www.gegen-vergessen.de 93 / Juni 2017

Gegen Vergessen FÜR DEMOKRATIE Informationen für Mitglieder, Freunde und Förderer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Gegen Vergessen FÜR DEMOKRATIE Informationen für Mitglieder, Freunde und Förderer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Europäisch erinnern weitere Themen: ■ Joachim Gauck übernimmt Ehrenvorsitz ■ Auszeichnung für Zeitzeugen Ibrahim Arslan Ed i to ri al Liebe Mitglieder von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., liebe Freundinnen und Freunde!

Am 1. Juni ist unter Beteiligung unseres Vereins eine Arbeitsge- Um Demokratie geht es gegenwärtig auch in Europa, das in die- meinschaft der Orte der Demokratiegeschichte gegründet wor- sem Heft Hauptthema ist. Die Europäische Union ist der Zusam- den. In ihr haben sich etablierte Politiker-Gedenkstätten, aber menschluss von Demokratien, die gemeinsame Wertbezüge ha- auch kleinere Institutionen und Vereine zu einem Netzwerk zu- ben. Sie geht damit weit über einen gemeinsamen Markt hinaus; sammengeschlossen, um die Demokratiegeschichte unseres Lan- in Europa geht es um mehr als um freien Handel, ökonomische des, die keineswegs erst nach 1945 beginnt, verstärkt bewusst Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit. Ob die strukturellen Ge- zu machen. wichtungen – das Verhältnis von Gemeinsamkeiten und nationa- len bzw. regionalen Besonderheiten im gegenwärtigen Europa – Völlig klar ist, dass diese Orte der Erinnerung keinesfalls in ir- demokratisch ausgewogen sind und hinreichend Partizipation gendeiner Weise in eine Konkurrenz zu den Einrichtungen treten gewährleisten, darüber kann man sicherlich diskutieren. Von be- sollen, die in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes gefördert sonderer Bedeutung ist aber, dass die Bürgerinnen und Bürger werden, wie Staatsministerin Grütters bei der Gründungsveran- sich als Europäer empfinden und sich selbst nicht nur um ihren staltung betonte. Sie hält aber – wie Vertreter der SPD-Fraktion Staat, sondern um das transnationale Europa kümmern. Es gilt, und anderer Fraktionen – auch Orte der Demokratiegeschichte für Europa stärker als einen europäischen Kommunikationszusam- förderungswürdig, wofür es konkrete Voraussetzungen zu schaf- menhang zu begreifen, dabei das Unterschiedliche ebenso an- fen gilt. zuerkennen wie das, was die Europäer historisch und kulturell Gedenkstätten und Erinnerungsorte, die den Opfern der Dikta- verbindet. turen, insbesondere der NS-Vernichtungspolitik gewidmet sind Manches spricht dafür, dass die konkrete Anschauung des natio- und Orte, die der Erinnerung an Stationen und Protagonisten der nalen Populismus – in der Trumpschen Politik wie in den Auswir- Demokratiegeschichte dienen, ergänzen einander. Auch die Ge- kungen des Brexit – bei vielen Menschen zu einer Rückbesinnung denkstätten, bei denen die Erinnerung wie beim Holocaust ihre auf Europa führt. Mit Helmut Kohls Geschichtspolitik mögen viele Begründung in sich haben (wir müssen wissen, was Ungeheuer- von uns, etwa in den 1980er Jahren, nicht einverstanden gewesen liches geschehen ist), dienen ex negativo der Demokratiebegrün- sein, seine Leistungen 1989/90 – seine Verbindung von nationa- dung; sie zeigen, welche Folgen es hat, wenn Menschen- und ler und europäischer Orientierung – werden die meisten von uns Bürgerrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Begrenzung bejahen. der Herrschaft auf Zeit nicht gelten. Ich wünsche uns allen einen schönen Sommer mit erholsamen Darüber hinaus ist es wichtig zu wissen, dass Demokratie er- Ferien, auch Erfolge bei der Durchsetzung unserer Anliegen. kämpft und erstritten wurde, dass sie immer wieder neu durch- gesetzt, d. h. gelebt werden muss und auch gefährdet ist. De- Mit den besten Grüßen mokratie ist deshalb nie ein für allemal erreicht, sondern ein Prozess, für den die Bürgerinnen und Bürger verantwortlich sind. Ihr / Euer Demokratiegeschichte ist vor diesem Hintergrund bedeutsam.

Bernd Faulenbach

Die Mitgliederversammlung 2017 findet vom25. bis 26. November in Hannover statt. Bitte merken Sie sich diesen Termin vor.

IMPRESSUM Herausgegeben von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Stauffenbergstraße 13-14, 10785 Telefon (0 30) 26 39 78-3, Telefax (0 30) 26 39 78-40, [email protected], www.gegen-vergessen.de Bankkonto: Sparkasse KölnBonn, Konto-Nr. 85 51 707, BLZ 370 501 98

Titelfoto: Exponat aus dem Haus der europäischen Geschichte zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Foto: Europäisches Parlament / Dominique Hommel. Redaktion: Liane Czeremin, Dr. Dennis Riffel, Julia Wolrab, Dr. Michael Parak (V.i.S.d.P.) Gestaltung: Atanassow-Grafikdesign, Dresden Druck: B&W MEDIA-SERVICE Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH Die Herausgabe dieser Zeitschrift wurde gefördert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. ISSN 2364-0251

2 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017

I n halt Inhaltsverzeichnis Die Themen in dieser Ausgabe

Themen Vom Umgang mit europäischer und nationaler Geschichte heute 4 Kommentar: Das Haus der europäischen Geschichte – ein Haus der Demokratie in Europa 8 Initiativen für Europa 9 Interview: „Europa war für unsere Generation immer selbstverständlich“ 11 Vor Ort europäisch erinnern 12 Das „Jahrhundertprojekt“ 14 Erinnerungskultur in Südkorea 16 Dem Vergessen entgegenwirken 19 Zum Umgang mit bewegten Bildern – Medienbildung in der Praxis 21

Analyse und Meinung Brauchen wir ein Exil-Museum? 23 Aller Anfang ist ... wie war das noch? 24

Aus unserer Arbeit Der Koffer der Pandora 28 RAG Südhessen: Die ständige Angst vor dem Briefkasten 29 RAG Nordbaden: Werben für Engagement 32 RAG Hannover: Das Grauen im KZ wird für Zuschauer spürbar 33 RAG Augsburg: „Stabübergabe“ an Christian Gerlinger 34 RAG Südbaden: Täter, Helfer, Trittbrettfahrer – NS-Belastete aus Südbaden 35 RAG Sachsen-Anhalt stellt sich vor 36

Namen und Nachrichten Joachim Gauck übernimmt Ehrenvorsitz 37 Auszeichnung für Zeitzeugen Ibrahim Arslan 38 Sonderurlaub für das Ehrenamt 39 Erinnerungen und ein „Danke“ an Hans Koschnick 40 Warum ausgerechnet Sachsen? 41 Hans-Jochen Vogel startet neue Spenden-Initiative 41

Rezensionen Ernst-Jürgen Walberg bespricht – eine Sammelrezension: 42 „To Hell and Back“ „Aufstieg aus der Asche“ „Lasst Europa auferstehen!“ Illusion, Wunsch oder Wirklichkeit? Vergangenheit mit dem Heute verknüpft 45 Die Schicksale der Überlebenden 46

Impressum 2 Vorstand und Beirat 47

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 3 Bernd Faulenbach T h em a Vom Umgang mit europäischer und nationaler Geschichte heute

Viel ist zur Zeit die Rede von der Krise Europas. Der Brexit, ein euroskeptischer, teilweise auch europafeindlicher Popu- lismus, unübersehbarer wachsender Nationalismus – dies und anderes charakterisiert die gegenwärtige Konstellation.

Doch gibt es unverkennbar auch Gegen- tendenzen. Die selbstherrliche Politik des amerikanischen Präsidenten Trump wirkt geradezu wie eine Aufforderung an die Javier Bernal Revert

Europäer, sich gemeinsam in einer verän- / derten Welt zu behaupten und auch in den Zivilgesellschaften haben Bürgerin- nen und Bürger – etwa in der Bewegung „Pulse of Europe“ – begonnen, sich zivil- gesellschaftlich für Europa wieder zu en- gagieren, was die Frage nach Reformen von Europa nicht ausschließt. Foto: Europäisches Parlament Foto: Europäisches

In diese Zeit fällt nun die Eröffnung des Hauses der europäischen Geschichte in Brüssel, die die Frage der Bedeutung von Geschichte und Erinnerung für die Euro- päer erneut aufwirft und die der Einord- nung ebenso bedarf wie die antieuropä- ischen Tendenzen. Das Haus der europäischen Geschichte wurde am 6. Mai 2017 in den Räumen einer ehemaligen Zahnklinik im Europaviertel eröffnet. Auf den Seiten 6 bis 8 sehen Sie eine Bildergalerie aus der Ausstellung. Die Fotos I wurden uns vom Europäischen Parlament zur Verfügung gestellt.

Beschlossen wurde das Haus der europä- Nationalstaaten: es wird vielmehr nach die mythischen Ursprünge, die griechi- ischen Geschichte vor ca. 10 Jahren, als dem spezifisch „Europäischen“ in der sche Philosophie, das römische Recht, man in Brüssel nach der Osterweiterung Geschichte gefragt. „Europäisch“ ist da- das Christentum, die Renaissance, die der EU und der Einführung der gemein- bei ein europäisches Phänomen, das in Aufklärung. Bezogen auf das 19. Jahr- samen Währung noch optimistisch in Europa entsteht, sich in Europa verbrei- hundert werden zu Recht auch die eu- die Zukunft blickte. In diesen Jahren ver- tet und in der Gegenwart noch Bedeu- ropäischen Schattenseiten – etwa der suchte das Europäische Parlament eine tung hat. In dem neuen Haus geht es um Kolonialismus – thematisiert. Allzu re- ganze Reihe von geschichtspolitischen die gemeinsame Geschichte. duziert mag man die Ausstellungsstücke Beschlüssen zu fassen und 2009 auch ein zur industriellen Revolution sehen, ein Papier zum historisch-politischen Selbst- Schwerpunkt des Museums ist das 19. mächtiger Dampfhammer ist zu sehen, verständnis zu verabschieden. Das Mu- und 20. Jahrhundert. Für das aus acht dazu eine Erstauflage des Kommunisti- seum wurde nun in einem stark verän- europäischen Ländern bestehende Team schen Manifests... derten Zeitklima eröffnet und ist gerade erreichte Europa im 19. Jahrhundert den deshalb ein Ereignis. Höhepunkt seiner Macht in der Weltge- Generell stehen die Objekte der Ausstel- schichte, doch folgte darauf in der ersten lung für komplexe historische Tatbestän- Das in einem Art-Deco-Bau, einer frühe- Hälfte des 20. Jahrhunderts eine beispiel- de und Zusammenhänge. In der Ausstel- ren Zahnklinik, untergebrachte Haus in lose Katastrophe („30jähriger Krieg“), lung, die sich in ungewöhnlichem Maße Brüssel, das im EU-Viertel steht, gleich aus der Europa erst nach dem Zweiten digitalisierter Medien bedient, ist wenig benachbart dem Parlament und dem Mi- Weltkrieg begann, politische Schlussfol- zu lesen, doch liefern Tablets in 24 Spra- nisterrat, mag man als „postnationales gerungen durch den Aufbau der europäi- chen Erläuterungen. Museum“ bezeichnen. Tatsächlich ver- schen Gemeinschaft zu ziehen. sucht es, sich von den in Europa verbrei- „Der beklemmende und beste Teil“ – so teten nationalen Sichtweisen zu lösen, Selbstverständlich wird auch die Vorge- hat ein Kritiker geurteilt – „handelt vom Europa ist hier nicht die Addition von schichte mit wenigen Objekten gestreift: neuen Dreißigjährigen Krieg, der nicht

4 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 nur Europa, sondern die ganze Welt be- tionellen Nationalbewusstseins auffassen. traf“. Ein Schwerpunkt liegt dabei im Ho- wikipedia / locaust, der als Folge des Nationalismus Ein Beispiel dafür sind die Auseinander- T h em a und Antisemitismus begriffen wird, der setzungen um das Museum des Zweiten sich in Europa seit dem 19. Jahrhundert Weltkriegs in Danzig, für das ein spek- ausbreitete. Den Holocaust als europä- takulärer Neubau geschaffen wurde. isches Geschehen zu betrachten, wer Hier wird das Geschehen – von Danzig könnte dem widersprechen. Generell sind ausgehend – in europäische und globa-

die totalitären Erfahrungen von beson- H. Boettcher Foto: Rudolf le Zusammenhänge eingeordnet. Dabei derem Gewicht in der europäischen Ge- werden die polnischen Motive durchaus schichte. Heutiges europäisches Selbst- deutlich, doch scheint die von der PIS- verständnis definiert sich gerade durch die Partei getragene Regierung mit dem rigorose Ablehnung totalitären Denkens. Konzept des Museums nicht zurecht- zukommen und sinnt auf Änderungen, Das Museum endet in der Geschichte weil aus ihrer Sicht das Museum vor al- der EU und ihrer Ausweitung auf Ost- lem der Stärkung des polnischen Natio- mitteleuropa, der Vertrag von Maast- Pawel Machcewicz ist Gründungsdirektor des Muse- nalbewusstseins dienen soll. richt kommt vor, doch auch die 100.000 ums in Danzig, das im März 2017 eröffnet wurde. Ihm wurde mittlerweile gekündigt. Seiten umfassende Gesetzessammlung Hinzu kommt, dass das Museum in be- und auch der Brexit. In der Tat ist die Ge- sonderer Weise die Zivilisten als Opfer des schichte Europas zur Zukunft offen. Und II Krieges darstellt und gleichsam eine vik- für sie tragen die Bürgerinnen und Bür- timologische Sicht vorherrscht, die dem ger in Europa Verantwortung. Das Museum liegt im Trend geschichtswis- traditionellen Bedürfnis nach Heroisie- senschaftlicher Publikationen, unter denen rung widerspricht. Die Auseinanderset- Das Museum ist keine Propagandainsti- in den letzten Jahren Synthesen mit trans- zung ist nicht auf Polen beschränkt. Die tution, sondern der durchaus differen- nationalem und europäischem Charakter russische Geschichtspolitik beispielswei- zierte Versuch von Museumsmachern deutlich zugenommen haben. Anderer- se hat sich niemals dem Trend zu einer aus verschiedenen europäischen Län- seits aber sind daneben in verschiede- opferzentrierten Sicht geöffnet. Und in dern, sich der europäischen Geschichte nen Ländern Geschichtspolitiken im Vor- vielen Ländern stehen verschiedene Ten- zu stellen und verdient deshalb auch un- marsch, die Geschichte fast ausschließlich denzen nebeneinander, die zur Stellung- ser Interesse bei GVFD. wieder als Mittel zur Stärkung eines tradi- nahme auffordern. »

Das Museum des Zweiten Weltkrieges in Danzig verfügt über ein modernes Ausstellungskonzept und atemberaubende Architektur. Doch unter der Regierung der PiS sind die Kuratoren in Bedrängnis geraten. Foto Musem: / wikipedia jroepstorff

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 5 T h em a

Eindrücke aus der Ausstellung im neuen Haus der europäischen Geschichte in Brüssel.

» Fast überall in Europa hat sich seit der frühen Neuzeit ein Nationalbewusstsein konstituiert, das durch die Geschich- te oder Projektionen in die Geschichte geprägt wurde und sich von dem der Nachbarn unterschied, zudem in natio- nal unterschiedlichen Geschichtsverläu- fen seine Abstützung erhielt. Zeitweilig hatte dieses Bewusstsein geradezu eine exklusive Bedeutung. Auch wenn es sich abgeschwächt hat, wird es doch auf ab- sehbare Zeit ein Faktor bleiben, zumal Globalisierung und andere Prozesse ten- denziell das Nationalbewusstsein wohl eher stärken. Zugleich aber ist es heute unmöglich, das jeweilige nationale Ge- schichtsbewusstsein hermetisch zu iso- lieren; es gibt einfach viel mehr Kom- munikation mit den Nachbarn. Deshalb ist bilaterale Arbeit an Geschichte, dia- logisches Erinnern, so bedeutsam. Den Erinnerung an den Ersten Weltkrieg: Ein Soldatenfriedhof.

Historische Klassenfotos: Zugehörige Kleinexponate verbergen sich hinter Klappfächern. Dominique Hommel / Fotos: Europäisches Parlament Fotos: Europäisches

6 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 T h em a

anderen auf dem Hintergrund seiner Die deutsche Gesellschaft hat sich in der schen Geschichtsbewusstsein verbinden, besonderen Geschichte zu verstehen, ist Nachkriegsepoche in einem mühsamen, das jedoch nicht von oben oktroyiert wer- immer noch eine wichtige Aufgabe. von Rückschlägen nicht freien Prozess mit den kann, sondern in der Gesellschaft der jüngsten Geschichte auseinanderge- wachsen muss, übrigens auch mit dem III setzt und tut dies nach wie vor. Dabei ist Versuch, deutsche Demokratiegeschichte ein Bewusstsein entstanden, das heuti- stärker bewusst zu machen, verknüpft Wie stellt sich der deutsche Fall im euro- ge politische Identität sich gerade in der werden kann, was freilich die schwierige päischen Kontext dar? Keine Frage, dass Negation der Wertorientierungen der Frage des Verhältnisses verschiedener die NS-Zeit das traditionelle deutsche Na- NS-Zeit im Bruch mit dieser Vergangen- Kontinuitätslinien einschließt. Hier liegt tionalbewusstsein erheblich erschüttert heit definiert. Eine besondere Rolle spie- für Deutschland ein beträchtlicher Diskus- hat. Viele zumal junge Leute wollten in len deshalb die NS-Zeit, der Holocaust, sionsbedarf. Über nationale und trans- den Nachkriegsjahren das Nationalbe- die Diktaturerfahrungen, die freilich auch nationale Erinnerung gilt es im Hinblick wusstsein hier durch ein Europabewuss- für die anderen europäischen Länder auf eine gemeinsame europäische Zu- tsein ersetzen. Doch holten die Schat- ihre Bedeutung haben. kunft generell intensiver nachzudenken. ten der Vergangenheit rasch die deut- Das Haus der Europäischen Geschichte sche Gesellschaft ein. Auch musste man Deutsches Selbstbewusstsein wird auf kann dazu ein Anlass sein, den wir auf- feststellen, dass die meisten anderen Na- unabsehbare Zeit vom Wissen um die greifen sollten. ■ » tionen zwar bereit waren, Europa ge- NS-Zeit und um Diktaturerfahrungen meinsam aufzubauen, doch wollten sie geprägt bleiben. Dies kann sich durch- damit ihr Bewusstsein nationaler Identi- aus mit einem wertorientierten europäi- tät keinesfalls aufgeben, im Gegenteil: der Krieg schien es erneut zu bestätigen. Prof. Dr. Bernd Faulenbach ist Vorsitzender von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Auch osteuropäische Freiheitsbewegungen wie die Solidarność spielen eine Rolle.

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 7 Kommentar Paul Nemitz

T h em a Das Haus der europäischen Geschichte – ein Haus der Demokratie in Europa

» Zwischen dem Europäischen Parlament und Staaten in Europa über Jahrtausen- und dem Ministerrat der EU in Brüssel de immer wieder getrennt und immer steht nun das neue Haus der europäi- wieder zusammengeführt hat. schen Geschichte. Seit dem 6. Mai 2017 ist es kostenlos zugänglich für alle. Das Auch das Ausstellungsgebäude ist ge- Europäische Parlament ist die treibende Foto: Harry Soremski lungen, dazu kommen fantastische Ver- Kraft für die Einrichtung dieses neuen anstaltungsräume verschiedener Größen Ortes der Erinnerung. Das Parlament und ein pädagogisches Programm. steuert den Großteil der notwendigen Finanzmittel bei. Auch die Europäische Ich wünsche mir, dass die Besucher des Kommission unterstützt das Vorhaben. Hauses der europäischen Geschichte Der Ministerrat der EU, in dem die Regie- nach der Rückkehr in ihre Heimat am rungen der Mitgliedstaaten zusammen- Sonntag auf dem Markplatz ihres Hei- kommen, verweigert die Unterstützung. matortes bei der „Pulse of Europe“- Über die Gründe darf man spekulieren. Demonstration mitgehen – oder selbst Unser Kommentator: Paul Nemitz eine „Pulse of Europe“-Demonstration In der Kritik wurden die Dauerausstel- Kein langweiliges Geschichtsbuch, son- anschieben, wenn es sie an ihrem Ort lung zur Geschichte Europas und die dern Impressionen persönlicher Betroffen- noch nicht gibt. Wenn das geschieht, erste Sonderausstellung mit dem Titel heit durch Europa oder die Abwesenheit dann wissen wir: Sie haben verstan- „Begegnungen“ positiv aufgenommen. von Europa. Keine Tagespolitik, die Besu- den, dass Frieden und Demokratie, Das Haus ist nun jeden Tag voller junger cher in der Hauptstadt Europas sowieso Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit Leute, die in den theatralisch gestalteten von Abgeordneten und Vertretern der Ins- nur in einem gemeinsamen Europa zu Räumen vieles zum Mitmachen, zum titutionen vermittelt bekommen, sondern haben sind und dass sowohl die De- Ausprobieren und zum Träumen finden. die langen Linien dessen, was Menschen mokratie als auch Europa unser aller Engagement fordern. Die Einrichtung Paul Nemitz ist Direktor für Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Generaldirek- des neuen Hauses der europäischen tion Justiz der Europäischen Kommission in Brüssel und Vorstandsmitglied von Gegen Geschichte sowie die Reise nach Brüssel Vergessen – Für Demokratie e. V. waren dann wirklich ihr Geld wert. ■

Besucher im neuen Haus der europäischen Geschichte. Dominique Hommel / Foto: Europäisches Parlament Foto: Europäisches

8 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Julia Wolrab

T h em a Initiativen für Europa

Eine große Anzahl neu gegründeter Initiativen und enga- Initiativen eint der Wunsch, eine offene Gesellschaft zu gierter Einzelpersonen hat sich in den vergangenen Mo- bewahren, in der Vielfalt und demokratische Werte gelebt naten in Deutschland und anderen europäischen Ländern werden, die auch immer europäische Werte waren. Die zusammengefunden, um Europa den Menschen näher- Facetten der Beteiligung reichen von klassischen Demos zubringen. Anlass sind auch die erstarkenden rechtspo- über digital vernetze Diskussions- und Blogforen bis hin pulistischen und europaskeptischen Strömungen. Alle zu Förderkampagnen und Transparenzinitiativen.

Den meisten neuen Gruppen ist jedoch Für Gegen Vergessen – Für Demokratie Aktivitäten können neue Impulse für die auch das Ringen um Antworten auf die e.V. steht das Thema Europa nicht erst Arbeit vor Ort zum Thema Europa wach- Frage gemein, was uns in Europa eigent- seit Kurzem auf der Agenda. Die Diskussi- sen. Vor diesem Hintergrund stellen wir lich zusammenhält. Was bedeutet euro- on um eine europäische Erinnerungskul- im Folgenden eine kleine Auswahl an päische Identität? Gibt es eine verbinden- tur und das Eintreten für eine demokra- pro-europäischen Initiativen mit ihren Zie- de europäische Erinnerung? Oft scheint tische, europäische Wertegemeinschaft len vor und werben damit für ein Mehr an es leichter zu fallen, sich gegen etwas zu sind nur zwei Aspekte, die der Verein Diskussion und Antworten über Europa. positionieren – gegen geschlossene Gren- bislang in Veranstaltungen und Diskus- zen oder gegen Demokratiefeindlichkeit sionsbeiträgen umgesetzt hat. Dass zu Advocate Europe (AC) ist ein jährlich statt- –, als Standpunkte zu entwickeln, die po- diesem Thema bereits vielfältig gearbei- findender Ideenwettbewerb zur Stärkung sitive Aspekte des europäischen Gedan- tet wurde, zeigt die Zusammenfassung des Zusammenhalts in Europa. AC wen- kens hervorheben können. Wer über das an Aktivitäten auf den Seiten 12 und 13 det sich an Akteure der Zivilgesellschaft, Für nachdenkt, ist außerdem gezwun- dieser Ausgabe. die Anschubfinanzierung und Unterstüt- gen, sich mit unbequemen Fragen ausei- zung suchen, um ihre nachhaltigen Ide- nanderzusetzen: Wie transparent ist die Die Landschaft pro-europäischer Initiati- en auf Feldern wie soziale Innovationen, Brüsseler Bürokratie für die Menschen in ven hat sich in den vergangenen Mona- Kunst, Kultur oder Politik umzusetzen. Europa? Wer gestaltet Europa? Welcher ten stark ausdifferenziert. Darin liegt ein Gefördert werden Projekte, die zur inter- Grad an Partizipation ist sinnvoll? Wie großes Potenzial, auch für die Arbeit von kulturellen Verständigung in Europa bei- verhalten sich das Bedürfnis nach Offen- Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. tragen, mit originellen Formaten arbeiten heit und der Wunsch nach mehr Sicher- Durch Vernetzung, generationenüber- und die Lebenswirklichkeit der Menschen heit zueinander? greifenden Austausch und gemeinsame in Europa berücksichtigen. Pro Jahr wer- »

Der Gedanke von Europa als Zuhause, emotionale Verbundenheit und gemeinsame demokratische Werte einen viele Menschen, die sich in pro-europäischen Initiativen engagieren. Foto: Arne Schmidt / Konzeptautoren

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 9 T h em a Foto: Arne Schmidt / Konzeptautoren

Im März 2017 beteiligten sich zahlreiche Organisationen in Berlin am „march for europe“.

» den bis zu zwölf Ideen mit bis zu 50.000 Pulse of Europe ist eine aus Frankfurt am Diskussionsbeiträge veröffentlicht. Auch Euro unterstützt und begleitet. Die Preis- Main stammende Bürgerinitiative ohne die Frage nach einer verbindenden eu- träger des Ideenwettbewerbs, in dessen parteipolitische Bindung, die mittlerweile ropäischen Identität spielt dabei eine Rahmen die Finanzierung ausgeschüttet in knapp 130 europäischen Städten ver- zentrale Rolle. Der Verein befindet sich wird, werden jeweils im Frühjahr bekannt treten ist. Die Initiative bemängelt, dass derzeit im Aufbau und sucht nach Men- gegeben. Ideen können von gemeinnüt- derzeit vor allem europaskeptische Stim- schen, die bei diesem Prozess unterstüt- zigen Institutionen aus ganz Europa von men in der Öffentlichkeit zu hören seien, zen möchten. Januar bis März eingereicht werden. Ge- obwohl ein Großteil der Bevölkerung nach tragen wird Advocate Europe vom Verein wie vor hinter der europäischen Idee ste- Kontakt: [email protected] Mit-Ost sowie von Liquid Democracy e.V., he. Öffentliche Sichtbarkeit und Mitbe- Website: www.europeanway.org gefördert wird das Projekt von der Stif- stimmung öffentlicher Diskurse ist deshalb tung Mercator. erklärtes Ziel der Initiative. Jeden ersten Eutopia ist eine Berliner Initiative, die ei- Sonntag im Monat lädt Pulse of Europe nen offenen Austausch über Europa för- Kontakt: [email protected] in teilnehmenden europäischen Städten dern möchte und das Ziel verfolgt, sich Website: www.advocate-europe.eu/de um 14 Uhr zu gemeinsamen Kundgebun- mit anderen pro-europäischen Einrich- gen ein und möchte europäische Werte tungen zu vernetzen und diese bei mo- The European Moment ist eine Kampa- im Herzen der Städte wieder sichtbar ma- natlichen Podiumsdiskussionen vorzustel- gne der Jungen Europäischen Bewegung chen. Eine Übersicht teilnehmender Städ- len. Eutopia greift neben Europa auch die Berlin-Brandenburg, die vom Europäi- te finden Sie unter: Themen Migration und Demokratie auf. schen Studierendenforum AEGEE sowie www.pulseofeurope.eu/poe-staedte Neben regelmäßig stattfindenden Podi- der Organisation Stand Up For Europe umsdiskussionen werden auch Porträts unterstützt wird. Die Initiative richtet sich Neue Städte können angemeldet werden und Kurzfilme (zum Beispiel zum Thema überwiegend an junge Menschen und unter: [email protected] Flucht) sowie Meinungsbeiträge online möchte zu mehr Beteiligung für Europa Website: www.pulseofeurope.eu veröffentlicht. Laetitia Lenel, Gründungs- motivieren. Einmal im Monat findet dazu mitglied von Eutopia, äußert sich zu den eine Demo (oder Fahrraddemo) in Berlin The European Way, 2016 gegründet, Zielen der Initiative auch noch einmal im statt. Gefordert wird dort zum Beispiel möchte der in Deutschland eingetragene Interview auf Seite 11. eine tiefgreifende europäische Initiative gemeinnützige Verein The European Way zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosig- mithilfe von europaweiten Lokalgruppen Kontakt: [email protected] keit oder eine solidarische und gerechte (Zirkeln) eine kreative Kultur der Partizi- Website: www.eutopia.blog ■ Wirtschafts- und Steuerpolitik, um sozia- pation fördern und gemeinsame Werte ler Ungleichheit aktiv entgegenzuwirken. sichtbar machen. Lokale Zirkel gibt es bereits in Heidelberg, Berlin, Friedrichs- Kontakt über Facebook ist möglich: hafen, Oldenburg, Bologna und Wien. https://www.facebook.com/ Vor Ort werden Fragen von Partizipati- TheEuropeanMoment/ on, Gleichheit und Gewaltlosigkeit dis- kutiert, Veranstaltungen organisiert und

Julia Wolrab ist wissenschaftliche Referentin von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.

10 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Interview

T h em a „Europa war für unsere

Generation immer Jeroch Foto: Theresa Laetitia Lenel (links) während einer Podiumsdiskussion selbstverständlich“ von „Eutopia“ im Mai 2017.

Fragen an Laetitia Lenel, Gründungsmitglied der pro-europäischen Initiative „Eutopia“

Worin bestand Ihre persönliche Moti- nicht anders. Das Brexit-Referendum hat tionen. Aber Aktivisten, die sich in dieser vation, eine eigene Pro-Europa-Initia- uns gezeigt, dass wir das europäische Pro- Form engagieren, erzählen mir immer tive zu gründen? jekt nicht als gegeben ansehen können wieder, dass es dabei vor allem um Sicht- Gegründet wurde „Eutopia“ von Aljo- und dass Europa uns braucht. barkeit geht. Rechtspopulisten geben vor, scha Brell. Er fragte im Juni 2016 in einem eine Mehrheit zu sein, die „endlich ein- Facebook-Post, was er seiner Tochter ant- Der Name „Eutopia“ klingt sehr zu- mal“ sagt, was „die Eliten da oben“ nicht worten solle, wenn diese ihn in 20 oder kunftsorientiert. Welche Rolle spielt hören wollen. Das wollen pro-europäische 30 Jahren frage, wo er eigentlich gewe- demgegenüber die europäische Ge- Demonstrationen, die in den vergange- sen sei, als die Populisten übernommen schichte für das Selbstverständnis Ihrer nen Monaten Tausende Menschen auf die haben und das größte Friedensprojekt in Initiative, zum Beispiel die Erinnerung Straße gebracht haben, als Irrglauben ent- der Geschichte der Menschheit vor die an zwei Weltkriege oder den Kalten larven. Zugleich geht es darum, all diejeni- Hunde gegangen ist. Auf diesen Post hat Krieg im vergangenen Jahrhundert? gen, die bislang passiv zugesehen haben, Aljoscha damals sehr viele Reaktionen von Das europäische Projekt ist als Reaktion wie das europäische Projekt aufs Spiel Menschen bekommen, die sich nach dem auf die geschichtlichen Erfahrungen von gesetzt wird, zu aktivieren und zurück ins Brexit-Referendum ähnliche Fragen ge- Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus Gespräch zu holen. stellt haben. Zu diesen Menschen habe ich und Krieg entstanden. Insofern ist das auch gehört; aus unseren Treffen und Ge- Ideal eines vielfältigen, offenen und friedli- Wie wichtig ist die Kommunikation sprächen ist dann „Eutopia“ entstanden. chen Europas nicht ohne diese Geschichte über das Internet für eine Initiative zu denken. Sie ist immer präsent. wie „Eutopia“? Wofür steht „Eutopia“ und wer enga- Sehr wichtig. Wir arbeiten alle ehrenamt- giert sich dort? Vor dem Hintergrund der Vielzahl an lich und haben daneben Familie und Jobs, Auf Wikipedia wird „Eutopia“ als „a place Europa-Initiativen mit ähnlichen Zie- die uns zum Teil auch in andere Städte und of ideal well-being, as a practical aspirati- len und Zielgruppen: Kommen Sie ei- Länder führen – insofern ist das Internet on (compared with utopia as an impossi- nander nicht ins Gehege? für unsere Kommunikation notwendig. ble concept)“ beschrieben. Die Filmema- Das war auch unsere Sorge, deshalb ha- Zugleich können wir unsere Arbeit über cherinnen, Grafiker, Projektmanager und ben wir uns die Vernetzung pro-europä- unseren Facebook-Kanal und unsere Web- Wissenschaftlerinnen, die sich bei Eutopia ischer Initiativen zur Aufgabe gemacht. site mit vielen Leuten teilen. Dazu gehören engagieren, bringen unterschiedliche Per- Wir wollen das Rad schließlich nicht fünf- zum Beispiel auch die großartigen Inter- spektiven und Fähigkeiten mit, aber uns oder zehnfach neu erfinden, sondern zu- views, die eine Gruppe um die Motion- eint der Wunsch, Europa diesem Ideal sammenarbeiten, über die Grenzen von Graphic Designerin Caroline Heinrich mit durch unsere Arbeit ein Stück näher zu Städten und Ländern hinweg. Ich glaube, Menschen führt, die aufgrund von Krieg bringen. Ganz konkret geht es uns aber das ist sehr wichtig – nicht zuletzt um dem und Gewalt oder aber für Arbeit oder Lie- erst einmal darum, überhaupt wieder ge- Rechtspopulismus etwas entgegenzuset- be nach Europa gekommen sind. sprächs- und gestaltungsfähig zu werden, zen, der sich paradoxerweise trotz natio- unsere politische Stimme zu finden. nalistischer Gesinnung als internationale Ersetzt das Engagement bei „Eutopia“ Bewegung geriert. für Sie die Mitarbeit in einer Partei? Warum erreichen Sie vor allem junge Nein, für mich gehört beides zusammen. ■ Menschen zwischen 20 und 30 Jahren? Was können Demos für ein geeintes Ich glaube, dass die Europaskepsis, die Europa bewirken? Die Fragen stellte Julia Wolrab. sich in den vergangenen Jahren breit zu „Eutopia“ veranstaltet keine Demonstra- machen schien, junge Menschen ganz besonders erschüttert hat. Schließlich Laetitia Lenel, studierte Geschichte und Philosophie in Freiburg, Genf, Berlin und war Europa für unsere Generation immer Prag. Seit 2015 promoviert sie an der Humboldt-Universität zu Berlin zur Geschichte selbstverständlich – wir kennen die Welt der Konjunkturprognose. Sie ist Gründungsmitglied von „Eutopia“. Weitere Infos finden Sie unter www.eutopia.blog.

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 11 Vor Ort europäisch erinnern T h em a

Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. ist mit den Regionalen Arbeitsgruppen in vielen Regionen Deutschlands aktiv, wenn es um das Gedenken und Erinnern an NS-Diktatur und DDR-Unrechtsstaat geht. Aber wie steht es mit dem Blick über den deutschen Tellerrand hinaus? Wir haben einige Beispiele praktischer europäischer Erinnerungsarbeit von Ge- gen Vergessen – Für Demokratie e.V. gefunden, und es gibt bestimmt noch mehr:

Erinnerungskultur europäisch denken in Duisburg

Die Regionale Arbeitsgruppe Rhein-Ruhr West widmet sich seit Beginn ihrer Arbeit der europäischen Erinnerungskultur. Der Rahmen war ein Arbeitsprogramm, das auf vier Gedenktagen beruhte: dem 27. Januar, dem 9. Mai, dem 23. Mai und

dem 17. Juni. In diesen Veranstaltungs- Foto: Dominique Conrath reihen wurde, immer wenn dies möglich war, ein europäischer Akzent gesetzt. Nicht als das exotisch andere, sondern als selbstverständlicher Teil des eigenen Lebensraumes, der eigenen Lebenswirk- lichkeit. Verdeutlichen lässt sich dies am besten an der Reihe zum 17. Juni: Or- ganisiert wurde ein Gedenktag für die Freiheits- und Arbeiterbewegungen Ost- Francine Mayran führte im Januar 2016 durch ihre Ausstellung in der Duisburger Salvatorkirche. europas, nicht nur einer in Erinnerung an die Bewegungen in der DDR. Der de- 2014 wurde die „Nelkenrevolution“ von Über diese Veranstaltungen entstanden mokratiegeschichtliche Bezug wurde zu- 1974 in Portugal gewürdigt. viele Arbeitskontakte, die auch in den dem im Fest zum Europatag eingefügt: Folgejahren tragend für die Arbeit wa- ren. So stellte Maren Westermann am Bundespräsident a.D. Joachim Gauck reiste 2013 als erstes Staatsoberhaupt nach Sant‘ Anna di Stazzema, um an das Massaker vom 12. August 1944 zu erinnern. Maren und Horst Westermann (links und rechts im Bild) 27. Januar 2003 ihr Projekt eine „Orgel begleiteten ihn. Im Hintergrund ist die Friedensorgel zu sehen. für Sant‘ Anna“ vor – sie selbst trat kur- ze Zeit später unserer Vereinigung bei.

Schließlich ist die Duisburger Woche des Gedenkens zu erwähnen. 2016 wurden Gemälde der Straßburger Künstlerin Francine Mayran gezeigt und in einer Führung durch die Künstlerin erläutert. Mayran erbaut seit 2008 einen Euro-

Foto: / Denzel Bundesregierung päischen Weg der Erinnerung mit fast 50 Ausstellungen in acht europäischen Ländern. In ihren Werken beschäftigt sie sich mit der Shoah und anderen Völker- morden und ruft dabei eindrucksvoll den großen Wert jedes einzelnen menschli- chen Lebens wieder ins Gedächtnis.

Gemeinsam nach Sobibor

Der Regionalen Arbeitsgruppe Nordhes- rinnen und Schüler der polnischen Schule denkstätte Sobibor zur Verfügung zu stel- sen-Südniedersachsen gelang es durch nach Volkmarsen und , um gemein- len. Zu dem Projekt entstand auch eine verschiedene Fahrten und Veranstaltun- sam mit Schülerinnen und Schülern der kurze Video-Dokumentation: gen, eine Zusammenarbeit mit dem „Gim- Kugelsburgschule Volkmarsen die Lebens- www.youtube.com/watch?v=Lkxvfcy3qi0 nazjum Nr. 2“ im ostpolnischen Wlodawa wege einzelner Holocaust-Opfer nachzu- zu etablieren. Im Juni 2015 reisten Schüle- zeichnen und ihre Ergebnisse in der Ge-

Hintergrund: Amerikanische Erinnerungskultur auf französischem Boden: der größte amerikanische 12 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Soldatenfriedhof in Europa in Romagne-sous-Montfoucon bei Verdun. Foto: Brigitte Kosch Vom Main über den Rhein schauen und fahren

Mitte Juni 2016 fand eine dreitägige Stu- Verdun. Um die Verbindungen der Stadt rer Schwerpunkt des Projekts lag darauf, T h em a dienreise der Regionalen Arbeitsgruppen Darmstadt mit der Schlacht ging es in der Schülerinnen und Schüler zu befähigen, Südhessen und Rhein-Main nach Ver- Veranstaltungsreihe „Verdun-Darmstadt – sich in dieses Themenfeld einzuarbeiten dun statt, auf der die bekannten Erinne- eine europäische Beziehung“. Neben Vor- und die Ergebnisse dieser Beschäftigung rungsstätten, etwa das Beinhaus oder das trägen, einem Liederabend und Fortbil- öffentlich zu präsentieren. Fort Douaumont besucht und im Dialog dungen für Lehrerinnen und Lehrer wurde mit französischen Guides erschlossen wur- auch ein mehrtägiger Comic-Workshop Zeitgleich wurde im Haus der Geschichte den. Dem vorausgegangen war eine inten- für Schulen zum Thema „Wie entsteht ein in Darmstadt die Ausstellung „Residenz – sive Beschäftigung mit der deutsch-fran- deutsch-französischer Comic zum Ersten Festung – Kurstadt 1914–1918: Darm- zösischen Erinnerung an die Schlacht von Weltkrieg?“ angeboten. Ein besonde- stadt, Mainz und Wiesbaden im Ersten Weltkrieg“ gezeigt. Den Darmstädter Teil Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der dreitägigen Studienfahrt nach Verdun – hier vor dem Denkmal für die dieser Ausstellung hatte der Stadtarchivar am Ersten Weltkrieg beteiligten Gattungen der französischen Armee in Verdun. Dr. Peter Engels konzipiert, Archivpädago- ge Harald Höflein hatte sie in einem Schü- lerprojekt um zwei Tafeln („Darmstädter Soldaten in der ‚Hölle von Verdun‘“ und „Heldengedenken oder Opfergedenken? Foto: Klaus Müller Die Erinnerungskultur zu Verdun in Darm- stadt“) sowie mehrere Vitrinen erweitert, in denen die Schülerinnen und Schüler eine kommentierte Auswahl beeindruckender Materialien des Stadt- und Staatsarchivs mit regionalem Bezug zeigten. Im Rahmen der Ausstellung gelang es dem Team Ar- chiv- und Museumspädagogik Darmstadt (Margit Sachse, Harald Höflein), bis zu 40 Schüler-Guides auszubilden, die nahezu 1.000 Schülerinnen und Schüler durch die Ausstellung führten.

Griechisch-deutsches Gedenken

Schon unter dem Vorsitz von Hans Ko- mitglied Friedhelm Boll reiste mehrfach Ebert-Stiftung wurden mehrere Veran- schnick nahmen die deutsch-griechi- zur jährlichen Gedenkveranstaltung nach staltungen in Berlin und Athen durchge- schen Beziehungen und die Frage, wie Distomo, gemeinsam mit der Friedrich- führt. ■ mit den Verbrechen NS-Deutschlands in Schülerinnen und Lehrerinnen der deutschen Schule Athen mit Schulen in Distomo und Kalavryta bei der Ver- Griechenland heute umzugehen sei, ei- leihung des Waltraud-Netzer Jugendpreises 2013 in Berlin. nen breiten Raum in der Arbeit von Ge- gen Vergessen – Für Demokratie e.V. ein. Bereits am 1. Juli 2002 wandte sich die Vereinigung mit der Erklärung „Kriegs- verbrechen in Griechenland. Höchste Zeit

für ein humanitäres Zeichen“ an die Öf- Kleinod Foto: Tobias fentlichkeit. Verwirklicht und unterstützt wurden auch verschiedene Gedenkiniti- ativen, z. B. auf den griechischen Inseln Kefalonia und Kreta.

Im Jahr 2013 wurden Schülerinnen und Schüler des Begegnungsprojektes der deutschen Schule Athen mit Schulen in Distomo und Kalavryta mit dem Waltraud- Netzer-Jugendpreis ausgezeichnet. Beson- ders zu dem Märtyrerort Distomo ent- standen intensive Kontakte. Vorstands-

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 13 Hans Hesse

T h em a Das „Jahrhundertprojekt“ Vor 20 Jahren wurden die ersten „Stolpersteine“ außerhalb Deutschlands verlegt. Sie markieren den Beginn eines der bekanntesten internationalen Erinnerungs- projekte.

Am 17. Juli 1997 veröffentlichte der Informationsdienst der Zeugen Jehovas in Österreich folgende Pressemitteilung: „Stolpersteine“ zur mahnenden Erinnerung Georgen (Oberndorf bei ) das Schicksal der Brüder Neue Wege im Kampf gegen das Vergessen schlägt der Nobis, zweier Zeugen Jehovas, aufgegriffen. Beide wurden Kölner Künstler ein. Anstatt Gedenktafeln am 6. Jänner 1940 in Berlin-Plötzensee wegen Wehrdienst- und Inschriften für Opfer der NS-Diktatur an Exekutivplätzen, verweigerung enthauptet. setzt er sogenannte „Stolpersteine“ dort, wo jene gewirkt ha- „Es ist die erste öffentliche Denksteinlegung für Zeugen ben, die später von der NS-Maschinerie zermalmt wurden. Jehovas, die dem NS-Regime konsequent und friedlich geisti- Am Samstag, den 19. Juli, um 16 Uhr werden solche „Stol- gen Widerstand leisteten, und dies aus christlicher Überzeu- persteine“ zur Erinnerung an Johann und Matthias Nobis in gung“, meinte Dr. Maislinger, in dessen Heimatgemeinde die deren Heimatgemeinde Holzhausen vor dem Schmiedbau- Steinlegung erfolgt. ernhof (St. Georgen bei Oberndorf / Salzburg) gesetzt. Der „Stolpersteine“ sind Betonwürfel mit einer Messingtafel (10 x Künstler wurde dazu von Ulrike und Helmut Guggenberger 10 cm), in der die Namen, der Jahrgang und die Angaben zu vom nahegelegenen Oberndorf eingeladen. ihrer Verfolgung mit Schlagbuchstaben eingraviert werden. Erstmals in Österreich wird durch die Initiative des Innsbru- Durch ständiges Begehen werden diese immer wieder blank cker Politikwissenschaftlers Dr. und die poliert und bleiben dadurch sichtbar und auffällig. Sie sollen Bemühungen des Bürgermeisters Fritz Amerhauser aus St. irritieren und Fragen aufwerfen.

Gunter Demnig bei der Verlegung Diesem sehr sachlichen Text war nicht Das Besondere an diesem Ereignis war der ersten Stolpersteine in Berlin- anzusehen, dass er ein Ereignis be- jedoch nicht allein, dass es sich um die Kreuzberg 1996 schrieb, das den Anfang eines „Jahr- erste Auslandsverlegung der „Stolper- hundertprojektes“ – wie erst kürzlich in steine“ handelte, sondern um die erste einem Bericht über eine Ausstellung zu legale Verlegung überhaupt. Denn bis den „Stolpersteinen“ in Berlin-Neukölln zu diesem Zeitpunkt hatte Gunter Dem- zu lesen war – markierte. Im Januar nig in Deutschland seine „Stolpersteine“ 2008 schrieb die „Badische Zeitung“, nur illegal, das heißt ohne Zustimmung dass das Kunstprojekt der „Blutspur der der Behörden, verlegen können: Am 16. Naziverbrechen“ folge. Und diese zog Dezember 1992 vor dem Historischen sich durch Europa. Rathaus in Köln, im Januar 1995 wie- derum in Köln und im Sommer 1996 in In der Tat. Mit der Verlegung in Öster- Berlin-Kreuzberg. Die zuständigen Ver- reich begann etwas Besonderes und Un- waltungen wussten entweder nichts von vorhersehbares. Denn keiner der Betei- den Verlegungen (Berlin) oder sträubten ligten ahnte damals, dass sie damit den sich (Köln). Startschuss für eines der bekanntesten Erinnerungsprojekte in Europa gaben. Und auch in Österreich lief nicht alles Heute, rund 20 Jahre später, liegen eu- reibungslos ab. Parallel zur Verlegung ropaweit über 60.000 „Stolpersteine“ in für die Zeugen Jehovas hatte Demnig 20 europäischen Ländern und seit 2016 auf Einladung der Kunstinitiative „Knie“ sogar in Seoul, der Hauptstadt Südko- in der österreichischen Stadt Oberndorf reas (so genannte „stepping stones“ als Kunstaktion „Stolpersteine“ verlegt. für „Comfort-Women“ („Trostfrauen“), Bei der ersten Verlegestelle in Oberndorf womit Südkoreanerinnen gemeint sind, beschwerten sich die Bewohner bei der die im Zweiten Weltkrieg als Prostituier- Gemeinde, die daraufhin den „Stolper- te für japanische Soldaten missbraucht stein“ entfernte. Bei der zweiten Stelle

Foto: Uwe Thiemann Demnig Quelle: Archiv wurden). buddelte der heutige Hausbesitzer ei-

14 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 genhändig den „“ wieder heraus. Und auch in der auf deutscher

Seite gegenüberliegenden Stadt Laufen T h em a wollte niemand die „Stolpersteine“. Quelle: Hans Hesse Erst im Jahr 2000 konnte Demnig in Deutschland in Köln und Berlin seine „Stolpersteine“ legal verlegen. In Öster- reich folgten weitere Verlegungen erst 2006. Aber ab 2007 breitete sich das Projekt international aus: In dem Jahr ka- men Ungarn und die Niederlande hinzu, 2008 Tschechien und Polen, 2009 Bel- gien und die Ukraine, 2010 Italien und Norwegen, Griechenland und Spanien stießen 2015 hinzu und im letzten Jahr Litauen und Weißrussland.

Die Verteilung der „Stolpersteine“ in Eu- ropa ist jedoch sehr unterschiedlich. So ist ein deutliches West-Ost-Gefälle aus- zumachen: Während in den Niederlan- den über 2.700 „Stolpersteine“ liegen, An vielen Stolpersteinverlegungen sind Jugendliche beteiligt, wie hier in der Nähe von Köln. sind es in Polen nur neun, in der Ukraine sechs und noch weniger in Weißruss- Indes sollte der Begriff „Jahrhundertpro- Und noch ein Jubiläum kündigt sich in land. Hierin drücken sich die sehr unter- jekt“ anders verstanden werden. Nicht diesem Jahr an: Gunter Demnig wird schiedlichen europäischen Gedenkkultu- die Größe, nicht die Masse, sondern die am 27. Oktober 70 Jahre alt. Die Kunst- ren zum Holocaust aus. zeitliche Dauer spiegeln sich hierin wi- und Museumsbibliothek der Stadt Köln Quelle: Hans Hesse Quelle: Hans Hesse Quelle: Helmut Guggenberger

Stolpersteine in den Niederlandeen, in Österreich und in Köln.

Und dennoch: Wenn der quadratische der. Mit der Gründung seiner „Stiftung – öffnet aus diesem Anlass ihr einmaliges Betonwürfel vom 16. Dezember 1992 Spuren – Gunter Demnig“ 2015 hat der Demnig-Archiv und zeigt ihre Schätze vor dem Historischen Rathaus in Köln Künstler sichergestellt, dass so lange zum Projekt „Stolpersteine“ („Das Pro- mit dem sogenannten Auschwitz-Erlass „Stolpersteine“ verlegt werden können, jekt STOLPERSTEINE – Ein KunstDenkmal Heinrich Himmlers als Text, der den Völ- solange der Wunsch danach besteht. Hier als Bürgerbewegung“ vom 16. Septem- kermord an den Sinti und Roma einlei- zeichnet sich in der Tat kein Ende ab. ber bis 12. November 2017). ■ tete, als erster „Stolperstein“ überhaupt gilt, auch wenn er noch nicht ganz so aussah wie die heutigen, dann wird das Projekt in diesem Jahr 25 Jahre alt. Kein Hans Hesse ist Historiker und Journalist, er recherchiert und veröffentlicht unter an- Jahrhundert zwar, aber immerhin ein derem zu Projekten mit den Schwerpunkten Vergangenheitspolitik, Zeitzeugenbio- Vierteljahrhundert. grafien und Gedenkstättenkultur. (Die „Stolpersteine“ von Gunter Demnig sind seit 2014 Inhalt eines weiteren Projektes von Hans Hesse, das sich mit Idee, Künstler, Geschichte und Wirkung des Projektes auseinandersetzt.)

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 15 Michael Parak T h em a Erinnerungskultur in Südkorea

Das, was heute mit der Gesellschaft in Südkorea passiere, sei am besten mit Holocaust zu beschreiben, sagt Prof. Eun Woo Geun von der Fakultät für Medienwissenschaft der Gwangju-Universität, nachdem er lobend erwähnt hat, dass die deutsche Erinnerungskultur das Vorbild für seine eigene Arbeit sei. Spätestens hier wird dem Autor während einer Vortragsreise durch Südkorea deutlich, dass das, was in Deutschland unter Auseinandersetzung mit Geschichte verstanden wird, und das, was man in Südkorea darunter versteht, ganz verschiedene Dinge sind.

März 2017: Das Verfassungsgericht von „Kerzenlicht-Revolution“ einzubürgern. verbreitet. Die Selbstmordrate gehört Südkorea enthebt die Präsidentin Park Es stimmt etwas nicht im einstigen „Tiger- zu den höchsten in der Welt. Geun Hye ihres Amtes. Sie wird wegen staat“, der den meisten westlichen Be- Dass es so nicht weitergehen kann, ist Korruptionsvorwürfen vernommen und trachtern vor allem aufgrund wirtschaft- vielen klar. Doch wie kann man diese befindet sich in Untersuchungshaft. Vo- licher Erfolge im Gedächtnis ist. Wenige unhaltbaren Zustände in Worte fassen? rangegangen sind seit Oktober 2016 familiengeführte Großkonzerne – auf Ein Beispiel dafür ist der scheinbar größ- Demonstrationen, an denen sich Hun- Koreanisch Chaebol, „reiche Clans“ – te Superlativ für Schlimmes: Holocaust. derttausende beteiligen. Für diesen fried- bestimmen das wirtschaftliche Leben. lichen Protest beginnt sich der Begriff der Korruption und Leistungsdruck sind weit

In der jüngeren Geschichte Koreas gibt Aggression einzunehmen. Der vielfache es eine Vielzahl an Gegenständen, die Hinweis, die deutsche Vergangenheits- auf eine tiefergehende Aufarbeitung bewältigung sei vorbildhaft für Südko- warten. Die Beschäftigung mit ihnen rea, bedeutet in diesem Verständnis vor könnte auch zum besseren Verständnis allem eines: Japan solle sich bei Südkorea der gegenwärtigen Probleme beitragen. entschuldigen.

1) Von 1905 bis 1945 war Korea Kolonie 2) Der Koreakrieg ist nicht nur ein Be- Japans. Wie mit der Kolonialzeit und ins- standteil der Geschichte des Landes, besondere auch mit dem Phänomen der sondern Teil der Gegenwart. Die Met- Ein Schild im Sewol-Protestlager mit der AUfschrift: Kollaboration umzugehen ist, ist noch „We will not forget. We will act.“ ropolregion Seoul mit 23 Millionen Ein- nicht hinreichend geklärt. Hierbei geht wohnern liegt nur eine Stunde von der es auch um personelle und strukturelle beitung gescheut, um das Verhältnis zu Grenze zu Nordkorea entfernt. Die nord- Kontinuitäten – wie z. B. durch die fami- Japan und den Eliten nicht zu belasten. koreanischen Raketentests sind eine per- liengeführten Großkonzerne. Zum einen Zum anderen gibt es aber auch die Hal- manente Bedrohung. Sich beispielsweise hat Präsidentin Park Geun Hye die Aufar- tung, die Rolle des Opfers japanischer den Massakern an der Zivilbevölkerung nach der Unabhängigkeit (1945 – 1948) Sewol-Protestlager im Gwanghwamoon-Platz, wo Ende 2016 die Kerzendemonstrationen auch stattgefunden oder im Koreakrieg (1950 – 1953) zuzu- haben. wenden, ist eine wichtige Aufgabe. Der Umgang mit der Geschichte wird aber durch das aktuelle Nicht-Verhältnis zum Nachbarn Nordkorea geprägt.

3) Die Zeit von 1948 bis 1987 kann am besten mit Militärdiktatur beschrieben werden. Was die Aufarbeitung der Ver- gangenheit so schwierig macht, ist die Tatsache, dass Südkorea in dieser Zeit FES Büro Seoul FES Büro / auch die Umwandlung vom armen Ag- rarstaat zur erfolgreichen Industriena- tion gelang. Diese Doppelgesichtigkeit zeichnet vor allem die Herrschaft von Park Chung Hee – des Vaters der 2017

Fotos: Kim, Tae Hyun Fotos: Kim, Tae amtsenthobenen Präsidentin – von 1961

16 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 T h em a FES Büro Seoul FES Büro / Fotos: Kim, Tae Hyun Fotos: Kim, Tae

Auf der linken Seite erkennt man die 9 Vermissten und die Tage nach des Sewol-Unglücks. Das rechte Plakat sagt uns „Über das Sewol-Unglück wurde bisher gar nichts aufgeklärt. Die Regierung hat die Wahrheit versteckt und das Sonderermittlungkomitee absichtlich abgeschafft. Von nun an können wir nur die Bürger vertrauen. Wir würden uns auf das weitere Interesse und Beifall unserer Bürger freuen.“

bis 1979 aus, für die die Bezeichnung vom Militär mit brutaler Gewalt nieder- „Entwicklungsdiktatur“ passend ist. In geschlagen wurden. Ab 1994 entstand einem System der Unfreiheit und Un- als Heldengedenkstätte der 18.-Mai-Na- terdrückung wurde Südkorea die 13. tionalfriedhof für die Opfer des Gwang- größte Volkswirtschaft der Welt. Eigene ju-Aufstands, auf den die Toten 1997 Erfahrungen und Erinnerungen an diese umgebettet wurden. Aus würdigem Ge- Zeit sind weiter präsent und prägen auch denken wird in der aktuellen Situation die aktuellen politischen Auseinanderset- vielfach politische Instrumentalisierung: zungen. Die Zahlen der Opfer werden von Jahr zu Jahr nach oben getrieben, um dem eige- 4) Es gibt ein Gegennarrativ zur positiven nen politischen Standpunkt eine größere

Diktatur, die den wirtschaftlichen Auf- Legitimität zu geben bzw. den politi- Foto: Gwangju Archiv schwung ermöglicht hat: den heldenhaf- schen Gegner zu delegitimieren. Deutsche Medien über das Gwangju-Massaker. ten Kampf für Freiheit und Demokratie. Ein Beispiel dafür sind die Studentenun- Dies sind nur vier Konfliktlinien, die noch schaft virulent sind und diese polarisie- ruhen in der Stadt Gwangju 1980, die immer in der südkoreanischen Gesell- ren. Der Umgang mit Geschichte folgt in Südkorea weniger dem Schema einer Privat initiierter Erinnerungsraum für die Opfer des Sewol-Unglücks. Erinnerungskultur als vielmehr dem der Geschichtspolitik und Instrumentalisie- rung der Geschichte.

Foto: Privat Welchen Beitrag kann die Auseinander- setzung mit Geschichte in der gegenwär- tigen Situation Südkoreas leisten? Ein Großteil der Bevölkerung spürt, dass sich etwas ändern muss. Das ist ein ers- ter, positiver Ansatzpunkt. Schwierig wird es, weil die Gesellschaft polarisiert ist und bislang keine offene Diskussion stattfindet. Dies könnte zu einem Plädo- yer für den „Beutelsbacher Konsens“ für politische Bildung führen: das Überwäl- tigungsverbot und das Gebot der Kont- roversität. »

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 17 T h em a

Foto: Ansan Bildungsamt einen würdevollen Gedenkraum, der in Eigeninitiative entstanden ist. Hier tref- fen sich die Eltern regelmäßig, um ein- ander zu unterstützen. Die Würde dieser Mütter, die in ihrem Schmerz von der ganzen Gesellschaft allein gelassen wur- Klassenzimmer der Erinnerung. den, beeindruckt. Vielleicht auch, weil sie so tief getroffen wurden, strahlen sie » Diese Prinzipien sind in Südkorea unter ner Weise für die Schicksale der Ange- trotz ihrer Zerbrechlichkeit eine beson- Entscheidungsträgern wohlbekannt, al- hörigen. Die Hinterbliebenen wurden dere Kraft aus. Ihre Selbstorganisation lerdings in einer anderen Interpretation: auch von der politischen Opposition ist das eigentliche Gegenbild zur gegen- Aus dem Überwältigungsverbot wird wie von zivilgesellschaftlichen Akteuren wärtigen Situation. Deshalb hat die tiefe eher Neutralität, die es zu suchen und weitgehend alleingelassen. Diese waren Krise der Gesellschaft in Südkorea auch zu finden gilt. Unterschiedliche Auffas- mehr an politischem Kampf als an einer etwas mit Erinnerungskultur zu tun. Nur sungen und Interpretationen, die es di- angemessenen Form der Erinnerung an freilich in einem anderen Verständnis, als alogisch zu diskutieren gilt, sind dabei Individuen interessiert. Auch hier geht es dass man sich als das allergrößte Opfer bislang nicht vorgesehen. Sven Schwer- mehr um Geschichtspolitik als um Erin- betrachtet, ohne diejenigen zu beach- sensky vom Korea-Büro der Friedrich- nerungskultur; um einen Beweis dafür, ten, die gerade allein gelassen werden. ■ Ebert-Stiftung bringt es auf den Punkt: dass der politische Gegner auf der fal- „Die Aufgabe ist es, von der polarisierten schen Seite steht. Die Frage, was in einer Auf Einladung des Korea-Büros der Gesellschaft in eine pluralisierte Gesell- Gesellschaft alles schiefläuft, wenn ein Friedrich-Ebert-Stiftung in Seoul schaft zu gelangen.“ Die Auseinander- Schiff mit Schulkindern nach und nach führten Tim Renner, Staatssekretär setzung mit Geschichte kann dabei so- in den Fluten versinkt, ohne dass jemand für kulturelle Angelegenheiten der wohl ein exemplarischer Lerngegenstand eingreift, und ob dafür eine Präsidentin Senatsverwaltung Berlin a. D., und als auch ein Beispiel für diesen Prozess allein verantwortlich sein kann, wird da- Dr. Michael Parak, Geschäftsführer sein. gegen nicht offen gestellt. von Gegen Vergessen – Für Demokra- tie e.V., im März 2017 eine Vielzahl 2014 ertranken beim Kentern der Fähre Und wo bleibt die Hoffnung? Dafür ste- von Gesprächen mit Regierungsver- „Sewol“ über 300 Schüler. Die unter- hen vor allem die Mütter der ertrunke- tretern, NGOs, Wissenschaftlern, bliebene Rettung wie auch der Umgang nen Kinder. Mit ihrem Leid allein gelas- Gedenkstätten und Initiativen. Dabei mit dem Schiffsunglück sind ein erschre- sen, haben sie begonnen, sich selbst zu zeigte sich schnell, dass der ge- ckendes Zeugnis für Staatsversagen. Eine organisieren. Mit dem Klassenzimmer wünschte Transfer von Erfahrungen wirkliche Untersuchung mit Klärung der der Erinnerung – den Schulbänken ihrer deutscher Erinnerungsarbeit – wie die Verantwortlichkeiten fand nicht statt. Kinder, auf denen persönliche Gegen- gewünschten Titel der vorbereiteten Nicht alle Leichen wurden geborgen. stände stehen – haben sie eine ange- Vorträge lautete – nur wenig mit Und erst im April 2017 wurde das Schiff messene Form der Erinnerung gefunden, den gegenwärtigen Verhältnissen in geborgen. Doch nicht nur Präsidentin die wirklich an Individuen – den eigenen Südkorea zu tun hat. Park Geun Hye interessierte sich in kei- Kindern – interessiert ist. Zudem gibt es

Dr. Michael Parak ist Geschäftsführer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Der Gwangju-Nationalfriedhof. Foto: Sven Schwersensky

18 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Elia Panskus T h em a Dem Vergessen entgegenwirken

Warum gerade die junge Generation eine Erinnerungskultur braucht

Meine Generation ist die Generation in Deutschland, neuen Mauern in Europa befremdlich auf uns. Der Aus- für die der Mauerfall ein Kapitel aus den Geschichtsbü- tritt von Großbritannien aus der EU kann laut Wahlana- chern ist. Für uns gab es die deutsch-deutsche Teilung lyse als Entscheidung der „Alten“ gegen die Interessen nicht. Wir sind Kinder Europas, die gewohnt sind, frei der „Jungen“ gesehen werden. Die Erkenntnis, dass we- zu sein. Im Reisen, Denken und Handeln. Die zuversicht- der die freiheitlichen Errungenschaften der Demokratie lich in eine Zukunft schauen, mit einem demokratisch im Zusammenleben selbstverständlich sind, noch dass geprägten Werteverständnis, ohne Angst vor Kriegen immer alles so bleiben wird, wie es jetzt ist, ereilt uns und Grenzen des Denkens und des Handelns. Umso mehr mit kleinen, aber intensiven Schritten. Weil das so ist, wirkt der aufkommende Populismus in Europa, die Wahl ist gerade meine Generation aufgerufen, sich gegen das Trumps zum Präsidenten der USA und das Streben nach Vergessen und für eine Erinnerungskultur einzusetzen.

Kennen Sie Gunzenhausen? Gunzenhau- im Gepäck wollten wir vor Ort erleben, sen ist eine typische Kleinstadt mit knapp wie wir mit unserer Geschichte umgehen,

16.000 Einwohnern in Mittelfranken in Foto: Privat und natürlich auch, wie wir in der heuti- Bayern. Vermutlich wäre die Stadt wei- gen Zeit die großen Themen Integration, terhin unbemerkt und unscheinbar ge- Migration und Flucht bewältigen. blieben, wenn nicht Thomas Medicus, ein Sohn der Stadt, in einem seiner Bücher In der Kleinstadt Gunzenhausen, mit da- angefangen hätte, deren Geschichte im mals starker Affinität zum Nationalsozi- Nationalsozialismus aufzuarbeiten: Eine alismus, konnten die Studentinnen und Kindheit wie aus dem Bilderbuch. Ein Studenten viel über die Art und Weise Junge wächst in den 1950er-Jahren im der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit idyllischen Städtchen Gunzenhausen in Elia Johannes Panskus in der Stadt erfahren. In den intensiven Mittelfranken auf, als Arztsohn in einer Gesprächen mit dem Bürgermeister, dem vom Krieg scheinbar unberührten, ins gesamte Auflage der antisemitischen Zei- Stadtarchivar und dem Autor Thomas Wirtschaftswunder aufbrechenden Welt. tung „Der Stürmer“ wurde bis 1933 in Medicus lernten sie auch unser Verständ- Erst Jahrzehnte später – schon als junger Mittelfranken verkauft. nis von Demokratie kennen und erfuhren, Mann hat er der Provinz den Rücken ge- welchen Einfluss die Lehren aus der Zeit kehrt – stößt er auf ein furchtbares Kapi- Als im Dezember 2016 eine Gruppe jun- des Dritten Reiches auf aktuelle politische tel der Stadtgeschichte: Am Palmsonntag ger Amerikaner, angeregt durch Medicus‘ Entscheidungen haben. 1934 fand hier das erste große Pogrom Buch, zu Besuch bei uns in Deutschland Nazi-Deutschlands statt; die SA hetzte war, ergriff ich die Chance, sie auf der Als Mitarbeiter der Grünen Bundestags- unter Beteiligung eines erheblichen Teils Suche nach historischen Erinnerungen abgeordneten Ekin Deligöz komme ich der erwachsenen Bevölkerung gegen die zu begleiten. Unser Weg führte uns in natürlich jeden Tag mit der aktuellen Po- jüdischen Bürger, zwei Männer kamen eben diese Kleinstadt nach Gunzenhau- litik in Berührung. Auch Wissensvermitt- ums Leben. sen in Bayern. Die Studentinnen und Stu- lung spielt im Bundestag und in meinem denten vom Davidson College in North Studium eine sehr große Rolle. Der Ge- In Gunzenhausen lebten 1933 bei einer Carolina waren daran interessiert, mehr danke, Wissen und Information jedweder Gesamtbevölkerung von 5.686 Bewoh- über die deutsche Aufarbeitung des Drit- Art langfristig zu sichern, ist ständig im nern 184 Bürger jüdischen Glaubens. Der ten Reiches zu erfahren. Wie werden die Hinterkopf. Allerdings liegt hier der Fokus mittelfränkische Protestantismus besaß Erkenntnisse aus der Geschichte heute auf Wissen in der Gegenwart und Zu- eine große Affinität zum Nationalsozia- verarbeitet? Wie wird an das Vergange- kunft. Die Vergangenheit bleibt Vergan- lismus. Die NSDAP war in Mittelfranken ne erinnert? Welche Schlussfolgerungen genheit. Aber genau dieses Wissen über unter ihrem Gauleiter Julius Streicher ziehen die Menschen in einer Kleinstadt die Vergangenheit schützt uns vor einer gegen Ende der 1920er Jahre sehr stark wie Gunzenhausen aus dem Vergange- gefährlichen Zukunft. geworden. Sie agitierte permanent mit nen? Wurde aus der Geschichte gelernt? Mit dem Aufkeimen rechter politischer zahlreichen Ansprachen, Massenkund- Wurde daraus ein Verantwortungsbe- Kräfte im Internet und auf der Straße gebungen und SA-Aufmärschen. Fast die wusstsein abgeleitet? Mit diesen Fragen hier in Deutschland ist auch mir bewusst »

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 19 geworden: Die Demokratie ist plötzlich waren Europa und der damit verbunde- Extremismus in Europa? Weil ich unsere nicht mehr selbstverständlich. Für mich ne Frieden, die Freiheit zu reisen und der Vergangenheit vergessen habe?

T h em a ist das eine neue Erkenntnis. Die Mög- Euro als Währung immer selbstverständ- lichkeit, dass Populisten und Extremisten lich. Meine Staatsangehörigkeit ist euro- Im Rahmen des Besuches der US-Studen- durch politische Instrumente tatsächlich päisch. Genauso selbstverständlich war tinnen und -Studenten waren wir zu Gast unsere bestehende freie Demokratie ge- die Demokratie als politisches System für in einem städtischen Archiv. Die origina- fährden können, war für mich bisher un- mich. Seit meiner Geburt habe ich De- len Bilder und Dokumente aus der Zeit vorstellbar. mokratie erlebt und gelebt. Demokratie des Dritten Reiches machten mir schlag- war unzerstörbar. Populisten sowohl von artig klar, dass diese Geschichte Deutsch- Vielleicht liegt das daran, dass ich erst rechts als auch von links spielten bisher in lands, die schon so lange her ist und nach dem Mauerfall geboren und mein dem Deutschland, indem ich aufgewach- manchmal so unwirklich erscheint, doch ganzes bisheriges Leben in der Europäi- sen bin, eine untergeordnete Rolle. Das Wirklichkeit ist. Eine Erkenntnis. schen Union verbracht habe. Für mich ändert sich jetzt! Auch wenn dieses Kapitel deutscher Die Studentinnen und Studenten bei ihrem Besuch Aber wieso diese Fehleinschätzung? Geschichte schon so lange her ist, dass in Gunzenhausen. Mein erster Gedanke: Habe ich unsere unsere Eltern es nicht einmal mehr er- Geschichte vergessen? Meine Generation lebt haben, darf es nicht in Vergessen- hat keine Erfahrungen mit Krieg und Dik- heit geraten. Und das heute mehr denn tatur gemacht, die Generation meiner El- je! Wenn Menschen Geflüchtete oder tern hat auch keine wirklichen Erfahrun- ausländisch-stämmige Menschen in „so- gen mit dem Krieg gemacht – außer der zialen“ Netzwerken oder auf der Straße Bedrohung des Kalten Krieges. Dennoch: beleidigen und angreifen, wenn die Eu- Wenn es Krieg und Konflikte gab, waren ropäische Union als Konstrukt für Frieden diese weit weg von hier. Selbst meine auseinanderzubrechen droht, wenn ex- Großeltern haben den Zweiten Weltkrieg treme Parteien in Parlamente einziehen, nur im Kindesalter erlebt. Ist dieses Ka- habe ich oftmals das Gefühl, wir haben pitel unserer Geschichte schon zu lange unsere eigene Geschichte vergessen. Da- her? Bin ich deshalb völlig überrascht bei haben vor allem wir in Deutschland über den aufkeimenden Populismus und die Pflicht zu wissen, wie solche Entwick- lungen ausgehen können. Elia Johannes Panskus, Jahrgang 1991, studiert Informationswissenschaften an der Fachhochschule Potsdam. Zudem betreut er als Mitarbeiter im Büro der Grünen Bun- Ich habe mir vorgenommen, in Zukunft destagsabgeordneten Ekin Deligöz den Bereich Öffentlichkeitsarbeit im Netz und ist bewusster mit der Vergangenheit umzu- Mitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Auch der Dozent des Davidson gehen, um diesem Vergessen entgegen- Colleges Prof. Scott Denham ist Mitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. zuwirken. ■

Anzeige Besuchen Sie das neu gestaltete Beratungsportal: www.online-beratung-gegen-rechtsextremismus.de

20 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Jurek Sehrt T h em a Zum Umgang mit bewegten Bildern – Medienbildung in der Praxis

Bewegte Bilder üben seit Beginn der Film- und eine bedeutende Rolle in Freizeit und und große Filmfestivals, Medienzentren geschichte eine große Faszination auf die Privatsphäre spielen, sind Strukturen der ebenso wie außerschulische Lehr- und Menschen aus. Sie dienen der Unterhal- Film- und Medienbildung deutlich weni- Lernorte wie Filmmuseen bieten Hilfe- tung, dem Wissenserwerb, aber ebenso ger präsent. Zwar widmen sich Schulbe- stellung im Umgang mit audiovisuellen der künstlerischen Entfaltung. Die Begeis- hörden und Hochschulen verstärkt der Medien. Einen besonderen Stellenwert terung für den Film und allgemeiner für Ausbildung von Fach- und Lehrpersonal, in der Film- und Medienbildung nehmen bewegte Bilder ist auch in der Gegenwart das zukünftig Defiziten in der Medien- dabei pädagogische Formate wie Work- ungebrochen. Jedoch ist der Konsum kompetenz begegnen kann. Doch diese shops und Projekt- bzw. Studientage ein. audiovisueller Medien bei Weiten nicht mittelfristige Perspektive löst nicht die Wie genau ein Workshop-Format ausge- mehr auf den Kulturort Kino oder auf Probleme der Gegenwart, die sowohl in staltet ist, hängt stark von der Zielgruppe, den Fernseher im heimischen Wohnzim- der Schule als auch im privaten Bereich ihrem Vorwissen und den angestrebten mer begrenzt. Mittlerweile sind nahezu deutlich erkennbar sind. Denn der infor- Lernzielen ab. An ihnen orientiert sich die alle Lebensbereiche von multimedialen melle Medienkonsum konfrontiert viele inhaltliche Ausrichtung ebenso wie Me- Inhalten und Anwendungen durchwirkt: Lehrer und Erziehungsberechtigte mit thodik und Veranstaltungsform. Beispiel- Sie dienen der Informationsbeschaffung, dem Problem, den reflektierten Umgang haft lässt sich dies anhand der Bildungs- der Unterhaltung, der Identitätsbildung, mit audiovisuellen Medien selbst nicht programme der Deutschen Kinemathek der Werbung und sie sind zudem wichti- erlernt zu haben und somit den Medien- – Museum für Film und Fernsehen illus- ges Mittel der Kommunikation. Trotz die- konsum anderer nicht angemessen be- trieren: ser Vertrautheit mit dem bewegten Bild gleiten zu können. lassen sich Defizite im Umgang mit au- Workshops machen Schule diovisuellen Medien und Inhalten feststel- Partner der außerschulischen Film- len. Den Betrachtern mangelt es oft an und Medienbildung Für den schulischen Bereich werden Kurs- der Fähigkeit zum reflektierten Umgang, und Workshop-Formate angeboten, die denn eine kritische Analysekompetenz Eine reiche außerschulische Bildungsland- an den fachspezifischen Curricula aus- muss erst erlernt werden. Während me- schaft kann Abhilfe schaffen: Lokal agie- gerichtet sind, als Ergänzung zu regulä- diale Inhalte nahezu allgegenwärtig sind rende Initiativen zur Filmbildung, kleine rer Lehre und Unterricht genutzt werden

Demonstranten mit Transparenten bei der Alexanderplatz-Demonstration am 4. November 1989 Foto: Uta Grundmann Quelle: Deutsche Kinemathek/ Internetarchiv Wir-waren-so-frei.de

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 21 able Ausgestaltung. Thematisch können Studientage zu einzelnen Filmtiteln und

T h em a Genres, zu historischen Ereignissen oder zu ganzen gesellschaftlichen Diskursen durchgeführt werden. Konzeption und anschließende Umsetzung erfolgen in enger Abstimmung mit der jeweiligen Lehrperson. Derart lässt sich beispielswei- se ein Studientag zu dem Filmklassiker „Im Westen nichts Neues“ mit Themen- Quelle: Deutsche Kinemathek / Jurek Sehrt schwerpunkten wie Filmzensur, Genre des Kriegs- bzw. Antikriegsfilms oder filmische Erinnerungskultur durchführen. Hierbei kann auf einen großen Fundus Schülerinnen und Schüler recherchieren in der Kinemathek. an filmbegleitenden Quellenmaterialien (Zensurprotokolle, Presseberichterstat- und Lücken des schulischen Unterrichts Studientage tung etc.), Filmausschnitten zur filmi- schließen können. Oft werden mehre- schen Verarbeitung des Ersten Weltkriegs re Fachrichtungen angesprochen oder Vermittlungsprogramme für außerschuli- und vielen anderen Ressourcen zugegrif- es wird zur fächerübergreifenden Arbeit sche Bildungseinrichtungen wie Universi- fen werden, die sich in Gruppenarbeit angeregt. Ein Beispiel für fächergebun- täten oder Bildungsträger folgen eigenen auswerten und in einem abschließenden dene Angebote ist der Workshop „Der Bedürfnissen: So setzen sich beispielswei- Fachgespräch oder einer Abschlussdis- Film in der DDR – die DDR im Film“, der se Studientage zwar mit fachspezifischen kussion zusammentragen lassen. für das Schulfach Geschichte konzipiert Inhalten (Geschichtswissenschaften, Film- wurde. Hier wird eine Auseinanderset- wissenschaften, Mediengestaltung) aus- Ob für Schule, Universität oder den Frei- zung mit der Geschichte der DDR auf einander, eine unmittelbare Anlehnung zeitbereich: Workshops und entsprechen- Grundlage der deutschen Filmgeschich- an Curricula oder anderweitige Lehran- de Bildungsprogramme sind besonders te ermöglicht. Die Darstellung der DDR forderungen ist jedoch nicht vorgesehen. geeignete Mittel, um Medienkompetenz und der Friedlichen Revolution wird unter Dementsprechend ermöglichen facetten- zu schulen, die differenzierte Auseinan- anderem anhand von Dokumentar- und reich einsetzbare Arbeits- und Quellen- dersetzung mit dem bewegten Bild zu Spielfilmsequenzen sowie Fernsehsen- materialien, besonders umfassend ge- fördern und so Defizite in der Film- und dungen aus Ost und West untersucht. schultes Fachpersonal sowie eine modu- Medienbildung zu mildern. Außerschu- Die Herangehensweise ist multiperspek- lare Gestaltungsmöglichkeit die inhalt- lische Lernorte sind dabei die richtigen tivisch, denn der zeitgenössische Blick lich, methodisch und auch zeitlich vari- Partner, denn hier eröffnen sich dank von Filmschaffenden und DDR-Publikum Fachkompetenz, spezieller Vermittlungs- auf die DDR und ihre politische Situation konzepte und medienspezifischer Res- werden ebenso gezeigt wie die staatlich- sourcen und Quellen neue Zugänge zur offizielle Perspektive und der Blick aus Welt des bewegten Bildes. ■ dem Westen. Der Workshop „Ideologie und Manipulation im Unterhaltungsfilm“ ist demgegenüber ein Programm, das Anbindungsmöglichkeiten an diverse Un-

terrichtsfächer wie Geschichte, Politikwis- Quelle: Deutsche Kinemathek senschaften und Ethik vorsieht. Schwer- punkt ist eine kritische Medienanalyse: Neben einer Einführung zu Filmpropa- ganda und zu filmsprachlichen Elemen- ten werden die ausgewählten Filme auf unterschiedlichen Ebenen analysiert, von der Inhaltsebene bei Bild und Ton, über Gestaltung und Erzähldynamik bis hin zum Produktions- und Rezeptionskon- text. Propagandistische und manipulative Interesse an Programmen rund um die Elemente, ideologische Botschaften oder Filmbildung? Informationen und Bera- stereotype Darstellungen werden heraus- tung erhalten Sie hier: Zeitgenössische Werbematerialien zum Film gearbeitet und abschließend diskutiert. IM WESTEN NICHTS NEUES Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen / Bereich Bildung Jurek Sehrt leitet den Bereich Bildung und Vermittlung der Deutschen Kinemathek – und Vermittlung, Museum für Film und Fernsehen. [email protected].

22 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Bernd Faulenbach

Brauchen wir ein Exilmuseum?

Die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Herta Müller hat für Deutschland ein Exilmuseum gefordert. Seitdem wird verstärkt über die Idee eines solchen Museums diskutiert, in Berlin teilweise schon im Hinblick auf konkrete Standorte – mit recht begrenzten Argumenten.

In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob 1933 – 1945 ein Erinnerungsort fehlt, der in stand, die Emigration der Wissenschaftler se un d M einun g An aly wir tatsächlich ein derartiges Museum brau- die deutsche Öffentlichkeit ausstrahlt. Man- von der Historiographie und Philosophie chen, im Falle ihrer Bejahung auch die nach ches deutet darauf hin, dass das Exil wäh- bis zu Biologie, Medizin und Kinderheil- Anforderungen an die Konzeption, schließ- rend der NS-Zeit im heutigen deutschen kunde, nicht zuletzt zu den Repräsentan- lich die Frage nach Realisierungschancen. Bewusstsein nur eine geringe Rolle spielt. ten moderner Architektur, der Kunst und Der Vorstand des Vereins gegen Vergessen – der Literatur, doch auch des Verlagswesens Für Demokratie hat sich für ein Exilmuse- Durch ein Exilmuseum könnte das überaus und anderer Bereiche. Es stellten sich im um ausgesprochen, hält jedoch eine inten- bedeutsame, vielfältige Phänomen „Exil“ Exil Fragen nach der Identität, nach An- sivere Diskussion über eine Konzeption für verstärkt bewusst und zu einem lebendigen passung und Eigensinn, nach Akkulturati- dringlich. Teil der Erinnerungskultur gemacht wer- on. Doch auch die Re-Immigration ist ein den. Viele Zeitgenossen wissen wenig über bedeutsames Thema, zumal sich für die Es wäre falsch, von einer generellen Ver- den gewaltigen bis heute nachwirkenden Emigrierten nach 1945 die Frage stellte, in nachlässigung des Exils durch die Forschung Verlust für die deutsche Gesellschaft und welches Deutschland man zurückkehren zu sprechen. Seit den 80er Jahren ist viel- die deutsche Nation, über die Impulse, die wollte, nach West- oder Ostdeutschland. fältig über das Exil geforscht worden. Erin- von den Emigranten in manchen Ländern – nert sei nur an die zahlreichen Bände des etwa in den USA – ausgingen, über das – Schon das Aufzählen von Aspekten lässt Jahrbuchs für Exilforschung, an das Biogra- nicht selten tragische – Schicksal von Tau- die Schwierigkeiten, dieses Projekt kon- phische Handbuch der deutschsprachigen senden, die während der NS-Zeit aus zeptionell zu bewältigen, ahnen. Zweifel- Emigration (1980 – 83) oder auch an das Deutschland vertrieben wurden und von los wird biographischen und gruppenbe- Handbuch der deutschsprachigen Emigra- denen nur ein Teil nach Deutschland zu- zogenen Ansätzen besondere Bedeutung tion 1933 – 1945, das – in Zusammenarbeit rückgekehrt ist. zukommen. So unlösbar die didaktischen mit der Gesellschaft für Exilforschung – Fragen auch erscheinen, so ist doch klar, 1998 eine Art Zwischenbilanz lieferte. In Das Exilmuseum sollte aus unserer Sicht dass ein virtuelles Museum, wie es unter jüngster Zeit hat sich insbesondere die Dis- prinzipiell das gesamte Exil zum Gegen- Staatsminister Neumann angestrebt wur- kussion über Schriftsteller, überhaupt über stand haben, nicht nur die bekannten Na- de, nicht ausreichend ist. die Kultureliten im Exil intensiviert. men und großen Geister, sondern auch die „kleinen Leute“, die unmittelbar politisch So positiv auch das Engagement der Zivil- Bei der Forderung nach einem Exilmuseum Betroffenen wie die vielen Akademiker, die gesellschaft ist, so dürfte angesichts der geht es weniger um die Forschung als um Schriftsteller und Künstler, auch die Wis- Komplexität des Themenfeldes eine Rea- ein sichtbares Zeichen, um einen „Ort“ im senschaftler der verschiedenen Wissen- lisierung dieses Museums ohne den Bund Rahmen der deutschen Erinnerungskultur. schaftsdisziplinen – meist, aber nicht im- und das Land Berlin nicht möglich sein. Diese Erinnerungskultur ist in den letzten mer mit jüdischem Hintergrund. Auch die Das Exilmuseum ist eine nationale Aufga- Jahrzehnten, verstärkt seit den 80er Jah- Eingrenzung auf einzelne Exilländer würde be. Selbstverständlich sind Exil-Erfahrun- ren, immer weiter ausdifferenziert worden. das Bild des Exils stark verzeichnen. gen nicht auf Menschen beschränkt, die Inzwischen gibt es zahlreiche Erinnerungs- 1933 – 45 NS-Deutschland verlassen muss- orte und Gedenkstätten, vielfach errichtet So schwierig ein solches Projekt ist, so sind ten. Dennoch sollte angesichts der Größe an Orten früherer Konzentrationslager u. a. folgende Aspekte zu beachten: die der Aufgabe das Museum auf das Exil oder anderer Verbrechen; die meisten Op- historischen Rahmenbedingungen und die 1933 – 45 konzentriert sein. Das Exil an- fergruppen finden inzwischen in der Erin- Politik des NS-Regimes, konkrete Anlässe derer Länder ließe sich gegebenenfalls in nerungskultur ihre Würdigung. Und wo und Formen der Emigration, die vielfach Sonderausstellungen aufgreifen. Themen etwas fehlt, wie bei den Opfern der frühen prekären Arbeits- und Lebensbedingungen könnten beispielsweise das russische Exil „wilden“ KZs, bei Zwangsarbeitern oder der Exilierten in vielen Zufluchtsländern, in der Weimarer Republik, das Exil der ost- auch bei den Opfern des Vernichtungskrie- die besondere Rolle des politischen Exils europäischen Länder in der Nachkriegszeit ges, werden die Geschehnisse thematisiert und seine Verknüpfung mit dem Wider- oder auch das Exil des heutigen Iran sein. ■ und nach Möglichkeiten, für sie Orte der Erinnerung zu schaffen, gesucht. Unüber- Prof. Dr. Bernd Faulenbach ist Vorsitzender von Gegen Vergessen – sehbar aber ist, dass im Hinblick auf das Exil Für Demokratie e.V.

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 23 Ramzi Ghandour

Aller Anfang ist ... wie war das noch?

Mit Zitaten ist es immer so eine Sache. Was, wenn man nicht mehr genau zu- Ähnlich verhält es sich mit dem Slogan Man will einen klugen Gedanken oder rückverfolgen kann, wer was wann wo „Der Islam gehört zu Deutschland“. se un d M einun g An aly ein Gefühl zum Ausdruck bringen und zuerst gesagt hat? Diesem mittlerweile allseits bekannten denkt sich, dass es doch im Laufe der Ausspruch ist wohl auch so ziemlich Menschheitsgeschichte schon einmal Zum Beispiel glaubt doch jeder zu wissen, alles passiert, was man mit Zitaten an- irgendwen gegeben haben muss, dem dass es Königin Marie Antoinette war, die stellen kann. Er wurde oft wiederholt, es genauso ging und der diesen Zustand am Vorabend der Französischen Revolu- umformuliert und vehement bestritten. in besonders eloquenter Form zum Aus- tion sagte: „Wenn sie kein Brot haben, Christian Wulf hat ihn ebenso bemüht druck gebracht hat. Man wünscht sich sollen sie doch Kuchen essen.“ Das Pro- wie Angela Merkel und beide haben un- intellektuelle Rückendeckung oder eine blem: Ihr wohl berühmtestes Zitat wurde terschiedlichste Reaktionen darauf ge- die eigene Position bestätigende Autori- der Königin Jahre später angedichtet. erntet. Auf der anderen Seite hat es der tät. Es ist schon etwas anders – oder es Ebenso wenig stimmt es, dass folgendes Satz – zugegeben, in seiner verneinten fühlt sich zumindest anders an –, wenn Zitat auf Voltaire zurückgeht: „Ich hasse, Form – ins Parteiprogramm der AfD „ge- man Sokrates, Mark Twain oder René was du sagst, aber ich würde mein Leben schafft“. Doch wo kommt das Zitat her Descartes auf seiner Seite hat. So weit, dafür geben, dass du es sagen darfst“. und in welchem Zusammenhang wurde so gut. Doch was passiert, wenn Zitate Oder dass Kurt Tucholsky sagte: „Das Ge- es ursprünglich gebraucht? anfangen, ein Eigenleben zu führen? genteil von gut ist gut gemeint.“ Zeichnung: Ramzi Ghandour

24 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Tatsächlich geht es auf den ehemaligen haltensweisen, die bislang für selbstver- entwicklungen. In vielen Verbandsvor- Innen- und heutigen Finanzminister ständlich gehalten wurden, nun zum Teil ständen hat sich die Erkenntnis durch- Wolfgang Schäuble zurück. Er war es, infrage gestellt werden oder dass Perso- gesetzt, dass Moscheegemeinden aktiv der im Jahr 2006 die erste Deutsche Is- nen und Gruppen Bedürfnisse äußern, gegen extremistische Tendenzen in der lamkonferenz mit den Worten „Der Is- auf die vorher nicht geachtet werden Gesellschaft vorgehen sollten und es ge- lam ist Teil Deutschlands und Europas“ musste. Dies löst verständlicherweise zielter Anstrengungen bedarf, um der eröffnete. Damals wenig beachtet, löste bei vielen Menschen, die damit bislang Radikalisierung junger Menschen vorzu- er 2010, als ihn der damalige Bundes- nichts zu tun hatten, Stress, Unsicherheit beugen. präsident Christian Wulf verwendete, oder Verlustängste aus. Doch die Lösung Ein vorläufiges Ergebnis dieses Prozesses einen regelrechten Skandal aus. Es gab dafür kann nicht sein, dass wir einan- ist das Projekt „Präventionsnetzwerk ge- Gegenstimmen, (pseudo-) historische der über Leitkulturdebatten versuchen gen religiös begründeten Extremismus“, Einordnungen und Differenzierungs- vorzuschreiben, wie wir unser Leben zu an dem fünf der in der Islamkonferenz versuche. Manch einer beschwor das gestalten haben. vertretenen Organisationen sowie der se un d M einun g An aly „jüdisch-christliche Erbe“ Europas und Verein Gegen Vergessen – Für Demokra- es wurde zwischen Islam (nicht dazuge- Die Gründung der Deutschen Islamkon- tie e.V. teilnehmen. Dieses Projekt soll hörig) und den Muslimen (dazugehörig) ferenz war in dieser Hinsicht ein großer die beteiligten islamischen Dachverbän- unterschieden. Andererseits erntete Wulf Fortschritt, mit ihr begann erstmals eine de dabei unterstützen, selbst zu Trägern auch viel Zuspruch und Unterstützung wirkliche Auseinandersetzung mit Fra- der Präventionsarbeit gegen religiös für die Worte, die besonders im Kontext gen, die das Zusammenleben von Mus- begründeten Extremismus zu werden. der auflodernden „Sarrazin-Debatte“ als limen und Nicht-Muslimen in Deutsch- In den Organisationen sollen Bildungs- Bekenntnis zu einer offenen und vielfäl- land praktisch betreffen. So wurde über bzw. Beratungsstrukturen etabliert wer- tigen Gesellschaft empfunden wurden. das Thema Moscheebau ebenso disku- den. Außerdem geht es darum, die be- tiert wie über die rechtlichen Rahmen- sonderen Perspektiven und Erfahrungen Doch wie schätzt der Urheber des Zitats bedingungen für islamkonforme Bestat- islamischer Verbände in die Fachdebat- die Situation heute ein, mehr als elf Jahre tungen oder den Aufbau muslimischer ten zum Thema Extremismusprävention später? In einem vor Kurzem im Deutsch- Wohlfahrtsstrukturen. einzubringen und das Engagement der landfunk ausgestrahlten Interview wie- Verbände in diesem Bereich öffentlich derholte Wolfgang Schäuble seine Aus- Zunächst wurde im Rahmen der Islam- stärker sichtbar zu machen. Gegen Ver- sage und erklärte, der Satz „Der Islam ist konferenz auch über Fragen der Ter- gessen – Für Demokratie e.V. profitiert ein Teil Deutschlands geworden“ sei le- rorabwehr sowie der Extremismusprä- hier insbesondere von den Erfahrungen diglich „eine nüchterne Sachverhaltsfest- vention gesprochen, doch stieß dies aus der „Online-Beratung gegen Rechts- stellung“. „Wer ihn bestreitet, bestreitet von Anfang an auf den Widerstand der extremismus“ und der Jugendbildungs- die Wirklichkeit und ist deswegen kein islamischen Dachverbände. Hauptkritik- arbeit des Vereins. tauglicher Politiker, weil Politik nun ein- punkte der Verbände waren die Vermi- mal mit der Auseinandersetzung mit der schung von religions- und sicherheitspo- Ein Anfang ist gemacht. Nun kommt Wirklichkeit beginnt.“ litischen Themen, die die staatliche Seite es auf den politischen Willen und die ihrer Meinung nach gegeneinander aus- Nachhaltigkeit des Engagements aller Tatsächlich wird die Zahl der dauerhaft zuspielen versuche, sowie die undurch- Beteiligten an. Aber wie sagte Konfuzius in Deutschland lebenden Muslime auf sichtige Rolle des Verfassungsschutzes, noch gleich? „Auch der weiteste Weg etwas über vier Millionen geschätzt. der die Verbände eher als einen Teil beginnt mit einem ersten Schritt.“ Oder Knapp die Hälfte davon sind deutsche des Problems als einen Teil der Lösung war das von Mark Twain? ■ Staatsbürger. Menschen islamischen wahrzunehmen schien. Der Staat hin- Glaubens besuchen öffentliche Schu- gegen warf den organisierten Muslimen len, sind in Sport- und Kulturvereinen Unzuverlässigkeit und mangelnde Ko- aktiv und arbeiten in den unterschied- operationsbereitschaft vor. Das Ganze lichsten Bereichen. Der Minister hat also mündete bekanntlich im Jahr 2011 mit Recht mit der Feststellung, dass Muslime dem Scheitern der sogenannten „Sicher- mittlerweile in Deutschland Wurzeln ge- heitspartnerschaft“ unter Innenminister schlagen haben, hier ihren Glauben le- Hans-Peter Friedrich. ben und nach gesellschaftlicher sowie politischer Teilhabe streben. Hier hat sich mittlerweile einiges getan. Der Staat und die Verbände sprechen Dieser Prozess, den Soziologen Akkultu- wieder miteinander und das Bewusstsein ration nennen, läuft nicht spannungsfrei für die Ziele und Wünsche der anderen ab. Es werden neue Fragen aufgeworfen Seite hat spürbar zugenommen. Auch und mancherorts kommt es zu Konflik- innerhalb der Verbände gab es Weiter- ten um die Verteilung von Ressourcen oder die öffentliche Sichtbarkeit von Re- Ramzi Ghandour ist wissenschaftlicher Referent von Gegen Vergessen – ligion. Das heißt, dass Abläufe und Ver- Für Demokratie e.V.

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 25

Gabriele Rita Kohlhage

Der Koffer der Pandora

Der theaterpädagogische Materialienkoffer „Kinder des Holocaust“ entstand in den Jahren 2008 bis 2009 in einem gemeinsamen Projekt mit dem Theater der Jungen Welt in Leipzig und Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. mit fi-

Aus unserer Ar b ei t nanzieller Unterstützung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Die Lehrerin Gabriele Rita Kohlhage beschreibt ihre Erfahrungen mit dem Einsatz des Koffers in der Schule.

„Wollen Sie verreisen?“ Melissa (15 Jah- re) schaut mich mit fragenden Augen an, als ich mit dem großen, braunen Koffer die Aula unserer Schule betrete. Dass sich

in diesem unscheinbaren Koffer die Arbeit Foto: Schulfotograf der nächsten Wochen verbirgt, ist wohl keiner der sechs Schülerinnen des Darstel- len-und-Gestalten-Kurses des Jahrganges 9 bewusst. Die sechs Mädchen haben sich freiwillig zu einem kleinen Projekt außerhalb des regulären Unterrichts ge- meldet, um den diesjährigen Holocaust- Gedenktag szenisch mitzugestalten. Der Koffer ist gefüllt mit theaterpädagogi- schem Material zur Erschließung unserer Vergangenheit, soweit dies überhaupt möglich ist: mit Requisiten, Stundenta- feln, Ideen zu Improvisationen und nicht zuletzt der 2008 erschienenen Quellene- Schülerinnen bei der Aufführung ihres Theaterstückes anlässlich des Holocaust-Gedenktages. dition „Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944 – 1948“, in der jüdische ein kleiner Schritt in diese Richtung wird Über die kleinen Improvisationen hinaus Kinder, unmittelbar nach dem Zweiten möglich sein. Auch mithilfe des Theater- geht es weiter mit Standbildern. Hier- Weltkrieg in Polen interviewt, ihre Erleb- koffers. Erste Übung nach einem kleinen zu wähle ich im Vorfeld Textstellen aus nisse der Verfolgung schildern. Bedrü- Warm-up ist es, sich mit den Requisiten dem Buch „Kinder über den Holocaust“ ckend, real! Ausgeliehen haben wir den aus dem Koffer vertraut zu machen. Dazu aus. Drei bis fünf Sätze, die schildern, in Koffer bei den Mitarbeitern der Villa ten werden sie auf den Boden gelegt, ein welcher Angst und Verzweiflung die jüdi- Hompel in Münster, einer ehemaligen Fa- Raumlauf führt um sie herum. Wer an ei- schen Kinder gelebt haben und an welche brikantenvilla, die im Nationalsozialismus ner der Requisiten vorbeikommt, soll mit Routine sie sich verzweifelt klammerten. Sitz der Ordnungspolizei war. ihr kurz improvisieren: den Gegenstand Die Auswahl der Zeilen geschieht ohne in die Hand nehmen, ihn als etwas Wert- besondere Kriterien. Ich könnte jede Text- Eine altmodische Brille erregt die Aufmerk- volles betrachten, als etwas Geheimes, als stelle nehmen, denn keine ist weniger samkeit von Chantal (14 Jahre), den Kin- etwas Verhasstes, als etwas Neues, noch aufwühlend als die andere. Vor der szeni- derschuh nimmt sich Lina (15 Jahre). „Ist nie vorher Dagewesenes. Schnell wird klar, schen Umsetzung der Textstellen müssen das ein echter Kinderschuh von damals?“ es ist unvorstellbar, dass ein Alltagsgegen- wir über sie sprechen – lange. Zu groß ist Ungläubig werden die Gegenstände he- stand wie ein Schuh, eine Brille oder ein der Drang der Schülerinnen, ihre Eindrü- rumgereicht und betrachtet. „Stell dir Stofftaschentuch manchmal noch das Ein- cke und ihre Gefühle zu äußern. Auch das einfach vor, der Schuh hätte das KZ ‚über- zige war, was die Opfer im Dritten Reich gehört zur theaterpädagogischen Arbeit. lebt‘!“ Die Arbeit kann beginnen. hatten und woran sie sich womöglich Es scheint, als hätten wir die Büchse der klammerten. „Und du jammerst schon, Pandora geöffnet. Aber nun ist sie offen Sich empathisch mit den Ereignissen von wenn mal dein Handy-Akku leer ist!“ Die- und wir werden damit arbeiten. vor 70 Jahren in wenigen Wochen ausei- se Erkenntnis wird die Schülerinnen in den nanderzusetzen scheint unmöglich, aber nächsten Wochen begleiten. Die Standbilder, die wir erarbeiten, sol- len zeigen, was die Worte sagen. Angst, Gabriele Rita Kohlhage ist Lehrerin für die Fächer Darstellen & Gestalten, Deutsch Verzweiflung, Routine, Alltag, einfach und Niederländisch; überdies hat sie eine nebenberufliche Ausbildung zur Theaterpä- Überleben. Aus den Standbildern werden dagogin absolviert. kleine Szenen, zuerst noch ohne Sprache,

28 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 dann mit Worten. Pro Standbild ein Satz wechselt. Jede lehnt ab und bittet dann weil ich keine Zeit habe“, „… weil ich die aus der Textquelle. So arbeiten wir uns in um Zuwendung. „Was wollen wir eigent- Person doch gar nicht kenne.“ Lachhaft die Materialien des Theaterkoffers ein. lich zeigen? Was ist uns wichtig?“ Die zum Teil, aber genau so gewollt! Es vergehen Wochen, bei zwei Wochen- Frage beschäftigt uns lange. Die bedrü- stunden, die wir parallel zum Darstellen- ckenden Erlebnisse der jüdischen Kinder Unser Projekt geht zu Ende. Die Schüle- und-Gestalten-Unterricht in das Projekt in Szene setzen, das möchte keiner. Ein rinnen packen die Materialien zurück in investieren können. Frei vom Notendruck Ausblick muss her. Etwas Positives. Eine den Koffer, der uns in den vergangenen und separat vom Rest der Großgruppe. Wandlung. Wir entscheiden uns für eine Wochen begleitet hat. Das Klacken der Dieses Thema bedarf eines besonders Abfolge von Standbildern, die mit einem Schlösser ist beinah eine Erleichterung, geschützten Raumes – Vertrauen. Es darf selbstgeschriebenen Text unterlegt ist, so schwer war die Thematik an manchen geweint und geschwiegen werden. Auch vorgelesen von einer der Schülerinnen. Stellen. Und doch habe ich das Gefühl, Aus unserer Ar b ei t Fluchen und Schimpfen gehören zum Die Standbilder zeigen das Weggucken, dass die eine oder andere ein bisschen Verarbeitungsprozess. Alles muss raus, das Ignorieren. Diese Idee ist zeitlos und daran gewachsen ist und etwas von un- bevor man in der Lage ist, etwas auf der schlägt doch eine bedauerliche Brücke serer theaterpädagogischen Arbeit mit- Bühne szenisch umzusetzen, gegen das von damals in unsere heutige Zeit. Doch nimmt. In der abschließenden Reflexions- man sich innerlich sträubt. es gibt auch einen Lichtblick. Im letzten runde wird dies deutlich. Der Respekt ist Standbild besinnt sich einer der Ignoran- gewachsen, der Respekt vor dem, was Später. Theoriestunden, Klassenarbeit, ten und hilft der Person, die gerade von wir haben. Vor dem eigenen Zimmer, vor Lehrplan einhalten, Statusarbeit. Die einer anderen drangsaliert wird. Als Me- der Möglichkeiten, den ganzen Tag zu Stundentafel zur Statusarbeit im Koffer dium wählen wir die Zeitung. Die Bild, whatsappen, vor dem vollen Kühlschrank gibt Orientierung und liefert gute Ideen Die Zeit, Die NRZ. Das Weggucken zieht und vor dem Gefühl der Sicherheit und für den theaterpädagogischen Prozess. sich durch alle gesellschaftlichen Schich- Geborgenheit. Als ich ohne Koffer von Zweiergruppen, Nähe und Distanz. Eine ten. Der Begleittext zu den Standbildern Münster wieder nach Hause an den Nie- Person möchte immer bei der anderen enthält die Gründe, warum weggeschaut derrhein fahre, beschleicht mich etwas sein, die andere nicht. Dann wird ge- wird, wenn ein Unrecht geschieht. „… Wehmut. Schön war‘s. ■

RAG Südhessen

Klaus Müller

Die ständige Angst vor dem Briefkasten

Migrationserfahrungen in Deutschland aus 70 Jahren

„Ja, wir waren ‚Einwanderer‘ oder auch ‚Neuankömmlin- Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und ge‘, die eines schönen Tages ihr Land verlassen hatten mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfach- … Wir wollten uns eine neue Existenz schaffen, das war heit unserer Gebärden und den ungezwungenen Aus- alles. Man muss ein Optimist und sehr stark sein, wenn druck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in man eine neue Existenz aufbauen möchte … Wir haben den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit worden, und das bedeutete den Zusammenbruch unse- das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von rer privaten Welt.“

Hannah Arendt, die dies im Jahr 1943 in die vor den Nazis in die USA geflohene Auf Initiative der Regionalen Arbeits- den USA schrieb, war von 1937 bis 1951 Jüdin einen anderen Fluchthintergrund als gruppe Südhessen hat im Frühjahr 2017 eine sogenannte Staatenlose, nachdem die heute nach Europa Flüchtenden. Den- in Darmstadt eine Veranstaltungsreihe sie von ihrem „Heimatland“ Deutschland noch gibt dieser Text aus dem Jahr 1943 zum Thema „Flucht und Hoffnung – „ausgebürgert“ worden war. 1941 konn- einen Blick auf die materiellen und vor Kulturelle Identitäten und Migration“ te sie über Lissabon in die USA entfliehen. allem seelischen Nöte frei, mit denen es stattgefunden. Kooperationsparter waren Ihr Aufsatz „We Refugees“ entstand, auch Flüchtlinge zu tun haben, die heute die Erwachsenenbildung des Evangeli- nachdem sie von der Existenz der Vernich- aus dem Nahen Osten und Nordafrika zu schen Dekanats Darmstadt-Stadt und die tungslager erfahren hatte. Natürlich hatte uns kommen. Evangelischen Hochschule Darmstadt. »

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 29 solcher wurde er angesehen und fühlte sich auch so. Nach einer Handwerkslehre bildete er sich weiter, studierte Maschi- nenbau und schloss seine Universitätsaus- bildung mit der Promotion ab. Von 1988 bis zu seiner Pensionierung 2007 war er Professor an der Hochschule Darmstadt.

Manuel Campos, 1948 in Lever bei Porto geboren, floh 1972 aus Portugal, Aus unserer Ar b ei t anderthalb Jahre vor der sogenannten

Foto: Ilse El Badawi Nelkenrevolution, die die Diktatur Sala- Nach dem Besuch der Ausstellung „Bloß weg von hier“ in der Stiftskirche in Darmstadt arbeiten Schülerinnen zars endgültig beendete. Der ehemalige und Schüler aus Frankreich, England, der Türkei, Tschechien und Spanien auf Einladung der Heinrich-Heine- Student der Theologie und Philosophie, Schule (Dreieich) am Thema „Flucht und Hoffnung“. der mal Priester werden wollte, war poli- » Die Schirmherrschaft hatte Oberbürger- spricht vom „Todesmarsch der Frauen tisch aktiv, wurde aber rechtzeitig vor ei- meister Jochen Partsch übernommen. Mit und Kinder“. Die Familie hatte „Glück“, ner drohenden Verhaftung durch die Ge- Ausstellungen, Vorträgen, Musik, Filmen sie wurde mit einem Lastwagen nach heimpolizei gewarnt und konnte fliehen. und Lesungen (u. a. mit der Schriftstellerin Schweidnitz gebracht. Von dort schlugen Sein Fluchtziel war zunächst Paris, weil er Jenny Erpenbeck) wollten wir informieren, sich die vier nach Karlsbad im Sudetenland Französisch gelernt hatte. Durch kirchliche sensibilisieren und zeigen, mit welchen durch. Hier schlossen sie sich einem Treck Kontakte kam er dann nach Deutschland Hoffnungen und Erwartungen die oft nach Dresden an. Anfang April erreichten und erlebte in Kaiserslautern, dass er sich traumatisierten Flüchtlinge zu uns kom- sie die zerbombte Stadt. In der Nähe wur- sicher fühlte, viele Deutsche aber Angst men. Ihren Abschluss fand die Reihe in de die Familie von der Roten Armee ein- vor ihm hatten, was er bis heute nicht einer Gesprächsrunde zum Thema „Mi- geholt und erlebte dort das Ende des Krie- versteht. Manuel Campos fand eine An- grationserfahrungen aus 70 Jahren in ges. Die ältere Schwester berichtete über stellung bei der Firma Opel in Rüsselsheim. Deutschland“ mit fünf Menschen, die zu beängstigende Erlebnisse in dieser Zeit. Den Hauptteil seines beruflichen Lebens unterschiedlichen Zeiten nach Deutsch- Die Mutter sprach grundsätzlich wenig verbrachte er als Sekretär der Industriege- land geflüchtet sind – in einem Fall inner- über die Flucht – über diesen Zeitabschnitt werkschaft (IG) Metall, zum Teil als Leiter halb Deutschlands. jedoch nie. Im Juli 1945 kam die Familie der Abteilung für ausländische Arbeit- nach Ausleben in Sachsen-Anhalt. nehmerinnen und Arbeitnehmer. In dieser Vier Fluchtwege Funktion war er auch Mitarbeiter der Vor- Kindheit und Jugend verbrachte Dietmar standsverwaltung der IG Metall. Dietmar Ueberschär, geboren 1941 in Ueberschär in der DDR. Im offiziellen Breslau, Schlesien, musste am 20. Januar Sprachgebrauch des Landes gab es keine Von 2003 bis 2007 war Manuel Campos 1945 mit seiner Mutter und seinen beiden Flüchtlinge und Vertriebene – sie wurden Sozialattaché an der Deutschen Botschaft Schwestern auf Befehl die zur Festung er- stattdessen als „Umsiedler“ bezeichnet. in Brasilia und dann noch einmal für drei klärte Stadt Breslau verlassen. Tausende Er kann sich nicht erinnern, dass er als Jahre Gewerkschaftssekretär Internatio- Frauen und Kinder machten sich bei mi- Flüchtling in der DDR Probleme hatte. Aus naler Arbeitnehmerorganisationen in Sao nus 20 Grad Celsius zu Fuß auf den Weg der DDR floh er 1957 und war in der BRD Paulo, Brasilien. nach Westen. Viele fanden den Tod. Man erstmals ein „anerkannter Flüchtling“. Als Sultana Moshref, 1971 in Kabul gebo- Die Musiker Aeham Ahmad und Ibrahim Kamal Bergo begeistern das Publikum. Aeham Ahmad erlangte 2014/15 internationale Bekanntheit durch seine öffentlichen Auftritte im Flüchtlingslager Jamuk als „Pianist in ren, floh 1991 mit ihrem Mann, ihrem jün- den Trümmern“. Ibrahim Kamal Bergo ist Ägypter. geren Bruder und ihrer jüngeren Schwester aus Afghanistan vor den Mudjaheddin zu- nächst nach Moskau. Sultana Moshref – zum Zeitpunkt der Flucht schwanger – ge- lang es, im Jahre 1993 mit der ganzen Fa-

Foto: Klaus Müller milie nach Deutschland zu kommen, was das Ziel der Flucht war. Hier erwartete sie eine achtjährige (!) Phase der sogenannten Duldung, während der sie nicht in ihrem Beruf als Erzieherin arbeiten durfte. Erst 2001 wurde ihr Asylantrag genehmigt, seit 2003 hat sie die deutsche Staatsbür- gerschaft. Nach Jahren als Haushalts- und Küchenhilfe ist sie seit 2016 endlich als Er- zieherin in einem städtischen Kindergarten in Gernsheim bei Darmstadt beschäftigt.

30 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Maria und Hamid (Nachname kann aus Sicherheitsgründen nicht genannt wer- den) sind ein Ehepaar. Sie sind 1984 und 1987 in Teheran geboren. Maria hat im Iran Informatik studiert und nebenbei eine Ausbildung im Taekwondo (Kampfsport) absolviert. Hamid hat Sport im Iran stu- diert und war zunächst Basketball-Pro- fisportler. Nachdem für Maria die Prob- leme mit den Verantwortlichen im Iran unerträglich wurden, entschlossen sich Aus unserer Ar b ei t

die beiden im März 2014 zur Flucht. Ihr Foto: Klaus-Peter Krahl Ziel war es, über die sogenannte Balkan- Die Diskussionsrunde am 30. März 2017 in „Das Offene Haus“, Darmstadt (v.l.n.r.): Hamid und Maria, Prof. route nach Deutschland zu gelangen. Mit Dr. Marga Günther, Klaus Müller, Sultana Moshref, Prof. Dr. Dietmar Ueberschär, Manuel Campos. der Hilfe von Schleppern kamen sie von Istanbul aus mit einem Containerzug über Flucht und Hoffnung – ganz nah stein unseres gesellschaftlichen Selbstver- die bulgarische Grenze. In Sofia wurden ständnisses geworden. Aus den Medien sie von der Polizei verhaftet und für zwei Keine andere der insgesamt zwölf Veran- erfahren wir täglich, wie dünn das Eis Wochen ins Gefängnis gesteckt. Anschlie- staltungen unserer Reihe hat die Anwe- manchmal ist, auf dem wir wandeln, und ßend waren sie für fünf Monate in einem senden so berührt wie diese. Warum? Hier dass unter der Oberfläche eines friedlichen Flüchtlingscamp interniert. Wieder mit Hil- wurden persönliche, existenzielle Lebens- fe von Schleppern konnten sie das Camp geschichten erzählt. Alle fünf Geflüchteten verlassen und wurden zunächst nach Ser- waren vor dem Krieg oder politischer Ver- bien und später nach Ungarn gebracht. In folgung geflohen. Im Falle von Maria und Ungarn wurden sie in getrennte Gefäng- Hamid dauert die Bedrohung an. Sie ha- nisse gesperrt. Maria sagt: „Das erste Mal ben große Angst davor, in den Iran zurück Foto: Klaus Müller war ich auf der Flucht allein ohne meinen zu müssen. Wie stark auch die sogenann- Hamid, ich hatte fürchterliche Ängste.“ te Duldung verunsichert, erzählt Sultana Den glücklichsten Tag der Flucht erlebten Moshref: In den acht Jahren der Duldung sie, als sie endlich München erreichten habe sie nahezu täglich Angst vor dem und ein Polizist sie freundlich begrüßte. Briefkasten gehabt. Welcher Brief mit wel- Nach einigen Zwischenstationen ende- cher Botschaft werde da wohl für sie drin te die Flucht nach neun Monaten vorerst liegen? Heute sei sie glücklich, sagt Sultana im hessischen Mörfelden-Walldorf. Nach Moshref; ihre Kinder seien es auch.

„Flucht“: Bild des 1994 geflüchteten kurdischen Die Botschaft, die sich aus dieser Ab- Malers Ali Latif, gezeigt im Rahmen der Ausstellung schlussrunde – und natürlich auch aus der „Flucht und Ankommen“ in „Das Offene Haus“ des Evangelischen Dekanats Darmstadt-Stadt. gesamten Veranstaltungsreihe – ergibt, lautet: Eine so intensive Beschäftigung mit Flüchtlingsschicksalen führt zu einem an- Alltags oft Abwehr, Ablehnung und Ag-

Foto: Michaela Guckes deren Blick. Man lernt sehr viel über die in- gression lauern. Dagegen sind eine klare dividuellen Beweggründe einer Flucht, die Haltung und eine eindeutige Position ge- oft abenteuerlichen Fluchtwege, die Ängs- fordert, aus der das Herz und der Verstand te und Hoffnungen der Geflüchteten – ihr sprechen. Ein offenes Herz für die Gefühle „seelisches“ Gepäck, das ihr ganzes wei- der Geflüchteten und ein klarer Verstand teres Leben und auch die nachfolgenden für die Einsicht, dass weltweite Migrati- Generationen prägt. „Der Flüchtling“ tritt onsbewegungen eine Tatsache sind und auf einmal aus der Anonymität heraus, dass Europa die Pflicht und Schuldigkeit wird eine Person, die man verstehen und hat, Menschen, die vor Krieg und Terror schätzen lernt. Es ist diese Empathie, die flüchten, aufzunehmen und ihnen eine in unserem Land neben allem Positiven – sichere Heimstätte zu bieten. Das ist auch Sultana Moshref: 1991 aus Afghanistan geflohen. wohlgemerkt! – oft fehlt. eine „Wiedergutmachung“ für die Jahr- hunderte währende Kolonialgeschichte. ■ über zwei Jahren in Deutschland haben Der Umgang mit den aus den aktuellen sie im April 2017 endlich den Termin für Krisengebieten des Nahen Ostens und das „Interview“ erhalten. Jetzt hoffen sie, Nordafrikas Flüchtenden ist zu einem Prüf- dass sie bald Asyl bekommen und sich in Deutschland eine neue Zukunft aufbauen Klaus Müller ist Sprecher der Regionalen Arbeitsgruppe Südhessen und Mitglied von können. Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 31 RAG Nordbaden

Ulrike Lucas

Werben für Engagement

Aus unserer Ar b ei t Präsenz bei den Heimattagen in Karlsruhe

Wie kann das Interesse von Passanten auf Informationen und lokale oder bundesweite Aktivitäten sowie Mitmachaktionen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. gelenkt werden? Welche besonderen Angebote bietet der Verein Interessierten und Rat- suchenden? Wie kann historische Erinnerungsarbeit mit dem konkreten Einsatz für Demokratie verbunden werden? Und wie können eher nachdenklich machende Themen im Rahmen einer fröhlichen Veranstaltung für Familien transportiert werden?

Diese Schwerpunkte galt es in einem fünf mal fünf Meter großen Pavillon zu prä- sentieren, gemeinsam mit vier kulturell ausgerichteten Vereinen wie dem Senio- renorchester und dem Briefmarkensam- melverein Karlsruhe. Und das in einem

Gemeinschaftspavillon vor historischer Foto: KEG / Jürgen Rösner Kulisse des Karlsruher Schlosses mit zwei Riesenrädern, Gastronomie, über 120 Pavillons von Vereinen, Organisationen, Betrieben aus ganz Baden-Württemberg.

Dieser Herausforderung stellte sich die Sektion Nordbaden am Baden-Württem- berg-Tag der „Heimattage Baden-Würt- temberg Karlsruhe 2017“. Das Amt für Stadtentwicklung Karlsruhe bot ausge- Die Heimattage in Karslruhe. losten Vereinen die Organisation, allge- meine Reklame für diesen besonderen („lobenswert“, „nicht nachlassen“) und bei öffentlichen Bücherverbrennungen Tag und einen ansprechenden Rahmen gelungene jüngste Veranstaltungen wie Bücher, ja ganze Bibliotheken verbrannt. für Präsentation und Werben um Enga- zu Zwangsarbeitern oder auf das DDR- So fielen auch vor dem Karlsruher Schloss – gement. Die Umsetzung erfolgte seitens Museum in Pforzheim („prima Tipp“) er- nur wenige Meter vom Pavillon entfernt – der Sektion Nordbaden kreativ und mit folgten; auch die Lobbyarbeit des Vereins- bei einer Sonnenwendfeier am 17. Juni viel kommunikativem Einsatz. vorstandes in Berlin stieß auf sehr positive 1933 über 3.000 Werke jüdischer, pazi- Resonanz. fistischer und anderer den Nazis unlieb- Wie erhofft bremste das „Einladungsm- samer Autoren den Flammen zum Opfer. antra“ inmitten des Stroms der Vorüber- Ergänzend lud die Sektion am Eingang Manchen Besuchern war die daran er- ziehenden: „Darf ich Ihnen einen erfri- des Pavillons ein, an der eigens konzipier- innernde städtische Stele im Schlossbe- schenden Ice-Bonbon und ein praktisches ten Verlosung auf Basis einer zentralen zirk aufgefallen. „Solche Systeme und Lesezeichen anbieten? Dahinter steht der Vereinsaussage teilzunehmen. Mit der Unrechtsherrschaft dürfen nicht mehr bundesweite Verein ...“ Das Eis war so zu Lösung, der Aussage auf dem Lesezei- vorkommen“, sagten einige. Und nicht 90 Prozent gebrochen und nur sehr weni- chen „Demokratie ist wichtig. Aber nicht wenige drückten ihre Besorgnis über ak- ge hatten „keine Zeit“ für weiteren Aus- selbstverständlich“, waren Bücher zu ge- tuelle Entwicklungen in der Türkei aus. tausch oder ein Gespräch. Während des winnen, als Hauptgewinne Schuber mit gesamten Tages reihten sich sehr interes- Büchern der Bibliothek der „Verbrannten Am späten Nachmittag ermittelte die sierte Nachfragen und Diskussionen anei- Bücher“ unvergessener Autoren. Dazu junge Enkeltochter eines Aktiven die Ge- nander. Hinweise auf lokale Aktionen wie erfuhren die Gäste: Ab 10. Mai 1933 winner, die ihre Bücher sofort mitnehmen das aktive Gedenken durch Stolpersteine wurden reichsweit in Nazi-Deutschland konnten. Diese kurzweilige Aktion er- gänzte die klassischen Standmaterialien Ulrike Lucas ist Koordinatorin der Sektion Nordbaden von Gegen Vergessen – Für des Vereins. ■ Demokratie e.V.

32 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 RAG Hannover

Sonja Richter

Das Grauen im KZ wird für Zuschauer spürbar Aus unserer Ar b ei t

Moshe Oster und Josef Dreilinger haben überlebt. Nach mehreren Konzentrationslagern mit all ihren Schrecken wurden sie am 15. April 1945 aus dem KZ Bergen-Belsen befreit. Doch das erlebte Grauen lässt sie so schnell nicht los. In der Ecke eines Krankensaales, wo sich eine britische Schwester um sie kümmert, finden sie erst allmählich ins Leben zurück, geplagt von den Erinnerungen an das Leid, das ihnen widerfahren ist.

Am 25. Januar 2017 wurde im Evange- lischen Bildungszentrum Hermannsburg das Theaterstück „Moshes zweites Le- ben“ aufgeführt. Es beruht auf Inter- views, die in den Jahren 2000 und 2006 mit den beiden Holocaust-Überlebenden Foto: Sonja Richter geführt wurden.

Das Stück verzichtet darauf, die in der KZ-Zeit erlittenen Qualen ausgiebig in Szene zu setzen. Es lässt die Darstel- ler davon erzählen, während sie nach der Übergabe des Lagers an die Briten wieder aufgepäppelt werden. Zugleich werden wir durch das intensive Spiel der beiden männlichen Darsteller And- reas Daniel Müller und Gerrit Neuhaus in das Trauma hineingezogen: Moshes Alpträume, in denen immer wieder die vielen Toten auftauchen; wir spüren ihre Erniedrigung, als sie ihres Menschseins beraubt werden. Zu Ratten seien sie ge- worden, sagt Moshe. Nein, schlimmer, entgegnet Josef, Ratten seien wenigs- tens frei. Als die Schwester ihnen am 8. Szene aus der Aufführung des Theaterstücks „Moshes zweites Leben“ in Hermannsburg. Mai 1945 freudestrahlend das Kriegsen- de verkündet, wissen die beiden Män- Handwagen Josef auf dem Marsch nach Vereinigung Gegen Vergessen – für De- ner erst gar nicht, wie sie mit dieser Bergen-Belsen ziehen musste, die Men- mokratie e.V. im Vorfeld des Holocaust- Nachricht umgehen sollen. Dann erfährt schen quälte. Wie Moshe mit Leichen in Gedenktages am 27. Januar statt. ■ Moshe, dass seine Schwester zwei Tage eine Grube geworfen, aber gerettet wur- nach der Befreiung gestorben ist. Er ist de. Und schließlich von der Befreiung und zunächst unfähig zu trauern. dass beide später nach gingen und Familien gründeten. In Erzählungen und Rückblenden erfahren wir den gesamten Leidensweg der beiden Das Stück des Autors Martin-G. Kun- Juden, der durch mehrere Lager führte, ze ist seit einem Jahr an verschiedenen wo sie bei völlig unzureichender Ernäh- Orten zu sehen. Die Aufführung in Her- rung Flakgeschütze herstellen mussten. mannsburg fand auf Initiative des SPD- Erfahren, wie sie Anfang April 1945 zu Ortsvereins und der überparteilichen Fuß in das KZ Bergen-Belsen getrieben wurden, wo die Menschen massenhaft an Der Artikel wurde ursprünglich am 27.01.2017 in der „Celleschen Zeitung“ veröf- Krankheiten und Unterernährung starben fentlicht. Wir bedanken uns bei der Autorin für die Genehmigung zum Abdruck in und sich Leichenberge türmten. Wie der unserer Zeitschrift. SS-Oberscharführer Quakernack, dessen

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 33 RAG Augsburg „Stabübergabe“ an Christian Gerlinger

Im Rahmen des Besuches des Bundesvorsitzenden Prof. Bernd Faulenbach in Augsburg übergab Dr. Bernhard Lehmann, der bisherige Sprecher der RAG Augsburg-Schwaben, den Stab an seinen Nachfolger, Dr. Christian Gerlinger.

Aus unserer Ar b ei t Der Historiker und Pädagoge Dr. Bern- In der Zukunft möchte er sich wieder hard Lehmann war über fünf Jahre lang verstärkt dem wissenschaftlichen Be- Foto: pr Sprecher der örtlichen RAG, füllte sie mit reich zuwenden, vor allem dem Thema neuem Leben und organisierte während Euthanasie und Zwangssterilisation. Für seiner Amtszeit ca. 70 Veranstaltungen, sein Engagement wurde Dr. Bernhard davon sehr viele an Schulen. Schwer- Lehmann im Jahr 2014 mit dem Bundes- punkte seiner Arbeit waren Tabuthemen verdienstkreuz ausgezeichnet. wie das Massensterben der russischen Kriegsgefangenen, die Massaker der Der neue Sprecher Dr. Christian Gerlin- Wehrmacht und der SS in Italien, Eu- ger studierte Geschichte und Germanis- thanasie und Zwangssterilisationen im tik an der Universität Augsburg. Er war Raum Augsburg, die italienischen Militä- jahrelang Büroleiter des Bundestagsmit- rinternierten und Zwangsarbeiter in der glieds Heinz Paula und des Landtags- Augsburger Region sowie das Thema mitglieds Herbert Wörlein. Er ist bestens Sinti und Roma im Nationalsozialismus vernetzt und vor langer Zeit der Verei- und in der DDR als Unrechtsstaat. nigung Gegen Vergessen – Für Demo- kratie e. V. beigetreten, vor allem, weil Auf zwölf Reisen in die Ukraine und nach er die Arbeit des Gründungsvaters Dr. Italien überbrachte Dr. Bernhard Leh- Hans-Jochen Vogel für immens wertvoll mann an 142 Zwangsarbeiter symboli- Bernhard Lehmann zog im Rathaus Bilanz. hält. „Es gibt überall demokratiefeindli- sche Summen als Geste der Versöhnung. che Bestrebungen und Organisationen“, Durch Benefizveranstaltungen mithilfe sagt Dr. Christian Gerlinger. „Demokra- von Künstlern wie Dieter Hildebrandt, beitern sammeln und eine Gedenkstätte tie ist alles andere als eine Selbstver- Reinhard Mey, Erwin Pelzig alias Frank errichten. ständlichkeit. Umso wichtiger ist – ne- Markus Sparwasser, Gerhard Polt, Sen- ben der Arbeit der Parteien und anderen ta Berger, Hannes Wader, Franz Josef Zudem setze er sich energisch für die Organisationen – unser Verein, der sich Degenhardt, den Biermösln, Helmut Verlegung von Stolpersteinen in Augs- gezielt für die Demokratie einsetzt.“ ■ Schleich, Andreas Giebel, Luise Kinse- burg ein und für die Umbenennung her und vielen anderen konnte er über des Wernher-von-Braun-Gymnasiums in 200.000 Euro zugunsten von Zwangsar- Friedberg (Bayern).

Bei der Stabübergabe dabei (v.l.n.r.): Dr. Bernhard Lehmann, Dr. Stefan Kiefer, Prof. Dr. Bernd Faulenbach, Dr. Christian Gerlinger. Foto: pr

34 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 RAG Südbaden

Wolfgang Dästner

Täter, Helfer, Trittbrettfahrer –

NS-Belastete aus Südbaden Aus unserer Ar b ei t

In einem Vortrag von Professor Wolfram Wette heißt es, dass seit etwa 1995 der Begriff „Vergangenheitsbewälti- gung“ durch den Begriff „Erinnerungskultur“ abgelöst worden sei. Aleida Assmann formuliert noch griffiger: „Ver- gangenheitsbewahrung“, denn das Beschweigen bzw. Verdrängen sei überwunden.

Beide Autoren stellen fest, dass ein Wandel Zugleich aber scheint sich auch die Forschung eingetreten ist, deutlich erkennbar an der neue Perspektiven zu suchen und den Blick Ablösung der Generation der Überlebenden auf die Täter zu intensivieren. Allein im Raum durch die Nachkommen, eine „vierte Genera- Freiburg waren drei Veranstaltungen bestens tion“. Die präzise Abgrenzung der Generati- besucht, bei denen Dr. Wolfgang Proske (63) onen wird von Wissenschaftlern unterschied- den sechsten Band der Reihe Täter, Helfer, Foto: Wolfgang Dästner Foto: Wolfgang lich gehandhabt, aber sie sind sich einig, dass Trittbrettfahrer – NS-Belastete aus Südbaden Zeitzeugen heute kaum noch zur Verfügung vorstellte. stehen, dass also die lebendige und oft auch emotionale Beziehung zur NS-Zeit nicht mehr Das 422 Seiten dicke Werk enthält Porträts gegeben ist. Die heutige Generation sei ruhi- von 25 Menschen, die in der NS-Zeit als Tä- Dr. Wolfgang Proske am Büchertisch in Emmendingen ger, auch kühler und rationaler im Umgang ter, Helfershelfer oder Trittbrettfahrer tätig zur Buchvorstellung von Band 6 – Mitveranstalter war Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., RAG Südbaden. mit der Vergangenheit. waren. Oftmals handelt es sich um „NS- Belastete“ aus der zweiten oder dritten Rei- Zeitzeugen, die über die NS-Zeit sprechen he. Proske schätzt, dass reichsweit 500.000 Dichter völkischer Ideologie), Erzbischof wollten, waren in der Regel überlebende Op- Menschen in diese Kategorie fielen. „Das Conrad Gröber, Waldemar Hoven (Lager- fer. Denn welcher Täter hätte wohl freiwillig war der Resonanzboden, der die national- arzt im KZ Buchenwald), Oberbürgermeister über seine Taten in der Öffentlichkeit berich- sozialistische Diktatur erst ermöglicht hat.“ Franz Kerber, German Josef Schillinger (SS- tet. Daher war die Erinnerung hauptsächlich Dr. Wolfgang Proske hatte als Geschichts- Unterscharführer im KZ Auschwitz/Birkenau) auf die Opfer bezogen. Eine Täterforschung lehrer in Heidenheim Unterrichtsstoff zu re- und Hans Martin Schleyer (Arbeitgeberprä- gab es natürlich auch, aber die erforschte gionalen NS-Tätern vermisst. 2010 suchte sident, zuvor unter anderem NS-Studenten- zumeist die Verbrechen der Haupttäter. Jetzt er für die Erforschung Autoren und grün- führer und SS-Untersturmführer) gelesen. haben wir, was vielfach Unbehagen auslöst, dete einen eigenen Verlag. Aus einem Buch Über Karl Jäger wissen viele Leser seit dem unterschiedliche Ritualisierungen als Ersatz: sind mittlerweile sechs Bücher geworden. Buch von Professor Wolfram Wette über die- Gedenktage im Bundestag, Feiern am Platz der Jedes deckt eine Region in Baden-Württem- sen „Mörder der litauischen Juden“ ausrei- Alten Synagoge, Gedenkveranstaltungen und berg ab. Geplant sind zehn Bände. chend Bescheid, aber was über Hans Martin Vorträge am sogenannten Holocaust-Tag, der Schleyers Werdegang in der NS-Zeit zu lesen allen Opfern des Nazismus gewidmet sein soll. Mit besonderem Interesse haben die Freibur- ist, war lange vergessen und wird manchen ger die Beiträge zu Heinrich Bieg (Landesju- Leser erstaunen. Gerade diese Ergänzungen gendführer der Reichsdeutschen Jugend in zu dem allgemein Bekannten machen diesen der Schweiz), Hermann Burte (prominenter Band so lesenswert. ■

Wolfgang Dästner ist Koordinator der Sektion Südbaden von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

■ Buchinformation: Wolfgang Proske (Hg.) Täter Helfer Trittbrettfahrer, Bd. 6: NS-Belastete aus Südbaden Kugelberg Verlag, Gerstetten 2017 Taschenbuch, 431 Seiten · ISBN: 978-3-945893-06-7 · 19,99 €

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 35 ■ RAG Sachsen-Anhalt stellt sich vor

Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. ist dort stark, wo sich engagierte Bürgerinnen und Bürger zusammenfinden, um vor Ort gemeinsam für die Demokratie einzutreten. Derzeit bestehen bundesweit 38 regionale Arbeitsgruppen und Sektionen, die wir an dieser Stelle vorstellen möchten – mit den Gesichtern, die dahinter stehen. In dieser Ausgabe gibt Lothar Tautz Auskunft, der die Regionale Arbeitsgruppe Sachsen-Anhalt leitet. Aus unserer Ar b ei t

Name: Lothar Tautz

Geburtsdatum: 15. April 1950 Foto: Privat

Beruf: Maschinenbauer, Theologe und Pädagoge, Pastor

Motto unserer Initiative, der aktuellen Schulprojektreihe zur DDR-Geschichte: „Der Kampf um die Demokratie hat begonnen“ (Die ZEIT, August 2016)

So bin ich bei Gegen Vergessen – persönlich geschichtsversessen und amtlich als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Für Demokratie e. V. gelandet: ehemals verfolgter Sozialdemokraten.

Daraus ziehe ich Motivation für „Meine Enkel sollen es einmal besser haben!“ meine ehrenamtliche Arbeit: (Meine Kinder haben es schon viel besser!)

Diese Themen interessieren • Frieden mich besonders: • Stärkung der Zivilgesellschaft

Hier bin ich außerdem aktiv: ■ in der SPD ■ als Bandmusiker (Gitarre) ■ als Naturfreund

Die Regionale Arbeitsgruppe … klein, aber fein und besonders kooperativ (deshalb viele Partner*innen, Einzelperso- Sachsen-Anhalt ist … nen und Institutionen).

Für die Arbeit in der RAG … mehr Mitglieder aus allen Altersgruppen. wünsche ich mir, …

Und zu guter Letzt: Wenn es unseren Verein nicht schon gäbe, müsste man ihn sofort gründen!

■ Buchinformation: Annette Hildebrandt / Lothar Tautz Protestanten in Zeiten des Kalten Krieges. Kirchentag zum Lutherjubiläum 1983 im Fokus der Staatssicherheit. (Herausgegeben von der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Studienreihe der Landesbeauftragten, Band 8.) Mitteldeutscher Verlag, Halle 2017 Taschenbuch, 160 Seiten · ISBN: 978-3-95462-878-0 · 14,95 €

36 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Joachim Gauck übernimmt Ehrenvorsitz

Das Amt gab es bislang nicht im Verein, Sprecher Hubert Moosmayer von der nun hat Gegen Vergessen – Für Demo- Regionalen Arbeitsgruppe Allgäu-Ober- kratie e.V. einen Ehrenvorsitzenden: den schwaben stellte die Aktion „Wahl. Bundespräsidenten a. D. Dr. h. c. Joachim Tauch nicht ab!“ vor (s. S. 26) und leitete Gauck. Zur Sitzung des Vorstandes und damit eine lebhafte Diskussion über die des Beirates am 15. Mai 2017 erschien aktuelle Situation in Deutschland ein. Jo- Gauck in der Gedenkstätte Deutscher achim Gauck sagte angesichts der zahl- Widerstand in Berlin und ließ sich auf reichen Attacken aus unterschiedlichen den neuesten Stand bringen. Denn für Richtungen auf die Demokratie: „Wir den ehemaligen Bundespräsidenten be- brauchen ein neues Bewusstsein dafür,

deutet der Tag eine Rückkehr zu der Ver- dass wir stark sind als Demokraten.“ Mit Na men un d Nach ri cht en einigung, die er bereits neun Jahre lang seinem Engagement als Ehrenvorsitzen- als Vorsitzender geführt hatte. Von 2003 der wolle er eine wache Zivilgesellschaft bis zu seinem Amtsantritt als Bundesprä- unterstützen. Joachim Gauck: „Ohne sident 2012 leitete er Gegen Vergessen – Kampfeswillen für die Demokratie kön- Für Demokratie e.V. als Nachfolger von nen wir auch junge Leute nicht dafür Hans Koschnick und dem Gründungs- gewinnen, etwas für diese Gesellschaft vorsitzenden Dr. Hans-Jochen Vogel. zu wagen.“ ■

Prof. Dr. Bernd Faulenbach, der jetzige einbrachte, den Wert der Freiheit akzentu- Vorsitzende von Gegen Vergessen – Für ierte und das demokratische Engagement Demokratie e.V., sagte: „Joachim Gauck der Bürgerinnen und Bürger als bestes hat die Arbeit des Vereins über Jahre ge- Mittel hervorhob, Extremismus und Popu- prägt, indem er ostdeutsche Erfahrungen lismus vorzubeugen und zu bekämpfen.“

Ein neues Amt für Joachim Gauck bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Im Mai nahm er an der Vorstands- und Beiratssitzung teil und fühlte sich in der Runde offensichtlich wohl als Ehrenvorsitzender. V. l.: die stellvertretenden Vorsitzenden Ekin Deligöz und Eberhard Diepgen, Joachim Gauck und der Vorsitzende Bernd Faulenbach. Nicht im Bild ist Irmgard Schwaetzer. Fotos: Dennis Riffel

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 37 Liane Czeremin

Auszeichnung für Zeitzeugen Ibrahim Arslan

In der Geschäftsstelle von Gegen Verges- sehr nahe. Es war aber auch klar, dass sol- sen – Für Demokratie e.V. erreichte uns che Auftritte eine starke Belastung für Ibra- im Januar 2014 eine Mail, die so begann: him Arslan darstellen würden, weil er durch „Mein Name ist Ibrahim Arslan, ich bin die Erlebnisse schwer traumatisiert war und Opfer und Überlebender des rassistischen unter einem chronischen Husten litt. Brandanschlages von Mölln 1992. Gern

Na men un d Nach ri cht en würde ich Sie kennenlernen, denn ich Deshalb vereinbarten wir mit Stefan Querl

habe in meinen Recherchen gesehen, dass Foto: BfDT / André Wagenzick aus der Regionalen Arbeitsgruppe Müns- Sie sich gegen das Vergessen einsetzen. terland einen Testlauf. Arslan reiste zu ei- Ich würde Sie zu gern unterstützen.“ Im ner Diskussion im Rahmen der „Jungen Mai 2017 ist Arslan nun vom Bündnis für Akademie“ der Villa ten Hompel. Der Auf- Demokratie und Toleranz (BfDT) als „Bot- tritt war ein Erfolg, der Wahlhamburger schafter für Demokratie und Toleranz“ Arslan wollte unbedingt weitermachen. ausgezeichnet worden. Dazwischen liegen Das vom Bundespresseamt geförderte zahlreiche Auftritte als Zeitzeuge in Schu- Projekt „Demokratie ist wichtig. Punkt!“ len, Hochschulen, in Diskussionsrunden. ermöglichte es uns schließlich, die Zeitzeu- Ibrahim Arslan. genarbeit kontinuierlich zu unterstützen Ibrahim Arslan hatte im Februar 2014 die und Ibrahim Arslans Auftritte in den Pool Berliner Geschäftsstelle besucht und uns Arslans Anliegen war nun, die Geschichte der Bildungsangebote von Gegen Verges- den Film „Nach dem Brand“ vorgestellt. dieses Anschlages nicht in Vergessenheit sen – Für Demokratie e.V. aufzunehmen. Die Dokumentation begleitet die Familie geraten zu lassen und der Perspektive der Mittlerweile ist er in mehreren Regionalen Arslan über Jahre hinweg und zeigt ihren Opfer rechtsextremer Gewalt mehr Ge- Arbeitsgruppen teils schon häufiger zu Umgang mit der Last des Brandanschlages, wicht zu verleihen. Er spielte deshalb mit Gast gewesen, er hat zahlreiche Schüler, bei dem im November 1992 drei Famili- dem Gedanken, als Zeitzeuge in Schulen Studenten und Lehrer mit seiner Geschich- enmitglieder starben. Ibrahim Arslan war aufzutreten und seine Botschaft den jun- te berührt und mit seinem Einsatz beein- damals sieben Jahre alt und überlebte nur gen Menschen zu vermitteln. Dafür suchte druckt. Bedrückend ist dabei die Tatsache, durch die selbstlose Rettungsaktion seiner er Unterstützung durch eine etablierte Or- dass seine Erfahrungen inzwischen einen Großmutter Bahide, die bei dem Anschlag ganisation. Da die Brandanschläge in Mölln noch aktuelleren Bezug zur Gegenwart selbst ums Leben kam. Ibrahim verlor auch ein zentraler Anlass für die Gründung von haben als zu Beginn seines Engagements. seine Schwester Yeliz und seine Cousine Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. im In den ersten Veranstaltungen war es noch Ayse Yilmaz bei dem Brand. April 1993 war, lag eine Zusammenarbeit nötig, jüngeren Zuhörern zu erklären, wel- che Ereignisse und Stimmungen die rassis- Ibrahim Arslan (r.) bei der Preisverleihung in Berlin im Gespräch mit Dr. Michael Parak, Geschäftsführer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., und mitgereisten Freunden und Unterstützern. tischen Übergriffe in den 1990er-Jahren befördert haben. Heute kann jeder einen Bezug zur aktuellen Lage herstellen.

In dem Film, der vom BfDT für die Preisver- leihung in Berlin erstellt wurde, sagt Ars- lan: „Ich möchte die Rolle des Opfers, die ja eigentlich mit Schwäche gefüllt ist, mit

Foto: BfDT / André Wagenzick Stärke befüllen.“ Wenn sich die Menschen mehr mit den Betroffenen statt nur mit den Tätern auseinandersetzten, würden diese Taten aufhören, hofft Arslan.

Das ehrenamtliche Engagement Ibrahim Arslans wäre nicht möglich ohne die Ku- lanz seines Arbeitgebers, der Stadt Ham- burg. Dazu berichtet seine Chefin Katja Hartfiel hier mehr im Interview mit Ruth Liane Czeremin ist wissenschaftliche Referentin von Gegen Vergessen – Wunnicke. ■ Für Demokratie e.V.

38 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Sonderurlaub für das Ehrenamt

Die Chefin von Ibrahim Arslan unterstützt sein Engagement

Zwischen zwei Terminen sitzt die fröhliche, resolu- lebte er am 23. November 1992 den Brandanschlag auf te Wahlhamburgerin in ihrem Büro in der Hamburger das Haus seiner Familie in Mölln. Heute unterstützt Katja Neustadt. Katja Hartfiel leitet die Abteilung Parkraum- Hartfiel sein zeitintensives Ehrenamt als Zeitzeuge. Was Management der Stadt Hamburg. Einer ihrer über 100 bewegt eine Chefin zu diesem außergewöhnlichen En- Angestellten ist Ibrahim Arslan. Als Siebenjähriger über- gagement?

Allein im vergangenen Jahr führte Ge- alle mitgestalten können. Es wäre schön,

gen Vergessen – Für Demokratie e.V. wenn auch die Eltern und Familien von Na men un d Nach ri cht en

mit Ibrahim Arslan bundesweit mehr Foto: Privat den Erfahrungen der Kinder partizipieren als 20 Veranstaltungen durch. Vielen und ein Austausch entsteht. Ich wünsche Dank, Frau Hartfiel, für Ihre Unterstüt- mir, dass Menschen nicht in Grenzen und zung, die das ermöglicht! Schubladen denken. Ich habe eine Tochter Ich finde es total selbstverständlich, das und versuche ihr das auch zu vermitteln. zu machen. Daher also nett, dass Sie sa- gen: „Dank an uns“. Aber ich würde im- Können Sie sich selbst noch an den mer sagen: „Danke an Herrn Arslan.“ Er Brandanschlag im Herbst 1992 auf kam auch schon mal auf mich zu und hat das Haus der Familie Arslan in Mölln sich bedankt. Aber ich finde das wirklich erinnern? selbstverständlich. Das sehen auch alle an- Damals war ich acht Jahre alt, die Ge- deren genauso, vom Geschäftsführer bis schehnisse in Mölln habe ich nicht be- zu seinen direkten Kollegen. wusst mitbekommen. Ich habe aber schon als Kind festgestellt, dass die Bestürzung Normalerweise würde ein Arbeitge- auch in meiner Familie groß war und ein ber doch anfangen zu rechnen, ob er gewisser Aufruhr in der Politik und eben einen Mitarbeiter über den Urlaub Katja Hartfiel in der Bundesrepublik herrschte. Trotzdem hinaus freistellen kann. Sie, sprich die bin ich geprägt. Ich bin gebürtige Rosto- Stadt Hamburg, tun das nicht. bin. Die sind 80 Prozent ihrer Arbeitszeit ckerin, fuhr im Sommer 1992 auch an Darüber habe ich nie nachgedacht. Ich im Außendienst tätig. Ich stelle aber fest, dem brennenden Sonnenblumenhaus in habe für mich gar keine Argumente ge- es gibt so gut wie keine dummen Sprüche. Rostock-Lichtenhagen vorbei und habe funden, warum wir Herrn Arslan nicht Ich denke, die Akzeptanz und die Toleranz das so gar nicht verstanden. Meine Mut- unterstützen sollten, gerade als Vertreter sind größer dadurch, dass man einen ter erklärte mir das dann und ich habe die der Stadt. Ich würde vielmehr versuchen, Kollegen wie Ibrahim Arslan mit diesem Fernsehbilder gesehen. andere Vorgesetzte hier in der Stadt zu Hintergrundwissen hat, der auch für das motivieren, ebenfalls Mitarbeiter zu unter- Thema sensibilisieren kann. Hier herrscht Gab es in Ihrem Leben noch andere Er- stützen, die sich engagieren können. Ich eine wirklich gute Stimmung und die Kol- eignisse, die Ihren Blick auf das Thema würde sagen: „Mensch, mach das!“ legen arbeiten toll miteinander. Ich habe Migration geprägt haben? auch noch nie etwas von interkulturellen Durch meine frühere Arbeit in der Einbür- Wie regeln Sie das im Betrieb? Problemen gehört. Ich glaube schon, Herr gerungsabteilung und in der Ausländerab- Wenn Herr Arslan für Gegen Vergessen – Arslan bewirkt etwas. teilung habe ich viele Schicksale gesehen. Für Demokratie e.V. unterwegs ist, dann Wenn man die Akten liest, erhält man ei- ist das immer Sonderurlaub. Auch der Verbinden Sie mit Ihrer Unterstützung nen Blick über den Tellerrand. Es ist eben Geschäftsführer unterstützt es, dass im für Ibrahim Arslan auch eigene Hoff- nicht selbstverständlich, eine Schulbildung Namen der Stadt Hamburg diese Aufklä- nungen und Wünsche? zu genießen, zum Arzt zu gehen, wenn rungsarbeit betrieben wird. Herr Arslan Ich erhoffe mir gerade auch in den jetzi- man sich nicht gut fühlt, oder zur Polizei opfert auch Freizeit dafür. Dann am Ende gen politischen Zeiten, dass die jungen zu gehen, wenn man Hilfe benötigt. Den des Monats zu sagen, er solle deswegen Menschen durch die Arbeit von Herrn Blick dafür hat mir die Arbeit geschult. noch weniger Geld bekommen, wäre eine Arslan erkennen, welche Bedeutung ihre Als unsere Tochter geboren wurde, sind doppelte Bestrafung. Stimme hat. Es geht darum, ein Bewusst- wir zum Einwohnermeldeamt gegangen sein dafür zu wecken, dass man Teil dieser und haben den deutschen Pass bekom- Hat die Geschichte von Ibrahim Arslan Gesellschaft ist und jede Stimme wichtig. men. Damals habe ich zu meinem Mann eine Ausstrahlung auf die Kollegen? Ich würde mir wünschen, dass Herr Arslan gesagt: „Schau mal: Wir gehen hin und Das kann ich nicht genau sagen, weil ich in den jungen Menschen begreiflich macht, unsere Tochter kriegt den deutschen Pass. der täglichen Arbeit der Teams nicht dabei dass wir in einer Demokratie leben, in der Andere Menschen opfern ganz viel auf, »

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 39 » um am Ende auch diesen Pass in der Hand ten geht und dabei auch noch Wissen Hatten Sie als Schülerin auch Begeg- zu halten.“ Da wird man ein bisschen ehr- vermittelt. Er zieht sich nicht zurück und nungen mit Zeitzeugen? fürchtig. Deswegen passt das hier jetzt sagt nicht: „Das war alles ganz furcht- Ich hatte in der Schule Leistungskurs Ge- auch perfekt zusammen mit Herrn Arslan, bar“. Stattdessen geht er aus der Opfer- schichte. Damals sind wir nach Berlin seinen persönlichen Erfahrungen und der rolle raus und sagt „Nein, das kann es jetzt gefahren und hatten Gespräche mit Zeit- Zeitzeugenarbeit. Da hat er bei mir wirk- nicht gewesen sein. Was mir passiert ist, zeugen, die sehr viel älter waren, Schwer- lich den Nerv getroffen. ist schrecklich. Aber andere Menschen sol- punkt Zweiter Weltkrieg. So ein junger len davon wissen. Es soll anderen besser Zeitzeuge wie Herr Arslan ist natürlich Was ist ungewöhnlich an Ibrahim Ars- gehen.“ Ich halte das nicht für selbstver- ungewohnt. Aber ich finde, gerade für lan als Zeitzeugen? ständlich, so über den eigenen Schatten die jungen Menschen ist es optimal, weil Ich glaube, die Menschen sind überrascht, zu springen und immer wieder an die trau- sie eine Verbindung zu der Person haben: wenn sie Herrn Arslan kennenlernen, weil matischen Geschehnisse damals im Herbst „Der spricht meine Sprache.“ Die Jugend- ihre Erwartungen ganz andere sind. Plötz- 1992 erinnert zu werden. Ich glaube, viele lichen trauen sich, auf Ibrahim Arslan zu-

Na men un d Nach ri cht en lich steht da ein adretter, selbstbewusster würden sich da zurückziehen. zugehen, in den Dialog zu gehen und zu junger Mann, der Familie hat, der arbei- sagen: „Das ist einer von uns.“. ■

Die Fragen stellte Ruth Wunnicke

BuchhinweisE

Erinnerungen und ein „Danke“ an Hans Koschnick

Ein Jahr nach dem Tod von Hans Ko- Hans-Jochen Vogel an die Witwe Chris- seine Verantwortung für das Geschehen schnick erinnert nun ein von Helmut Do- tine Koschnick. gegenüber den Nachbarn zu Hause wie nat herausgegebener Band an den zupa- außerhalb der Grenzen an der Gardero- ckenden und mutigen Bremer Politiker, Hans Koschnick engagierte sich für die be des Welttheaters abgeben.“ Ebenso der auch drei Jahre lang Vorsitzender Aussöhnung mit Polen und Israel, setz- zeigt sich seine grundsätzliche, christlich von Gegen Vergessen – Für Demokra- te erfolgreich die Städtepartnerschaften geprägte Einstellung zu Fairness und tie e.V. war. Der Band vereint Reden zu mit Danzig und Haifa um. Als EU-Admi- persönlicher Freiheit in seiner Auslegung seiner Trauerfeier, Artikel und Würdigun- nistrator arbeitete er in Mostar (Bosnien- aus dem Jahr 2004 zum Achten Gebot: gen von Wegbegleitern, Zuschriften an Herzegowina) für den Wiederaufbau Du sollst nicht stehlen! Hier fordert er seine Ehefrau und drei wichtige Reden der im Balkankrieg zerstörten Stadt. In in deutlichen Worten, gegenüber wirt- von ihm selbst. Auch die Beiträge von Bremen sind beispielsweise die Grün- schaftlich schwachen Gesellschaften die Bernd Faulenbach und von Sonja und dung der Universität und die Ansiedlung „ertragsökonomisch betriebene Ausbeu- Wolfgang Eichwede im Mitgliederheft des Mercedes-Werkes untrennbar mit tung und formalrechtlich begründete Nr. 89 sind dort zu finden. Ebenso eine seinem Namen verbunden. Seine doku- Aneignung fremder Ressourcen“ endlich Zuschrift des Gründungsvorsitzenden mentierte Rede zum 50. Jahrestag des zu beenden. Und er bezieht sich dabei – Beginns des Zweiten Weltkrieges in der aktueller denn je – auf die durch die Bremer Bürgerschaft zeigt noch einmal Ausbeutung bewirkte Inkaufnahme von eindrucksvoll seinen Einsatz für eine Ver- Flüchtlingsbewegungen, die Grund da- ständigung der Länder in Europa, poin- für seien, „dass Millionen von Menschen tiert in dem Satz: „Keiner von uns kann ihre Heimat und damit die Chance für aus der Geschichte aussteigen, kann ein lebenswürdiges Dasein verloren“. ■

■ Buchinformation: Helmut Donat (Hg.) „Danke, Hans!“ Zur Erinnerung an Hans Koschnick 1929 – 2016.

Donat Verlag & Antiquariat, Bremen 2017 Gebundene Ausgabe, 128 Seiten · ISBN: 978-3-943425-66-6 · 12,00 €

40 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Warum ausgerechnet Sachsen?

40 Autoren gingen auf die Suche nach kommen Enttäuschungen nach der Wen- journalistischen Radar geblieben sind. Das Antworten dafür, warum das Bundesland de. Und schließlich hat die herrschende betrifft zum Beispiel Colditz. Thomas Datt Sachsen zu der Hochburg für Rechtspopu- CDU das Problem von Beginn an negiert beschreibt in einer atemberaubenden Re- lismus und feindliche Aktionen gegenüber oder zumindest relativiert. Stichwort: Kurt portage, wie Rechtsextreme versuchten, Flüchtlingen werden konnte. Der daraus Biedenkopf und seine Behauptung, die die Kleinstadt zu einer praktisch rechtsfrei- entstandene Sammelband „Unter Sach- Sachsen seien immun gegen Rechtsextre- en Zone zu machen. sen. Zwischen Wut und Willkommen“ mismus. Zuweilen scheint das noch heute hat heftige Debatten ausgelöst. Stadträ- Staatsdoktrin zu sein. Was können Sachsen und Nicht-Sach- te in Meißen haben sogar versucht, eine sen, die etwas gegen die rechtspopu- geplante Lesung im Rathaussaal zu ver- Es gibt viele Antworten auf die „Warum listischen Strömungen tun möchten,

bieten. Mitherausgeber Matthias Meis- Sachsen?“-Frage, auch in unserem Buch. aus den Texten mitnehmen? Na men un d Nach ri cht en ner, Korrespondent beim „Tagesspiegel“, Eine liefern Andrea Hübler und Robert Unser Buch trägt den Untertitel „Zwischen äußert sich zu den Erkenntnissen, die er Kusche, die in unserem Buch feststellen: Wut und Willkommen“. Womöglich ist das gewonnen hat. „Für pogromartige Zustände wie in Heide- Willkommen am Ende in all den Beiträgen nau im Sommer 2015 und in Bautzen im dann doch etwas zu kurz gekommen – und Die Autoren Ihres Sammelbandes stel- Februar 2016 braucht es die rassistische der Optimismus bei Autoren wie Michael len sich aus unterschiedlichen Blick- gewaltbereite Menge, die applaudierende Bittner oder Imran Ayata fast zwangsläu- winkeln die Frage, warum Sachsen zu Deckungsmasse und eine nicht handelnde fig verhalten. Aber es bleibt wahnsinnig einem Zentrum der rechtspopulisti- Ordnungsmacht.“ wichtig, dass die Zivilgesellschaft, die schen Bewegung in Deutschland wer- sich gegen Fremdenhass und Neonazis den konnte. Sind sie zu einer Antwort engagiert, nicht alleingelassen wird. Die gekommen? Ist Sachsen tatsächlich Gab es Erkenntnisse oder Beobach- traurige Zustandsbeschreibung aus den ein Sonderfall? tungen, die Sie während der Arbeit an verschiedensten Regionen Sachsens wird Natürlich ist Sachsen nicht das einzige Bun- diesem Buch noch überrascht haben? hoffentlich die eine oder den anderen desland, in dem Rechtsextremismus und Ja. Viele Orte, die im Zusammenhang mit zum Engagement ermuntern. Das wieder- Fremdenhass ein Riesenproblem sind. Aber Fremdenfeindlichkeit eine zentrale Rolle um gilt natürlich nicht nur für Sachsen. ■ es ist dort eben noch einmal größer als in spielen, waren mir mehr oder weniger ver- anderen Teilen der Republik – und das hat traut – Hoyerswerda, Meißen, Freital, Hei- viele Gründe. Manche Ursache liegt in denau und Clausnitz beispielsweise. Wäh- der DDR-Historie, dem problematischen rend der Arbeit am Buch aber konnte ich Umgang mit Vertragsarbeitnehmern etwa selbst eine Menge dazulernen, weil man- aus Vietnam, Kuba und Mosambik. Dazu che Orte eben doch jahrelang unter dem

■ Buchinformation: Heike Kleffner, Matthias Meisner (Hg.) Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen. Ch. Links Verlag, Berlin 2017 · Broschur, 312 Seiten · ISBN 978-3-86153-937-7 · 18,00 €

Hans-Jochen Vogel startet neue Spenden-Initiative

Foto: Dominik Butzmann Dr. Hans-Jochen Vogel, Gründungsvor- 180 Grad gefordert. In einer Rede in sitzender von Gegen Vergessen – Für Dresden hat Höcke dabei die praktizierte Demokratie e. V., hat eine persönliche In- Aufarbeitung der deutschen Geschichte itiative gestartet, um mehr Spenden für als „dämliche Bewältigungspolitik“ be- den Verein einzuholen. Ein Anlass ist Vo- zeichnet. Ein Beleg dafür, wie wichtig gels Empörung über Aussagen von Björn die Ziele von Gegen Vergessen – Für De- Höcke. Der AfD-Politiker hatte im Januar mokratie e. V. auch im Jahr 24 nach der eine erinnerungspolitische Wende um Gründung bleiben. ■

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 41 Ernst-Jürgen Walberg bespricht:

Ernst-Jürgen Walberg, Vorstandsmitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. und bis Ende 2011 Kulturchef von NDR 1 Radio MV in Schwerin schreibt regelmäßig über Neuerscheinungen zu einem aktuellen historischen Thema in unseren Ausgaben der Zeitschrift. R e z ensi o nen Europa – trotz alledem oder jetzt erst recht!? Vor und nach Taormina im Mai 2017: die europäische Idee und ihre Zukunftsperspektiven

Man hätte es ahnen können: Manche Bü- 1949“ ist der erste Teil einer einfach brillan- Und nimmt man dann wie Kershaw noch cher in Sachen Europa erscheinen nicht ten Europa-Studie: knapp 770 Seiten stark, etwas Vorgeschichte dazu, die zwei Jahr- erst in diesem Jahr je nach Standpunkt zu sprachlich wie inhaltlich meisterhaft, ein zehnte „vergoldetes Zeitalter“ à la USA oder früh oder zu spät (und haben ihre Aktuali- Lesegenuss. Schon deshalb sollen die Über- „belle époque“ à la Frankreich, und auch tät bereits verloren, wenn sie denn auf den setzer Klaus Binder, Bernd Leineweber und vier Jahre Nachgeschichte mit dem Beginn Markt kommen). Sachbuchautoren hecheln die Übersetzerin Britta Schröder ausdrück- des „Aufstiegs aus der Asche“, dann ist der europäischen Gegenwart hinterher, erst lich genannt und gelobt sein! Und wer je diese Lesevariante in sich schlüssig und für der Wirtschaftskrise mit ihrem Süd-Nord- Zweifel daran gehabt haben sollte, dass eine sich abgeschlossen. – Dass Ian Kershaw im Konflikt, dann der Flüchtlingskatastrophe in- solche Gesamtdarstellung der europäischen Gegensatz zu Christopher Clark die Schuld klusive sturer Verweigerungshaltungen von Verhältnisse zwischen 1914 und 1949 über- am Ersten Weltkrieg nicht ausgewogen allen Österreich bis Ungarn, vom Brexit gar nicht haupt zu schreiben, zu bewältigen sei, dem politisch verantwortlichen „Schlafwandlern“ zu reden und von Europa-Unverhältnissen à belegt jede Zeile dieses Opus magnum das gleichgewichtig zumisst, ist bemerkenswert la Trump erst recht nicht. Auch der G7-Gipfel Gegenteil: Es geht, es geht glänzend ... und genug. Keine Großmacht wollte den Frieden im Mai 2017 im sizilianischen Taormina mit wie! Auf dem modernsten wissenschaftli- wirklich, alle gingen davon aus, der Krieg seiner politischen Ergebnislosigkeit scheint chen Stand: politisch, wirtschaftlich, kultu- werde nur ein kurzes Zwischenspiel sein. Die noch längst nicht eingepreist. Gerade zwei rell und gesellschaftlich; auf ganz Europa Verantwortung lag in London und in Paris, in Sätze der deutschen Bundeskanzlerin, die bezogen und nicht etwa nur begrenzt auf St. Petersburg und in Wien, dem Berlin jede US-Medien sofort schlagzeilenträchtig fett die großen Zentralmächte; die historischen nur mögliche Unterstützung zukommen ließ auf Titelseiten hievten, scheinen (erstaunlich Wirklichkeiten im Blick, garniert mit nicht 1914 ... Berlin allein schuldig? Nein, meint genug!?) bereits Allgemeingut. Der erste genutzten oder damals noch nicht einmal Kershaw, doch hauptverantwortlich schon, Satz: „Die Zeiten, in denen wir uns auf an- gesehenen alternativen Möglichkeiten; auf- wörtlich: „Am entscheidenden Punkt im Juli dere völlig verlassen konnten, die sind ein gespießt die Arroganz der Macht, der Mäch- 1914 zeigten sich Deutschland, Österreich- Stück vorbei.“ Und der zweite: „Wir Europä- tigen und die Erfahrungen, die Erlebnisse Ungarn und Russland als die in dieser Krise er müssen unser Schicksal wirklich in unsere Einzelner, so sie denn als umfassenderes Bei- maßgeblichen Kräfte, wobei Deutschland eigene Hand nehmen.“ spiel gelten können, pars pro toto. Und dass die ausschlaggebende Rolle spielte.“ sich Ian Kershaw zwischendurch humorvoll- Das klingt nach Zeitenwende, kühl und ironische Abweichungen erlaubt, kommt Eine zweite Lesevariante lässt sich leicht an sachlich und alles andere als pessimistisch, der Lektüre nur zugute. Und seinem Image den konkreten Folgen des Ersten Weltkrie- auffordernd eher und keinen Widerspruch natürlich auch. ges festmachen: an der Neuordnung Euro- zulassend ... ungewohnt (deutlich) und un- pas mit dem Zusammenbruch des deutschen gewöhnlich (offen) für europäische Verhält- „To Hell and Back“ Kaiserreiches, der Habsburger Monarchie, nisse ... nach europäischem Neuanfang? Und Je nach Ambition und Interesse: Lesemög- des zaristischen Russlands, des osmanischen während diese Zeilen notiert werden, um die lichkeiten dieses grandiosen Wälzers gibt es Reiches und dem Entstehen von zehn neuen aktuelle Sammelrezension wenigstens an- unendlich viele. Nationalstaaten (inklusive der Türkei nach satzweise auf einen auch politisch möglichst Die erste: Man kann dem „Höllensturz“ 1923). Die Siegermächte USA, Frankreich, aktuellen Stand zu bringen, ist nicht zu über- kontinuierlich folgen, versteht man ihn als Großbritannien und Italien waren zuständig lesen: Zumindest drei der vorzustellenden Kriegsgeschichte mit einer Pause von gera- für die neuen Grenzverläufe mit der Folge: Titel sind nicht nur auf den ersten Blick voller de mal 20 Jahren zwischen dem Ersten und „Die neuen Grenzen hatten [...] tatsächlich Optimismus, auch wenn zahllose Zwischen- dem Zweiten Weltkrieg, die rundum eher weniger mit der Selbstbestimmung von Na- überschriften und -absätze nicht nur bei Ian der militärischen Vorbereitung der Kriegs- tionalitäten zu tun als damit, einige Gebiets- Kershaw beklemmend ins Gegenteil weisen, fortsetzung als einem angestrebten dauer- ansprüche auf Kosten anderer zu erfüllen abwärts statt aufwärts oder so ähnlich. haften Friedensprozess galt. Das Ergebnis und zugleich möglichst wenig Spannung also ist in der Rückschau eine Art „zweiter und Feindschaft entstehen zu lassen.“ Klingt Ian Kershaws „Höllensturz. Europa 1914 bis Dreißigjähriger Krieg“ von 1914 bis 1945. dieser Satz noch kaum nach handfesten Zu-

42 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 kunftsproblemen, wird Kershaw nur wenige „Aufstieg aus der Asche“ tergeordnet werden. So bekam der Blick in die Seiten weiter deutlicher, sprich: pessimisti- Versailles und die Folgen, die Revisionsan- Zukunft Vorrang vor einer gründlichen Reini- scher. „Unselige Kompromisse waren unver- sprüche fast aller Kriegsbeteiligten, die Klas- gung vom Vergangenen. Kollektiver Erinne- meidlich, und was sie ‚die vier Großmächte‘ senkonflikte seit der Oktoberrevolution, die rungsverlust öffnete den Weg nach vorn.“ schließlich vorlegten, war weniger ein Rah- Krise des Kapitalismus seit spätestens Ende menwerk für einen dauerhaften Frieden als der 1920er-Jahre und davon nur scheinbar Diese Sätze klingen nach, lange ... und ma- R e z ensi o nen ein Rezept für potenzielle künftige Desaster. unberührt die Tänze auf dem Vulkan, die chen uns Leser gar nicht so nebenbei einfach Das Europa, das aus diesen Kompromissen „Roaring Twenties“; dann die Weltwirt- nur ungeduldig und schrecklich neugierig entstand, glich einem fragilen Kartenhaus.“ schaftskrise, der 30. Januar 1933 mit Hitlers auf Ian Kershaws Europa, Teil 2: „Europa Machtergreifung und schließlich: „Wenn der 1949 bis heute“. Neue Staaten, neue Grenzen, dazu wollte erste Krieg die Urkatastrophe war, dann war man auch „ein neues Europa, einen Kon- der zweite deren Höhepunkt – der völlige Zu- „Lasst Europa auferstehen!“ tinent der Demokratien, wollte Regierun- sammenbruch der europäischen Zivilisation. Mit dieser Aufforderung beendet Winston gen, die nicht die Interessen von Fürsten [...] Er wurde zu dem Ereignis, das den weite- Churchill am 19. September 1946 an der und Grundbesitzern vertraten, sondern den ren Verlauf des 20. Jahrhunderts bestimmen Universität Zürich eine Rede, die es in sich Willen des Volkes – zum Ausdruck gebracht sollte. Mit dem Zweiten Weltkrieg kam das hat. Er hatte seine Zuhörer aufgefordert, im Pluralismus politischer Parteien, in freien Europa an ein Ende, das Erbe des Ersten war. in die Zukunft zu sehen und nicht zurück Wahlen und Parlamenten.“ Das klang nicht Fast hätte der Kontinent sich selbst zerstört. auf die „Schrecknisse der Vergangenheit“. nur gut, das war auch gut. Oder korrek- Aber er hat überlebt.“ Denn erst dann könne gelingen, was für ter: Das wäre auch gut gewesen, wenn die den Frieden, für das Ende des Elends, für die Demokratien den Rückhalt in den Völkern Doch wie? Ian Kershaw lässt nichts aus, kei- Zukunft der Zivilisation und für die Freiheit gefunden hätten, den sie in dieser labilen ne der vielen Höllen auf Erden damals, nicht unumgänglich sei: die Neugründung einer Gegenwart dringend nötig gehabt hätten. eine an den diversen Fronten, keine in der regionalen Organisation, „die man vielleicht Kershaws Kapitel über die fragilen Demo- Heimat, wo auch immer diese lag, nicht die die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ nennen kratien, über die politischen Alternativen Flammen der Krematorien, nicht den „tota- könnte“. Eine der wichtigsten Vorausset- Demokratie oder Diktatur und Demokra- len Krieg“, nicht Dietrich Bonhoeffer oder zungen dafür: Frankreich und Deutschland tie oder Nationalismus pur gehören zu den den Kreisauer Kreis, nicht die Befreiung, nicht müssten gemeinsam die Führung dieses Zu- wichtigsten Teilen seines Buches, das wird den Zusammenbruch ... und auch nicht das sammenschlusses übernehmen. 1946! schnell deutlich an ihrer engagierten Aus- Schweigen und das Verschweigen danach. führlichkeit oder ihrer gewaltigen Material- Nein, dass Großbritannien sich diesen „Ver- und Detailfülle: Demokratie funktioniert bei „Eine Art Katharsis“, so ist eines dieser Kapi- einigten Staaten von Europa“ anschließen den Siegern, bei den Verlierern des Ersten tel überschrieben. Skepsis schwingt im Titel werde, davon redet Churchill nicht. Die USA, Weltkrieges weichen die demokratischen mit, im Text dann fast stoische Gelassen- Sowjetrussland, Großbritannien und das bri- Zwischenspiele allzu schnell der Diktatur. Un- heit, die nachzuvollziehen noch immer nicht tische Commonwealth seien die Freunde, terschiedliche Ausnahmen bestätigen auch leichtfällt, auch nach der Lektüre dieses bril- Förderer und Garanten dieses neuen Europa. damals die Regeln: die stabile Demokratie lanten Werkes nicht. Ian Kershaw wörtlich: Also: „Lasst Europa auferstehen!“ Finnland, die Scheindemokratie des König- „Das verständliche Verlangen nach Bestra- reichs der Serben, Kroaten und Slowenen, fung der Verantwortlichen musste gestillt Frank-Walter Steinmeier hat im Herbst des die autoritäre Herrschaft in Polen oder die werden, damit es die langfristigen Anstren- vergangenen Jahres Churchills Rede wieder viermonatige „Diktatur des Proletariats“, gungen für den Wiederaufbau von Staat und ausgegraben und als dessen „Vermächtnis“ nahtlos abgelöst von „Reichsverweser“ Mik- Gesellschaft nicht vergiftete. Hochkochende für einen engagierten und appellierenden lós Horthy in Ungarn, oder ganz besondere Leidenschaften waren einzudämmen. Das Rück- und Ausblick auf Europa genutzt. Sonderfälle wie das faschistische Italien. Gerechtigkeitsgefühl musste der Politik un- 70 Jahre danach mit ganz konkreten politi- »

Ian Kershaw Höllensturz. Europa 1914 bis 1949. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016 Gebundene Ausgabe, 768 Seiten ISBN 978-3-421-04722-9 · 34,99 €

Frank-Walter Steinmeier Europa ist die Lösung. Churchills Vermächtnis.

Ecowin Verlag, Wals bei Salzburg 2016 Gebundene Ausgabe, 56 Seiten ISBN 978-3-7110-0119-1 · 8,00 €

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 43 » schen Vorstellungen über eine gemeinsame sierung der eigenen Macht. Hier schreibt zwischen 1663 und 1806, als hier in Re- Außen- und Krisenpolitik, über den Aufbau jemand, der sich seit vielen Jahren in Ost- gensburg der „Immerwährende Reichstag“ eines gemeinsamen Asylsystems (bei ge- europa auskennt und keine Rücksicht auf des „Heiligen Römischen Reiches deutscher rechter Verteilung aller Lasten!) und zu einer diejenigen nehmen muss, die er ganz offen Nation“ zu tagen pflegte. Bescheiden sind wirtschaftlichen Wachstumsdynamik für alle, mit Daten, Fakten und Wertungen kritisiert. diese Zeitzeugnisse, weit entfernt von Protz für alle in Europa. Knapper und weniger dip- Reinhold Vetter liefert uns Lesern anderer- und Pomp, fast bürgernah, könnte man R e z ensi o nen lomatisch ausgedrückt: Probleme lösen, be- seits den Versuch, Wege aus der europäi- sagen. Nehmen Sie es mit Heribert Prantl weglicher werden und das politisch durch- schen Krise aufzuzeigen, indem er vergleicht: symbolisch: Etwa dahin muss Europa wieder setzen, was durchsetzungsfähig ist ... und die politischen Wege nach rechts in Osteuro- zurück. Es klingt banal: „Wir brauchen nicht wenn dabei ein Europa in zwei Geschwin- pa und in Westeuropa, die fehlenden, halb- mehr Europa; wir brauchen nicht weniger digkeiten unumgänglich wird, dann ist das herzigen oder tatsächlichen Reaktionen der Europa. Wir brauchen ein besseres Europa.“ so und gut. Punkt. europäischen Administration, das Schwei- Heribert Prantl macht darauf aufmerksam: gen oder die Hilflosigkeit all derer, die in Eu- 2019 wird die nächste, die neunte Direkt- Illusion, Wunsch oder Wirklichkeit? ropa etwas zu sagen haben oder zu sagen wahl zum Europäischen Parlament sein. Und Eine solche Bestandsaufnahme der Krise(n) hätten. Weiter so, das reiche nicht aus. Vet- trotz Brexit, trotz neuer alter Nationalismen, in Europa, in Kurzfassung gewisserma- ter stellt fest: „Die EU als Wertegemeinschaft trotz Versagens einer gemeinsamen, soli- ßen, reicht Reinhold Vetter bei Weitem (Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Bindung der darischen Flüchtlingspolitik, trotz scheinbar nicht aus. Der langjährige Hörfunkkorres- Politik an verfassungsrechtliche Grundsätze) erfolgreichen populistischen Geschwätzes pondent der ARD in Warschau präsentiert ist bislang nur eine Fiktion.“ Daraus folgt die europaweit, „trotz alledem und alledem“ uns einerseits ein sorgfältig recherchiertes Alternative: Soll Europa wie bisher auch in könne das nur bedeuten: Wir brauchen ganz kleines Standardwerk über die politischen der Zukunft nur eine „Zweckgemeinschaft“ schnell tragfähige Antworten auf die alten Entwicklungen in Osteuropa: klare aktuel- sein und bleiben? Oder sind das Ziel doch die Fragen, wie sie aussehen soll, die gemein- le Gegenwartsanalysen der (Europa- und „Vereinigten Staaten von Europa“? same Heimat Europa, „trotz alledem und Innen-) Politik in Polen und Ungarn, in der alledem“. Diese Verszeile des Dichters Ferdi- Slowakei und der Tschechischen Republik, Dann mal los: mit wirklich europäischen nand Freiligrath und ein paar brandaktuelle in Kroatien, Slowenien oder den baltischen Europa-Wahlen, mit einem massiven Ab- Verse mehr aus der Zeit der 1848er Revolu- Staaten. Hier ist der Stoff, der in der Tagesbe- bau der Brüsseler Bürokratie, mit dem Ende tion und des ersten Demokratenkongresses richterstattung aller Medien gleich welcher finanzieller Verschwendung in nahezu al- in Frankfurt am Main im Juni 1848 ziehen Couleur in der Regel nur andeutungsweise, len Bereichen der Gemeinschaft, mit ei- sich wie ein roter Faden durch Prantls Streit- gerade mal in Stichworten zum Gegenstand nem renovierten europäischen Gerichtshof, schrift oder Polemik oder flammenden Ap- wird: Gemeinsamkeiten und Unterschiede dessen Urteile jedermann nachvollziehen pell. Er zieht Bilanz, er spießt auf, er lästert in (Rechts-) Populismus oder Nationalismus, kann ... also eigentlich nur: zurück zu den und spöttelt, und er schreibt eine wunderba- beim Rücken nach rechts, beim Aus- oder „Gründungsmotiven“ der europäischen Ge- re Liebeserklärung an dieses zurzeit ziemlich Gleichschalten von Medien, im Umgang meinschaft, und das so konsequent und so missratene Europa. Warum? mit der eigenen Vergangenheit, im nahezu schnell wie möglich! schamlosen regelmäßigen Kassieren von EU- Sagen wir es wie Heribert Prantl einfach mit Geldern bei gleichzeitiger Nicht-Einhaltung „Trotz alledem und alledem“ Ferdinand Freiligrath: „[…] Doch sind wir europäischer Verpflichtungen, im Umgang Das Europa des Juristen und SZ-Journalisten frisch und wohlgemut, / Und zagen nicht trotz mit den Flüchtlingen, genauer: dem Bau von Heribert Prantl können Sie im kleinen Reichs- alledem! / In tiefer Brust des Zornes Glut, / Mauern und Schutzzäunen gegen Flüchtlin- tagssaal des Alten Rathauses zu Regensburg Die hält uns warm trotz alledem! / Trotz al- ge zur innenpolitischen Beruhigung, oder besichtigen, drei ziemlich bescheidene Mö- ledem und alledem, / Es gilt uns gleich trotz noch zynischer, schamloser: zur extremen belstücke: den „Grünen Tisch“, die „Lange alledem! / Wir schütteln uns: Ein garst’ger Sicherung und offensichtlichen Zentrali- Bank“ und das Konfekttischlein aus der Zeit Wind, / Doch weiter nichts trotz alledem! // ■

Reinhold Vetter Nationalismus im Osten Europas. Was Kacziński und Orbán mit Le Pen und Wilders verbindet. Ch. Links Verlag, Berlin 2017 Taschenbuch, 224 Seiten ISBN 978-3-86153-939-1 · 18,00 €

Heribert Prantl Trotz alledem! Europa muss man einfach lieben. edition suhrkamp, Berlin 2016 Broschur, 224 Seiten ISBN 978-3-518-07289-9 · 5,95 €

44 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Vergangenheit mit dem Heute verknüpft

Daniela Schadt R e z ensi o nen

Volkmarsen, zum Beispiel: eine idyllische Wo immer man das Buch aufschlägt – unsere Großeltern. Die persönlichen Be- kleine Stadt im Norden Hessens, 6 840 man liest sich fest. Verfolgt Lebenswe- ziehungen, die sich aus den Besuchen Einwohner; es gibt eine Burg aus dem ge, die von Hessen nach Palästina füh- entwickelten, reichen übrigens bis in die 13. Jahrhundert, ein Schwimmbad, ein ren, nach Südamerika, Australien, in die Generation der Enkel. So verknüpft sich Krankenhaus. Und es gibt Ernst Klein. USA. Was empfindet ein 13-Jähriger, Vergangenheit ganz organisch mit dem Der hatte Anfang der 1990er-Jahre die der – ganz auf sich allein gestellt – 1939 Heute. Und die Briefe des Dankes für Idee, überall in der Welt nach jenen jü- versucht, Deutschland zu verlassen? die Begegnungen mit und in der alten dischen Mitbürgern zu suchen, die der Was erlebten Jungen und Mädchen auf Heimat sind so herzbewegend, dass der Shoah entkommen konnten. Sie einzu- den rettenden Kindertransporten nach Leser schlucken muss. laden in seine Stadt, die einmal ihre Hei- Großbritannien oder in die Niederlande? mat war. Aus den Nachforschungen und Und wie beginnt man ein Leben in der Ernst Klein und seine Mitstreiter haben Begegnungen ist ein kleines, aber über- Fremde, die Heimat werden soll? Was nicht versucht, Gräben zuzuschütten, sie aus sehenswertes Museum entstanden – geschah mit dem Geld, nachdem Juden wollten Brücken bauen. Dass und wie es und ein Buch, das Geschichte auf ein- ihre Häuser zu Schleuderpreisen ver- gelang, kann man jetzt nachlesen. Die dringliche Weise lebendig werden lässt. kaufen mussten? Der Erlös kam auf ein kluge, auf das Wesentliche konzentrierte Sperrkonto, auf das sie keinen Zugriff Verbindung von unmittelbarer Schilde- Ernst Klein und seine Frau Brigitte haben hatten. Von dem allerdings im Falle ei- rung, geschichtlicher Einordnung, Fotos, die Erinnerungen aufgezeichnet, und wir nes Falles 1.700 Reichsmark abgezogen Dokumenten und Illustrationen macht erfahren, was das war: jüdisches Alltags- wurden: die Kosten für den Transport in das Buch zur idealen Schullektüre. Ziel leben in der Kleinstadt. Damals, nach dem ein Todeslager. Nachzulesen im Beitrag sei es, schreibt Klein, „zum Nachdenken Ersten Weltkrieg, als die Männer noch in über Rosa Rosenstock, die 1942 in So- anzuregen und durch die Weitergabe Gehrock und Zylinder zur Synagoge gin- bibor ermordet wurden. Auf zwei knap- historischen Wissens die persönliche gen und die Kinder ganz selbstverständ- pen Seiten ist hier der unvorstellbare Zy- Urteilsfähigkeit zu stärken“. Das ist ihm lich in die evangelische Volksschule. Wie nismus des Systems zusammengefasst. glänzend gelungen. Mehr kann man von sie mit ihren Freunden im Märchenwald keinem Buch verlangen. ■ unter der Kugelsburg Räuber und Gen- Rosa Rosenstock konnte ihre Geschich- darm spielten. Wie sich die Atmosphäre te nicht mehr erzählen. Andere haben seit 1933 veränderte, die Ausgrenzung zumindest überlebt; aber man muss sie zunahm, auch unter Freunden, Bekann- fragen. Nicht nur nach den Traumata, ten, Mitschülern. Es sind Geschichten auch nach ihrem zweiten Leben. Denn von Verrat und von Solidarität, wie die ihre Geschichte endet nicht – wie eine von Wachtmeister Heinrich Claus, der die Unterrichtseinheit zur NS-Diktatur – mit Familie Nassau warnte, als ein Sohn ver- dem 8. Mai 1945. Wir sehen die Fotos haftet werden sollte. Oder die von Toni jener Menschen, die dank der Initiative Floren, die ihre jüdische Freundin nur von Ernst und Brigitte Klein Jahrzehnte noch im Dunkeln besuchen konnte, aber später Volkmarsen besuchten, und den- standhaft zu ihr hielt. ken: Das könnten unsere Eltern sein oder

Daniela Schadt ist Journalistin und Lebensgefährtin des ehemaligen Bundespräsiden- ten Joachim Gauck.

Ernst Klein „aber es ist besser als Butterbrot in D.“ Lebenswege jüdischer Kinder, Frauen und Männer aus Deutschland. Volkmarsen 2016 Gebundene Ausgabe, 250 Seiten Erhältlich über www.rueckblende-volkmarsen.de

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 45 Die Schicksale der Überlebenden

Albert Bodenmiller R e z ensi o nen

Am 19. November 1944 traf auf dem densweg der jüdischen KZ-Häftlinge. In lungen, die den geschichtlichen Zusam- Bahnhof Nebringen bei Herrenberg aus diesem neuen Heft geht es um das Le- menhang erschließen. dem KZ Stutthof bei Danzig ein Trans- ben nach dem Überleben. Die befreiten port von 601 jüdischen Häftlingen ein, Häftlinge waren zu Displaced Persons Einige Überlebende oder auch deren die von der SS für das KZ-Außenlager (DP) geworden, die in DP-Lagern der Nachkommen haben die KZ-Gedenk- Hailfingen/Tailfingen angefordert wor- Amerikaner, Franzosen und Briten unter- stätte Hailfingen/Tailfingen und das den waren. Das Stammlager war das KZ gebracht wurden. Sie existierten heimat- Mahnmal an der ehemaligen Lande- Natzweiler im Elsass. Die Häftlinge muss- los, entwurzelt und ohne Angehörige im bahn besucht. Die Biografien können ten unter mörderischen Bedingungen in untergegangenen Hitler-Deutschland. im Unterricht eingesetzt werden. Eine Steinbrüchen arbeiten, um die Start- und Für die Häftlinge aus dem KZ Hailfingen/ Beispielbiografie ist die von Mordechai Landebahn eines Nachtjägerflugplatzes Tailfingen sind die DP-Lager Stuttgart, Ciechanower, geboren 1923 in Makow zu bauen. Mitte Februar 1945 wurde Bad Saulgau, Mannheim und Feldafing (nördlich von Warschau). Seine Ge- das Lager geräumt. Bis zu dieser Zeit am Starnberger See zu nennen. Im Som- schichte führt von der Einrichtung des starben nachweislich 189 jüdische Häft- mer 1946 lebten in der amerikanischen Gettos in Makow 1941 bis zur Ankunft linge infolge der schweren Arbeiten, der Zone mehr als 140 000 befreite jüdische in Israel. Im Dezember 1942 wurde seine Unterernährung, an Krankheiten und Heimatlose. Die meisten jüdischen DPs Familie nach Auschwitz deportiert, wo durch Tötungen. Nach der Auflösung aus westlichen Herkunftsländern woll- die Mutter und die Schwestern in der des Lagers mussten die Häftlinge zu Fuß ten in ihre Heimatländer zurück. An eine Gaskammer ermordet wurden. Morde- in das etwa 40 Kilometer entfernte KZ- Rückkehr der aus Osteuropa stammen- chai Ciechanower überlebte als Dach- Außenlager Dautmergen (bei Balingen) den jüdischen Überlebenden war wegen decker in Auschwitz-Birkenau. Ende Ok- wechseln; sie wurden auf Todesmärsche der Vernichtung der Juden und des An- tober 1944 wurde er in das KZ Stutthof getrieben oder in das Sterbelager Ber- tisemitismus nicht zu denken: Zwischen bei Danzig verlegt, darauf im November gen-Belsen verlegt. Ein Teil der Häftlinge 1945 und 1948 kam es in Polen, Ungarn 1944 in das KZ-Außenlager Hailfingen/ wurde auf dem Todesmarsch im Raum und der Slowakei zu judenfeindlichen Tailfingen. Ende März 1945 wurde er Sigmaringen von französischen Truppen Ausschreitungen. ins KZ Bergen-Belsen transportiert, des- befreit. Das Schicksal vieler Häftlinge ist sen Befreiung durch britische Truppen bis heute ungeklärt. Volker Mall und Ha- Volker Mall und Harald Roth beschreiben er am 15. April 1945 erlebte. Anschlie- rald Roth haben bei ihren Recherchen die Wege ehemaliger jüdischer KZ-Häft- ßend hielt er sich im DP-Lager Feldafing Informationen zu etwa 130 Häftlingen linge aus den DP-Lagern in ein neues auf, dort traf der den Vater wieder. Die gefunden. Leben. Wegen der restriktiven Einwan- letzte beschriebene Etappe seiner Bio- derungspolitik der britischen Mandats- grafie ist im September 1945 die illegale Nach der Befreiung stellten sich die Da- verwaltung konnte erst nach der Grün- Überfahrt auf einem britischen Kriegs- vongekommenen die Frage: „Wohin dung des Staates Israel eine größere Zahl schiff von Bari nach Ismailia, von wo aus soll ich gehen? Wer wartet auf mich? von DPs legal nach Israel gelangen. Die Mordechai Ciechanower nach Israel ein- Ist nach all dem Erlittenen ‚A Leben meisten Überlebenden wanderten in die reiste. 1948 kämpfte er im israelischen aufs nay!‘ überhaupt möglich?“ In vo- USA aus. Die biografischen Schilderun- Unabhängigkeitskrieg. ■ rangegangenen Schriften beschäftigten gen von Volker Mall und Harald Roth sich die Autoren vor allem mit dem Lei- sind ergreifende exemplarische Darstel-

Albert Bodenmiller ist Diplom-Volkswirt und Politikwissenschaftler. Er lebt in Rotten- burg am Neckar und ist Mitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Johannes Kuhn, Harald Roth, Volker Mall Wohin soll ich gehen? Wege der Überlebenden des KZ-Außenlagers Hailfingen/Tailfingen. Heft 6 der Schriftenreihe des Vereins KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen, Februar 2017. Das Heft kann bei der KZ-Gedenkstätte Hailfingen / Tailfingen e.V. (www.kz-gedenkstaette-hailfin- gen-tailfingen.de) oder bei Volker Mall, E-Mail: [email protected], bestellt werden. Kosten 6 € + Porto

46 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 Vorstand und Beirat

Geschäftsführender Vorstand Prof Dr. Bernd Faulenbach, Vorsitzender, Historiker Bernd Goldmann, Schatzmeister, ehemaliger Direktor der UBS Ekin Deligöz, Stellvertretende Vorsitzende, MdB Deutschland AG, Niederlassung Berlin Eberhard Diepgen, Stellvertretender Vorsitzender, Kerstin Griese, MdB Regierender Bürgermeister von Berlin a.D. Ernst Klein, Sprecher der Regionalen Arbeitsgruppen von Dr. Irmgard Schwaetzer, Stellvertretende Vorsitzende, Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. Bundesministerin a.D., Präses der Synode der Evangelischen Kirche Dr. Ulrich Mählert, Schriftführer, Zeithistoriker bei der Bundesstiftung in Deutschland zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Prof. Dr. Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand at n d un Beir at Vo rs ta

Vorstand Dieter Althaus, Ministerpräsident von Thüringen a. D., Dr. Anja Kruke, Leiterin des Archivs der sozialen Demokratie der Vizepräsident von Magna International Friedrich-Ebert-Stiftung Dr. Andreas H. Apelt, Bevollmächtigter des Vorstands der Deutschen Uta Leichsenring, ehemalige Leiterin der Außenstelle Halle des Gesellschaft e. V. Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Erik Bettermann, ehemaliger Intendant der Deutschen Welle Winfried Nachtwei, Experte für Friedens- und Sicherheitspolitik, Prof. Dr. Friedhelm Boll, Historiker am Historischen Forschungszent- MdB a. D. rum der Friedrich-Ebert-Stiftung Paul Nemitz, Direktor für Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Tilo Braune, Staatssekretär a. D., Geschäftsführer der Hamburger Generaldirektion Justiz der Europäischen Kommission in Brüssel Gesellschaft zur Förderung der Demokratie und des Völkerrechts e. V. Dr. Maria Nooke, stellvertretende Direktorin der Stiftung Berliner Mauer Prof. Dr. Hansjörg Geiger, Staatssekretär im Bundesministerium Prof. Dr. Friedbert Pflüger, Direktor des European Centre for Energy der Justiz a. D. and Ressource Security Dr. Alfred Geisel, Vizepräsident des Landtages von Baden-Württemberg a. D. Prof. Dr. Ernst Piper, Historiker, Verleger Iris Gleicke, MdB, Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Dr. Melanie Piepenschneider, Leiterin Politische Bildung der Bundesländer Konrad-Adenauer-Stiftung Reinhard Grindel, Präsident des Deutschen Fußball-Bundes Ulrike Poppe, Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der Dr. Norbert Haase, Historiker, ehemaliger Geschäftsführer der Stif- kommunistischen Diktatur in Brandenburg tung Sächsische Gedenkstätten Prof. Dr. h.c. Klaus G. Saur, Verleger Christoph Heubner, Geschäftsführender Vizepräsident des Internatio- Dieter Schulte, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Gewerk- nalen Auschwitz Komitees (IAK) schaftsbundes Dr. Werner Jung, Direktor des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln Lala Süsskind, ehemalige Vorsitzende des Vorstandes der Jüdischen Prof. Dr. Alfons Kenkmann, Professor für Geschichtsdidaktik an der Gemeinde zu Berlin Universität Leipzig Lothar Tautz, Pädagoge und Pastor Birgit Kipfer, Sprecherin der Regionalen Arbeitsgruppe Baden-Würt- Linda Teuteberg, ehemaliges Mitglied des Landtags von Brandenburg temberg; Vorstandsvorsitzende der Stiftung „Lernort Demokratie – Dr. h.c. Josef Thesing, ehemaliger stellvertretender Generalsekretär Das DDR-Museum Pforzheim“ der Konrad-Adenauer-Stiftung Dr. h.c. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusge- Ernst-Jürgen Walberg, ehemaliger Kulturchef von NDR 1 Radio meinde München und Oberbayern, ehemalige Präsidentin des Zentral- Mecklenburg-Vorpommern rats der Juden in Deutschland Arnold Vaatz, MdB, Staatsminister a. D. Hannelore Kohl, Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts und Prof. Dr. Gert Weisskirchen des Landesverfassungsgerichtes in Mecklenburg-Vorpommern a.D. , MdB a. D.

Beirat Prof. Dr. Rita Süssmuth, Vorsitzende, Bundesministerin a. D., Dr. h.c. Friedrich Schorlemmer, Theologe und Bürgerrechtler Präsidentin des Deutschen Bundestags a. D. Walther Seinsch, Unternehmer, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des Prof. Dr. Hubert Burda, Verleger FC Augsburg Rainer Braam, Unternehmer Barbara Stamm, Präsidentin des Landtages von Bayern Dr. Thomas Goppel, Mitglied des Landtages von Bayern, Dr. Monika Wulf-Mathies, Gewerkschafterin, EU-Kommissarin a. D. Staatsminister a. D. Prof. Dr. Berthold Leibinger, Gesellschafter der Trumpf GmbH & Co. KG

Geschäftsführer Dr. Michael Parak

Ehemalige Vorsitzende Wolfgang Tiefensee, 2012 – 2014, Wirtschaftsminister in Thüringen Dr. h.c. Hans Koschnick, 2000 – 2003, Bürgermeister von Bremen a. D Dr. h.c. Joachim Gauck, 2003 – 2012, Bundespräsident Dr. Hans-Jochen Vogel, 1993 – 2000, Bundesminister a. D.

Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 93 / Juni 2017 47 Anzeige_216X303+3mm.indd 1 30.05.17 14:22