Deutschland

knapp unter der absoluten Mehrheit der Stimmen – und erreichen damit ein Er- PDS gebnis, das viele Wahlforscher voraussa- gen –, so könnte die Regierungsbildung vom Einzug der PDS in den Bundestag Das letzte Aufgebot abhängen. Schafft sie es, gingen dem kon- servativen Lager die womöglich entschei- Wie die nächste Regierung aussieht, hängt auch davon ab, ob die denden Sitze im Parlament verloren. Doch der erneute Sprung der PDS über Sozialisten in den Bundestag kommen. Doch deren Einzug die Fünfprozenthürde ist nach dem Rück- ist ungewiss: Selbst drei Direktmandate sind keineswegs sicher. tritt Gregor Gysis als Wirtschaftssenator in Berlin und dem Auftritt Schröders als gang in einem Wahlkreis wie seinem über oberstem Fluthelfer in Ostdeutschland un- den Einzug der PDS in den Bundestag ent- gewiss. Unerreichbar erscheint das Wahl- scheiden könnte – ja mehr noch, dass es ziel acht Prozent, in Umfragen rutschte die von ihm oder einer Genossin abhängen PDS jüngst gar von sechs auf vier Prozent. könnte, ob Gerhard Schröder Kanzler So hinge die Zukunft des Landes davon bleibt oder Edmund Stoiber es wird. ab, ob die Sozialisten mindestens drei Di- Das Schicksal der Republik in der Hand rektmandate erringen – dann gäbe es Plät- eines früheren SEW-Mannes oder einer ze im Parlament, auch wenn die Partei die Psychologin aus Rostock? Fünfprozenthürde reißt. Was nach Größenwahn der Genossen Die PDS hat diesen deutschen Son- klingt, ist Realismus pur. Irgendwann am derweg bereits genommen. 1994 kam sie späten Abend des 22. September, wenn die auf nur 4,4 Prozent; in vier Ost-Berli- Zweitstimmen der Bundestagswahl so gut ner Wahlkreisen konnte sie jedoch mit wie ausgezählt sind, könnten sich tatsäch- prominenten Kandidaten die Konkurrenz lich die Blicke der Wahlbeobachter von bezwingen: schaffte es, der den Größen der Bundespolitik abwenden. Schriftsteller , die frühere

MARCO-URBAN.DE Plötzlich stünden nicht mehr Schröder und DDR-Wirtschaftsministerin PDS-Frauen Brunner, Pau, Baba, Lötzsch* Stoiber im Rampenlicht – sondern No- und der Berliner Gewerkschaftsfunktionär „Preis der Erneuerung“ Names wie Neumann und Welters. Manfred Müller. Das Szenario für den Fall der Fälle ist Die Chancen für einen solchen Coup ie heißt Rosina Neumann. Sie ist Psy- längst in allen Parteizentralen durchge- sind diesmal aber schlechter als beim Ur- chologin und voller Zuversicht. Um- spielt: Bleiben etwa Union und FDP nur nengang 1998, als die PDS erneut in Ost- Sfragen interessieren sie nicht. Als ehe- malige Gleichstellungsbeauftragte der Uni- versität kann sich die Rostockerin, das Zwischen Hoffen und Bangen PDS-Kandidaten bei der Bundestagswahl glaubt sie zumindest, gut in die Menschen PDS-Direktmandat Erststimmen- 33,5 % Rostock Berlin- im Bundestagswahlkreis 14 hineinverset- 2002 ergebnis von PDS- Rosina Neumann Lichtenberg-- zen, den sie der SPD abjagen will. „Die sehr wahrscheinlich Kandidaten im Hohenschön- Leute wollen hier ein neues Gesicht“, do- möglich Wahlkreis 1998 hausen Gesine Lötzsch ziert PDS-Kandidatin Neumann, 46, selbst- angestrebt MECKLENBURG- bewusst, „und Edmund Stoiber in Berlin Wahlkreis* VORPOMMERN verhindern.“ Und für beides könne sie Berlin-Pankow 32,7 % garantieren. Kandidat 2002

So siegessicher ist Rosina Neumann, dass Sandra Brunner PDS sie fast („Man kann sich ja auch anders be- kannt machen“) auf Wahlwerbung ver- 42,5 % zichtet hätte, um den Etat für einen guten BERLIN Zweck zu spenden. Wahlkampf? So gut 46,7 % Berlin- wie gewonnen, winkt sie ab. „Wo ist das Marzahn- Problem?“ Hellersorf BRANDENBURG Drei Autostunden weiter südlich, im PDS SACHSEN- Berliner Wahlkreis Treptow-Köpenick, las- *gegenüber der Bundes- ANHALT tagswahl 1998 teilweise tet die Hoffnung der PDS auf den Schul- veränderte Wahlkreise tern des vollbärtigen Konfektmachers Ernst Welters, 58. Der Mann, einst bei Sarotti beschäftigt und später Personalratschef der Freien Universität, hat eine eigentümliche THÜRINGEN SACHSEN Parteikarriere hinter sich: erst SPD, dann Sozialistische Einheitspartei Westberlin 28,8 % (SEW), jetzt PDS. Sich selbst hält er für Potsdam- 24,2 % 25,6 % 25,5 % 34,8 % „kantig und bodenständig“. Parteiarbeit Mittelmark II – Gera-Saale- Berlin-Treptow- Teltow-Fläming II Halle Holzland-Kreis Leipzig II Köpenick ist er gewohnt. Aber diesmal sei doch alles Rolf Kutzmutz Ruth Fuchs Gustav-Adolf Schur Ernst Welters etwas anders, gesteht er. Da habe er „den Gedanken im Hinterkopf“, dass der Aus-

* Beim „Frauenpolitischen Stadtspaziergang“ am ver- gangenen Dienstag in Berlin.

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Berlin vier Kandidaten durchbrachte. Denn mehr so leicht Erfolg haben. Gysis Rückzug eine Verkleinerung des Bundestages führ- empfinden hier viele zudem als Verrat. Die te zum Neuzuschnitt der Wahlkreise – was Affäre habe „Erschütterungen ausgelöst“, oft zu Lasten der PDS gehen könnte. gesteht Pau, die im einstigen Wahlkreis des In der einstigen „Hauptstadt der Deut- PDS-Stars antritt. Die Folgen sind schon schen Demokratischen Republik“ wurde ablesbar: Wollten im Juli noch 13 Prozent die PDS-Vorherrschaft jedenfalls so gebro- der Hauptstädter die PDS wählen, sind es chen. Der Ost-Berliner – und von der PDS laut Forsa jetzt nur noch 8. dominierte – Stadtteil Friedrichshain wählt Die drei übrigen Ost-Berliner Wahl- nun gemeinsam mit dem West-Stadtteil kreise stehen für die PDS auf der Kippe – Kreuzberg. Auch Mitte-Prenzlauer Berg, allein schon wegen des Neuzuschnitts. wo sogar der SPD-Vize und Ober-Ossi Müsste sie nur die Wähler in Friedrichs- zweimal PDS-Kandida- hain von sich überzeugen, würde die ten unterlag, wurde zu Lasten der PDS neu PDS-Kandidatin Bärbel Grygier gegen zugeschnitten. Hans-Christian Ströbele (Grüne) die Nase Wahlforscher halten die PDS nur noch in sicher vorn haben. Doch im vereinten Ost- zwei Berliner Wahlkreisen für fast un- West-Bezirk sehen ihre Chancen eher schlagbar, in sechs weiteren im Osten schlecht aus. könnte ihr ein Überraschungssieg gelingen; Die Neuregelung der Wahlkreise könn- dazu gehören Wahlkreise wie Potsdam, te allerdings Roland Claus helfen: Vor Halle oder Rostock (siehe Grafik Seite 46). vier Jahren erhielt er in Halle nur halb so Mit 200000 Euro zusätzlich, groß- flächigen Plakaten und Anzeigen stützt die PDS-Zentrale insgesamt sieben Direktkandidaten. Doch alles Geld der Welt könn- te nicht das Hauptproblem aus- gleichen, das sich die Sozialis- ten selbst eingebrockt haben: Im Glauben, die Fünfprozenthürde souverän zu überspringen, nomi- nierten die Genossen vielerorts das letzte Aufgebot: oft unbe- kannte und unprofilierte Kader.

So wirkten die Berliner Kan- PRISKE / SPOT MARKO didatinnen Evrim Baba, Gesine Wahlkämpfer Gysi: Blick aufs Personal verstellen Lötzsch, Sandra Brunner und Petra Pau nicht gerade wie die Vorhut, viele Erststimmen wie die SPD-Bundes- sondern eher wie die Nachhut der Arbei- tagsabgeordnete Christel Riemann-Hane- terklasse, als sie vergangene Woche vor winckel. Doch inzwischen ist dem Wahl- dem Roten Rathaus auf den hauptstädti- kreis die Plattenbausiedlung Halle-Neu- schen Pressetross warteten – vergebens. stadt („Hanoi“) zugeschlagen worden – Auch als die Turmuhr auf zehn rückte – und damit die dortige PDS-Klientel. Wahl- geplanter Abmarsch für den „Frauenpoli- forscher prognostizieren diesmal ein knap- tischen Stadtspaziergang“ – waren die pes Rennen. Genossinnen noch fast unter sich. Von Für die PDS unkalkulierbar sei, glaubt den Einheimischen so wenig beachtet wie Infratest-dimap-Chef Richard Hilmer, wie von der Presse, spazierten sie dennoch die Wähler „aus taktischen Gründen Erst- tapfer zum Reichstag. „Das ist eben der und Zweitstimme verteilen“. Bei der Ab- Preis“, so der Chef der PDS-Bundestags- wahl Helmut Kohls 1998 hätten viele Ost- fraktion Roland Claus, den man zahlen deutsche bewusst mit der Zweitstimme für müsse, „wenn man sich um die Erneue- den Wechsel votiert und SPD gewählt, mit rung bemüht“. der Erststimme jedoch einen PDS-Kandi- Selbst in den Hochburgen und sicheren daten durchgebracht. Das setze allerdings, Wahlkreisen Marzahn-Hellersdorf und so Hilmer, attraktive Kandidaten voraus. Lichtenberg-Hohenschönhausen würden Die seien jetzt aber im Vergleich zu früher sich „die astronomischen Ergebnisse“ der eher „etwas schwächlich“. Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus Helfen soll ausgerechnet der Mann, der im Oktober vergangenen Jahres „garan- seiner Partei die Umfragedelle bescherte. tiert nicht annähernd wiederholen“, meint Wieder einmal soll Medienprofi Gysi den der Chef des Privatinstituts für Ange- Blick der Wähler auf das blasse Personal wandte Demografie, Harald Michel. Da- verstellen, 40 Wahlkampftermine hat er mals – mit Gysi an der Spitze – wählten zugesagt. Und für den Fall, dass er in einer 47,6 Prozent der Ost-Berliner PDS. der Talkshows gefragt werde, wie er ohne Hinzu kommt: In Berliner Neubausied- jedes Amt in die Sendung komme, hat er lungen verändert sich die Sozialstruktur auch schon eine Pointe parat: „Da können inzwischen zu Ungunsten der Partei. Sie mal sehen, was ein einfaches Mitglied „Wenn die Einkommen steigen“, so Mi- bei uns darf.“ Stefan Berg, Irina Repke, chels „Faustregel“, könne die PDS nicht Caroline Schmidt

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