staatspolizeistelle Potsdam – Aufenthaltsgenehmigungen, Buchstabe A, Agasade, Dja- mil, Ausländerformblatt. 56 Zur Geschichte Groß Glienickes instruktiv: Otto Lehmberg/Renate Toreck, Groß Glienicke im Wandel der Zeit. Vom Rittergut und märkischen Bauerndorf zur Siedlungsgemeinde. 4. komplett neu bearbeitete Aufl., Groß Glienicke 2007. 57 Bundesarchiv Berlin (fortan: BArch) R 58/3700, Bl. 160f. 58 Alle Zitate aus ebd. 24 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

Das Kreisverwaltungsgericht in Nauen untersagte Ağazadə in einem Bescheid vom 1. Dezember 1938 dann tatsächlich den geplanten Betrieb einer Schankwirtschaft in der Kurpromenade 51/52, obwohl alle anderen im Konzessionsverfahren befragten deutschen Stellen mit positiven Stel- lungnahmen reagiert hatten.59 In der Begründung des Ablehnungsbescheids argumentierte das Gericht ganz im Sinne der Gestapo: Ağazadə könne nicht als zuverlässig angesehen werden, da in seinem Berliner Lokal staatsfeindliche Elemente verkehrten. Besonders negativ wurde dabei die Präsenz sowjetischer Staatsangehöriger und Mitglieder der sowjetischen Botschaft unter den Gästen hervorgehoben. Eine Berufung, die Ağazadə gegen diese Entscheidung einlegte, wurde vom Bezirksverwaltungsgericht Potsdam am 14. November 1939 zurückgewiesen.60 Auch eine an- schließende Beschwerde von Ağasadəs Anwalt, der u. a. darauf hinwies, dass sich das deutsch-so- wjetische Verhältnis mittlerweile doch „in grundlegender Form“61 geändert habe – man denke hier an den Nichtangriffspakt vom August des Jahres und den gemeinsamen Überfall auf Polen –, konnte das Gericht nicht umstimmen. Es bestätigte am 23. Januar 1940 seine Entscheidung als endgültig.62

Abb. 12: Blick auf den Groß Glienicker See vom „Pavillon Orient“ aus. Aufnahmedatum: vermutlich nach 1945. Quelle: Archiv des Kladower Forums e.V.

59 Der Bescheid ist nicht mehr erhalten, Datierung und Inhalt gehen aber aus einem Schreiben von Ağazadəs Anwalt an das Kreisverwaltungsgericht im Zusammenhang mit dem Berufungsverfahren her- vor, siehe BLHA Pr. Br. Rep. 31A, Nr. 5279, Schreiben des RA Kurt Sandler an das Kreisverwaltungsgericht vom 14. November 1939. 60 Ebd., Entscheidung s.2746 des Bezirksverwaltungsgerichts Potsdam vom 14. November 1939. 61 Ebd., Schreiben des RA Kurt Sandler an das Kreisverwaltungsgericht vom 14. Dezember 1939, S. 4. 62 Ebd., Schreiben des Bezirksverwaltungsgerichts Potsdam an RA Sandler vom 23. Januar 1940. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 25

1939 stand aber nicht nur die weitere Entwicklung von Ağazadəs Geschäften auf dem Spiel, son- dern auch die Fortsetzung seines Aufenthaltes in Deutschland und damit seine geschäftliche Exis- tenz an sich. So meldete die Staatspolizeistelle Potsdam am 19. Januar des Jahres beim Landrat des Kreises Osthavelland Bedenken gegen eine Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung an.63

Als Begründung wurde auf den oben genannten Ablehnungsbescheid im Konzessionsverfahren für den „Pavillon Orient“ und auf ein Ermittlungsverfahren der Berliner Staatsanwaltschaft gegen Ağazadə verwiesen. Einzelheiten zu diesem Verfahren lassen sich heute nicht mehr in Erfahrung bringen, da die Ermittlungsakten nicht überliefert sind. Aus dem Register für Vorverfahren der Kuppeleistelle der Staatsanwaltschaft von 1937 geht aber hervor, dass die Berliner Kriminalinspek- tion Ağazadə wegen des Verdachts auf Kuppelei und der Verbreitung pornographischer Schriften dort Ende August angezeigt hatte.64 Das Verfahren war bereits am Tag nach Eingang der Anzeige durch die Staatsanwaltschaft eingestellt worden, da offensichtlich nichts vorlag, das eine Anklage gegen den Beschuldigten gerechtfertigt hätte. Die Argumentation der Potsdamer Staatspolizei- stelle gegen den Verbleib Ağazadəs in Deutschland stützte sich also auf eine höchst zweifelhafte Grundlage: auf einen Gerichtsbeschluss, den die Gestapo selbst maßgeblich herbeigeführt hatte und auf ein längst eingestelltes Verfahren der Berliner Staatsanwaltschaft.

Die seltsamen, sich 1939 abspielenden Vorgänge um das „Orient“ legen den Schluss nahe, dass Ağazadə sich tatsächlich auf ein Ende seiner Zeit in Deutschland einstellte und wohl auch bereits im Vorfeld über die Schritte der Potsdamer Gestapo gegen ihn in Kenntnis gesetzt worden war. Denn schon am 14. Januar 1939 teilte er der Berliner Industrie- und Handelskammer mit, dass er sein Res- taurant fortan unter dem Namen „Wachau“ führe,65 die Bezeichnung einer österreichischen Donau- landschaft. Drei Tage später wandte sich ein Architekt in seinem Auftrag an die Charlottenburger Baupolizei und bat um eine Genehmigung für die Veränderung der Straßenansicht des Restaurants66. Die kunstvolle orientalische Fassade sollte einer schlichten Gestaltung weichen, da „die Schank- wirtschaft nun den Charakter einer Wiener Weinstube erhalten wird.“67 All diese Änderungen ge- schahen offensichtlich in Vorbereitung auf die Abgabe des Restaurants. Am 15. Juni übernahm dann tatsächlich mit Rudolf Klemann ein neuer Besitzer den Betrieb.68 Doch schon kurz danach muss sich das Problem mit Ağazadəs Aufenthaltsgenehmigung gelöst haben. Denn am 15. Sep-

63 BLHA Rep. 35A Staatspolizeistelle Potsdam – Aufenthaltsgenehmigungen, Buchstabe A, Agasade, Dja- mil, Schreiben der Staatspolizeistelle Potsdam an den Landrat des Kreises Osthavelland vom 19. Januar 1939. 64 LArch, A Rep. 358 Nr. 1279, Eintrag Nr. 963. 65 LArch A Rep. 342-02 Nr. 27141, Blattsammlung, Bl. 4 66 BA Charlottenburg-Wilmersdorf, Bauakte Fasanenstr. 74, Bd. 2, Bl. 247–249. 67 Ebd., Bl. 247. 68 Ebd., Bl. 289. 26 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

tember – der Zweite Weltkrieg war gerade zwei Wochen alt – wurde das „Orient“ nach einer Re- novierung erneut im orientalischen Stil eröffnet.69 Das erste Kriegsjahr begrüßten die Gäste des Restaurants in der Silvesternacht so, wie sie es auch in den Friedensjahren hier hatten tun können: bei russisch-orientalischer Küche und kaukasischer Musik und Tanz.70

3.3. Exkurs: Josef „Ontschik“ Kimelmann und der Klang des „Ori- ent“

Die musikalische Seite des „Orient“ ist vor allem mit dem Namen „Ontschik“ verbunden, hinter dem sich der 1898 als Sohn jüdischer Eltern in Kiew ge- borene Josef Kimelmann verbirgt. Zum Zeitpunkt seines Engagements durch Ağazadə im Februar 1931 lag bereits ein bewegtes Musikerleben hinter ihm. Nach der Schule hatte er von 1913–1917 am Konservatorium seiner Heimatstadt Musik studiert und angeblich sogar noch vor der Revolution in der Kiewer Oper dirigiert.71 Erfolgreiche Konzertreisen als Dirigent, Geiger und Pianist hatten ihn bis in den Kaukasus geführt, wo er vermutlich erstmals in- tensiver mit kaukasischer Musik in Berührung kam. Nachdem er 1921 nach Berlin emigriert war, hatte er eine kleine Kapelle zusammengestellt, mit der er im wohl ersten kaukasischen Restaurant der Stadt, dem für seine wilden, ausschweifenden Tanzveran- Abb. 13: Zeitungsporträit Ontschiks, ver- staltungen berühmten „Allawerdi“ auftrat. 72 mutlich aus den frühen 30er Jahren. Quelle: Landesamt für Bürger- und Ordnungsange- legenheiten (LABO) Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 068329, Bl. E6.

69 Annonce in: Novoe Slovo, 17. September 1939. 70 Annonce in: Novoe Slovo, 31. Dezember 1939. 71 Zur Biographie Ontschiks vgl. vor allem Sophie Fetthauer, Art. „Josef Kimelmann“, in: Lexikon verfolg- ter Musiker und MusikerInnen der NS-Zeit, https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmper- son_00001836, abgerufen am 05.07.2019; Reflexe im Rampenlicht. Joseph Ontschik, in: Berliner Nach- richten, Nr. 33, 1923; Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 068329, Bl. E2-E3. 72 Ebd. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 27

Nach dessen Schließung 1924 folgten Engagements in verschiedenen Cafés und Restaurants, deutschlandweite Tourneen, Schallplattenaufnahmen und in den frühen 30er Jahren sogar regel- mäßige Aufnahmen als Kapellmeister für den Tonfilm.73 Im „Orient“ trat Ontschik allabendlich mit seiner Geige auf, begleitet von Karl Gruhn (geb. 1908 in Essen), einem so jungen wie begabten Pia- nisten, der von 1919–1923 am Essener Konservatorium Klavier und anschlie- ßend ein Jahr Musikwissenschaften in Heidelberg studiert hatte.74 Ab Februar 1932 gesellte sich für einige Monate noch ein in der Werbung „Dschafar“ ge- nannter orientalischer Musiker dazu, dessen Instrument – die in Kaukasien und dem Iran verbreitete Tar – dem deutschen Publikum äußerst treffend als „orientalisches Banjo“ vorgestellt Abb. 14, aus: Tempo, 19. März 1932. wurde (Abb. 14):

Die Berliner Presse nahm Ontschick als Mitglied der musikalischen Emigration aus Osteuropa wahr, die mit ihren russischen Kapellen, Balalaika-Bands und Zigeunerorchestern die deutsche Unterhaltungsindustrie seit Beginn der 20er Jahre aufgemischt hatten.75 Für die Berliner Tribüne war er „der populärste unter den russischen Kaffeehauskapellmeistern Berlins“76, auch die Berli- ner Nachrichten zählte ihn zu den größten osteuropäischen Unterhaltungsmusikern in Berlin und schwärmten von seinen „weichen, träumerischen, melodiösen Zigeunerweisen“77. Eine eng- lischsprachige Zeitung krönte ihn gar zum „King of Gipsy Violinists“78. Tatsächlich ging Ontschiks Repertoire aber über das unter seinen osteuropäischen Musikerkollegen Übliche hinaus. In den Annoncen für das „Orient“ wurde mit orientalischer Musik und kaukasischen Tänzen geworben und der für das Lokal zuständige Kontrollbeamte der Reichsmusikkammer Woschke kam in einem Bericht von 1937 sogar zum Schluss, das gesamte Programm Ontschiks sei „rein orientalisch“ und

73 Eine kleine Auswahl von Aufnahmen, an denen Ontschik vor seinem Engagement im „Orient“ mitge- wirkt hatte, lässt sich auf folgender Seite finden: https://www.russian-records.com/search.php?search_ keywords=%CE%ED%F7%E8%EA&l=russian, abgerufen am 05.07.2019. 74 Zu Karl Gruhns Biographie vgl. BArch R 9361-V/93066. 75 Zur musikalischen Emigration aus Osteuropa instruktiv: Heribert Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmu- sik in Deutschland 1918–1933, Bonn 1990, v.a. S. 80–96 u. 192–194. 76 Josef Ontschik wieder in Berlin, in: Berliner Tribüne, 9. Februar 1932. 77 Reflexe im Rampenlicht. 78 LABO Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 068329, Bl. E6. 28 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

bestehe „aus ungefähr 70 orientalischen Liedern und Hymnen“, für die es keine Noten gebe.79 Wir können davon ausgehen, dass Ontschik und sein Pianist Gruhn diese in ihrer Mehrzahl wohl aus Kaukasien und dem Iran stammenden Stücke nicht in authentischer Form zu Gehör brachten, sondern europäisierte Arrangements aufführten, die ihrer eigenen musikalischen Sozialisation entsprachen. Ihre Interpretationen erfreuten sich aber auch beim orientalischen Publikum großer Beliebtheit. So wissen wir zum Beispiel, dass Mitglieder der iranischen Gesandtschaft bei Ontschik populäre Lieder aus ihrer Heimat bestellten.80

Einer Intervention der iranischen Gesandtschaft bei der Reichskulturkammer war es dann auch zu verdanken, dass Ontschik 1935 nicht wie andere jüdische Musiker in Deutschland mit einem Berufsverbot belegt wurde und mit einer Sondergenehmigung bis Ende 1936 weiterarbeiten konnte.81 Als diese auslief, gestaltete sich die Suche nach einem geeigneten Nachfolger als äußert schwierig. Ağazadə engagierte am Ende erneut einen Geiger aus der russischen Emigration82, je- doch beherrschte dieser auch nach Monaten das Programm Ontschiks noch nicht vollständig. So kam es vor, dass Ontschik, der nach seinem Berufsverbot als Platzanweiser im „Orient“ verblieben war, ihm die Geige abnahm und auf Wunsch der Gäste bestimmte Stücke zum Besten gab oder auf privaten Feiern aufspielte.83 Als die Reichsmusikkammer davon Kenntnis erhielt, wurde ein Verfah- ren gegen ihn eingeleitet, das mit einem Bußgeldbescheid über 25 RM endete. In seiner Anzeige vom 21. Oktober 1937 brachte der Kontrollbeamte Woschke unverblümt aufs Papier, was er von dem Geiger hielt: Er sei „der Typ des rücksichtslosen Ostjuden“ der sich in einem „fast ausschließ- lich von Ausländern besuchten und von einem Ausländer geführten Geschäft ablehnend gegen jede deutsche Staatsautorität“84 verhalte.

Mit dem Verstummen von Ontschiks Geige hörte das „Orient“ auf, einer der aufregendsten und außergewöhnlichsten musikalischen Orte Berlins zu sein, auch wenn Ağazadə weiterhin mit kau- kasischer Musik und Tänzen warb.85 Im Januar 1939 verließ der Ausnahmemusiker Deutschland und kam nach langer, strapaziöser Reise über Schanghai nach Israel, wo er 1972 starb. Sein Pianist Gruhn war da schon nicht mehr am Leben. Er fiel im Juni 1942 in Russland.

79 LArch A Rep. 243-01 Nr. 59, Sonderbericht des Kontrolleurs Woschke vom 2. Februar 1937. 80 BArch R 9361-V/86604, Vernehmungsprotokoll vom 7. Oktober 1937. 81 LABO Berlin, BEG-Akte Reg.-Nr. 068329, Bl. E9. 82 LArch A Rep. 243-01 Nr. 59, Sonderbericht des Kontrolleurs Woschke vom 2. Februar 1937. 83 BArch R 9361-V/86604, Vernehmungsprotokoll vom 7. Oktober 1937. 84 Ebd., Anzeige des Kontrollbeamten Woschke gegen Kimelmann vom 21. Oktober 1937. 85 Vgl z. B. Annonce in Novoe Slovo, 17. September 1939. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 29

4. Nachkriegszeit. Schließung des „Orient“ und Ağazadəs Tod (1945–1953)

Ob das „Orient“ während des gesamten Krieges geöffnet blieb, ist unklar. Endgültig schloss Ağazadə das Restaurant erst zum 1. November 1949, als er bereits unter schwerem Herzasthma litt und die meiste Zeit im Bett verbringen musste.86 Noch drei Jahre zuvor hatte er voll unter- nehmerischem Elan gesteckt und mit der Eröffnung des „Pavillon Orient“ in Groß Glienicke seinen alten Plan aus der Vorkriegszeit verwirklicht.87 Laut Sterbeurkunde starb Cəmil Ağazadə am 14. De- zember 1953 vormittags um zehn in seinem Haus in Groß Glienicke an einer Lungenentzündung.88 Sein größter Erfolg findet sich hier in seinem Namen wieder: er starb als „Djamil Agasade-Orient“. Die Beerdigung fand auf dem Türkischen Friedhof in Berlin statt.

Abbildung 15: Ağazadəs Grabstein auf dem Türkischen Friedhof Berlin. Quelle: Fotografie des Autors. Abdruck mit der freundlichen Erlaubnis des Vorstandsvorsitzenden der Şehitlik-Moschee Süleyman Küçük.

Seine Frau Elizaveta überlebte ihn um fast zwanzig Jahre. Sie schied am 8. November 1971 aus dem Leben und wurde, obwohl sie einst für ihren Mann zum Islam übergetreten war, auf dem russisch-orthodoxen Friedhof in Tegel als „Leila Agasade-Orient“ beigesetzt.89 Ihre gemeinsame Tochter Nelly hingegen hatte schon vor Ağazadəs Tod Berlin und auch Deutschland verlassen. Sie war Ende 1949 zusammen mit ihrem Ehemann, dem Ungarn Lajos Marcsinyi, in die USA emigriert, um dort nach den Wirren von Kriegs- und Nachkriegszeit, nach Ausbombung, Umquartierung und Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone ein neues Leben zu beginnen.90 Die Inschrift auf dem

86 LArch, B Rep. 025-05 Rückerstattungsakte Fuss, Bernhard, S. 22. 87 Vgl. die Registerakte LArch, B Rep. 042 Nr. 42610. 88 LArch, P Rep. 480 Nr. 692, Sterbeurkunde Nr. 2336. 89 Agasade-Orient, Leila, in: Kartothek Alexandra Petrowna Rosenbaum, https://pogost-tegel.info/index_ de.php?id=7, abgerufen am 05.07.2019. 90 “Marcsinyi, Lajos” u. “Nelly”, in: New York Passenger and Crew Lists, 1909, 1925-1957, https://www.famil- ysearch.org/ark:/61903/1:1:24RT-KB7, abgerufen am 28.05.2020. 30 Johannes Schnelle / Die junge Mommsen 2020 (01)

Grabstein Ağazadəs (Abb. 15) spiegelt die damit einhergehende familiäre Trennung. Dort spricht nämlich nur seine Frau, wenn wir lesen: „Hier schläft mein lieber, unvergeßlicher Mann“.

Schluss

Das Rätsel um Ağazadəs Herkunft und Vorleben lässt sich auf Grundlage der in Deutschland er- haltenen Quellen nicht endgültig lösen. Emigration bedeutet nicht nur einen Bruch in der Bio- graphie und die Möglichkeit, sich und seine Vergangenheit aus welchen Gründen auch immer neu zu erfinden. Sie geht auch mit einem – für den Historiker besonders schmerzhaften – Bruch in der Überlieferungssituation einher. Dass Ağazadəs Identität im orientalischen Berlin Anfang der 30er Jahre zum Politikum wurde, lag aber nicht nur daran, dass er bezüglich seiner Herkunft mög- licherweise die Unwahrheit behauptete. Zumindest in Teilen der muslimischen und orientalischen Kolonien Berlins jener Zeit wurde ein essentialistischer Identitätsbegriff gepflegt, der Identität mit Abstammung und Herkunft gleichsetzte. Es war sicher kein Zufall, dass zur gleichen Zeit auch der Schriftsteller Essad Bey ins Fadenkreuz von Vertretern verschiedener orientalischer Kolonien ge- riet, die ihm ob seiner Geburt als Jude in Kiew das Recht absprachen, sich als Aserbaidschaner zu bezeichnen, obwohl er die Jahre seiner Kindheit und Jugend in Baku verbracht hatte.

Die Geschichte von Ağazadəs Restaurants ist bemerkenswert – und das nicht nur, weil ihm mit dem „Orient“ in den 30er Jahren der gastronomische Durchbruch gelang. Sie gibt uns einen Hin- weis darauf, welche Kontakte zwischen dem „Little Orient“ und anderen um den Kurfürstendamm beheimateten Milieus bestanden und ist damit Teil einer Verflechtungsgeschichte, wie sie Gerdien Jonker in jüngster Zeit stark gemacht hat.91 Hier befand sich ja auch das Zentrum der zahlenmä- ßig weit bedeutenderen russischen Emigration.92 Hier lebte das wohlhabende Berliner Bürgertum neben Künstlern und Intellektuellen, darunter viele Juden. Ağazadə schuf mit seinen Restaurants Räume, in denen wir diesen Berliner Westen gewissermaßen en miniature versammelt wieder- finden. Hier trafen scheinbar selbstverständlich das muslimische und orientalische mit dem jü- dischen, russischen und deutschen Berlin zusammen. Und das nicht nur vor, sondern auch hinter der Theke. Die muslimische Lebenswelt im Berlin der Zwischenkriegszeit erschöpfte sich nicht zwischen Moschee und Demonstration, in religiösen und nationalen Bezügen. Zu ihr gehörten auch die Restaurants Ağazadəs, die genussvolle Orte multikultureller Begegnung waren.

91 Jonker, The Ahmadiyya Quest for Religious Progress; dies., „Etwas hoffen muß das Herz“. Eine Familien- geschichte von Juden, Christen und Muslimen, Göttingen 2018; dies., On the Margins. ​Jews and Muslims in Interwar Berlin, Leiden/Boston 2020. 92 Karl Schlögel verortet den Schwerpunkt der russischen Emigration in Berlin zwischen Kantstraße, Nol- lendorfplatz, Prager Platz und Bayrischem Platz. 1930 hielten sich noch ungefähr 100.000 russische Emigranten in Deutschland auf, der Großteil von ihnen in Berlin, vgl. Karl Schlögel, Berlin, Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998, S. 102 u. 108. „… und im Inneren empfängt einen der Orient.“ 31

Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen

Archivquellen

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R 9361-V/86604

R 9361-V/93066

Bauamt Charlottenburg-Wilmersdorf

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Rep. 35A Staatspolizeistelle Potsdam – Aufenthaltsgenehmigungen, Buchstabe A

Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) Berlin

BEG-Akte Reg.-Nr. 068329

Landesarchiv Berlin (LArch)

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A Rep. 342-02 Nr. 27141

A Rep. 342-02 Nr. 51039

A Rep. 342-02 Nr. 67021

A Rep. 358 Nr. 1279

B Rep. 025-05 Rückerstattungsakte Fuss, Bernhard

B Rep. 042 Nr. 42610

B Rep. 207 Nr. 551

Periodika

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Der Islamische Student, Jg. 1927–1929.

Novoe Slovo, Jg. 1935–1936, 1939–1944.

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Die Rolle des MFA in der portugiesischen Nelkenrevolution

Paul Diekmann

Humboldt-Universität zu Berlin

Diese Arbeit wurde ursprünglich als Seminararbeit im Epochenseminar „Transitionen. Europäische Übergänge von der Diktatur zur Demokratie im 20. Jahrhundert" im Rahmen eines Bachelorstudiums eingereicht.

Inhalt

Einleitung...... 34 1. Der MFA: Hintergrund und Programm...... 35 2. Ablauf der Nelkenrevolution...... 37 2.1. Vom 25. April bis zum 30. September 1974: Die Konfrontation mit Spínola...... 37 2.2. Vom 30 September 1974 bis zum 11. März 1975: Institutionalisierung des MFA...... 40 2.3. Vom 11. März bis 25. November 1975: Radikalisierung der Linken und Spaltung. . . . . 42 3. Ausblick auf die Zukunft des MFA...... 44 Schluss ...... 45 Quellen- und Literaturverzeichnis...... 46

Einleitung

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Rolle der Movimento das Forças Armadas1 auf die portugie- sische Nelkenrevolution, die das 1926 von Antonio Oliveira de Salazar begründete Regime des Estado Novo stürzte und schließlich zur Errichtung der Republik führte.

Der MFA hatte bei dieser Revolution eine tragende Funktion, denn es ging von ihm der Putsch

1 Bewegung der Streitkräfte, kurz MFA. Die Rolle des MFA in der portugiesischen Nelkenrevolution 35

aus, der Salazars Nachfolger Marcello Caetano zum Rücktritt zwang. Doch auch in der Folgezeit nahmen die Offiziere des MFA großen Einfluss auf die Entwicklung des Landes und versuchten die Revolution in ihrem Sinne fortzuführen. Die tatsächliche Rolle des MFA wurde in der Folge sehr unterschiedlich bewertet, oft abhängig vom politischen Standpunkt: während die Offiziere sich teilweise selbst als Avantgarde einer Volksbewegung sahen2, wurden sie von anderer Seite als blo- ße Verbündete der Kommunistischen Partei Portugals (kurz PCP) betrachtet.3 Die Leitfrage dieser Arbeit ist somit, wie groß der Einfluss des MFA auf den Revolutionsprozess wirklich war.

Zur Behandlung der Fragestellung werden verschiedene Dokumente der Zeit untersucht, darun- ter das Programm des MFA, Reden und Interviews wichtiger Akteure und die Verfassung der Re- publik. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf dem Zeitraum zwischen dem Putsch am 25.04.1974 bis zur Verabschiedung der Verfassung am 02.04.1976. Zwar hat der MFA seinen Ursprung in den portugiesischen Kolonialkriegen seit 1961, eine eingehende Untersuchung dieser Zeit würde al- lerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Auch die Zeit nach der Verfassung wird, abgesehen von einem kurzen Ausblick, nicht untersucht werden.

Nach einer kurzen Erläuterung der Hintergründe des MFA wird eine chronlogische Abhandlung der Ereignisse während der Nelkenrevolution erfolgen: vom Putsch am 25.04.1974 über die Poli- tisierung des MFA und ihren linken Kurs, die Konfrontation mit reaktionären Gruppen bis hin zur Spaltung der Bewegung und ihrem Rückzug aus dem Zentrum der Macht. Der chronologischen Betrachtung steht die These zugrunde, dass der MFA gerade zu Beginn der Revolution die Initia- tive hatte und seinen Einfluss auch politisch ausspielte, letztendlich aber keine einheitliche Linie fand und sich daher aus dem Transitionsprozess zurückzog. Im Schlussteil wird sowohl untersucht, ob diese These zutrifft und ein Ausblick auf die weitere Entwicklung des MFA und Portugals vor- genommen.

1. Der MFA: Hintergrund und Programm

Der MFA entstand im Rahmen des portugiesischen Kolonialkrieges in den Reihen der Unteroffi- ziere. Ursprünglich wurde deren Opposition dadurch ausgelöst, dass sie sich in ihrer privilegierten Position bedroht fühlten, da der andauernde Krieg eine Aufstockung von Heer und Offiziersrän- gen erforderte.4 Gleichzeitig wandten sich die gesellschaftlichen Eliten des Estado Novo seit den

2 Vgl. Serge July, Die Bewegung der Streitkräfte. Eine Befreiungsarmee, in: Reihe internationale Solidarität 9 (1975), S. 71. 3 Vgl. Michael Harsgor, Portugal in Revolution, Washington D.C. 1976, S. 28. 4 Vgl. Christiane Abele, Kein kleines Land. Die Kolonialfrage in Portugal 1961–1974, Göttingen 2017, S. 251. 36 Paul Diekmann / Die junge Mommsen 2020 (01)

1940er Jahren zunehmend von einer Ausbildung an der Militärakademie ab, um in der Wirtschaft Karriere zu machen, weshalb Salazar ab 1959 den Zugang zur Militärakademie erleichterte.5 Dies führte zu einer Spaltung innerhalb des Heeres zwischen den konservativen in das Regime ein- gebundenen Generälen und den jungen Unteroffizieren, die auch linke demokratische Ideen mitbrachten.6 Aus diesen Ideen wuchs schließlich die Überzeugung, dass der Kolonialkonflikt nur politisch und nicht militärisch lösbar sei.

Der MFA wurde, damals noch als Movimento dos Capitães (Bewegung der Hauptleute), am 09. September 1973 auf einer Versammlung von 136 Berufsoffizieren gegründet.7 In den nächsten Monaten wuchs die Bewegung deutlich und nahm neben den Heeresoffizieren auch Angehörige von Marine und Luftwaffe auf. In der Folge wurde ein Programm erarbeitet und ein militärischer Staatsstreich vorbereitet. Außerdem nahm die Bewegung Kontakt zum populären General Spínola auf, der, obwohl er eher konservativ eingestellt war, ebenfalls eine politische Lösung des Krieges wünschte und in Opposition zum Regime stand.8

Schon vor dem Putsch zeigte sich deutlich die Heterogenität des MFA. Auf der einen Seite linke Re- volutionäre, auf der anderen konservative Spínolisten und dazwischen diejenigen Berufsoffiziere, die nur den Krieg beenden und keinerlei politischen Einfluss nehmen wollten. Dementsprechend ist das MFA-Programm, das am 25.04.1974 veröffentlicht wurde, von Kompromissen geprägt. Auf die Beseitigung der faschistischen Diktatur konnten sich alle Parteien einigen, auf die politische Zukunft Portugals nicht.9

Das Programm legitimiert das Eingreifen des MFA mit dem Versäumnis der bisherigen Regierung, nach 13 Jahren Krieg einen Frieden zu erreichen und setzt sich als Ziel „die Sanierung der gegen- wärtigen Innenpolitik und ihrer Institutionen, indem sie auf demokratischem Weg die wahren Ver- treter des portugiesischen Volkes werden“.10 Zu diesem Zweck sollen verschiedene sofortige und kurzfristige Maßnahmen ergriffen werden.

Zunächst übernimmt eine aus sieben Generälen bestehende „Junta der nationalen Errettung“ die Macht, die den Präsidenten wählt und bis zur Ernennung einer provisorischen Zivilregierung de- ren Platz einnimmt. Diese Junta tauscht die salazaristischen Institutionen und die Verwaltung aus. Außerdem wird eine Amnestie für politische Häftlinge erlassen.11

5 Vgl. July, Bewegung, S. 49. 6 Vgl. Antonio Rangel Bandeira, The Portuguese Armed Forces Movement. Historical Antecedents, Profes- sional Demands, and Class Conflict, in: Politics & Society, Bd. 6. Nr. 1 (1976), S. 21. 7 Vgl. Günter Schröder, Portugal. Materialien und Dokumente 1, Gießen 1975, S. 23. 8 Vgl. Urte Sperling, Die Nelkenrevolution in Portugal, Köln 2014, S. 37. 9 Vgl. Schröder, Materialien 1, S. 21. 10 Programm der Bewegung der portugiesischen Streitkräfte, in: Günter Schröder (Hrsg.), Portugal. Mate- rialien und Dokumente 1, Gießen 1975, S. 63. 11 Vgl. ebd., S. 64f. Die Rolle des MFA in der portugiesischen Nelkenrevolution 37

Die vom Präsidenten ernannte provisorische Regierung verpflichtet sich, demokratische Refor- men durchzuführen, die etwa Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit garantieren sollen. Außer- dem soll sie die Grundlagen legen für eine soziale Wirtschaftspolitik, die vor allem den unteren Bevölkerungsschichten zugutekommen soll, sowie eine Außenpolitik, die Gleichheit und Frieden zwischen den Staaten zum Ziel hat.12

Innerhalb eines Jahres soll es zur Wahl einer verfassungsgebenden Nationalversammlung kom- men. Bis zu diesen Wahlen wird neben der provisorischen Regierung auch die Junta in Kraft blei- ben, um die politischen Ziele des Programms zu schützen. Danach würden die Streitkräfte sich wieder auf die Aufgabe der Verteidigung der nationalen Souveränität beschränken.13

Während die direkten Maßnahmen des Programms, also die Ernennung der Junta und die Über- nahme der Regierung konkret beschrieben waren, kann man an den längerfristigen Zielen, wie zum Beispiel Fragen der Wirtschafts- oder Außenpolitk, erkennen, dass diese nur vage gehalten wurden, um eine möglichst breite Basis für den Umsturz zu schaffen. Um die Unterstützung Spí- nolas zu erhalten, wurde etwa ein Passus gestrichen, der eine „klare Anerkennung des Rechtes der Völker auf Selbstbestimmung“ forderte.14 Schon hier zeigte sich, dass der MFA verschiedene Interessen berücksichtigen musste. Doch obwohl die Junta von Anhängern Spínolas dominiert wurde15, sollte sich der MFA und mit ihm die Revolution bald in Richtung links bewegen.

2. Ablauf der Nelkenrevolution 2.1. Vom 25. April bis zum 30. September 1974: Die Konfrontation mit Spínola

Der Putsch am 25. April verlief nach einem detaillierten Plan, den Major Otelo Saraiva de Carval- ho für den MFA ausgearbeitet hatte.16 Das Signal zum Beginn des Putsches gaben zwei Lieder, die kurz vor und nach Mitternacht im Radio abgespielt wurden. Daraufhin wurden verschiedene strategisch wichtige Orte und Militärstützpunkte von den revolutionären Brigaden besetzt. Nen- nenswerten Widerstand gab es nicht, nur die Geheimpolizei PIDE widersetzte sich zunächst und schoss auf die Menschenmenge, die ihr Quartier belagerte; hier waren die einzigen vier Toten des Umsturzes zu beklagen. Caetano und seine Regierung ergaben sich und der Ministerpräsident Américo Tomás ernannte Spínola zu seinem Nachfolger.17

12 Vgl. Schröder, Materialien 1, S. 66-68. 13 Vgl. ebd. 1, S. 68. 14 Vgl. ebd., S. 29f. 15 Vgl. George W. Grayson, Portugal and the Future, in: Current History 68 (1975), S. 111. 16 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 45. 17 Vgl. ebd., S. 46. 38 Paul Diekmann / Die junge Mommsen 2020 (01)

Parallel zur Junta blieb der MFA in seinen Strukturen (die MFA-Versammlung, der operative Stab und die koordinierende Programmkommission) bestehen und richtete sich in den Räumen des Generalstabs ein, während Spínola mit seinem eigenen Stab den Präsidentenpalast bezog. Damit entwickelten sich direkt nach dem Putsch zwei Machtzentren, deren Balance ungewiss war.18

Am 15. Mai trat die Erste Provisorische Regierung zusammen. In ihr waren alle nennenswerten Gruppen der vormaligen Opposition vertreten: die Sozialisten, deren aus dem Exil zurückgekehr- ter Führer Mario Soares das Außenministerium übernahm, die Kommunisten, die Liberalen und das demokratische Bündnis MDP/CDE. Diese Parteien repräsentierten sehr unterschiedliche Inte- ressen, die sich auch in der Heterogenität des MFA widerspiegelten.19 Zum Ministerpräsidenten ernannte Spínola den konservativen Juristen Adelino da Palma Carlos. Zusätzlich zu der Regierung wurde ein provisorischer Staatsrat gebildet, der aus den sieben Mitgliedern der Junta, sieben An- gehörigen des MFA und sieben Zivilpersonen bestand.

Schon seit dem Umsturz hatten Arbeiter und Angehörige der Unterschicht in der Region Lissa- bon mit Demonstrationen und Streiks, die auch die an der Regierung beteiligten linken Parteien PCP und PS20 nicht kontrollieren konnten, ihren Forderungen nach wirtschaftlichen und sozialen Reformen Nachdruck verliehen.21 Dies führte im Juli zur ersten Konfrontation zwischen dem MFA und Spínola. Ministerpräsident da Palma Carlos forderte Generalvollmachten für den Präsidenten, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Außerdem sollte noch vor Oktober per Direktwahl ein Präsident gewählt werden, der weitreichende Vollmachten erhalten sollte. Der MFA und die linken Parteien der Regierung befürchteten, dass Spínola diese Wahlen nutzen würde, um eine autoritäre Präsidentschaftsherrschaft zu errichten und lehnten da Palma Carlos Vorschlag ab, der daraufhin zurücktrat. General Firminio Miguel, den Spínola nun als Ministerpräsidenten vorschlug, wurde vom MFA abgelehnt, der stattdessen seinen Vertreter Vasco Gonçalves durchsetzte.22 Außer diesem waren noch sieben weitere MFA-Mitglieder an der Regierung beteiligt.

Dieser Schritt zeigt, dass der MFA durchaus bereit war seinen Einfluss auch politisch auszuüben, wenn er seine Ziele in Gefahr sah. Während es direkt nach dem Staatsstreich zunächst so ausgesehen hatte, als sei mit dem Sturz des Regimes die Aufgabe des MFA größtenteils abgeschlossen und als würde die Bewegung den Transitionsprozess „von außen“ überwachen, bis 1975 schließlich die Wahlen zur verfassungsgebenden Konstituante stattfinden sollten, zeigte die Durchsetzung der Zweiten Pro-

18 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 50. 19 Vgl. Miguel Urbano Rodrigues, übers. von Dario Canale, MFA – Drei Buchstaben die Geschichte machen, in: Leipziger Beiträge zur Revolutionsforschung 7 (1984), S. 26f. 20 Partido Socialista, die Sozialistische Partei. 21 Vgl. Raquel Varela und Joana Alcantara, Social Conflicts in the Portuguese Revolution, 1974–1975, in: Labour/Le Travail 74 (2014), S. 158. 22 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 57f. Die Rolle des MFA in der portugiesischen Nelkenrevolution 39

visorischen Regierung unter Gonçalves, dass der MFA sich auch aktiv in die Regierung einmischt.23 Ein wichtiges Instrument dabei sollte das COPCON (Operatives Kommando des Kontinents) wer- den, das Anfang Juli von der Junta gebildet und Otelo de Carvalho unterstellt wurde. Das COPCON stellte das Kommandozentrum des Heeres im kontinentalen Portugal dar und hatte auch einige Einsatzkräfte unter seinem direkten Befehl.

Der größte Streitpunkt im Konflikt des MFA mit Präsident Spínola war in dieser Phase der Umgang mit den Kolonien, in denen der Krieg zunächst andauerte. Während der MFA die Dekolonisierung zu einem seiner obersten Ziele erklärt hatte, bevorzugte Spínola das Modell einer lusitanischen Föderation, von der die Kolonien ein Teil sein sollten.24 Am 27. Juli 1974 erließ die Regierung Gon- çalves das Gesetz 4/74, das das Selbstbestimmungsrecht der Kolonien und die Aufnahme von Verhandlungen mit den Unabhängigkeitsbewegungen festlegte.25

Spínola verschärfte daraufhin seine Attacken gegen die Regierung Gonçalves und bezichtigte ihn, er werde von der PCP kontrolliert, die wiederum von Moskau gelenkt sei und in Portugal eine so- zialistische Diktatur errichten wolle.26 Außerdem forderte er öffentlich den Rücktritt der Regierung. Spínola setzte schließlich auf die ihm verbliebene Popularität in der Bevölkerung – die „schwei- gende Mehrheit“.27 In einer Fernsehansprache rief er diese „schweigende Mehrheit“ auf, „sich zu erheben und die Nation vor dem Extremismus zu verteidigen“.28 Die Demonstration, die für den 28. September geplant war, weckte beim MFA Befürchtungen vor einem reaktionären Umsturz, sodass die Demonstration schließlich untersagt wurde. Linke Gewerkschaften und Einheiten des COPCON blockierten den Zugang nach Lissabon. Spínola versuchte noch, durch die Ausrufung des Notstandes die Kontrolle über das Militär zurückzugewinnen, dies wurde ihm jedoch von Ge- neralstabschef Francisco da Costa Gomes verweigert.29 Zwei Tage später trat Spínola als Präsident zurück, ihm folgte General da Costa Gomes nach. Zusätzlich mussten auch drei seiner Anhänger ihren Sitz in der Junta aufgeben.

Zusammenfassend kann man sagen, dass der MFA zum Ende dieses Abschnitts seine Rolle als politischer Handlungsträger größtenteils akzeptiert hat. Während die Bewegung zu Beginn lediglich das alte Regime stürzen und ihre drei Hauptziele „Demokratisieren, Dekolonisie-

23 Vgl. Schröder, Materialien 1, S. 30. 24 Vgl. Abele, Kolonialfrage, S. 263. 25 Vgl. Abele, Kolonialfrage, S. 263. 26 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 64. 27 Vgl. Harsgor, Portugal, S. 39. 28 Vgl. Doug Enaa Greene, Fragmented Power: Portugal in Revolution, 1974–1975, in: Links Internation- al Journal of Socialist Renewal, http://links.org.au/fragmented-power-portugal-revolution, (Zugriff am 24.03.2019). 29 Vgl. Harsgor, Portugal, S. 43. 40 Paul Diekmann / Die junge Mommsen 2020 (01)

ren, Entwickeln“ umsetzen wollte30, nahm sie bei der konkreten Verwirklichung dieser Ziele immer mehr Einfluss und schließlich den Konflikt mit Spínola auf sich. Gerade das Ziel der De- kolonisierung wirkte hierbei einigend, da sich das breite Spektrum der linken Parteien (von der PCP und der PS bis zur liberalen PPD) auf eine Unabhängigkeit der Kolonien einigen konn- te, während die Spínolisten mit ihrem Ziel einer lusitanischen Föderation isoliert waren.31

2.2. Vom 30. September 1974 bis 11. März 1975: Institutionalisierung des MFA

In den folgenden Monaten wandelte sich das Bild des MFA: Es war die Rede vom Bündnis Volk– MFA. Die Idee des MFA als Befreiungsarmee, die das Volk aus Armut und Ungleichheit führen wür- de, nahm Gestalt an. Angetrieben von der Sorge vor Umsturzversuchen von rechts beschloss eine MFA-Vollversammlung im Oktober eine Umstrukturierung der Machtorgane. Die Junta und der provisorische Staatsrat wurden in einem Rat der 20 zusammengeführt, der nun vollständig vom MFA dominiert wurde. Dieser Rat kontrollierte nun die Regierung, die Gesetzgebung, hatte den Oberbefehl über die Streitkräfte und war der MFA-Vollversammlung Rechenschaft schuldig.32

Gleichzeitig wurde die Überparteilichkeit des MFA klargestellt. Da das MFA-Programm Wahlen spätestens ein Jahr nach dem Umsturz versprochen hatte, musste deren Vorbereitung beginnen und die Rolle der Bewegung bei den Wahlen erörtert werden. Am 07. November wurden die Wah- len mit einem Parteiengesetz in die Wege geleitet, der MFA hielt es sich jedoch offen, bestimmte radikale linke oder rechte Parteien sowie einzelne Personen (vor allem Mitglieder des Caetano-Re- gimes) von den Wahlen auszuschließen und auch die Presse wurde teilweise wieder zensiert.33 Zur gleichen Zeit setzte der MFA erste wirtschaftliche Maßnahmen um, wie etwa die Verstaatlichung zweier Banken. Monopolistische Wirtschaftsimperien wie die Espirito-Santo-Gruppe34 oder Cham- palimaud35 hatten sehr von der salazaristischen Wirtschaftspolitik profitiert und vor allem in die Kolonien investiert, weswegen sie natürlich das alte Regime gestützt hatten.36 Ihren Einfluss woll- te der MFA nun beschneiden. Es wurde befürchtet, dass der rechte Flügel seinen verbleibenden Einfluss nutzen würde, um im Vorfeld der Wahlen die einfache Landbevölkerung gegen den MFA und die linken Parteien aufzuhetzen.37 Dagegen rief der MFA die Kampagne der „kulturellen Dyna-

30 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 43. 31 Der extremen Rechten ging sogar diese Föderation zu weit, weshalb Spínola auch von dieser Seite keine Unterstützung erwarten konnte; vgl. Harsgor, Portugal, S. 39. 32 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 67f. 33 Vgl. ebd., S. 75f. 34 Basierte auf Banken, Versicherungsgeschäften und Kolonialunternehmen vor allem in Angola; faktisch das Monopol auf Bier in Portugal. 35 Ebenfalls Banken, Versicherungen, dazu Tourismus und das Monopol auf Stahl und Zement. 36 Vgl. Harsgor, Portugal, S. 45. 37 Vgl. Schröder, Materialien 1, S. 40. Die Rolle des MFA in der portugiesischen Nelkenrevolution 41

misierung“ ins Leben. Im Zuge dieser Kampagne wurden Soldaten aufs Land geschickt, um einer- seits die Bevölkerung über Ziele und Inhalte des MFA aufzuklären, andererseits aber auch Ent- wicklungsarbeit zu leisten, wie etwa den Bau von Straßen und Kanalisationen voranzutreiben.38

Hintergrund dieser Kampagne war die weitreichende Depolitisierung des Volkes, die das Sala- zar-Regime erreicht hatte. Vor allem in den ländlichen Regionen Nordportugals, wo oftmals noch vorindustrielle Strukturen herrschten.39 Die MFA-Zeitschrift Movimento 25 de Abril beschreibt diese Gründe folgendermaßen:

Die politische Verformung des Volkes ist nicht zuletzt auch eine Folge des großen Mangels an Information: es gibt Gebiete, die nur vom staatlichen Rundfunksender erreicht werden […]. Aus diesem Grund lebt eine große Anzahl von Portugiesen noch in einer wirtschaftlichen, politischen und religiösen Abhängigkeit von denen, die ihnen schon immer die Mittel zu einer politischen Bewusstseinsbildung vorenthielten.40

Auch wenn all diese Maßnahmen von der Mehrheit der MFA-Mitglieder getragen wurden, kam es zunehmend zu Uneinigkeiten über den weiteren Kurs der Bewegung. Um rechte Strömungen auch innerhalb des Militärs zu beseitigen, wurde das Heer ebenfalls der Dynamisierungskampa- gne unterzogen. Das führte zum Einen zu einer Verstärkung der sozialistischen Strömungen im Heer, zum Anderen aber auch zu einer deutlicheren Spaltung zwischen dem „radikalen“ und dem „gemäßigten“ Flügel.41

Die Radikalen sahen den MFA in enger Zusammenarbeit mit den linken Parteien als Triebkraft der Revolution: „Die MFA sieht sich als Motor der Entwicklung. Sie ist – zusammen mit den fortschritt- lichen Parteien – auch die Avantgarde.“42 Die Gemäßigten hingegen sahen den MFA unabhängig von den Parteien als eine Art Schiedsrichter, aber nicht als Avantgarde der Revolution:

Aus diesem Grund wird es […] auch nicht die MFA sein, die die Revolution machen wird, obwohl die MFA ein not- wendiger Bestandteil der Revolution ist und es zweifellos ohne sie keine Revolution geben kann. Die MFA hat auch noch keine Revolution gemacht. Wohl aber ist sie dabei, die Bedingungen zu schaffen, damit diese Revolution in Portugal stattfinden kann.43

Dabei war man sich jedoch einig, dass der MFA zusammenstehen müsse, um die Revolution nicht zu gefährden: „[…]ist die Einheit und Geschlossenheit der MFA tatsächlich von großer Bedeutung.

38 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 77. 39 Vgl. Bettina Decke, Lothar Maier und Dieter Esche, Ökonomie und soziale Verhältnisse vor und nach dem 25, April 1974, in: Reihe internationale Solidarität 9 (1975), S. 36. 40 Kulturelle Dynamisierung (Beitrag aus der Zeitschrift der MFA), in: Reihe internationale Solidarität 9 (1975), S. 79. 41 Vgl. Schröder, Materialien 1, S. 42. 42 …sind wir bereit, auch einen zweiten und dritten Staatsstreich zu unternehmen… (Interview mit zwei MFA-Offizieren), in: Reihe internationale Solidarität 9 (1975), S. 75. 43 Die MFA ist Bestandteil, aber nicht Avantgarde des revolutionären Prozesses (Interview mit Luftwaf- fen-Hauptmann Joao Freire), in: Reihe internationale Solidarität 9 (1975), S. 81. 42 Paul Diekmann / Die junge Mommsen 2020 (01)

Die ultralinken ebenso wie die ultrarechten Kräfte in unserem Land stehen außerhalb der MFA.“44

Ein wichtiges Instrument des MFA, das vor allem den radikalen Flügel stärkte, sollte der COPCON werden. Dieser Einheit wurden auch die Nationalgarde und die Sicherheitspolizei unterstellt, so- dass sie immer mehr polizeiliche Aufgaben auf sich nahm.45 Gleichzeitig wurde die Truppe zu einer lauten Stimme der linken Kräfte im MFA. Ihr Anführer Otelo de Carvalho sah sich an Beschlüsse der Arbeiterschaft gebunden.46 Sein Ziel war „die Umwandlung der regulären Streitkräfte in eine Volksarmee.“47

Schon bald sollte sich dann die Notwendigkeit des COPCON zeigen: Am 11. März 1975 versuchte Spínola mit Unterstützung rechter Generäle gegen den MFA zu putschen. Der Umsturz misslang jedoch schnell, als sich die putschenden Einheiten dem Druck des Volkes und dem COPCON-Regi- ment RAL148 ergaben. Spínola musste ins Exil fliehen.49 Durch die Einfachheit der Abwehrung des Staatstreiches, kam bald das Gerücht auf, dass COPCON-Offiziere Spínola falsche Informationen weitergegeben hatten, um ihn zum Putsch zu bewegen.50 Die spínolistische Opposition im Militär war nach dem gescheiterten Umsturz jedenfalls ausgeschaltet und die Effizienz des COPCON be- wiesen.

Insgesamt zeigt diese Periode, wie der MFA seine Entscheidung den poltitischen Prozess aktiv zu beeinflussen, durchsetzte, aber auch, dass es durchweg keine klare Linie der Bewegung gab. Erste Schritte in Richtung einer sozialistischen Wirtschaftordnung waren zwar durchaus mehrheitsfähig beim MFA, trotzdem wollte die Bewegung sich nicht vollständig mit den linken Parteien verbünden.

2.3. Vom 11. März bis zum 25. November 1975: Radikalisierung der Linken und Spaltung

Spínolas Putsch gab zunächst den Anreiz zu einer weiteren Bewegung des MFA nach links. Noch am Tag des Putsches wurde der Oberste Revolutionsrat gebildet, der schließlich aus 28 Mitglie- dern bestand (unter anderem dem Ministerpräsidenten, den vormaligen Junta-Mitgliedern und dem COPCON-Kommandeur) und die legislative Gewalt übernahm.

44 …sind wir bereit, auch einen zweiten und dritten Staatsstreich zu unternehmen… (Interview mit zwei MFA-Offizieren), in: Reihe internationale Solidarität 9 (1975), S. 74. 45 Vgl. Schröder, Materialien 1, S. 38. 46 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 78. 47 Interview mit Brigadegeneral Otelo de Carvalho, in: Reihe internationale Solidarität 9 (1975), S. 87. 48 Regimento de Artilharia de Lisboa, ein leichtes Artillerieregiment, wichtige Stütze der MFA bei Lissabon, vgl. Arno Münster, Portugal. Der 25. November und seine Folgen, in: Kritik der politischen Ökonomie 5 (1976), S. 21. 49 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 87f. 50 Vgl. Harsgor, Portugal, S. 59. Die Rolle des MFA in der portugiesischen Nelkenrevolution 43

Zunächst sollte der Revolutionsrat eine weitere linke Radikalisierung ermöglichen: Bestätigt von dem Putschversuch wollte der MFA weitere seiner ökonomischen Reformen durchsetzen, um die alte Elite zu entmachten.51 Es wurden 80 Prozent aller Banken und Versicherungen verstaatlicht und die Befugnisse des COPCON erweitert. Später folgten die Verstaatlichung weiterer wichtiger Indus- trien sowie eine groß angelegte Agrarreform. Des Weiteren wurden die politischen „Reinigungen“, also die Entlassung von rechten und spínolistischen Offizieren sowie Beamten, deutlich verstärkt.52 Außerdem wurde ein Verfassungspakt mit den Parteien geschlossen, die anerkennen sollten, dass der Revolutionsrat für eine Übergangszeit von drei bis fünf Jahren Teil des politischen Systems blei- ben solle. Zuletzt sollten die „Errungenschaften der Revolution“ Eingang in die Verfassung finden.53 Nachdem die wichtigsten Parteien dem Verfassungspakt zugestimmt hatten, wurde der Wahlter- min für die verfassungsgebende Konstituante auf den 25. April 1975 gelegt, genau ein Jahr nach dem Sturz des Regimes. Die Wahlbeteiligung lag bei 92 Prozent. Das Ergebnis war aber keine Be- stätigung des Linkskurses des MFA: Klarer Wahlsieger war die PS mit 38 Prozent, danach kamen die liberale PPD mit 26 Prozent und die PCP mit 13 Prozent. Einem Aufruf des MFA, einen leeren Wahlzettel abzugeben, um Zustimmung zum Kurs der Bewegung zu äußern, folgten 7 Prozent. Während MFA und PCP die Wahlen als Abstimmung über „Sozialismus gegen monopolistischen Kapitalismus“ präsentierten, sahen PS und PPD sie eher als eine Wahl zwischen sozialer, pluralisti- scher Demokratie und einem weiteren autoritären System.54

Die Wahlen ließen die Unterschiede innerhalb des MFA noch stärker hervortreten, zumal die politi- schen Widersprüche im Revolutionsrat schnell kollidierten.55 Die radikale Linke entwickelte Pläne, um mit dem MFA eine zweite Gewalt parallel zur zivilen Regierung zu errichten.56 Am 07. August kam es schließlich zum Bruch mit den Gemäßigten: Eine Gruppe MFA-Angehörige um Melo Antu- nes veröffentlichte das „Dokument der Neun“, in dem sie die Bewegung aufforderten, den Sozia- lisierungskurs zu stoppen und die Revolution zu verlangsamen, um die soziale Basis dafür nicht zu verlieren.57 Nach dem „Heißen Sommer“ 1975, in dem die PS und die PCP mehrmals in Konflikt gerieten, wurde am 19. September schließlich eine neue provisorische Regierung gebildet. Der Vizeadmiral Pinheiro de Azevedo, auch ein MFA-Mitglied, ersetzte Vasco Gonçalves, die Regierung bestand größtenteils aus PS- und PPD-Mitgliedern. Die ersten sozialistischen Reformen, die Gon-

51 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 90. 52 Vgl. Filipa Raimundo und Antonio Costa Pinto, From ruptured transition to politics of silence: The case of Portugal, in: Nico Wouters (Hrsg.), Transitional justice and memory in Europe (1945–2013), Cambridge 2014, S. 179f. 53 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 91. 54 Vgl. Harsgor, Portugal, S. 64–68. 55 Vgl. Rodrigues, MFA, S. 30. 56 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution, S. 102. 57 Vgl. ebd., S. 109. 44 Paul Diekmann / Die junge Mommsen 2020 (01)

çalves durchgesetzt hatte, wurden zurückgenommen.58 Die einflussreichen Linken im MFA wur- den schrittweise entmachtet, die Befugnisse des COPCON eingeschränkt.

Ende November kam es zum Höhepunkt des Konflikts: Die Absetzung Otelo Carvalhos führte zu Protesten und Befehlsverweigerungen der COPCON-Einheiten. Am 25. November besetzte eine Einheit Fallschirmjäger, die in den Ruhestand versetzt werden sollte, die Luftwaffenbasis Mon- santo, worauf Präsident da Costa Gomes den Ausnahmezustand verhängte.59 Der Putschversuch scheiterte jedoch schon im Ansatz, da weder das COPCON noch die Marine ihn unterstützten.60

Diese Phase der Revolution zeigt, dass der MFA zwar das Potenzial hatte großen Einfluss auf die Entwicklung des Landes auszuüben, aber letztlich zu gespalten war, um eine einheitliche Linie durchzusetzen. Die Radikalisierung der Linken im MFA führte dazu, dass diese Spaltung deutlich hervortrat, nachdem die Wahlen zur Konstituante zeigten, dass die extreme Linke keine Mehrheit in Portugal hatte. Nach dem Putschversuch vom 25. November nutzte der gemäßigte Flügel des MFA seinen Einfluss, um die Radikalen politisch auszuschalten und sein Ziel, die Streitkräfte zu de- politisieren, durchzusetzen.

3. Ausblick auf die Zukunft des MFA

Nach dem 25. November versuchten die Regierung und die Parteien zu einer demokratischen Nor- malität zu finden. Am 26. Februar 1976 schloss der Revolutionsrat, der nun von der „Gruppe der Neun“ dominiert wurde, einen revidierten Verfassungspakt, der einen Kompromiss zwischen MFA, Arbeiterbewegung und den Parteien darstellen sollte. In der Verfassung vom 02. April wurde der starke Einfluss des Revolutionsrates nicht übernommen, dafür blieb jedoch das Ziel eines sozia- listischen, demokratischen Staates: „Die portugiesische Republik ist ein demokratischer Staat, […] Er hat zum Ziel, den Übergang zum Sozialismus zu sichern“.61 Ebenfalls festgeschrieben wurden die Nationalisierungen der Revolution: „Alle Nationalisierungen, die nach dem 25.4.1974 durch- geführt wurden, sind unumkehrbare Errungenschaften der werktätigen Klassen.“62 Der MFA wurde ebenfalls in der Verfassung verankert, hatte aber de facto keinen großen Einfluss. Der Revolutions- rat hatte vor allem beratende Funktion: „Der Revolutionsrat hat die Funktion eines Beirats des Prä- sidenten […] und garantiert die ordentliche Tätigkeit der demokratischen Institutionen […] und die Treue zum Geist der portugiesischen Revolution vom 25. April 1974.“63

58 Vgl. Sperling, Nelkenrevolution., S. 112f. 59 Vgl. ebd., S. 119f. 60 Vgl. Münster, Der 25. November, S. 21f. 61 Die Verfassung der portugiesischen Republik (Auszüge), in: Leon Bertold u. a. (Hrsg.), Klassenkämpfe in Portugal heute. Dokumente und Materialien, Frankfurt am Main 1977, S. 187. 62 Ebd., S. 192. 63 Die Verfassung der portugiesischen Republik, S. 196. Die Rolle des MFA in der portugiesischen Nelkenrevolution 45

Schluss

„I think that they [der MFA] were important to put an end to Salazar’s regime but not to change the country into a democratic one.”64

Trifft diese zeitgenössische Bewertung des MFA zu? Es ist nicht zu bestreiten, dass die Bewegung eine der zentralen Triebkräfte der Revolution war. Die zivile Opposition im Estado Novo war zu schwach und unorganisiert, um das salazaristische Regime zu stürzen. Diese Aufgabe konnte eine Militärbewegung besser erfüllen.65 Das besondere Merkmal des MFA war dabei seine linke Orien- tierung, die zu seinem Bündnis mit den Unterschichten führte. Diese Orientierung und andere Merkmale sind auf den einzigartigen Hintergrund der Bewegung und die heterogene Herkunft seiner Mitglieder zurückzuführen.

Im Verlauf der Revolution sollte sich zeigen, dass der MFA nicht damit zufrieden war, den politi- schen Prozess vom Rand zu beobachten. Das Machtvakuum und die militärische Gewalt gaben der Bewegung die Möglichkeit, den revolutionären Prozess in ihrem Sinne zu formen. Wie genau die Ziele des MFA aussahen, ist hierbei schwierig zu sagen, da sich die einzelnen Lager und Mit- glieder der Bewegung zum Teil stark unterschieden und auch widersprachen. Man kann jedoch festhalten, dass der MFA während der Hochphase der Revolution einen linken sozialistischen Kurs vorantrieb und stets bereit war, die Revolution gegen Umsturzversuche von rechts zu verteidigen.

Letztendlich waren die Unterschiede innerhalb der Bewegung aber zu groß, um eine einheitliche Linie durchzusetzen. Die Sorge vor einer erneuten, diesmal links geprägten Militärdiktatur, ließ den MFA seinen Rückhalt in der bürgerlichen Bevölkerung verlieren, sodass sich das gemäßigte Lager mit seinen Forderungen, die Soldaten in die Kasernen zurückzuziehen und dem demokra- tischen Prozess seinen Lauf zu lassen, durchsetzen konnte. Die radikalen MFA-Mitglieder wurden politisch ausgeschaltet und übten kaum noch Einfluss aus. Zum Ende der Transition waren also eher die moderaten Positionen innerhalb des MFA bestimmend. Dennoch kann behauptet wer- den, dass auch die linke Orientierung der Bewegung Einfluss auf die Entwicklung Portugals hatte. Immerhin wurde der MFA in der Verfassung verankert und sollte auch noch in den Jahren danach einen leichten Einfluss ausüben.66

64 Persönliches Gespräch mit Luisa Coelho, Zeugin der Revolution in Lissabon, am 27.03.2019. 65 Vgl. Ralf Hamann, Portugal – Zehn Jahre nach der Revolution, in: Leipziger Beiträge zur Revolutionsfor- schung, 7 (1984), S. 70. 66 Vgl. José M. Magone, Politics in Contemporary Portugal. Democracy evolving, London 2014, S. 44. 46 Paul Diekmann / Die junge Mommsen 2020 (01)

Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen

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…sind wir bereit, auch einen zweiten und dritten Staatsstreich zu unternehmen… (Interview mit zwei MFA-Offizieren), in: Reihe internationale Solidarität 9 (1975), S.73–76.

Die MFA ist Bestandteil, aber nicht Avantgarde des revolutionären Prozesses (Interview mit Luft waffen-Hauptmann Joao Freire), in: Reihe internationale Solidarität 9 (1975), S.81–83.

Interview mit Brigadegeneral Otelo de Carvalho, in: Reihe internationale Solidarität 9 (1975), S.86–91.

Die Verfassung der portugiesischen Republik (Auszüge), in: Klassenkämpfe in Portugal heute. Dokumente und Materialien, Bertold, Leon, Nödinger, Ingeborg und Pollmann, Dorlies (Hrsg.), Frankfurt am Main 1977, S.187–197.

Persönliches Gespräch mit Luisa Coelho, Zeitzeugin der Revolution in Lissabon, am 27.03.2019.

Literatur

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Hamann, Ralf, Portugal – Zehn Jahre nach der Revolution, in: Leipziger Beiträge zur Revolutions- forschung 7 (1984), S. 69–81.

Harsgor, Michael, Portugal in Revolution, Washington D.C. 1976. Die Rolle des MFA in der portugiesischen Nelkenrevolution 47

July, Serge, Die Bewegung der Streitkräfte. Eine Befreiungsarmee, in: Reihe internationale Solida- rität 9 (1975), S. 47–72.

Magone, José M., Politics in Contemporary Portugal. Democracy evolving, London, Boulder 2014

Münster, Arno, Portugal: Der 25. November und seine Folgen, in: Kritik der politischen Ökonomie 5 (1976), S. 11–29.

Raimundo, Filipa und Costa Pinto, Antonio, From ruptured transition to politics of silence: The case of Portugal, in: Wouters, Nico (Hrsg.), Transitional justice and memory in Europe (1945– 2013), Cambridge 2014, S. 173–198.

Rodrigues, Miguel Urbano, übers. von Dario Canale, MFA – Drei Buchstaben die Geschichte ma- chen, in: Leipziger Beiträge zur Revolutionsforschung 7 (1984), S. 24–41.

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Sperling, Urte, Die Nelkenrevolution in Portugal, Köln 2014.

Varela, Raquel und Alcantara, Joana, Social Conflicts in the Portuguese Revolution, 1974–1975, in: Labour/Le Travail 74 (2014), S. 151–177. 48 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

Das soziale Leben der Naturdinge Der Naturalienhandel im Rahmen der Dänisch-Halleschen Mission in Tranquebar (1767–1813

Nico Geisen

Humboldt-Universität zu Berlin

Diese Arbeit wurde ursprünglich als Bachelorarbeit eingereicht.

Inhalt

Einleitung...... 48 1. The Social Life of Things. Ein Abriss zur Methodik und Theorie...... 51 1.1. Welche Dinge? Über Artefakte und Naturfakte...... 52 1.2. Über Waren, Wert und Tausch ...... 54 1.3. Über die commodity situation und ihre Politik...... 56 2. Naturgeschichtliche Aktivitäten im Rahmen der DHM: Die commodity phase...... 58 3. Überblick zweier kultureller Rahmungen: Die commodity candidacy...... 61 3.1. Die europäische Naturgeschichte: Grassroot-Gelehrsamkeit und Sammelkultur. . . . . 61 3.2. Die DHM und die Franckesche Pädagogik der Missionsschulen...... 65 4. Korrespondenzaustausch und Gelehrtensozietäten: Der commodity context...... 68 5. Die politischen Interventionen der commodity situation...... 73 Schluss ...... 77 Quellen- und Literaturverzeichnis...... 80

Einleitung

Das 18. Jahrhundert war für die Wissenschaftsgeschichte von prägender Bedeutung. Im Zuge der Aufklärung entwickelten sich zahlreiche Wissensdisziplinen, die eine taxonomische Vereinheitli- chung vorantrieben und sie mit der europäischen Expansion auf dem Globus etablierten und per- petuierten. In der Praxis vollzog sich dieser Prozess der Vereinheitlichung jedoch nicht im Globa- len, sondern im Lokalen. Auf dem Wissensgebiet der Naturgeschichte widmeten sich die Akteure Das soziale Leben der Naturdinge 49

ihrer regionalen Umgebung. Sie entdeckten, sammelten und klassifizierten. Dann tauschten sie sich in einem globalen Netzwerk untereinander aus.

Die Dänisch-Hallesche Mission (DHM) in Südostindien bietet uns Einblicke in die Wechselbezie- hung zwischen lokaler Praktik und globaler Vernetzung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert. Die pietistischen Franckeschen Stiftungen zu Halle leiteten das von der dänischen Krone 1704 ini- tiierte Mission in der dänischen Kolonie Tranquebar. Sie verfolgten eine Missionsstrategie, die auf dem Betrieb schulischer Einrichtungen aufbaute. Seit den 1770er Jahren war die Naturgeschichte eine bestimmende Thematik für die Missionare. Sie sammelten selbst Naturobjekte oder beauf- tragten ihre Mitarbeiter, Katecheten oder Schüler damit. Diese Naturobjekte dienten ihnen für den Unterricht, zu Ausstellungszwecken eigener Sammlungen, zum Naturalienaustausch mit anderen Naturhistorikern u. v. m. Aufgrund der vielen Verwendungszwecke ließe sich über die aufgesam- melten Naturobjekte eine kulturelle Geschichte erzählen, für die der Einfluss von Menschen be- deutend war. Umgekehrt ist von diesem Zeitpunkt an aber auch ein Einfluss dieser Objekte auf die Menschen evident.

Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, diese Korrelation zwischen Menschen und Naturobjek- ten am Beispiel der DHM sichtbar zu machen. Mit dieser groben Zielsetzung würde diese Arbeit jedoch dem aktuellen Trend der geschichtswissenschaftlichen Forschung lediglich folgen, statt neue Ansätze zu erkunden. Schon in den 1980er Jahren wies die geisteswissenschaftliche Debat- te um den material turn auf die soziale Bedeutsamkeit materieller Objekte hin. Häufige Referenz zur Begründung dieser Bedeutsamkeit war für die TeilnehmerInnen der Debatte Georg Simmel, welcher schon zu Beginn des 20. Jahrhundert einen Überschuss materieller Besitztümer in der Gesellschaft erkannte.1 Umzingelt von Objekten entstehe im Individuum „eine blasierte Aversion gegen die Greifbarkeit der Gegenstände“,2 da es lediglich die Masse zu erkennen vermag. Zum zentralen Aspekt des material turns gehöre es deshalb, entgegen dieser Aversion die Objekte zu fokussieren, um das auf sie projizierte Wissen zu ermitteln und zu untersuchen. Als bedeutendster Impulsgeber des material turns kann die von Michel Callon, John Law und Bruno Latour entwi- ckelte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) genannt werden.3 Letzterer definierte die Objekte konkret

1 Vgl. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Leipzig 1900. 2 Jan Keupp, Die Gegenstandslosigkeit des Materiellen. Was den material turn zum Abtörner macht, in: Mittelalter Hypotheses, 26.06.2017, https://mittelalter.hypotheses.org/10617#_ftn3, abgerufen am 08.08.2019. 3 Neben wichtigen Impulsgebern in der Wissenschaft, gibt es auch Triebkräfte aus dem Bereich der Litera- tur. Erwähnenswert erscheint hier José Saramagos 1978 erstmals veröffentlichter Kurzgeschichtenband Objecto Quase, da insbesondere seine Erzählung über die zwei Sekunden im Leben eines Stuhls m. E. auf amüsante sowie effektive Weise zeigt, welches Potenzial Objekte den Geschichtswissenschaften zu bieten haben. Vgl. José Saramago, Das Leben der Dinge, Hamburg 2017, S. 9–41. 50 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

als sog. Aktanten, die in Gestalt eines Mittlers Wissen transportieren und transformieren können.4

Die Debatte aufnehmend wandte sich auch die Wissenschaftsgeschichte den Objekten zunächst zögerlich, seit der Jahrtausendwende jedoch intensiv zu. Unter anderem resultierten daraus Er- kenntnisse über die netzwerkähnlichen Kommunikationsstrukturen in der Naturgeschichte.5 Unter häufigem Rückgriff auf die ANT als theoretischen Rahmen tendiert die aktuelle Forschung dazu, den Naturalienaustausch als eine Form des „Gabentausches“ zu verstehen, wie ihn Marcel Mauss in den 1920er Jahren für archaische Gesellschaften definierte.6 Mauss zufolge sei es ein sup- rakulturelles Phänomen, dass die Entgegennahme einer Gabe eine Verschuldung beim Empfänger verursacht, die nur durch eine Gegengabe beglichen werden kann. Die Wissenschaftsgeschichte argumentiert demnach, dass in den Netzwerken der Naturgeschichte ein Verhaltenskodex für den Naturalienaustausch entstanden sei, welcher den Prinzipien des Gabentausches folgte.7

Diese Debattenentwicklung erreichte auch die Forschung über die DHM. Bis in die 1990er Jahre untersuchten HistorikerInnen die Franckeschen Stiftungen mehrheitlich nur unter missionsge- schichtlichen oder theologischen Aspekten. Eines der Ergebnisse dieser Forschung waren die Er- kenntnisse über die enge Verbindung von Missionierung und Bildung nach der sog. Franckeschen Pädagogik, die anfangs als eher wissenschaftsfeindlich, heute jedoch mehrheitlich als wissen- schaftsfreundlich gilt. Nach der Wiederaufnahme der Stiftungen als öffentlich-rechtliche Anstalt in den 1990er Jahren überwogen globalgeschichtliche Aspekte in der Forschung, und nach der Jahrtausendwende standen die naturgeschichtlichen Aktivitäten der Missionare vermehrt im Fo- kus. Dabei war die Digitalisierung der Halleschen Berichte (HB) und der neuen Halleschen Berichte (NHB)8 ein konstruktives Hilfsmittel. Die HistorikerInnen betrachteten den Naturalientausch der Missionare ebenfalls vorrangig als eine Form des Gabentausches.9

4 Vgl. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt am Main 2017, S. 69–70 u. 95–97. 5 Exemplarisch sei hier genannt: Anke te Heesen/Emma Spary (Hrsg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001; Regina Dauser u. a. (Hrsg.), Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts (Col- loquia Augustana 24) Berlin 2008; Silke Förschler/Anne Mariss (Hrsg.), Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrens- weisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2017. 6 Vgl. Marcel Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, in: L’Année Sociologique 1 (1923/24), S. 30–186. 7 Vgl. Bettina Dietz, Aufklärung als Praxis. Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Histori- sche Forschung 36.1 (2009), S. 247–251. 8 Komplette Titel: Gotthilf August Francke/Gottlieb Anastasius Freylinghausen (Hrsg.), Der Koenigl. Daeni- schen Missionarien aus Ost-Indien eingesandter Ausfuehrlichen Berichten. Teil 1-9, Continuation 1-108, Halle an der Saale 1710–1772; Gottlieb Anastasius Freylinghausen u. a. (Hrsg.), Neuere Geschichte der Evangelischen Missions-Anstalten zu Bekehrung der Heiden in Ostindien. Volume 1-8, Stücke 1-95, Halle an der Saale 1770–1848. Es handelt sich dabei um halbjährig erschiene Zeitschriften der Franckeschen Stiftungen, die unter anderem Berichte, Tagebucheinträge oder Briefe der Missionare veröffentlichten. 9 Eine Ausnahme scheint Thomas Ruhland zu sein, welcher bei seinen Untersuchungen über die Herrnhu- ter auch kommerzielle Aspekte der DHM fokussiert. Vgl. Thomas Ruhland, Pietistische Konkurrenz und Das soziale Leben der Naturdinge 51

Jedoch gäbe es auch andere mögliche Perspektiven auf diesen Austausch, denen die Geschichts- wissenschaft bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Eine dieser möglichen Perspektiven präsentiert der Ethnologe Arjun Appadurai in seinem 1986 ebenfalls im Zuge des material turn erschienenen Sammelbandes The Social Life of Things. Er rückt die als Waren gehandelten Objekte in den Mittelpunkt, um ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu ermitteln. Appadurais Heran- gehensweise umfasst ebenfalls Mauss‘ Gabentausch, in welchem er aber einen ökonomischen Zweck erkennt und somit die Tauschintention zum immanenten Bestandteil von diesem macht. Zweckmäßigkeit und Auswirkungen des Gabentausches bekommen dadurch einen höheren Aus- sagewert, weshalb diese Perspektive Erkenntnisse über den Naturalientausch bieten kann, die mit den bisherigen Analysewerkzeugen unentdeckt blieben. Die vorliegende Arbeit betrachtet deshalb den Naturalienaustausch mit dem methodischen Repertoire von Appadurai und fragt, welchen Einfluss die von den Missionaren und ihren Mitarbeitern getauschten Naturobjekte auf das gesellschaftliche Zusammenleben in Tranquebar hatten. Wie sich zeigen wird, bietet die DHM aufgrund der engen Verbindung zwischen Missionierung und wissenschaftsfreundlicher Bildung ein besonderes Erkenntnispotenzial.

Die Arbeit gliedert sich in vier Abschnitte. Der erste Teil dient zur Erläuterung von Appadu- rais methodischem Repertoire, wobei aufgrund der thematischen Besonderheit der Natur- geschichte zuvor die Klärung einiger Begrifflichkeiten notwendig ist. Diesem Repertoire fol- gend dient der nächste Teil zur Ermittlung der sog. commodity situation. Dafür wird zunächst die zeitliche Dimension des intensiven Naturalienaustausches der Missionare untersucht. Danach werden die kulturellen Rahmenbedingungen identifiziert, auf dessen Grundla- ge sich die commodity situation bilden konnte. Die beiden letzten Kapitel ermitteln die so- zialen Voraussetzungen des Tausches und seine politischen Folgen und Zusammenhänge.

1. The Social Life of Things. Ein Abriss zur Methodik und Theorie

Kurz nach der Veröffentlichung des Sammelbandes fanden Appadurais Ansätze zur Erfassung von Handelsflüssen schnell positive Resonanzen. Die historischen und anthropologischen Wissen- schaften feierten das Buch gleichsam als „fruitful“ und „instructive“ und bezeichneten es „getrost jetzt schon als ein[en] Klassiker“.10 Insbesondere die Überlegung, Handel und Tausch von Waren

Naturgeschichte. Die Südasienmission der Herrnhuter Brüdergemeinde und die Dänisch-Englisch-Hal- lesche Mission (1755–1802), Herrnhut 2018; Thomas Ruhland, Zwischen Grassroot-Gelehrsamkeit und Kommerz. Der Naturalienhandel der Herrnhuter Südasienmission, in: Silke Förschler/Anne Mariss (Hrsg.), Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 29–46. 10 Keith Luria, Rezension zu: Arjun Appadurai (Hrsg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, in: Journal of Social History 23 (1989), S. 190; Peter Flügel, Rezension zu: 52 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

als einen Lebensausschnitt von Dingen zu betrachten, sei vielversprechend.11 Doch entgegen der Erwartungen der RezensentInnen vollzog sich die erwünschte interdisziplinäre Umsetzung von Appadurais Ansätzen in der wissenschaftlichen Praxis erst seit den 2000er Jahren, was sich schnell bei einem Überblick über die Betitelungen in der Fachliteratur bemerkbar macht.12 Es stand bis- her aber zumeist nicht seine methodische Herangehensweise zur Untersuchung des Handels im Mittelpunkt. Vielmehr interessierten sich die WissenschaftlerInnen lediglich für Appadurais Fokus- sierung auf die Objekte und ihr Eigenleben. Diese Forschungsausrichtung ergab viele konstruktive Ergebnisse in verschiedenen Disziplinen. Bei der hohen interdisziplinären Reichweite waren Poly- semien jedoch unausweichlich. Früher oder später gelangten alle AnalystInnen nämlich zu einer Begrifflichkeit, dessen Definitionsgrenzen poröser kaum sein könnten: Dinge.

1.1. Welche Dinge? Über Artefakte und Naturfakte

Der Sammelband gibt bereits im Titel den Ansatz für eine Definition von Dingen: The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. Dinge können aus kultureller Perspektive zu einer Ware werden. Eine Klärung der Eigenschaften, die ein Ding besitzen muss, um eine Ware zu wer- den, lässt Appadurai im weiteren Verlauf seiner Elaboration jedoch missen. Lediglich eine weitere generelle Definitionseigenschaft fügt er in Abgrenzung zu einem anderen Begriff hinzu: Wörter. Wörter drücken Beziehungsverhältnisse zwischen Objekten und Subjekten in sprachlichen Kon- zeptionen aus. Sie fungieren auf einer rein geistig-kommunikativer Ebene. Dinge sind jedoch stumm. Sie selbst können ihre Beziehungsverhältnisse nur in materieller Form ausdrücken. Für den Menschen ist diese Ausdrucksform jedoch nur mit Wörtern begreifbar.13 Von dieser Definition aus spezifiziert Appadurai keine weiteren begrifflichen Auslegungen von Dingen.

Beim Lesen seines Aufsatzes wird zwischen den Zeilen jedoch schnell eine weitere Definition deutlich: Dinge seien lediglich vom Menschen bearbeitete, materielle Erzeugnisse. Kategorisierte man Dinge in einen ontologischen Dualismus von Natur und Kultur, so wäre Appadurais Unter-

Arjun Appadurai (Hrsg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, in: Anthropos 84 (1989), S. 245. 11 Vgl. James Ferguson, Rezension zu: Arjun Appadurai (Hrsg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, in: Cultural Anthropology 3 (1988), S. 508. 12 Exemplarisch sei hier genannt: Fernando Santos-Granero (Hrsg.), The Occult Life of Things. Native Am- azonian Theories of Materiality and Personhood, Tucson 2009; Adam Drazin/Susanne Küchler (Hrsg.), The Social Life of Materials. Studies in Materials and Society, London 2015; Anne Gerritsen/Giorgio Riello (Hrsg.), The Global Lives of Things. The Material Culture of Connections in the Early Modern World, New York 2016; Anna Malinowska/Karolina Lebek (Hrsg.), Materiality and Popular Culture. The Popular Life of Things, New York 2017. 13 Vgl. Arjun Appadurai, Introduction. Commodities and the Politics of Value, in: Arjun Appadurai (Hrsg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge u. a. 1986, S. 4–5. Das soziale Leben der Naturdinge 53

suchungsfeld folglich in den Bereich der Kultur zu verorten. Die Definition der Dinge würde somit in Abgrenzung zu Naturdingen erfolgen und demnach nur die Entitäten im kulturellen Bereich betreffen.

Dieser ontologische Dualismus ist jedoch keine faktische Wesenhaftigkeit, sondern lediglich ein gedankliches Konstrukt, welches sich spätestens in der Moderne mehrheitlich in Europa etablier- te und sich mit der europäischen Expansion großflächig auf dem Globus verbreitete.14 Dass es jedoch in vielen Gesellschaften eine Unmenge von alternativen Weltanschauungen gab, unter- streicht Philippe Descola in seinem Buch Jenseits von Kultur und Natur, in welchem er anhand von vielen ethnologischen Beispielen vier Ontologien erkennt, die in den Gesellschaften der Welt zu finden sind. Sein Buch macht deutlich, dass insbesondere vor der Globalisierung und Kolonialisie- rung die meisten Gesellschaften eine Weltanschauung besaßen, die den Dualismus von Natur und Kultur nicht kannten.

Auch im kolonialisierten Tranquebar des 18. Jahrhunderts lässt sich nur spärlich eine solche Tren- nung wiederfinden, insbesondere da hier Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaften zu- sammenkamen.15 Die vorliegende Untersuchung des Naturalienhandels auf einen Begriff zu stützen, welcher mit einer konstruktivistischen Grenze zwischen Kultur und Natur fungiert, wäre insofern nicht sinnvoll. Es ist somit angemessen sich dieser Grenze zu entledigen und den Defi- nitionsrahmen von Dingen auf nicht-menschliche Erzeugnisse zu erweitern, um den Ding-Begriff auch auf natürliche Entitäten anwendbar zu machen.

Doch um keine Dinglichkeit in allen Formen des Seins zu erkennen und die Dinge synonym zu Ma- terie zu machen, gilt es hier eine spezifischere Definitionsabgrenzung vorzunehmen. Dafür lohnt sich ein Blick auf die materielle Kultur, ein neueres Forschungsgebiet, welches die Erforschung der Dinge zu ihrem Kernelement macht. In der materiellen Kultur gilt der Ding-Begriff konventionell als Hyperonym für Artefakte und Naturfakte. Doch auch hier besteht eine innerfachliche Poly- semie. Eine für die vorliegende Arbeit nützliche Ansicht definiert Artefakte als alle von einer Ge- sellschaft intendierten, künstlich gefertigten Dinge. Naturfakte wiederum sind als alle Dinge, „die

14 Vgl. Philippe Descola, Jenseits von Kultur und Natur, Berlin 2018, S. 27; Latour, Eine neue Soziologie, S. 192. 15 „Die Einwohner bestehen theils in weissen Europäern / theils in halbweis-sen Portugisen / theils in gel- ben Mohren / meistentheils aber in schwarz=braunen Malabaren. Die Anzahl solcher unterschiedlichen Einwoh=ner kann ich nicht eigentlich wissen: doch muß ich sagen / daß Tranque-bar eine recht Vol- ckreiche Stadt sey / so / daß es darinnen wimmelt von grossen und kleinen ; zumal / weil so wol von der See-Cante durch frem-de Schiffe / als auch aus dem Lande sehr viele Menschen von allerley Na=tionen des Handels wegen allhier ab und zugehen.“ Bartholomäus Ziegenbalg, Gnade / Krafft / Licht und Heyl von unserm Heyland JEsu CHristo, in: HB 3 (1713), S. 112–113. Zu der Bevölkerung in Tranquebar vgl. Stephan Diller, Die Dänen in Indien, Südostasien und China (1620–1845), Wiesbaden 1999, S. 182–186. 54 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

ohne Zutun des Menschen existieren, von ihm jedoch zu bestimmten Zwecken genutzt werden“.16 In Differenz zu den Naturfakten existieren auch die Naturdinge, jene von der Natur produzierten, aber vom Menschen ungenutzten Dinge. Ob ein Naturobjekt als ein Naturfakt oder -ding zu be- zeichnen ist, hängt also von dem Vorhandensein einer Interaktion mit dem Menschen ab.17 Die vorliegende Arbeit stützt sich für ihre Definition der Dinge auf diese letztgenannte Ansicht aus der materiellen Kultur.

1.2. Über Waren, Wert und Tausch

Während die Definition der Dinge bei Appadurai relativ kurz ausfällt, ist die Definition von Wa- ren und ihrem Wert ausführlicher. Der Ethnologe definiert seinen Warenbegriff in Abgrenzung zu einer marxschen Auslegung, welche als Vorstufe der Ware das Produkt erkennt. Dieses verfüge über einen Gebrauchswert und werde dann zur Ware, wenn dem Gebrauchswert ein Mehrwert hinzugefügt wird, der die in das Produkt investierte Arbeit übersteigt.18 Die marxsche Auslegung fokussiert seine Warendefinition also auf die Produktion und auf die Abfertigung in einen Markt, welcher auf die Kapitalerzeugung abzielt. Dadurch ergibt sich die Nutzungseinschränkung des Begriffes auf kapitalistische Märkte.

Appadurai will dieser Einschränkung entgehen. Um einen Warenbegriff für alle Formen von Han- delsmärkten zu schaffen, entledigt er sich dem Fokus auf die Produktion und beschränkt sich zunächst auf die Grundannahme, dass „any thing intended for exchange“19 eine Ware sein kann. Sein Warenbegriff wird somit auch auf Analysen von interkulturellen oder intertemporalen Han- delsmärkten anwendbar, denen nicht die Produktionsprozesse kapitalistischer Gesellschaften zu Grunde liegen.

Ein Naturfakt wird also zu einer Ware, sobald die Intention vorliegt, es zu tauschen. Auf dieser Basis definiert sich nach Appadurai auch der Wert. Eine Ware hat stets einen Wert. Sobald also

16 Christian Feest, Materielle Kultur, in: Bettina Beer/Hans Fischer (Hrsg.), Ethnologie. Einführung und Über- blick, Berlin 2003, S. 240. 17 Vgl. Georg Toepfer, Naturdinge, in: Susanne Scholz/Ulrike Vedder (Hrsg.), Handbuch Literatur & Materiel- le Kultur, (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 6) Berlin 2018, S. 428–430. Additiv nennt der Ethnologe Christian Feest die sog. Exofakte, welche Artefakte sind, die innerhalb einer Gesellschaft genutzt werden, welcher jedoch das Wissen fehlt, um diese selber zu produzieren. So hatte z. B. die In- dianergemeinschaft der Cree in Ostkanada im 18. Jahrhundert Jagdgewehre bei europäischen Händlern erworben, die sie selber aber weder herstellen noch reparieren konnten. Exofakte verlangen aufgrund der interkulturellen Begegnungsanhäufung in Prozessen der Kolonialisierung und Globalisierung eine besondere Aufmerksamkeit, haben aber in der vorliegenden Arbeit aufgrund der Fokussierung auf Na- turfakte weniger Bedeutung. Vgl. Feest, Materielle Kultur, S. 239–241. 18 Vgl. Appadurai, Introduction, S. 7–9. 19 Appadurai, Introduction, S. 9. Das soziale Leben der Naturdinge 55

eine Tauschintention in Erscheinung tritt und ein Naturfakt zu einer Ware wird, enthält diese Ware auch einen Wert. Eine Definition von Georg Simmel heranziehend, ist der Wert jedoch weder dem Wesen der Dinge, noch dem der Ware inhärent, sondern „is a judgment made about them by sub- jects“.20 Er ist der Ware also nicht zugehörig, sondern zugeschrieben. Die Zuschreibung geschehe durch die Teilhabenden am Handel, die ihre Entscheidungen unter kalkulatorischen Faktoren tref- fen, die dem Außenstehenden nicht immer sichtbar sind.21

Zusammengefasst kann also eine Ware ein Naturfakt sein, welchem die am Tausch Teilhabenden eine Tauschintention und einen Wert zuschreiben. Nun gilt es noch zu klären, welche Konstella- tionen von Begebenheiten einen Tausch determinieren. In der Kulturanthropologie ist die Annah- me gängig, dass Tauschintentionen beim Handel ohne Geld nur im sog. Bartergeschäft vorliegen, während in dem von Mauss‘ definierten Gabentausch die Tauschintentionen fehlen. Das Barterge- schäft sei „profit-oriented, self-centered, and calculated“, während der Gabentausch einen „spirit of reciprocity, sociability, and spontaneity”22 habe.

Appadurai kritisiert diese strikte Trennung, da beide Tauschtypen viele entscheidende Parallelen aufweisen. Zwar gibt der Gabentausch die Abwesenheit eines Selbstinteresses vor, doch im Ent- wurf einer Theorie der Praxis zeigt Pierre Bourdieu, dass er sich stetig den ökonomischen Kalkula- tionen der Teilhabenden anpasst. Die Tauschintention ist zwar zumeist von zeitlicher Diskrepanz verdeckt, aber sie ist dennoch bewusst oder unbewusst existent, was dem Gabentausch eine „eco- nomy in itself and not for itself“23 verleiht.

Aufgrund der Tauschintention die Trennung von Bartergeschäft und Gabentausch also für un- brauchbar erklärend schlägt Appadurai vor, die Tauschkonstellation nicht aus der Perspektive der Teilhabenden, sondern aus Perspektive der Ware zu betrachten. Dabei kann die Zeit, in der ein Naturobjekt als Ware definierbar ist, als eine Art biographischer Teilausschnitt im Leben dieses Objektes verstanden werden. Das Auftreten der Konstellation von Ware, Wert und Tauschinten- tion bezeichnet Appadurai als die commodity situation. In dieser commodity situation verbirgt sich die Erkenntnis über die Einflussnahme der Naturobjekte auf den Menschen. Diese Einflussnahme zeigt sich augenfällig in einer Form von politischer Intervention.

20 Appadurai, Introduction, S. 3. 21 Vgl. ebd., S. 12–13. 22 Ebd., S. 11. 23 Pierre Bourdieu, Outline of a Theory of Practice, Cambridge u. a. 1977, S. 171, zit. nach Appadurai, Intro- duction S. 12. 56 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

1.3. Über die commodity situation und ihre Politik

Eine commodity situation unterteilt sich in drei Elemente: Die commodity phase, die commodity candidacy und der commodity context. Die commodity phase bezieht sich auf den temporalen Fak- tor einer Ware. Sie begrenzt den Lebensausschnitt, in dem das Naturfakt eine Ware ist. Sie kann mehrfach auftreten und sie kann mal länger und mal kürzer, aber auch endgültig sein. Die com- modity phase ist abhängig von der Existenz einer Tauschintention, da ohne diese auch keine Hand- lungsinitiative bestehen würde. Sie ist somit auch keine natürliche Begebenheit, sondern setzt eine menschliche Interaktion voraus. Und sie kann auch der Manipulation eines Individuums oder einer Gruppe zuteilwerden. Durch die Tauschintention ist die Dauer einer commodity phase im Leben eines Naturobjektes zudem gesellschaftlichen Umständen wie Nöten, Trends oder Bedürf- nissen geschuldet. Auch politische Verbote oder Regulationen können sie kappen oder entstehen lassen.24

Die commodity candidacy ist ein zeitlich unabhängiger Aspekt und definiert sich mehrheitlich über das Tauschpotenzial eines Naturfaktes. Sie ist das kulturelle Gebilde, welches den Wert einer Ware bestimmt, aber auch die grundsätzliche Tauschbarkeit eines Naturfaktes erst ermöglicht beziehungsweise entzieht. Laut Appadurai lässt sie sich am besten metaphorisch als ein kultu- reller Rahmen verstehen, in welchem die aus Konventionen entstandenen Taxonomien von dem Tauschobjekt die Verhandlungen bestimmen und die Werte der Waren formen. Dieser kulturelle Rahmen ist in seiner Struktur jedoch nebulös und flexibel.

Problematisch wird diese Metaphorik im Falle eines Handels über kulturelle Grenzen hinweg. Die taxonomischen Unterschiede zwingen die Handelsparteien in Tauschkonvention und Preis zusammenzukommen, obwohl die Werthaftigkeit der gehandelten Objekte im jeweiligen kultu- rellen Rahmen differiert. Die Schwierigkeit der Preisfindung bei auseinanderliegenden Wertemp- findungen spiegelt sich auch beim Handel zwischen Parteien wider, deren Ausgangsituation im starken Kontrast zueinander stehen und eine Partei maßgeblicher die Werte bestimmen kann als die andere. Letzteres geschieht häufig in Notsituationen, in denen Werthaftigkeit ad absurdum geführt wird, so zum Beispiel, wenn im Zuge einer Hungersnot eine Handelspartei ein hohes Opfer erbringen muss im Tausch für existenzielle Gegenstände wie eine Mahlzeit.25

Der commodity context ist das Verbindungselement zwischen den in der Handelssituation betei- ligten Parteien. Er ist der soziale Begegnungsumstand, in welchem der Tausch stattfindet. Dies kann ein physischer Ort sein, wie zum Beispiel ein Flohmarkt, kann aber auch ein politischer Zu- stand sein, wie ein durch ein Handelsembargo entstandener Schwarzmarkt für eine bestimmte

24 Vgl. Appadurai, Introduction, S. 13. 25 Vgl. Appadurai, Introduction, S. 13–15. Das soziale Leben der Naturdinge 57

Ware. Der internationale Handel einer Ware für sich könnte ebenso als ein Beispiel für einen com- modity context gelten. Der Begegnungsumstand ist dann das Verbot oder die Kontrolle einer be- stimmten Ware im nationalen Einflussgebiet. Der commodity context ist also nicht ortsgebunden. Er beschreibt lediglich die sozialen Konditionen oder Regeln, in denen sich die beteiligten Akteure zurechtfinden müssen. In ihm kann die Zusammenführung von commodity phase und commodity candidacy stattfinden und somit eine commidity situation entstehen.26

Alle drei Elemente haben keine festen, unveränderbaren Formen, die der Manipulation unemp- fänglich sind. Vielmehr sind sie der ständigen Umformung ausgesetzt. Diese Umformung ge- schieht hauptsächlich durch politische Interventionen, wobei Appadurai den Begriff der Politik sehr breitflächig auslegt, „in the broad sense of relations, assumptions, and contests pertaining to power“.27 Politik äußert sich häufig in Form von Verkaufsverboten oder Monopolbegünstigungen. Gemeint sind aber auch indirekte gesteuerte Vorgänge, die die Nachfrage manipulieren sollen, wie zum Beispiel das Etablieren von Modetrends. Ziel dieser Interventionen sind das Kreieren, Per- petuieren oder Auflösen von Handelsflüssen.28

Die Nachfrage ist der commodity situation eine stetig immanente Variable. Nachfrage ist hier je- doch nicht als bloße Äußerung von Grundbedürfnissen oder als Verlangen nach der Ausgabe an- gesammelten Kapitals zu verstehen. Vielmehr ist sie „an aspect of the overall political economy of societies (…) [that] emerges as a function of a variety of social practices and classifications“.29 Ebenso, wie sie ein Opfer einer Manipulation durch politische Intervention sein kann, kann sie auch ein ausschlaggebender Faktor für eine Wertsenkung oder -steigerung sein und neue Han- delswege eröffnen. Dies kann aber wiederum neue politische Interventionen hervorrufen.30 Das Verhältnis von Nachfrage und Politik ist somit korrelativ.

Mit Hilfe von Appadurais methodischem Repertoire lässt sich also die wechselseitige Beziehung zwischen Objekten und Menschen aufdecken, indem man die commodity situation und ihre wech- selseitigen Beziehungen zwischen Nachfrage und Politik untersucht. Für den vorliegenden For- schungsgegenstand gilt es folglich, die Nachfrage an Naturfakten im Kontext der DHM in Tranque- bar zu erschließen und damit reziproke politische Interventionen zur Entstehung, Verfestigung oder Auflösung von Handelsflüssen zu ermitteln. Dafür ist es zunächst nötig, die Grenzen der com- modity phase zu erfassen, also die intensive und fortlaufende Tauschaktivität von Naturfakten in der DHM ausfindig zu machen.

26 Vgl. Appadurai, Introduction, S. 15–16. 27 Ebd., S. 57. 28 Vgl. ebd., S. 28. 29 Appadurai, Introduction, S. 29. 30 Vgl. ebd., 40–41. 58 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

2. Naturgeschichtliche Aktivitäten im Rahmen der DHM: Die com- modity phase

Schon seit Beginn der DHM 1706 machten die Missionare die Naturerkundung ihrer Umgebung zu einem signifikanten Aufgabenbereich ihres Aufenthaltes in Tranquebar. Anfangs betrieben sie nur spärlich einen wechselseitigen Naturalienaustausch mit Naturhistorikern, geschweige denn einen Handel. Die ersten Missionare Bartholomäus Ziegenbalg und Heinrich Plütschau sandten Naturalien an die Franckeschen Stiftungen nach Halle oder an den dänischen Königshof und ver- suchten, einigen Nachfragen von Lesern zu der indischen Natur in den HBs nachzukommen.31 Im Zuge ihrer Missionsbestrebungen beschäftigten sie sich jedoch intensiver mit dem einheimischen Alltagsleben, der indischen Kultur oder der hinduistischen Religion. Die Informationsgewinnung sollte vorrangig zur Verbesserung der Bekehrungsbemühungen dienen und geschah noch unter der Grundannahme der „Vergleichbarkeit und Gleichwertigkeit der europäischen und indischen Kultur“32.

Dies beinhaltete auch eine wertneutrale Haltung gegenüber der einheimischen Heilkunde, die einen weiteren Interessenschwerpunkt der Missionare ausmachte. Sie sprachen mit tamilischen Heilpraktikern und Brahmanen genauso wie mit Tamilen aus den unteren Kasten und sozialen Stellungen und sammelten Schriften über indigene Heilungsmethoden.33 Unter der Annahme eines vergleichbaren Wissensniveaus, das sich lediglich in regionalen und taxonomischen Fest- legungen unterscheide, erkundigten sie sich allerorts, unter anderem mit der Aussicht auf eine Erweiterung des Wissenshorizontes auf dem Gebiet der Medizin. Dabei bedachten sie stetig auch, dieses Wissen nach Europa übermitteln zu können.34

Bemerkbar änderte sich dies jedoch mit der Ankunft des ersten eigenen Missionsarztes Samuel Benjamin Cnoll 1730. Neben der medizinischen Versorgung des Mitarbeiterstabes diente seine Anstellung auch zur Entlastung der Missionare, indem er sich um die Anfragen zu medizinischen und, damit verbunden, zu botanischen Angelegenheiten von Lesern der HB kümmerte. Die Erfor-

31 Vgl. Karsten Hommel, Naturwissenschaftliche Forschungen, in: Heike Liebau (Hrsg.), Geliebtes Europa// Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission. Jahres- ausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 7. Mai – 3. Oktober 2006 (Kataloge der Francke- schen Stiftungen 16), Halle 2006, S. 163–164. 32 Anne-Charlott Trepp, Von der Missionierung der Seelen zur Erforschung der Natur. Die Dänisch-Halle- sche Südindienmission im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 36.2 (2010), S. 243. 33 Vgl. Trepp, Missionierung der Seelen, S. 242–243. 34 Vgl. Neumann, Josef, Medizinische Forschungen, in: Heike Liebau (Hrsg.), Geliebtes Europa//Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 7. Mai – 3. Oktober 2006 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 16), Halle 2006, S. 185–186. Das soziale Leben der Naturdinge 59

schung der südindischen Natur gehörte ebenso zu seinem Aufgabenbereich, wie grundlegende Kenntnisse in der zeitgemäßen Naturwissenschaft Vorrausetzungen seiner Anstellung waren.35

Während seiner über 35-jährigen Arbeitszeit in Tranquebar veränderte sich die Wahrnehmung der Missionsangehörigen von der tamilischen Heilkunde wesentlich. Die wertneutrale Haltung gegenüber den indigenen Heilpraktiken wich einem Gefühl der Überlegenheit europäischer Me- dizin. Cnoll „erklärt die in Südindien anzutreffenden Krankheitszustände im Ordnungszusammen- hang der eigenen Nomenklatur und nosologischen Klassifikation sowie in den kategorialen Struk- turen europäischer Wissenschaft“.36

Damit einher ordnete er auch die der Medizin kohärente Botanik in die europäische Nomenklatur und gab somit den Anstoß für eine Intensivierung der naturgeschichtlichen Aktivitäten auf der Missionsstation. Wie sich bei der Untersuchung der commodity candidacy im nächsten Kapitel zeigen wird, geschah dies parallel zu den Entwicklungen in Europa, aus der sich eine höhere Nach- frage der Leser der HB an entsprechenden Informationen ausbreitete. Die Informationsgewin- nung und die Kategorisierung der indischen Natur nach europäischer Taxonomie nahm mit Cnoll also kontinuierlich zu, ebenso die Versendung von Naturalien nach Europa.37 Jedoch lassen sich hier noch keine konkreten Tauschintentionen und keine andauernden, sondern nur vereinzelte Tauschaktivitäten erkennen.

Dies veränderte sich mit Cnolls Nachfolger Johann Gerhard König. Mit denselben Aufgaben be- traut wie sein Vorgänger, kam er nach dem Tod Cnolls 1767 nach Tranquebar.38 Als ein Schüler des schwedischen Botanikers Carl von Linné, Begründer der binären Nomenklatur, war er bei seiner Ankunft Teil eines bereits bestehenden globalen Netzwerkes.39 Linné fokussierte einen globalen Umfang seiner Naturforschungen und schickte seine Schüler auf regelrechte „Forschungsexpedi- tionen in mehreren Kontinenten“,40 um sich Spezimen von ihnen zuschicken zu lassen, für die er

35 Vgl. Niklas Thode Jensen, Making it in Tranquebar. The Circulation of Scientific Knowledge in the Ear- ly Danisch-Halle Mission, in: Esther Fihl/Irā Venkaəachalapathy (Hrsg.), Beyond Tranquebar. Grappling Across Cultural Borders in South India, Hyderabad 2014, S. 332–333. 36 Neumann, Medizinische Forschungen, S. 188. 37 Vgl. Jensen, Making it in Tranquebar, S. 338–343. 38 Vgl. Hommel, Naturwissenschaftliche Forschungen, S. 166. 39 In ihren Forschungen zu Johann Reinhold Forster bringt Anne Mariss den Begriff des „Oligoptikum“ von Latour auf. Anders als das allumsichtige „Panoptikum“, seien Oligoptiken erkennbar gemachte lokale Bereiche, deren Verbindungen durch das Handeln von Akteuren und Aktanten bestehen. Die Sichtbar- machung dieses Handelns ermöglicht gleichsam die Lokalisierung des Globalen. Es macht deshalb Sinn, Linnés Arbeitsplatz als ein Oligoptikum zu betrachten, zu dem König einen Verbindungsstrang bildete. Vgl. Anne Mariss, Globalisierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert. Die Mobilität der Dinge und ihr materieller Eigensinn, in: Debora Gerstenberger/Joel Glasman (Hrsg.), Techniken der Globalisierung. Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2016, S. 79–80; Latour, S. 312–316. 40 Andreas Önnerfors, Auswärtige Saamen und Gewächse ingleichen zur Correspondence – die Verarbeitung linnéischer Naturalhistorie in Schwedisch-Pommern im 18. Jahrhundert, in: Regina Dauser u. a. (Hrsg.), 60 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

im Gegenzug Naturalien, Schriften oder Instrumente zurücksandte. König etablierte ein taxono- misches System von Linné für alle weiteren Naturerkundungen der Missionsstation, auf welches im späteren Verlauf der Arbeit nochmals eingegangen wird.41

Auch der 1771 in Tranquebar angekommene Missionar Christoph Samuel John hatte „unter An- leitung des Herrn Doctor Königs eine große Neigung zur Naturgeschichte bekommen“,42 mit dem sich nun endgültig eine Phase des fortlaufenden Naturalienaustausches und der konkreten Tauschaktivität auf der Station entwickelte. Auch sein fünf Jahre später angereister Amtskollege Johann Peter Rottler half bei der Einrichtung von Handelsflüssen. Immer wieder baten sie in Brie- fen um die Zusendung von Büchern, Instrumenten oder Materialien, die sie im Gegenzug mit in- dischen Naturalien zu tauschen beabsichtigten.43 Sie konnten durch ihre Vorgänger bereits auf ein „eigenes Informations- und Netzwerksystem“44 unter den lokalen europäischen und tamilischen Akteuren zurückgreifen, das ihnen den Zugang zu Naturalien und auch Abnehmern erleichterte. Mit dem Anlegen einer eigenen Tiersammlung und einiger Gärten produzierten sie zudem eine Art Vorrat von Spezimen, den sie unter anderem für den Tausch nutzten.45

König verweilte lediglich acht Jahre in der DHM. Nach seiner Amtszeit als Missionsarzt reiste er durch Indien als Naturforscher für den indischen Herrscher in Thanjavur Tullasu Rasa, bevor ihn 1778 die dänische Ostindien-Kompanie als Arzt in Tranquebar anstellte und er sieben Jahre später verstarb.46 Rottlers Karrierelaufbahn endete nicht in Tranquebar. 1806 wechselte er zur englischen Mission in Madras über, wo die Franckeschen Stiftungen mit Hilfe der Londoner Society for Pro- moting Christian Knowledge 1726 zu missionieren begonnen hatte. Beide blieben jedoch stetig im engen Austausch mit den Missionaren in Tranquebar, insbesondere mit John, welcher bis zu seinem Ableben im Jahr 1813 dort arbeitete.47

Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentansfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhun- derts, (Colloquia Augustana 24) Berlin 2008, S. 91. 41 Vgl. Niklas Thode Jensen, The Tranquebarian Society, in: Scandinavian Journal of History 40,4 (2015), S. 539. 42 Brief von Christoph Samuel John an Christian Friedrich Rüdiger, Franckesche Stiftungen, Missionsarchiv, 15.02.1790, AFSt/M 1 C 31a : 53. 43 Vgl. ebd.; Hommel, Naturwissenschaftliche Forschungen, S. 168 u. 173; Jensen, The Tranquebarian Socie- ty, S. 539–540. 44 Heike Liebau, Die indischen Mitarbeiter der Tranquebarmission (1706–1845). Katecheten, Schulmeister, Übersetzer, Tübingen 2008, S. 218. 45 Vgl. Jensen, The Tranquebarian Society, S. 546. 46 Vgl. ebd., S. 539. Für Königs Arbeit im Dienst von Tullasu Rasa vgl. auch: Johann Gerhard König, Aus- zug aus einem Schreiben des Herrn D. Johann Gerhard König, aus Tranquebar vom 8ten Februar. 1776 an Herrn Spengler zu Kopenhagen, in: Beschäftigungen der Berlinischen Gesellschaft Naturforschender Freunde. Dritter Band, Berlin 1777, S. 427–430; Vgl. auch: Hommel, Naturwissenschaftliche Forschungen, S. 167. 47 Für einen Überblick über die Biographien aller Missionare der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission vgl. Gröschl. Jürgen, Missionaries of the Danish-Halle and English-Halle Mission in India 1706–1844, in: An- dreas Gross u. a. (Hrsg.), Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, Vol. 3: Communica- Das soziale Leben der Naturdinge 61

Nach ihm gab es keine Missionsmitarbeiter mehr, die sich so intensiv mit der Naturgeschichte und dem Naturalienaustausch beschäftigten. Zudem erschwerten bereits einige Jahre zuvor finanziel- le Nöte der Franckeschen Stiftungen und steigende kriegerische Spannungen zwischen den Ko- lonialmächten die naturgeschichtlichen Betätigungen der Missionsmitarbeiter.48 Eine commodity phase der DHM lässt sich also erfassen von 1767, mit dem Arbeitsbeginn von König als Missions- arzt, bis spätestens 1813 mit dem Ableben von John.

3. Überblick zweier kultureller Rahmungen: Die commodity candi- dacy

Mit der commodity phase ist nun also die Zeit definiert, in welcher eine Handelssituation der Natur- fakte mit konkreter Tauschintention vorlag. Als zweiter Hauptbestandteil der commodity situation soll nun die commodity candidacy ermittelt werden, in denen sich die an der Handelssituation beteiligten kulturellen Bereiche offenbaren. Die Ermittlung dieser Bereiche, auf denen sich der später zu erläuternde commodity context ausbreiten konnte, ist von der Schwierigkeit begleitet, dass der kulturelle Rahmen mehrfach durchbrochen wurde. Die Handelssituation bewegte sich in einem weiten, globalen Raum und überschritt mehrere kulturelle Grenzen. Es beteiligten sich an versteckten Orten Kulturen an der Waren-, Wert- und Tauschbestimmung, die der vorliegenden Untersuchung vorborgen bleiben. Zwei beteiligte Kulturbereiche lassen sich jedoch zweifelsfrei ausmachen: Die europäische Naturgeschichte als eine Nachfrage produzierende Abnehmerschaft und ein innerorganisatorisches Schulnetz der DHM in und um Tranquebar als ein förderlicher Fak- tor für die Ausbreitung der europäischen Naturgeschichte.

3.1 Die europäische Naturgeschichte: Grassroot-Gelehrsamkeit und Sammel- kultur

Den Zeitpunkt des Eintretens der Naturgeschichte beschreibt Michel Foucault in seinem Buch Die Ordnung der Dinge als unausweichlich. Nach der Entkopplung der Natur von der Geschichtsschrei- bung, einem Prozess der Entsprachlichung der Naturbeschreibungen im ausgehenden 17. Jahr-

tion between India and Europa, Halle 2006, S. 1497–1527. 48 Die Missionsgeschichtsschreibung schrieb bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts ausschließlich den naturgeschichtlichen Aktivitäten den Untergang der Mission seit dem 19. Jahrhundert zu. Andreas Neh- ring trat 1999 dem jedoch entschieden entgegen und sorgte für eine Trendwende in der Forschung. Seiner Ansicht nach versuchten sich die Missionare mit der Naturgeschichte lediglich den Phänomenen der Zeit anzupassen Vgl. Andreas Nehring, Natur und Gnade. Zu Theologie und Kulturkritik in den neuen Halleschen Berichten, in: Michael Bergunder (Hrsg.), Missionsberichte aus Indien im 18. Jahrhundert. Ihre Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte und ihr wissenschaftlicher Quellenwert für Indien- kunde, (Neue Hallesche Berichte 1) Halle 1999, S. 243–245. 62 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

hundert, bildete sich die Naturgeschichte als ein notwendiges Folgeprodukt, um das entstandene Vakuum zwischen reduzierter Sprache und zu benennender Materie zu füllen.49 Zusammengefasst löste sich in ihr also die semantische Aufladung der Natur und ließ eine nüchterne Benennung der Dinge zurück. Daraus wiederum entwickelte sich eine Segmentierung der Naturdinge in ein all- gemeines taxonomisches System,50 sowie eine steigende Sammlertätigkeit von Naturfakten, die sich in einer beträchtlichen Anzahl von Naturalienkabinetten zu dieser Zeit wiederspiegelte.51 Wie also kam es zu einer solchen Ausdehnung des taxonomischen Ordnungswillen und der Sammler- tätigkeit und welche Bedeutung hatte dies für die commodity situation?

Aus einem Gedicht des schweizerischen Universalgelehrten Albrecht von Haller lässt sich eine für ihn und seine Zeitgenossen bezeichnende Auffassung von der Natur ableiten:

Durchsucht das halbe Reich der buntgeschmückten Kräuter. Die ein verliebter West mit frühen Perlen tränkt. Ihr werdet alles schön und doch verschieden finden. Und den zu reichen Schatz stets graben, nie ergründen.52

Was Haller mit seiner Metapher über die Kräuterpflanzen als einen niemals zu ergründenden Schatz artikulierte, lässt sich umstandslos auf die Betrachtungsweise vieler seiner Zeitgenossen auf die Natur übertragen: Die Entdeckungsgeschichte der Naturdinge sei niemals abgeschlossen und kontinuierlich additiv. Dieser Vorstellung lag unter anderem das naturphilosophische Kon- zept der Kette der Wesen zu Grunde, wonach die Natur ein Prinzip der Verzeitlichung verfolge,53 nach welchem die Entstehung der Naturdinge einem obligatorischen Ablauf nachginge, welcher nicht hätte anders verlaufen können.54 Jedes Glied dieser Kette habe dabei einen festen Platz, re- agiere relational zu anderen Gliedern und stünde in einer Rangordnung der Bedeutsamkeit zur göttlichen Schöpfung.55 Zusammengefasst trafen also das Bewusstsein über einen unabschließ- baren Benennungsprozess der Natur mit einer „vagen Konzeption einer ontologischen Stufenlei-

49 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1995, S. 168–172. 50 Vgl. Staffan Müller-Wille, Verfahrensweisen der Naturgeschichte nach Linné, in: Silke Fröschler/Anne Ma- riss (Hrsg.), Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2017, S. 110–112. 51 Vgl. Anke Te Heesen/Emma Spary, Sammeln als Wissen, in: Anke te Heesen/Emma Spary (Hrsg.), Sam- meln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001, S. 7–15. 52 Albrecht von Haller, Versuch Schweizerischer Gedichte, Bern 1777, S. 12. 53 Vgl. Wolfgang Lefèvre, „Das Ende der Naturgeschichte“ neu verhandelt. Historisch genealogische oder epigenetische Neukonzeption der Natur?, in: MPG.PuRe, 26.05.2016, http://hdl.handle.net/11858/00- 001M-0000-002A-8079-3, abgerufen am 02.09.2019. 54 Vgl. Hugh Barr Nisbet, Naturgeschichte und Humangeschichte bei Goethe, Herder und Kant, in: Peter Matussek (Hrsg.), Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 19. 55 Vgl. Arthur Oncken Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt am Main 1985, S. 77–86. Das soziale Leben der Naturdinge 63

ter“56 aufeinander. Das Resultat waren zahlreiche Versuche, die Natur in ein Klassifikationssystem, beziehungsweise in eine Ordnung der Dinge,57 zu bringen, wovon sich das Gliederungsprinzip des o. g. Carl von Linné als Erfolgreichstes etablierte.58

Linnés taxonomisches System, allen voran sein Werk Systema Naturae, gab vielen Naturhistorikern die Rahmenbedingungen zur Klassifizierung von Naturdingen vor und konnte nach dem Ergän- zungsprinzip stetig erweitert werden. In diesem Ergänzungsprinzip zeigte sich auch der Erfolg des Werkes. Es wuchs von den sieben Seiten der ersten Ausgabe von 1735 auf 2300 Seiten der zwölften Ausgabe von 1766 an.59 Linné perfektionierte die Entsprachlichung und Klassifizierung der Natur, vereinfachte die taxonomische Aufnahme von Neuentdeckungen60 und erleichterte die partizipative Zusammenarbeit von etablierten Naturhistorikern.61 Zudem machte er seine binäre Nomenklatur zu einem globalen Projekt,62 was zum Beispiel an der Entsendung seines Schülers König nach Tranquebar erkennbar wird.

Für die commodity candidacy in der DHM sind zwei dieser Entwicklung zugehörige Eigenschaften von signifikanter Bedeutung: Die erste Eigenschaft betraf die partizipative Zusammenarbeit. Es ist zunächst evident, dass die enorme Ansammlung neu entdeckter Arten von Tieren, Pflanzen und Mineralien nicht nur von einem kleinen Personenkreis profilierter Gelehrter aus dem Bildungsbür- gertum in Europa zusammengetragen sein konnten. Es war notwendig, dass eine große Gruppe von in den meisten Quellen unerwähnten Zu- und Mitarbeitern beteiligt gewesen sein musste,

56 Vgl. Lovejoy, Die große Kette der Wesen, S. 77. 57 Ich hielt die Tautologie für angemessen, weil sich der ursprünglicher Titelwunsch Foucaults für sein o. g. Buch, welcher in der deutschen Übersetzung auch umgesetzt wurde, so nahtlos in die Argumenta- tion einfügt, und weil die Argumentation gleichzeitig die Essenz von Foucaults Auffassung der Natur- geschichte unterstreicht. Vgl. Didier Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1991, S. 186. 58 Vgl. Müller-Wille, Verfahrensweisen nach Linné, S. 114–117. Im Zusammenhang zu der Vielzahl von Ver- suchen, Klassifikationssysteme in den Umlauf zu bringen, nennt Thomas Ruhland ein Buch des Naturhis- torikers Johann Baptist von Spix, welcher einige dieser Systeme verglich und rezensierte. Vgl. Ruhland, Grassroot-Gelehrsamkeit und Kommerz, S. 43, Anm. 62; Johannes Baptist von Spix, Geschichte und Be- urtheilung aller Systeme in der Zoologie nach ihrer Entwicklungsfolge von Aristoteles bis auf die gegen- wärtige Zeit, Nürnberg 1811. 59 Vgl. Charles Davies Sherborn/ Basil Harrington Soulsby, A catalogue of the works of Linnæus (and pub- lications more immediately relating thereto) preserved in the libraries of the British Museum (Blooms- bury) and the British Museum (Natural History) (South Kensington), London 1933, S. 9 u. 11. 60 Vgl. Staffan Müller-Wille, Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707 – 78), Berlin 1999, S. 33–40. 61 Vgl. Bettina Dietz, Kollaboration in der Botanik des 18. Jahrhunderts. Partizipative Architektur von Linnés System der Natur, in: Silke Fröschler/Anne Mariss (Hrsg.), Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2017, S. 99–104. 62 Vgl., Anne Mariss, „A World of New Things“. Praktiken der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster, Frankfurt/New York 2015, S. 207–211. 64 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

die die Klassifizierung der Naturdinge und vor allem die Zirkulation der Naturfakte förderte. Sie gehörten entweder zum Mitarbeiterstab elitärer Naturhistoriker, standen in Korrespondenz mit diesen, waren Mitglieder privater Naturgesellschaften oder agierten lediglich als Händler von Na- turfakten.63

Die „weltweite Systematisierung von Flora, Fauna und Gesteinswelt erforderte eine weltweite Akkumulation von Naturalien“,64 die in großen Teilen von Zuarbeitern der profilierten Gelehrten bewerkstelligt wurde. Diese Akkumulation erfolgte durch Korrespondenzen, in denen mit den verschickten Briefen meist Naturfakte oder auch wissenschaftliche Bücher und Instrumente in Er- wartung einer Gegengabe des Adressaten mitversandt wurden. Die bisherige Forschung sah als Grundlage dieser Tauschkorrespondenzen zumeist einen „Verhaltenskodex des Gabentauschs, der das Nichterfüllen von aus Tauschbeziehungen resultierenden Schuldigkeiten mit Ehrverlust und Ausschluß aus dem Materialbeschaffungsnetzwerk sanktionierte“.65

Beide Personengruppen, also Zuarbeiter und Gelehrte, waren aktive Akteure eines Phänomens, welches Bettina Dietz unter dem Begriff der Grassroot-Gelehrsamkeit zusammenfasst. Alle Parti- zipanten trugen mit dem Naturalienaustausch untereinander zur Zirkulation der Naturfakte bei, dem das prinzipiell nie erreichbare Ziel zu Grunde lag, die taxonomische Systematisierung der Natur zu vervollständigen. Dies festigte zugleich die Vernetzung der Akteure auf globaler Ebene. Dieses Bedürfnis zur taxonomischen Vervollständigung und dieses globale Netzwerk waren un- erlässliche Faktoren der Beständigkeit von den Handelswegen der Naturfakte.66

Die zweite den naturgeschichtlichen Entwicklungen zugehörige Eigenschaft war die Sammler- tätigkeit. Die Klassifizierungen Linnés fanden ihre Umsetzung auch in den Naturalienkabinetten staatlicher Institutionen, privater Organisationen oder einzelner Privatpersonen. Die taxonomi- sche Ordnung der Naturdinge übertrug sich in der räumlichen Anordnung der Präsentationsmö- bel im Kabinett, sowie auf dessen Parerga und Beschriftungen. Die Ausstellungsschränke und -ti- sche waren thematisch nach Naturreich, Klasse, Ordnung, Art oder Gattung befüllt. Mit dem Erfolg der Sammlung ging der Ruf des Kabinettsbesitzers einher.67 Die neuesten Auflagen der Systema Naturae bildeten auch eine Art Aktualitätsmesser, mit welchem die Kabinettsbesitzer stets ver-

63 Vgl. Ruhland, Grassroot-Gelehrsamkeit und Kommerz, S. 45. 64 Dietz, Aufklärung als Praxis, S. 241. 65 Regina Dauser u. a., Einleitung, in: Regina Dauser u. a. (Hrsg.), Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentans- fer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts, (Colloquia Augustana 24) Berlin 2008, S. 13. 66 Vgl. Dietz, Aufklärung als Praxis, S. 239–243. 67 Auch die Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen versuchte sich in der Aufrechterhaltung eines guten Rufes. Zu deren Unglück jedoch erst nach einem Besuch Albrecht von Hallers im Jahr 1720, wel- cher in seinem Tagebuch noch schmähende Kritik an der Unordnung des Kabinettes übte. Vgl. Thomas Müller-Bahlke, Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen, Halle 2012, S. 15. Das soziale Leben der Naturdinge 65

suchten, Schritt zu halten. Zudem boten sie die Überprüfbarkeit von Lücken bedeutsamer Natur- dinge in den thematischen Bereichen. Um also einen guten Ruf des Kabinettes aufrechtzuerhal- ten, galt es, diese Lücken zu füllen. Umgekehrt konnten aber auch besonders seltene Naturfakte die Wirkung erzielen, den Ruf zu steigern.68 Unweigerlich bestand also in den Naturalienkabinet- ten eine intensive Nachfrage nach Naturfakten, die im Hinblick auf die niemals abgeschlossene Entdeckungsgeschichte der Naturdinge unstillbar zu sein schien. Da die Naturalienkabinette als Begegnungsstätte für Naturhistoriker sowie auch für nichtkundige Einsteiger dienten,69 förderten sie gleichsam auch die o. g. Grassroot-Gelehrsamkeit.

Als erster kultureller Rahmen der commodity candidacy lässt sich also eine Naturgeschichte fas- sen, die aufgrund einer vielschichtigen Grassroot-Gelehrsamkeit globale Kommunikationswege bereitstellte, und durch den unstillbaren Sammlerbedarf eine dauerhafte Nachfrage produzierte.

3.2. Die DHM und die Franckesche Pädagogik der Missionsschulen

Der zweite der commodity situation wesentliche kulturelle Rahmen ist auf lokaler Ebene in Tran- quebar zu verorten. Er erfasste ein von den Missionaren etabliertes Schulsystem nach dem Vorbild der Franckeschen Stiftungen, welches neben der primären Funktion, die Bekehrungsbemühun- gen zu unterstützen, auch die Steigerung eines naturgeschichtlichen Bewusstseins in der DHM förderte. Zur Erfassung dieser Förderung ist zunächst eine Darlegung der seit der Gründung der Stiftungen etablierte Bildungsausrichtung notwendig.

Die Gründung der Franckeschen Stiftungen geht auf das letzte Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts zurück. Nach eigenen Angaben wohl mit der kleinen Spende von „vier Thaler und Sechzehen Groschen“70 richtete August Hermann Francke, damals Pfarrer in der Gemeinde Glaucha zu Halle, eine Armenschule ein, aus welcher kurze Zeit später eine Waisenschule, ein Pädagogium, eine eigene Druckerei, sowie diverse weitere Anstalten beziehungsweise letztendlich die Stiftungen an sich hervorgingen.71 Von Beginn an beschäftigte sich Francke auch mit der Ausarbeitung päd- agogisch-theologischer Konzepte, die er in seinen Anstalten mit penibel geplanten Lehrprogram- men und Tagesabläufen umsetzen ließ.72 Zentraler Bestandteil seiner sog. Auferziehung war es, zunächst die Natur des Menschen im Schüler abzulegen, um ihn dann Gottes Willen besser fügen

68 Vgl. Ruhland, Grassroot-Gelehrsamkeit und Kommerz, S. 43–45. 69 Vgl. Mariss, „A World of New Things“, S. 310–315. 70 August Hermann Francke, Segens=volle Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes […] Nachricht von dem Wäysen=Hause und übrigen Anstalten zu Glaucha vor Halle, Halle 1701, S. 7. 71 Für einen Überblick der Entstehungsgeschichte der Franckeschen Stiftungen vgl. Helmut Obst, A. H. Francke und die Franckeschen Stiftungen in Halle, Göttingen 2002, S. 55–65. 72 Für ein Beispiel eines solchen Lehrplans vgl. Liebau, Die indischen Mitarbeiter, S. 317. 66 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

zu können.73 Ziel sei es, dass die Schüler

lerneten, wie sie ihren Weg unsträflich gehen, vor allen Dingen ihre eigene Seele erretten, und hiernächst, wenn ihnen Gott ihre Jahre vermehrete, der Welt durch erlangte gute Wissenschaften einen wahren Nutzen schaffen möchten.74

Die Wissenschaft war für Francke nicht nur als ein Bereich zu verstehen, der lediglich in dem Ver- stand des Menschen stattfinden könne. Stattdessen betreffe sie auch die praktische Arbeit an Ob- jekten, an denen erlerntes Wissen erfahrbar werde.75

In der Lehre fand dies ihre Umsetzung im Realienunterricht. Er fand zu der Zeit der sog. Recrea- tionsübungen im Lehrplan statt, bei welchem sich die Schüler von den anstrengenderen Fächern erholen sollten. Dies war jedoch kein Zeichen minderer Bedeutsamkeit, sondern ergab sich schlicht aus der Ansicht, „dass die Vermittlung der Realien sowohl lehrreich als auch erholsam sein konnte“.76 Als für die Hauptfächer vorbereitender Unterricht gehörten zu den Realienfächer Be- reiche wie die Mechanik, Anatomie und die Naturkunde, insbesondere die Botanik. An Orten wie dem eigens für den Unterricht angelegten botanischen Garten oder in der Kunst- und Natura- lienkammer der Stiftungen, sollten die Schüler theoretische Lehre praktisch umsetzen, wodurch sie unter anderem auch unterschiedliche naturgeschichtliche Klassifikationssysteme von Natur- dingen erlernten.77 Bis in die 1720er Jahre hinein sah der Lehrplan sogar noch vor, dass sich die Schüler einmal wöchentlich in der Kammer wiederfanden, wo „diejenigen Dinge vorgenommen, die in der Naturalien=Kammer befindliche und nach ihrer Natur und Eigenschaften Nutzen und Gebrauch erkläret“78 wurden.

73 Vgl. Peter Menck, Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten. Die Pädago- gik August Hermann Franckes, Tübingen 2001, S. 25–28. Unter dem Begriff der Auferziehung definierte Francke theologisches Programm zur Verbesserung des verderbten Zustandes der irdischen Welt. Vgl. ebd., S. 15–23. 74 August Hermann Francke, Gedächtniß= und Leichen=Predigten. Nebst denen Mehrentheils besonders beygefügten erbaulichen Umständen des Lebens und seligen Abschieds mancher Christlichen Perso- nen […], Halle 1723, S. 880, zit. nach Menck, Die Erziehung der Jugend, S. 43. Das Zitat entstammt einer Beschreibung, in welcher Francke lediglich den Hauptzweck des Pädagogiums beschrieb. Menck nutzt dieses Zitat jedoch, um das Ziel der Franckeschen Pädagogik zu illustrieren, weshalb es auch hier ge- nutzt wurde. 75 Vgl. ebd., S. 31–32. 76 Anne-Charlott Trepp, Von der Glückseligkeit alles zu Wissen. Die Erforschung der Natur als religiöse Pra- xis in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2009, S. 345. So waren im Pädagogium, der Vorzeigeein- richtung der Stiftungen, in welcher die wohlhabenderen Kinder unterrichtet wurden, sogar die meisten Recreationsübungen im Stundenplan vorgesehen. 77 Vgl. Trepp, Von der Glückseligkeit alles zu Wissen, S. 342–356. 78 August Hermann Francke, Ordnung und Lehr=Art. Wie selbige in dem PAEDAGOGIO zu Glaucha an Halle eingeführet ist […], Halle 1702, S. 73, zit. nach Trepp 2009, S. 351, Anm. 166. Francke sah seit den 1720er Jahren die Naturalienkammer jedoch besser genutzt, wenn er sie nur für auswärtige Gäste freigäbe. Im Zuge dessen stellte er auch den Maler Gottfried August Gründler ein, um die Kammer umzugestalten. Das soziale Leben der Naturdinge 67

Die Franckesche Pädagogik sah also vor, dem Schüler seine menschliche Natur abzunehmen und durch theoretische Lehre in Kombination mit praktischer Ausübung in ihm einen Nutzen für sei- nen Nächsten zu säen beziehungsweise ihn auf eine berufliche Tätigkeit vorzubereiten, um somit Gottes Willen in ihm zu verwirklichen. Diese Pädagogik war für den kulturellen Rahmen der DHM in Tranquebar insofern von Bedeutung, da viele der ausgesandten Missionare ehemalige Schüler oder Lehrer an den Franckeschen Stiftungen oder an der mit diesen eng im Austausch stehenden Universität Halle waren und in Indien ein Schulnetz aufrechterhielten, welches sich nach den Prin- zipien dieser Pädagogik richtete.

Die ersten Missionare in Tranquebar, Ziegenbalg und Plütschau, informierten sich kurz nach ihrer Ankunft bei lokalen Lehrern und Bildungseinrichtungen über das indische Schulwesen, richteten zwei Schulen ein und ließen nach drei Jahren bereits ein Schulgebäude nach dem Franckeschen Vorbild an der Missionsstation erbauen.79 Stetig versuchten sie und ihre Nachfolger, einheimische Schulen in der Umgebung zu unterweisen und in ihr Netzwerk einzugliedern, was ihnen fortläufig auch gelang. Auch 1780 waren neben mehreren Schulen in Tranquebar fünf weitere im näheren Umkreis der Missionsleitung unterstellt.80 Die Missionare hielten stetigen Kontakt zu den Lehrern dieser Schulen und diktierten ihnen Bücher und Bibelstellen, die sie mit den Schülern zu bespre- chen hatten.81 Die ganze Missionszeit über war das Schulnetz und die Bildung ein fester Bestand- teil der Mission, sowie auch eine zentrale Grundlage für die Bekehrungsarbeit. Wie Ziegenbalg eindringlich formulierte, seien alle Kinder so da mit ihren Eltern zu unserer Gemeinde treten Möchten frey zu unterhalten um daß wir sie desto besser nach unser eigenen Hand erziehen können und unter ihnen stets solche Leute finden mögen so da künftig zur Außbreitung der christlichen Religion können gebraucht werden.82

Die Schule diente also weitestgehend zur Vorbereitung der Schüler auf die Konversion. Jedoch sollten sie neben dem intensiven katechetischen Unterricht nach den Prinzipien der Franckeschen Pädagogik auch auf Tätigkeiten für den späteren Beruf und für das Alltagsleben vorbereitet wer-

Vgl. Müller-Bahlke, S. 38–41. 79 Vgl. Liebau, Die indischen Mitarbeiter, S. 287. 80 Vgl. Heike Liebau, Über die Erziehung „tüchtiger Subjekte“ zur Verbreitung des Evangeliums. Das Schul- wesen der Dänisch-Halleschen Mission als Säule der Missionsorganisation, in: Artur Bogner u. a. (Hrsg.), Weltmission und religiöse Organisation. Protestantische Missionsgesellschaften im 19. und 20. Jahrhun- dert, (Religion in der Gesellschaft 16) Würzburg 2004, S. 444. 81 Vgl. Liebau, Die indischen Mitarbeiter, S. 298–313. 82 Bartholomäus Ziegenbalg, Herrn Bartholomäus Ziegenbalg/Königl. Dänischen Missionarii in Trangebar/ auf der Küste Coromandel/ Ausführlicher Bericht/[…] in einem Sendschreiben an einen Vornehmen Theologum unserer Evangelischen Kirchen ertheilet den 22. August 1708, in: HB 1 (1710), S. 17–18, zit. nach Liebau 2004, S. 436. 68 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

den. Somit wurde auch in Tranquebar der Unterricht mit Realien zu einem integralen Bestandteil der Lehrpläne, für welche die Lehrer regelmäßige Ausflüge mit ihren Schülern in die nähere Um- gebung oder in die eigenen Schulgärten unternahmen. Dabei entdeckte Naturdinge sammelten die Lehrer und Schüler als Anschauungsmaterial für spätere Unterrichtsstunden ein.83

Um eine bestmögliche Effizienz in der Ausbildung und den Bekehrungsbemühungen zu erzielen, unternahmen die Missionare auch einige Anpassungen des Realienunterrichtes an die lokalen Be- gebenheiten. So fanden zum Beispiel aufgrund materieller Versorgungsengpässe Rückgriffe auf tamilische Traditionen statt, wie das Ausführen von Schreibübungen auf Palmblättern oder im Sand. Sie stellten auch lokale tamilische Heilkundler an, die neben der ärztlichen Versorgung auch einige Kinder in der Medizin und Kräuterkunde unterrichten sollten. Mit der Annäherung an tami- lische indigene Praktiken erhofften sich die Missionare auch Anerkennung bei der einheimischen Bevölkerung zu erlangen, um mehr Schüler anwerben und konvertieren zu können. 84

Die Franckesche Pädagogik prägte somit die DHM, da sie die Lehrpläne der unter der Missionslei- tung stehenden Schulen in und um Tranquebar beeinflusste. Wichtiger Bestandteil dieser Pädago- gik war der praktische Unterricht mit Realien, wozu auch die Benutzung von Naturfakten gehörte. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts stieg der Umfang des Realienunterrichts, sowohl in Halle wie auch in Tranquebar.85 Zu der Zeit der commodity phase wurden die Schulen somit zu einer den natur- geschichtlichen Aktivitäten assistierende Einrichtung.

4. Korrespondenzaustausch und Gelehrtensozietäten: Der commo- dity context

Die bisherige Betrachtung der commodity situation der Naturfakte ergibt, dass der commodity candidacy sowohl eine naturgeschichtliche Grassroot-Gelehrsamkeit und Sammelkultur, als auch eine auf pädagogische Mittel bezogene Missionsstation mit praktisch ausgeführtem Realienun- terricht in Tranquebar zu Grunde lag. Der Beginn und das Ende der commodity phase definierte sich durch den Handlungszeitraum der Akteure König, John und Rottler. Um nun den commodity context zu ermitteln, gilt es, den sozialen Begegnungsumstand zu finden, in welchem die Akteure und Aktanten aufeinandertrafen.

Es ist zunächst offensichtlich, dass der Austausch der Naturfakte nicht in einem lokalen Raum statt- fand, sondern über mehrere tausend Kilometer und über eine lange Zeitspanne hinweg erfolgte. Die Schiffe benötigten Monate, manchmal sogar Jahre, um von der indischen an die britische oder

83 Vgl. Liebau, Über die Erziehung, S. 454–456. 84 Vgl. Liebau, Die indischen Mitarbeiter, S. 329–334. 85 Vgl. Trepp, Von der Glückseligkeit, S. 346–347. Das soziale Leben der Naturdinge 69

dänische Küste zu gelangen, von wo aus Kutscher die versandten Naturfakte weiter transportieren mussten.86 Durch die Verwesungseigenschaft der Ware ergab sich somit die Notwendigkeit der Haltbarmachung für die langen Reisen. Für die Missionare zog dies zum einen die Folge nach sich, viel Zeit und Arbeit in die Prozesse der Konservierung oder Taxidermie der Naturfakte zu investie- ren und zum anderen, die finanziellen Mittel dafür aufzubringen - ein Umstand, den einige ihrer Kollegen durchaus kritisch betrachteten und das hallesche Direktorium der Franckeschen Stiftun- gen nicht immer mitfinanzierte.87 Die besonderen Wetterbedingungen im Süden des indischen Subkontinentes erschwerten die Konservierungsvorgänge zusätzlich.88

Ein weiterer kontextualer Umstand der Handelssituation war, dass die Handelsparteien selten oder nie eine physische Begegnung hatten, sondern zur Artikulation auf das Verschicken von Brie- fen angewiesen waren und folglich die Kommunikation unter denselben zeitlichen Komplikatio- nen litt, wie die Versendung der Naturfakte. Jedoch nutzten die Missionare das Medium bis an die Grenzen des Möglichen aus und errichteten sich eigene Korrespondenznetzwerke.89 Zu ihren langfristigen Briefpartnern gehörten prominente Vertreter der frühen Naturwissenschaft, wie der bereits erwähnte Carl von Linné, der weltumreisende Forscher Johann Reinhold Forster oder das

86 Vgl. Liebau, Über die Erziehung, S. 448. 87 So schrieb 1789 zweitälteste Missionar der DHM Jacob Klein dem ehemaligen Sekretär der Stiftungen: „Es gibt schon genug Zerstreuung der Bekanntschaft welche Er [John] mit hiesigen Einwohnern /Euro- paern/ [sic!] hat und unterhält. [Dies] nimmt oft viele [sic!] Zeit weg.“ Brief von Jacob Klein an Sebastian Andreas Fabricius, Franckesche Stiftungen, Missionsarchiv, 12.01.1789, AFSt/M 1 C 30c : 19. Karsten Hommel schreibt auch, dass John sich aufgrund finanzieller Nöte, in die ihn die Naturgeschichte trieb, früh in seiner Amtszeit zur Gründung einer privaten Schule gezwungen sah. Vgl. Karsten Hommel, „Für solche [Theologen] wolle Gott seine Ost-Indische Kirche in Gnaden bewahren!“. Physikotheologie und Dänisch-Englisch-Hallesche Mission, in: Heike Liebau u. a. (Hrsg.), Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert (Hallesche Forschungen 29) Halle 2010, S. 184–185. 88 Marcus Élieser Bloch veröffentlichte einen Brief von John in seiner Naturgeschichte der ausländischen Fische, in dem der Missionar seine Situation erläuterte: „Eine Menge des gefangenen Vorraths (…) warf ich in ein großes irrdenes Gefäß; aber siehe! Binnen 3 Tagen war Alles faul, und Kosten und Mühe ver- loren. – Nichts blieb mir also übrig, als sie in Gläser zu setzen, die hier zu haben sind; und, noch viel seltener sind Korke. Aber auch hier verunglückten viele, wenn ich nicht 3 bis 4 mal neuen Spiritus und Arrak aufgoss. Binnen einem Jahr habe ich für Fische und Insekten über 100 Bouteillen Spiritus und Arrak verschwendet; und 1 Bouteille Arrak kostet 6 bis 8 Groschen, und Spiritus 20 Groschen bis 1 Thaler. – Die Fäulniss ist hier weit größer als in Europa“ Brief von Christoph Samuel John an Marcus Élieser Bloch, zit. nach Marcus Élieser Bloch, Naturgeschichte der ausländischen Fische. Siebter Band, Berlin 1793, S. X. Zu den generellen Verfahrensweisen der Konservierung von Naturfakten im 18. Jahrhundert vgl. Mariss, Globalisierung der Naturgeschichte, S. 81–91. 89 Der o. g. Begriff Oligoptikum wäre an dieser Stelle jedoch unangebracht. Latour definiert den Begriff „für jene Stätten, an denen buchstäblich und nicht bloß metaphorische Berechnungen durchgeführt werden, ermöglicht durch das […] zumindest arithmatische Format der dort hin- und von dort weg- beförderten Dokumente.“ Latour, Eine neue Soziologie, S. 312. Die Missionare verarbeiteten den ihnen zugesandten Informationen, zielten aber nicht auf eine großflächige Katalogisierung der globalen Natur im Sinne von Linné ab. 70 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

Royal Society-Mitglied Patrick Russell, welcher für die British East India Company in Madras arbei- tete.90 Mit den meisten dieser Korrespondenzpartnerschaften ging auch ein Naturalienaustausch einher. Häufig betonten sie, mit der Versendung indischer Naturfakte die Naturgeschichte in Euro- pa fördern zu wollen. Jedoch leugneten Sie auch nicht das gezielte Ausgleichen eines Mangels an wissenschaftlichen Instrumenten oder Büchern auf der Missionsstation, wenn sie in ihren Briefen die Gründe für ihre Tauschaktivitäten erläuterten.91

Neben den praktischen Gründen waren es jedoch auch innige Freundschaften, die sie mit den Korrespondenzen aufrechterhielten. So pflegte zum Beispiel John eine besondere Beziehung zu dem Berliner Ichthyologen Marcus Élieser Bloch. In der Vorrede des siebten Bandes seiner Natur- geschichte der ausländischen Fische erwähnte Bloch 50 Fische, die er bis 1793 von dem Missionar erhalten hatte. Bis zu seinem Tod 1799 dürften es noch einmal deutlich mehr geworden sein.92 Als Dankbarkeit schickte er ihm nicht nur Literatur und Instrumente zurück, sondern benannte auch eine Fischgattung nach ihm.93

Mit dem Naturalienversand der indischen Naturfakte, die in Europa durch ihre Fremdartigkeit eine besondere Anerkennung besaßen, ging eine hohe Reputation der Missionare bei den Gelehrten einher. Diese Reputation äußerte sich neben der Benennung von Tier- und Pflanzenarten auch in der Mitgliedschaft in mehreren Sozietäten aus unterschiedlichen Orten in Europa. Die Missionare wussten diese Mitgliedschaften zu schätzen und sahen sie als Ansporn, ihre naturgeschichtlichen Tätigkeiten zu intensivieren, wie Rottler es beschrieb: „Nun sehe ich sie als einen Wink an, den die Vorsehung mir gibt, mit der Kenntnis, die ich gleichfalls durch ihre gütige Schickung im Natur- u[nd] sonderlich Pflanzen-Reich, […] erlangt habe u[nd] noch erlangen mag“.94 Gleichzeitig be- tonten sie jedoch stetig, in der Position eines fachlichen Laien zu sein.95

90 Für weitere Korrespondenzpartner vgl. Hommel, Naturwissenschaftliche Forschungen, S. 167–167 u. 172. 91 Vgl. John an Rüdiger, AFSt/M 1 C 31a : 53. 92 Vgl. Bloch, Naturgeschichte der ausländischen Fische, S. IX. Viele der 1500 Spezimen in der Fischsamm- lung im Museum für Naturkunde in Berlin stammen aus Blochs Sammlung. Hans-Joachim Paepke er- fasste 1999 insgesamt 790, die dem Berliner Ichthyologen zuzuordnen sind. Vgl. Hans-Joachim Paepke, Bloch´s Fish Collection in the Museum für Naturkunde der Humboldt Universität zu Berlin. An illustrated Catalog and Historical Account, Ruggell 1999. 93 Der Fischgattung Johnius gehören heute 34 Unterarten an. Konkret benannte Bloch lediglich den Johni- us carutta. Vgl. Crispina Binohlan, Johnius carutta, in: fishbase, https://www.fishbase.in/summary/4647 , abgerufen am 16.08.2019. 94 Brief von Johann Peter Rottler an Johann Ludwig Schulze, Franckesche Stiftungen, Missionsarchiv 20.01.1798, AFSt/M 1 C 39a : 8. Zit. nach Hommel, Physikotheologie und Dänisch-Englisch-Hallesche Mission, S. 191. 95 Vgl. Karsten Hommel, Physico-Theology as Mission Strategy: Missionary Christoph Samuel John’s (1746– 1813) Understanding of Nature, in: Andreas Gross u. a. (Hrsg.), Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. Vol. 3: Communication between India and Europe, Halle 2006, S. 1124. Das soziale Leben der Naturdinge 71

Sowohl König als auch John und Rottler wurden nacheinander in die Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin aufgenommen, in welcher Bloch auch ein Gründungsmitglied war.96 Alle drei Mis- sionsmitglieder schrieben naturgeschichtliche Abhandlungen für die Gesellschaft, die sie in ihren regelmäßig erschienenen Schriftenbänden veröffentlichten. Von besonderer Bedeutung dürfte für John und Rottler wohl auch die Verleihung des philosophischen Ehrendoktorats der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle gewesen sein. Mit jeder neuen Mitgliedschaft bo- ten sich den Missionaren neue potenzielle Korrespondenzpartnerschaften, mit denen sie ihren Naturalienaustausch erweitern konnten.97

In den Satzungen und Entstehungsgeschichten der Sozietäten wird auch die Intensität der Sam- meltätigkeiten innerhalb der Naturgeschichte deutlich, welche die Naturhistoriker mit der Formie- rung der Sozietäten zu erleichtern versuchten. Denn ihnen alleine sei es „nicht möglich, in allen Fächern gleich stark zu sammlen, ohne sich zum Nachtheil ihrer Familie, oder ihrer häußlichen Einrichtungen, zu erschöpfen.“98 Durch die Erweiterung der Mitgliedschaften versuchten sie, ihrer eigenen Nachfrage an Naturfakten zur Vervollständigung ihrer Sammlungen nachzukommen, oder die Erlangung seltener Objekte zu bewerkstelligen. Letzteres hob die Missionare der DHM aufgrund ihres Standortes in die Stellung begehrter Mitglieder. Da Indien zum Ende des 18. Jahr- hunderts vermehrt ins Visier der kolonialen Invasoren geriet, stieg unter europäischen Gelehrten gleichsam das Interesse an der indischen Naturgeschichte.99

Die Missionare sind nicht nur in Sozietäten in Europa aufgenommen worden, sondern beteiligten sich auch an der Gründung eigener Gesellschaften in Indien. Zunächst war König in den 1770er Jahren den Learned Brethren beigetreten, eine Vereinigung mit vorrangig englischen Naturhisto- rikern aus Tranquebar und Madras, welcher später auch vier weitere Mitarbeiter der DHM beitra- ten.100 Ihr Anliegen war noch sehr lose definiert und zielte auf eine verbesserte Kommunikation untereinander ab. Die 1788 gegründete Gesellschaft zur Beförderung indianischer Kenntnisse und Industrie (TS)101 legte bereits mit ihrem Namen konkretere Absichten vor.102 Wie sehr die Missionare

96 Vgl. Verzeichnis der sämmtlichen Ordentlichen- hiesigen Ehren- und Außerordentlichen- so wie auch der Auswärtigen- Mitglieder der Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin. Von ihrer Stiftung an bis zum November 1805, Berlin 1806, S. 6, 31, 33 u. 44. 97 Hommel listet insgesamt noch sieben weitere Gesellschaften auf, in denen die Missionare Mitglieder waren. Vgl. Hommel, Naturwissenschaftliche Forschungen, S. 167 u. 171. 98 Friedrich Heinrich Wilhelm Martini, Entstehungsgeschichte der Gesellschaft Naturforschender Freunde Berlin, in: Beschäftigungen der Berlinischen Gesellschaft Naturforschender Freunde. Erster Band, Berlin 1775, S. VI. 99 Vgl. Trepp, Missionierung der Seelen, S. 231. 100 Vgl. Jensen, The Tranquebarian Society, S. 539–540. 101 Nach der englischen Bezeichnung The Tranquebarian Society for Indian Enlightenment and Industry abgekürzt. Vgl. ebd., S. 553 102 Hommel erwähnt des Weiteren die Gelehrten Gesellschaft in Tranquebar. Jedoch konnte ich in Johns 72 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

diese Gesellschaft nutzten, um den Naturalientausch zu befördern oder neue Instrumente oder Schriften an der Missionsstation zu erwerben, zeigte sich in einer Anzeige, die John in der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung aufgab:

Wenn die Naturforscher die Naturproducte von einem jeden Hauptlande, z. E. von Ostindien besonders bekannt machten, so würden sie Absatz genug finden. [...] Diejenigen Freunde der Naturgeschichte, die uns mit Hülfsmitteln unterstützen, können versichert seyn, dass wir ihnen den Werth derselben in Gegendiensten gewiss ersetzen wer- den. Finden sich keine als die wir schon in Kopenhagen, Berlin und Strasburg haben, so mag alles, was wir brauchen, auf unsere Rechnung gesetzt werden, die reichlich kann bezahlet werden, wenn ich meine Sammlung an hiesige Particuliers ablassen wollte, welches ich aber nicht gerne thun will, weil ich lieber wünsche, dass es nicht in einzelne Cabinette versteckt bleibe, sondern in solche Hände kommen möge, die es gemeinnützig machen.103

Für den Fall, dass es nicht nur bei einer Korrespondenz blieb, sondern es auch zu einem Besuch eines Sozietätsmitgliedes in Tranquebar kam, waren die Missionare darauf vorbereitet, den Gästen ihre eigenen Naturforschungen zu präsentieren. John hielt eine eigene Sammlung zoologischer Spezimen aufrecht, die er nicht nur für private Zwecke anreicherte, sondern auch für gemeinnüt- zige Aspekte pflegte.104 Rottler fertigte gemeinsam mit dem Missionsarzt Johann Gottfried Klein, dem Nachfolger Königs, ein Herbarium mit mehr als 2000 Pflanzen an.105 Außerdem pflegten sie im Missionsgarten „a nursery of the best and most useful fruit trees, native and foreign, this is open to Europeans and Natives in our district when they wish for plants.“106 Die Begegnungen an diesen Orten waren jedoch selten. Kam es zu Besuchen von Naturhistorikern, so waren es zumeist euro- päische Gelehrte aus den indischen Kolonien oder die anderen Mitglieder der TS, die die Missio- nare in ihren eigenen Gärten und Naturalienkabinetten besuchten. Aufgrund der geringfügigen literarischen Überlieferung dieser Treffen ist es fraglich, ob die Beteiligten solcher Begegnungen auch Naturalien dabei austauschten.107

Der Naturalienaustausch fand also mehrheitlich über eine weite Distanz ohne persönliche Be- gegnung der beteiligten Akteure statt. Mit der Aufrechterhaltung von Korrespondenzen und der

Schrift On Indian Civilization […], worauf Hommel verweist, keine Hinweise auf dessen Existenz finden, weshalb sie hier keine weitere Erwähnung findet. Vgl. Hommel, Naturwissenschaftliche Forschungen, S. 167 u. 171. 103 Christoph Samuel John, Ausz. e. B. v. kön. Dän. Missionair H. John a. Trankenbar, vom 20 Jan. 1790, in: All- gemeine Literatur-Zeitung 26, 1791, S. 75–76; Die erste Ausgabe der Annalen der Botanick nahm eben- diese Anzeige auch nochmals auf. Vgl. Christoph Samuel John, Ausz. e. B. v. kön. Dän. Missionair H. John a. Trankenbar, vom 20 Jan. 1790, in: Annalen der Botanik 1 (1791), S. 193–194. 104 Vgl., Hommel, Physikotheologie und Dänisch-Englisch-Hallesche Mission, S. 185. 105 Heute befindet sich das Herbarium in West Susex im Royal Botanic Garden. Vgl. Trepp, Missionierung der Seelen, S. 244. 106 Christoph Samuel John, On Indian Civilization, or, Report of a Successful Experiment, Made During two Years on that Subject, in fifteen Tamul, and five English Native Free-Schools; Humbly submitted to the […] Honourable East-India Company; of the Respectable Religious Societies; and the Generous and Charitable Public, London 1813, S. 40. 107 Vgl. Jensen, The Tranquebarian Society, S. 545–546. Das soziale Leben der Naturdinge 73

Mitgliedschaft in mehreren Sozietäten konnten sich König, John und Rottler eine fortlaufende Ab- nehmerschaft für ihre Naturfakte in Europa sichern, die sie meist im Tausch gegen naturwissen- schaftliche Bücher oder Instrumente handelten. Die Korrespondenzen und die Mitgliedschaften bilden also den commodity context der commodity situation.

5. Die politischen Interventionen der commodity situation

Nach der Ermittlung aller Elemente der commodity situation und der Verortung der Nachfrage an Naturfakten kann nun folglich die ihr korrelative Politik im Sinne Appadurais untersucht werden. Dabei sind drei Bereiche auffindbar, in denen politische Interventionen sichtbar sind.

Der erste Bereich umfasste die tranquebarische Bevölkerung und deren Alltag und war eng ver- knüpft mit den Mitgliedschaften der Missionare in den europäischen und den in Indien gegrün- deten Sozietäten. Trotz der geographischen Lage und des Austausches, den einige Missionare mit einheimischen Gelehrten hatten, waren in den Learned Brethren und in der TS keine indischen Mit- glieder aufgenommen worden, obwohl ihre Mitarbeit für die Aufrechterhaltung des Naturalien- handels wesentlich war.108 In einigen Fällen schickten die Missionare Einheimische aus, um ihnen gewünschte Naturfakte zu liefern. So veranlasste zum Beispiel John, als er von der Fortsetzung von Blochs Naturgeschichte der ausländischen Fische hörte, „das Sammeln für Sie [Bloch] recht im Großen an: ließ in allen Teichen und in den Flüssen für Sie fischen, und bot alle Seefischer auf“.109

Zudem waren sie auf das Wissen der Einheimischen angewiesen, was sich in Johns Artikel Beschrei- bungen einiger Affen aus Kasi oder Benares im nördlichen Bengalen verdeutlicht. Von einem Affen- dresseur bekam er die in seinem Artikel verarbeiteten Informationen, und nur mit der Hilfe dessen war es dem Missionar überhaupt möglich, den Affen zu untersuchen.110 Die von den Missionaren angestellten indigenen Einwohner zur Erschließung der Naturfakte können als sog. Go-Betweens betrachtet werden, die als in den meisten Quellen unerwähnte Träger von Wissen dazu beitrugen, die Erkenntnis der Europäer über Indiens Natur zu fördern.111

Der zweite politisch einwirkende Bereich kam aus der in Tranquebar gegründeten Gesellschaft selbst. Wie der Name der TS – die Gesellschaft zur Beförderung indianischer Kenntnisse und Industrie

108 Vgl. Jensen, The Tranquebarian Society, S. 544–545. 109 John an Bloch, zit. nach Bloch 1793, S. X. 110 Christoph Samuel John, Beschreibungen einiger Affen aus Kasi oder Benares im nördlichen Bengalen, in: Der Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin, Neue Schriften. Erster Band, Berlin 1795, S. 211– 215. 111 Zur weiteren Untersuchung von Go-Betweens in der DHM vgl. Nico Geisen, Ein Go-Between zwischen Naturgeschichte und indischer Natur. Der Dänisch-Hallesche Missionar Christoph Samuel John im Aus- tausch mit Gelehrten in Europa, Berlin 2019. 74 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

– bereits vermuten lässt, war ihr die Setzung von politischen Ambitionen ein Hauptanliegen. Und trotz der Ausschließung indischer Mitglieder in der Gesellschaft, war es größtenteils die indische Bevölkerung, die ihre politischen Ambitionen betreffen sollten. Laut Satzung ging die Gründung zwar auf den Umstand zurück, dass es den meisten europäischen Einwohnern der Kolonien ledig- lich im Sinn stände „to get rich fast and return to their native countries“,112 weshalb sie nach den Interessen ihrer Heimatländer handelten. Die Gesellschaft erhoffte dies ändern zu können. Der Sekretär der Gesellschaft Henning Munch Engelhart, welcher 1785 als Astronom der dänischen Krone in Tranquebar eingestellt war, sah es jedoch auch als notwendig an, die indische Bevölke- rung für die Ausbeutung der Kolonialmächte zu kompensieren und zur Prävention vor weiterer Ausbeutung politische Maßnahmen in der Bildung zu ergreifen und die indische Bevölkerung im europäischen Sinne aufzuklären.113 Das Erkennen der Exploitationen durch die europäische Vormachtstellungen in den Kolonien, die Kompensation durch die Aufklärung im europäischen Sinne und das Ausschließen der indischen Bevölkerung in diesen Diskursen symbolisieren bei- spielhaft einen „Reflex des wachsenden Bewusstseins europäischer Exklusivität“,114 welcher in die politischen Aushandlungsprozesse in Indien seit Mitte des 18. Jahrhundert einzuordnen ist, die in zunehmendem Maße auf das Land einwirkten.

Die mit nur 4 Jahren sehr kurzlebige TS gründete sich an dritter Stelle mit dem „Zweck, (…) auch Handel, Ackerbau, Manufacturen und Industrie in den Trankenbarischen Gegenden aufzumun- tern und zu befördern“.115 Zur Umsetzung der Gründungsabsichten sah Engelhart deshalb vor, eine Universität in Tranquebar mit einheimischen Lehrern unter europäischer Kontrolle zu errich- ten. Neben Recht, indischer und europäischer Geschichte, christlicher und auch hinduistischer Re- ligion, stand die Naturgeschichte ebenfalls auf dem Lehrplan, welcher dem Überlegenheitsgefühl folgend „under the guidance of Europeans according to facts and not fables or superstition“116 ausgearbeitet werden sollte. Für den Unterricht hatte die Gesellschaft auch bereits eine Bibliothek, eine Naturaliensammlung und einen botanischen Garten zur Verfügung, die die Mitglieder kurz nach der Gründung eingerichtet hatten. Der Garten diente ihnen unter anderem als Lager für Na- turfakte, die sie an europäische Gelehrte zu versenden gedachten.117 Die investierte Arbeit in die-

112 Jensen, The Tranquebarian Society, S. 542. 113 Vgl. ebd., S. 547. 114 Trepp, Missionierung der Seelen, S. 256. Trepp benutzt diese Umschreibung mit Bezug auf das gestei- gerte Interesse an der Naturgeschichte von John und Rottler, da sie im Gegensatz zu ihren Vorgängern ihre Aufmerksamkeit, angestiftet durch die naturwissenschaftlichen Entwicklungen in Europa, von der einheimischen Kultur verstärkt auf die einheimische Natur verlagerten. Die Umschreibung schien mir jedoch auch auf die politischen Aushandlungsprozesse adäquat. 115 Christoph Samuel John, Briefe der Missionarien, in: NHB 37 (1790), S. 105. 116 Jensen, The Tranquebarian Society, S. 549. 117 Vgl. ebd., S. 545–546. Das soziale Leben der Naturdinge 75

se Einrichtungen und ihre bewusste Ausrichtung auf das Ansammeln von Naturalien neben den bildungspolitischen Absichten sind somit als weitere politische Interventionen aus der commodity situation auszumachen, die der Aufrechterhaltung der Handelswege dienen sollten.

Engelharts Pläne für eine tranquebarische Universität erreichten kein Publikum außerhalb der TS. Jedoch war ihm John als Mitglied der Gesellschaft ein Diskussionspartner, welcher sich ebenfalls intensiv mit der Bildung in Indien beschäftigte und seine Ideen in den Schulen der DHM bereits umsetzte. Sein Schulwesen definiert den letzten Bereich, in dem politische Interventionen statt- fanden. Schon 1784 trat John brieflich an seine Vorgesetzten in Halle mit Vorschlägen heran, um das Missionswesen zu reformieren. Nach seinen Vorstellungen sollte den Missionaren nur noch die Ausbildung der Katecheten zufallen, welche dann die Bekehrungsbemühungen unter der in- dischen Bevölkerung fortführten.118 Die Missionspraktiken sollten sich verstärkt nach einem physi- kotheologischen Verständnis richten.119

Im gleichen Zuge richtete er die Schulen nach dieser physikotheologischen Programmatik aus. Die Aufmerksamkeit des Realienunterrichtes konzentrierte sich auf die naturgeschichtlichen Lehr- bereiche, bei denen er die Kinder seiner Ansicht nach erfolgreich zum christlichen Glauben erzog: „[…] wenn ich mit den erstern [Schulklassen] unter dem Reichthum Gottes in der Natur herum- spatzieren fahre, so beten sie gar fröhlich: Himmel, Erde, Luft und Meer zeigen unseres Schöpfers Ehr“.120 Bei diesen Spaziergängen ließ er seine Schüler Naturdinge aus ihrer Umgebung sammeln, doch beließ er es nicht nur dabei. Es war auch Teil seines Unterrichts, einige seiner Klassen in der linnéischen Taxonomie auszubilden, damit sie ihm bei der Klassifizierung und Ordnung der Na- turfakte in seiner Sammlung oder seinen Gärten behilflich sein konnten.121 Die Reformforderung Johns, denen sich auch Rottler anschloss, stießen im Direktorium der Franckeschen Stiftungen zwar auf teils heftige Ablehnung, jedoch konnte er die naturgeschichtliche Ausrichtung der Schu- len konfliktfrei umsetzen.122

Welchen Nutzen John aus dieser Form der Erziehung für seine naturgeschichtlichen Aktivitäten zog, zeigte sich besonders in der Ausbildung seines Lieblingsschülers Heinrich Julius Lebeck, „die Krone meiner Erziehungsanstalt“.123 Als dieser 1789 mit 17 Jahren auf der Mission anheuerte, bilde-

118 Vgl. Hommel, Physikotheologie und Dänisch-Englisch-Hallesche Mission, S. 188–189. 119 Zur detaillierten Betrachtung von Johns Auseinandersetzung mit der Physikotheologie vgl. Hommel, Physico-Theology, S. 1115–1133. 120 Brief von Christoph Samuel John an Ludwig Schulze, Franckesche Stiftungen, Missionsarchiv, 15.10.1785, AFSt/M 1 C 25 : 39, zit. nach Hommel, Physikotheologie und Dänisch-Englisch-Hallesche Mission, S. 189. 121 Vgl. Hommel, Naturwissenschaftliche Forschungen, S. 168. 122 Vgl. Hommel, Physico-Theology, S. 1129–1133. 123 Christoph Samuel John, Beschreibung und Abbildung des Uranoscopus Lebeckii, in: Der Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin, Neue Schriften. Dritter Band, Berlin 1801, S. 287. 76 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

te ihn John zum Katecheten aus. Während seiner Ausbildung half Lebeck seinem Erzieher bei vie- len seiner naturgeschichtlichen Arbeiten aus.124 In seinem 24ten Lebensjahr entschied er sich ge- gen eine Missionarsarbeit in Tranquebar und reiste nach Uppsala, um dort ein Medizinstudium bei dem Mediziner und Botaniker Carl Peter Thunberg zu beginnen.125 6 Jahre später schrieb John eine naturgeschichtliche Abhandlung über einen Sternengucker für die Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin, den er als seine Entdeckung deklarierte. In Andenken an seinen Lieblingsschüler benannte er den Fisch uranoscopus lebeckii.126

In den 1810er Jahren wurden Johns Pläne zur Umgestaltung des indischen Bildungswesens nach naturgeschichtlichen Aspekten konkreter. Einige Jahre zuvor entwickelten sich bereits viele De- batten um die indische Bildungspolitik, insbesondere in den englischen Kolonien, die mit der Ausbreitung der britischen Ostindien-Kompanie ihre Machtstellungen auf dem Subkontinent ge- waltsam ausweiteten. In den Jahren von 1808 bis 1815 geriet auch Tranquebar unter englische Besatzung.

Unter diesen Umständen veröffentliche John seine programmatische Schrift On Indian Civilization, or, Report of a Successful Experiment, Made During two Years on that Subject, in fifteen Tamul, and five English Native Free-Schools; Humbly submitted to the […] Honourable East-India Company in Lon- don und richtete sich damit an die Führung der britischen Ostindien-Kompanie. In insgesamt fünf Sektionen legte er dar, wie seine Erfahrungen mit den Schulen der DHM bei dem Aufbau eines Bil- dungssystems in Indien helfen könne, in der Hoffnung auf eine stärkere Unterstützung der Kom- panie bei dem Ausbau seiner eigenen Schulen. Viele seiner vorgeschlagenen Ideen überschnitten sich mit Engelharts Vorstellungen zur Etablierung einer Universität. So wollte er zum Beispiel auch einheimische Lehrer nur unter der Unterweisung und Aufsicht von Europäern einstellen. Außer- dem unterstützte er eine Lehrmethode der englischen Kleriker Andrew Bell und Joseph Lancaster aus Madras. Sie gewann unter anderem durch ein Konzept an Popularität, welches vorsah, die Schüler der oberen Schulklassen den Schülern der unteren Klassen als Tutoren beizustellen.127 Das Bell-Lancaster Modell fand im britischen Königreich seit 1810 eine weitläufige Umsetzung.

Eine Sektion seiner Schrift widmete John den Effekten einer naturgeschichtlichen Erziehung in den Schulen. Ausführlich beschrieb er darin das pädagogische Potenzial einer Lehrmethode, die

124 Vgl. Brief von Christoph Samuel John an Johann Ludwig Schulze, Franckesche Stiftungen, Missions archiv, 20.01.1789, AFSt/M 1 C 30c : 24. 125 Vgl. Christoph Samuel John, Briefe der Missionarien, in: NHB 44 (1796), S. 736. 126 Vgl. John, Beschreibung und Abbildung des Uranoscopus Lebeckii, S. 287. 127 Vgl. Heike Liebau, Christoph Samuel John’s Essay on Education, in: Andreas Gross u. a. (Hrsg.), Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. Vol. 3: Communication between India and Europe, Halle 2006, S. 1323–1324. Das soziale Leben der Naturdinge 77

mit Naturalien aus der direkten Umgebung der Schüler arbeite.128 Im restlichen Teil dieser Sektion erläuterte er weiterführend den Zweck dieser naturgeschichtlichen Bildung in drei Aspekten. Zum einen benannte er konkret den Nutzen einer besseren naturgeschichtlichen Bildung zur Erweiter- ung des Naturalienaustausches: „Those who cultivate this study in Europe of whom very few can travel into foreign countries must depend upon their friends who have better oppertunities for gratifying their desires by sending them their observations and collections“.129 Zum anderen bezog er sich auf die unwirtschaftlich und unwissenschaftlich benutzte Landschaft in Indien außerhalb der Städte. Auf seinen Reisen habe er unzählige mangelhaft bepflanzte Gärten und Parkflächen gesehen, was er auf eine in der Botanik unzureichend ausgebildete Bevölkerung zurückführe. Mit der richtigen Bildung könnten jedoch auch in ländlichen Regionen botanische Gärten angerei- chert werden, die den Schulen bei Spaziergängen und Reisen wiederum Anschauungsmaterial für den Naturalienunterricht bieten könnten. Zuletzt sei es zu bemängeln, dass es den Naturhistori- kern in Indien an ausgebildeten Arbeitskräften fehle, um ihre naturwissenschaftliche Forschung voranzutreiben. Könnten sie auf Arbeitskräfte zurückgreifen, die in der europäischen Taxonomie geschult wären, so könne die Erforschung der indischen Botanik besser vorangetrieben werden.130

In der späteren Bildungspolitik der britischen Ostindien-Kompanie fand Johns Schreiben keine konkrete Beachtung mehr. Jedoch haben nach dem Tod des Missionars viele andere Missions- stationen und -schulen in unterschiedlichen Städten Indiens seine Ideen übernommen.131 Die na- turgeschichtliche Fokussierung in einigen Bereichen des Lehrplanes dieser Schulen half bei der Ausbreitung von naturgeschichtlichen Begegnungsstätten wie botanischen Gärten und Natura- liensammlungen, welche wiederum als Lagerstätte für den Naturalienaustausch dienen konnten. Weiterhin beförderte die Ausbildung in der Botanik nach europäischen Standards die Verdrän- gung der einheimischen Taxonomie durch die Durchsetzung naturgeschichtlicher Klassifikations- systemen.

Schluss

Appadurais Aufsatz The Social Life of Things ist ein Plädoyer dafür, die Wirkung von Objekten auf das Handeln der Menschen in den Fokus zu rücken. Zur Umsetzung entwickelte der Ethnologe dafür ein methodisches Konzept, mit welchem der Einfluss von Waren auf politisches Verhalten ermittelt werden kann. In diesem Konzept folgt der Begriff der Ware einer breiteren Auslegung als

128 Vgl. John, On Indian Civilization […], S. 36. 129 Vgl. Ebd., S. 38. 130 Vgl. Ebd., S. 40–43. 131 Vgl. Liebau, Christoph Samuel John’s Essay, S. 1329–1332. 78 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

in der konventionellen Auslegung kapitalistischer Gesellschaften. Wie sich zeigte, ist dieser Waren- begriff prädestiniert für die Untersuchung des Naturalienaustausches in der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts, da er die Analyse des Gabentausches nach handelspolitischen Aspekten ermög- licht. Folglich ermöglichte er der vorliegenden Untersuchung die Bestimmung der Handelspolitik hinter dem Naturalienaustausch der Missionare der DHM und die Ermittlung des Einflusses der gehandelten Naturfakte auf bestimmte politische Prozesse in Tranquebar.

Die commodity phase der Naturfakte begann mit dem Amtsantritt von König als Missionsarzt und endete mit dem Tod von John als letztem Akteur, der den Naturalienaustausch auf der Mis- sionsstation konsequent durchführte. Dem Naturalienaustausch lag eine commodity candidacy in Form von zwei kulturellen Bereichen zu Grunde, auf dessen Basis sich der Handel überhaupt realisieren konnte. Zum einen war es die Entstehung einer naturgeschichtlichen Bewegung in Europa. Sie etablierte eine einheitliche Taxonomie, die durch ihr additives Prinzip die Entstehung einer Grassroot-Gelehrsamkeit begünstigte, die nicht nur aus ausgebildeten Naturhistorikern, son- dern auch aus autodidaktischen Einsteigern bestand. Zudem begünstigte sie eine Vermehrung der Sammlertätigkeit, indem sie bei den Sammlern das Bedürfnis zur Vervollständigung evozierte, was die Nachfrage an Naturfakte steigerte. Zum anderen beruhte die commodity candidacy auf dem Schulwesen der DHM, welches einem pädagogischen Prinzip folgte, das die Auseinanderset- zung mit Realien und Naturobjekten förderte. Schließlich wurde der commodity context ermittelt, in dem die Akteure ihre Waren austauschten. Dies war ein globales Netzwerk von Naturhistorikern, in denen sich Korrespondenzpartnerschaften herausbildeten, die zumeist einen fortlaufenden Naturalienaustausch nach sich zogen und aus denen heraus sich Sozietäten bildeten, die darauf abzielten, die Anstrengungen zur Vergrößerung oder Vervollständigung von Sammlungen zu bündeln und durch Zirkulation von Informationen und Naturalien die Naturgeschichte zu fördern.

Aus dieser commodity situation konnten drei politische Interventionen im Sinne von Appadurai erschlossen werden, die dazu beitrugen, den Handelsfluss mit Naturfakten aufrecht zu erhalten oder zu fördern. Zum einen betraf dies das Alltagsleben der einheimischen Bevölkerung, die von den Missionaren mit dem Einsammeln von Naturobjekten beauftragt wurde, oder als Go-Betweens Wissen vermittelten, das zum Naturalienhandel beitrug. Des Weiteren visierte die in Tranquebar gegründete TS politische Ambitionen an, die unter anderem naturgeschichtliche Einrichtungen ausbauen sollten. Zuletzt etablierte John ein Bildungssystem von Missionsschulen, welches dem Naturalienhandel zuarbeitete und welches ein europäisch geprägtes naturgeschichtliches Lehr- programm mit der Absicht einführte, eine europäisch geprägte naturgeschichtliche Taxonomie in Indien zu etablieren.

Die Untersuchung hat gezeigt, dass eine Betrachtung des Naturalienaustausches aus einer verän- Das soziale Leben der Naturdinge 79

derten Perspektive auf den Gabentausch nach Mauss möglich ist. Appadurais methodisches Re- pertoire bewerkstelligt die Erfassung von Kausalitäten zwischen dem Naturalienhandel der DHM und der Aushandlung politischer Prozesse, die in der bisherigen Forschung keine Erwähnung fin- det. Die Standhaftigkeit der Argumentation und ihrer Erkenntnisse gilt es jedoch noch außerhalb dieser Methodik entgegen zu prüfen. Sollten sich nach einem solchen Schritt die ermittelten Kau- salitäten bestätigen können, so besäße Appadurais Methodik das Potenzial, den Naturalienhandel der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts in seiner Gesamtheit aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten. 80 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

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82 Nico Geisen / Die junge Mommsen 2020 (01)

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„Das weibliche Element“ Der Blick der Berliner Tagespresse auf die ersten Parlamentarierinnen

Juliane Verena Sprick

Humboldt-Universität zu Berlin

Diese Arbeit wurde ursprünglich im Rahmen eines Masterstudiums als Seminararbeit im Mastersemi- nar „Konflikt und Konsens in der Weimarer Republik" eingereicht.

Inhalt

Einleitung...... 86 1. Das Frauenwahlrecht und die ersten Parlamentarierinnen...... 89 2. Die Berliner Tagespresse...... 91 3. Analyse der Berichterstattung...... 94 3.1. Der Beginn der Nationalversammlung...... 95 3.2. „Zwischenfall Agnes“...... 97 3.3. Die erste Rede – eine Frau spricht vor der Nationalversammlung ...... 99 3.4. Louise Zietz und das Eiserne Kreuz ...... 104 3.5. Gertrud Bäumer – ein „Gegensatz zu ihren beiden Vorrednerinnen“...... 107 4. Schluss...... 109 Quellen- und Literaturverzeichnis...... 112

Einleitung

Mit Beginn der Weimarer Republik konnten die Frauen in Deutschland erstmals die Gesetzgebung im deutschen Parlament aktiv mitbestimmen. In die verfassunggebende Nationalversammlung zogen 39 Frauen ein. Alle Fraktionen hatten nun weibliche Mitglieder. Doch wie reagierten die Zeitgenoss*innen auf diese Neuerung? Gab es einen gesellschaftlichen Konsens über die politi- sche Gleichberechtigung? „Das weibliche Element“ 87

Ein Blick in die Tagespresse kann ein erster Annäherungsversuch an die gesellschaftliche Haltung der Deutschen zum Anfang der ersten deutschen Republik 1919 sein. Zwar können Medien nie- mals das in der Öffentlichkeit existierende Meinungsspektrum in seiner Gänze abbilden – weder damals noch heute. Dennoch haben sie je nach Verbreitungsgrad eine prägende Wirkung auf die öffentliche Meinung. Tageszeitungen erreichten im frühen 20. Jahrhundert eine enorme Leser*in- nenschaft und gerade diejenigen, die sich nicht selbst politisch engagierten, erfuhren hier von politischen Ereignissen und Entwicklungen.1 Somit stellt sich die Frage: Welchen Eindruck vermit- telte die Presse ihren Leser*innen von der Arbeit der Parlamentarierinnen? Was erfuhr man über die weiblichen Abgeordneten, wenn man zur Zeit der Nationalversammlung die Zeitung las? Wur- de über sie gleichwertig wie über die männlichen Abgeordneten berichtet? Wurde ihr Geschlecht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit gesondert betont? Oder wurden sie von den aus Berlin aus- gesandten Korrespondent*innen gar nicht erwähnt?

Der Fokus der Analyse liegt auf den allerersten Wochen der Parlamentsarbeit im Februar 1919. Neben der Eröffnungssitzung am 6. Februar fällt der Blick auf die Berichterstattung der ersten Reden weiblicher Abgeordneter. Erst in der 11. Sitzung, am 19. Februar, sprach mit Marie Juchacz (1879–1956) von den Mehrheits-Sozialdemokraten erstmals eine Frau in der Nationalversamm- lung. Ihr folgten dann direkt Louise Zietz (1865–1922) von den Unabhängigen Sozialdemokraten in der 12. Sitzung und Gertrud Bäumer (1873–1954) von der Deutschen Demokratischen Partei in der 13. Sitzung. Auch die darüber hinaus erfolgenden medialen Reaktionen, wie auf den Antrag der Frauen, eingereicht von Lore Agnes (1876–1953) (USPD), und auf Louise Zietz’ Zwischenrufe, werden mit einbezogen.

Als Basis dieser Analyse soll die Berliner Tagespresse von Februar 1919, also den ersten Sitzungs- wochen der verfassunggebenden Nationalversammlung in Weimar, dienen. Trotz ausgelagerter Nationalversammlung war Berlin sowohl formal die Hauptstadt als auch das politische und me- diale Zentrum der Republik.

Um einen Einblick in den breiten Fächer unterschiedlicher politischer Haltungen zu bekommen, wurden offizielle Parteiorgane, parteinahe Tageszeitungen sowie allgemeinere Generalanzeiger untersucht. Dabei konnte größtenteils auf den Archivbestand der Staatsbibliothek zu Berlin - Preu- ßischer Kulturbesitz zurückgegriffen werden. Der Vorwärts, 1919 offizielles Parteiorgan der MSPD, konnte über die Friedrich-Ebert-Stiftung eingesehen werden, die Berliner Illustrierte Zeitung über das Portal Argonnaute der Universität Paris-Nanterre. Leider ist der Quellenbestand für die unter- suchten Wochen einiger Zeitungen aufgrund fehlender Ausgaben oder aus urheberrechtlichen Gründen, wie bei vereinzelten Seiten der Ausgaben des Vorwärts, nicht vollständig vorhanden.

1 Vgl. Bernhard Fulda, Press and politics in the , Oxford 2009, S. 3. 88 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

Die bisherige Forschungsliteratur zur parlamentarischen Arbeit der weiblichen Abgeordneten der Weimarer Republik beschäftigt sich nur am Rande mit der gesellschaftlichen Rezeption der Politi- kerinnen – sie geht selten über die Türschwelle der Parlamentssäle oder die internen Diskussionen der Frauenbewegung hinaus. So verbleibt beispielsweise auch Christiane Streubel (Radikale Natio- nalistinnen) mit ihrer Analyse der publizistischen Tätigkeit der Frauen im national-konservativem Spektrum, vorrangig im Kosmos der von Frauen für Frauen geschriebenen Texte. Bei Julia Snee- ringers Monographie (Winning women’s votes) kreuzen sich die Pfade der breiten Massenmedien und der Politik, auch wenn hier zugunsten des Themas natürlich vor allem der Wahlkampf und das Verhalten der Wählerinnen fokussiert werden. Eine ausführliche Analyse, die zumindest in Teilen über die Politik-interne Wahrnehmung hinausgeht, bietet das Werk von Heide-Marie Lauterer (Par- lamentarierinnen in Deutschland). In Teilen beschäftigt sich auch Thomas Mergel (Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik) mit der Wirkung der Anwesenheit weiblicher Abgeordneter im Par- lamentsbetrieb, vor allem mit Blick auf die Reaktionen der männlichen Abgeordneten, aber auch auf die Presse. Es ist daher sehr erstaunlich, dass die ersten Reden der weiblichen Abgeordneten nur indirekt mit Verweisen auf private Tagebücher der Politikerinnen und einem kurzen, schein- bar zufälligen Zitat aus der ersten Rede Gertrud Bäumers thematisiert werden.2 Marie Juchacz wird bei Mergel nicht erwähnt. Dafür wird sie allerdings in vielen Artikeln, in denen das Frauen- wahlrecht besprochen wird, gerne als Beispiel herangezogen, wie etwa bei Gisela Bock (100 Jahre Frauenwahlrecht) oder Kirsten Heinsohn (Parteien und Politik in Deutschland.). Eine sehr detaillierte Zusammenstellung der politischen und rechtlichen Entwicklung des Frauenwahlrechts über die erste Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung hinaus, bietet zudem die Juristin Ute Rosenbusch (Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland).

Für die Einordnung der Zeitungen mit Blick auf die Mediengeschichte in der Analyse wurden unter anderem Bernhard Fuldas Monographie Press and politics in the Weimar Republic und das Grund- langenwerk Kurt Koszyks zur Pressegeschichte (Deutsche Presse 1914–1945) hinzugezogen.

Im Folgenden werden nun zunächst die Einführung des Frauenwahlrechts 1918 als Grundlage für den Einzug der Frauen ins Parlament und der Status und gesellschaftliche Einfluss der Presse am Beispiel Berlins vorgestellt. Danach folgt eine Untersuchung der Berichterstattung zu einzel- nen Ereignissen, etwa den erwähnten Parlamentsreden. Mit gleichzeitiger Berücksichtigung der Sitzungs- und Redeprotokolle des Parlaments (Reichstagsprotokolle) wird so der Blick der Presse auf die ersten deutschen Parlamentarierinnen verdeutlicht. Das Ergebnis dieser Analyse soll auf diese Weise zumindest ein Stück weit Rückschlüsse darauf ermöglichen, wie die Bevölkerung die Politikerinnen wahrgenommen hat.

2 Vgl. Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, sym- bolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, 3. überarbeitete Auflage, Düsseldorf 2012 [2002], S. 44. „Das weibliche Element“ 89

1. Das Frauenwahlrecht und die ersten Parlamentarierinnen

Mit dem Reichswahlgesetz für die verfassunggebende Nationalversammlung vom 30. November 1918, verabschiedet durch den Rat der Volksbeauftragten, durften Frauen in Deutschland wählen. Sie konnten erstmals aktiv bei einer Wahl ihre Stimme abgeben und bekamen ebenso das passi- ve Wahlrecht. Sie konnten sich also selbst auch als Kandidatinnen aufstellen lassen und gewählt werden. Für dieses Recht hatten sich Frauen in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts aus- dauernd engagiert. Noch in den letzten Tagen des Kaiserreichs, zum Ende des Ersten Weltkriegs, hatten fast alle deutschen Frauenverbände, außer den Frauen der USPD, maßgeblich vertreten von Louise Zietz, gemeinsam eine Erklärung an Reichskanzler Max von Baden unterschrieben, in der sie das Frauenwahlrecht forderten.3 Doch Umsetzung fand es erst in einer Maßnahme des Rats der Volksbeauftragten, einer sechsköpfigen Übergangsregierung, bestehend aus Mehrheits- und Unabhängigen Sozialdemokraten, die nach der Ausrufung der Republik am 9. November einge- setzt wurde.

Oft wird die Einführung des Frauenwahlrechts als logische Konsequenz des Ersten Weltkriegs ge- sehen, in welchem die Frauen erstmals in vielen Bereichen der Berufswelt spontan Verantwortung übernahmen, die zuvor ausschließlich bei Männern lag. Aber auch die angespannte Lage während der Novemberrevolution 1918 wird häufig als Erklärung angeführt, warum das Frauenwahlrecht letztlich eingeführt wurde. Denn zusammen mit den Frauen durften nun auch Männer bereits mit 20 statt wie bisher mit 25 Jahren wählen, ebenso Soldaten, die zuvor vom Wahlrecht ausge- schlossen waren: „Schnelle Erfolge mußten her, um die Volksstimmung zu beruhigen“4, ordnet Ute Rosenbusch das plötzliche Engagement des Rats für die Erweiterung des Wahlrechts während der deutschlandweiten Revolutionsunruhen ein.5

Dennoch kann der vorangegangene Weltkrieg „allenfalls als (teilweise) beschleunigender Kata- lysator eines längerfristigen Prozesses“6 gesehen werden, so Gisela Bock. Die Novemberrevolu- tion hingegen sei durchaus eine Situation gewesen, in der der Rat unter Zugzwang stand, führt Heide-Marie Lauterer an. Somit könne sie, wenn auch nicht als Ursache, als Auslöser für die schlussendliche Verabschiedung des Frauenwahlrechts angesehen werden. Ohne den vorheri- gen jahrzehntelangen Einsatz, vor allem der sozialdemokratischen Frauenverbände, wäre es wohl trotzdem nicht dazu gekommen.7 Zumal selbst im November 1918 die meisten Parteien deutlich

3 Vgl. Ute Rosenbusch, Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland, Baden-Baden 1998, S. 430. 4 Ebd., S. 450. 5 Vgl. ebd.; Gisela Bock, 100 Jahre Frauenwahlrecht. Deutschland in transnationaler Perspektive, in: Zeit- schrift für Geschichtswissenschaft 66 (2018), S. 395–412, S. 396. 6 Bock, 100 Jahre Frauenwahlrecht, S. 396. 7 Vgl. Heide-Marie Lauterer, Parlamentarierinnen in Deutschland. 1918/19–1945, Königstein im Taunus 2002, S. 60. 90 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

mit der Idee einer Mitbestimmung von Frauen in der Politik haderten, obwohl es Frauen seit 1908 nicht mehr verboten war, politischen Vereinen beizutreten und sich dort zu engagieren. Der Um- stand, sich im Wahlkampf zur Nationalversammlung nun auch um die Gunst der weiblichen Wäh- lerschaft zu bemühen, war insbesondere für die konservativen Parteien eine Kehrtwende ihrer bisherigen Haltung.8

Und so zogen am 6. Februar 1919 37 Parlamentarierinnen9 in die Nationalversammlung ein. Ins- gesamt bestand das Parlament aus 423 Abgeordneten. Die Wahlbeteiligung am 19. Januar 1919 lag bei insgesamt 82 bis 83 Prozent10; von den etwa 17,5 Millionen wahlberechtigten Frauen waren ebenfalls zwischen 82 bis 83 Prozent zur Wahl gegangen.11 Doch wie kam es, dass der Anteil der weiblichen Abgeordneten nur bei 8,7 Prozent lag?12 Unter 1618 Kandidat*innen hatten sich auch 308 Frauen aufstellen lassen. Auf den Wahlplakaten und mit speziellen Wahlkampfveranstaltun- gen von bereits politisch engagierten Frauen für potentielle Wählerinnen warben die Parteien um die weiblichen Stimmen. Ebenso sorgten sie dafür, dass auf den Wahllisten Frauen kandidierten, mit der Idee, dass diese von den Wählerinnen bevorzugt würden. Abgesehen von der USPD, deren Kandidatinnen in fünf der 37 Wahlkreise die Liste anführten, kamen sie bei den anderen Parteien jedoch nur selten über den dritten Listenplatz hinaus. Mit dem Verhältniswahlrecht war es also für die weiter hinten positionierten Kandidatinnen nur möglich gewählt zu werden, wenn die Par- teien ausreichend Prozentpunkte sammelten, um damit mehrere Sitze pro Wahlkreis besetzen zu können. Viele der kandidierenden Frauen waren damit chancenlos.13

Diejenigen, die angesichts dieser widrigen Umstände dennoch gewählt worden waren, hatten sich bereits einige Jahrzehnte lang für das Recht der politischen Mitsprache eingesetzt. Das heißt, sie hatten wie etwa Marie Juchacz, Else Höfs (beide MSPD) oder Marie Schmitz (Zentrum) mit da- für gekämpft, dass das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Und sie hatten in den Frauenverei- nen und -verbänden Erfahrung gesammelt oder sich in sozialen Organisationen beziehungsweise auch in Gewerkschaften eingebracht.14 Unter den weiblichen Abgeordneten der bürgerlichen und nationalistischen Parteien gab es zudem viele ausgebildete Lehrerinnen und Akademikerinnen, die zum Teil sogar promoviert waren, wie beispielsweise Gertrud Bäumer (DDP). Die insgesamt

8 Vgl. Rosenbusch, Der Weg zum Frauenwahlrecht, S. 450–452. 9 Noch kurz vor der ersten Sitzung der Nationalversammlung rückte Gertrud Lodahl für einen männlichen Abgeordneten nach, der sein Mandat zurückgab: vgl. Rosenbusch, Der Weg zum Frauenwahlrecht, S. 478 (hier wird Lodahl fälschlicherweise mit dem Vornamen „Wilhelmine“ ausgewiesen). 10 Vgl. Rosenbusch, Der Weg zum Frauenwahlrecht, S. 473. 11 Vgl. ebd., S. 473f. 12 Es war damit dennoch global betrachtet der höchste Prozentsatz weiblicher Abgeordneter im Parlament zu der Zeit. Vgl. Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 44. 13 Vgl. Lauterer, Parlamentarierinnen, S. 66f. 14 Vgl. Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 44. „Das weibliche Element“ 91

22 Parlamentarierinnen der MSPD und USPD verfügten über weniger höhere Bildungs- oder Be- rufsabschlüsse: „[…] doch sie hatten ihre Allgemeinbildung innerhalb der sozialdemokratischen Frauenvereine entscheidend erweitert.“15

Nach dieser spontanen und vielleicht etwas holprigen Premiere der gleichgestellten Einbezie- hung von Männern und Frauen in die Parlamentswahl schien die politische Gleichberechtigung in Deutschland, auch aus der Sicht vieler Politikerinnen, abgeschlossen.16 Denn natürlich hatte sich dadurch einiges rapide verändert, wie Kirsten Heinsohn beschreibt:

Die Zulassung von Frauen zum Wahlrecht eröffnete neue Handlungsräume für Frauen. Diese neu- en politischen Optionen wurden insbesondere von den Vertreterinnen der Frauenbewegung will- kommen geheißen und ermöglichten ihnen zugleich, in neuen Positionen für ihre Anliegen zu werben.17

Und in der Debatte um die neue Verfassung, die im August 1919 verabschiedet wurde, wander- te das Frauenwahlrecht weitgehend ohne nennenswerten Widerstand als Selbstverständlichkeit durch die Lesungen.18

Doch im Laufe der 1920er Jahre machte sich unter den Politikerinnen, die sich ihrer neu erworbe- nen Gleichberechtigung sicher waren, Enttäuschung breit. Insbesondere außerhalb der typischen Frauenthemen, die vor allem den Bereich Bildung und Soziales betrafen, hatten ihre Bemühungen nur wenig Einfluss auf die tatsächlichen Beschlüsse im Parlament.19 Zudem sank die Anzahl der Parlamentarierinnen im Laufe der Weimarer Republik bis auf 4,1 Prozent 1933.20

2. Die Berliner Tagespresse

Wer sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts über aktuelle politische Ereignisse – etwa über die Vor- gänge im Parlament – informieren wollte, griff zur Tageszeitung. Die Auswahl war groß, denn so gut wie jede politische Gruppierung hatte entweder ein eigenes Parteiorgan oder es gab eine ihr nahestehende Zeitung zu kaufen – im Abonnement oder am Straßenkiosk. Zusätzlich gab es

15 Lauterer, Parlamentarierinnen, S. 32. 16 Vgl. bspw. Nationalversammlung, 11. Sitzung, 19.02.1919 (Marie Juchacz sagt in ihrer Rede: „Ich möchte hier sagen, daß die Frauenfrage, so wie es jetzt ist in Deutschland, in ihrem alten Sinne nicht mehr be- steht.“). 17 Kirsten Heinsohn, Parteien und Politik in Deutschland. Ein Vorschlag zur historischen Periodisierung aus geschlechterhistorischer Sicht, in: Gabriele Metzler u. a. (Hrsg.), Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn 2016, S. 279–298, S. 280. 18 Vgl. Bock, 100 Jahre Frauenwahlrecht, S. 405. 19 Vgl. Heinsohn, Partien und Politik, S. 290f. 20 Vgl. Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 105. 92 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

außerdem die sogenannten Generalanzeiger, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem von den großen Verlagshäusern auf den Markt gebracht worden waren. Sie waren weniger poli- tisch fokussiert, wollten unabhängig berichten und finanzierten sich hauptsächlich über Werbe- und Kleinanzeigen. Damit sprachen sie erfolgreich ein breiteres Publikum an. Dennoch ordneten sich die Journalist*innen in ihren Artikeln dem vorgegebenen Neutralitätsanspruch der Heraus- geber selten unter.21 Die „Idee der Presse als einer die anderen Gewalten kontrollierenden ‚Vierten Gewalt‘“22, wie sie zu der Zeit bereits in den USA verbreitet war, setzte sich in Deutschland erst ein paar Jahrzehnte später durch. Wer sich also vollumfänglich informieren wollte, war gezwungen, regelmäßig einen ganzen Kanon verschiedener Titel zu lesen.23

Gleichzeitig wurden die Leser*innen selten darüber in Kenntnis gesetzt, wer die einzelnen Artikel verfasst hatte. Es war nicht üblich, regelmäßig den Namen des Artikelautors oder der Artikelauto- rin zu nennen, meist geschah dies nur bei längeren Texten. Oft gab es Kürzel, die allerdings nicht aufgelöst wurden. Es ist daher auch rückblickend nicht erkennbar, ob ein Artikel von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurde. Christiane Streubel weist in ihrer Analyse der rechtskonser- vativen Frauen der Deutschnationalen Volkspartei zwar auf die Mitarbeit weiblicher Autorinnen in den Zeitungen in der Weimarer Zeit hin. Bis auf wenige Ausnahmen beschränkt sich diese al- lerdings auf spezielle, an Frauen gerichtete Sonderbeilagen, wie etwa ab 1918 in der Deutschen Zeitung.24 Stattdessen etablierte sich auf dem Printmarkt ein eigenes Genre mit diversen Titeln, die sich von vorneherein an das weibliche Publikum richteten. Am weitesten verbreitetet war die Zeitschrift Die Frau, die bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erschien und ab 1899 ge- meinsam von Helene Lange und der Abgeordneten der Nationalversammlung Gertrud Bäumer, DDP, herausgegeben wurde.25 Insbesondere konservative Journalistinnen erhofften sich von die- sen speziell an Frauen gerichteten Publikationen, mit denen sie eine neue „Teilöffentlichkeit“26 fo- kussierten, eine Stärkung ihres politischen und gesellschaftlichen Einflusses.

Inhaltlich hatten die Zeitungen 1919 weitgehend freie Hand. Bis zum Inkrafttreten der Weimarer Verfassung im August galt das im Deutschen Kaiserreich 1874 geschaffene Presserecht, welches

21 Vgl. Fulda, Press and politics, S. 29; Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. überarbeitete Auflage, Konstanz/München 2014, S. 171. 22 Jörg Requate, Medienmacht und Politik. Die politischen Ambitionen großer Zeitungsunternehmer – Hearst, Northcliff, Beaverbrook und Hugenberg im Vergleich, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 79–95, S. 84. 23 Vgl. Fulda, Press and politics, S. 24. 24 Vgl. Christiane Streubel, Radikale Nationalistinnen. Agitation und Programmatik rechter Frauen in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 2006, S. 69, 199f. 25 Vgl. ebd., S. 166. 26 Christiane Streubel, Antidemokratische Konzepte politischer Teilhabe. Journalistinnen in der radikalna- tionalistischen Öffentlichkeit der Weimarer Republik, in: Christine Hikel u. a. (Hrsg.), Lieschen Müller wird politisch. Geschlecht, Staat und Partizipation im 20. Jahrhundert, München 2009, S. 41–51, hier S. 41. „Das weibliche Element“ 93

zumindest erstmals eine Art Pressefreiheit garantiert hatte. Es hatte den Verlegern ermöglicht ohne Einschränkungen zu drucken. In den Jahren des Ersten Weltkriegs wurde die Arbeit der Pres- se jedoch zwischenzeitlich sehr eingeschränkt.27 Nicht nur das Presserecht, die Zeitungen selbst waren ebenso ein Kontinuum der Kaiserzeit. Es gab zwar Neugründungen, aber die meisten Zei- tungstitel, auch die, die im Folgenden analysiert werden, gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Manche von ihnen passten sich den neuen Gegebenheiten allerdings an, wie etwa die Neue Preu- ßische Kreuz-Zeitung: „[Sie] entfernte am 12. November 1918 aus ihrem Kopf das Motto: ‚Vorwärts mit Gott für König und Vaterland‘. Am 15. Dezember erschien statt dessen[sic!]: ‚Gott mit uns‘.“28

Generell war die Verbreitung auch größerer, erfolgreicher Zeitungstitel regional beschränkt. In Berlin, der Hauptstadt der Weimarer Republik, war die Auswahl besonders vielfältig. Auch wäh- rend des kurzen Intermezzos mit der Nationalversammlung in Weimar war Berlin das politische Zentrum der Republik und die dortigen Zeitungen dem Politikbetrieb am nächsten.29 Von Par- teiorganen wie dem Vorwärts der MSPD über die mit der linksliberalen DDP sympathisierende Vossische Zeitung bis hin zur plakativen, weniger politischen B.Z. am Mittag, der ersten deutschen Boulevardzeitung aus dem Ullstein-Verlag, konnten die Leser*innen auswählen. Die meisten der Berliner Zeitungen wurden von den drei großen Verlagshäusern Mosse, Ullstein und Scherl ver- trieben. Letzteres ging inklusive einem der auflagenstärksten Titel, dem Berliner Lokal-Anzeiger, 1916 in die Hand Alfred Hugenbergs über. Hugenberg war Parteimitglied und später Vorsitzender der DNVP.30 Es sei jedoch an dieser Stelle angemerkt, dass es für die Jahre der Weimarer Republik keine verlässlichen Nachweise über die Auflagenstärke und tatsächliche Verbreitung der Zeitun- gen gibt.31

Die typische Tageszeitung erschien 1919 zweimal am Tag. Es gab je eine Morgenausgabe, die über den Vortag und die anstehenden Ereignisse des Tages berichtete und zum Feierabend je eine Abendausgabe. Bis zur Etablierung des Radios als Massenmedium Anfang der 1930er Jahre stieg die Anzahl der Ausgaben pro Tag weiter an. Denn Zeitungen waren, abgesehen von Flugblättern, Gesprächen auf der Straße oder beim Stammtisch, die Hauptquelle für Neuigkeiten, auch abseits des Politischen. Zeitunglesen war ein beliebter Zeitvertreib in der Weimarer Zeit.32

Die Zeitung selbst bestand durchschnittlich aus zwei bis vier Papierbögen und kam somit auf vier

27 Vgl. Koszyk, Deutsche Presse 1914–1945, S. 337. 28 Ebd., S. 30. 29 Vgl. Streubel, Radikale, S. 68. 30 Vgl, Fulda, Press and politics, S. 14. 31 Vgl. ebd. S. 21f.; Stöber, Pressegeschichte, S. 157 (Fulda merkt zudem an, dass viele Informationen über den Vertrieb der Berliner Zeitungen mit den Zerstörungen der Stadt Berlin während des Zweiten Welt- kriegs verloren gingen (vgl. ebd. S. 6)). 32 Vgl. ebd., S. 3. 94 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

bis acht Seiten pro Ausgabe plus eventuelle Beilagen, wie beispielsweise Handelsnachrichten mit Börsenkursen oder Kleinanzeigen, wie vor allem bei den Generalanzeigern üblich. Die einzelnen Artikel waren eng und auffällig platzsparend gesetzt, einfarbig und in Frakturschrift gedruckt. Bil- der waren außerhalb der tatsächlichen Illustrierten, wie der Berliner Illustrierten Zeitung, die aber auch nur einmal pro Woche erschien, unüblich. Es lässt sich nur vermuten inwieweit die Seiten- anzahl der Ausgaben von der finanziellen Lage der Herausgeber abhängig war. Kurt Koszyk ver- weist allerdings auf eine Papierzuteilung von öffentlicher Stelle für das Jahr 1919, sowie auf einen Papiermangel, der die Anzahl der Seiten diverser Titel wohl zumindest zeitweise erheblich be- schränkte.33

Der Papiermangel hielt die Zeitungen aber nicht davon ab, auch ausführlich über die aus Berlin nach Weimar verlegte Nationalversammlung berichten zu wollen. Die Herausforderung bestand vielmehr in der Distanz der beiden Städte. Um die Berichterstattung zu gewährleisten, schickten sie dementsprechend Korrespondenten, die ihnen die Berichte per Drahtmeldung, also telegra- phiert, zukommen ließen. So konnten sie ungeachtet der Ferne oft schon am selben Abend über die Sitzungen in Weimar berichten. Die Berichte über die nachmittäglichen Sitzungen erschienen in der Regel allerdings trotzdem erst in den Morgenausgaben des Folgetages. Erleichtert wurde der Austausch durch die Einführung einer Sonderzugstrecke zwischen Weimar und Berlin und der ersten Fluglinie ebenfalls zwischen diesen beiden Städten. Diese hatte jedoch hauptsächlich die Aufgabe, die frischgedruckte Berliner Presse zu den Politiker*innen nach Weimar zu bringen, da- mit diese auch lesen konnten, was über sie berichtet wurde.34

3. Analyse der Berichterstattung

Mit dem 6. Februar 1919 startete der Weimarer Parlamentsbetrieb und so hatten die Zeitungen ihre Korrespondent*innen ebenfalls in die thüringische Stadt geschickt. Die Entscheidung für Wei- mar als Ort der Nationalversammlung hatte Friedrich Ebert als Vorsitzender des Rats der Volksbe- auftragten getroffen: „aus dem nüchternen Grund, daß Weimar militärisch am besten zu schützen war und mit dem Nationaltheater einen guten Sitzungsort bot.“35

Die weiblichen Abgeordneten tauchten am Rande das erste Mal in der Berichterstattung über die Eröffnungssitzung auf. Ausführlicher setzten sich die Journalist*innen allerdings mit den Frauen im Parlament beginnend mit deren ersten Reden ab der 11. Sitzung auseinander. In die- sen Tagen konkurrierte die Nationalversammlung mit Eilmeldungen und ausführlichen Son-

33 Vgl. Koszyk, Deutsche Presse 1914–1945, S. 35. 34 Vgl. Lauterer, Parlamentarierinnen, S. 26, 71. 35 Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 41. „Das weibliche Element“ 95

derberichten über Attentate auf den französischen Ministerpräsidenten Georges Clemence- au und den Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, Kurt Eisner (USPD) um den Platz in der Zeitung.36 Doch nicht alle Zeitungen, die für diese Arbeit in die Recherche einbezogen wurden, fokussierten Weimar überhaupt in ihren Meldungen. Im Parteiorgan der Kommunistischen Partei Roten Fahne wurde nur sehr knapp „Vom Zirkus in Weimar“37 berichtet, sodass die Parla- mentarierinnen hier gar keine Rolle spielen. Die B.Z. am Mittag berichtete nach der zeremo- niellen Eröffnungsfeier, zumindest im Monat Februar, gar nicht über die Parlamentssitzungen.

3.1. Der Beginn der Nationalversammlung

Zur Eröffnungssitzung waren die Meldungen in der Berliner Tagespresse über die neuen weibli- chen Abgeordneten sehr unterschiedlich: Während die Vossische Zeitung und der Vorwärts darauf verwiesen, dass das Schicksal Deutschlands und die Verantwortung nun in die Hände von Männer und Frauen gelegt worden seien38, hob die Germania hervor, was es zu bedeuten habe, dass nicht nur Männer in das Parlament eingezogen seien. In dem Artikel über die Eröffnung im Theater- saal heißt es, dass „[d]ie weiblichen Abgeordneten […] durch ihre Anwesenheit bewiesen, daß die deutsche Frau aufgehört hat, nur ein Objekt der Gesetzgebung zu sein.“39 In einem Bericht des Berliner Lokal-Anzeigers wurde hingegen aufgrund der Wortwahl der Eindruck erweckt, es handele sich weiterhin, wie im Kaiserreich zuvor, um ein rein männliches Parlament. Im Bericht wurde ex- plizit nur auf die „Männer“40 der Nationalversammlung verwiesen.

Wie in dem bereits zitierten Auszug aus der Germania wurden die weiblichen Abgeordneten im Zusammenhang mit der Eröffnungssitzung oft als eine homogene, aber vor allem für den Außen- betrachter und die Außenbetrachterin als von den männlichen Abgeordneten zu unterscheiden- de, geschlossene Gruppe dargestellt. Sie blieben ohne Gesicht und unbenannt, während einige der bereits bekannteren unter den männlichen Abgeordneten, wie Friedrich Ebert (MSPD), Mat- thias Erzberger (Zentrum) oder Gustav Stresemann (DDP), den Leser*innen auch durch ihre vor- herige Arbeit im Reichstag ein Begriff waren. Die Köpfe der Frauenbewegung schienen trotz der

36 Vgl. Berliner Tageblatt, Nr. 79, Abendausgabe vom 19.02.1919, S. 1 („Attentat gegen Clemenceau“); Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 90, Abendausgabe vom 21.02.1919, S. 1 („Ministerpräsident Eisner er- mordet“). 37 Vgl. Rote Fahne Nr. 23, Ausgabe vom 09.02.1919, S. 1. 38 Vgl. Vossische Zeitung Nr. 69, Morgenausgabe vom 07.02.1919, S. 3 („Unendliches hängt davon ab, daß alle diese Männer und Frauen sich der Schwere ihrer Verantwortung bewußt sind; […].“); Vorwärts Nr. 66, Abendausgabe vom 05.02.1919, S. 2 („In dieser Not hat es sein Schicksal in die Hände der Männer und Frauen gelegt, die sich morgen in Weimar zum erstenmal versammeln.“). 39 Germania Nr. 61, Morgenausgabe vom 07.02.1919, S.1. 40 Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 54, Morgenausgabe vom 06.02.1919, S. 1 („Mögen sich die Männer, denen das deutsche Volk die Lösung dieser Aufgaben übertragen hat […].“). 96 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

umfangreichen Wahlkampfmaßnahmen vor der Wahl im Januar zumindest den Redakteur*innen keiner persönlichen Vorstellung wert. Im Gegenteil: Sie wirkten auf den Betrachter oder die Be- trachterin eher überraschend unscheinbar. Die Suche nach dem „weiblichen Element“ lässt darauf schließen, dass der Autor oder die Autorin etwas anderes erwartet hatte:

[…] aber man kann nicht behaupten, daß das weibliche Element irgendwo in dieser Versammlung auffiele. Unter den vielen Männern verschwinden die wenigen Frauen beinahe ganz, umsomehr, als die meisten, wie ihre männ- lichen Kollegen sich in ein schwarzes Gewand gekleidet haben.41

Die Vossische Zeitung überspitzte diese Darstellung der gesichtslosen Gruppe, indem sie sogar zunächst drei Ehefrauen der Abgeordneten, die im Zuschauerrang saßen, mit Namen benannte und danach über die weiblichen Abgeordneten lediglich notierte: „Besonders pünktlich waren die Frauen erschienen, geschäftig, die Würde zu üben, die meisten in schwarz, einige auch in ein- fachen, hellen Blusen.“42 Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass auch in den folgenden Bei- spielen kaum ein Zitat über den Auftritt einer weiblichen Abgeordneten ohne die ausführliche Be- schreibung ihrer Stimmfarbe oder ihrer Kleiderwahl auskommt. Gleichwohl beschränkte sich diese Zusatzbeschreibung in den Berichten nicht ausschließlich auf die Kleidung oder das Auftreten der Frauen. Vor allem in den Korrespondenzberichten des Berliner Tageblatts wurden insbesondere im Bericht über die Eröffnungssitzung sehr ausführlich die Uniformierung und angehefteten Orden auch der männlichen Abgeordneten oder etwa die Auftrittsweise des Alterspräsidenten Wilhelm Pfannkuch samt seiner Bartform dargestellt.43

Dass ihr optisches Auftreten an diesem ersten Tag das primäre Merkmal war, über das die Zeitun- gen berichteten, entsprach jedoch genau dem Gegenteil von dem, was die weiblichen Abgeord- neten mit der beschriebenen schlichten, schwarzen Kleidung erreichen wollten. Viele hatten sich zudem vor der Eröffnung abgesprochen, den eigentlich zu damaliger Zeit für Frauen üblichen Hut wegzulassen. Ihnen gelang allerdings allein deshalb nicht nicht herauszustechen, ordnet es Tho- mas Mergel ein, da sie die „Einheitlichkeit“44 bereits durch ihr Geschlecht in Frage gestellt hätten. Die Hutfrage hingegen war den Berichterstatter*innen erstaunlicherweise nicht aufgefallen.45

41 Berliner Tageblatt Nr. 56, Morgenausgabe vom 07.02.1919, S. 3. 42 Vossische Zeitung Nr. 69, Morgenausgabe vom 07.02.1919, S. 1 (es handelte sich um die Frauen der Ab- geordneten Payer, Haußmann und des Freiherrn von Richthofen). 43 Berliner Tageblatt Nr. 56, Morgenausgabe vom 07.02.1919, S. 3 („In der zweite Reihe sitzen unter an- derem die Staatssekretäre Preuß und Erzberger, der ein großes Eisernes Kreuz an das Knopfloch ge- knüpft hat, Kriegsminister Reinhardt in feldgrauer Uniform und Schiffer.“; und einige Absätze später: „Ein fast 78jähriger, würdiger Herr, groß und schlank, weißer Spitzbart. Brille. Leicht gerötete Backen. […] Die Sprach ist schlicht und einfach, kommt von Herzen und ist von einem gewissen idealistischen Schwung.“). 44 Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 149. 45 Ebd., S. 149. „Das weibliche Element“ 97

Die Berliner Illustrierte Zeitung stach aus dieser Reihe mit ihrer Bildkollage in der Ausgabe vom 9. Februar 1919 demnach heraus. Fünf Frauen aus quer durch die in der Nationalversammlung ver- tretenen Parteien portraitierte sie mit Foto, sowie Name und Fraktionszugehörigkeit in der Bild- unterschrift unter dem Titel: „Frau Abgeordnete! Einige Charakterköpfe aus der Nationalversamm- lung.“46 Was diese Charaktere ausmachte, mussten sich die Leser*innen der Illustrierten jedoch selber zusammenreimen. Einen ähnlichen Beitrag publizierte am gleichen Tag auch Der Welt- spiegel, die einmal wöchentlich erscheinende illustrierte Beilage des Berliner Tageblatts. Sie zeigte drei weibliche Abgeordnete vom Oberkörper aufwärts, am Schreibtisch stehend abgelichtet, mit Namensnennung in der Bildunterschrift unter dem Titel: „Frauen als Mitglieder der Nationalver- sammlung.“.47

In den folgenden Wochen erschienen zudem immer wieder Gastartikel von Autorinnen, meist selbst Politikerinnen. Sie setzten sich einerseits erneut mit dem neuen Wahlrecht für Frauen aus- einander, auch im Rahmen der Gemeindewahlen, die in Berlin anstanden, aber auch mit der Rolle der Frau im Parlament. So richtete sich die Frauenrechtlerin Minna Cauer mit ihrem Artikel im Berliner Tageblatt gleich im Titel „Wählerin! Politikerin“48 gezielt an das weibliche Publikum. Und die USDP-Politikerin Mathilde Wurm, spätere Reichstagsabgeordnete, rief die Leser*innen auf, sich vor der Berliner Gemeindewahl zu erinnern, welche Parteien sich vor der Einführung gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen hatten.49

3.2. „Zwischenfall Agnes“

Am 8. Februar, dem 3. Sitzungstag, wurde Lore Agnes (USPD) als einzige Frau zu einer von acht Schriftführer*innen ernannt: „Die Schriftführer, unter denen zum ersten Mal seit Bestehen des deutschen Parlaments eine Frau – Dora Agnes [sic!] – bemerkt wird […]“50, hob der Berliner Lo- kal-Anzeiger diese Neuerung wenige Tage darauf im Bericht über die Nationalversammlung her- vor. Doch die Schriftführer*innenwahl war nicht ganz reibungsfrei abgelaufen. Der Abgeordnete Friedrich Geyer (USPD) beschuldigte nach Verkündung des Ergebnisses Richard Fischer (MSPD), er habe vor dem Einwurf des Wahlzettels ein Stück abgerissen – das Stück, auf dem der Name der

46 Berliner Illustrierte Zeitung Nr. 9, 09.02.1919, S. 48 (abgebildet waren: Elisabeth Brönner(-Höpfner) (DDP), Clara Bohm-Schuch (hier als „Klara Schuch-Bohm“ bezeichnet) (MSPD), Luise Zietz (USPD), Marie Zettler (Zentrum) und Anna von Gierke (hier Anna von Giercke) (DNVP). 47 Der Weltspiegel (Beilage des „Berliner Tageblatt“) Nr. 6, 09.02.1919, S. 3 (Clara Schuch (hier erneut mit „K“) (DDP), Clara Mende (ohne Vornamen) (DNVP) und Marie Juchacz (MSPD). 48 Vgl. Berliner Tageblatt, Nr. 58, Morgenausgabe vom 08.02.1919, S. 2. 49 Vgl. Freiheit, Nr. 82, Morgenausgabe vom 15.02.1919, S. 1f. 50 Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 65, Morgenausgabe vom 12.02.1919. 98 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

Kandidatin Lore Agnes (USPD) stand.51 Die Deutsche Allgemeine Zeitung zitierte in ihrem Bericht über den dritten Tag der Versammlung den Vorfall teilweise wörtlich.52 Die Berliner Volks-Zeitung schilderte den von ihr so benannten „Zwischenfall Agnes“53 folgendermaßen:

Zu Beginn der Sitzung teilte Präsident David das Ergebnis der Schriftführerwahl vom Tage zuvor mit. […] Die Unab- hängige Frau Agnes hat aber nur 61 Stimmen erhalten. Da die Unabhängigen bei der Präsidentenwahl weiße Zettel abgegeben hatten, revanchierte sich der größte Teil des Hauses dadurch, dass er die Frau Agnes auf dem gemeinsa- men Zettel strich. Herr Geyer hatte außerdem entdeckt, daß Richard Fischer den Stimmzettel des Präsidenten David geköpft hatte (am Kopf stand nämlich der Name der Frau Agnes), und so schlug er gewaltigen Lärm gegen den Sünder, der seinerseits das Vorgehen als Missverständnis hinzustellen suchte.54

Was beide Zeitungen in ihren Berichten nicht erwähnen, ist, dass es insgesamt 15 Kandidat*in- nen für die Schriftführung gab, unter ihnen noch sechs weitere weibliche Abgeordnete, die alle nicht aus der USPD-Fraktion waren, aber in der Abstimmung weit hinten lagen.55 Es ist demnach zu vermuten, dass Lore Agnes zwar möglicherweise aus dem genannten Grund weniger Stim- men bekam als die anderen gewählten Schriftführer, dennoch aber diesen Posten nicht nur mit USPD-Stimmen erworben haben konnte. Denn ihre Fraktion hatte in der Nationalversammlung nur 22 Sitze.

Wenige Tage später, am 13. Februar, konnten die Leser*innen quer durch die Tagespresse erneut über Lore Agnes lesen. Es war nicht der erste Antrag, an dem sich die Abgeordnete Agnes beteilig- te.56 Jedoch war es der erste, welcher quer durch die Berliner Zeitungen als kurzer, abgesetzter Ar- tikel, zum Teil versehen mit einer kleinen Einleitung, und im Wortlaut zu lesen war. Es handelte sich um den sich in Vorbereitung befindenden „Antrag der Abgeordneten Frau Agnes und Genossen“.57

51 Vgl. Nationalversammlung: 3. Sitzung, 08.02.1919 („Der Schriftführer Richard Fischer nahm […] den Stimmzettel entgegen, riß ein Stück von diesem Zettel mit einem Namen ab […].“). 52 Vgl. Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 67, Morgenausgabe vom 09.02.1919, S. 3. 53 Berliner Volks-Zeitung Nr. 60, Morgenausgabe vom 09.02.1919. 54 Ebd. 55 Vgl. Nationalversammlung: 3. Sitzung, 08.02.1919 (Die weiteren Kandidat_innen Jakob Binder (MSPD), Elise Ekke (DDP), Marie Juchacz (MSPD), Agnes Neuhaus (Zentrum), Antonie Pfülf (MSPD), Marie Schmitz (Zentrum), und Marie Zettler (Zentrum). 56 Vgl. Nationalversammlung: Aktenstücke Nr. 4, Anfrage vom 06.02.1919. 57 Vgl. u. a. Vorwärts Nr. 80, Morgenausgabe vom 13.02.1919, S.3 („Ein Frauenruf in der Nationalversamm- lung“); Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 67, Morgenausgabe vom 13.02.1919, S. 1 („Ein Antrag der Frauen“); Vossische Zeitung Nr. 80, Morgenausgabe vom 13.02.1919, S.2 (hier mit anderen gebündelt unter: „An- träge in der Nationalversammlung“); Berliner Börsen-Zeitung Nr. 73, Morgenausgabe vom 13.02.1919, S. 2 („Appell an das Gewissen der Menschheit“); und einen Tag später: Berliner Tageblatt Nr. 79, Abend- ausgabe vom 14.02.1919 (Als erste Meldung auf dem Titelblatt wird eine „Kundgebung der weiblichen Delegierten der Nationalversammlung“ angekündigt, bei der Marie Juchacz (MSPD) inhaltlich ebenfalls gegen die Hungerblockade aufrufen soll. Im Protokoll der Nationalversammlung finden sich hierzu kei- ne Hinweise, auch nicht über eine möglich erfolgte Vertagung: 7. Sitzung, 14.02.1919); ähnliche Hinwei- se zu einer Rede Juchacz‘ auch in der Berliner Börsen-Zeitung Nr. 74, Abendausgabe vom 13.02.1919, S. 1. „Das weibliche Element“ 99

Zusammen mit allen anderen 36 weiblichen Abgeordneten der Nationalversammlung brachte sie im Laufe des 13. Februar einen Antrag vor, welcher einerseits zur Aufhebung der sogenannten Hungerblockade und andererseits die sofortige Rückführung der deutschen Kriegsgefangenen aufforderte, beziehungsweise die Nationalversammlung aufforderte, sich dieser Forderung an- zuschließen.58 Mit der Hungerblockade meinten die Abgeordneten eine Handelsblockade, die im Krieg begann und an der die Alliierten auch nach dem Waffenstillstand im November 1918 weiter festhielten und die für Teile der Bevölkerung den Hungertod bedeutete.59 Besprochen wurde der Antrag im Parlament allerdings erst mit der Rede von Agnes Neuhaus (Zentrum) in der 18. Sit- zung am 1. März 1919. Warum so viele der Berliner Zeitungen den Antrag ohne große Einordnung druckten, muss an dieser Stelle offenbleiben. Aus den vorliegenden Quellen lassen sich dazu kei- nerlei Rückschlüsse ziehen.

3.3. Die erste Rede – eine Frau spricht vor der Nationalversammlung

In der dritten Woche der Nationalversammlung berichteten die Berliner Tageszeitungen häufiger über die weiblichen Abgeordneten, zumeist im Rahmen der langen Berichte über die Parlaments- sitzungen im Weimarer Theater. Denn in der 11. Sitzung, am 19. Februar 1919, sprach mit Marie Juchacz (MSPD) erstmals eine Frau in der Nationalversammlung. Am Folgetag sprach Louise Zietz (USPD) und als Dritte einen Tag darauf Gertrud Bäumer (DDP).

In ihrer Rede im Rahmen der Haushaltsdebatte sprach Marie Juchacz über die Auswirkung der Einführung des Frauenwahlrechts auf die Frauenfrage sozialpolitische Vorhaben wie die Hinter- bliebenenrente sowie über die wirtschaftliche Relevanz der Einbeziehung von Frauen für den Staat – etwa im öffentlichen Dienst. Sie verteidigte den von Vertretern der MSPD mitgetragenen Waffenstillstand im November des Vorjahres und den Zustand der Pressefreiheit. Auch die Forde- rung aus dem gemeinsamen Antrag der Frauen im Parlament zur Beendigung des Hungerstreiks und der Zurückführung der Kriegsgefangenen sprach sie an.60 Aus dem Protokoll geht hervor, dass ihre Rede durch laute Unterhaltungen anderer Parlamentarier*innen gestört wurde und einmal durch den Präsidenten der Nationalversammlung, Constantin Fehrenbach, kurzzeitig unterbro- chen wurde.61

Der Vorwärts schrieb am Folgetag über die Rede der Parteigenossin in einem eigenständigen klei-

58 Nationalversammlung: Aktenstücke Nr. 30, Anfrage vom 13.02.1919. 59 Vgl. Lauterer, Parlamentarierinnen, S. 126. 60 Antrag vom 13.02.1919, siehe hier Kapitel 4.2. 61 Vgl. Nationalversammlung: 11. Sitzung, 19.02.1919 (Präsident Fehrenbach: „Die Unterhaltung wird hin- ter dem Präsidialtische mit einer derartigen Lebhaftigkeit geführt, daß es dem Präsidium nicht möglich ist, die Rednerin zu verstehen […]“). 100 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

nen Artikel zusätzlich zum Sitzungsbericht:

In der Nationalversammlung hat am Mittwoch Genossin Juchacz als die erste Frau in einem deutschen Parlament das Wort ergriffen. Ihre Rede war ein voller Erfolg, wie selbst bürgerliche Blätter anerkennen. Genossin Juchacz be- tonte, dass die Frauen auch in der politischen Arena ihr Geschlecht nicht verleugnen würden, und der Appell, den sie am Schluß ihrer Rede an die ganze Welt richtete, für die Herausgabe der deutschen Gefangenen und für die Ein- stellung des Hungerkriegs gegen Mütter und Säuglinge, wurde doppelt wirkungsvoll dadurch, daß er aus Frauen- mund kam. Aber Genossin Juchacz verstand auch die Schärfe des Wortes zu handhaben, […].62

Dieser sehr positive Blick des offiziellen Parteiorgans der MSPD ist wenig überraschend. Dennoch wirkt der Text neben den lobenden Worten wie eine Rechtfertigung. Er zeigt auf, dass Marie Ju- chacz auch gegenüber den Genossen aus der MSPD an dieser Stelle beweisen musste, dass Frauen genauso wie ihre männlichen Kollegen vor dem Parlament sprechen können. Diese Rechtferti- gungshaltung zeigt sich unter anderem in dem Verweis, dass auch Zeitungen anderer politischer Ausrichtung die Rede laut dem Vorwärts positiv beurteilten oder durch die Hervorhebung, sie hätte „auch die Schärfe des Wortes zu handhaben“63 gewusst. Dabei war Marie Juchacz sogar seit 1917 Mitglied des Parteivorstandes sowie Leiterin des Frauenbüros der Partei. Sie hatte sich auf Basis ihrer Volksschulbildung und einer späteren Schneiderlehre immer weiter fortgebildet und war beispielsweise mit der Initiative für das Frauenwahlrecht im Oktober 1918 vor ihrem Abge- ordnetendasein bereits politisch aktiv. Ende des Jahres 1919 gründete sie den Arbeiterwohlfahrts- verband, der sich damals zunächst um die kriegsverletzten Arbeiter*innen kümmerte.64 Die Berli- ner Volks-Zeitung formuliert die Prüfungssituation sehr direkt: „Jedenfalls war das erste Auftreten einer Frau in einem deutschen Parlament zugleich ein politisches Reifezeugnis für die deutschen Frauen.“65 Die Neue Preußische Kreuz-Zeitung schrieb hingegen: „Leeres Stroh drosch die Genossin Juchacz. Ihr Auftreten bewies nicht gerade, daß die Zulassung der Frau ins Parlament ein Zuge- winn ist.“66

Die bürgerliche Presse berichtete, wie im Vorwärts beschrieben, in der Tat sehr positiv über Ju- chacz’ Rede. Die Vossische Zeitung brachte sogar einen ausführlichen Beitrag auf der Titelseite der Morgenausgabe unter der Überschrift „Die erste Rednerin.“67. Er beschreibt Schritt für Schritt den inhaltlichen Ablauf ihrer Rede – wobei jedoch der erste Part über den Status der Frauenfrage unterschlagen, dieser aber im Auszug der Rede im Sitzungsbericht im hinteren Teil der gleichen Ausgabe zitiert wird.68 Die Wahl des Redeauszugs, welche Länge und welcher Teil in der Zeitung

62 Vorwärts Nr. 94, Abendausgabe vom 20.02.1919, S. 2. 63 Ebd. 64 Vgl. Heinsohn, Parteien und Politik, S. 287; Lauterer: Parlamentarierinnen, S. 31–35. 65 Berliner Volks-Zeitung Nr. 67, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 1. 66 Neue Preußische Kreuz-Zeitung Nr. 84, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 1. 67 Vossische Zeitung Nr. 93, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 1. 68 Vgl. ebd. S. 9. „Das weibliche Element“ 101

zitiert wurde, war grundsätzlich von der jeweiligen Redaktion abhängig. Die gesamte Länge der Reden einer Parlamentssitzung war schlicht zu umfangreich und so wurden jeweils nur die, für die Leser*innenschaft der Zeitung beziehungsweise die aus Sicht der zuständigen Redaktion imagi- nierte Zielgruppe, relevanten Auszüge gedruckt. So ist etwa der Teil, den die Freiheit, das Berliner Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie, aus der Premierenrede Juchacz’ wählt, sehr pointiert:

Der Revolution verdanken wir unsere Sitze im Parlament. Die Revolutionsregierung tat damit nur ihre Pflicht, denn die deutsche Demokratie war ohne die deutschen Frauen nicht möglich. Als Sozialdemokratin aber freut es mich, daß es eine sozialdemokratische Regierung war, die die deutschen Frauen von der politischen Unmündigkeit befreit hat. […] Für Deutschland ist die Frauenfrage damit gelöst.69

Inhaltlich betont dieses Zitat genau die Punkte, die die USPD an der Haltung der MSPD kritisierte, wie sich insbesondere am Folgetag mit Blick auf Louise Zietz’ Rede zeigte.70 Auffällig ist daher der Verweis auf die Revolutionsregierung, mit der die USPD bereits seit November 1918 haderte. Auch das neugewonnene Frauenwahlrecht ging vor allem den Frauen der USPD nicht weit genug. Für sie war die Frauenfrage nicht beendet. Zudem hatten sie zwar genauso wie die Frauen anderer Parteien bereits vor 1918 das Frauenwahlrecht gefordert, sich dem Vorstoß um Marie Juchacz aber nicht angeschlossen, da es für sie gleichzeitig um eine grundsätzliche Umwälzung des politischen Systems ging.71 Besonders wichtig ist hier, dass der oben zitierte Abschnitt in keiner Weise mit dem Wortlaut der tatsächlichen Rede Juchacz’ übereinstimmt. Durch die berichterstattungsbedingte Schnelligkeit, mit der die Redaktionen arbeiteten, schlichen sich grundsätzlich Fehler in der Zita- tion der Reden ein. In diesem Beispiel werden die Leser*innen durch die vollkommen verkürzte Fassung über das eigentlich Gesagte im Unklaren gelassen. Ob dies generell der Arbeitsform der Freiheit und auch anderen Zeitungen entsprach, kann an dieser Stelle nur vermutet werden.72

Relevant schien für einige der Korrespondent*innen neben Juchacz’ Auftrittsweise, die sehr aus- führlich geschildert wird, ihr Aussehen zu sein, wie bereits am Beispiel der Eröffnungssitzung mit den Zeilen über die gesamte Gruppe der weiblichen Abgeordneten deutlich wurde. Diese Be- schreibung macht sowohl im gesonderten Artikel des Berliner Tageblatts, als auch in dem entspre- chenden Absatz des Sitzungsberichts des Berliner Lokal-Anzeigers einen Großteil der Berichterstat- tung aus. Beschrieben werden in dem Zusammenhang zum einen das gescheitelte Haar, sowie ein wahlweise „grünes Jackenkleid“73 oder wie es im Berliner Lokal-Anzeiger heißt: „Sie trägt eine grüne Bluse, über deren Schnittart sich die Journalisten vergeblich den Kopf zerbrechen um sie recht an-

69 Freiheit Nr. 91, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 2. 70 Vgl. Nationalversammlung: 12. Sitzung, 20.02.1919; Lauterer: Parlamentarierinnen, S. 95. 71 Vgl. Rosenbusch: Der Weg zum Frauenwahlrecht, S. 430. 72 Selbstverständlich können sich auch in die Stenographischen Berichte der Nationalversammlung Fehler eingeschlichen haben. Dass der Wortlaut sich in diesem Fall jedoch so grundsätzlich unterscheidet, kann dadurch trotzdem nicht erklärt werden. 73 Berliner Tageblatt Nr. 80, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 3. 102 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

schaulich schildern zu können.“74 In letzterem Fall gibt sich der Autor oder die Autorin zusätzlich sehr viel Mühe, die angeblich grundsätzliche Irrelevanz der Rede einer weiblichen Abgeordneten darzustellen: „Nun mein Gott, was soll sie sagen, Sie [sic!] sagt natürlich das, was schon hundertmal von anderen auch gesagt worden ist.“75 Gerade, weil die Rede hier sehr deutlich als inhaltlich un- wichtig deklariert wird, ist es bemerkenswert, dass es zum Abschluss des Absatzes doch um einen inhaltlichen Punkt ging, den der Autor oder die Autorin sogar positiv hervorhob:

Einen Moment hat sie in ihrer Rede, wo sie über diese emporwächst, das ist als sie im Namen sämtlicher Frauen, die der deutschen Nationalversammlung angehören, gegen die Zurückhaltung der deutschen Kriegsgefangenen protestiert und gegen die Hungerblockade, die noch immer tagaus tagein Hunderttausende von deutschen Frauen, Kinder und Greise dahinmordet. Sie spricht mit sichtlicher Ergriffenheit und ergriffen lauscht ihr das Haus.76

Damit schließt sich der Berliner Lokal-Anzeiger dann doch dem Eindruck der Vossischen Zeitung an, die ebenfalls von der „außerordentlichen Rednergewandheit“77 der Politikerin begeistert war und das, obwohl der Ordnungsruf des Präsidenten Fehrenbach eher an der Aufmerksamkeit des Parla- ments zweifeln lässt und diverse Abgeordnete den Saal während ihrer Rede verließen.78

Ein weiteres Narrativ, dass sich durch viele Artikel – und darüber hinaus – zieht, war, dass diese Rede am 19. Februar die erste einer Frau vor einem deutschen Parlament gewesen sei. So sugge- riert es bereits der Titel des Artikels in der Vossischen Zeitung und im Text heißt es, dass Juchacz „die historische Rolle zufiel, als erster weiblicher Abgeordneter in einem deutschen Parlament das Wort zu ergreifen […].“79 Die MSPD-Abgeordnete betont diesen historischen Faktor selbst in ihrer Rede, wobei dieser zum anderen auch in dem bereits vorgestellten Artikel des Vorwärts sowie in anderen Zeitungen zur Sprache kam.80 Selbst in der Literatur hält sich diese Annahme.81 Man kann die erste Rede einer weiblichen Abgeordneten vor der Nationalversammlung, und damit einem gesamtdeutschen Parlament, sehr wohl als historisch bedeutenden Schritt bezeichnen. Da einige der Landtage allerdings bereits kurz vor der Wahl zur Nationalversammlung zusammengetreten waren, hatte als erste Frau vor einem deutschen Parlament Marianne Weber (DDP) im badischen Landtag gesprochen.82 Akkurater war demnach die Beschreibung in der Berliner Illustrierten Zei-

74 Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 80, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 2. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Vossische Zeitung Nr. 93, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 1. 78 Vgl. Berliner Börsen-Zeitung Nr. 85, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 1. 79 Vossische Zeitung Nr. 93, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 1. 80 Vgl. Nationalversammlung, 11. Sitzung, 19.02.1919 („Es ist das erste Mal, daß in Deutschland die Frau als freie und gleich im Parlament zum Volke sprechen darf […].“). 81 Vgl. Heinsohn, Parteien und Politik, S. 281. 82 Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: 100 Jahre Frauenwahlrecht. 12. November 1918. Geburtsstunde des Frauenwahlrechts, https://www.lpb-bw.de/12_november.html, abgerufen am 27.10.2019. „Das weibliche Element“ 103

tung anderthalb Wochen später, als sie ein rundes Portraitfoto der Rednerin abdruckte und sie: „[…] als erste Frau, die in der Nationalversammlung eine Rede hielt“, beschrieb.83

Was zumindest in den Berichten in der Presse auf den ersten Blick kaum eine Rolle spielte, ist die alternative Anredeform, die Marie Juchacz zu Beginn ihrer Rede wählte: „Meine Herren und Da- men!“84 Im Parlamentssaal reagierten die Abgeordneten am 19. Februar mit „Heiterkeit“.85 Juchacz hielt in ihrer Parlamentszeit an der Anrede fest. Wie Lauterer erklärt, übernahmen auch einige an- dere Frauen die Anrede aus einer konkreten Motivation heraus: „Indem sie die männliche Höflich- keitsformel umdrehten, wiesen sie zwar auf ihre neue Gleichberechtigung hin, aber auch auf die Machtverhältnisse im Parlament.“86 Die ebenfalls parlamentsinterne neue Anrede aufgrund der weiblichen Abgeordneten, die Friedrich Ebert bei der Eröffnungssitzung einführte, „Meine Damen und Herren!“87, wurde hingegen schlicht zur Kenntnis genommen und von da an zumindest von den meisten Abgeordneten bei ihren Reden übernommen.88 Damit war die Sache allerdings nicht erledigt. Die Anrede blieb ein Politikum, wie Mergel beschreibt: Ein männlicher Abgeordneter, Wilhelm Kahl (Deutsche Volkspartei), suchte für die Beibehaltung der alleinigen Anrede der Män- ner sogar Rückhalt in einer antiken Rechtsdefinition: „Auf wiederholte Zwischenrufe legte er unter ausführlichem Bezug auf die Pandekten und großer Heiterkeit dar, daß nach dem römischen Recht mit ‚Meine Herren‘ die Damen eingeschlossen seien.“89 Und auf den zweiten Blick bleibt die Frage der passenden Anrede im Parlament in der Presse doch nicht gänzlich unkommentiert. Am selben Tag, an dem Juchacz als erste weibliche Abgeordnete das Rederecht in der Nationalversammlung erhielt, erschien in der Abendausgabe der Vossischen Zeitung ein Gastbeitrag von Willy Hellpach, Professor der Psychologie in Karlsruhe und späterem DDP-Reichstagsabgeordneten, in welchem er die von Ebert gewählte Anrede als unmöglich bezeichnete:

Es stört die Sachlichkeit des öffentlichen Lebens, indem es die Form des Salons in die Versammlungsräume trägt […]. Ich gönne den Frauen das Stimmrecht […]. Jedoch, am wenigsten können die Frauen es mögen, daß man sie in der Politik als Salongeschöpfe behandle, weil die Galanterie, die man ihnen hier spendet, sie der Komik preiszu- geben droht. Es grenzt wirklich ans Komische, an Parodie und Verulkung, wenn eine Versammlung, in der sich die Frauen zu den Männern verhalten wie 1 zu 50, ‚meine Damen und Herren‘ apostrophiert wird; es muß, fürchte ich, auf die Dauer entweder den politischen Frauen oder der Politik oder allen beiden schaden.90

Zum Ende seiner Ausführungen schlug Hellpach daher „Männer und Frauen“91 als Anrede vor. In-

83 Berliner Illustrierte Zeitung Nr. 9, 02.03.1919, S. 67. 84 Nationalversammlung: 11. Sitzung, 19.02.1919. 85 Ebd. 86 Lauterer: Parlamentarierinnen, S. 89. 87 Nationalversammlung: 1. Sitzung, 06.02.1919. 88 Lauterer: Parlamentarierinnen, S. 89. 89 Mergel: Parlamentarische Kultur, S. 45. 90 Vossische Zeitung Nr. 92, Abendausgabe vom 19.02.1919, S. 2f. 91 Ebd. S. 3. 104 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

wieweit es den Politiker*innen in der Nationalversammlung konkret schaden könnte, wenn die weiblichen Abgeordneten zuerst genannt werden, erläuterte er nicht, genauso wenig, ob die vor- geschlagene Anrede bei einem potentiellen Umschwung der Geschlechterverhältnisse angepasst werden müsste.

3.4. Louise Zietz und das Eiserne Kreuz

Auch Louise Zietz kam am Folgetag, dem 20. Februar, um die äußerliche Beschreibung inklusive der Wahl ihrer Kleidung nicht herum. Die Vossische Zeitung schrieb über die USPD-Politikerin sie habe: „[…] das dunkle Gewand, das sie gewöhnlich zu tragen pflegt, zur Feier des Tages mit einer weißen Bluse vertauscht […].“92 Eine Einordnung dieser Notiz folgte hierzu nicht. Nennenswert ist sie in dieser Analyse dennoch, da sie offenbart, dass Louise Zietz den Korrespondent*innen bekannt war.

Bereits in den ersten Sitzungen der Nationalversammlung war sie nämlich mehrfach durch Zwi- schenrufe aufgefallen. Nach der Wahl Friedrich Eberts zum Reichspräsidenten in der fünften Sit- zung schrieb etwa die Neue Preußische Kreuz-Zeitung ohne Louise Zietz selbst zu nennen:

Bei der Frage, ob Ebert die Wahl annimmt, beginnt der Spektakel der Unabhängigen, der dann während der Begrü- ßung Dr. Davids an den neuen Reichspräsidenten hysterische Formen annimmt. Eine kreischende Frauenstimme droht überzuschnappen. Die Männer treiben es nicht besser.93

Warum der Autor oder die Autorin Louise Zietz nicht namentlich erwähnt, bleibt offen, es über- rascht allerdings insofern als es in anderen Artikeln scheinbar nicht notwendig war, Zietz vorzu- stellen. Ob der Autor oder die Autorin der Neuen Preußischen Kreuz-Zeitung ebenfalls davon aus- ging, dass die Leser*innen intuitiv wussten, wer gemeint war, lässt sich nur vermuten.94 An dieser Stelle ist jedoch zu erwähnen, dass man zu Anfang der Weimarer Republik davon ausging, das Zwischenrufen in den Parlamentssitzungen sei eine rein männliche Angewohnheit. Daher war es üblich, trotz der für Reden nun neuen Anrede an beide Geschlechter, lediglich mit "Meine Herren" zur Ordnung zu rufen, so Lauterer.95

92 Vossische Zeitung Nr. 95, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 1. 93 Neue Preußische Kreuz-Zeitung Nr. 69, Morgenausgabe vom 12.02.1919, S. 2. 94 Nach Lauterer zog es im Laufe der Nationalversammlung und später im Reichstag sichtbar mehr Pu- blikum in den Parlamentssaal, wenn eine Rede Louise Zietz’ angekündigt war. Ende des Jahres 1919 erschien zudem ein Buch mit polemischen Reportagen des deutschnationalen Journalisten Adolf Stein über die Nationalversammlung und dem Titel „Friedrich der Vorläufige, die Zietz und die Anderen.“ (vgl. Lauterer: Parlamentarierinnen, S. 95f.). 95 Vgl. ebd., S. 91; Nationalversammlung: 12. Sitzung, 20.02.1919 (Aus den stenographischen Protokollen geht diese Information nicht hervor. In der Sitzung vom 11.02.1919 werden keine Ordnungsrufe ausge- wiesen, auch Louise Zietz wird nicht namentlich als Zwischenruferin genannt.). „Das weibliche Element“ 105

Im Gegensatz zur Neuen Preußischen Kreuz-Zeitung benannte der Berliner Lokal-Anzeiger die Zwi- schenruferin. Die Rede Eberts nach seiner Wahl wurde „[…] überschrillt von Frau Zietzens hysteri- schem Gelächter.“96 In einem hinteren Absatz des Artikels wurde sie erneut erwähnt, wie sie zum Abschluss der Rede des neugewählten Reichspräsidenten hinein rief. „[…] und Frau Zietz fragt hier ganz richtig ihn: ‚Und wo bleibt der Sozialismus?‘“97

Auffällig ist in beiden Fällen die Wortwahl: „Überschrillt“ von „hysterischem Gelächter“ und die „kreischende Frauenstimme“. Diese Attribute wurden, so erläutert Mergel, in Zusammenhang mit Wortmeldungen und Vorträgen weiblicher Abgeordneter sehr häufig geäußert, zum einen von männlichen Abgeordneten, aber auch in der Berichterstattung. Die politisch engagierte Frau, die sich auch im Ausdruck nicht zurückhielt, wurde somit nach wie vor in die Nähe der sogenannten Hysterie gestellt, einer Diagnose, die im späten 19. Jahrhundert und darüber hinaus hauptsäch- lich Frauen attestiert wurde.98 Selbst Frauen nutzten diese Vokabel: In ihrem Artikel über das neue Frauenwahlrecht, indem sie einige ihrer Kolleginnen vorstellte, schrieb auch die MSPD-Abgeord- nete Anna Blos über das „hysterische Kreischen“ 99 Louise Zietz’.

Im Rahmen der Berichterstattung über Zietz’ erste Parlamentsrede am 20. Februar fielen solche Vokabeln nicht. Die Mitbegründerin der USPD100 begann ihre Rede mit einer ausführlichen Kritik an der MSPD, welcher sie ein mangelndes Bekenntnis zum Sozialismus vorwarf. Zudem prangerte sie in weiten Teilen ihrer Rede das Verhalten der MSPD, insbesondere das Handeln des Reichs- wehrministers Gustav Noske in der Novemberrevolution, aber auch darüber hinaus den Umgang mit den Arbeiter- und Soldatenräten an. Sie sprach in diesem Zusammenhang etwa von „Nos- ke-Truppen“.101

Zietz erläuterte ebenso, welche inhaltlichen Punkte ihr im vorgestellten Regierungsprogramm fehlten. Dazu gehörte etwa die Einheitsschule, eine konkrete Trennung von Kirche und Staat sowie eine Reform des Strafgesetzbuches. Zudem äußerte sie mit Bezug auf Marie Juchacz’ Rede, dass sie nicht verstehen könne, wieso man über die Beschäftigung von Frauen im öffentlichen Dienst überhaupt debattieren solle, wenn eine gesetzliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen eine Beteiligung weiblicher Arbeitskräfte in allen Bereichen bereits ermöglichen müsse. Zudem

96 Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 67, Morgenausgabe vom 12.02.1919, S. 1. 97 Ebd. 98 Vgl. Mergel: Parlamentarische Kultur, S. 105f. (Die Einordnung der „Hysterie“ fällt hier bei Mergel etwas knapp aus, sodass es an der Distanz der seit Jahrzehnten überholten Diagnose der „Hysterie“ als psychi- schem Krankheitsbild auf Basis der beschriebenen „Symptome“ mangelt.). 99 Vgl. Vossische Zeitung Nr. 92, Abendausgabe vom 19.02.1919, S. 1. 100 Zuvor war sie seit 1908 im Parteivorstand der SPD und damit die erste Frau in dieser Position (vgl. Laute- rer, Parlamentarierinnen, S. 45.). 101 Vgl. Nationalversammlung: 12. Sitzung, 20.02.1919. 106 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

erhielt Zietz während ihrer Rede zwei Ordnungsrufe. Der Erste erfolgte, als sie der Regierung vor- warf, den Militarismus im Staat zu fördern und das Eiserne Kreuz als „Blutzeichen“102 bezeichnete.103

Ihre Rede war sehr lang, wie sich aus den aufgezählten Punkten schließen lässt, und wurde den Abgeordneten bereits im Voraus von ihr selbst als Rede im Umfang von zwei Stunden angekün- digt. Kurz bevor sie an das Rednerpult trat, stimmte das Parlament auf Basis dieser Information über die Weiterführung der Sitzung ab.104 Die Berliner Börsen-Zeitung sah in darin die Ursache einer potentiell schlechteren Berichterstattung, die Louise Zietz durch die verlängerte Abendsitzung des Parlaments drohen konnte, denn die Entscheidung sei: „[..] sicherlich sehr zum Schaden der Frau Zietz, die nun in den Zeitungsberichten sehr viel schlechter bedacht wird, als wenn sie mor- gen zu Beginn spräche.“105

Ob die Berichterstattung wohlwollender gewesen wäre, wenn sie ihre Rede erst in der nächsten Sitzung gehalten hätte, ist ungewiss. Die Berliner Volks-Zeitung beschrieb ihr Auftreten folgender- maßen: „Trotz der strapaziösen langen Sitzung sprach die Wortführerin der unabhängigen Sozialis- ten mit außerordentlicher körperlicher und geistiger Frische. Sie ist eine agitatorisch gutgeschul- te Rednerin, die auch im Parlament nie ihre Sicherheit verliert.“106 Ihr Redestil hinterließ bei den Korrespondent*innen Eindruck. Auch die Vossische Zeitung attestierte Louise Zietz, dass sie: „[…] viel geschickter [sprach], als die meisten es wohl nach ihren erregten Zwischenrufen […] erwar- tet hatten.“107 Dennoch herrschte, während sie sprach, eine kontinuierliche Unruhe im Weimarer Theatersaal. Es gab immer wieder Zwischenrufe und auch ihre Kollegen erhielten Ordnungsrufe. Zusätzlich verließen während ihrer Rede viele Abgeordnete den Saal, ähnlich wie am Vortag bei Marie Juchacz, allerdings in diesem Fall vor allem aus Protest als sie auf das Eiserne Kreuz zu spre- chen kam:

[…] [S]ie entfesselt einen Sturm der Entrüstung im ganzen Hause, außer bei ihren Parteigenossen, als sie das Eiserne Kreuz als Blutmal bezeichnet. Die Rechte und ein großer Teil der Demokraten verlassen ostentativ den Saal.108

Doch nicht nur Abgeordnete verließen die Sitzung, wie die Berliner Börsen-Zeitung notierte, es hätten ebenso Berichterstatter den Saal verlassen.109 Die Entrüstung lässt sich auch in einigen Be-

102 Ebd. 103 Vgl. Lauterer, Parlamentarierinnen, S. 95. 104 Vgl. Nationalversammlung: 12. Sitzung, 20.02.1919 (Präsident Fehrenbach: „Es wird mir gesagt, dass die Rednerin, die jetzt noch an der Reihe ist, etwa zwei Stunden sprechen wird.“). 105 Berliner Börsen-Zeitung Nr. 87, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 3. 106 Berliner Volks-Zeitung Nr. 82, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 1. 107 Vossische Zeitung Nr. 95, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 1. 108 Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 89, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 3. 109 Vgl. Berliner Börsen-Zeitung Nr. 87, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 3 („Aber die gute Laune mindert sich, je mehr der Strom der Worte seinen Lauf nimmt, und mit den Ministern räumt auch ein Bericht- erstatter nach dem anderen das Feld.“). „Das weibliche Element“ 107

richten wiederfinden. So hatte Louise Zietz damit etwa bei dem Berichterstatter oder der Bericht- erstatterin der Vossischen Zeitung eine Verteidigungshaltung ausgelöst, wie sich zum einen aus der Betonung des „Stolzes“110 und der „Ehre“111, aber auch aus der Einordnung der Äußerung als „maßlos heftige Beschimpfung“112 herauslesen lässt

Das protestierende Verlassen des Saals durch die Berichterstatter*innen hatte offenbar Auswir- kung auf die späteren Artikel. Denn sowohl die Vossische Zeitung als auch das Berliner Tageblatt, die Berliner Volks-Zeitung und die Deutsche Allgemeine Zeitung haben sehr ähnliche Abschnitte der Rede gewählt und beschreiben sie fast durchgängig mit denselben Begriffen, sodass der Eindruck entsteht, sie hätten die Passagen untereinander ausgetauscht.113 3.5. Gertrud Bäumer – ein „Gegensatz zu ihren beiden Vorrednerinnen“

Den positivsten Bericht zu Gertrud Bäumers Rede in der 13. Sitzung der Nationalversammlung schrieb naheliegenderweise die DDP-nahe Vossische Zeitung: „Mit gesundem, tatfrohen und phra- senlosem Idealismus entwickelte sie ein soziales Programm der Pflichterfüllung im Dienst der All- gemeinheit.“114 Bäumer sprach, wie bereits Juchacz und Zietz, zunächst ebenfalls die Revolution an und äußerte, sie sei ein: „[…] elementa[er] Ausbruch eines seelisch misshandelten Volkes […]“115 gewesen. Ausführlich redete sie anschließend über sozialpolitische Maßnahmen zur Un- terstützung des Mittelstands durch Wohnungsfürsorge, die Unterstützung der Jugend auch ab- seits der schulischen Bildung, über den Zusammenhang von Prostitution und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Sie forderte die Einbeziehung von Frauen in alle Berufe, inklusive des öffentlichen Diensts und wiederholte das Anliegen des gemeinsamen Antrags der Frauen, die „Hungerblockade“116 zu beenden.117

110 Vossische Zeitung Nr. 95, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 1 („Den ersten Ordnungsruf erhielt sie wegen einer maßlos heftigen Beschimpfung des von vielen deutschen Kriegern in Ehren und mit Stolz getragenen Eisernen Kreuzes.“). 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Vgl. u. a. ebd. S. 3; Berliner Tageblatt Nr. 82, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 3; Berliner Volks-Zei- tung Nr. 82, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 2; Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 89, Morgenausgabe vom 20.02.1919, S. 6 (Grundsätzlich finden sich in den Sitzungsberichten immer wieder ähnliche Satz- konstruktionen oder sogar mit anderen Zeitungen deckungsgleiche Abschnitte. Es kann nur vermutet werden, ob das auf eine geplante Arbeitsteilung deutet, schlicht an dem Zeitdruck, den Redaktions- schluss einzuhalten, lag oder nicht jede Zeitung eigene Korrespondent*innen vor Ort hatte. In diesem Fall weisen die Indizien aufgrund der Schilderung der Berliner Börsen-Zeitung auf eine Kooperation der Reporter*innen hin.). 114 Vossische Zeitung Nr. 97, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 2. 115 Nationalversammlung, 13. Sitzung, 21.02.1919. 116 Nationalversammlung: 13. Sitzung, 21.02.1919. 117 Vgl. ebd. 108 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

Die Rede der promovierten Geisteswissenschaftlerin und ehemaligen Lehrerin118 schien ebenso wie der Vossischen Zeitung dem Korrespondenten oder der Korrespondentin des Berliner Tage- blatts gefallen zu haben, auch wenn sie nur kurz erwähnt wird. Bei den Redeausschnitten wird dagegen ihre Aussage: „Demokratie ist aktiver Liberalismus“ mit einer Zwischenüberschrift her- vorgehoben.119 Der Vorwärts hob in seinem sehr kurzen Abschnitt über Gertrud Bäumer das Zitat über das: „seelisch misshandelte Volk“ 120, hervor die Freiheit interessierte sich weder für Bäumers Rede noch für die Abgeordneten vor ihr.121 Nicht überzeugend fand hingegen der Berliner Lo- kal-Anzeiger die Rede:

Dann kommt Fräulein Gertrud Bäumer von den Demokraten. Sie will nicht polemisieren und polemisiert gegen Traub, gegen Kahl, gegen Posadwosky, gegen Graefe, sie will keine zwei Stunden reden und redet deren anderthalb; sie will keine akademische Vorlesung geben und gibt eine, eine mit manchen glücklichen Prägungen und manche mit zweifelhaften, von denen das gewagte Wort hervorgehoben sei: ‚Demokratie ist für mich aktiver Liberalismus.‘ […]122

Welche Aussagen der Autor oder die Autorin dieser Zeilen im Berliner Lokal-Anzeiger „glücklich“ fand und was ihm oder ihr an der Aussage zum Liberalismus nicht gefiel, wurde für die Leser*in- nenschaft offengelassen. Es kann als Indiz dafür gewertet werden, dass von den Leser*innen ein bestimmtes antiliberales Selbstverständnis oder zumindest ein Verstehen der politischen Haltung des Autors oder der Autorin des Berliner Lokal-Anzeigers vorausgesetzt wird.123 Im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Parteizeitungen, bei denen über Bäumer nur wenige Zeichen oder Worte gedruckt wurden, druckten andere Zeitungen – so auch der Berliner Lokal-Anzeiger, verhält- nismäßig lange Ausschnitte oder Zusammenfassungen der Rede. Somit wurde den Leser*innen trotz der vorweggenommenen Kommentierung die Möglichkeit gegeben, sich selbst ein Bild zu machen.124

Im Vergleich zu ihren beiden Vorrednerinnen an den Tagen zuvor, wurde ihr äußeres Erscheinungs- bild nur in der Berliner Börsen-Zeitung und nur indirekt, beispielsweise ohne Verweis auf ihre Klei- derwahl, kommentiert: „Sie bildet schon im Äußeren einen scharfen Gegensatz zu ihren beiden

118 Vgl. Lauterer, Parlamentarierinnen, S. 29. 119 Vgl. Berliner Tageblatt Nr. 84, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 3+ 4. 120 Vorwärts Nr. 97, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 3. 121 Freiheit Nr. 95, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 3 („Es sprechen noch Stegerwald für das Zentrum und Dr. Gertrud Bäumer für die Demokraten.“). 122 Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 84, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 2. 123 Vgl. Fulda, Press and politics, S. 29 (siehe auch Kapitel 3.) (Der „Berliner Lokal-Anzeiger“ ist 1919 nach seinem eigenen Selbstverständnis zu den Generalanzeigern zu zählen, gehörte zu diesem Zeitpunkt allerdings schon zum Hugenberg-Konzern (vgl. Fulda, Press and politics, S. 14). 124 Vgl. u. a. Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 84, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 3; Berliner Börsen-Zeitung Nr. 89, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 3f.; Vossische Zeitung Nr. 97, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 9. „Das weibliche Element“ 109

Vorrednerinnen von den Sozialisten.“125 Allerdings wurde in den Berichten über Gertrud Bäumer viel deutlicher als in jenen über Juchacz und Zietz betont, dass Bäumer eine weibliche und keine männliche Abgeordnete war.

Es erschien dem Urheber oder der Urheberin dieser Anmerkung – trotz der unterschiedlichen poli- tischen Standpunkte der drei Frauen – selbstverständlich, sie lediglich auf Basis ihrer geschlecht- lichen Zuordnung miteinander zu vergleichen. Damit untermalte diese kleine Randbemerkung, wie schwierig es in der Nationalversammlung für die weiblichen Abgeordneten in Anbetracht der Alltagsrealität und den damaligen gesellschaftlichen Konventionen war, im Parlament neben ihren männlichen Kollegen als gleichwertige Mitglieder anerkannt zu werden – trotz politischer Gleichberechtigung laut Gesetz.126

Schluss

Die weiblichen Abgeordneten der verfassunggebenden Nationalversammlung kamen in der Be- richterstattung vieler Zeitungen der Berliner Tagespresse vor. In der mituntersuchten Boulevard- zeitung B.Z. am Mittag und dem Parteiorgan der KPD, Rote Fahne, spielten sie keine Rolle, da beide Blätter grundsätzlich kaum über die Nationalversammlung schrieben.

In den meisten Fällen erfuhren die Leser*innen allerdings nur etwas über einen Teil der 39 Frauen im Parlament oder über die weiblichen Abgeordneten als geschlossene Gruppe, die gerade im Rahmen der Eröffnungssitzung somit fast gesichtslos war. Denn wer die gewählten Frauen bis dahin als Leser oder Leserin nicht kannte, bekam sie auch nicht vorgestellt. Im Fokus der Arti- kel standen allerdings auch unabhängig vom Geschlecht die ohnehin bekannten Gesichter und entsprechenden Amtsinhaber, wie beispielsweise Friedrich Ebert. Bei der Posse um die Wahl der Schriftführerin Lore Agnes standen ebenso die männlichen Protagonisten im Mittelpunkt.

Besonders erwähnenswert erschienen den nach Weimar entsandten Korrespondent*innen das optische Auftreten und die Sprechweise der Frauen, weniger der Inhalt ihrer Reden, beziehungs- weise werden diese äußeren Aspekte diesem in den meisten Fällen vorangestellt. Neben dem alleinigen Besprechen des Aussehens bei der Eröffnungssitzung fokussiert vor allem die Bericht- erstattung über die ersten beiden Rednerinnen, Marie Juchacz und Louise Zietz, diese Punkte. Sehr ausgeprägt zeigt dies etwa der Bericht der Neuen Preußischen Zeitung nach Juchacz‘ Rede.

125 Berliner Börsen-Zeitung Nr. 89, Morgenausgabe vom 21.02.1919, S. 1. 126 Dies gilt für die gesamte Spanne der Weimarer Republik und teilweise darüber hinaus. Vgl. Mergel, Par- lamentarische Kultur, S. 106; Lauterer, Parlamentarierinnen, S. 152–177; Heinsohn, Parteien und Politik, S. 291–298. 110 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

Bei den Berichten über Gertrud Bäumers Rede scheint das Aussehen der Rednerin in den unter- suchten Zeitungen nur am Rande zu interessieren. Dabei sei erneut erwähnt, dass eine solche Beschreibung der Kleidung und des Auftretens, wie bei der Analyse der Berichterstattung der Er- öffnungssitzung geschildert, kein Phänomen ist, welches allein die Frauen betrifft. Sie war oft das einzige Mittel, für die Leser*innen die Szenerie zu illustrieren, da es zu dieser Zeit in den Tageszei- tungen nicht üblich war, die Artikel mit Fotos zu kombinieren. Vor allem das Berliner Tageblatt und der Berliner Lokal-Anzeiger nutzten dieses Mittel in den hier untersuchten Beispielen ausführlich. Die beiden sozialdemokratischen Parteiorgane Vorwärts und Freiheit brachten diese Punkte hin- gegen selten in ihre Artikel mit ein und konzentrierten sich auf das gesprochene Wort.

Zusätzlich zu der äußerlichen Komponente machten die Berichte, in denen die weiblichen Abge- ordneten der Nationalversammlung in der Presse vorkamen, immer wieder deutlich, dass sie eine von den männlichen Abgeordneten getrennt zu betrachtende Gruppe seien. Obwohl sie nicht direkt hintereinander sprachen und unterschiedlichen Fraktionen angehörten, wurden sie mitei- nander verglichen. Zwar wurde dieser Vergleich von den Rednerinnen selbst mitgestaltet, indem sie sich gegenseitig aufeinander bezogen. Dennoch erfolgte darüber hinaus in der Berichterstat- tung der Presse kein Vergleich mit einzelnen männlichen Redebeiträgen. Die hier und da gedruck- ten Gastartikel der Frauen, die sich in ihren Aussagen vor allem an Frauen richteten, unterstützten diese Wahrnehmung der von den anderen Abgeordneten gesonderten Gruppe. Es zeigt sich, dass es ebenso unter den Frauen selbst unterschiedliche Ansichten darüber gab, wo sie sich gesell- schaftlich und damit auch im Politikbetrieb verorteten. Von einem Konsens über eine politische Gleichberechtigung in der Weimarer Republik kann also nicht gesprochen werden – sie galt je nach Blickwinkel als erreicht, als noch nicht vollständig erreicht oder gar nicht als erstrebenswert. So bekamen vor allem die Leser*innen der beiden Zeitungen Berliner Lokal-Anzeiger und Neue Preußische Kreuz-Zeitung innerhalb dieser ersten Wochen mehrfach den Eindruck vermittelt, das Parlament bestehe sowieso nur aus „Männern“ oder die Zeitungen beschrieben ausführlich ihr Missfallen über die Redebeiträge der Politikerinnen. Hier sei insbesondere noch einmal auf den langen Absatz der Neuen Preußischen Kreuz-Zeitung verwiesen, der Marie Juchacz nach ihrer Rede gewidmet wurde. Mit Blick darauf, dass die Parteiorgane und parteinahen Zeitungen die ih- nen politisch zugehörigen oder nahestehenden Politikerinnen positiv hervorhoben, kann jedoch, trotz mangelnden flächendeckenden Zustimmung zur gleichwertigen Beteiligung der Frauen, eine grundsätzliche Befürwortung der bloßen Mitarbeit von Frauen in der Politik gesehen werden.

Inwiefern sich die Wortwahl der Presse bei Berichten über die männlichen Abgeordneten genau unterscheidet, könnte nur eine weitere, ausführlichere Analyse klären, welche entsprechende The- „Das weibliche Element“ 111

orien zur Sprache und der historischen Entwicklung gendernormativer Aspekte mit einschließt.127 Zudem ist eine Aussage der Entwicklung der Berichterstattung über den untersuchten Zeitraum hinaus natürlich nicht möglich – es handelt sich um eine Momentaufnahme. Jedoch ist zu vermu- ten, dass eine Etablierung eines genderneutralen Blicks auf die Abgeordneten sich in der Presse in der Weimarer Zeit ebenso wenig durchsetzte wie die gleichwertige Beteiligung der Frauen in der Politik. Denn die Anzahl der Sitze, die weiblichen Abgeordneten im Reichsparlament zufiel, sank im Laufe der Jahre und reduzierte sich 1933 zunächst auf Null.128

Desintegrativ erscheint rückblickend zudem die Abkapselung der Frauenrechtlerinnen und Poli- tikerinnen durch ihre eigenen Frauenzeitschriften, zu denen sich in den 1920er Jahren zahlrei- che Neugründungen gesellten.129 Auf diese Weise spalteten sie sich größtenteils vom restlichen Pressespektrum ab. So wurde indirekt eine Trennung von vermeintlich nur für Frauen relevanten Themen von den anderen Medienprodukten gefördert, die teilweise noch bis heute nachwirkt.

127 Ein Beispiel für einen solchen Ansatz findet sich etwa im folgenden Sammelband: Hedwig Richter u. a. (Hrsg.), Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa. Hamburg 2018. 128 Siehe Kapitel 2. 129 Vgl. bspw. Streubel, Radikale Nationalistinnen, S. 153–173. 112 Juliane Verena Sprick / Die junge Mommsen 2020 (01)

Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen

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Zeitungen

Berliner Börsen-Zeitung

Berliner Illustrierte-Zeitung

Berliner Lokal-Anzeiger

Berliner Tageblatt

Berliner Volks-Zeitung

B.Z. am Mittag

Deutsche Allgemeine-Zeitung

Freiheit

Germania

Neue Preußische Kreuz-Zeitung

Rote Fahne

Vorwärts

Vossische Zeitung

Literatur

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Dies., Radikale Nationalistinnen. Agitation und Programmatik rechter Frauen in der Weimarer Republik, Bd. 55 - Geschichte und Geschlechter, Frankfurt am Main 2006. 114 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren Eine Betrachtung der Kontinuitäten aus dem Nationalsozia- lismus in der Wohnsituation und der anhaltenden Stigmati- sierung.

Malte Fischer

Humboldt-Universität zu Berlin

Diese Arbeit wurde ursprünglich im Rahmen eines Bachelorstudiums als Seminararbeit im Bachelor- seminar „Demokratie und Wissenschaft 1989/90" eingereicht.

Inhalt

Einleitung...... 114 1. Begriffsklärung...... 116 2. Die rassistische Konstruktion der „Zigeuner“ ...... 117 3. Die Verfolgung von Sinti*zze und Rom*nja im Nationalsozialismus...... 119 3.1. Das Zwangslager für Sinti*zze und Rom*nja Berlin-Marzahn...... 121 4. Die Lebensumstände von Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren in Deutschland...... 124 4.1. Die anhaltende Stigmatisierung von Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja ...... 126 4.2. Die Wohnsituation Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja...... 130 Schluss ...... 133 Quellen- und Literaturverzeichnis...... 136

Einleitung

„Wie angenehm wären Ihnen Sinti und Roma als Nachbarn in Ihrer Nachbarschaft?“, „Wenn es nach Ihnen ginge, was wäre für ein gutes Zusammenleben mit Sinti und Roma zu tun?“, „Welches der Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 115

folgenden Merkmale würden Sie Sinti und Roma [eher] zuordnen, gesetzestreu [oder] kriminell?“.1 Diese und viele weitere Fragen wurden Menschen in Deutschland 2013 gestellt, mit Ergebnissen, die zeigen, dass Antiromaismus in der Bundesrepublik noch immer weit verbreitet ist. So wäre es knapp der Hälfte der Befragten mittelmäßig bis sehr unangenehm, wenn Sinti*zze und Rom*nja2 in ihrer Nachbarschaft leben würden, je über 75 Prozent halten die Bekämpfung von Kriminalität und Leistungsmissbrauch für gute Maßnahmen für ein besseres Zusammenleben und fast jeder Dritte würde Sinti*zze und Rom*nja eher als kriminell, denn als gesetzestreu einordnen.3

Immerhin gaben 81,4 Prozent der Befragten an, dass ihnen bekannt sei, dass Sinti*zze und Rom*nja im Nationalsozialismus unter der Bezeichnung „Zigeuner“ verfolgt und ermordet wurden.4 Noch vor 40 Jahren wäre dieses Ergebnis mit Sicherheit ein ganz anderes gewesen, denn die Gesell- schaft und insbesondere die Geschichtswissenschaften vermieden nach 1945 jahrzehntelang eine Auseinandersetzung und eine Aufarbeitung des Porajmos. Dies änderte sich erst, nachdem die Bürger*innenrechtsbewegung der Sinti*zze und Rom*nja Ende der 1970er Jahre verstärkt auf diesen Missstand aufmerksam machte und Veränderung einforderte.5 Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der von Tilman Zülch herausgegebene Sammelband In Ausschwitz vergast, bis heute verfolgt.6Neben überblicksartigen Publikationen gibt es inzwischen eine Vielzahl von Lokalstudien und auch für Berlin erschien 2013 eine Monografie von Patricia Pientka, nach- dem sich seit den 1980ern schon einige kurze Artikel mit dem Zwangslager in Berlin-Marzahn be- schäftigt hatten.7 Relativ schnell wurde dann auch die anhaltende Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja nach 1945 zum Forschungsgegenstand. Nach wie vor fehlen in dem Bereich jedoch größtenteils eben diese detaillierten Lokalstudien, die es für die Zeit des Nationalsozialismus be-

1 Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung. Bevölkerungsein- stellung gegenüber Sinti und Roma, Berlin 2014, S. 149, 154 und 156. 2 Im Sinne einer geschlechtergerechten Sprache, wird in dieser Arbeit durchgehend das * mit entspre- chender weiblicher Endung verwendet, um deutlich zu machen, dass neben dem männlichen auch das weibliche und viele weitere Geschlechter existieren, die ebenfalls einen Anteil an der Geschichte haben. 3 Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung, S. 149f., S. 154f., S. 156f. 4 Vgl. ebd., S. 142. 5 Vgl. Michael Krausnick, Wo sind sie hingekommen? Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma, Gerlingen 1995, S. 8. 6 Tilman Zülch (Hrsg.), In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt. Zur Situation der Roma (Zigeuner) in Deutschland und Europa, Reinbek 1979. 7 Z. B. Udo Engbring-Romang, „Mit einer Rückkehr ist nicht mehr zu Rechnen...“ Die Verfolgung der Sinti und Roma in Mannheim, Ostfildern 2017 für Mannheim oder Stefan Goch, „Mit einer Rückkehr nach hier ist nicht mehr zu rechnen.“ Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma während des „Dritten Reiches“ im Raum Gelsenkirchen, Essen 1999 für Gelsenkirchen. Für Berlin neben Artikeln von Reimar Gilsenbach, Ute Brückner-Boroujerdi oder Wolfgang Wippermann: Patricia Pientka, Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn. Alltag, Verfolgung, Deportation, Berlin 2013. 116 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

reits gibt.

Mit dieser Arbeit soll dazu ein Beitrag geleistet werden, indem die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren erforscht werden und der Frage auf den Grund gegangen wird, inwiefern sich darin Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus wiederfinden las- sen. Dabei wird sich auf die anhaltende Stigmatisierung und die Wohnsituation der Minderheit fokussiert, da beide Aspekte Hand in Hand gehen und neben der ökonomischen und gesundheit- lichen Lage die Lebensumstände dominierten. Um sich dem Forschungsthema zu nähern, wird sich nach einer Einführung in die rassistische Konstruktion des „Zigeunerbildes“ und die antiro- maistische Praxis des nationalsozialistischen Berlins vor allem auf 25 Personen-Akten von überle- benden Sinti*zze und Rom*nja des Berliner Hauptamtes für Opfer des Faschismus (O.d.F.) bezogen, die im Landesarchiv Berlin ausfindig gemacht und ausgewertet werden konnten.8 Die Schwierig- keit bei der Quellenlage liegt darin, dass die Betreuung der O.d.F sowohl auf städtischer als auch auf bezirklicher Ebene organisiert wurde, für letztgenanntes jedoch kaum Akten erschlossen oder überliefert wurden und daher Fragmente fehlen. Trotzdem ermöglichen es die Akten, einen sehr persönlichen und direkten Einblick zu vermitteln und mit dem Problem umzugehen, dass Sin- ti*zze und Rom*nja aufgrund ihrer geringen Anzahl in vielen allgemeineren Dokumenten nicht explizit erwähnt wurden.

1. Begriffsklärung

Wer über verfolgte, diskriminierte und marginalisierte Personengruppen spricht oder schreibt, sollte sich die Frage stellen, aus welcher Perspektive das geschieht und welche Bezeichnungen und Namen für diese Gruppen verwendet werden sollten. Meist existieren populäre Fremdbe- zeichnungen der Dominanzgesellschaft, die jedoch voller diskriminierender Konnotationen sind und von den Betroffenen als Beleidigung oder Verzerrung ihrer Identität empfunden werden. Alle Menschen, die dieser Gruppe nicht angehören, sollten in diesem Punkt den Perspektiven von Be- troffenen besonderes Gehör und Gewicht verleihen und die eigene Sprache diesbezüglich reflek- tieren.

Schon seit vielen Jahrhunderten ist der Begriff „Zigeuner“ die populäre Fremdbezeichnung für eine sehr heterogene Menschengruppe, in die auch Sinti*zze und Rom*nja fallen9 und die sich bis heute hartnäckig im deutschen Sprachgebrauch hält. Sinti*zze und Rom*nja weisen entschieden

8 In den Akten ist stets „Zigeuner“ o. ä. im Antragsblatt vermerkt. Da nur solche „Zigeuner“ anerkannt wurden, die aufgrund von Rassismus verfolgt wurden, handelt es sich dabei mit Sicherheit um Sin- ti*zze oder Rom*nja. 9 Vgl. Herbert Heuß, Die Migration von Roma aus Osteuropa im 19. u. 20. Jahrhundert: Historische Anlässe und staatliche Reaktion. Überlegungen zum Funktionswandel des Zigeuner-Ressentiments, in: Jacque- line Giere (Hrsg.), Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners. Zur Genese eines Vorurteils, Frank- furt am Main 1996, S. 109f. Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 117

darauf hin, dass sie diesen Begriff als diskriminierend und durch denPorajmos schwer belastet empfinden.10

Deswegen wird der Begriff „Zigeuner“, sollte er aufgrund der Quellennähe in dieser Arbeit verwen- det werden müssen, immer in Anführungszeichen geschrieben.

Eine einfache Zensur des Wortes durch die Schreibweise „Z.“ erscheint nach Isidora Randjelowic unangemessen, da das die geläufige Abkürzung der KZ-Aufseher*innen war, mit der die Akten der Sinti*zze und Rom*nja gekennzeichnet wurden.11

Der oft verwendete Begriff „Antiziganismus“, der die Diskriminierung gegenüber Sinti*zze und Rom*nja beschreiben soll, wird ebenfalls abgelehnt, da er den Begriff „Zigeuner“ fortschreibt und somit die rassistische Konstruktion in den Mittelpunkt stellt.12 Anstelle seiner wird „Antiromais- mus“ verwendet, auch wenn zurecht kritisiert wird, dass dieser Begriff die Verfolgung von Perso- nen, die als „Zigeuner“ stigmatisiert werden, aber keine Sinti*zze oder Rom*nja sind, nicht fassen kann.13 Mangels Alternativen erscheint es jedoch sinnvoller diesen Begriff zu verwenden, als ein Wort, das die Diskriminierung beschreiben soll und dabei selbst diskriminierend ist.

2. Die rassistische Konstruktion der „Zigeuner“

Quellen, die die Stigmatisierung von Sinti*zze und Rom*nja belegen, lassen sich schon deutlich vor dem 20. Jahrhundert finden. Bereits 1498 wurde ein Reichstagsbeschluss, der Sinti*zze und Rom*nja zu Vogelfreien erklärte, damit begründet, dass diese angeblich Spione der Türken sei- en.14 Ein zu dieser Zeit weitverbreitetes, religiös begründetes Vorurteil war auch, dass Sinti*zze und Rom*nja die Nägel für das Kreuz Jesu geschmiedet hätten.15

Die Konstruktion der „Zigeuner“ wurde in den nächsten Jahren kontinuierlich fortgeführt. Der Soziologe Franz Maciejewski zitiert beispielsweise Sebastian Münster (1488 – 1552), der 1550 in seiner populären Kosmographie die Sinti*zze und Rom*nja als „ein ungeschaffen/schwartz/wüst

10 Vgl. Engbring-Romang, Rückkehr, S. 14. Sowie Isidora Randjelovic, Zigeuner_in, in: Susan Arndt (Hrsg.) u. a., Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2011, S. 676f. 11 Vgl. Randjelowic, Zigeuner_in, S. 671. 12 Vgl. ecoleusti, Was zu benennen ist... Antiromaismus, 31.05.2014, https://ecoleusti.wordpress. com/2014/05/31/was-zu-benennen-ist-antiromaismus/, abgerufen am 16.09.2019. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. Wolfgang Wippermann, „Auserwählte Opfer?“ Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse, Berlin 2005, S. 14. 15 Vgl. Randjelowic, Zigeuner_in, S. 672. 118 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

und unflätig Volck/das sonderlich gern stielt“ beschrieb.16

Diese diskriminierenden Stereotype setzten sich im deutschen Sprachraum fort. 1783 konstruier- te dann der Historiker Gottlieb Grellmann (1756 – 1804) in seiner viel rezipierten Monografie die „Zigeuner“ als Angehörige einer „orientalischen“ und damit „minderwertigen Rasse“ 17 und leg- te damit den Grundstein für den rassistisch begründeten Antiromaismus.18 Nach Grellmann ent- flammte zwar immer wieder eine rassistische und paternalistische Kontroverse darüber, ob sich die „Zigeuner“ nicht mit geeigneten Mitteln doch in arbeitsame und gottesfürchtige Bürger*innen verwandeln lassen würden. Doch unter dem Einfluss des Rassismus im Zuge des Kolonialismus setzten sich immer deutlicher die Ansichten Grellmanns und anderer durch, dass die als „asozial“ stigmatisierten Eigenschaften angeboren und eine Erziehung deshalb aussichtlos sei.19 Wolfgang Wippermann sieht in dieser Konstruktion den „Schnittpunkt der beiden Varianten des Rassismus – den ethnischen bzw. rassenanthropologischen und den sozialen bzw. rassenhygienischen.“20 Ein- drücklich wird dieser Schnittpunkt bei dem von Wippermann zitierten Kriminalbiologen Cesare Lombroso (1835 – 1909) deutlich, der die Thesen Grellmanns aufgriff und dann von einer „Rasse von Verbrechern“ und Asozialen sprach.21

Im Nationalsozialismus wurde die antiromaistische „Forschung“ fortgeführt und intensiviert. Eine zentrale Person war dabei Robert Ritter (1901 – 1951), der 1936 die Rassenhygienische For- schungsstelle gründete, bis zum Kriegsende leitete22 und mit seinen Forschungsergebnissen ver- suchte, den Porajmos wissenschaftlich zu legitimieren. Dieses eng mit dem Reichsgesundheits- amt kooperierende Institut bot den Wissenschaftler*innen nun außerdem die Ressourcen, um im großen Stil die menschenverachtenden Versuche und Befragungen an Sinti*zze und Rom*nja durchzuführen.

16 Sebastian Münster, Kosmografie, 1550, zitiert nach: Franz Maciejewski, Elemente des Antiziganismus, in: Jacqueline Giere (Hrsg.), Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners. Zur Genese eines Vorurteils, Frankfurt am Main 1996, S. 13. 17 Heinrich Grellmann, Moritz Gottlieb, Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Ver- fassung. Sitten und Schicksale dieses Volkes in Europa, nebst ihrem Ursprunge, Dessau/Leipzig 1783. 18 Vgl. Wim Willems, Außenbilder von Sinti und Roma in der frühen Zigeunerforschung, in: Jacqueline Giere (Hrsg.), Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners. Zur Genese eines Vorurteils, Frankfurt am Main 1996, S. 101 und Wippermann, Auserwählte Opfer, S. 17f, S. 28. 19 Vgl. Maciejewski, Antiziganismus, S. 22f. 20 Wippermann, Auserwählte Opfer, S. 28. 21 Cesare Lombroso, Ursachen und Bekämpfung des Verbrechens, Berlin 1902, S. 313, zitiert nach: Wip- permann, Auserwählte Opfer, S. 20. 22 Vgl. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeu- nerfrage“, Hamburg 1996, S. 127 und Michael Zimmermann, Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurse im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Michael Zimmermann (Hrsg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung, Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 13f. Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 119

Da Ritters eugenische Forschungen, also das Vermessen von Körperteilen und die Registrierung von Blutgruppen, Augenfarben und weiteren Merkmalen jedoch weitestgehend ergebnislos blie- ben, konzentrierte er sich schon früh auf die Arbeit mit sogenannten „Sippschaftstafeln“, mit deren Hilfe er glaubte, die „Zigeuner“ in „reinrassige Zigeuner“ und „Mischlinge“ mit unterschiedlichen Blutsanteilen differenzieren zu können.23

Ritter war, wie viele vor ihm, überzeugt davon, dass „Zigeuner“ genetisch bedingte Asoziale und Verbrecher*innen seien und behauptete, dass sich „Zigeuner“ nicht verändern könnten und dass deswegen auch alle Maßnahmen zur Integration oder Ähnlichem sinnlos seien.24 Mit diesen An- sichten war er zwar nicht deutlich radikaler als andere „Zigeunerforscher*innen“, jedoch war die Tragweite seiner Arbeiten als Leiter der rassenhygienischen Forschungsstelle fatal. Indem Sin- ti*zze und Rom*nja als kriminell und asozial stigmatisiert und ihnen jedes Veränderungspotenzial kategorisch abgesprochen wurde, folgte in der Vernichtungslogik der Nationalsozialist*innen – vereinfacht zusammengefasst – die Notwendigkeit des Genozids an den Sinti*zze und Rom*nja.25

Am Ende dieses Kapitels ist nachdrücklich festzuhalten: Es ist heute einwandfrei bewiesen, dass Ritters Forschungen und die seiner Vorgänger*innen rassistisch und wissenschaftlich nicht haltbar sind.

3. Die Verfolgung von Sinti*zze und Rom*nja im Nationalsozialis- mus

Die antiromaistische Politik der Nationalsozialist*innen endete in Auschwitz. Zwischen 1933 und 1945 wurden schätzungsweise 500.000 Sinti*zze und Rom*nja ermordet, genauere Zahlen kön- nen nicht mehr ermittelt werden.26 Der Genozid begann jedoch nicht in Reichsministerien, son- dern wurde vielfach auf Landes- und kommunaler Ebene organisiert.27 Daher ist gerade die Be- trachtung dieser Ebenen für die historische Forschung besonders relevant.

In nahezu allen Teilen des Deutschen Reiches gab es schon vor 1933 antiromaistische Gesetze, die insbesondere die Bewegungs- und Gewerbefreiheit von Sinti*zze und Rom*nja einschränkten und vielfach polizeiliche Maßnahmen ohne Gerichtsurteil ermöglichten.28 Als Beispiel für ein be-

23 Vgl. Zimmermann, Rassenutopie,. S. 132. 24 Vgl. Wippermann, Auserwählte Opfer, S. 29 und Zimmermann, Rassenutopie, S. 132. 25 An dieser Stelle sei angemerkt, dass schon der Gedanke, dass sich Sinti*zze und Rom*nja hätten än- dern müssen antiromaistisch ist, da sie sich nicht kollektiv falsch verhalten haben, sondern Opfer einer mörderischen Stigmatisierung wurden. 26 Vgl. Krausnick, Wo sind sie hingekommen?, S. 7. 27 Vgl. Goch, Gelsenkirchen, S. 77f. 28 Vgl. Peter Widmann, Auszug aus den Baracken. Der Aufstieg der Sozialpädagogik und die deutsche 120 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

sonders restriktives Gesetz wird in der Forschungsliteratur oftmals das bayerische „Gesetz zur Be- kämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ angeführt, dass am 16. Juli 1926 ver- abschiedet wurde. Es ermöglichte unter anderem, dass vorbestrafte Sinti*zze und Rom*nja „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit“ des Landes verwiesen, sowie ihnen der Aufenthaltsort und die Reiserichtung vorgeschrieben werden konnte. Außerdem verfügte es, dass die Polizei „Zigeu- ner“ über 16, die keinen Nachweis über ein geregeltes Arbeitsverhältnis erbringen konnten, bis zu zwei Jahre ohne richterlichen Beschluss in eine Arbeitsanstalt einweisen konnte.29

Was in diesem Gesetz bereits anklingt, wurde ab 1934 in immer mehr Städten zur Praxis. Ohne eine Anweisung von der Reichsebene erhalten zu haben, errichteten viele Städte und Kommunen sogenannte „Zigeunerlager“, in denen sie die städtischen Sinti*zze und Rom*nja, teilweise auch Jenische30, Obdachlose und Bettler*innen konzentrieren wollten.31 Diese Lager unterschieden sich mitunter zwar sehr voneinander, es einten sie jedoch die Beweggründe, aus denen sie errichtet wurden: Sie dienten „[d]er Konzentration und Erfassung von Sinti und Roma, der Rekrutierung zur Zwangsarbeit, der rassistischen Trennung von der ‚Volksgemeinschaft’ und schließlich als Sammel- lager für Deportationen.“32 Besonders befördert wurde die Errichtung der Zwangslager durch die seit 1933 betriebene Politik der Stadtsanierung, deren Ziel es war, die Innenstädte zu „säubern“ und unterprivilegierte Schichten aus ihnen zu verdrängen.33

Trotz dieser kommunalen Organisation gab es ab 1936 eine Reihe von Erlassen, die den Umgang mit Sinti*zze und Rom*nja reichsweit regeln sollten und auf die hier noch kurz eingegangen wird.

Nachdem bereits die Nürnberger Rassegesetze auch auf Sinti*zze und Rom*nja angewendet wur- den, erließ der Reichsminister des Innern Wilhelm Frick (1877 – 1946) am 6. Juni 1936 den Runder- lass „zur Bekämpfung der Zigeunerplage“, der die gegen Sinti*zze und Rom*nja gerichteten Son- dergesetze der Länder auf das gesamte Reich ausdehnte.34 Am 14. Dezember 1937 ordnete dann

Kommunalpolitik gegenüber „Zigeunern“ seit 1945, in: Michael Zimmermann (Hrsg.), Zwischen Erzie- hung und Vernichtung, Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stutt- gart 2007, S. 512. 29 Zimmermann, Rassenutopie, S. 49f. 30 Zur Erklärung des Begriffs vgl. Widmann, Auszug aus den Baracken, S. 511. 31 Dokumentiert sind solche Zwangslager bisher mindestens für: Berlin, Bremen, Braunschweig, Dort- mund, Düsseldorf, Essen, Fulda, Frankfurt am Main, Gelsenkirchen, Hamm, Hannover, Herne, Kassel, Kiel, Köln, Magdeburg, Oldenburg, Osnabrück, Ravensburg, Remscheid, Recklinghausen, Solingen, Wiesba- den-Biebrich. Diese Liste ist vermutlich unvollständig. Vgl. Karola Fings, Nationalsozialistische Zwangs- lager für Sinti und Roma, in: Wolfang Benz (Hrsg.) u. a., Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozia- listischen Konzentrationslager. 9. Band, München 2009, S. 192f. und S. 195. 32 Ebd. S. 192. 33 Vgl. Guenter Lewy; Klaus-Dieter Schmidt (Übers.), „Rückkehr nicht erwünscht.“ Die Verfolgung der Zigeu- ner im Dritten Reich, New York 2000, S. 44 und Fings, Zwangslager, S. 193. 34 Vgl. Romani Rose (Hrsg.) u. a., Sinti und Roma im „Dritten Reich“. Das Programm der Vernichtung durch Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 121

Heinrich Himmler (1900 – 1945), Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, Vorbeugehaft für als „asozial“ anzusehende Personen an, unter die auch Sinti*zze und Rom*nja fielen. Im Folgejahr fanden daraufhin reichsweite Verhaftungswellen statt, in deren Zuge hunderte Menschen in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen deportiert wurden.35

Rund ein Jahr später, am 8. Dezember 1938 folgte der nächste Runderlass von Himmler, der in seiner sprachlichen Verfasstheit noch einmal radikaler war. So stand dort einleitend, zitiert nach Stefan Goch:

Die bisher bei der Bekämpfung der Zigeunerplage gesammelten Erfahrungen und die durch die rassebiologischen Forschungen gewonnenen Erkenntnisse lassen es angezeigt erscheinen, die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen.36

Auch wurde hier schon von einer „vollständigen Lösung der Zigeunerfrage“37 gesprochen. Der Er- lass ordnete an, dass nun endgültig alle Sinti*zze und Rom*nja erkennungsdienstlich erfasst und wenn nötig in Vorbeugehaft genommen werden sollten.38

Wieder ein knappes Jahr später, inzwischen war eine Reichszentrale zur Bekämpfung des „Zigeu- nerwesens“ eingerichtet worden, bereitete Himmler mit seinem Festsetzungserlass vom 17. Ok- tober 1939 die Massendeportationen Richtung Polen vor, indem es allen Sinti*zze und Rom*nja verboten wurde, ihren Wohnort zu verlassen.39

Am 16. Februar 1942 unterzeichnete Himmler den Erlass über die Deportation von „Zigeunern und „Zigeunermischlingen“ in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Die ersten Massen- transporte in Folge dieses Erlasses folgten im März 1943.40

3.1. Das Zwangslager für Sinti*zze und Rom*nja in Berlin-Marzahn

Berlin stand mit seiner antiromaistischen Politik anderen Großstädten in Nichts nach. Auch hier begannen die Behörden ab 1934 mit der Planung eines Zwangslagers für Sinti*zze und Rom*nja beziehungsweise eines „Rastplatzes“, wie es euphemistisch offiziell genannt wurde.41Aus einem

Arbeit, Göttingen und Heidelberg 1991, S. 172 und Wippermann, Auserwählte Opfer, S. 31f. 35 Vgl. ebd., S. 33f. 36 § 1 im Erlass vom 08.12.1938, archiviert im: Institut für Stadtgeschichte/Stadtarchiv Gelsenkirchen, 0/ II//5/1, zitiert nach: Goch, Gelsenkirchen, S. 79. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Vgl. Goch, Gelsenkirchen, S. 117. 40 Vgl. Pientka, Das Zwangslager, S. 156. 41 Vgl. Reimar Gilsenbach, Marzahn – Hitlers erstes Lager für „Fremdrassige“. Ein vergessenes Kapitel der Naziverbrechen, in: Pogrom, Zeitschrift für bedrohte Völker 122 (1986), S. 15 und Pientka, Das Zwangs- lager, S. 33f. 122 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

Schreiben des Berliner Wohlfahrtsamtes an den Berliner Polizeipräsidenten vom 14. Juni 1939 geht hervor, dass seit 1934 „allen Beteiligten die Zusammenziehung der Zigeuner in lagermäßiger Form unter möglichst strenger Aufsicht der Polizei und der Wohlfahrtsverwaltung als erster Schritt geboten“ schien.42

Die Gründe dafür wurden oben bereits erwähnt, besonders hervorzuheben sind hier jedoch die Olympischen Sommerspiele, die 1936 in Berlin ausgetragen wurden. Anlässlich dieses Sport- events sollte Berlin „zigeunerfrei“ werden.43 Zur konkreten Umsetzung der Pläne kam es nach dem Runderlass vom 6. Juni 1936, der mit der Bemerkung Fricks schloss, dass er den Berliner Polizei- präsidenten ermächtigt habe, einen eigenen Landesfahndungstag noch vor den Olympischen Spielen durchzuführen.44

Am 16. Juli 1936, knapp einen Monat vor Beginn der Spiele startete die Verhaftungsaktion, bei der ca. 600 Sinti*zze und Rom*nja inhaftiert und nach Marzahn gebracht wurden.45 Dabei spielte es keine Rolle, ob sie in Wohnwagen auf städtischen oder privaten Grundstücken oder in Wohnun- gen lebten.46 In seiner von Ulrich Enzensberger aufgezeichneten Biografie erinnert sich der Sinto Otto Rosenberg (1927 – 2001), damals gerade einmal neun Jahre alt:

Wir wurden dann eines Morgens, es kann früh um vier, fünf Uhr gewesen sein, durch die SA und die Polizei aufge- schreckt. ‚Los, anziehen! Schnell, schnell!’ Holterdiepolter. [...] Wir wurden auf Lastwagen geladen. Unser Planwagen wurde ebenfalls mitgenommen. Wir wussten nicht, woher die Leute das Recht hatten, uns von einen [sic!] Privat- platz wegzunehmen. Wir wurden nach Berlin-Marzahn verfrachtet.47

Insgesamt durchliefen zwischen 1935 und 1945 1000 bis 2000 Menschen dieses Zwangslager, die höchste offizielle Zählung war am 27. September 1938 mit 852 zu diesem Zeitpunkt inhaftierten Personen.48

Errichtet wurde das Lager auf einem Rieselfeld und es verfügte weder über einen Trinkwasseran- schluss, noch über eine Stromversorgung.49 Viele Sinti*zze und Rom*nja lebten in eigenen Wohn-

42 Schreiben des Hauptwohlfahrtsamts Berlin an den Polizeipräsidenten Berlin, Abteilung 5, Betreff: Behandlung der Zigeuner in der Reichshauptstadt, 14.06.1939, als Anlage des Schreibens des Haupt- wohlfahrtsamts Berlin an die Sozialverwaltung Hamburg, Betreff: Zusammenfassung der Zigeuner, 13.07.1939, StAHH, Sozialbehörde 1, AF 83.70, zitiert nach: Pientka, Das Zwangslager, S. 34. 43 Vgl. Gilsenbach, Marzahn, S. 15. Weitere Gründe für die Errichtung zusammengefasst in Ute Brück- ner-Boroujerdi/Wolfgang Wippermann, Nationalsozialistische Zwangslager in Berlin III. Das „Zigeuner- lager“ Marzahn, in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Berlin-Forschungen. 2. Band, Berlin 1987, S. 191. 44 Vgl. Pientka, Das Zwangslager, S. 36. 45 Vgl. Brückner-Boroujerdi/Wippermann, Nationalsozialistische Zwangslager, S. 192. 46 Vgl. Pientka, Das Zwangslager, S. 40. 47 Otto Rosenberg, aufgezeichnet von: Ulrich Enzensberger, Das Brennglas, Frankfurt am Main 1998, S. 19. 48 Vgl. Gilsenbach, Marzahn, S. 17 und Brückner-Boroujerdi/Wippermann, Nationalsozialistische Zwangs- lager, S. 193. 49 Vgl. Pientka, Das Zwangslager, S. 60. Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 123

wagen oder in überfüllten Baracken, es gibt jedoch auch Berichte von Familien, die unter freiem Himmel oder unter fremden Wohnwagen schlafen mussten, weil es zu wenige überdachte Schlaf- plätze gab.50 Die Bewohner*innen wurden ständig durch die Polizei bewacht, wer das Lager ver- lassen wollte, musste sich abmelden. Ein Grund, um das Lager zu verlassen war, dass die Bewoh- ner*innen mit unzureichenden Lebensmittelkarten im Dorf einkaufen und Trinkwasser besorgen mussten und zusätzlich galt für alle Männer und Jugendlichen Zwangsarbeitspflicht, größtenteils außerhalb des Lagers.51

Neben den menschenunwürdigen Lebensbedingungen waren vor allem die gewalttätigen Wär- ter*innen eine tödliche Bedrohung für die Insass*innen. Helene A., die 1936 in das Zwangsla- ger eingewiesen wurde und dort ihren kleinen Sohn Rudi aufgrund von Unterernährung verlor, schrieb im Sommer 1966 in ihrem Lebenslauf im Zuge ihres Anerkennungsprozesses als Opfer des Faschismus: „Wir bekamen Schläge, ich habe Narben an meinem Körper, vier Zähne wurden mir ausgeschlagen und ich habe mir einen Bruch zugezogen.“52

Ab 1937 gab es vereinzelt Transporte in Konzentrationslager, 1943 dann Massendeportationen nach Auschwitz-Birkenau.53 Die Habseligkeiten der Deportierten wurden weggebracht oder an Ort und Stelle verbrannt.54 Wie viele Menschen von denen, die das Zwangslager in Marzahn durch- liefen, von den Nationalsozialist*innen ermordet wurden, kann nicht mehr ermittelt werden. Als jedoch 1945 die Rote Armee in Berlin einmarschierte, konnte sie nur noch knapp zwei Dutzend Überlebende aus dem Zwangslager für Sinti*zze und Rom*nja in Berlin-Marzahn befreien.55

Das Zwangslager dominierte somit das Leben der Berliner Sinti*zze und Rom*nja, indem der Großteil von ihnen ab 1936 dort leben musste. Trotzdem wird noch 1939 in nationalsozialistischen Quellen von „Zigeunernestern“ in der Innenstadt berichtet, vor allem im Wedding, Prenzlauer Berg und im Scheunenviertel.56 Leider ließen sich keine Informationen darüber finden, ob dies später immer noch der Fall war, es kann also nur schätzungsweise davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Sinti*zze und Rom*nja, die in Berlin außerhalb des Zwangslagers lebten, immer kleiner wurde.

50 Vgl. Pientka, Das Zwangslager, S. 60. 51 Vgl. Pientka, Das Zwangslager, S. 73 sowie Gilsenbach, Marzahn, S. 16 und Fings, Zwangslager, S. 197. 52 LAB C Rep. 118-01, Nr. 26466, OdF-Akte, A., Helene. Aus Personenschutzgründen darf der vollständige Name hier nicht veröffentlicht werden. Gleiches gilt für einige andere Personen, deren OdF-Akten in dieser Arbeit ausgewertet wurden. 53 Vgl. Gilsenbach, Marzahn, S. 17. 54 Vgl. Pientka, Das Zwangslager, S. 156. 55 Vgl. Gilsenbach, Marzahn, S. 17, Pientka, das Zwangslager S. 185. 56 Vgl. Pientka, Das Zwangslager S. 25 und S. 135. 124 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

4. Die Lebensumstände von Sinti*zze und Rom*nja in den Nach- kriegsjahren in Deutschland

Insgesamt waren die Lebensumstände der deutschen Bevölkerung nach 1945 schwierig. Grade in den Großstädten waren im Zuge der Bombardements der Alliierten viele Wohnhäuser und Teile der Infrastruktur beschädigt oder zerstört worden und der Zustrom an Vertriebenen aus den Ost- gebieten und aus dem Krieg zurückkehrenden Soldaten und Wehrmachtshelfer*innen verschärfte die Situation zusätzlich.57

In dieser angespannten Lage bewegten sich auch die Menschen, die von den Nationalsozialist*in- nen verfolgt und deportiert worden waren, und nun aus dem Untergrund, Exil oder den Kon- zentrationslagern in ihre Wohnorte zurückkehrten. Wie viele dieser Überlebenden Sinti*zze und Rom*nja waren, kann nur geschätzt werden. Gilad Margalit spricht deutschlandweit von 2000, die aus Konzentrations- oder Zwangslagern befreit wurden und weiteren 3000, die dem Genozid au- ßerhalb der Lager entkommen waren.58 Im Vergleich zu jüdischen Überlebenden oder Menschen, die aufgrund ihrer politischen Einstellung verfolgt worden waren also eine sehr kleine Gruppe, die zusätzlich äußerst heterogen war.59 Die meisten von ihnen waren durch die antiromaistische Ge- setzgebung verarmt oder durch die Deportation in Konzentrationslager vollständig mittellos, da ihr Eigentum, wie oben bereits dargestellt, beschlagnahmt oder zerstört worden war. Zusätzlich waren sie oft krank, verletzt und traumatisiert. So veröffentlichte die Abteilung für Sozialwesen des Berliner Magistrats noch am 9. Juli 1948 eine Pressemitteilung, in der von einem Krankenstand von über 50% bei der Gruppe der Opfer des Faschismus gesprochen wurde.60

Trotz ihres im Nationalsozialismus erfahrenden Leids, fing man in manchen Städten sehr bald nach 1945 wieder an, die Sinti*zze und Rom*nja mit ähnlichen Begründungen in Lagern am Stadtrand zu konzentrieren, teilweise sogar unter ständiger Bewachung der Polizei.61 Diejenigen, die davon verschont blieben, wählten unterschiedliche Wege, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Man- che gingen auf die Suche nach Verwandten und Freund*innen und versuchten, von ihnen Unter-

57 Vgl. Anja Reuss, Kontinuitäten der Stigmatisierung. Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2015, S. 128f. 58 Vgl. Gilat Margalit, Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurs im Deutschland der Nachkriegszeit, in: Michael Zimmermann (Hrsg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung, Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 483. 59 Vgl. Gilad Margalit u. a. (Übers.), Die Nachkriegsdeutschen und „ihre Zigeuner“. Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Auschwitz, Berlin 2001, S. 126. 60 Vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 39041, Materielle Unterstützung der Opfer des Faschismus, Blatt 19. 61 Dokumentiert ist das unter anderem für Freiburg, vgl. Widmann, An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik, Berlin 2001 S. 36, Bremen, vgl. Reuss, Kontinuitäten der Stigmatisierung, 134f. und Lübeck, vgl. ebd., S. 132. Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 125

stützung und Unterkunft zu erhalten.62

Andere wandten sich, wie viele tausende weitere Menschen, an kommunale Wohlfahrtsämter, die jedoch mit der Anzahl der Unterstützungsbedürftigen vollkommen überfordert waren und auf die Bedürfnisse der Überlebenden oft nicht eingehen konnten oder wollten.63

Die Alliierten räumten der Versorgung und Unterstützung von ehemaligen Verfolgten der Na- tionalsozialist*innen eine hohe Priorität ein. Sie wiesen daher die Länder und Kommunen nach Kriegsende an, besondere Fürsorgestellen einzurichten, die von der gewöhnlichen Wohlfahrt ge- trennt sein und „allen Bitten und Ersuchen, die seitens anerkannter Opfer des Faschismus in Ihre Hände gelangen, die wohlwollendste Behandlung zuteil“ werden lassen sollten.64 Konkret ging es dabei um die bevorzugte Vergabe von Wohnraum, Arbeitsplätzen und Kleidung, erhöhte Le- bensmittelrationen und Sonderzahlungen.65 Während jedoch viele Opfer des Faschismus (O.d.F.) in beschlagnahmten Wohnungen von Nationalsozialist*innen untergebracht wurden, ist das für Sinti*zze und Rom*nja nicht bekannt.66

Die Frage, ob Sinti*zze und Rom*nja zum Kreis der anerkannten O.d.F. gehören sollten, war ge- nerell Gegenstand einer heftigen Diskussion, denn viele Entscheidungsträger*innen bestritten, dass sie aus rassistischen Gründen verfolgt worden waren. Sie behaupteten, dass die Verfolgung der „Zigeuner“ ein legitimer und notwendiger Staatsakt zur Kriminalitätsbekämpfung gewesen war, worin sich das weitverbreitete antiromaistische Stereotyp der angeborenen Kriminalität und Asozialität wiederfindet.67 Auch aus den Reihen der ehemaligen politischen Häftlinge gab es Ablehnung, denn viele empfanden es als Beleidigung, dass ihr politischer Widerstand in ihren Augen auf eine Stufe mit „Asozialen“ gesetzt werden sollte und fürchteten, dass so der Respekt der Öffentlichkeit vor ihnen schwinden würde.68 Ungeachtet dieses Widerstandes war es Sinti*zze und Rom*nja ab Mai 1946 prinzipiell möglich, einen Antrag auf Anerkennung als O.d.F. zu stellen, wenn sie aus rassistischen Gründen verfolgt worden waren. Jedoch knüpfte man ihre Anerken-

62 Vgl. Rosenberg, Das Brennglas, S. 126–128 sowie LAB, C Rep. 118–01, Nr. 35170, OdF-Akte, van Alphin, Anna, Blatt 2 und allgemeiner Margalit, Zwischen Erziehung und Vernichtung, S. 483. 63 Vgl. Reuss, Kontinuitäten der Stigmatisierung, S. 100. 64 Vgl. Margalit, Die Nachkriegsdeutschen, S. 118f. Für das Zitat: Anordnung an den Oberbürgermeister von Berlin von der alliierten Kommandatura Berlin am 17. Oktober 1945, LAB C Rep. 118-01, Nr. 39041 Materielle Unterstützung der Opfer des Faschismus, Blatt 37. 65 Vgl. Heike Schroll, Vorwort, in: Landesarchiv Berlin (Hrsg.), Findbuch. C Rep. 118-01. Hauptausschuss „Op- fer des Faschismus“ (OdF)/ Referat Verfolgte des Naziregimes (VdN), Berlin 2006, S. III. 66 Vgl. Reuss, Kontinuitäten der Stigmatisierung, S. 129. 67 Vgl. Margalit, die Nachkriegsdeutschen, S. 126–128 und Margalit, Zwischen Erziehung und Vernich- tung, S. 486. 68 Vgl. Margalit, Die Nachkriegsdeutschen, S. 117, 127–129. 126 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

nung im Gegensatz zu anderen Verfolgtengruppen an einen festen Wohnsitz oder Arbeitsplatz.69 Diese diskriminierende Zusatzregelung war insofern besonders hart, da es Sinti*zze und Rom*nja auf dem Wohnungsmarkt der antiromaistischen Dominanzgesellschaft sehr schwer hatten und außerdem insgesamt eine hohe Arbeitslosigkeit unter den O.d.F. herrschte.70 Auch wenn genaue Erhebungen fehlen, wird davon ausgegangen, dass deutschlandweit mehrere hundert Sinti*zze und Rom*nja Anerkennungsanträge stellten und einige von ihnen auch angenommen wurden. In Düsseldorf wurden jedoch beispielsweise bis 1948 nur 19 von 138 Anträgen positiv beschieden.71 Für Ostberlin konnten diesbezüglich leider keine Zahlen ermittelt werden.

Viele der Überlebenden Sinti*zze und Rom*nja mieden jedoch insgesamt den Kontakt zu Behör- den und Ämtern, da sie eine erneute Erfassung und Diskriminierung durch die Behörden zu Recht fürchteten.72

4.1. Die anhaltende Stigmatisierung von Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja

In Berlin wurde die Anerkennung und Betreuung der O.d.F., wie eingangs bereits erwähnt, vom Hauptamt für Opfer des Faschismus organisiert, das am 6. Juni 1945 gegründet wurde, eng mit den Bezirksstellen zusammenarbeitete und bei der Abteilung für Gesundheits- und Sozialwesen des Berliner Magistrats angesiedelt war.73

Daher soll an dieser Stelle nun noch einmal genauer auf die diskriminierende Praxis bei Anerken- nungsverfahren eingegangen werden, die, den Akten nach, auch beim Berliner Hauptamt für Op- fer des Faschismus Anwendung fand. Ein Betroffener war Richard R., der 1941 in Bresslau und ab 1943 in den Konzentrationslagern Buchenwald, Mittelbau-Dora und Sachsenhausen inhaftiert war und dort an Tuberkulose erkrankte.74 Laut eines Interviews mit dem Publizisten Reimar Gilsenbach vom 4. August 1968, das in der Akte dokumentiert ist, stellte R. 1946 erstmals einen Antrag auf An- erkennung als O.d.F., wurde jedoch abgelehnt, weil er in den Augen des Sachbearbeiters keinen festen Arbeitsplatz vorweisen konnte. Erst im April 1969 wurde er nach einem zweiten Versuch anerkannt.

Auch Otto R., der das Konzentrationslager Auschwitz überlebte und am 28. Juli 1946 seinen An- trag stellte, bekam gut zwei Wochen später die Nachricht vom Hauptamt für Opfer des Faschismus,

69 Vgl. Pientka, Das Zwangslager, S. 188. 70 In Bayern beispielsweise waren es 1950 ca. 60%. Vgl. Margalit, Die Nachkriegsdeutschen, S. 138. 71 Vgl. Margalit, Die Nachkriegsdeutschen, S. 133. 72 Vgl. Peter Widmann, An den Rändern der Städte, S. 43. 73 Vgl. Schroll, Vorwort, in: Landesarchiv Berlin (Hrsg.), Findbuch. C Rep. 118-01, S. III. 74 Zu diesen und weiteren Informationen zu Richard R., vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 27164, OdF-Akte, R., Richard, Akte nicht nummeriert. Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 127

dass sein Antrag erst bearbeitet werden könne, wenn er einen Arbeitsnachweis erbracht hätte.75 Als es knapp vier Jahre später um seinen Rentenantrag ging, wurde dieser vom Hauptamt für Opfer des Faschismus an die Versicherungsanstalt Berlin, Rentenabteilung für Opfer des Faschismus mit den Worten weitergeleitet: „[...] unter Hinweis auf unseren Vermerk, wonach bei Zigeunern eine strenge Untersuchung auf ihre Arbeitsfähigkeit anzulegen ist.“76 Bei Kurt A. und Josef Peter- mann fanden ähnliche Vorgänge statt.77

Auch außerhalb der Anerkennungsverfahren kam es zu Diskriminierung oder zumindest zu äu- ßerst hartem Vorgehen gegen Sinti*zze und Rom*nja. Ein Beispiel dafür ist Willy R., der laut seinem Anerkennungsantrag 1942 zuerst nach Ausschwitz deportiert wurde und dann bis März 1945 „in verschiedenen k.z. Lägern“ inhaftiert war.78 Am 21. November 1946 in Berlin als O.d.F. anerkannt, wurde ihm dieser Status schon am 30. April 1947 wieder für sechs Monate entzogen, nachdem er und sein Bruder beschuldigt worden waren, Bäuer*innen in Prenzlau beim Einkaufen von Waren bedroht zu haben.79 Ob diese Beschuldigungen der Wahrheit entsprachen, konnte in den Quellen nicht mehr ermittelt werden, jedenfalls vermerkte das Hauptamt für Opfer des Faschismus in der Akte: „Es ist selbstverständlich untragbar, dass derartige Elemente als O.d.F. ihre Anerkennung ha- ben.“80

Im Jahr 1953 wurde R. die Anerkennung erneut entzogen, weil er angeblich Handel auf illega- len Märkten an der Sektorengrenze betrieben hatte.81 Das Polizeirevier 14 schrieb dem Hauptamt dazu auf Anfrage, dass zwar keine aktuellen Vorgänge vorlägen, R. jedoch „vor längerer Zeit als Schwarzmarkthändler oftmals in Erscheinung getreten ist.“82 Eine Verurteilung diesbezüglich gab es nicht. Erst als R. dagegen Beschwerde einlegte, wurde die Aberkennung im Juni 1953 zurück- genommen. Im Urteil des zuständigen Ausschusses hieß es als Begründung dazu unter anderem: „Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer einem Milieu entstammt, indem die ge- regelte Arbeit nicht Inhalt des Lebens war.“83

Die Geschichte von Willy R. zeigt, dass auch erfolgreich als O.d.F. anerkannte Sinti*zze und Rom*nja in Berlin nicht von existenzbedrohender Kriminalisierung und antiromaistischen Stereotypen ver-

75 Das Schreiben des Hauptamtes ist vom 14.08.1946. Vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 31512, OdF-Akte, R., Otto, Blatt 1 und 4. 76 Das Schreiben ist vom 6.6.1950. Ebd. Blatt 24. 77 Vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 35256, OdF-Akte, A., Kurt, Blatt 27 und LAB, C Rep. 118-01, Nr. 33361, OdF-Ak- te, Petermann, Josef, Blatt 4. 78 Vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 31505, OdF-Akte, R., Willy, Blatt 2, 3. 79 Vgl. ebd., Blatt 5, 6, 15. 80 Ebd., Blatt 6. 81 Vgl. ebd., Blatt 35. 82 Ebd., Blatt 36. 83 Ebd., Akte nur bis Nummer 36 nummeriert, deswegen keine Blattangabe. 128 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

schont blieben. So waren Tauschgeschäfte auf illegalen Marktplätzen in Folge der Versorgungs- krise zwar illegal, doch auch in der Mehrheitsbevölkerung weit verbreitet und für viele überle- bensnotwendig.84 Selbiges galt für den Kauf von Lebensmitteln auf dem Land und auch Otto Rosenberg berichtet in diesem Zusammenhang von Streitigkeiten mit Bäuer*innen.85

Daraus Gründe zur Aberkennung des O.d.F. Status zu machen und R. somit die Existenzgrundlage zu entziehen, erscheint als äußerst hartes Vorgehen. Die Begründung des betreffenden Urteils fiel zwar zu Gunsten von R. aus, trotzdem war es antiromaistisch und widersprach den Tatsachen. So war Willy R. in den Konzentrationslagern vermutlich zu Zwangsarbeit verpflichtet, nach 1945 arbeitete er erst als Musiker, später unter anderem als Unterkassierer bei der Vereinigung der Ver- folgten des Naziregimes (VVN) bis 1952 und zum Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens als Kraft- fahrer.86 Wie in diesem Zusammenhang nicht von „geregelter Arbeit“ gesprochen werden kann, erschließt sich nicht.

Auch in anderen Quellen existieren Belege für die anhaltende Kriminalisierung und Stigmatisie- rung von Sinti*zze und Rom*nja.87 In der Akte von Christine Strauß, die im September 1946 an- erkannt wurde, findet sich beispielsweise der relativ zusammenhangslose, handschriftliche Ver- merk: „Zigeunerin, [...] macht ordentlichen Eindruck“, als müsste das explizit gemacht werden.88

Florian Erwald, der 1941 in ein Konzentrationslager in Polen deportiert wurde, wurde ebenfalls Opfer antiromaistischer Unterstellungen.89 Nachdem er am 29. April 1946 seine Anerkennung als O.d.F. erhalten hatte, stellt die VVN-Ortsgruppe im Herbst 1950 einen Ausschlussantrag gegen Er- wald als O.d.F. mit der Begründung: „[...] Moralisch war er sehr minderwertig, man kann ihn sogar als asozial bezeichnen, da er sich jahrelang um keine geregelte Arbeit bemühte [...].“90 Dass Erwald schon vorher eine Bescheinigung über 70 Prozent Erwerbsbehinderung eingereicht hatte, schien nicht von Bedeutung zu sein.91 In diesem Zuge wurde er auch bezichtig, Möbel verkauft zu haben, die ihm vom Staat geliehen worden waren.92 Das Hauptamt O.d.F. stellte daraufhin Recherchen an und bekam einige Monate später die Rückmeldung der zuständigen Verwaltungsstelle für Son-

84 Vgl. Reuss, Kontinuitäten der Stigmatisierung, S. 141. 85 Vgl. Rosenberg, Das Brennglas, S. 119 und 133f. 86 Vgl. OdF-Akte, R., Willy, Blatt 1,32, 35. 87 Zum Beispiel auch bei Karl Petermann und Anna Stockfisch. Vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 30506, OdF-Ak- te, Petermann, Karl und LAB, C Rep. 118-01, Nr. 35220, OdF-Akte, Stockfisch, Anna, Akte nicht numme- riert. 88 Vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 38466, OdF-Akte, Strauß, Christine, Akte nicht nummeriert. 89 Vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 33053, OdF-Akte, Erwald, Florian, Blatt 8. 90 Ebd., Blatt 3 und für das Zitat Blatt 15. 91 Vgl. ebd., Blatt 8. 92 Vgl. ebd., Blatt 15. Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 129

dervermögen, dass diese Erwald die Möbel dauerhaft und kostenlos übereignet hatten.93 Damit löste sich der Vorwurf gegen ihn in Luft auf. Florian Erwald war inzwischen nach Westdeutschland gezogen.94

Die folgende Geschichte von Hans S. zeigt auf, wieso die gemeinsame Betrachtung von anhalten- der Stigmatisierung und Wohnverhältnissen sinnvoll ist. Geboren wurde Hans S. am 15. März 1925 und war seit 1941 in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert, darunter Buchenwald, Dach- au und Sachsenhausen. Am 30. August 1946 wurde er offiziell als O.d.F. anerkannt.95 Damals noch wohnhaft in der Lottumstraße 14, zog er später ein paar Ecken weiter in die Fehrbellinerstraße 87. Dort wohnte er zusammen mit Josef Petermann in einer Wohnung. Am 2. Dezember 1947 ging ein Schreiben des Hauswartes bei der Bezirksstelle für Opfer des Faschismus in Prenzlauer Berg ein, in dem er die beiden unter anderem beschuldigte, im Haus regelmäßig große Treffen abzuhalten, die mit Radau, Schlägereien und Zerstörung des Hauses enden würden. Außerdem hätten die beiden ein lebendes Kalb in die Wohnung transportiert und dort geschlachtet, sowie die Nach- bar*innen bedrängt, ihnen Schmuck zu verkaufen.96 Abschließend bat der Hauswart die Bezirks- stelle O.d.F. um „Bekanntgabe Ihrer Maßnahmen.“97 Auch wenn es in dem Schreiben nicht explizit steht, wird zwischen den Zeilen deutlich, dass der Hauswart die beiden Sinti am liebsten aus dem Haus gehabt hätte. Die Frage bleibt offen, ob der Hauswart große Zusammenkünfte von anderen Mieter*innen nicht ganz anders wahrgenommen und beschrieben hätte. Weder in der Akte von S. noch in der Akte von Josef Petermann finden sich weiteren Vermerke zu diesem Verlauf. Daher kann nicht mehr geklärt werden, ob sich die Beschuldigungen entweder als nicht wahr erwiesen oder vom Hauptamt für Opfer des Faschismus aus anderen Gründen nicht weiter verfolgt wurden.98

An diesem Fall wird deutlich, dass die Stigmatisierung von Sinti*zze und Rom*nja im äußersten Falle konkrete Auswirkungen auf die Wohnsituation von ihnen hätte haben können, auch wenn das bei S. nicht der Fall war.

4.2. Die Wohnsituation Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja

Die Wohnsituation dieser Gruppe zu ermitteln, ist nicht leicht. Der Grund dafür ist, dass die Wohn-

93 Vgl. ebd., Blatt 25, 27. 94 Vgl. ebd., Blatt 30. 95 Zu diesen und den bisherigen Informationen zu Hans S., vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 32976, OdF-Akte, S., Hans, Blatt 1. 96 Vgl. ebd., Blatt 27. 97 Ebd., Blatt 27. 98 Vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 33361, OdF-Akte, Petermann, Josef. 130 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

raumvergabe von den Wohnungsämtern in den Bezirksabteilungen für Sozialfürsorge und Ge- sundheitswesen organisiert wurde, deren Akten im Landesarchiv jedoch noch nicht erschlossen sind oder nicht überliefert wurden. Das bedeutet auch, dass Briefe, Telefonate und Gespräche zwi- schen O.d.F. und Wohnungsamt, in denen es um die Wohnsituation ging, nicht mehr vorhanden sind. Rückschlüsse lassen sich also hauptsächlich über die Meldeadressen sowie Sonderunterstüt- zungsanträge der Sinti*zze und Rom*nja treffen. Zusätzlich wurden einige allgemeinere Informa- tionen zur Wohnsituation von O.d.F. insgesamt ausgewertet.99

Die eingesehenen Akten zeigen, dass Sinti*zze und Rom*nja über das gesamte Ostberliner Stadt- gebiet verteilt waren, wobei die meisten Akten Wohnorte in Prenzlauer Berg und Mitte auswei- sen.100 Aus den ermittelten Meldeadressen kann auch geschlossen werden, dass es ihnen ermög- licht wurde, in Wohnungen zu leben, was, wie oben bereits gezeigt, nicht in allen Städten der Fall war.101 Trotzdem war die Wohnsituation keinesfalls gut. Deutlich geht das aus den Protokollen der Bezirksleiter*innensitzungen hervor, die alle zwei Wochen stattfanden und von Verantwortlichen aus dem Hauptamt für Opfer des Faschismus sowie den Bezirksstellen besucht wurden. Darin tau- chen immer wieder Berichte über die schlechten Wohnverhältnisse von O.d.F. auf.102 Im Protokoll vom 27. Juni 1949 wurde beispielsweise knapp und beinahe resigniert vermerkt: „Es wurde weiter über das Wohnungselend der OdF Klage geführt“103 und am 31. Oktober 1949 wurde protokolliert: „Es wurde festgestellt, dass große Wohnungsnot unter den OdFs besteht und sie beim Wohnungs- amt nicht immer berücksichtigt werden.“104

Auch die Abteilung Bau- und Wohnungsamt aus dem Bezirksamt Prenzlauer Berg meldete, dass im Dezember 1946 noch 80 anerkannte O.d.F. keine Wohnung hatten. Einordnend muss an dieser Stelle jedoch gesagt werden, dass über andere Wohnungslose hier nichts geschrieben und zum gleichen Zeitpunkt auch über 3300 weitere Personen gemeldet wurden, die in menschenunwür-

99 Diese sind entnommen aus: LAB, C Rep. 118-01, Nr. 39041, Materielle Unterstützung der Opfer des Fa- schismus. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 39060, Erfassung der Wohnverhältnisse anerkannter VdN-Kameraden. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 39046, Betreuung der Opfer des Faschismus in den Stadtbezirken. LAB, C Rep. 134-10 Nr. 4, Verwaltungsberichte des Wohnungsamtes und des Amtes für Wohnungswesen. LAB, C Rep. 134-10 Nr. 6, Protokolle über die Arbeitsbesprechungen des Wohnungsamtes Prenzlauer Berg, der Ab- teilung Wohnungswesen. 100 Von den 38 insgesamt ermittelten Adressen befinden sich 16 in Prenzlauer Berg und neun in Mitte. Weitere Meldeadressen in: Friedrichshain, Lichtenberg und Treptow-Köpenick. Vergleiche die ausgewer- teten OdF-Akten, LAB, C Rep. 118-01, Nr. 26466, OdF-Akte, A., Helene bis LAB, C Rep. 118-01, Nr. 38466, OdF-Akte, Strauß, Christine. 101 Siehe Seite 10 in dieser Arbeit. 102 Vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 39046, Betreuung der Opfer des Faschismus in den Stadtbezirken, Blatt 42, 47. 103 Ebd., Blatt 41. 104 Ebd., Blatt 51. Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 131

digen oder nicht winterfesten Behausungen leben mussten.105

In beiden Quellen werden Sinti*zze und Rom*nja nicht explizit erwähnt. Es kann also weder mit Sicherheit gesagt noch ausgeschlossen werden, dass sie ebenfalls von diesen Mitteilungen be- troffen waren.

Besonders ausführlich ist die Wohnsituation von Helene Rose in ihrer knapp hundertseitigen Akte nachvollziehbar. Geboren am 10. Mai 1921 wurde sie 1938 in das KZ Ravensbrück deportiert und dort bis zu ihrer Befreiung im April 1945 festgehalten.106 Nachdem sie einige Zeit in Hamburg ver- brachte und dort bereits als O.d.F. anerkannt worden war, stellte sie am 16. Januar 1948 einen Antrag auf Anerkennung beim Hauptamt O.d.F. in Berlin und wurde eine knappe Woche später er- neut anerkannt.107 In Berlin lebte sie zuerst in der Neuen Schönhauserstraße 10, später in der Lot- tumstraße 9.108 Der älteste Verweis auf ihre Wohnsituation ist ein dokumentiertes Schreiben vom 31. Mai 1948 von der Bezirksstelle O.d.F. an das Bergungsamt in Prenzlauer Berg, in dem darum gebeten wurde, Rose Möbel zuzuweisen, da ihre Kellerwohnung vollkommen unmöbliert sei.109 Ein gutes Jahr später konnte Rose in die Dänenstraße 11 umziehen und stellte für diese Wohnung einen Antrag auf Zuschuss „für Instandsetzung einer zugewiesenen Wohnung“ am 4. Juli 1949, der mit 200 DM bewilligt wurde.110 Ein handschriftlicher Vermerk in der Akte vom 15. Juli 1949 verweist aber darauf, dass der Renovierungsbedarf so hoch war, dass diese Summe nicht ausreichte.111

Aufgrund des Antragsdatums ist davon auszugehen, dass Rose frühestens im Frühling 1949 aus den „menschenunwürdigen Kellerräumen“112 in die Dänenstraße 11 umziehen konnte. Diese Tat- sache kann ein Indiz dafür sein, dass als O.d.F. anerkannte Sinti*zze und Rom*nja, die eigentlich bevorzugt behandelt werden sollten,113 bei der Wohnraumvergabe diskriminiert wurden, denn bereits am 30. Juli 1948, also ein Jahr vorher, meldete das Bau- und Wohnungsamt des Bezirks, dass nur noch 170 Kellerwohnungen gezählt wurden, deren Bewohner*innen auf Grundlage des 20. Befehls des Militärkommandanten in bessere Wohnungen untergebracht werden sollten.114 Gleichzeitig zählte das Amt 89.000 intakte und 11.000 herstellbare Wohnungen und im Zeitraum

105 Vgl. LAB, C Rep. 134-10 Nr. 4, Verwaltungsberichte des Wohnungsamtes und des Amtes für Wohnungs- wesen, Aktenblätter nicht nummeriert. 106 LAB, C Rep. 118-01, Nr. 34232, OdF-Akte, Rose, Helene, Blatt 1, 2. 107 Vgl. ebd., Blatt 1 und 4. 108 Vgl. ebd., Blatt 1. 109 Vgl. ebd., Blatt 43. 110 Ebd., Blatt 34. 111 Vgl. ebd., Blatt 33. 112 Ebd., Blatt 33. 113 Siehe S. 12 in dieser Arbeit. 114 Vgl. LAB, Verwaltungsberichte des Wohnungsamtes. 132 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

vom 1. April 1947 bis zum 31. März 1948 Wohnungszuweisungen von 9124 Personen.115 In Anbe- tracht dieser Zahlenverhältnisse und der Rose eigentlich zustehenden bevorzugten Behandlung aufgrund ihres Status als O.d.F., ist es unverständlich, wieso die zuständigen Behörden Rose nicht schneller in einer besseren Wohnung unterbringen konnten. Zusätzlich drängt sich die Frage auf, wieso ein anerkanntes O.d.F. 1948 überhaupt in eine Kellerwohnung ziehen musste, zu einem Zeitpunkt, zu dem deren Räumung mit Sicherheit schon geplant, wenn nicht sogar schon im Gan- ge war.

Doch auch mit der Renovierung der neuen Wohnung war längst noch nicht alles getan. Gut zwei Wochen später stellte sie erneut einen Antrag auf Sonderunterstützung für die Beschaffung von Möbeln. Auch dieser Antrag wurde befürwortet mit den einleitenden Worten eines Sozialob- manns: „Nach Überprüfung der Lage ist große Not vorhanden. Es sind weder Betten, noch Möbel, noch Lampen vorhanden.“116 Im Frühling 1950 und Winter 1953 stellte Helene Rose weitere An- träge auf Sonderunterstützung für die Anschaffung von Möbeln.117

Damit war sie nicht alleine. In den Akten von Anna van Alphin, Sophie F., Florian Erwald, Anna Stockfisch und Paul F. finden sich ebenfalls explizite Verweise auf die schlechte Möblierung ihrer Wohnungen und vermutlich waren weitere Sinti*zze und Rom*nja davon betroffen, denn die Ak- ten enthalten eine Vielzahl von Sonderunterstützungsanträgen, deren Begründung nicht schrift- lich erfolgte oder nicht überliefert ist.118 Als weiterer Beleg können auch hier die Protokolle der Bezirksleiter*innensitzungen angeführt werden, in denen mehrmals Diskussionen über Möbelbe- schaffungen für O.d.F. festgehalten wurden.119 Die Sonderunterstützungsanträge für Möbel sind leider die einzigen Informationen, die von der Kommunikation zwischen zuständigen Ämtern und O.d.F. über ihre Wohnsituation überliefert wurden, denn, wie eingangs erwähnt, waren für Fragen zum Wohnraum eigentlich die Bezirksstellen verantwortlich. Es ist daher davon auszugehen, dass die Probleme mit der Möblierung nur die Spitze des Eisbergs waren und sich darunter, wie bei Helene Rose, weitaus größere Probleme verbargen.

Um dieses Kapitel abzuschließen, soll noch einmal der Blick auf das Zwangslager in Berlin-Mar-

115 Vgl. ebd. 116 Antragsdatum war der 21.07.1949. Vgl. LAB, OdF-Akte, Rose, Helene, Blatt 39. 117 Vgl. ebd., Blatt 21 und 61. 118 Vgl. LAB, OdF-Akte, van Alphin, Anna, Blatt 13, LAB, C Rep. 118-01, Nr. 33576, OdF-Akte, F., Sophie, Akte nicht nummeriert, LAB, OdF-Akte, Erwald, Florian, Blatt 15 sowie LAB, OdF-Akte, Stockfisch, Anna, Akte nicht nummeriert und LAB, C Rep. 118-01, Nr. 34140, OdF-Akte, F., Paul, Akte unvollständig nummeriert. 119 Dies war beispielsweise der Fall am 18.10.1948 und am 3.10.1949, vgl. LAB, Betreuung der Opfer des Faschismus in den Stadtbezirken, Blatt 22 und 47. Außerdem am 24.5.1948, vgl. LAB, C Rep. 118-01, Nr. 39041, Materielle Unterstützung der Opfer des Faschismus, Blatt 52. Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 133

zahn gerichtet werden. Obwohl es kurz vor Kriegsende durch Bombenangriffe zerstört worden war, lebten auch nach 1945 noch ehemalige Häftlinge an dem ansonsten verlassenen Ort. Helene A. beispielsweise, von der in Kapitel drei bereits berichtet wurde, gab in ihrem Antrag auf Anerken- nung als O.d.F. am 7. Juni 1966 an, dass sie bis 1947 auf dem Platz des ehemaligen Zwangslagers Marzahn gewohnt hatte.120 Im Antrag von Harry F. vom 2. Mai 1949 ist ebenfalls „Berlin-Marzahn, Rastplatz“ als Wohnort vermerkt und auch Emil L. sagte aus, noch nach 1945 auf dem Gelände gelebt zu haben.121 Da Harry F. erst im November 1935 geboren wurde, 1949 also erst 13 war und Emil L. mehrere Kinder hatte, kann vermutet werden, dass auch ihre Familienmitglieder mit ihnen in dem ehemaligen Zwangslager lebten.122 Eindeutige Belege dafür konnten jedoch nicht gefun- den werden. Diese Geschichten illustrieren eindrücklich, wie schlecht die Lebensumstände eini- ger Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja gewesen sein müssen.

Schluss

Wie waren die Lebensumstände von Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja, insbesondere ihre Wohn- situation und die anhaltende Stigmatisierung, der sie sich ausgesetzt sahen? Darüber lässt sich auch unter Berücksichtigung dieser Arbeit nur schwer eine pauschale Aussage treffen, denn die Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja gab es nicht, natürlich nicht. Es gibt zahlreiche Aspekte an- hand derer die Individuen dieser vermeintlichen Gruppe unterschieden werden könnten: Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, ökonomische Situation, Staatsangehörigkeit, Familienstand, Lebensform und viele mehr. Ein besonders prägnanter Aspekt, der auch für diese Arbeit von gro- ßer Bedeutung ist, war in den Nachkriegsjahren jedoch die Frage der Anerkennung als Opfer des Faschismus, denn damit gingen berechtigterweise eine Reihe von Privilegien einher – zumindest theoretisch. In der Praxis wurde nur ein Teil der antragsberechtigten Sinti*zze und Rom*nja in Ostberlin anerkannt. Die Gründe dafür sind Gegenstände eigener Forschungsarbeiten gewesen, einige wurden erwähnt. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann gesagt werden: Richard R. war kein Einzelfall. Die vielen Sinti*zze und Rom*nja, die nicht anerkannt wurden, erhielten demnach auch keine Privilegien und es ist davon auszugehen, dass sich ihre Wohnverhältnisse und auch die An- feindungen, denen sie sich ausgesetzt sahen, sehr deutlich von denen der anerkannten O.d.F. unterschieden.123 Teilweise mittellos, krank und traumatisiert wurden sie durch den anhaltenden

120 Vgl. LAB, OdF-Akte, A., Helene, Blatt 1. 121 LAB, C Rep. 118-01, Nr. 34003, OdF-Akte, F., Harry, Blatt 1 sowie LAB, C Rep. 118-01, Nr. 33731, OdF-Akte, L., Emil, Blatt 21. 122 Vgl. ebd. 123 Hinweis dafür ist die Wohnsituation von Helene A. vor ihrer Anerkennung, siehe S. 19 in dieser Arbeit. 134 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

Antiromaismus von der Gesellschaft isoliert. Doch das sind nur Vermutungen, Quellen zu den Schicksalen dieser Personengruppe konnten im Rahmen dieser Arbeit nicht fruchtbar gemacht werden. Das heißt jedoch nicht, dass es sie nicht gab, denn gerade die Oral History, die langsam Einzug in die schriftzentrierten Geschichtswissenschaften erhält, bietet dahingehend vermutlich ein großes Potential für weitere Forschungen.

Die Ergebnisse dieser Arbeit beschränken sich also hauptsächlich auf die als O.d.F. anerkannten Sinti*zze und Rom*nja in Ostberlin. Ihre Situation war besser als in einigen anderen deutschen Städten, dennoch war sie nicht gut. Es wurde eine Vielzahl von Ereignissen und Praxen dokumen- tiert, die die Diskriminierung und Stigmatisierung von Sinti*zze und Rom*nja belegen. Sowohl institutionell durch die Anerkennungsverfahren oder Handlungsweisen der Behördenmitarbei- ter*innen als auch allgemein gesellschaftlich durch Anfeindungen von Nachbar*innen oder Kol- leg*innen wie bei Hans S. und Florian Erwald.

Das Urteil über die Wohnsituation muss etwas differenzierter ausfallen. Zwar war auch diese oft- mals nicht gut, jedoch waren die Zustände in Ostberlin insgesamt schwierig, wie beispielsweise aus den Akten des Bau- und Wohnungsamtes Prenzlauer Berg hervorgeht. Trotzdem belegt auch hier die Geschichte von Helene Rose eindeutig, dass Sinti*zze und Rom*nja nicht immer so behan- delt wurden, wie es ihnen zugestanden hätte, und wahrscheinlich ist Rose ebenfalls kein Einzelfall gewesen.

Aber lassen sich hier Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus feststellen?

Wenn man dem Duden folgt, der eine Kontinuität als einen „gleichmäßigen Fortgang von etwas“ beschreibt,124 muss diese Frage mit Blick auf Ostberlin mit ‚Nein’ beantwortet werden, denn ein- deutig gab hier es keine Deportationen in Konzentrationslager, keine Inhaftierung in Zwangslager und keine Fortsetzung des Genozids. Diese Definition ist jedoch sehr eng und für die Beantwor- tung der Forschungsfrage nur bedingt geeignet, denn wenn von politischen oder gesellschaft- lichen Kontinuitäten gesprochen wird, geht es nicht darum, dass Prozesse unverändert fortlaufen, sondern eher um die Frage, welche Argumentationsmuster und Strategien zur Durchsetzung von Interessen verwendet werden, welche Gruppen dominante Positionen in der Gesellschaft beset- zen und wie diese mit ihrer Macht umgehen.

Mit Blick auf die Wohnungslage ist die Frage nach der Kontinuität für Ostberlin schwieriger zu beantworten als für einige andere deutsche Städte, in denen diese Kontinuitäten offensichtlich

124 Duden, Kontinuität, https://www.duden.de/rechtschreibung/Kontinuitaet, abgerufen am 28.09.2019. Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 135

waren. Das Sinti*zze und Rom*nja in Wohnungen untergebracht wurden, ist ein deutlicher Bruch mit der nationalsozialistischen Praxis, trotzdem konnten auch hier schlechte Wohnverhältnisse be- legt werden. In diesem Zusammenhang von Kontinuitäten zu sprechen, erscheint unangemessen, eindeutig ist jedoch, dass die Wohnsituation nicht so war, wie es den Sinti*zze und Rom*nja nach dem erfahrenen Leid des Porajmos zugestanden hätte.

Nach Auswertung der Quellen ergibt sich in Bezug auf die anhaltende Stigmatisierung von Sin- ti*zze und Rom*nja ein anderes Fazit, denn hier fanden sich nach 1945 eindeutig dieselben Ste- reotype, die auch im Nationalsozialismus verbreitet waren: Kriminalität, Arbeitsscheue, „Asoziali- tät“. Durch diese wurden Sinti*zze und Rom*nja anhaltend diskriminiert und verletzt. Und leider hält diese Stereotypisierung bis heute an.

„Wie angenehm wären Ihnen Sinti und Roma als Nachbarn in Ihrer Nachbarschaft?“125

125 Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung, S. 149. 136 Malte Fischer / Die junge Mommsen 2020 (01)

Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen

Archive: Landesarchiv Berlin, im Folgenden LAB

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 26466, OdF-Akte, A., Helene.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 27164, OdF-Akte, R., Richard.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 30190, OdF-Akte, Rose, Peppi.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 30506, OdF-Akte, Petermann, Karl.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 31505, OdF-Akte, R., Willy.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 31512, OdF-Akte, R., Otto.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 32976, OdF-Akte, S., Hans.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 33053, OdF-Akte, Erwald, Florian.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 33361, OdF-Akte, Petermann, Josef.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 33366, OdF-Akte, Rose, Amalie.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 33576, OdF-Akte, F., Sophie.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 33731, OdF-Akte, L., Emil.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 34003, OdF-Akte, F., Harry.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 34008, OdF-Akte, Herzberg, Luise.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 34092, OdF-Akte, Trollmann, Hermine.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 34140, OdF-Akte, F., Paul.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 34232, OdF-Akte, Rose, Helene.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 35110, OdF-Akte, Rose, Johannes.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 35170, OdF-Akte, van Alphin, Anna.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 35220, OdF-Akte, Stockfisch, Anna.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 35256, OdF-Akte, A., Kurt.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 35268, OdF-Akte, R., Otto.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 38464, OdF-Akte, S., Fritz. Die Lebensumstände Ostberliner Sinti*zze und Rom*nja in den Nachkriegsjahren 137

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 38465, OdF-Akte, S. Ursula.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 38466, OdF-Akte, Strauß, Christine.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 39041, Materielle Unterstützung der Opfer des Faschismus.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 39060, Erfassung der Wohnverhältnisse anerkannter VdN-Kameraden.

LAB, C Rep. 118-01, Nr. 39046, Betreuung der Opfer des Faschismus in den Stadtbezirken.

LAB, C Rep. 134-10 Nr. 4, Verwaltungsberichte des Wohnungsamtes und des Amtes für Wohnungs- wesen.

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Die Deutsche Wochenschau im Dritten Reich Analysiert im Kontext der Niederlage vor Stalingrad am Beispiel der Deutschen Wochenschau Folge 648 vom 03.02.1943

Julius Rülke

Humboldt-Universität zu Berlin

Diese Arbeit wurde ursprünglich im Rahmen eines Bachelorstudiums als Seminararbeit im Einführung- skurs „Imperien und Nationen in alltagsgeschichtlichen Bezügen" eingereicht.

Inhalt

Einleitung...... 140 1. Inhalt der Deutschen Wochenschau Folge 648...... 142 2. Bild...... 144 3. Ton...... 145 3.1. Filmmusik ...... 146 3.2. Originalton...... 147 Schluss ...... 148 Quellen- und Literaturverzeichnis...... 149

Einleitung

„Die Nachrichtenpolitik ist ein Kriegsmittel. Man benutzt es, um Krieg zu führen, nicht um Informa- tionen auszugeben“, schreibt Joseph Goebbels am 10. Mai 1942 in sein Tagebuch.1

Zum Zeitpunkt dieser Eintragung wurde die Deutsche Wochenschau schon seit zwei Jahren, nach der Zusammenlegung verschiedener Wochenschauen unter einem Einheitstitel, wöchentlich in

1 Zitiert nach: Francis Courtade/Pierre Cadars, Geschichte des Films im Dritten Reich, München und Wien 1972, S. 16. Die Deutsche Wochenschau im Dritten Reich 141

Kinos vorgeführt und erreichte große Teile der deutschen Bevölkerung.2 Als eines der wichtigsten Propagandamittel der Nationalsozialisten beeinflusste sie die Meinungsbildung. Die Herstellung wirksamer Propaganda stellte zu Beginn des Krieges angesichts der frühen Erfolge keine große Herausforderung dar. In der Darstellung endloser Einzelerfolge bezüglich des Russlandfeldzu- ges, ohne den erwarteten abschließenden Sieg vermelden zu können, verlor die Deutsche Wo- chenschau jedoch zunehmend an Glaubwürdigkeit. Vor diesem Hintergrund ist besonders auf- schlussreich, wie die Deutsche Wochenschau auf die Ereignisse in Stalingrad Anfang Februar 1943 reagierte, einen der ersten großen militärischen Rückschläge des Russlandfeldzuges. Nach fünf- monatiger erfolgloser Besetzung der Stadt mussten die eingekesselten deutschen Streitkräfte der Sechsten Armee am 03. Februar 1943 ihre Kapitulation verkünden. Auf deutscher Seite wurden etwa 150.000 Tote verzeichnet, ungefähr 107.000 Männer gingen in die sowjetische Kriegsgefan- genschaft.3

In der folgenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie die Kriegssituation im Zeitraum der Niederlage vor Stalingrad in der Deutschen Wochenschau dargestellt wurde. Die Arbeit geht von der Annahme aus, dass die Deutsche Wochenschau den Zuschauer primär, unter anderem durch den künstlerischen Einsatz von Bild und Ton, auf einer emotionalen Ebene anstatt auf einer infor- mativen ansprach und geht der Frage nach, wie dies im Einzelnen erreicht wurde. Dazu wird die Folge 648, die am Tag der Bekanntgabe der Kapitulation erschien, im Hinblick auf ihre inhaltlich informative Ebene im Zusammenspiel mit der Machart von Ton und Bild und hierbei insbesondere auf sich wiederholende Motive und Wirkungsweisen analysiert.

Neben der Monographie Die Wochenschau im Dritten Reich: Entwicklung und Funktion eines Mas- senmediums unter besonderer Berücksichtigung völkisch nationaler Inhalte von Ulrike Bartels und einigen kürzeren Aufsätzen von Kay Hoffmann und Claudia Helms wurde die Propaganda des Dritten Reiches zumeist auf die politische Struktur des Propagandaapparates untersucht, siehe beispielhaft Politik der Täuschungen von Fritz Sänger, oder aber auf die Erzeugnisse in Form von Spielfilmen oder Zeitungen, siehe beispielhaft Geschichte des Films im Dritten Reich von Francis Courtade und Pierre Cadars oder Presselenkung im NS-Staat von Karl-Dietrich Abel. Die Deutsche Wochenschau wurde in der Forschungsliteratur erst später genauer beleuchtet. In diese neue Sicht ordnet sich die dezidiert auf die analytische Betrachtung einer einzelnen Folge gerichtete Arbeit ein.

2 Vgl. Peter Bucher, Goebbels und die Deutsche Wochenschau. Nationalsozialistische Filmpropaganda im Zweiten Weltkrieg 1939–1945, in: MGZ 40 (1986), S. 54. 3 Vgl. Friedrich Kießling u. a., Stalingrad, in: Gernot Dallinger (Hrsg.), Weltgeschichte der Neuzeit. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bonn 2005, S. 284–285. 142 Julius Rülke / Die junge Mommsen 2020 (01)

1. Inhalt der Deutschen Wochenschau Folge 648

Die Deutsche Wochenschau Folge 648 hat eine Gesamtdauer von 22:01 Minuten, Sie lässt sich in zwei Hauptblöcke mit mehreren Unterthemen unterteilen. Der erste Block wird im ersten Fünftel der Folge gezeigt (00:00:00 - 00:04:13). Nach einer kurzen Sequenz, die Wirtschaftsverhandlungen zwischen dem Deutschen Reich und Japan zeigt, wird auf die Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Machtergreifung im Sportpalast und die in diesem Rahmen gehaltenen Reden von Joseph Goebbels und Hermann Göring eingegangen. Der zweite Block behandelt Geschehnisse an ver- schiedenen Frontabschnitten (00:04:13 - 00:22:01). Zuerst geht es um ein deutsches U-Boot im Atlantik, dann um einen Frontabschnitt in Tunesien und zuletzt, im längsten Teil, um drei verschie- dene Abschnitte an der Front in Russland (siehe Grafik 1).

Ein zentrales Motiv der Darstellung, welches dem üblichen Vorgehen der Deutschen Wochenschau entsprach, war die Inszenierung der Deutschen Armee als Verteidigungsmacht.4 In keinem der Frontberichte greift die Armee eigenständig an. Vielmehr muss sie sich fortwährend gegen nicht näher benannte oder datierte Angriffe von Amerikanern, Briten oder Russen wehren (00:10:17, 00:12:07, 00:18:53). Diese inhaltlich verdrehte Darstellung untermauert den Inhalt der Reden von Goebbels und Göring aus dem ersten Hauptblock, in denen beide mehrmals darauf verweisen, dass sich die deutsche Wehrmacht in einem Verteidigungskrieg zum Schutze Europas befinde. Am deutlichsten wird dies im Zusammenhang mit der russischen Front. In diesem Kontext werden Phrasen wie: „Sie eröffnen einen neuen Angriff der Bolschewisten, die Tag und Nacht ihre Panzer

4 Vgl. Ernest K. Bramsted, Goebbels And National Socialist Propaganda 1925–1945, East Lansing 1965, S. 265. Die Deutsche Wochenschau im Dritten Reich 143

(…) gegen unsere Stellungen anrennen lassen“ oder „(…) wo die Sowjets immer wieder neue Di- visionen ins deutsche Abwehrfeuer treiben“ genutzt (00:18:54, 00:21:01). Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sich die benannten deutschen Stellungen auf russischem und nicht auf deutschem Gebiet befanden. Mit dieser inhaltlichen Strategie wird der Angriffskrieg der Deut- schen in einen Verteidigungskrieg verwandelt, wodurch zum einen die Fortführung des Krieges legitimiert wird und anderseits der zunehmend negativer werdenden Stimmung des Volkes be- gegnet werden soll.5 Die Stimmung an der „Heimatfront“ gewann nach der Erkenntnis, dass der Krieg wesentlich länger als gedacht dauern würde, an Wichtigkeit.6 Deswegen sollte bei jedem Einzelnen ein Gefühl von persönlicher Bedrohung erzeugt werden, um ihn emotional stärker in den Krieg zu involvieren und seine Opferbereitschaft aufrechtzuerhalten.7

Eine Leitidee der deutschen Propaganda des Dritten Reiches war die Heroisierung der deutschen Soldaten.8 Dieses Ideal zeigt sich auch in Folge 648 der Deutschen Wochenschau und wird durch den Einsatz bestimmter sprachlicher Phrasen, wie „Jeder von ihnen hat Übermenschliches geleis- tet“ oder „Nur eine Front, die in eiserner Kameradschaft zusammenhält, kann diesen Kampf be- stehen“ (00:21:33, 00:19:31) umgesetzt. Als Reaktion auf die schlechte Frontsituation zielte die Ver- herrlichung der Soldaten in der Propaganda darauf ab, dass sich das deutsche Volk in der Heimat durch die „Opfer“ der Wehrmacht dem Krieg gegenüber verpflichtet fühlen sollte.9

Auffallend ist das Aussparen sämtlicher taktischer geographischer Information und der Zahlen von Opfern, was insgesamt für die Berichterstattung der Ostfront üblich war.1010 Dem Zuschauer wurden außerdem keinerlei Informationen zur Lage vor Stalingrad gegeben, das als Kriegsschau- platz ab dem 02. Dezember 1942 ohnehin gänzlich aus der Berichterstattung der Deutschen Wo- chenschau verbannt worden war.11

Der gesamte Informationsgehalt der Folge 648 der Deutschen Wochenschau lässt sich in zwei Kernaussagen zusammenfassen: „Deutschland befindet sich in einem Verteidigungskrieg, in dem es um die Vernichtung Europas geht“ und „Die deutschen Soldaten erbringen übermenschliche Leistungen an der Front“. Beide Aussagen zielen darauf ab, den Zuschauer emotional durch das Erzeugen von Angst, aber auch Zugehörigkeitsgefühl in den Krieg zu involvieren. Die Aussagen

5 Heinz Boberach analysiert die Stimmung des deutschen Volkes als zunehmend negativ anhand von SD-Bericht 356, vgl. Heinz Boberach, Meldungen aus dem Reich, Neuwied und Berlin 1965, S. 345–348. 6 Vgl. Courtade/Cadars, Geschichte, S. 212–214. 7 Vgl. Ulrike Bartels, Die Wochenschau im Dritten Reich. Entwicklung und Funktion eines Massenmediums unter besonderer Berücksichtigung völkisch nationaler Inhalte (EHHD Bd. 995), Frankfurt am Main 2004, S. 218. Vgl. auch Courtade/Cadars, Geschichte, S. 15. 8 Vgl. Bucher, Goebbels, S. 57. 9 Vgl. Bramsted, Goebbels, S. 262. 10 Vgl. Bucher, Goebbels, S. 61. 11 Vgl. ebd., S.61. 144 Julius Rülke / Die junge Mommsen 2020 (01)

werden dabei lediglich in den Raum gestellt, im Verlauf der Folge jedoch nicht durch weitere konkrete Informationen untermauert. Darüber hinaus werden dem Zuschauer jegliche taktische Informationen, die den Kriegsverlauf betreffen, vorenthalten. Inhaltliche Widersprüche und damit einhergehende Legitimationsprobleme wurden so umgangen und es wurde verhindert, dass sich der Zuschauer ein auf Fakten basierendes Bild machen konnte. In der Konsequenz der wenig aus- geprägten informativen Ebene entstand filmischer Leerraum, der durch den bewusst gesteuerten Einsatz von Bildern, Musik und Originalton gefüllt wurde.

2. Bild

Wesentlich für die Wirkungsweise sind verschiedene wiederkehrende Motive im Filmmaterial. Sol- che repetitiv genutzten Bilder in der Frontberichterstattung sind Einstellungen von gut gelaunten, sorgenfrei wirkenden Soldaten, die in dieser Art vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda verlangt wurden.12 Insgesamt werden zehn Einstellungen von lachenden und neun Einstellungen von essenden oder rauchenden Soldaten gezeigt. Beispielhaft für die Stimmung der Frontbilder steht eine Sequenz, die den Alltag auf einem deutschen U-Boot zeigen soll (00:04:13). Die Aufnahmen zeigen Männer in Badehosen, die bücherlesend auf Hochbetten liegen, einen Torpedo bemalen oder mit einem Kopfsprung ins Wasser springen. Diese unbeschwert wirken- den Bilder erinnern eher an Abenteuerurlaub als an Krieg. Keiner der deutschen Soldaten kommt zu Schaden und es steht keine drohende Gefahr im Raum. Das deutsche U-Boot trifft lediglich auf einen schwedischen Transporter und auf eine unbewaffnete amerikanische Privatjacht. Auch zur nordafrikanischen und zur Ostfront wird ein ähnliches Bild gezeichnet. Dem Zuschauer wer- den Soldaten Hammel essend und beim Friseur gezeigt. Diese beschwichtigenden Bilder lassen Sorgen gar nicht erst aufkommen und lassen Stimmung und Versorgungszustand der deutschen Truppen in einem positiveren Licht erscheinen.

In der Kriegsdarstellung im zweiten Hauptblock werden vermehrt Aufnahmen von Kriegsgeräten wie U-Booten, Artillerie und Kampfflugzeugen im Einsatz gezeigt.13 Dies hatte künstlerische sowie praktische Gründe. Das Festhalten des direkten Frontgeschehens war äußerst unsicher für die Ka- meraleute, weshalb die Regisseure oft auf inszenierte Vorstöße oder aber das Abbilden von groß- kalibrigen Geschützen im Fernkampf zurückgriffen. Das Festhalten von authentischen U-Boot An-

12 Kay Hoffmann stellt heraus, dass die Abbildung von gut gelaunten Soldaten ein oft wiederholtes Muster der Bildmotivik in der Deutschen Wochenschau darstellt, vgl. Kay Hoffmann, Der Mythos der perfekten Propaganda, in: Ute Daniel (Hrsg.), Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 174. 13 Courtade und Cadars zeigen auf, dass diese Art der Motive auch für Spielfilme üblich waren, vgl. Courta- de/Cadars, Geschichte, S. 198. Die Deutsche Wochenschau im Dritten Reich 145

griffen war zum Beispiel nicht möglich, da diese fast ausschließlich nachts stattfanden und somit das geeignete Licht fehlte.14 Deshalb wurde Material gestellter, tagsüber durchgeführter Angriffe verwendet, welches eigens für die Wochenschau gedreht wurde. Dem Zuschauer wurde durch den Schwerpunkt auf das Zeigen von Kriegsgeräten, vor allem Artilleriegeschütze, die technische Überlegenheit der deutschen Wehrmacht suggeriert. Dieser Schwerpunkt ist in Folge 648 beson- ders stark ausgeprägt. Beispielhaft dafür stehen zwei Sequenzen, in denen Artilleriegeschütze im Dauerfeuer an der russischen Front gezeigt werden (00:17:27 - 00:17:47, 00:19:36 - 00:20:15). Beide Filmabschnitte gewinnen vor allem durch ihre Länge von 20 und 39 Sekunden und ihre Platzie- rung jeweils am Ende einer thematischen Sequenz an Gewicht und werden durch die Tonmon- tage zusätzlich betont (siehe hierzu Kapitel 3.2). Weiterhin wurde die Darstellung des Krieges auf Maschinen verlagert, indem Bilder toter Soldaten, ob auf feindlicher oder eigener Seite, komplett ausgespart wurden.15 Stellvertretend wurden Aufnahmen verschiedener zerstörter Kriegsgeräte wie Panzer und Flugzeuge verwendet.

Durch den Bildschwerpunkt auf Kriegsmaschinen wird, neben der Demonstration technischer Überlegenheit, der Krieg aus einer unpersönlicheren Perspektive dargestellt. Gerade in Kombi- nation mit der Aussparung toter Soldaten wird das Bild eines Krieges erschaffen, in dem Krieg- smaschinen gegen andere Kriegsmaschinen kämpfen und der Mensch eher zweitrangig teilnim- mt und unversehrt bleibt. Der Widerspruch in der Propaganda, die beim Zuschauer ein „Erleben der Front“ erreichen sollte, aber gleichzeitig gerade die konkreten Bilder aussparte, die die Fron- terfahrung der Soldaten wesentlich geprägt haben dürften, den Zuschauer jedoch traumatisiert hätten, wird hier besonders deutlich.16 Zusammen mit den Bildern von lachenden deutschen Sol- daten, die vom Kriegselend verschont zu bleiben scheinen, wird die Kriegsdarstellung verzerrt. Die Bildauswahl beschwichtigt den Zuschauer, verstört nicht und lässt den „Endsieg“ nicht so un- wahrscheinlich erscheinen, wie es echte Bilder des realen Kriegselends getan hätten.

3. Ton

Die Tonebene im Film lässt sich in zwei Unterebenen aufspalten: die Filmmusik und den Original- ton. Der Originalton beinhaltet alles hörbare Nichtmusikalische, zum Beispiel Sprache und Soun- deffekte. Beide Ebenen werden im Folgenden genauer beleuchtet.

14 Vgl. Bartels, Wochenschau, S. 105–106. 15 Ulrike Bartels stellt heraus, dass diese Zensur auch für andere Folgen Deutsche Wochenschau war, vgl. Bartels, Wochenschau, S. 248. 16 Vgl. Bartels, Wochenschau, S. 112. 146 Julius Rülke / Die junge Mommsen 2020 (01)

3.1. Filmmusik

Die Filmmusik in der Deutschen Wochenschau nahm im Verhältnis zum Originalton und Sprecher eine prominente Stellung ein.17 Dies wird in Folge 648 schon durch die Menge der Musik deutlich. Während 22:01 gesamter Laufzeit, erklingt 19:22 lang Musik, davon sogar 11:27 im Vordergrund, also ohne einen Einsprecher oder Originalton der über der Musik liegt (siehe Grafik 2). Zum Einsatz kamen in seltenen Fällen originale Passagen aus Werken deutscher romantischer Komponisten, wie Richard Wagner und Franz Liszt. Weit häufiger waren, auch aus urheberrechtlichen Gründen, eigens für die Wochenschau komponierte Stücke, die sich jedoch stilistisch klar an die genannten Komponisten anlehnten.18 In Folge 648 wurde ausschließlich eigens für die Wochenschau kom- ponierte Marschmusik genutzt, die zur Spannungserzeugung und emotionalen Einfärbung der Bilder diente. Exemplarisch für den Musikeinsatz steht eine Bildsequenz marschierender Soldaten, angeblich im russischen Wald (00:15:22 - 00:15:46). Diese für sich betrachtet nicht besonders auf- regenden, eher eintönig wirkenden Bilder, wurden mit lauter Marschmusik unterlegt. Für das Er- zeugen des Gefühls einer besonderen Bedeutsamkeit werden drastische musikalische Mittel vom sequenzierenden Thema der Blechbläser bis zum Klang eines großen, den Rhythmus stark beto- nenden Orchesters genutzt. Emotional zielt die Musik darauf ab, die Bilder heroisch einzufärben. Sie blendet Irritationen, wie mögliche Gefahren für die Soldaten, völlig aus, lässt dem Zuschauer in ihrer Eindimensionalität wenig Platz für „eigene“ Empfindung und entspricht so der Leitidee der Heroisierung der deutschen Soldaten.19 Auffallend in der heutigen Betrachtung ist die Gegensätz- lichkeit der emotionalen Wirkung dieser marschierend heroischen „Vorwärtsmusik“, die dem Zu- schauer ein militärisches Vorankommen suggeriert zum tatsächlichen stockenden Kriegsverlauf.20

In Hans Jörg Paulis Analysemodell für Filmmusik, das sich auch für die Betrachtung der Deutschen Wochenschau fruchtbar machen lässt, wird zwischen verschiedenen Arten des Einsatzes von Film- musik in Bezug auf die Bildunterstützung unterschieden.21 Auffällig für die Filmmusik in Folge 648 der Deutschen Wochenschau ist der ausschließlich paraphrasierende Einsatz. Obwohl es teilweise zu dramaturgisch komplexeren Ton-Bild-Collagen kommt, wirkt die Musik immer bildunterstüt- zend. Sie ist dem Bild also klar untergeordnet und nimmt nie eine eigenständig kommentieren- de Rolle ein. Beispielhaft unterstützt die Filmmusik die Bilder Waffen ausladender Soldaten durch

17 Vgl. Claudia Helms, Tönende Wochenschau.Die Musik der Deutschen Wochenschau, in: Gerhard Paul u. a. (Hrsg.), Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen. 1889 bis heute, Bonn 2013, S. 247. 18 Vgl. Hoffmann, Mythos, S. 176. 19 Vgl. Bucher, Goebbels, S. 55. 20 Vgl. Bartels, Wochenschau, S. 100. 21 Das Analysemodell für Filmmusik wird hier von Hansjörg Pauli beschrieben, vgl. Hansjörg Pauli, Film- musik. Ein historisch-kritischer Abriß in: Hans Christian Schmidt (Hrsg.), Musik in den Massenmedien Rundfunk und Fernsehen. Perspektiven und Materialien, Mainz 1976, S.104f. Die Deutsche Wochenschau im Dritten Reich 147

eine spannungserzeugende Einfärbung und steigert sich dramaturgisch bis zu einer finalen Nah- aufnahme eines feuernden Großgeschützes. Kurz bevor der erste Schuss fällt, verstummt die Mu- sik und schafft so auf der Tonebene Raum für den Klang der Waffe (00:17:09 - 00:17:27). Diese Sequenz steht exemplarisch für den gesamten Musikeinsatz in Folge 648, denn die Musik ist dem Bild untergeordnet, unterstützt den durch den Bildschnitt vorgegeben Rhythmus maßgeblich und betont lediglich das im Bild und vom Einsprecher schon Gesagte.

3.2. Originalton

Neben der Musik wurde auch der Originalton der Deutschen Wochenschau aufwändig produz- iert und collagenartig mit Sprecher und Musik durchmischt. Während der Gesamtlänge von 22:01 ertönt nur während 04:54 Originalton, wovon ein überwiegend großer Teil von 03:18 aus Klängen von Waffen und Kriegsmaschinen besteht. Nicht nur der große Gesamtanteil der Waffenklänge ist auffällig, auch die Art der zeitlichen Platzierung lässt eine gewünschte Akzentuierung auf Artil- leriegeschütze sogar im Tonschnitt erahnen. Wie für den Tonschnitt der Deutschen Wochenschau üblich werden die drei Momente, an denen Musik und Sprecher länger als zwei Sekunden ver- stummen, ausschließlich dazu verwendet, um Kriegsklänge zu inszenieren, sie in der geschaff- enen Stille wirken zu lassen und den bereits erwähnten Bildschwerpunkt auf die Großaufnahmen der Artilleriegeschütze zusätzlich zu verstärken (siehe Grafik 2).22

Welche Bedeutung der Wirkung des Originaltons jener Bildsequenzen beigemessen wurde, wird aus der Machart ersichtlich. Da die mobile Tonaufnahmetechnik den hohen Lärmpegeln der Ges-

22 Vgl. Helms, Wochenschau, S. 251. 148 Julius Rülke / Die junge Mommsen 2020 (01)

chütze nicht gewachsen waren, wurden die dazugehörigen Originaltöne ab 1939 verworfen, höchst aufwändig in Deutschland auf Truppenübungsplätzen aufgenommen und später zum Bild hinzugefügt.23 Auch alle anderen Bilder von Kampfhandlungen wurden erst im Nachhinein mit unabhängig aufgenommen Originalton versehen.24

Schluss

In der Untersuchung der Folge 648 der Deutschen Wochenschau zeigt sich die grundlegende Problematik, der die Propaganda des Dritten Reiches ab 1942 begegnen musste. Die Leitideen der Verbindung des Zuschauers zur Front und der Heroisierung der deutschen Soldaten im Rah- men eines scheinbar dokumentarischen Formates waren angesichts der Erfolge zu Kriegsbeginn bis 1942 einfach umzusetzen. Je mehr sich der Kriegsverlauf jedoch für das Deutsche Reich zum Negativen wendete, desto weniger konkrete Information konnten übermittelt werden. Um allzu offensichtlich hervortretende Widersprüche zu vermeiden, trat die informative Ebene immer wei- ter in den Hintergrund. Der geringe informative Gehalt in Kombination mit dem bewussten Aus- sparen von Fakten zum realen Kriegsverlauf entzog dem Zuschauer die Informationsgrundlage. Der filmische Raum, der dadurch entstand, wurde genutzt, um den Zuschauer durch Bild und Ton emotional zu einer positiven Haltung zu beeinflussen. Besonders auffällig ist hierbei der überpro- portionale Einsatz emotionalisierender filmischer Stilmittel, beispielsweise spannungserzeugen- de Musik und Betonung bestimmter Bildmotive, was im Einzelnen in der Arbeit beleuchtet wurde.

23 Vgl. Bartels, Wochenschau, S. 99–101. 24 Vgl. Hoffmann, Mythos, S. 176. Die Deutsche Wochenschau im Dritten Reich 149

Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen

Hippler, Fritz, Die Deutsche Wochenschau Folge 648, Deutschland 1943, Ufa Film GmbH

Literatur

Bartels, Ulrike, Die Wochenschau im Dritten Reich. Entwicklung und Funktion eines Massenmedi- ums unter besonderer Berücksichtigung völkisch nationaler Inhalte (EHHD Bd. 995), Frankfurt am Main 2004.

Boberach, Heinz, Meldungen aus dem Reich, Neuwied und Berlin 1965.

Bramsted, Ernest K., Goebbels And National Socialist Propaganda 1925–1945, East Lansing 1965.

Bucher, Peter, Goebbels und die Deutsche Wochenschau. Nationalsozialistische Filmpropaganda im Zweiten Weltkrieg 1939–1945, in: MGZ 40 (1986), S. 53–69.

Courtade, Francis/Cadars, Pierre, Geschichte des Films im Dritten Reich, München und Wien 1972.

Helms, Claudia, Tönende Wochenschau. Die Musik der Deutschen Wochenschau, in: Gerhard Paul/ Ralph Schock (Hrsg.), Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen. 1889 bis heute, Bonn 2013, S. 246–251.

Hoffmann, Kay, Der Mythos der perfekten Propaganda, in: Ute Daniel (Hrsg.), Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 169–192.

Kießling, Friedrich u. a., Stalingrad, in: Gernot Dallinger (Hrsg.), Weltgeschichte der Neuzeit. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bonn 2005, S. 284–285

Pauli, Hansjörg, Filmmusik. Ein historisch-kritischer Abriß in: Hans Christian Schmidt (Hrsg.), Musik in den Massenmedien Rundfunk und Fernsehen. Perspektiven und Materialien, Mainz 1976. 150 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung Chancen und Herausforderungen einer integrierten Erfah- rungsgeschichte

Tabea Nasaroff

Humboldt-Universität zu Berlin

Diese Arbeit wurde ursprünglich im Rahmen eines Masterstudiums als Seminararbeit im Forschungs- seminar „Demokratie und Wissenschaft 1989/90" eingereicht.

Inhalt

Einleitung...... 150 1. Methodische Vorüberlegungen...... 153 1.1. Konturen einer integrierten Erfahrungsgeschichte...... 153 2. Der Kontext...... 155 2.1. Was war die Wissenschaftsgeschichte in Ost-Berlin?...... 155 2.2. Kontext einer Umwälzung...... 156 3. Handeln und Deuten...... 158 3.1. Die „Wende“ ...... 158 3.2. Die Abwicklung...... 162 3.2. Rückblicke...... 165 Schluss ...... 168 Quellen- und Literaturverzeichnis...... 170

Einleitung

Die Zeit der „Wende“ im Kontext von Wissenschaft und Forschung hat sowohl auf analytischer Ebene wie auch auf der Ebene persönlicher Erinnerung eine Vielzahl von Deutungen erhalten.1

1 Vgl. zur Kritik am Begriff der „Wende“: Robert Grünbaum/Rainer Eppelmann, Sind wir die Fans von Egon Krenz? Die Revolution von 1989/90 war keine „Wende“, in: Deutschland Archiv 37 (2004), S. 864–869; Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung 151

Während die„Hochschulerneuerung“ noch in vollem Gange war, erschienen zahllose Publikationen, die den Topos einer gescheiterten Umstrukturierung fütterten. Die Erneuerung wurde als „konservative Modernisierung“ charakterisiert, die keine „richtig neuen Ideen“ hervorgebracht habe und stattdessen nur eine Variante des westdeutschen Hochschulsystems darstellte. Der „Einigungsprozess“, schrieb 1993 der Studentensprecher der Universität Leipzig, Peer Pasternack, sei „ja lediglich die euphemistische Umschreibung einer gewaltsamen Struktur-, Werte- und Mentalitätsüberstülpung.“2 Aus der Perspektive vieler „Verlierer der Einheit“ war diese „Art ‚Erneue- rungs’-Politik durch obrigkeitliche Administration“ verantwortlich für einen Prozess, der Stellen einforderte und Biographien zerklüftete. Folgt man solchen Deutungsangeboten, überrascht es nicht, dass der Historiker Konrad Jarausch die Enttäuschung entlassener Wissenschaftler auf den Begriff einer unterstellten „politischen Säuberung“ zuspitzt.3 Alternative Darstellungen, die auf die Notwendigkeit einer personellen Umstrukturierung zur Überwindung von Diktatur verweisen und mit besonderem Nachdruck betonen, dass die Personalreduktion vor allem Finanzierungsproble- men geschuldet gewesen sei, stammen dagegen häufig aus dem Deutungsrepertoire derjenigen, die ebendiese Erneuerung mitgestalteten. Aus ihrer Perspektive konnte und kann das Geschehen durchaus als eine Erfolgsgeschichte der Überwindung autoritärer Strukturen und Zusammenfüh- rung zweier Wissenschaftssysteme beschrieben werden.4

Die emotionale Aufladung der Deutungsangebote liegt auf der Hand und ihr Ursprung ist evident: zahlreiche Autoren, die analytische Blicke ex post auf die Situation warfen, waren auf die eine oder andere Weise am Geschehen beteiligt oder von ihm „betroffen“. Vor allem der Blick auf die beson- ders stark von Abwicklung und Evaluation berührten Forschungszweige der Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaften zeigt, dass sich die Akteure (oft noch während des Transformationsprozes- ses) in eine Spirale permanenter analytischer Selbstverortung begaben. Dabei griffen sie zwar auf ihr wissenschaftliches Instrumentarium zurück, dieses ließ sich aber nicht immer sauber von persönlichen Erfahrungen und den jeweiligen Situationen trennen, in denen ihre Deutungen ent- standen.5

Konrad Jarausch, Die unverhoffte Einheit 1989/90, Frankfurt am Main 1995, S. 114. Zur begrifflichen Ka- tegorisierung von 1989 als Revolution: Philipp Ther, 1989 – Eine verhandelte Revolution, Version 1.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, 11.02.2010 http://docupedia.de/zg/ther_1989_de_v1_2010, abgerufen am 18.05.2019. 2 Peer Pasternack, Seit drei Jahren in diesem Theater. Hochschulerneuerung Ost oder Der libidinöse Op- portunismus – Eine Farce, in: Hilde Schramm (Hrsg.), Hochschule im Umbruch. Zwischenbilanz Ost, Ber- lin 1993, S. 14–22, hier S. 14. 3 Konrad H. Jarausch, Säuberung oder Erneuerung? Zur Transformation der Humboldt-Universität 1985– 2000, in: Michael Grüttner u. a. (Hrsg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 327–351, hier: S. 327. 4 Ebd., S. 328. 5 Vgl. hierzu den Ansatz des „autobiographischen Gedächtnis“: Das autobiographische Gedächtnis, in: 152 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

Die Deutungsangebote für die Veränderungen der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft im Zuge des Transformationsprozesses bedürfen mithin einer Dekonstruktion im Rahmen ihrer jeweiligen Entstehungskontexte. Die vorliegende Forschungsarbeit unternimmt einen ebensolchen Analyse- versuch am Beispiel der Innenperspektive der Ostberliner Wissenschaftsgeschichte. Dabei soll es nicht darum gehen, abzuwägen, wie wahr die Deutungen der Akteure sind, oder welche Berech- tigung ihnen zugesprochen werden kann. Vielmehr möchte ich das Angebot einer integrierten Geschichte der Wissenschaftsgeschichte machen, die sich mit Blick auf die Erfahrungsräume der Akteure zwischen Institution und Subjekt verortet. Wie bedingten situative Erfahrungen die Wahr- nehmung, Handlung und Deutung der ostdeutschen Wissenschaftsforscher? Welche Bedeutung schrieben sie den neuen Handlungsspielräumen, die sich 1989 auftaten, zu? Welche Positionen nahmen sie im Prozess der Umwälzung zwischen Selbsterneuerung und drohender Abwicklung ein? Welche Strategien entwickelten die Wissenschaftler angesichts einer zunächst ungewissen, dann rigorosen Entwicklung? Und, nicht zuletzt, welche Deutungsmodi wählten sie für die spätere Beschreibung des Geschehenen?6

Basierend auf den Dokumenten des Universitätsarchivs der Humboldt-Universität und des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften nimmt die Untersuchung die Sek- tion WTO (Wissenschaftstheorie und -organisation) an der Humboldt-Universität (HU) und das ITW (Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft) an der Akademie der Wis- senschaften der DDR (AdW) im Zeitraum zwischen 1989 und 1992 den Blick. Ergänzt wird diese Quellenauswahl durch die späteren Selbstzeugnisse der Wissenschaftshistoriker, die in Form von Beiträgen in diversen Publikationen erschienen. Eine dritte Säule der Materialbasis stellen die Ge- spräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen dar, die Ende des Jahres 2018 und im Frühjahr 2019 an der Humboldt-Universität geführt wurden.7 Sie bieten einerseits einen wertvollen alltags- und erfahrungsgeschichtlichen Zugang zu Sphären, über die andere Quellen schweigen. Andererseits ermöglichen die Erzählungen Einzelner vor dem Hintergrund ihrer Lebensverläufe eine präzisere Einordnung der verschiedenen Deutungsmodi.

Christian Gudehus u. a. (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 75–84. 6 Wenn von Wissenschaftlern, Historikern oder Zeitzeugen die Rede ist, sind Wissenschaftler*innen, Histo- riker*innen oder Zeitzeug*innen immer mitgedacht und mitgemeint. 7 Die Interviews wurden im Wintersemester 2018/19 im Rahmen eines Forschungsseminars mit dem Titel „Demokratie und Wissenschaft“ unter der Leitung von Prof. Dr. Anke te Heesen geführt. Ziel war es, mit- tels „Oral History“ einen neuen Quellenfundus zur Erschließung des Themenkomplexes „Wissenschafts- geschichte in Ostberlin 1989/90“ zu schaffen. Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte vor allem nach dem „Schneeballprinzip“ und dem Kriterium der Verfügbarkeit. Mein großer und ausdrücklicher Dank gilt Hannelore Bernhardt, Dieter Hoffmann, Marion Höppner und Hubert Laitko (hier ohne Titel und in alphabetischer Reihenfolge genannt), die sich viel Zeit für die Zeitzeugeninterviews nahmen und keine Antwort schuldig blieben. Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung 153

1. Methodische Vorüberlegungen 1.1. Konturen einer integrierten Erfahrungsgeschichte

Am Anfang der vorliegenden Untersuchung stand das Zeitzeugeninterview, das einen ersten Zu- gang zu einem Thema bieten sollte, dessen historisches Ergebnis feststand: die Wissenschafts- geschichte in ihrem, auch in der DDR einmaligen, interdisziplinären Umfeld in Berlin war nach der Wiedervereinigung abgewickelt worden. Freilich lässt sich die Geschichte dieses Ereignisses ausschließlich auf institutioneller Ebene nacherzählen. Würde man so verfahren, wäre der End- punkt einer solchen Darstellung leicht gesetzt: Sie würde mit der Auflösung der beiden die Wis- senschaftsgeschichte beherbergenden Forschungsbereiche in Berlin, der Sektion WTO und des ITW, enden. Das Gespräch mit den Zeitzeugen jedoch zeigte, dass das Forschen an diesem Thema jenseits einer reinen Strukturgeschichte durchaus lohnt. Allerdings genügte hier auch nicht die Anwendung eines rein biographischen Ansatzes. Es galt vielmehr, auf prosopographischer Ebene jenes dynamische Element der Oral History zu nutzen, das Lutz Niethammer schon 1985 bestimm- te: dass Erfahrung „offen für weitere Interpretationen anhand neuer Wahrnehmungen“ sei und „individuelle und kollektive Wahrnehmungen und Deutungen“ verknüpft.8 Erforscht wurde ein Kreis von Personen, die 1989 noch gemeinsam an den Ostberliner Instituten zur Wissenschafts- geschichte forschten, nach der Abwicklung aber sehr unterschiedliche Karriere- und Lebenswe- ge einschlugen. Die Zeitzeugeninterviews gaben selbst erste Hinweise auf Geschehnisse, die vor, während und nach dem Umbruchsprozess die späteren Darstellungen des Geschehens durch die Wissenschaftler beeinflussten. Wie die Wiedervereinigung Deutschlands gedeutet wurde, hat- te – vom Jahr 2019 aus betrachtet – mit den Möglichkeiten der Wissenschaftler zu tun, ihre For- schungsarbeit fortzusetzen.

Um die zeitgenössischen Perspektiven besser erschließen zu können, wurden zusätzlich die Be- stände der Archive konsultiert. Dabei ergaben sich im Wesentlichen zwei Schwierigkeiten. Erstens, dies galt insbesondere für das Archiv der HU, war ein Großteil der Dokumente aufgrund der in ihnen enthaltenen personenbezogenen Daten nicht einsehbar. Dies hat zur Folge, dass eine be- sonders dringende Frage zum Vollzug der Abwicklung der Sektion WTO vermutlich erst in einigen Jahrzehnten detailliert beforscht werden kann. Es handelt sich um die Frage, ob neben der offi- ziellen Begründung, die Sektion WTO werde mangels Bedarf ohne Evaluierung aufgelöst, noch andere Mechanismen existierten, die den Erhalt mancher und die Abwicklung anderer Stellen be-

8 Lutz Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History, in: Ders. u. a. (Hrsg.): „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Bd. 3, Berlin/Bonn 1985, S. 392–445, hier S. 429. 154 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

einflussten.9 Reinhardt Siegmund-Schultze, der bis zu ihrer Abwicklung als Mathematikhistoriker in der Sektion WTO tätig war, äußerte 1996 den Verdacht, dass bestimmte Netzwerke durchaus Einfluss auf den Verlauf der Abwicklung gehabt haben könnten.10 Die tiefergehende Beschäfti- gung mit diesem Problem wäre für das hier behandelte Thema durchaus relevant, da es in fast allen Interviews mit Ostberliner Wissenschaftshistorikern zur Sprache kam. Die aktuelle Quellen- lage allerdings bedingt, dass sich diese Forschungsarbeit für den Moment mit der Beschreibung der Zuschreibungen von Ungerechtigkeit begnügen muss, ohne dem Geschehen weiter auf den Grund gehen zu können.

Die zweite Schwierigkeit, die sich aus den nicht vollständig einsehbaren Archivmaterialien ergab, bestand darin, dass oft transpersonelle Rückschlüsse auf die wissenschaftshistorisch arbeitenden Teilbereiche der beiden Institutionen gezogen werden mussten. In beiden Archiven fanden sich wertvolle Materialen, die viel über die jeweilige Selbstverortung im politischen Transformations- prozess aussagten. Jedoch waren oft nicht die Wissenschaftshistoriker selbst die Autoren, sondern ihre Sektions- oder Institutskollegen, die dank der Interdisziplinarität der Institutionen Informati- ker, Soziologen oder Kybernetiker sein konnten. Eine derartige Quellenlage zwang demnach ei- nige personenübergreifende Rückschlüsse auf, die unter allen Umständen noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden müssten, sobald alle Dokumente zugänglich werden. Bis dahin wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass die hier beforschten Wissenschaftshistoriker nicht nur die Situation ihrer beruflichen Primärgruppe, sondern auch viele ihrer Perspektiven teilten.

Nachdem das nächste Kapitel kurz in den historischen Kontext einführt, gliedert sich die For- schungsarbeit im Hauptteil in drei Teile. Der erste Teil widmet sich der Zeit des politischen und systemischen Umbruchs, während im zweiten Teil die Abwicklung der Sektion WTO und des ITW ins Auge gefasst wird. Hier dienen vor allem die Archivmaterialien zur Beantwortung der Frage nach den jeweiligen Verhaltens- und Deutungsweisen der Wissenschaftler. Im dritten Teil stehen die weiteren Lebensläufe und die retrospektiven Einordnungsversuche der Wissenschaftshisto- riker im Fokus. Als besonders fruchtbar erwiesen sich hier die Selbstzeugnisse, die in Form von Beiträgen in wissenschaftlichen Publikationen entstanden. Mit Hilfe dieser Dokumente sowie der

9 Die Landesregierung fasste gemäß Artikel 13 Absatz 1 Satz 4 des Einigungsvertrages den Beschluss Nr. 279/90 zur Überführung der Humboldt-Universität zu Berlin bei gleichzeitiger Abwicklung bestimmter Teilbereiche, darunter auch die Sektion WTO. Vgl.: Beschlussfassung der Sitzung der Gesamtberliner Lan- desregierung aus Senat und Magistrat am Dienstag, den 18.12.1990 sowie Marion Höppner u. a.: Chronik der wichtigsten hochschulpolitischen Ereignisse an der Humboldt-Universität zu Berlin seit dem Herbst 1989, in: hochschule ost (Oktober 1992), S. 7–19, hier S. 12. 10 Reinhard Siegmund-Schultze, Die „Abwicklung der Naturwissenschaftshistoriographie der ehemaligen DDR. Vorläufige Bilanz eines Ostdeutschen, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 22 Nr. 3 (1996), S. 417– 427, hier S. 417. Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung 155

Zeitzeugeninterviews aus den Jahren 2018 und 2019 soll es abschließend darum gehen, die Be- schreibung von Umbruch und Abwicklung aus der Retrospektive zu analysieren.

2. Der Kontext 2.1. Was war die Wissenschaftsgeschichte in Ost-Berlin?

Die Gründung der Sektion WTO und des ITW war das Ergebnis der politischen Bemühungen, eine Wissenschaftsforschung, die den Zielen der gesellschaftlichen Evolution verpflichtet war, instituti- onell in der DDR zu verankern.11 Vater des Gedankens war John Desmond Bernal, der schon in den 30er Jahren Wissenschaft und Technik als Hauptkraft des sozialen Fortschritts identifiziert hatte. In seinem Werk, das später zur Pflichtlektüre für die Studenten der Sektion WTO werden würde, legte er dar, dass Fortschritt erst dann erreicht werden könne, wenn moderne Methoden der Organisa- tion und Leitung in der Wissenschaft eingeführt und weiterentwickelt würden.12

Demgemäß wurde 1968 die selbstständige Sektion „Ökonomische Kybernetik und Operationsfor- schung“ an der HU ins Leben gerufen. 1970 wurde sie in Sektion Wissenschaftstheorie und Wis- senschaftsorganisation (WTO) umbenannt, 1973 entstand der Bereich Wissenschaftsgeschichte. Auch an der Akademie der Wissenschaften wurde 1970 ein Institut für Wissenschaftsforschung ge- gründet: zunächst erhielt es die Bezeichnung Wissenschaftstheorie und -organisation (IWTO). Als dem Institut 1975 allerdings der Bereich Wissenschaftsgeschichte angeschlossen wurde, bekam es seiner neuen Struktur entsprechend auch einen neuen Namen: Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft.13 Der strukturellen Trennung von Forschung und Lehre in der DDR entsprechend sollte das ITW Grundlagenforschung betreiben, während die Sektion WTO Ab- solventen hervorbrachte, die die Hochschule mit dem Prädikat Diplom-Wissenschaftsorganisator verließen. Sie waren das interdisziplinär geschulte Personal, mit dem die Wissenschaft und ihre Einrichtungen ausgestattet werden konnten.14

11 Klaus Fuchs-Kittowski u. a., Gründung, Entwicklung und Abwicklung der Sektion ökonomische Kyberne- tik und Operationsforschung/Wissenschaftstheorie und -organisation, in: Wolfgang Girnus u. a. (Hrsg.), Die Humboldt-Universität Unter den Linden 1945 bis 1990. Zeitzeugen – Einblicke – Analysen, Leipzig 2010, S. 155–198, hier S. 156. 12 Vgl. Helmut Steiner, Wissenschaft für die Gesellschaft. Leben und Werk des Enzyklopädisten John Des- mond Bernal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: WZB Discussion Paper, No. P 2003–002, Wis- senschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) 2003, S. 21. 13 Zur Geschichte des ITW: Wolfgang Schütze, Lebendigkeit der Wissenschaftsforschung – zum Beitrag des Instituts für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft (ITW) der AdW der DDR, in: Hans Bertram (Hrsg.), Soziologie und Soziologen im Übergang. Beiträge zur Transformation der außeruniver- sitären soziologischen Forschung in Ostdeutschland, Opladen 1997, S. 115–126. 14 Studieninhalte WTO, erstellt von Marion Höppner. Vgl. auch: Fuchs-Kittowski u. a.: Gründung, S. 162. Zum konzeptionellen Grundgedanken des ITW: Günter Kröber, ITW – 25, in: Hansgünter Meyer (Hrsg.), 156 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

Der Bereich Wissenschaftsgeschichte war in seiner methodologischen Ausrichtung wesentlich von dem Ergebnis einer erkenntnistheoretischen Wende in der Wissenschaftsphilosophie ge- prägt. Die Hinwendung zu den soziokulturellen Bedingungen von Erkenntnis sowie zu den Ak- teuren des Erkennens und ihrer Subjektivität, war die Bedingung der Möglichkeit der Herausbil- dung einer Wissenschaftsgeschichte in der DDR, die Wissenschaft als gesamtgesellschaftliches Phänomen begriff. Hubert Laitko, der seine eigene wissenschaftliche Karriere als Wissenschafts- philosoph begonnen hatte, wurde 1975 Leiter des Bereichs Wissenschaftsgeschichte am ITW. Er prägte den theoretischen und empirischen Arbeitsmodus des Bereichs und des Instituts, indem er Wissenschaft als „inneres Moment des gesellschaftlichen Lebens“ verstand.15 Verbunden waren die beiden wissenschaftshistorischen Institute vor allem durch die dichte Diskussionskultur in den fünfmal jährlich stattfindenden „Berliner Wissenschaftshistorischen Kolloquien“.16 1987 kamen die universitätshistorischen Kolloquien im Rahmen des Forschungsbereich zur Universitätsgeschichte an der Sektion WTO hinzu.17

2.2. Kontext einer Umwälzung

Die nach der Öffnung der Grenzen im November 1989 überall einsetzende Demokratisierung des Sozialismus hielt auch in der Wissenschaftslandschaft der DDR Einzug. Wo schon in den späten Achtzigerjahren die Forderungen nach einer Implementierung von Glasnost und Perestroika im- mer lauter wurden, gründeten sich nun Runde Tische, Mitarbeitervertretungen und wissenschaft- liche Räte, die über das Wie der Befreiung von der Diktatur der SED berieten.18 Ein offensichtliches Problem tat sich hinsichtlich der Frage auf, wie man mit ideologischen Altlasten bei Personal und Inhalt verfahren sollte. Doch während die Akademien und Hochschulen noch die Möglichkeiten der „Selbstreinigung“ ausloteten und über eigenen Umstrukturierungsentwürfe zur „Selbsterneu- erung“ der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft brüteten, nahm die politische Entwicklung bis

25 Jahre Wissenschaftsforschung in Ost-Berlin. „Wie zeitgemäß ist die komplexe integrierte Wissen- schaftsforschung?“ Reden eines Kolloquiums, Berlin 1996, S. 12–16. 15 Reinart Bellmann u. a., Von der Wissenschaftsphilosophie zur Wissenschaftsgeschichte. Hubert Laitkos Wege des Erkennens, in: Eckart Henning (Hrsg.), Dahlemer Archivgespräche, Bd. 6, Berlin 2000, S. 9–19, hier S. 15. 16 Siegmund-Schultze, Abwicklung, S. 420. Eine Übersicht aller Themen der Berliner Wissenschaftshistori- schen Kolloquien findet sich im ersten Band der Dahlemer Archivgepräche von 1996, S. 146–159. 17 Hannelore Bernhardt, Universitätsgeschichtsschreibung an der Humboldt-Universität – Friedrich Her- neck zum 100. Geburtstag, in: Wolfgang Girnus u. a. (Hrsg.), Die Humboldt-Universität Unter den Linden 1945 bis 1990. Zeitzeugen – Einblicke – Analysen, Leipzig 2010, S. 59–106, hier S. 73. 18 Vgl. für die HU: Jarausch, Säuberung, S. 334–339 und für die AdW: Jochen Gläser, Die Akademie der Wis- senschaften nach der Wende: erst reformiert, dann ignoriert und schließlich aufgelöst, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B51/92 (11.12.1992), S. 37–46. Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung 157

zum Sommer 1990 ein rasantes Tempo an.19 Mit den Entschlüssen zu Währungsunion und Etab- lierung der Marktwirtschaft in der DDR, die den Weg zur Einigung flankierten, wurde eine Zusam- menführung der Wissenschaftssysteme in Ost und West unumgänglich.

Diese Aufgabe brachte im Laufe des Jahres 1990 das Ende der ostdeutschen Selbsterneuerungs- versuche mit sich. Als der neue Ministerpräsident Lothar de Maizière am 3. Mai 1990 die Entste- hung von fünf neuen Bundesländern auf dem Gebiet der DDR bekannt gab, wurden entscheiden- de Weichen für das weitere Schicksal der Hochschulforschung und der vier Akademien gestellt. Da die Akademien zu groß waren, um von den fünf neuen Ländern getragen zu werden, entschied man sich in den folgenden Monaten für ihre Auflösung.20 Die Verantwortung für die Hochschul- forschung hingegen wurde vollständig den jeweiligen Wissenschaftsverwaltungen der neuen Länder übertragen.21 Artikel 38 des Einigungsvertrages, der genau drei Monate später, zum 3. Ok- tober wirksam wurde, goss beide Beschlüsse in eine legislative Form. Er legte die „notwendige Erneuerung von Wissenschaft und Forschung“ fest, die bis zum 31. Dezember 1991 vollzogen sein sollte. Bis dahin wurde eine Übergangsfinanzierung gewährt, damit eine „Begutachtung öffentlich getragener Einrichtungen durch den Wissenschaftsrat“ stattfinden konnte.

Die Evaluierung der 60 Institute der AdW durch den Wissenschaftsrat sollte dazu beitragen, einzel- ne Institute in Nachfolgeinstitute umzugründen, sie in andere Einrichtungen zu überführen oder aufzulösen. Bis zum 31. Dezember 1991 war die Abwicklung der AdW und ihrer 24 000 Mitarbeiter auf diese Weise bewerkstelligt, und am 7. Juli 1992 hörte auch die Gelehrtensozietät der AdW auf Beschluss des Berliner Senators für Wissenschaft und Forschung endgültig auf zu existieren.22 Das ITW wurde trotz positiver Evaluierung vollständig aufgelöst. Damit mussten sich 73 Wissenschafts- forscher, unter ihnen 17 Beschäftigte des Bereichs Wissenschaftsgeschichte, nach beruflichen Al- ternativen umsehen.23

Im Unterschied zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen wurden die Hochschulen nicht vom Wissenschaftsrat evaluiert, sondern erhielten eine „fachspezifische Begleitung des Um- und Ausbaus“ von jeweils lokal eingerichteten Strukturausschüssen.24 Nachdem der Berli-

19 Vgl. zu den Versuchen der „Selbsterneuerung“ an der Humboldt-Universität: Jarausch, Säuberung. 20 Betroffen waren die Akademie der Wissenschaften, die Akademie der pädagogischen Wissenschaften, die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften und die Bauakademie. 21 Dieter Simon, Die Quintessenz. Der Wissenschaftsrat in den neuen Bundesländern. Eine vorwärtsge- wandte Rückschau, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B51/92, S. 29–36, hier S. 29. 22 Mitglieder der Vorgängerakademien der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, in: Website der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, http://www.bbaw.de/Mitglieder- derVorgaengerakademien, abgerufen am 19.05.2019. 23 Die Zahlen für das ITW entstammen: ABBAW: Schn., Nr. A2205. Zu den Mitarbeiterzahlen des Bereichs Wissenschaftsgeschichte: Personalstand Herbst 1989, Aufstellung von Hubert Laitko. 24 Wilhelm Krull, Neue Strukturen für Wissenschaft und Forschung. Ein Überblick über die Tätigkeit des 158 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

ner Senat am 18. Dezember 1990 die Entscheidung zur Abwicklung bestimmter Teilbereiche der Humboldt-Universität getroffen hatte, wurden zusätzlich Struktur- und Berufungskommissionen (SBK) gebildet, die ideologisch belastete Fachgebiete begutachteten. Als die Landesregierung am 18. Juli 1991 das Hochschulergänzungsgesetz erließ, war die vollständige Erneuerung der HU von außen beschlossen. Es wurden nun alle Fachbereiche durch eine SBK evaluiert, jeder Professor musste neu berufen werden.25 Die Auflösung der Sektion WTO stand seit dem Abwicklungsbe- schluss vom Dezember 1990 fest. Im Laufe des Jahres 1991 fand somit auch die Entlassung der 40 in ihr beschäftigten Wissenschaftler statt.26

Die Bilanz des Einigungsprozesses für die ostdeutschen Wissenschaftshistoriker fiel in ihrer Ge- samtheit nicht positiver aus als diejenige für Ostberlin: Mit Ausnahme zweier Medizinhistoriker blieb keiner der rund 20 Professoren der Wissenschafts- und Technikgeschichte der DDR im Amt.27

3. Handeln und Deuten 3.1. Die „Wende“

Im Mai 1990 stellten die ITW-Mitarbeiter Klaus Meier, Carla Schulz und Christine Waltenberg eini- ge Beobachtungen zu der sich seit Oktober 1989 überschlagenden Entwicklung in der DDR an. Man sei, „wie aus einem langen Tiefschlaf erwacht“ und befinde sich nun inmitten eines Demo- kratisierungsprozesses. Solcherlei brachten die Wissenschaftsforscher freilich nicht positionslos zu Papier: sie schrieben einerseits im Bewusstsein neuer Handlungsspielräume und somit unter der Prämisse, ihre persönliche und berufliche Zukunft in einer sich ebenfalls demokratisierenden Wissenschaftslandschaft (mit)gestalten zu können. Andererseits verstanden sie sich als Einzelne unter 200 000 wissenschaftlichen Beschäftigen, die in Ostdeutschland um ihre Zukunft bangten.28 Das Bewusstsein um beide Implikationen der eigenen Situation bedingte eine Intensivierung des politischen Tatendrangs, der seit November 1989 in der gesamten Wissenschaftslandschaft der DDR auszumachen war. An der AdW hatte dieser bis Mai 1990 beachtliche Früchte getragen: an-

Wissenschaftsrates in den neuen Ländern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B51/92, S. 15–28, hier S. 17 25 Vgl. Jarausch, Säuberung, S. 340. 26 Reinhard Siegmund-Schulze gibt für den genauen Zeitpunkt der Abwicklung den 1.1.1991 an. Dem wi- derspricht die Darstellung von Fuchs-Kittowski u. a., die von verschiedenen Unternehmungen im Laufe des Jahres 1991 berichten, die die Auflösung verhindern sollten. Mangels näherer Informationen gehe ich von einer endgültigen Auflösung in der zweiten Hälfte des Jahres 1991 aus. 27 Vgl. Hubert Laitko, Wissenschaftsgeschichte – ein prekäres Metier. Beitrag zum Potsdamer Kolloquium am 15.3.2005 anlässlich des 80. Geburtstages von Dorothea Goetz, in: Dahlemer Archivgespräche, Bd. 11, Berlin 2005, S. 97–107, hier S. 105. 28 Vgl. Klaus Meier u. a. (Hrsg.), Demokratie lernen und behaupten lernen – Demokratisierungsprozesse in der Wissenschaft der DDR seit November 1989, in: ABBAW: Schn., Nr. A2179. Auch die Zahl 200 000 ist diesem Dokument entnommen. Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung 159

gefangen mit Vertrauensabstimmungen über staatliche Mitarbeiter in den Verwaltungsorganen bis hin zu Wahlen von wissenschaftlichen Räten, Mitarbeitervertretungen und der Neuwahl der Akademieleitung.29

Im ITW entstanden unterdessen im April und Mai eine Reihe von Analysen zur Verortung des DDR-Wissenschaftssystems. Die Wissenschaftler untersuchten das Potential der ostdeutschen Wissenschaft im Vergleich zum westdeutschen Gegenstück, entwarfen Integrationskonzepte und versuchten sich schließlich in Empfehlungen für eine mögliche Entwicklung im Angesicht der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der BRD.30 Dabei unterstrichen sie den Handlungsbe- darf in der Wissenschaft, die man aller gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsanstrengun- gen zum Trotz noch immer außen vor wähnte. So stellten etwa Klaus Meier und Charles Melis in einer gemeinsamen Analyse fest: „Wenn überhaupt Konzepte vorgedacht und in Verhandlungen eingebracht werden, geschieht das an der Forschungsbasis vorbei.“31 In der unübersichtlichen Ge- mengelage von innerer Neustrukturierung und politischer Unsicherheit entwickelten die Wissen- schaftler des ITW in ihren Analysen einen Topos der besonderen Chancen der Situation. Politischer Handlungsbedarf bestand demnach nicht ausschließlich in den Leitungspositionen der Wissen- schaft, sondern ebenso auf den untersten Rängen der hierarchisch gegliederten AdW. Es seien, so Meier und Melis weiter, zuallererst die Wissenschaftler selbst, die Verantwortung übernehmen und Zukunftsarbeit leisten müssten. Es gelte, „zur radikalen Gesundung und Neukonstituierung unseres Wissenschaftssystems“ beizutragen.32

Gesunden sollte einerseits die politische Organisationsstruktur der Wissenschaft, die nach Ansicht der ITW-Wissenschaftler von den Einflussnahmen eines autoritären Staates befreit werden musste, andererseits wähnte man die Wissenschaft auch auf Ebene der Inhalte selbst in der Krise. Ende Ap- ril identifizierte der am ITW beschäftigte Soziologe Hansgünter Meyer ein in den Achtzigerjahren besonders stark anwachsendes Defizit an Forschungsmitteln, das im Gefolge zu einer drastischen Abnahme des „Innovationsvolumens“ geführt habe. Die Lösung, die Staats- und Parteiführung für dieses Problem angeboten hätten, sei nun Teil des Problems in der Begegnung mit dem westdeut- schen Wissenschaftssystem: Man habe versucht, die fehlenden technischen Mittel durch Personal auszugleichen und so das Leistungsvermögen zu steigern.33 Ein Problem in der Auslotung der Zusammenführung beider Wissenschaftssysteme stellte dieser Umstand insofern dar, als dass der

29 Vgl. Gläser, Akademie, S. 38–41. 30 ABBAW: Schn., Nr. A2179. 31 Dr. Klaus Meier und Dr. sc. Charles Melis (ITW), Fünf kardinale Mißverständnisse beim Vergleich der Wis- senschaftssysteme von DDR und BRD. Folgen für Integrationskonzepte in: ABBAW: Schn., Nr. A2179. 32 Ebd. 33 Hansgünter Meyer, Wissenschaftslandschaft und Wissenschaftsentwicklung in der DDR, in: ABBAW: Schn., Nr. A2179. 160 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

Beschäftigtenanteil in den DDR-Forschungseinrichtungen nach der OECD-Methodik mit 50 Pro- zent als zu hoch eingeschätzt wurde.34 Am ITW war man sich der Implikationen dieser Bestands- aufnahme durchaus bewusst und fürchtete den Personalabbau. Werner Meske gab sich deshalb in einem Papier vom 30. April große Mühe, die Divergenz zu relativieren. Seiner Einschätzung nach beschäftigte die DDR höchstens 30–35 Prozent mehr Personal als die Bundesrepublik.35

Die Verschmelzung des ost- und westdeutschen Wissenschaftssystems brachte nach Auffassung der Wissenschaftsforscher dennoch mehr Chancen als Gefahren mit sich. Insbesondere vom föde- rativen System der BRD versprachen sich die Wissenschaftler manches, denn es habe schließlich „mit großem Erfolg dahin gewirkt [...], Länderbesonderheiten zu berücksichtigen und sogar zu einem Gesamtinteresse zu synthetisieren.“ Für die Neugründung von ostdeutschen Ländern ging man davon aus, dass dies auch in Bezug auf die Wissenschaftslandschaft der DDR gelten würde.36

Alles in allem herrschte in den ersten Monaten des Umbruchs also ein analysebasierter Zukunfts- optimismus unter vielen Mitarbeitern des ITW, der darauf abzielte, die ostdeutsche Wissenschaft durch interne Systemkritik von unten und innen heraus zu erneuern. Dabei verstand man den „Westen“ als Partner: sowohl in Bezug auf die Bundesrepublik, mit deren System es zu fusionieren galt, als auch in Bezug auf das westeuropäische Ausland und die USA, mit denen man in einen intensiveren kooperativen Austausch treten wollte. Dass man auf die Zusammenarbeit mit dem Westen zählte und so die neuen Handlungsspielräume zu nutzen gedachte, um die Defizite einer durch den autoritären Staat beschränkten Wissenschaft zu beheben, bezeugen auch die zahl- reichen Projektanträge aus den verschiedenen Bereichen des ITW, die im Laufe des Jahres 1990 erstellt wurden.37 Ihr notwendiger Bestandteil war stets die Auflistung möglicher und bereits ge- schlossener Kooperationsbeziehungen mit westlichen Institutionen der Wissenschaftsforschung. Solche Möglichkeiten der Zusammenarbeit hatte es, obwohl man die wissenschaftliche Arbeit jenseits des Eisernen Vorhangs durchaus rezipiert hatte, vor 1989 freilich nur eingeschränkt ge- geben.38

34 Werner Meske, Zu Stand und Entwicklungsmöglichkeiten der Wissenschaft in der DDR unter den Bedin- gungen der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion beider deutscher Staaten (Thesen zur Positionsbe- stimmung), in: ABBAW: Schn., Nr. A2179. 35 Ebd. 36 Vgl. Meyer, Wissenschaftslandschaft. 37 ABBAW: Schn., Nr. A2174. 38 Vgl. zum Rahmen, in dem der Austausch mit Wissenschaftlern jenseits des Eisernen Vorhangs vor No- vember 1989 möglich war: Hubert Laitko, Das Hochschulwesen der DDR als Gegenstand wissenschafts- historischer Forschung: Fragen an die Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, in: Wolfgang Girnus u. a. (Hrsg.), Die Humboldt-Universität Unter den Linden 1945 bis 1990. Zeitzeugen – Einblicke – Analysen, Leipzig 2010, S. 37–58. Hubert Laitko berichtete im Interview auch von der seit den 70er Jahren existierenden Kooperation zwischen dem Institut fur Gesellschaft und Wissenschaft (IGW) an der Universität Erlangen und dem ITW. Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung 161

Auf dem Gebiet der Kooperation mit der Bundesrepublik taten sich gleichermaßen neue Optionen auf. Obwohl der Austausch mit den westdeutschen Wissenschaftshistorikern seit dem Abkom- men zur wissenschaftlich-technologischen Zusammenarbeit zwischen BRD und DDR (WTZ-Ab- kommen) erheblich erleichtert worden war und 1988/89 viele Zeichen in Richtung einer weiteren Öffnung und Kooperation standen, ermöglichte die Grenzöffnung vom 9. November 1989 neue Optionen des Austauschs. So erinnert sich Hubert Laitko, dem der Bereich Wissenschaftsgeschich- te am ITW unterstellt war: „Das erste, was wir getan hatten nach dem sogenannten Mauerfall, war, die Kollegen in Westberlin aufzusuchen [...]. Wir hatten die verrückte Idee, wir könnten so etwas wie eine Art Ringvorlesung machen.“ Obwohl eine solche Veranstaltung letztlich nicht zustande kam, besuchte man sich fortan regelmäßig in den jeweiligen Kolloquien: „unter den Diskutieren- den waren dann eben auch Westberliner und wir gingen genauso rüber.“39

Der Zustand politischer Euphorie ist eine Situationsbeschreibung, die auch auf die Sektion WTO an der Humboldt-Universität zutraf.40 Seit Herbst 1989 wurden die Optionen zur Umstrukturie- rung der Sektion ausgelotet.41 Das Bedürfnis nach Veränderung entsprang hier aber weniger einer analytischen Logik der prognostizierten Synthese der Systeme oder einem neuen Modus Ope- randi der disziplinären Verständigung zwischen Ost und West. Die Ansätze zur Umstrukturierung der Sektion waren vielmehr eingebettet in den Kontext des allgemeinen Erneuerungswillens (vor allem der Studentenschaft) an der Humboldt-Universität.

Noch im Dezember 1989 hatte der ehemalige Sektionsdirektor der WTO, Thomas Hager, sein Amt niedergelegt. Die Wahl seines Nachfolgers Edo Albrecht traf auf die heftige Kritik der Studenten. Die Hochschullehrer der Sektion hätten, so beklagte der WTO-Student Jürgen Freymann, „unter faktischem Ausschluß der Studenten den Wahlmodus für die Direktorenwahl“ festgelegt und auf diese Weise „aus ihrer Mitte jenen starken Mann“ zum neuen Direktor erkoren, „der für ihren Machterhalt schon sorgen würde“.42 Diese Kritik an der Leitung der Sektion ging mit dem Unmut über ihre „Konzeptionslosigkeit“ einher. So beklagten Studenten nicht nur die in der Vergangen- heit vermeintlich betriebene Kaderpolitik jener WTO-Wissenschaftler, „die sich durch einige tau- send Mark Monatslohn zur ‚Hure’ des Staates machen ließen“, sondern auch die mangelnde innere Kohärenz des Studiengangs.43

Aber auch jenseits der Kluft zwischen revolutionär gestimmter Studentenschaft und Lehrkörper stand die Sektion unter Erneuerungsdruck. So drängte der amtierende Rektor der Universität, Die-

39 Interview mit Hubert Laitko. 40 Gespräch mit Marion Höppner. 41 Vgl. Protokoll der Sitzung des Rates der Sektion WTO vom 29.01.1990, in: AHU: 032. 42 Jürgen Freymann, Wende der Wende?, in: HU 1989/90, Nr. 21/22. 43 Ebd. sowie Gespräch mit Marion Höppner. 162 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

ter Hass, auf eine „gemeinsame Verständigung aller Hochschullehrer, Mitarbeiter und Studenten“, die ein künftiges Absolventenbild herbeiführen sollte, das „internationalen Maßstäben genügt und übermäßige disziplinäre Vereinseitigungen in der Ausbildung vermeidet“. Gelänge das nicht, müsse man die Auflösung der Sektion in Betracht ziehen.44 Unter derartigem Handlungsdruck und mit den angekündigten Rahmenbedingungen, die das neue Statut der HU im Herbst 1990 fest- legen würde, einigte sich der ebenfalls neugewählte Sektionsrat der WTO schließlich darauf, die Sektion in einen Fachbereich mit dem Titel „Wissenschaftsforschung und angewandte Informatik“ umzuwandeln. Dieser Fachbereich sollte wiederum in Institute gegliedert werden, die die einzel- nen Forschungsbereiche der Sektion weitestgehend erhielten.45

3.2. Die Abwicklung

Für die Sektion WTO ist davon auszugehen, dass man den Forschungsalltag bis zum Abwicklungs- beschluss 1990 in gewohnter Weise fortsetzte. Dieser erging in der Erinnerung der Zeitzeugen so plötzlich, dass die Mitarbeiter förmlich von den Schreibtischen geholt wurden, um ihnen die Nachricht vom Ende ihrer Beschäftigung zu übermitteln. Die Mathematikhistorikerin Hannelore Bernhardt, die den Forschungsbereich Universitätsgeschichte leitete, der seit 1985 der Sektion WTO angeschlossen war, erinnerte sich im Interview daran, im Januar 1991 unvermittelt ins Au- ditorium Maximum der HU geladen worden zu sein. Versammelt waren neben den Mitarbeitern der WTO die Mitarbeiter der Sektion Marxismus/Leninismus, Kriminalistik und Bibliothekswissen- schaften. Auch die Humboldt-Zeitung berichtete von dem Ereignis: Der damalige Kanzler Karl Schwarz habe den 1500 Anwesenden verkündet, dass sie ab sofort nicht mehr zur Arbeit zu er- scheinen hätten, da man ihre Arbeitskraft nicht mehr benötigte.46 Hannelore Bernhardt sei, so er- innerte sie sich, nach der Kundgebung gerade zurück in ihr Arbeitszimmer gekommen, als das Telefon klingelte:

Dran war das Direktorat für internationale Beziehungen: es käme eine italienische Journalistengruppe, die gern die historischen Stätten der Universität filmen und kennenlernen wollten. Tja, ich war versucht zu sagen, es wurde aber meine Arbeitskraft eben nicht mehr benötigt, da müssen Sie sich jemand anderen suchen. Aber wie man so war als DDR-Bürger, natürlich hab’ ich das gemacht. [...] Das zeigt, wie unmöglich das alles war.47

Dass man zunächst weiterarbeitete wie gewohnt, hatte stark mit einer Fassungslosigkeit ob der Vorgänge zu tun. Sowohl Laitko als auch Bernhardt verwiesen auf das Vertrauen ihrer Kollegen in

44 Protokoll der Sitzung des Rates der Sektion WTO vom 29.01.1990, in: AHU 032. 45 Geplant waren ein Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte, ein Institut für Pro- jektmanagement, ein Institut für Innovationsökonomie und ein Institut für angewandte Informatik, die jeweils eigene Studiengänge anbieten sollten. Vgl. Sitzungsprotokolle des Sektionsrats WTO vom April/ Mai 1990, in AHU 032. 46 Kurz zuvor war der Antrag der HU auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Abwicklungsbeschlösse der Landesregierung vom 18. Dezember von der Landesregierung abgewie- sen worden. Vgl. HU 19/20, 1990/91. 47 Interview mit Hannelore Bernhardt. Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung 163

die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze, wie man sie in der DDR gewohnt gewesen war.48 Diesem Vertrau- en waren auch die Initiativen der WTO-Mitarbeiter geschuldet, die auf die Ansprache des Kanzlers folgten. Da der Berliner Senat die Abwicklung der WTO mit der Begründung beschlossen hatte, es gäbe für eine solche Einrichtung in der Zukunft keinen Bedarf, veranstalteten die WTO-Mitarbeiter am 21. Januar 1991 ein Hearing, auf dem sich geladene Gutachter positiv über das Potential der WTO-Forschung äußerten. Auch befürworteten die Experten aus der BRD und den Niederlanden die Sektionspläne zur Neugründung eines selbstständigen „Instituts für Wissenschafts- und Inno- vationsforschung“, das neue Stellen für die Sektionsmitarbeiter schaffen sollte.49

Hannelore Bernhardt zufolge war es unterdessen vor allem der Verdienst des damaligen Rektors Heinrich Fink, dass die Abwicklung der Sektion WTO noch einige Monate hinausgezögert werden konnte. Fink, der im November 1991 wegen Vorwürfen, er sei für das Ministerium für Staatssicher- heit tätig gewesen, entlassen wurde, hatte wiederholt gegen den Abwicklungsbeschluss geklagt und so die eigentliche Auflösung der Sektionen verzögert. Dass er damit „irgendwann nicht mehr durchkam“, war für Bernhardt der Tatsache geschuldet, dass die Entscheidung „von ganz oben“ kam.50

Auch für die Akademie gab es einen kleinen Aufschub. Nachdem die internen Reformbewegun- gen der AdW von den Richtungsentscheidungen der Politik überholt worden waren, wurde eine Übergangsfinanzierung mit fixiertem Enddatum gewährt.51 So war im Einheitsvertrag festge- halten, dass die Akademie bis zum 31. Dezember 1991 weiterfinanziert werden würde, um den aufwändigen Prozess der Evaluierung der Institute durch den Wissenschaftsrat und deren „Ein- passung“ in die gesamtdeutsche Forschungslandschaft bewerkstelligen zu können.52 Das ITW ge- hörte zu den sechs Akademieinstituten, die vollständig aufgelöst wurden. Der Physikhistoriker Dieter Hoffmann, der seit 1975 im Bereich Wissenschaftsgeschichte am ITW beschäftigt war, er- innerte sich später an die „merkwürdige Trennung“, ja die „Privilegierung“ von ITW-Mitarbeitern

48 Interviews mit Hannelore Bernhardt und Hubert Laitko. 49 Vgl. HU 15/16, 1990/91. Zu weiteren Unternehmungen der WTO-Mitarbeiter gegen die Abwicklung vgl. Fuchs-Kittowski, Gründung, S. 187–189. 50 Interview mit Hannelore Bernhardt. 51 Zu den wichtigsten Ereignissen im Zuge der Entscheidungsfindung der Politik zählte das sogenannte Kamingespräch, das am 3. Juli 1990 stattfand. Es trafen sich die beiden Forschungsminister aus DDR und BRD, Frank Terpe und Heinz Riesenhuber mit Vertretern aus den Ländern sowie aus Wissenschaft und Wirtschaft, um Perspektiven für die außeruniversitäre Forschung der DDR zu diskutieren. Die am 6. Juli vom Wissenschaftsrat publizierte Empfehlung mit den Ergebnissen des Gesprächs stellte die Weichen für das Ende der AdW. Vgl. Der Bundesminister für Forschung und Technologie: Gemeinsame Pressemit- teilung. Weichenstellung für eine künftige gesamtdeutsche Forschungslandschaft, 03.07.1990, https:// deutsche-einheit-1990.de/wp-content/uploads/BArch-DF4-24357.pdf, abgerufen am 24.05.2019. 52 Vgl. Artikel 38 des Einigungsvertrags: Wissenschaft und Forschung, http://www.gesetze-im-internet.de/ einigvtr/art_38.html, abgerufen am 24.05.2019. 164 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

gegenüber den WTO-Mitarbeitern an der HU.53 Demnach habe das Wissenschaftlerintegrations- programm (WIP) schließlich nur für die Akademie gegolten. Das WIP war ein im Hochschuler- neuerungsprogramm (HEP) beschlossenes Förderprogramm für die ostdeutschen Länder, das ab 1992 Personal aus der außeruniversitären Forschung der ehemaligen DDR in das Hochschulwesen überführen sollte, um die Disproportionen auszugleichen, die sich im Vergleich mit dem west- deutschen Hochschulwesen ergaben. Als es 1996 auslief, resümierte Hubert Laitko, es sei „wesent- lich erfolglos“ im Sande verlaufen, habe es doch nicht darauf abgezielt „die von ihm Begünstigten noch fünf Jahre nach dem Auslaufen ihrer akademischen Arbeitsverhältnisse irgendwie weiter- zubeschäftigen“.54 Demnach hatte nach Auslaufen des Programms kaum ein Wissenschaftler den Sprung an die Universität geschafft.

An der AdW wurden im Zuge der Abwicklung lokale Abwicklungsteams in den einzelnen Insti- tuten eingerichtet, die der sogenannten KAI, der „Koordinierungs- und Aufbau-Initiative für die Forschung“, unterstellt waren und die als „temporäre Einrichtungen“ zur „Gestaltung des Über- gangs“ dienten.55 Ab Spätsommer 1990, so berichtete Laitko, sei kein normales wissenschaftliches Arbeiten mehr möglich gewesen: Das „ist schwer möglich, wenn einem das Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit über dem Haupte baumelt.“ Im Zuge der Abwicklung des Instituts habe es nur noch geheißen: „Rette sich, wer kann.“56 „Retten“ konnten sich im Bereich Wis- senschaftsgeschichte freilich nicht alle. Dennoch habe man, so Laitko, versucht, möglichst rationa- le Entscheidungen darüber zu treffen, wer beispielsweise in den Vorruhestand geschickt werden sollte, und wer jung genug war, um Chancen auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt zu haben.57 Auch sei es am ITW nicht zu Szenen eines „bellum omnium contra omnes um das berufliche Über- leben“ gekommen, wie es ihn in Form von Denunziationen an anderen Instituten der AdW oder auch an den Universitäten gegeben habe.58 Am Ende gingen vier Wissenschaftshistoriker in die Arbeitslosigkeit, das entsprach der Hälfte aller nach 1991 arbeitslos gewordenen ITW-Mitarbeiter. Vier Wissenschaftshistoriker fanden im neugegründeten Max-Planck-Institut für Wissenschaftsge- schichte eine neue berufliche Heimat, unter ihnen Dieter Hoffmann. Jeweils drei wurden an den Berliner Universitäten weiterbeschäftigt und gingen in den Vorruhestand, wurden auf diese Weise, wie Hoffmann es im Interview nannte, „elegant entsorgt“. Unter letzteren war auch der damals 56 Jahre alte Hubert Laitko.59

53 Interview mit Dieter Hoffmann. 54 Vgl. Hubert Laitko, Abwicklungsreminiszenzen. Nach-Denken über das Ende einer Akademie, in: hoch- schule ost 1/1997, S. 55–81, hier S. 55. 55 Vgl. Arbeitspapier Nr. 1/92 für die Abwicklungsteams, 08.01.1992, in: ABBAW: Schn., Nr. A2205. 56 Interview mit Hubert Laitko. 57 Ebd. 58 Laitko, Abwicklungsreminiszenzen, S. 74. 59 Personalstand Herbst 1989, Aufstellung von Hubert Laitko und ABBAW: Schn., Nr. A2205. Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung 165

3.3. Rückblicke

Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Bildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich dort heute einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weiten Strecken völlig unbrauchbar. [...] Viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten.60

Diese Äußerung des Politologen und Historikers Arnulf Baring von 1991 zitierte Hubert Laitko in einer „Nachbetrachtung“ des mit Laitko geführten Interviews. „Wir“, so berichtete er weiter, „be- nutzten dieses Zitat jahrelang als ein geflügeltes Wort.“ Es habe die „Atmosphäre herablassender Arroganz, die uns in jenen Jahren umgab“ auf den Punkt gebracht und sei deshalb mehr gewe- sen als „einfach rhetorischer Theaterdonner“. Es sei „lebensweltlich untersetzt“ gewesen „durch die existentielle Erfahrung, dass uns die Arbeitsplätze ebenso entschwanden wie die Institutionen“. Mit solchen Worten machte Laitko, in einem gewissermaßen selbsthistorisierenden Modus, ein Erklärungsangebot für die Fülle an Reizworten, die sich in den Selbstbeschreibungen der von der Abwicklung betroffenen Wissenschaftler in den Jahren nach 1991 finden ließen. Die „Wendejahre“ seien von Konstellationen geprägt gewesen, „die Worte dieser Art in die Köpfe und auf die Lippen getrieben haben. [...] Da musste man schon ein sehr dickes Fell haben, um sachlich und zurück- haltend zu bleiben.“61

Auch er selbst hatte sich kurze Zeit nach den Umbrüchen in der Zeitschrift „hochschule ost“, die nach 1991 als Forum der Wissenschafts- und Hochschulkreise der DDR fungierte und sich the- matisch auf die Transformation der ostdeutschen Wissenschaft nach 1989 fokussierte, zu einigen zynischen Kommentaren hinreißen lassen. Auf die Aussagen des damaligen Berliner Senators für Wissenschaft und Forschung, die Professoren seien in der DDR nicht nach Qualifikation, sondern nach politischer Zuverlässigkeit ausgesucht worden, entgegnete Laitko:

Das kann ich bestätigen. Für eine Professur genügte es, die vier Stalinistischen Grundzüge der Dialektik in der kano- nischen Reihenfolge hersagen zu können. Wer das auch von hinten nach vorn fertigbrachte, galt als überqualifiziert und wurde von den Parteioberen fortan mit scheelen Augen betrachtet. [...] Das Denken überlassen wir in unserer gesegneten Einfalt den Wessis und den Pferden.62

Fünf Jahre nachdem Laitko solches zu Papier gebracht hatte, veröffentlichte er einen weiteren Artikel in „hochschule ost“. Hier war er darauf bedacht, die politische Polemik abzulegen und eine sachliche Bilanz der wissenschaftlichen Gewinne und Verluste in Ostdeutschland zu ziehen.63 Diese Darstellung deckte sich mit der Einordnung des Mathematikhistorikers Reinhardt Sieg-

60 Arnulf Baring, Deutschland, was nun?, München 1991, S. 59. 61 E-Mail Hubert Laitkos an d. Aut. vom 03.03.2019 62 Hubert Laitko, Berlinische Landschaftspflege. Wie man Wissenschaft und Forschung verbessert, in: hochschule ost (Oktober 1992), S. 20–27, hier: S. 24 und 26. 63 Laitko, Abwicklungsreminiszenzen, S. 80. 166 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

mund-Schulze, der in der Sektion WTO tätig gewesen war und sich nach ihrer Schließung ver- geblich um einen Lehrstuhl in Deutschland bemühte. Erst im Jahr 2000 konnte er einen Ruf nach Norwegen annehmen, den Dieter Hoffmann gar als „Emigration“ bezeichnete.64 Sowohl Laitko als auch Siegmund-Schultze bemängelten auf analytischer Ebene den wissenschaftlichen Poten- tialverlust sowie den Verlust wissenschaftlicher Netzwerke, den die Abwicklung nach sich zog. Hoffmann erläuterte darüber hinaus die Veränderungen, die die Abwicklung der ostdeutschen Wissenschaftsgeschichte auch für die wissenschaftshistorische Forschung selbst gebracht hatten. Man habe sich dem westdeutschen wissenschaftshistorischen Duktus der Zeit unterwerfen müs- sen und bestimmte Ansätze, die man in der DDR noch stark gemacht hatte, fanden nun weder Gehör noch Finanzierung. „Wenn ich Professor irgendwo gewesen wäre“, so Hoffmann, „dann hätte ich viel Biografien geschrieben. Und Biografien waren in den ersten zwei Jahrzehnten [nach der Wiedervereinigung, Anm. d. Aut.] mit das Letzte, was man an diesem Institut [dem MPI für Wissen- schaftsgeschichte, Anm. d. Aut.] machte, da ging es um die epistemische Wissenschaftsgeschich- te.“ 65 Auch Laitko betonte 2005, dass man nun sehe „dass die östliche Flurbereinigung von 1990 so etwas wie der Auftakt zu einem gesamtdeutschen Niedergang des Ansehens der Wissenschafts- geschichte [...] gewesen ist.“66

Fünf Jahre später rief Laitko in einem Beitrag über das „Hochschulwesen der DDR als Gegenstand wissenschaftshistorischer Forschung“ zu einer Abkehr von „interessengeleiteter Polemik“ in der Untersuchung der jüngsten Vergangenheit auf. Man müsse in der geschichtswissenschaftlichen Erforschung gerade dieses Gegenstandes eine besondere „kognitive Bescheidenheit“ und Behut- samkeit an den Tag legen, da hier die Gefahr bestünde, dass Forschungsdesiderate mit dem An- spruch auf eine bestimmte Deutungshoheit übereinstimmten. Im Interview ebenso wie in seiner „Nachbetrachtung“ stufte Laitko Reizworte wie „Kolonialisierung“ oder „Säuberung“ als „emotio- nale Überhöhungen“ ein, die „diskursfeindlich“ seien. Laitko sagte weiter, dass er das auch da- mals, während des Umbruchs, in dem Emotionalisierungen der Debatte ihren Ursprung hatten, so gesehen habe. Dass er sich kritisch gegenüber der Politik der Eingliederung der ostdeutschen in die westdeutsche Wissenschaft positionierte, stand freilich auf einem anderen Blatt. „Meine Prä- ferenz“, so legte er im Interview dar, „wäre gewesen: eine Entwicklung in Richtung Koexistenz und Koevolution. Viele andere haben dann eine Präferenz gehabt für den Untergang des einen und den Sieg des anderen.“ Ganz im Duktus des Wissenschaftlers und gemäß seinem Plädoyer von 2010 wollte er diese Kritik allerdings nicht mit Polemiken untermauert wissen. „Ich habe gesehen, wie es läuft und es ist klar: der Sieger bestimmt den Lauf der Dinge, the winner takes all. Danach

64 Siegmund-Schultze, Abwicklung; Interview mit Dieter Hoffmann. 65 Interview mit Dieter Hoffmann. 66 Laitko, Wissenschaftsgeschichte, S. 105f. Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung 167

muss man sich einrichten und da hat es keinen Zweck darüber zu lamentieren.“67

Auch Dieter Hoffmann reagierte im Interview ablehnend auf emotionalisierte Begriffe wie „Säube- rung“ und „Kolonialisierung“, wenngleich er eine gewisse Asymmetrie im Prozess der Wiederver- einigung identifizierte, die in der Wissenschaft allerdings vom jeweiligen Bereich abhängig gewe- sen sei. Anders als Laitko widmete sich Hoffmann in seiner späteren wissenschaftlichen Laufbahn nie der analytischen Betrachtung des Geschehens von 1990/91. Und obwohl er sich, ebenfalls anders als Laitko, nach 1991 weiterhin in akademischen Beschäftigungsverhältnissen befand und den Mauerfall als „persönliche[n] Glücksmoment [s]eines Lebens“ bezeichnete, warf er vom Jahr 2018 aus einen kritischen Blick auf die Eingliederung des ostdeutschen Wissenschaftssystems in das westdeutsche. Genau wie Laitko betonte er, wie kompetitiv die westdeutsche Wissenschafts- landschaft gewesen sei, und wie wenig man im Osten darauf vorbereitet gewesen sei.68

Hannelore Bernhardt widmete sich nach dem Ende ihrer Beschäftigung im Rahmen einer ABM-Stelle, eines Werkvertrages, als Mitarbeiterin in einem DFG-Projekt und später als Arbeitslose und Rentnerin zwar weiter ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, äußerte sich allerdings nie publi- zistisch zu jenem Umbruchsprozess, der 1991 einen tiefen Einschnitt für sie bedeutet hatte. Im Interview nahm sie hingegen eine eindeutige Einordnung des Geschehens vor: Vereinigung 1990 – „das sollte man so nicht sagen. Offiziell war das ein Beitritt der DDR, keine Vereinigung oder Wie- dervereinigung. Wenn Sie es genauer sagen müssen: es war ein Anschluss, der in eine Annexion übergegangen ist. So muss man das schon sehen.“ So entschieden Bernhardt diese Ansicht vertrat – im Gefolge dieser Aussage betonte auch sie, dass es von Person zu Person Unterschiede gege- ben habe. Insbesondere für diejenigen, die später im MPI für Wissenschaftsgeschichte beschäftigt waren, hätte sich die Situation anders dargestellt.69

Es lassen sich mithin zusammenfassend zwei Faktoren ausmachen, die auf die Deutungen der Wis- senschaftshistoriker in den Jahren und Jahrzehnten nach der „Wende“ einwirkten. Zum einen, das zeigt das Beispiel Hannelore Bernhardts, prägten die weiteren Karrierewege der Zeitzeugen die Erinnerung an das Geschehen 1990/91. Zum anderen waren die Deutungen in ihrer Emotionalität erheblich bestimmt vom politischen Diskurs über die ostdeutsche Wissenschaft. Unabhängig von der Tatsache der Abwicklung und dem damit verbundenen urplötzlichen Ende von lebenslang gesichert geglaubten Arbeitsverhältnissen, war es demnach auch die ostdeutsche Wahrnehmung der negativen Rezeption der eigenen Wissenschaft durch Westdeutsche, die emotionale Über- höhungen provozierte. Auch das durch die politischen Entscheidungen forcierte Tempo der Ent- wicklung, das interne Selbsterneuerungs- und Demokratisierungsbemühungen überholte und

67 Interview mit Hubert Laitko; E-Mail vom 03.03.2019 (wie Anm. 61). 68 Interview mit Dieter Hoffmann. 69 Interview mit Hannelore Bernhardt. Hervorhebung d. Aut. 168 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

untergrub, evozierte Eindrücke der Entmündigung. Im Zuge diametraler Diskurse entstanden in der Folge Reizworte wie „Säuberung“, „Kolonialisierung“ oder „Annexion“. Dabei spielte stets der suprapersonale und gesichtslose Agitator der westdeutschen Politik eine entscheidende Rolle. Ausdrücke wie „die Entscheidungen kamen von ganz oben“ oder „andere haben entschieden“ ver- weisen auf eine vermisste Nachvollziehbarkeit der Ereignisse.

Hubert Laitko unterschied ausdrücklich zwischen seiner Bewertung der „offiziellen Politik“ und seinem Verhältnis zu westdeutschen Kollegen: „Die offizielle Politik war rigoros und ohne Wenn und Aber auf die Beseitigung unserer institutionellen Fundamente und auf die Elimination des erfahrenen Leitungspersonals aus.“70 Alle befragten Zeitzeugen beschrieben ihre westdeutschen Kollegen mit Nachdruck als kollegial. Man lobte die rasch hergestellte fruchtbare Zusammenarbeit auf Augenhöhe und hob insbesondere die Bemühungen der westdeutschen Wissenschaftshisto- riker hervor, bei Arbeitsplatzsuche oder privater Forschungstätigkeit ‚unter die Arme zu greifen’.71 Für die persönliche Begegnung von ost- und westdeutschen Wissenschaftshistorikern galten die radikalen Deutungen mithin nicht.

Schluss

Ende 1989 erwachte die ostdeutsche Wissenschaftsgeschichte „aus dem Tiefschlaf“.72 Waren die ersten Monate nach der Öffnung der Grenzen in der DDR-Wissenschaft geprägt von Tatendrang und politischer Euphorie, so galt dies für die Mitarbeiter von ITW und WTO gleichermaßen. Am ITW entwarfen die Wissenschaftsforscher Zukunftsmodelle, die auf Kooperation und Koevolu- tion mit der BRD zählten und im Modus analytischer Selbstverortung eine gleichzeitige Reform des ostdeutschen Systems forderten. Mit dem allgegenwärtigen Bedürfnis nach Mitspracherecht und vor dem Hintergrund einer sich beschleunigenden politischen Entwicklung griff allerdings auch der Topos einer entmündigten Basis um sich, die nicht an den Entscheidungsprozessen be- teiligt wurde. Dies galt auch für die Studentenschaft der Sektion WTO, die Kritik dieser Art an ihren Hochschullehrern übte. Im Laufe des Jahres 1990, als sich die Wiedervereinigung herauszukristal- lisieren begann, bekam dieser Topos zunehmend die Konturen ‚des Westens’. Obwohl die Wissen- schaftshistoriker im Austausch mit ihren Westkollegen positive Erfahrungen machten und auch auf diesem Gebiet Neues dachten und taten, blieb das Bild des gesichtslosen Staates als Entschei- dungsträger präsent. Die Beschlüsse über die Abwicklung der beiden wissenschaftswissenschaft-

70 E-Mail Hubert Laitko vom 03.03.2019 (wie Anm. 61). 71 Zur Formulierung vgl. Interview mit Dieter Hoffmann, der sich in diesem Zusammenhang lobend über Rüdiger vom Bruch äußerte. Hannelore Bernhardt und Hubert Laitko betonten ihre Dankbarkeit gegen- über Eckart Henning, der die Kolloquiums- und Publikationsreihe der „Dahlemer Archivgespräche“ her- ausgegeben und so ein Publikations- und Diskussionsforum geschaffen hatte. 72 Vgl. Anm. 28. Ostberliner Wissenschaftshistoriker zwischen Umbruch, Aufbruch und Abwicklung 169

lichen Institutionen setzten dem gewohnten Forschungsalltag wie dem Zukunftsoptimismus und Tatendrang ein jähes Ende. Mit den sich auflösenden Institutionen schwanden auch große Teile der Netzwerke und des in der DDR angehäuften wissenschaftlichen Potentials. Auch wenn man sich selbst insofern als privilegiert beschrieb, als dass man auch nach der Abwicklung notfalls als Privatperson in Archiven weiterforschen konnte, erhielten die Wissenschaftler ihre Meinung über eine asymmetrische Vereinigung der Forschungslandschaft aufrecht.

Zum Ende dieser Arbeit bleiben viele Fragen offen. Zwar haben Archivalien und Zeitzeugeninter- views Einblicke in die unterschiedlichen zeitgebundenen Handlungs- und Deutungsweisen Ost- berliner Wissenschaftshistoriker im Transformationsprozess selbst sowie aus der Retrospektive gewährt. Jedoch müssen die in dieser Arbeit gezogenen Schlüsse aus zweierlei Gründen als vor- läufig bezeichnet werden. Erstens hätte eine ungleich größere Gruppe von Wissenschaftshistori- kern befragt werden müssen, um ein repräsentativeres Bild zeichnen zu können. Dann erst ließen sich gefestigte Aussagen über die Abhängigkeit bestimmter Deutungsmodi von gemeinsamen Erfahrungsräumen und ihre Wandelbarkeit im Zuge einzelner biographischer Verläufe ausma- chen. Zweitens war es dem Zeitpunkt dieser Untersuchung geschuldet, dass viele Dokumente, die zusätzliche Einblicke in die Thematik versprechen, nicht miteinbezogen werden konnten. Damit tut sich ein grundlegendes Dilemma des verfolgten Ansatzes auf: Solange die Akteure des Ge- schehens noch am Leben sind, werden die Akten dem Historiker verschlossen bleiben. Ist jedoch genügend Zeit verstrichen, um die Dokumente zu sichten, wird niemand mehr von den hier disku- tierten Erfahrungen und Deutungen erzählen können. Sie im Rahmen schon heute stattfindender Untersuchungen zu erfassen, stellt daher ein lohnenswertes Unterfangen dar.

In Bezug auf die für diese Arbeit befragten Wissenschaftler gilt dies in besonderem Maße. Im Ge- gensatz zu Befragungen anderer Personenkreise, stellen die Wissenschaftshistoriker eine Grup- pe dar, die, wie Hubert Laitko es ausdrückte, „nicht nur selbst Wissenschaftler sind, sondern auch einen großen Teil ihres Lebens mit der Frage verbracht haben, wie Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart gemacht wurde und wird.“73 Damit waren ihre Berichte bereits von analytischen Selbstverortungen durchzogen, deren Entschlüsselung zwar eine Herausforderung darstellte, zu- gleich aber besondere Chancen bot.

73 E-Mail vom 03.03.2019 (wie Anm. 61). 170 Tabea Nasaroff / Die junge Mommsen 2020 (01)

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ABBAW: Schn., Nr. A2205 (ITW Abwicklung: Anweisungen, Hinweise, Arbeitspapiere vom 01.01.1992–30.06.1992).

Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin (AHU).

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Zeitzeugeninterviews und -gespräche mit Prof. Dr. Dieter Hoffmann am 29.11.2018 mit Dr. Hannelore Bernhardt am 05.02.2019 mit Prof. Dr. Hubert Laitko am 01.03.2019 mit Dipl. org. Marion Höppner am 20.05.2019

Zeitungen

Humboldt-Universität: die Zeitung der Alma Mater Berolinensis.

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