FORUM Emil-Possehl-Schule

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Vorwort 1

Veranstaltungsreihe FORUM Emil-Possehl-Schule „Wertewandel in der Gesellschaft...?!“ 2

Danksagungen 4

Referentinnen und Referenten 5

Karl Ludwig Kohlwage 6

Winfried Tabarelli 8

Ignaz Bubis 10

Angelika Beer 12

Prof. Dr. Hans-Heinrich Driftmann 14

Wolfgang Thierse 16

Dr. Ralf Stegner in Vertretung für Ute Erdsiek-Rave 18

Charlotte Kerner 20

Prof. Dietrich von Engelhardt 22

Barbara Lochbihler 24

Bernd Saxe 26

Peter Harry Carstensen 28

Murat Kayman 30

Dr. Hilmar Götz, Kerstin Behrendt, Torsten Lengsfeld 32

Max Schön 34

Michael Sommer 36

VORWORT

Die Emil-Possehl-Schule Lübeck steht in der Tradition der ersten durch die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit 1795 in Lübeck als Zeichenschule gegründeten Gewerbeschule.

Nach den Phasen der Dienststellenteilung im gewerblichen Bereich 1966 in die Gewerbeschulen I und II und 1983 in die Gewerbeschulen I und III erfolgte als Konsequenz aus dem Schulentwicklungsplan der Hansestadt Lübeck von 1996 eine grundlegende Neustrukturierung der Lübecker Berufsschulen.

Die Berufsschule für „Gesundheit, Textil, Sozialwirtschaft“ in der Fischstraße und die „Dorothea-Schlözer-Schule“ sind am Standort Jerusalemsberg mit den entsprechenden Neubauplanungen zu einem Schulzentrum verschmolzen. Die Zusammenlegung der Gewerbeschulen I und III zur Emil-Possehl-Schule erfolgte im August 2005. Geplant ist, mit entsprechenden Erweiterungsbauten, die Bildung eines neuen, leistungsfähigen Technikstandortes an der Georg- Kerschensteiner-Straße 27, dem Standort der Emil-Possehl-Schule und der Friedrich-List-Schule. Die Schulleitung der Emil-Possehl-Schule hat zusammen mit der Schulleitung der Friedrich-List-Schule eine Kooperationsvereinbarung und eine Organisations- satzung für die gemeinsame Arbeit in einem kooperativen Schulzentrum für Technik und Wirtschaft an der Georg-Kerschensteiner-Straße beschlossen. Hier soll den Intentionen des Schulentwicklungsplanes, durch die Vernetzung kaufmännischer und technischer Ausbildung optimale Schulstrukturen anzustreben, Rechnung getragen werden.

Für unsere neue Schule haben wir einen Namen gesucht, . der eng und positiv mit der Lübecker Geschichte verbunden ist, . der für technische Innovation und wirtschaftliche Entwicklung steht, . der deutlich für gesellschaftliche Verantwortung im Interesse der Bürger der Hansestadt Lübeck steht, . der für verantwortliches Handeln im Interesse der Lübecker Entwicklung steht, . der für sozial verantwortliches Handeln und für die Förderung der Lübecker Wirtschaft steht, . der für die Ausbildung der Lübecker Jugend steht.

Die Persönlichkeit „Emil Possehl“ steht nach unserer Überzeugung für diese Ziele. Wir danken dem Vorstand der Possehl-Stiftung für seine Bereitschaft, der Namensgebung EMIL-POSSEHL-SCHULE.

Dietmar Fröhlich, Schulleiter

1 Veranstaltungsreihe FORUM Emil-Possehl-Schule „Wertewandel in der Gesellschaft …?!“

Sind wir Deutschen auf der Suche nach einer neuen öffentlichen Moral, nach neuen Werten, die eine bessere Welt verheißen? Oder ändern sich nur die Be- griffe, die Redensarten und die Ausdrucksmöglichkeiten unserer Sprache?

Das Seltsame ist: Worte wie Würde, Werte oder Moral gehören heute wohl zu den altmodischen Begriffen, sie gehören nicht mehr so richtig zu unserem Wort- schatz. Dabei verwenden wir sie gerade in einer pädagogischen Einrichtung fast täglich: Leistungsbewertung, Wertschätzung, wert- und würdevoll, moralische Werte, moralisches Leben und selbst im Grundgesetz wird die "Würde des Menschen" als höchster Wert bezeichnet – und das ist gut so. Handelt es sich bei diesem Phänomen möglicherweise nur um einen Wandel der uns vertrauten Begriffe oder gelten uns Grundwerte und Tugenden heute tatsächlich weniger als früher? Birgt dieser Wandel die Gefahr des schleichenden Ruins, ja Verfalls des friedlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens in unserer Ge- sellschaft?

Unsere europäische und deutsche Zivilisation ist eine bewundernswerte kulturel- le Leistung. In vielen Jahrhunderten mit umfassenden Umwälzungen, schreck- lichen Kriegen und Katastrophen wurden trotz allem gemeinsame Werte und Tugenden erschaffen. Wir schufen die Demokratie und den Sozialstaat und leben bisher sicher und behütet mit diesen Errungenschaften.

Gleichwohl breiteten sich in den letzten Jahren und besonders in den letzten Ge- nerationen Unsicherheit und Zukunftsängste aus, das Selbstvertrauen in unser gewachsenes Gesellschaftsgefüge ist gesunken, die bisher gültigen Bestimm- ungen sind uns nicht mehr sicher. Kurzen freudigen Ereignissen folgt auf dem Fuße eine Verunsicherung über die gesellschaftliche, wirtschaftliche, globale und politische Gesamtorganisation. Die Tagespolitik ist so vielschichtig, unüber- sichtlich und schnelllebig geworden, dass wir auf dem Weg sind, den Gesamt- überblick zu verlieren. Dazu kommen häufig gehörte Prophezeiungen, denen leider keine positiven, zukunftsorientierten Visionen gegenüber gestellt werden.

So befällt die Menschen langsam aber stetig ein Ohnmachtgefühl, bis popu- listische Bücher wie "Der Ehrliche ist der Dumme" dieses Gefühl in der Gesell- schaft zum Ausdruck bringen und damit ganz legal über Werte- und Moral- verfall sowie Abbau der Menschenwürde diskutiert wird, als ob dieses eine Selbstverständlichkeit wäre.

2 Alles Lebendige sucht ewig nach besseren Lebensbedingungen, ist immer aktiv und macht daher logischerweise Fehler. Man versucht zumindest durch stetige Neubewertung eine Verschlechterung der Zustände zu vermeiden. Den Fehlern folgen neue Probierbewegungen und weitere Lösungsversuche. Unsere Methode ist die Fehlerkorrektur, mit ihr kommt Fluss in das Gemeinwesen.

Freilich bedarf diese frei gestaltende Methode, aus Versuch und Irrtum das Beste zu gewinnen, gewisser gemeinsamer und unverrückbarer Richtlinien, an die sich die Menschen halten und an denen sie sich ausrichten sollten. Die Menschen streben nach diesen gemeinsamen Normen, sie haben Sehnsucht nach festen Werten, nach einer gemeingültigen Moral und nach menschenwürdigem Dasein. Jedermann weiß um diese Normen und doch ist es so schwer, sich danach auszurichten und danach zu leben.

Das Kollegium der Emil-Possehl-Schule Lübeck hat sich dieses Themas angenommen. In der Veranstaltungsreihe

FORUM Emil-Possehl-Schule mit der Thematik

„Wertewandel in der Gesellschaft …?!“ haben wir uns der Aufgabe gestellt, mit Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und der Öffentlichkeit unsere pädagogische Verantwortung – neben Curriculum und Unterricht – wahrzunehmen und die Schule als öffent- liche Einrichtung in die Verantwortung zu nehmen. Wir diskutieren mit allen Beteiligten über diese Thematik, um so unserer moralischen Pflicht gegenüber der Gesellschaft, dem Staat, dem öffentlichen Wohl und unseren europäischen Nachbarn gerecht zu werden.

Als Referentinnen und Referenten werden Persönlichkeiten aus Kirche, Kultur, Politik, Exekutive, Verbänden, Gewerkschaften, Jurisdiktion, Wissenschaft und Medien eingeladen. Wir möchten mit diesem Spektrum breite Gesellschafts- schichten und deren Repräsentanten zu Wort kommen lassen, um einen Einblick in deren Denkweisen und Einschätzungen zu erlangen.

Wir müssen uns aufraffen! Das 21. Jahrhundert wird uns ungewöhnliche Auf- gaben stellen. Wir alle tragen hierfür unsere und allgemeine Verantwortung. Dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist die Absicht des FORUMs an der Emil-Possehl-Schule in Lübeck.

StD a. D. Bodo Friese Lübeck, im Dezember 2003 3 D A N K S A G U N G E N

Wir danken allen Referentinnen und Referenten sehr herzlich, die z. T. weite Wege auf sich nahmen, um an unserer Schule Ihre Ansichten zum Thema „Wertewandel in der Gesellschaft...?!“ darzulegen und mit jungen Menschen zu diskutieren.

Außerdem danke ich

Herrn Oberstudiendirektor a. D. Karl-Heinz Meyer, dem damaligen Schulleiter, der die Veranstaltungsreihe Forum EPS (ehemals Forum G III) an der Gewerbeschule III befürwortete, förderte und aktiv unterstützte,

Herrn Studiendirektor Bernd Urbszat, dem stellvertretenden Schulleiter, für die perfekte technische und stundenplanerische Organisation,

Herrn Studiendirektor a. D. Bodo Friese, der sich als ehemaliger Öffentlich- keitsbeauftragter der Gewerbeschule III und ideenreicher Schöpfer des FORUMss EPS bis zum Jahre 2009 mit unermüdlicher Begeisterung für dieses Projekt einsetzte,

Frau Oberstudienrätin Dagmar Ströder, Herrn Oberstudienrat Holger Gründling (bis zum Jahr 2009) und Frau Studienrätin Julia Salenz für die tatkräftige Unterstützung als Moderatoren und beim Redigieren der Broschüre,

Frau Oberstudienrätin Inke Lucht, die sich gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern aus wechselnden Floristinnenklassen um die florale Ausgestaltung unseres Veranstaltungsraumes kümmert, allen Kolleginnen und Kollegen für die intensive Vor- und Nachbereitung ihrer Schülerinnen und Schüler zum Besuch der einzelnen Veranstaltungen,

Herrn Uwe Reinhart, Hausmeisterei, für die technische Hilfe in allen Problem- lagen bis zum Jahre 2008 und seinem Nachfolger Herrn Jürgen Plitt.

Dietmar Fröhlich - Schulleiter -

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Referentinnen und Referenten

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KARL LUDWIG KOHLWAGE Bischof em

Karl Ludwig Kohlwage, geboren 1933 in Salzgitter-Salder, in Lübeck aufge- wachsen. Nach dem Abitur am Katharineum Theologiestudium in Hamburg, Heidelberg und Chicago. Vikar in einer deutschstämmigen Gemeinde in Kan- sas, danach in Lübeck. 10 Jahre Pastor in Flensburg, 20 Jahre Probst im Kir- chenkreis Stormarn, 1991-2001 Bischof für Holstein-Lübeck in der Nord- elbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche und Vorsitzender der Kirchen- leitung. Vorsitzender des Diakonischen Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Mitglied im Rundfunkrat und im Vorstand der Hamburgischen Anstalt für Neue Medien, Mitglied der Zuwanderungskommission der Bundes- regierung.

6 POSITIVE SIGNALE AN DIE JUGEND GEBEN

Bischof Karl Ludwig Kohlwage

Vor 260 Schülerinnen und Schülern begann Bischof Kohlwage seine Ausfüh- rungen mit einem Geständnis über seine persönlichen Eindrücke zum Problem Werteverfall.

Begann der katastrophale Werteverlust während der Nazi-Diktatur, wo mit den Begriffen Werte, Moral, Treue, Pflichtbewusstsein und Tapferkeit Schindluder getrieben wurde? Geht mit der gesellschaftlichen Entwicklung immer eine Wer- tediskussion einher? Wie reagiert die Gesellschaft, was ist erlaubt, was verboten, welche Handlungen sind aus moralischen und kirchlichen Beweggründen nicht angezeigt? Zu all diesen Fragestellungen gibt es im menschlichen Zusammenleben keine klare, eindeutige Meinung. Auch die Kirche kann diese Orientierungsdefizite nicht ausgleichen. Trotzdem müssen aus seiner Sicht Grundwerte, wie die Bewahrung der Schöpfung, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Umweltbewahrung, Verantwortung, Menschenwürde, Solidarität, Glaube und andere moralische Ansprüche, im menschlichen Zusammenleben zentrale Bedeutung behalten.

Aber gerade hier zeigt das tägliche politische Geschäft widersprüchliche Aussagen: Der Asylanspruch wurde aufgeweicht, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Kriege und Terror schüren ebenfalls Ängste. Die zunehmend menschener- setzende Technisierung führt zu Orientierungslosigkeit, Gentechnik und Ver- wahrlosung gegenüber der Natur erschweren eine positive Zukunftsmeinung.

Herr Kohlwage betonte dann insbesondere die Rolle der Kirchen und hob deren Leistungen bei der Werteerhaltung hervor. Er betonte aber gleichzeitig, dass die Kirchen nicht alle Probleme und Aufgaben zur Bewältigung dieser Missstände beeinflussen und beheben könnten. Sie bemühten sich redlich und auf vielen Feldern, z. B. mit dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt.

An die älteren Menschen und besonders an die Lehrerinnen und Lehrer appellierte er: "Ihr habt die Verpflichtung zu verhindern, dass den Jugendlichen signalisiert wird: 'Ihr seid überflüssig' ". Insbesondere die älteren Menschen seien die Wertegeber und nur durch glaubhaftes, ehrliches und überzeugendes Vorleben erkenne die Jugend den Sinn der Werte, der Würde und der mora- lischen Grundsätze.

Lübeck, 10. Februar 1998

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WINFRED TABARELLI Leiter der Polizeidirektion Schleswig-Holstein Süd

Geburtsjahrgang 1940. 1962 Abitur und Eintritt in die Landespolizei Schles- wig-Holstein. Ausbildung für die gehobene Laufbahn der Kriminalpolizei. 1966 Kriminalkommissar und Verwendung in mehreren Funktionen und Dienst- stellen als Kommissariatsleiter, u. a. als Leiter der Mordkommission . 1973-1975 Studium an der Polizei-Führungsakademie i. Münster/W. für die Laufbahn des Höheren Dienstes der Kriminalpolizei. 1975 Kriminalrat und Verwendung als Dienststellenleiter. Nebenamtlich Dozent für Kriminalistik und Kriminologie an der Verwaltungsfachschule Altenholz. 1980 Kriminaldirektor und Leiter einer Abteilung für nationale und internationale Ver- brechensbekämpfung mit den Schwerpunkten Jugend- und Schwerstkrimi- nalität, Organisierte Kriminalität und Drogenbekämpfung. Leiter einer Arbeits- gruppe im nordeuropäischen Raum zur Bekämpfung des Drogenhandels. 1987- 2000 Leiter der Kriminalpolizeibehörde und der Polizeidirektion Schleswig- Holstein Süd mit nachgeordneten Stellen in Lübeck, Ostholstein, Stormarn und Herzogtum Lauenburg. Ab 2000 im Ruhestand.

Weitere berufliche Schwerpunkte waren u. a. die Gewaltprävention im Bereich der Jugendkriminalität, die Zerschlagung von Rauschgiftkartellen auf nationaler und internationaler Ebene, die polizeiliche Bekämpfung der rechtsextremen Gewalt von Jugendlichen und die gesellschaftliche Aufklärung über deren Ur- sachen und Wurzeln. Mehrmonatige Studienaufenthalte bei Polizeistellen in England und Kalifornien. Im Ruhestand Berater der EU in den drei baltischen Staaten im Bereich der Rauschmittelbekämpfung.

8 Erziehungspflichten ernster nehmen

Winfred Tabarelli

Mit drei erschreckenden Verfallssignalen von Wertemaßstäben bezog der Po- lizist zu Beginn seiner Ausführungen Position: "Großmutter halb tot getreten", "17-jähriger schießt auf 15-jährigen Jungen", "Pflegeeltern geben Kind jahre- lang nicht genug zu essen". Drei alltägliche Polizeivorfälle. Und Herr Tabarelli wagte eine harte These: Schuld an diesem Verfall seien die Eltern. Sie nähmen als Erwachsene ihren Erziehungsauftrag und die Anleitung der ihnen anvertrauten Kinder, Werte, Moral, Recht und Gesetz zu beachten, nicht mehr ernst genug. Auch die Fallzahlen für die Gewalttaten an Schulen und das Mitbringen von Waffen aller Art in den Unterricht sei alarmierend. Von früh auf bekämen Kinder in der Gesellschaft das "Gesetz des Stärkeren", das "Recht der Straße" zu spüren. Als Idole würden diejenigen angesehen, welche im Fernsehen oder Kino Probleme mit dem Finger am Abzugshahn einer Maschinenpistole lösten. Und schließlich verinnerlichten sie diese Verhaltensweisen, sie kämen, wie sie meinen, ja auch gut damit zurecht. Bis die Polizei einschreitet! Herr Tabarelli zählt fünf Gründe für dieses Phänomen auf. Erstens sei unsere Gesellschaft im Umbruch von einer Solidargemeinschaft in eine individua- listische Gesellschaft, die den Hang zum Egoismus ohne Rücksicht auf andere und ohne moralische Bedenken auslebe. Zweitens sieht er, auch aus obigem Grund, eine Auflösungserscheinung der Gemeinschaften insbesondere in den Städten. Hierdurch würden die allgemeinen Regulierungsmechanismen im Zusammenleben der Menschen ausgehöhlt. Konflikte würden in einer Gemeinschaft nicht mehr verbal ausgetragen, sondern teilweise brutal erledigt. Drittens stelle auch die Politik nicht die richtigen Weichen. Es werde zu viel an den Kindern und der Jugend gespart. Jugendbegegnungsstätten, Schwimmbäder würden geschlossen, Sozialarbeiter und Jugendbetreuer eingespart. Eine Tendenz, die nicht nur die Zukunft unserer Kinder, sondern unser aller Zukunft beeinträchtigt. Eine Umkehr sei hier dringend nötig. Viertens sieht er in der Praxis der Strafverfolgung eine Aufweichung der Rechtsmittel. Eine Bestrafung, gerade der jungen Delinquenten, käme viel zu spät, sie müsste in ummittelbarer Zeitfolge nach einer Straftat greifen. Die bisherige Art der Strafverfolgung vermittle den Täterinnen und den Tätern das Gefühl: "Es passiert ja doch nichts, also kann ich unbehelligt weitermachen." Letztendlich begründet er mit der Auslegung der Kriminalstatistik, dass auch in Lübeck die Straftaten rückgängig seien, dafür aber die Täter immer jünger und brutaler würden. Sein fünftes Argument: Eltern und Schule müssten ihrer Erziehungspflicht ernsthafter nachkommen. Es werde viel getan, aber eben nicht genug. Die Polizei sei bereit, auch auf diesem Gebiet ihrer Pflicht nachzukommen.

Lübeck, 24. November 1998

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IGNATZ BUBIS ┼ Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland

Ignatz Bubis, mosaisch, geboren 1927 in Breslau. 1935 Umzug ins polnische Deblin wegen zunehmenden Naziterrors. Zwei Jahre Volksschulbesuch in Breslau, vier in Deblin. Überlebender des Ghettos in Deblin und des Arbeitslagers in Tschenstochau. Befreiung im Januar 1945. Nach Kriegsende Rückkehr nach Deutschland mit Aufenthalten in Berlin, Dresden, Stuttgart, Pforzheim und letztendlich Frankfurt a. Main, wo er im Schmuck- und Edelmetallhandel sowie in der Immobilienbranche als Unternehmer tätig war. Anfang 1980 Übernahme von Spitzenpositionen in jüdischen Verbänden, von 1983 bis zu seinem Tode Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Seit 1982 im Direktorium des Zentralrates der Juden in Deutschland, 1989 Stellvertretender Vorsitzender, 1992 Vorsitzender und 1997 Präsident. 1998 Präsident des European Jewisch Congress. Auszeichnungen u. a.: Hessischer Verdienstorden, Bundesverdienstkreuz 1. Klas- se und Großes Bundesverdienstkreuz, Wilhelm-Leuschner-Medaille, Erich- Kästner-Preis, Moses-Mendelssohn-Medaille, Theodor-Heuss-Preis, Goldstein- Preis, Hedwig-Burgheim-Medaille und Ricarda-Huch-Preis. Mitgliedschaften/Ämter u. a.: Rundfunkratsvorsitzender des HR, Vorsitzender des Kuratoriums der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, Mitglied im Senat der Deutschen Nationalstiftung, Vice President der „Conference on jewish material claims against “.

Ignatz Bubis starb am 13. August 1999 im Alter von 72 Jahren in Frankfurt a. M.

10 GEGEN VORURTEILE UND VERGESSEN

Ignatz Bubis

Nach kurzer persönlicher Vorstellung und Fragen nach dem Informationsstand der jugendlichen Zuhörerinnen und Zuhörer begann Herr Bubis sein Referat über die Entwicklung des Zusammenlebens der deutschen Juden und Christen. In wenigen Sätzen fasste er viele Jahrhunderte zusammen und konzentrierte sich dann auf die nationalsozialistische Zeit mit ihren ersten schrecklichen Einschränkungen und Demütigungen der Juden im gesellschaftlichen Leben. Dabei zog er geschickt Parallelen zum Leben der Jugendlichen in der jetzigen Zeit, so dass sich ein besseres Verständnis für die Denkweise und das Vorgehen der Menschen in der damaligen Zeit herstellen ließ. Die Lage der jüdischen Bevölkerung verschlechterte sich damals zunehmend, große Teile der übrigen Bevölkerung konnten ihre Vorurteile und ihr Misstrauen gegenüber den Juden ausleben und so eskalierte dieser Judenhass in millionenfachem Tod und Verderben. Der Holocaust, im Volk der Dichter und Denker geschehen, beeinflusst bis zur heutigen Zeit die Denkweisen und auch die Geschichte der Deutschen und der Juden. Trotz dieser bitteren Erkenntnis wäre eine Schuldzuweisung an den einzelnen Menschen und hier insbesondere an die heu- tige Jugend total abwegig, was aber den Wahnsinn der Schuldigen an Auschwitz, Treblinka u. a. Konzentrationslagern nicht schmälert. Zu einfache, allgemeine Schuldzuweisungen würden nur die heute wieder aufkeimenden Vorurteile und den Antisemitismus beflügeln. Statt ihrer müsse ein Eingestehen der Wahrheit, die Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Bemühungen um Vergessen und somit die Anerkennung der schrecklichen Geschehnisse in der Vergangenheit im Deutschland der Nachkriegszeit eintreten. Hier hätten die älteren Menschen ihre Verantwortung zu tragen und so zu praktizieren, dass sie den nachwachsenden Generationen nicht vergiftende Vorurteile, Rassenhass und Judenfeindlichkeit, sondern Integrationsbereitschaft, Aussöhnung, ernstgemeinte Wiedergutmachung und das Nichtvergessen vermitteln. Die Schulen hätten hier eine besonders schwere Aufgabe zu erledigen, denn trotz aller pädagogischen Bemühungen um Bewältigung der Vergangenheit sei das Wertebewusstsein vieler junger Menschen wieder so weit gesunken, dass Synagogen angesteckt, jüdische Friedhöfe geschändet und judenfreie Zonen eingerichtet würden sowie allgemeiner Fremdenhass gepredigt werde. Damit würden die Geister der Vergangenheit, der Unmenschlichkeit beschworen. Die Jugend heute habe an den damaligen Verfehlungen keine direkte Kollektivschuld, sie sollte sich diese auch nicht einreden lassen, sondern mit Zuversicht der Zukunft entgegensehen, ohne die Vergangenheit zu vergessen, gar zu leugnen. Eine gefestigte demokratische, antirassistische Überzeugung sei ein guter Schild gegen rechts- radikalen, neofaschistischen Werteverfall.

Lübeck, 26. März 1999 11

Angelika Beer Mitglied des Europäischen Parlamentes

Angelika Beer, geboren 1957 in Lütjenburg. Nach Beendigung der allge- meinbildenden Schule erlernte sie den Beruf der Arzthelferin, danach machte sie eine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarsgehilfin.

Frau Beer war Gründungsmitglied der Partei "Die GRÜNEN", Mitglied ver- schiedener Bürgerinitiativen, u. a. der Anti-AKW-Bewegung und Koordinatorin der Internationalen Kampagne zur Ächtung von Landminen, medico inter- national und Referentin für Menschenrechtsfragen.

Von 1987 bis 1990 und von 1994 bis 2002 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Grünen. Ihre politischen Schwerpunkte waren dort die Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Menschenrechte.

Von 1991 bis 1994 war sie Mitglied des Bundesvorstandes von BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN und von 2002 bis 2004 Bundesvorsitzende ihrer Partei. Seit 2004 ist sie Mitglied des Europaparlamentes. Sie ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und des Untersuchungsausschusses für Sicherheit und Verteidigung.

12 Grausamkeiten nicht tatenlos zusehen

Angelika Beer

Die Grünen-Spitzenpolitikerin begann ihren Vortrag mit einem Erlebnisbericht über humanitäre Aktionen in Krisengebieten in Bosnien und im Kosovo. "Einen Krieg, wie er im Kosovo gelaufen ist, würde ich nicht noch einmal verantworten", fasste sie ihre Erfahrungen zusammen und stellte im Anschluss sogleich die Frage, ob Militäreinsätze in Krisengebieten mit dem Wertesystem demokratischer Staaten zu vereinbaren und ob Maßnahmen, wie auf dem Balkan, wirklich als friedensfördernd einzustufen seien. Sie habe miterlebt, wenn sich Menschen gegenseitig umbringen, aus Angst nur noch in Bunkern nächtigten oder abgeschnittene Gebiete nur noch durch unterirdische Tunnel mit Lebensmitteln versorgt werden konnten, da es über Tage zu gefährlich für Leib und Leben gewesen sei.

Trotz dieser schrecklichen Erfahrungen sei der Militäreinsatz im Kosovo ihres Erachtens zur damaligen Zeit der richtige Entschluss gewesen, doch im gleichen Atemzug äußerte sie moralische und völkerrechtliche Bedenken. Diese Zwie- spältigkeit führe zu heftigen Diskussionen in der Gesellschaft und besonders in der Politik, die diese Aktionen letztendlich zu verantworten habe. Weiterhin geht es um auftretende kriegerische Auseinandersetzungen und mögliche Militäreinsätze unter dem Mandat der Vereinten Nationen. „Werden hier die Wertevorstellungen gerade der Grünen ausgehebelt? Oder sind Unterdrückung, Unfreiheit, Elend und Not der betroffenen Menschen höher zu bewerten?“ Eine Entscheidung für mögliche Einsatzbefehle bleibe in jedem Falle eine ernste Gewissensfrage und immer problematisch. Sicher sei jedoch, dass auch in Zukunft ethnischen Säuberungen, wie im Kosovo geschehen, nicht tatenlos zugesehen werden dürfe.

Die Diskussion, wie man Kriege verhindern kann, wenn die militärische Ab- schreckung und die politischen Präventionsmaßnahmen nicht mehr greifen, müsse ernsthaft auf allen Ebenen weiter geführt werden. Notwendig sei auch, die verteidigungspolitischen Definitionen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Militärs in der Bundesrepublik nach diesen jüngsten Erfahrungen neu und so zu gestalten, dass die demokratischen und freiheitlichen Grundwerte nicht angetastet würden.

Lübeck, 23. September 1999

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PROF. DR. HANS HEINRICH DRIFTMANN Unternehmer Präsident UV Nord - Vereinigung der Unternehmensverbände in HH u. SH

Prof. Dr. Hans Heinrich Driftmann, geb. 1948 in Bückeburg. Studium der Wirt- schafts- und Sozialwissenschaften mit Promotion in Psychologie. Danach Refe- rent im Bundesministerium der Verteidigung, Lehrauftrag für internationale Po- litik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn, Dozent für Betriebs- und Organisationswissenschaften an der Führungsakademie der Bun- deswehr in Hamburg, Lehrbeauftragter für Wirtschaftspsychologie an der Chri- stian-Albrechts-Universität (CAU) Kiel, Sprecher der Geschäftsleitung der Peter Kölln KGaA Elmshorn.

Jetzige Tätigkeit: Persönlich haftender und geschäftsführender Gesellschafter der Firma Peter Kölln KGaA, Geschäftsführer der Firmen Ernsthermann Kölln Industrie- und Verwaltungs-GmbH, King Nährmittel GmbH, Frachtkontor E. Kölln GmbH, Mercator Gastronomie GmbH, alle Elmshorn. Honorarkonsul der Republik Venezuela, Honorarprofessor für Betriebswirtschaftslehre a. d. CAU.

Außerdem: Präsident der IHK zu Kiel; Vorsitzender der Studien- und Förderge- sellschaft der Schleswig-Holsteinischen Wirtschaft e. V., des Hochschulbeirates der CAU zu Kiel, des Kuratoriums Stiftung zur Förderung des Sports in SH, der Gesellschaft für Betriebswirtschaft zu Kiel e. V.; Stv. Vorsitzender des Auf- sichtsrates der Wirtschaftsakademie S.-H.; Mitglied im Präsidium der Bundes- vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, im Beirat bei der Deutschen Bundesbank, Hbg., im Aufsichtsrat der HSH Nordbank AG, des Beirats der Commerzbank AG, des Beraterkreis der Deutschen Industriebank (IKB), des Unternehmerbeirates der DZ-Bank, des Vorstandes der Hermann-Ehlers- Stiftung. Ehrenbürger der CAU Kiel, Oberst der Reserve der Bundeswehr. 14 Werteverfall aus Sicht der Arbeitgeber im Gesamtwirtschaftssystem

Prof. Dr. Hans Heinrich Driftmann

Vor vollem Forum würdigte Herr Prof. Dr. Driftmann die Leistung der Wirtschaft, der Menschen, der Politik, aber auch der Gewerkschaften beim Wiederaufbau Deutschlands. Nach dieser Phase der fortlaufenden Steigerung des Bruttosozialprodukts, des Exportüberschusses und allgemeiner gesellschaftlicher Zufriedenheit sei mit Beginn der neunziger Jahre eine stetige Verschlechterung des wirtschaftlichen Klimas einhergehend mit einem Ansteigen der Firmenkonkurse und der Arbeitslosigkeit gefolgt, so Driftmann. Begründet wurde diese Entwicklung mit dem seiner Auffassung nach zunehmenden Blockadeverhalten der Gewerkschaften, hohen Lohn- und Lohnzusatzkosten, bürokratischen Hemmnissen, dem wirtschaftsfeindlichen Kündigungsschutz und einem verkrusteten Tarifrecht. Dass aus diesen Gründen die Freisetzung vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erfolgte, sei verständlich und führe, so Prof. Driftmann, zunehmend zu gesellschaftlichen Problemen, und werde damit zu einer kardinalen Aufgabe der Politik. Die Bewältigung der Missstände erfordere einen sozialen, gesellschaftlichen, politischen und persönlichen Umdenkungsprozess. Die Politik, so meint er, müsse der Wirtschaft mehr Zukunftsperspektiven und Verlässlichkeit aufzeigen, dann würden die Unternehmen wieder positiver in die Zukunft sehen. Das ge- samte Land würde profitieren, insbesondere die Arbeitslosen. Zudem müssten die Gewerkschaften von ihren alten, ideologischen Forderungen Abschied nehmen und sich den globalen Entwicklungen öffnen. Die Globalisierung sei in den folgenden Jahren vielen Betrieben entgegengekommen, könnten sie doch ihre Produktion jetzt europa- und weltweit organisieren. Dass Freisetzungen und Arbeitslosigkeit ein moralisches Problem für die Betroffenen darstelle, sei bekannt – die Bedingungen eines Unternehmens erlaubten manchmal leider keine andere Möglichkeit. Das Gesamtbetriebssystem müsse Priorität vor Einzelmaßnahmen haben, sonst würden Probleme noch größerer Art folgen, welche die sozialökonomische Situation im Lande wiederum verschlechterten. Von einem Werteverfall könne hierbei nicht ausgegangen werden, da die wirtschaftliche Situation eines Betriebes anderen Prinzipien folgen müsse. Die Wirtschaft sei sich ihrer herausragenden Verantwortung bei der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland bewusst. Sie beschäftige sich auf allen Ebenen, auch im Bezug auf Moral- und Werteentwicklung, mit Analysen, weiter- führenden Konzepten und strukturellen, erfolgversprechenden Erneuerungs- schwerpunkten.

Lübeck, 23. November 1999

15

WOLFGANG THIERSE Präsident des Deutschen Bundestages

Wolfgang Thierse, geboren 1943 in Breslau. Nach dem Abitur folgten Lehre und Arbeit als Schriftsetzer in Weimar. Es schloss sich ein Studium der Kultur- wissenschaft und Germanistik an der Humboldt-Universität in Berlin mit dem Abschluss als Diplom-Kulturwissenschaftler an. Sieben Jahre war er als wissenschaftlicher Assistent im Bereich Kulturtheorie/Ästhetik an der Humboldt-Universität beschäftigt, danach Mitarbeiter im Ministerium für Kultur der DDR mit nachfolgender Entlassung im Zusammenhang mit der Biermann-Affäre. Eine Beschäftigung als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaft der DDR folgte. Das Neue Forum weckte mit der Eintrittsunterschrift das Interesse, dem 1990 der Eintritt in die neugegründete SPD der DDR folgte. Auf dem Vereinigungsparteitag der SPD Wahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden. In der Volkskammer der Noch-DDR erst stellvertretender, dann Fraktionsvorsitzender. Ab 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages mit Wahlkreis Berlin-Pankow. In der SPD stellvertretender Vorsitzender, wie auch in der SPD-Fraktion im Bundestag. Seit 1998 Präsident des Deutschen Bundestages.

Weiterhin u. a. Vorsitzender der Grundwertekommission beim SPD-Partei- vorstand, des Kulturforums der Sozialdemokratie, des Kuratoriums der Willy- Brandt-Stiftung, des Kuratoriums der Stiftung Denkmal für ermordete Juden Europas und Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken.

16 WERBEN FÜR DEMOKRATIE

Wolfgang Thierse

Mit der Diskussion begeistert der Bundestagspräsident die Schülerinnen und Schüler das Fachgymnasiums der G III. Er spricht über die parlamentarische Arbeit im Bundestag, den Sitzungsablauf von Plenardebatten und die Arbeit der Bundestagsabgeordneten. Weitere Themen sind der militärische Einsatz in Afghanistan als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September, die Regelungen zur Zuwanderung, die inzwischen im Zuwanderungsgesetz seit dem 1. Januar dieses Jahres gelten, und die Gefahr des Rechtsextremismus für die Demokratie. Wolfgang Thierse spricht mit den Schülerinnen und Schülern auch über das System der sozialen Marktwirtschaft: Marktwirtschaft an sich, ohne soziale Steuerungen durch den Staat, sei nicht gerecht, schaffe aus sich heraus keine soziale Gerechtigkeit. Thierse erklärt, dass für ihn gesellschaftliche Werte wie Solidarität, Toleranz und Gerechtigkeit unverzichtbar seien.

Den Rechtsextremismus sieht Thierse als eine Gefahr für die Demokratie an, denn Neonazis hingen einer Ideologie von der Ungleichwertigkeit des Menschen an. Vor allem auf junge Leute hätten es Rechtsextreme abgesehen. Diese würden um sie werben auf Schulhöfen oder Skinhead-Konzerten. Thierse warnt davor, das Problem zu verharmlosen oder zu beschönigen und unterstützt jede Form demokratischen Engagements gegen rechtsextreme Tendenzen.

Sogar zum Fernsehkonsum äußert er sich: die Gesellschaft habe sich (leider kritiklos) an brutale Szenen im Programm gewöhnt. Zudem werde in Medien viel zu häufig fast hysterisch über aktuelle Themen berichtet, es bleibe kaum Zeit für eine besonnene und ausführliche Berichterstattung. Mit pauschalen Urteilen vor allem über „die“ Politiker sei man da sehr schnell bei der Hand.

Auch über weit verbreitete Vorurteile über „die“ Jugend spricht der Bundestagspräsident ausführlich. Allerdings, so bemerkt er, sei sie gezwungen, sich der Etikette der Mode und des Wohlstandes zu unterwerfen. Damit einhergehend würden Jugendliche eine gewisse Oberflächlichkeit auch im Umgang mit unverzichtbaren Werten entwickeln. Nicht alles, was die Altvorderen erfunden und praktiziert hätten, sei verdammungswürdig nach dem Motto "Alte Zöpfe müssen weg", erklärt Thierse zum Ende der Diskussion.

Lübeck, 27. März 2002

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DR. RALF STEGNER

Dr. Ralf Stegner, geb. 1959 in Bad Dürkheim. Abitur am Goethe-Gymnasium in Emmendingen, danach Bundeswehrzeit. Studium mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung an den Universitäten Freiburg und University of Oregon (USA). Staatsexamina in Politikwissenschaft, Geschichte und Deutsch. Von 1987-1989 Mc-Cloy-Scholar der Stiftung Volkswagenwerk und der Stu- dienstiftung des deutschen Volkes an der Harvard-Universität in Cambridge, MA (USA) mit dem Abschluss Master of Public Administration der Kennedy School of Government.

Mit dem Dr. phil. an der Universität Hamburg beendete er seine wissen- schaftliche Ausbildung, um 1990 seine Arbeit im Ministerium für Arbeit und Soziales, Jugend und Gesundheit (bis 1993 auch Energie) aufzunehmen. 1996 wurde er Staatssekretär bei Ministerin Heide Moser und wechselte 1998 als Amtschef und Staatssekretär in das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein.

Herr Dr. Stegner wurde am 01.03.2003 zum Finanzminister des Landes Schles- wig-Holstein berufen.

18 Werteerziehung in der Schule

Dr. Ralf Stegner in Vertretung für Ute Erdsiek-Rave

Da die Bildungsministerin, Frau Erdsiek-Rave, wegen einer dringenden Haus- haltssitzung des Kabinetts ihre Diskussionsveranstaltung zur Thematik „Werte- wandel“ an der Gewerbeschule III nicht termingerecht durchführen konnte, erklärte sich dankenswerterweise ihr damaliger Staatssekretär im Bildungs- ministerium und derzeitig amtierender Finanzminister, Herr Dr. Ralf Stegner, bereit, kurzfristig einzuspringen.

Die Veranstaltung berührte vor allem den berufsbildungs- schulthematischen und erzieherischen Aspekt der Wertedebatte an der Gewerbeschule III. Der Abend bestätigte in den Köpfen aller Teilnehmer, dass sowohl eine alleine im Elternhaus stattfindende Werteerziehung, als auch eine ausschließliche Bil- dungserziehung der Schule in der heutigen Zeit nicht mehr haltbar sind. Es wurde deutlich, dass Werteerziehung von der Schule nur dann sinnvoll erfüllt werden kann, wenn diese auch gleichzeitig in starkem Maße als Lebens- und Erfahrensraum für junge Menschen fungiert.

Im Verlauf der Veranstaltung wurde auch darüber gesprochen, welche Fähig- keiten über das reine Wissen hinaus für eine lebenswerte Zukunft unserer Jugendlichen den größten Wert haben.

Nach einem sehr prägnanten Referat zur Thematik der Werteerziehung hatten die Schülerinnen und Schüler hinreichend Gelegenheit, entsprechende Fragen an Herrn Dr. Stegner zu richten.

In einem anschließend folgenden Dialog erhielten sie überaus ausführliche Antworten auf ihre Fragen, welche sich unter anderem auf „Multikulturalität, berufliche Bildung, benachteiligte Jugendliche, Medien, einen festgeschriebenen Wertekanon, Kopfnoten, Lehrstellenknappheit, Kindererziehung, PISA und Bildungsstandards“ bezogen. Dabei konnte Herr Dr. Stegner einen guten Kontakt zur Schülerschaft der GIII herstellen und wurde sogar ein wenig persönlich und privat, indem er als Vater dreier Kinder über seine eigenen Erziehungsgrundsätze bereitwillig Auskunft gab.

Die Veranstaltung hat gezeigt, dass eine sinnvolle Werteerziehung in Schule und Elternhaus gleichermaßen stattfinden muss, um junge Menschen für die enor- men beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen der Zukunft ent- sprechend erziehen, bilden und ausbilden zu können.

Lübeck, 19. November 2002

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CHARLOTTE KERNER Buchautorin

Charlotte Kerner, geboren und aufgewachsen in Speyer. Studium der Volks- wirtschaft und Soziologie in Mannheim. Zunächst Mitarbeiterin in einem stadtsoziologischen Forschungsprojekt. Anschließend jeweils einjährige Stu- dienaufenthalte in Kanada (1976) und China (1978). Über ihre Erfahrungen in China und die Stellung der chinesischen Mädchen und Frauen schrieb sie zusammen mit einer Sinologin ihr erstes Buch. Seit 1979 ist sie nur noch schreibend tätig. Sie lebt heute mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Lübeck.

1. Preis im Wettbewerb „Reporter der Wissenschaft“ über eine Frauen- selbsthilfegruppe nach Krebsoperationen (1979). Drei Jahre Tätigkeit als Pres- sereferentin der Stiftung Jugend forscht (1980-1983). Als Stipendiatin der Robert-Bosch-Stiftung hospitierte sie 1984 bei der Deutschen Presseagentur (dpa) und im Wissenschaftsressort der ZEIT. Charlotte Kerner schreibt u. a. für DIE ZEIT und EMMA.

1987 Deutscher Jugendliteraturpreis für „Lise, Atomphysikerin“. Vier weitere Bücher standen auf der Auswahlliste, darunter die Zukunftsgeschichte „Geboren 1999“, die in mehrere Sprachen übersetzt und fürs Fernsehen verfilmt wurde. 1997 Literaturpreis der GEDOK Schleswig-H.

Für den Roman „Blueprint – Blaupause“ wurde sie im Jahr 2000 ebenfalls mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis geehrt. „Blueprint“ erscheint in 7 europäischen Ländern, Japan und den USA. 2003 Verfilmung des Buches mit Franka Potente in der Doppelrolle Iris/Siri.

20 Zentraler Wert der menschlichen Individualität Charlotte Kerner

Mit Schülerinnen und Schülern der Gewerbeschule III führte die vielfach aus- gezeichnete Jugendbuchautorin Charlotte Kerner am 2. Februar 2004 ein soge- nanntes ‚Werkstattgespräch‘ über ihren letzten Roman „Blueprint“ und dessen aktuelle Verfilmung.

Frau Kerner stellte in konzentrierter Form die Thematik ihres Romans über das in der heutigen Zeit durch wissenschaftliche Fortschritte auf medizinischem und biotechnischem Gebiet möglich gewordene Klonen von tierischen und menschlichen Zellen bis zum Klonen vollständiger Lebewesen vor.

Heute würden die Berichte über geklonte Tiere und das Klonen menschlicher Embryonen wie selbstverständlich zur medizinischen, bioethischen und gesell- schaftlichen Fortschrittsdiskussion gehören.

Ihr Buch sei thematisch ganz nah am Puls der Zeit und werfe fundamentale Fragen an Wissenschaft, Gesellschaft, Kirchen und Politik auf.

Dieser Teil des Gesprächs brachte auch die zentrale Fragestellung, inwieweit der individuelle Wert des Menschen ernsthaft gefährdet sein könnte, hervor.

Die gegenwärtige bioethische Wertedebatte erhalte vor diesem Hintergrund besonderes Gewicht, da aus heutiger Sicht kaum voraussagbar sei, welche psychologischen, medizinischen, rechtlichen und gesellschaftspolitischen Irrwüchse ein in der Welt der Wissenschaft eingeführtes Klonen mit sich bringen könnte. Zudem gebe es bislang keinerlei einheitliche globale Regeln im Umgang mit der Technologie des Klonens.

Spätestens hier wurde allen Beteiligten in ganz besonderem Maße bewusst, welche schwerwiegende Verantwortung nicht nur der Biotechnologie und der Medizin obliegt, damit die individuelle Identität eines jeden einzelnen Lebewesens als fundamentaler humaner Grundwert erhalten und uneingeschränkt geschützt bleiben kann.

Die hierzulande intensiv einsetzende Welle bioethischer Diskussionen auf allen gesellschaftlichen Ebenen und das Einsetzen eines Ethikrates auf Bundesebene zeigt in besonderer Weise die Brisanz dieser die Grundwerte berührenden Thematik.

Lübeck, 2. Februar 2004

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PROF. DR. DIETRICH VON ENGELHARDT

Dietrich von Engelhardt, geboren 1941 in Göttingen. Nach dem Studium der Philosophie, Geschichte und Slawistik Promotion in Philosophie 1969 in Heidel- berg. Danach Mitarbeiter eines kriminologischen Forschungsobjektes und krimi- naltherapeutische Tätigkeit am Institut für Kriminologie der Universität Hei- delberg, 1971 Assistent am Heidelberger Institut für Geschichte der Medizin, Habilitation in der Fakultät für Naturwissenschaftliche Medizin 1976, seit 1983 Direktor des Instituts für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Universität zu Lübeck, zunächst Mitglied und seit 2000 Vorsitzender der Ethikkommission für Forschung der Universität zu Lübeck, 1993-1996 Prorektor der Universität zu Lübeck, 1995 Aufnahme in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, 1994-1998 Vizepräsident der Akademie für Ethik in der Medizin und 1998-2002 ihr Präsident, seit 2001 Stellvertretender Vorsitzender des Landeskomitees für Ethik in Südtirol, außerdem Mitglied des Stiftungsvorstandes der Possehlstiftung, seit 2003 Vorsitzender des Klinischen Ethikkomitees der Medizinischen Universität zu Lübeck.

Forschungsschwerpunkte: Theorie der Medizin, Geschichte der Medizinischen Ethik, Ethik im Medizinstudium, Medizin in der Literatur der Neuzeit, Naturwissenschaften und Medizin in Idealismus und Romantik, Umgang des Kranken mit der Krankheit, Medizin- und Wissenschaftshistoriographie, Selbst- verständnis des Naturforschers und Mediziners.

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Euthanasie zwischen Lebensverkürzung und Sterbebeistand

Professor Dietrich von Engelhardt

Professor Dietrich von Engelhardt hält einen äußerst lebendigen Vortrag zu einem sehr ernsten Thema, das wir alle verdrängen und uns dennoch alle angeht: das würdevolle Sterben.

Die Neuzeit unterscheide zwischen der äußeren und der inneren Euthanasie; erstere bedeute Hilfe zum Sterben mittels Medikamenten, letztere Hilfe im Sterben, die wir alle geben könnten.

Heutzutage hätten wir zwar alle Geburtshelfer, obwohl Sterbehelfer genauso wichtig seien, kritisiert von Engelhardt. Um hier in besonderem Maße zu sensibilisieren, bedient sich der Referent sehr einfühlsamer Musik von Schubert und Bach sowie sehr treffender Zitate Hegels und Rilkes. Im Nachbarland Holland gelte im Vergleich zu Deutschland kein Verbot der aktiven Euthanasie. Obwohl diese dort nur bei (nach medizinischer Einschätzung) aussichtslosem Zustand angewandt werde, sei erwiesen, dass nur 3 % der holländischen Sterben- den aktive Euthanasie wolle und davon bei 30 % diese durchgeführt worden sei.

Engelhardt kritisiert, dass wir fast immer nur über Hilfe zum Sterben redeten, nie jedoch über Hilfe im Sterben. Er problematisiert, dass man in Holland bereits dis- kutiere, ob psychisch und chronisch Kranke getötet werden können und unter- scheidet die Bedeutung von Euthanasie zwischen Lebensbeendigung und Sterbe- beistand. Schmerzlinderung könne schon heute lebensverkürzende Nebenwir- kungen haben, passive und indirekte Euthanasie seien in Deutschland erlaubt.

„Meine Botschaft“, so Professor Engelhardt: „Die substantielle Herausforderung der Zukunft liegt für jeden einzelnen Menschen wie für die Gesellschaft in der Euthanasie als seelisch-geistiger Begleitung des Sterbenden; ihr Gelingen wird die Bitte um Lebensverkürzung nur zu oft gar nicht erst entstehen lassen oder überflüssig machen.“

Er sieht auch Probleme angesichts der immer älter werdenden Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. Aktive Sterbehilfe könne, falls legal, warnt er, angewandt werden, um Kosten zu sparen und bald normal dazu gehören.

Am Ende der sehr beeindruckenden und anschaulichen Veranstaltung fordert der Referent dann auf, mit dem Begriff und vor allem der Legalisierung der „aktiven Euthanasie“ in Zukunft etwas vorsichtiger umzugehen. Er wolle mit seinem Vortrag bewirken, dass wir alle den Tod nicht nur als „grauenhaft“ ansehen, sondern als dem Leben zugehörend.

Die Veranstaltung endet mit einem uns alle sehr nachdenklich machenden Zitat von Montaigne: „Wir sterben nicht, weil wir krank sind, sondern wir sterben, weil wir leben.“

Lübeck, 15. Februar 2004

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BARBARA LOCHBIHLER Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International

Barbara Lochbihler, geboren 1959. Sie studierte von 1980 bis 1984 an der katholischen Stiftungsfachschule in München Sozialpädagogik im Studiengang Jugend-, Familien- und Altenhilfe und von 1985 bis 1992 am Geschwister- Scholl-Institut, Universität München, Politische Wissenschaften, Volkswirt- schaft und Internationales Recht.

Ihre Berufstätigkeit begann 1984 bis 1986 als Leiterin des städtischen Alten- und Service-Zentrums Haidhausen in München

Von 1987 bis 1991 bestätigte sie sich als parteilose Parlamentsreferentin im Landtag des Freistaates Bayern in der Fraktion der Grünen. Von 1922 bis 1999 bekleidete sie das Amt der Generalsekretärin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit in Genf/Schweiz. Seit August 1999 wirkt sie als Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International.

Frau Lochbihler ist Kuratoriumsmitglied der Stiftung Menschenrechte, Mitglied im Koordinierungskreis des Forums Menschrechte und im Kuratorium des Deutschen Instituts für Menschenrechte.

24 Menschenrechte überall verteidigen

Barbara Lochbihler

Ai verteidige seit 40 Jahren die Rechte der Menschen auf der Welt. „Warum aber gibt es immer noch so viele Ungerechtigkeiten, Furcht, Angst und Folter auf der Welt? Wer schützt elementare Rechte der Menschen, wie das Recht auf Leben, Meinungsfreiheit, Rechtsbeistand?“ Es gebe positive Entwicklungen, wie den In- ternationalen Strafgerichtshof, aber auch schreckliche Rückfälle, wie die Massen- morde in Ruanda, die Terroranschläge in New York und die Folter in Gefängnissen im Irak, wobei die Anschläge in New York in der Menschen- rechtsdebatte eine strenge Zäsur darstellten. Unter Vorreiterrolle der USA würden mit der Begründung des Kampfes gegen den Terrorismus die Rechtsgrundlagen der Menschenrechte weltweit eingeschränkt und missachtet. Angeblich Verdächtige verschwänden für Monate in Gefängnissen von Staaten, die die Folter zuließen, erhielten keinen Rechtsbeistand, seien kontaktlos, würden gedemütigt, gefoltert und gebrochen. Dabei erhalte man durch Folter nur selten Aussagen, die der Realität entsprechen würden: Die Gefangenen sagten alles, was die Folterer hören wollten, nur um der Folter zu entkommen. Hier versuche ai sich mit weltweiten Appellen einzumischen, um die Gefangenen, die nie Gewalt angewendet hätten, frei zu bekommen, was oftmals zum Erfolg führe.

Aber auch in Deutschland flamme die Diskussion über Folter und Todesstrafe sporadisch immer wieder auf. Der Fall Daschner in Frankfurt und die eingehende Diskussion über „etwas Folter im speziellen Fall“ sei intensiv und emotional geführt worden. Die Emotionen seien verständlich, in einem Rechtsstaat müsse aber das Gesetz die Grundlage einer solchen Diskussion bleiben. „Etwas Folter“ gebe es nicht! „Wie weit geht der Folterer? Wer kontrolliert ihn? Wer bildet Polizisten als Folterer aus? Wer die Folter bedient, weitet sie auch aus!“ Ai stehe bedingungslos zum Rechtsstaat, sage aber genauso deutlich „Nein“ zur Folter und zur Todesstrafe. Es habe schon immer Gutes und Böses unter den Menschen gegeben. Nach Auffassung von ai dürfe jedoch nie ein Menschenleben gegen ein anderes aufgewogen werden, auch dem Bösen dürfe das Menschsein nicht abgesprochen werden.

Menschenrechtsverletzungen würden von Menschen und Mächten aus bestimmten Ursachen zweckgerichtet verursacht. Sie seien nicht als von Gott gewollt hinzunehmen, deshalb müssten sie weltweit geächtet werden. Ai werde sich weiter dieser Herausforderung stellen, sich einmischen und mitmischen.

Lübeck, 30. Mai 2005

25 BERND SAXE Bürgermeister der Hansestadt Lübeck

Bernd Saxe, geboren am 30. März 1954 in Ibbenbüren, Westfalen. Er besuchte von 1969 bis 1971 die Höhere Handelsschule und absolvierte von 1972 bis 1975 eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei der Firma Siemens. Von 1976 bis 1977 leistete Herr Saxe seinen Zivildienst bei der Arbeiterwohlfahrt. In den Jahren 1977 bis 1980 folgte ein Studium an der HWP, Hochschule für Wirtschaft & Politik, mit dem Abschluss als Diplom-Sozialwirt. Seine Berufstätigkeit begann Herr Saxe 1980 bis 1983 als Bundesvorsitzender des Jugendwerks der Arbeiterwohlfahrt. Von 1983 bis 1992 bekleidete er das Amt des Geschäftsführers des SPD-Kreisverbandes Lübeck. 1992 wurde Herr Saxe zum Mitglied des Landtages von Schleswig-Holstein gewählt. Im Mai 2000 erfolgte die Wahl zum Bürgermeister der Hansestadt Lübeck.

Herr Saxe ist Mitglied der SPD (seit 1972), der Gewerkschaft (seit 1972 zunächst IG Metall, dann HBV und jetzt Ver.di) und der Arbeiterwohlfahrt (seit 1976).

Herr Saxe gehörte dem Parteirat der SPD an (1998-00) und ist Mitglied des Kreisvorstandes der SPD-Lübeck.

26 Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz Bernd Saxe

Im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe referierte der Bürgermeister der Hansestadt Lübeck, Herr Bernd Saxe, vor rund 150 Schülerinnen und Schülern des Fachgymnasiums, der Berufsoberschule, der Fachoberschule und der Fachschule. Abschließend beantwortete er Fragen unserer Schülerschaft zum Thema „Wertewandel“. Als erstes Beispiel für den Wertewandel in unserer Gesellschaft nannte Herr Saxe das schwindende „Nationale“ im Vergleich zur heutigen Internationalität, weiterhin die geringer gewordene Bedeutung religiöser Rituale und der Gemeinwohlorientierung. Letztere habe sich in den vergangenen 20 Jahren sehr stark hin zu Individualismus und Egoismus gewandelt. Werte, die wir uns bei allem Wandel jedoch bewahren sollten, seien vor allem die Freiheit in unseren Grundwerten, wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder auch Freiheit vor staatlicher Willkür. Der Wert der Gerechtigkeit hingegen sei schon viel schwieriger in seiner Bedeutung für uns alle zu definieren, werde er doch individuell sehr unterschiedlich hinterfragt: “Fühle ich mich gerecht behandelt?“ „Ist mein Lohn gerecht?“ Am Beispiel der Solidarität erörterte Herr Saxe die hohe Bedeutung der Possehl-Stiftung für die Hansestadt Lübeck: Dass aus privatem Vermögen Gemeinwohl entstehe, sei sehr typisch für unsere Stadt, denn gerade in Zeiten, in denen Egoismus wieder größere Bedeutung gewinne, sei die Solidarität als zentraler Wert unbedingt erhaltenswert. Am Beispiel der aktuell im Irak entführten Geisel Susanne Osthoff veranschaulichte Saxe die fließende Grenze zwischen Zivilcourage und Leichtsinn und leitete so über zur Toleranz, die nicht nur in Sonntagsreden gefordert werden dürfe, sondern sich auch ganz praktisch im Alltag bewähren müsse. Vor diesem Hintergrund sollte man sich angesichts aktueller Ereignisse in Lübeck die Frage stellen, ob man Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft den Zutritt zu Diskotheken verwehren dürfe. Der Wertewandel in der schwindenden Bedeutung von gesellschaftlicher Solidarität und der zunehmenden Akzeptanz individueller Ziele werde gerade am Beispiel „Massenarbeits- losigkeit“ greifbar. Mit dem Verweis auf einen norwegischen Wissenschaftler: „Eine Gesell- schaft, die keine Arbeitslosigkeit will, hat auch keine“, analysiert Saxe den Rückgang von Solidarität als diskussionswürdigen Aspekt. Vor diesem Hintergrund seien die enormen Einkommen in den Führungsetagen der Industrie nicht gerechtfertigt, ebenso wenig jedoch Sozialleistungsmissbrauch hinnehmbar. Beides sei unrechtmäßige Bereicherung am Allgemeinen. Werte dürfe man nicht nur in ihrer Akzeptanz von den anderen fordern, diese müssten vielmehr von jedem einzelnen von uns selbst angenommen werden, so lautete die Schlussthese des Referates. Die abschließend von unseren Schülern gestellten Fragen orientierten sich u.a. an Themen, wie: Armut in Lübeck, die aktuelle Entführung von Frau Osthoff im Irak, die Benachteiligungen von Schülern nicht-deutscher Herkunft an Gymnasien, die geplanten Studiengebühren und die finanziellen Kürzungen in unserem Bildungssystem. Herr Saxe beendete die Veranstaltung mit dem Verweis auf die Leere öffentlicher Kassen, welche manchmal auch unpopuläre Prioritätensetzungen nach sich zöge.

Nicht zuletzt dem inhaltlich höchst anschaulichen und frei gehaltenen Vortrag Herrn Saxes war es zu verdanken, dass unser Gast sich bis zur letzten Minute der ungeteilten Aufmerksamkeit der anwesenden Schülerschaft erfreuen konnte.

Lübeck, 9. Dezember 2005

27 Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein

Peter Harry Carstensen, geboren am 12. März 1947 in Nordstrand. Der Schleswig-Holsteinische Landtag hat ihn am 27. April 2005 zum Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein gewählt. Peter Harry Carstensen ist verwitwet und hat zwei Kinder.

Ausbildung und beruflicher Werdegang  Studium der Agrarwissenschaften 1973 1. Staatsexamen, 1976 2. Staatsexamen  1976 bis 1983 Lehr- und Beratungstätigkeit an der Landwirtschaftsschule und Wirtschaftsberatungsstelle Bredstedt, Oberlandwirtschaftsrat.

Politisches Engagement  Seit 1971 Mitglied der CDU.  1983 bis 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages.  1994 bis 2002 Vorsitzender des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Deutschen Bundestages.  2002 bis April 2005 Vorsitzender der Arbeitsgruppe für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft der CDU/CSU Bundestagsfraktion.  Juli 2000 bis Juni 2002 stellv. Vorsitzender der CDU Schleswig-Holstein.  Seit Juni 2002 Vorsitzender der CDU Schleswig-Holstein.  Vom 1. November 2005 bis zum 31. Oktober 2006 Bundesratspräsident.

28 Christliches Menschenbild als politische Grundlage Peter-Harry Carstensen

Herr Carstensen genoss sofort die Sympathien aller Zuhörerinnen und Zuhörer, als er sehr spontan und einfühlsam auf die herbstzeitliche Blumendekoration unserer Floristinnen reagierte und unter Verweis auf seine berufliche Herkunft ausrief: „Auch Bauern können Ministerpräsident werden.“ Er freue sich sehr auf diese Veranstaltung und die Gespräche mit jungen Leuten, die als „best agers“ äußerst wichtig für die Grundlagen in der Politik seien: „Sie sind diejenigen, auf deren Schultern die Arbeit für diesen Staat liegen wird.“ In seinem folgenden Referat wies Herr Carstensen insbesondere auf die zentralen Problemstellungen von Gegenwart und Zukunft, wie demografische Veränderungen, neue Errungenschaften in den Medien sowie die Notwendigkeit, die Türen zu öffnen für Menschen aus anderen Kulturen. Dabei verwies er insbesondere auf den neuen Landeskulturpreisträger Feridun Zaimoglu, der erst als 6-jähriger Deutsch sprechen gelernt habe und nun einer der führenden Literaten im Bundesland Schleswig-Holstein sei. Er sensibilisierte für weitere gesellschaftliche Veränderungen, wie auch die andersartig sich gestaltenden familiären Strukturen. Unter der Stichwortsetzung „Verantwortung und Gerechtigkeit“ verwies er auf viele Beispiele von Ansprüchen an den Staat, die jedoch meist nicht mit dem Wahrnehmen von Verpflichtungen einhergingen. So sprach er auch die Alternativen für staatliche Fürsorge an und verwies auf die Grenzen zwischen fordern und fördern. Wir alle müssten uns fragen, was uns der Zusammenhalt in dieser Gesellschaft wert sei, welche die sicherste sei, die wir jemals hatten. Sehr direkte Wirkung von Politik stelle er auch bei der Betrachtung der eigenen familiären Biografie fest, zähle er sich doch (im Vergleich zum Vater und zum älteren Bruder) zu der ersten Generation in Deutschland, die noch nie einen Krieg erlebt habe, was durchaus eine Folge kluger Politik sei. In diesem Zusammenhang lobt Carstensen sowohl die EU, die in einem ganzen Jahr weniger Geld beanspruche, als ein einziger Tag des Krieges kosten würde, als auch unsere heutige Gesellschaftsordnung in Deutschland, welche die freiheitlichste sei, die wir je hatten. Rechtssicherheit sei garantiert, wir müssten diejenigen, die sich materiell selbst nicht mehr helfen könnten, unterstützen. Wohlstand und Wohlanständigkeit gehörten untrennbar zusammen, wobei ihm jedoch manchmal –angesichts der Verhaltensweisen einiger Manager- doch Zweifel kämen. Bei aller Globalisierung sollte man auch ein Heimatbewusstsein haben. Er lobte Deutschland als WM-Gastgeberland 2006, welches ein selbstbewusstes und dennoch nicht braun eingefärbtes Nationalitätsgefühl gezeigt habe. Er warnte jedoch vor technologischer Unbeweglichkeit und der damit einhergehenden Gefahr, von anderen emporstrebenden Ländern abgehängt zu werden. Bei aller Bedeutung des Ökonomischen lehnte Carstensen jedoch eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche ausdrücklich ab und erinnerte an das christliche Menschenbild, das menschliches Leben schützt und Solidarität mit den Schwachen fordert. Daher sollte das christliche Menschenbild die Grundlage einer jeden Politik sein. Die gigantische Verschuldung unseres Staates kritisierte er als ethisches und moralisches Problem, sei es doch respekt- und verantwortungslos gegenüber der jüngeren Generation. „Wir brauchen in unserer Gesellschaft Rückbesinnung auf Werte; sie geben uns Rückgrat, wo sonst nur Wirbelsäule wäre“, so die Schlussworte des Ministerpräsidenten. Die anschließende Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern bereitete Herrn Carstensen sichtlich Freude und er wäre sicherlich gerne noch etwas länger geblieben, sofern der massive Termindruck ihn nicht daran gehindert hätte.

Lübeck, 16. November 2006 29

MURAT KAYMAN...... Rechtsanwalt......

Murat Kayman, moslemischen Glaubens, geboren 1973 in Lübeck. Nach dem Abitur in Lübeck folgte ein Studium der Rechtswissenschaft an der Christian- Albrechts-Universität in Kiel mit dem Abschluss der Ersten Juristischen Staatsprüfung.

Seine Berufstätigkeit begann als juristischer Assistent bei der g/a/b-GmbH und weiter als wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Kanzlei, beides in Lübeck. Danach absolvierte er das Referendariat mit Stationen bei der Staatsanwaltschaft Kiel, der Zivilrechtsstation in Bad Segeberg, der Verwaltung der Hansestadt Lübeck, einer Kanzlei in Lübeck und im Justitiariat der Unabhängigen Landesanstalt für Rundfunk und neue Medien in Kiel. Den Abschluss des Referendariats bildete die Grosse Juristische Staatsprüfung.

Heute arbeitet Herr Kayman als selbständiger Rechtsanwalt in Lübeck.

Herr Kayman ist Mitglied des St. Petri-Kuratoriums in Lübeck, weiterhin arbeitet er als ehrenamtliches Redaktionsmitglied des Lübecker Straßenmagazins „Bessere Zeiten“ und als Referent für die Verwaltungsfachhochschule Altenholz zu interkulturellen und interreligiösen Themen sowie für die Volkshochschule Lübeck zum Thema „Islam“. 30 „Kein Mensch darf sich eine göttliche Autorität anmaßen.“ Murat Kayman

Murat Kayman, ein deutscher Rechtsanwalt türkischer Herkunft aus Lübeck, bezeichnet sich keinesfalls als Religionswissenschaftler und möchte nicht für, sondern über den Islam reden. Er repräsentiere nichts, stehe alleine nur für seinen Glauben, wobei es problematisch sei, bei hohem persönlichem Engagement über seine Religion zu reden, zumal sehr häufig ein Islambild in unserer Gesellschaft vermittelt werde, das den Dialog so schwierig mache. Durch seinen Glauben oder seine Religionszugehörigkeit werde ein Mensch nicht grundsätzlich wertvoller, vielmehr konstatiert Herr Kayman gleich zu Beginn seinen Willen, sich sehr offen und auch kritisch über das Thema ISLAM mit den Schülerinnen und Schülern unterhalten zu wollen. In Rückbesinnung auf den Titel der „Forum-EPS“-Veranstaltungsreihe „Wertewandel in unserer Gesellschaft“, stellt der Referent klar, dass alleine bereits die Tatsache einer Zugehörigkeit zu einer Religion bereits eine strikte Ablehnung von Werteverfall bedeute. Das oberste Gebot des Islam offenbare sich gleich zu Beginn des Koran durch den Imperativ „LIES“, das erste offenbarte Gebot, welches jedoch am wenigsten beachtet werde in den bildungsarmen Gesellschaften der islamischen Welt. Dabei fordere das „Lesen“ viel mehr als nur das einfache „Betrachten“, indem es als intellektuelle Leistung zu sehen sei, nicht nur zu lesen, sondern auch zu verstehen. In seiner Übersetzung des Wortes „Islam“ erwähnt Herr Kayman im Besonderen die Hingabe in den Willen Gottes, also die Gotteszuwendung durch den gläubigen Moslem, die sich sowohl in der individuellen Glückfindung eines jeden Einzelnen, als auch im Finden von Frieden, Wohlbefinden und Glück in der Gemeinschaft abspielten, worin zugleich auch die beiden größten Säulen islamischen Glaubens zu sehen seien. Dabei wende sich der von Gott geschaffene muslimische Mensch unmittelbar mit seinem Angesicht Gott zu, welches die Aufforderung „LIES“ zu Beginn des Koran ausdrücken wolle. Das Streben des Gläubigen nach Wohlbefinden, Glück und Zufriedenheit nach Innen und nach Außen bedeute eine hohe Verantwortung im täglichen Leben.

Nach einer äußerst informativen und sehr engagiert vorgetragenen Einweisung in einige Grundzüge des Islam ermunterte Herr Kayman seine jungen Zuhörerinnen und Zuhörer, weitere Fragen zu stellen, welche durchaus auch sehr kritisch gemeint sein sollten. So kam eine lebhafte Diskussion in Gang, in der über Fasten, Beten, Verhüllung, Kopfbedeckung, Ehrbegriff, Zwangsverheiratung, Dschihad… gesprochen wurde, jedoch im Verlauf vor allem den Missbrauch islamischer Inhalte für politische Ziele beinhaltete und viele Vorurteile relativiert haben dürfte. Der Extremismus sei ein politisches Problem, man benötige keinen Sprengstoffgürtel, um seine Religion auszuleben: „Wenn man sich verstandesmäßig mit seiner Religion beschäftigt, verhält man sich nicht so. Dies setzt jedoch Bildung voraus“, stellt Herr Kayman zusammenfassend fest. Bei der Bildung sei jedoch zu bedenken, dass sie kein Wert sei, der nur Positives hervorbringe. Schließlich könne man damit auch Atombomben bauen und daher benötige Bildung immer auch einen Werterahmen, ein ethisch-moralisches Gesicht, habe also immer mehrere Perspektiven, die alle beachtet werden sollten.

Sehr nachdenklich machte auch eine kleine persönliche Familiengeschichte des Referenten gegen Ende der Veranstaltung, welche auch gleichzeitig die 40-jährige Geschichte türkischer Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland eindrucksvoll und einfühlsam aus deren Perspektive widerspiegelte.

Lübeck, 8. März 2007

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DR. HILMAR GÖTZ (Lübecker Tafel), KERSTIN BEHRENDT (Arbeiterwohlfahrt Kreisverband Lübeck e.V.), TORSTEN LENGSFELD (Marli GmbH)

Dr. Hilmar Götz Torsten Lengsfeld Kerstin Behrendt

Kerstin Behrendt, geb. 1958 in Lübeck. Nach dem Abitur 3 Semester Architekturstudium an der Fachhochschule Lübeck, danach Studium an der Fachhochschule Hildesheim, Fachbereich Sozialwesen mit dem Abschluss Diplom Sozialpädagogin. Erste berufliche Erfahrungen als Sozialpädagogin erwarb Sie an einer Sonderschule im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Danach arbeitete Sie neun Jahre in der beruflichen Bildung. Ihre Schwerpunkte waren dabei die Berufsausbildung von benachteiligten Jugendlichen und später, bei der Handwerkskammer Lübeck, die Begleitung und Beratung von alleinerziehenden Frauen während der Umschulung in gewerblich-technische Berufe. Seit 1996 ist Kerstin Behrendt bei der Arbeiterwohlfahrt, Kreisverband Lübeck e.V., tätig, zuerst als Sozialpädagogin im AWO-Frauenhaus, dann als Fachberaterin für die Offene Altenhilfe und seit 2005 außerdem als Geschäftsführerin des Kreisverbandes.

Im Rahmen ihrer Tätigkeit engagiert sie sich im Arbeitkreis Ehrenamt der Freien Wohlfahrtsverbände in Lübeck, in der Freiwilligen-Agentur Lübeck, in städtischen Gremien, die sich mit dem Thema Ehrenamt beschäftigen und organisiert mitverantwortlich die 1. Lübecker Ehrenamtmesse. 32 Nächstenliebe als gesellschaftlicher Wert Dr. Hilmar Götz (Lübecker Tafel), Kerstin Behrendt (Arbeiterwohlfahrt Kreisverband Lübeck e.V.), Torsten Lengsfeld (Marli GmbH)

Dr. Hilmar Götz stellt die Organisation und das Aufgabenfeld der Lübecker Tafel vor, deren ca. 120 Mitarbeiter ehrenamtlich jährlich rund 650 Tonnen Lebensmittel für bedürftige Mitbürger sammeln. Die engagierten Helfer möchten etwas Sinnvolles tun, indem sie rund 1800 Menschen wöchentlich helfen, ihnen eine Freude machen und mit dazu beitragen, genießbare Ware vor dem Wegwerfen zu bewahren. Die Tätigkeit der Mitarbeiter der Lübecker Tafel sei gekennzeichnet durch die Werte der Solidarität, der Verantwortung und der Achtung der Menschenwürde. Man opfere Freizeit ohne Gegenleistung und übernehme Verantwortung mit einem hohen Grad an Verlässlichkeit. Die Achtung vor der Menschenwürde sei der wichtigste Wert, so Dr. Götze, denn man sichere die Versorgung von Menschen mit Lebensmitteln, die man bei den Essensausgaben respektvoll und freundlich, wie eingeladene Gäste, empfange und bediene. Kerstin Behrendt erzählt von ihrem beruflichen Werdegang, der schon früh und vorwiegend durch Sozialarbeit gekennzeichnet war. Nach einem historischen Rückblick auf die Arbeiterwohlfahrt und einer Erläuterung ihrer Organisationsform berichtet Frau Behrendt vor allem über die ehrenamtliche Mitarbeit, die sich schwerpunktmäßig auf die Jugendarbeit und die offene Altenhilfe konzentriere. So betreue man mehrere Jugendzentren, organisiere Sommerfreizeiten für Kinder und unterstütze ältere Menschen durch eine Vielzahl interessanter Freizeitangebote. Die Werte, welche die Organisation vertrete, seien -so Frau Behrendt- fast deckungsgleich mit solchen der Lübecker Tafel: Solidarität, Gleichheit (im Sinne von Gleichberechtigung von Mann und Frau) oder Gleichheit (ohne Unterscheidung der Herkunft), Freiheit (im Sinne von freier Berufswahl), Toleranz (gegenüber anderen Lebensformen und Einstellungen) und Gerechtigkeit. Frau Behrendt beendet ihre Ansprache mit dem Appell: „Seien Sie ehrenamtlich tätig, damit sich das soziale Klima in unserer Stadt zu verbessert.“ Torsten Lengsfeld hat zunächst eine Ausbildung zum Erzieher absolviert, bevor er Musik und Theologie studierte, um sich daran anschließend in der Marli GmbH selbst zu verwirklichen, wie er sich selbst ausdrückte, denn genau dort könne er etwas bewegen. Er rüttelt die jungen Zuschauer auf mit durchaus provokativ gemeinten Fragen: „Worum geht es bei Ihnen?“, „Was ist Ihnen wichtig?“, Spontan berichtet er über Diskussionen in den Medien in Bezug auf Werte. „Armut verursacht Behinderung!“, so eine seiner Thesen. „Es ist eine nach wie vor steigende Zahl an Kleinkindern aus sozial schwachen Familien wahrzunehmen, bei denen Störungen diagnostiziert werden, die sich im gesellschaftlichen Kontext als Behinderung auswirken. Schon hier wird die Zukunft des Individuums definiert, werden Möglichkeiten der Entwicklung benannt.“ Er lenkt die Aufmerksamkeit darüber hinaus auf Vereinsamung, Gewalt, geistige und soziale Verantwortung. Er berichtet sehr anschaulich von einem Nepal-Aufenthalt und seinen dortigen Begegnungen mit armen und leidenden Menschen, seinen eindrucksvollen Erfahrungen, die er an die Schülerinnen und Schüler weitergeben möchte. Seine Forderung des „Miteinander Gehen Müssens“, da ein Überleben nur so möglich sei, mündet in einer Kritik an einem Paradigmenwechsel hierzulande, wonach der Mensch jetzt unter semantischem Aspekt ein „Objekt der Teilhabe“ sei und nicht mehr ein „Subjekt der Fürsorge“. Er betont, dass es in der Arbeit der Marli GmbH immer voraus-setzungslos um den „Menschen an sich“ gehen würde. Er sensibilisiert seine Zuhörer für eine genaue Betrachtung der Begriffe „Mensch“ und „Wert“ in ihrer Beziehung zueinander: „Mensch“ und „Wert“ haben überhaupt nichts miteinander zu tun! „Was sind Sie wert?“, „Lässt sich einem Menschen überhaupt ein Wert zuordnen?“ Nein, der Mensch ist an sich und somit bei aller Verschiedenartigkeit doch gleich. Der Vortrag endet mit einer hohen Wertschätzung an die jungen Zuhörer: „Sie macht aus, was Sie hier heute sind und als Energie an andere hier und heute senden. Wir haben heute hier zusammen gearbeitet und etwas bewegt.“ Das nachfolgende Gespräch zwischen den drei Referenten und dem jungen Publikum problematisierte unter anderem die Motivation zum Ehrenamt und die Vereinbarkeit zwischen einem solchen Engagement und dem Privatleben.

Lübeck, 19. November 2007 33

MAX SCHÖN...... Unternehmer und Präsident des CLUB OF ROME.....

1961 in Lübeck geboren. 1981 Abitur am Staatlichen Gymnasium Bad Schwartau (heute Leibniz Gymnasium). 1981 - 1984 Ausbildung in Stuttgart zum Dipl. Betriebswirt (BA) an der Berufsakademie Stuttgart und in der Firma Vereinigte Eisenhandlungen Zahn & Cie. und Friedrich Nopper.

1984 Eintritt in das elterliche Familienunternehmen, die MAX SCHÖN GmbH & Co KG in Lübeck (Großhandel mit Stahl, Röhren, Werkzeugen, Maschinen, Haustechnikprodukten,

Küchen).

1985 Tod des Vaters und Übernahme der Geschäftsführung.

1995 nach Veränderungen im Gesellschafterkreis Neuordnung des Unternehmens: Einbringung der Großhandelsaktivitäten der MAX SCHÖN AG in die dänische Familienaktiengesellschaft Sanistål A/S, Aalborg und Ausgliederung des Immobiliengeschäfts und des Kücheneinzelhandels in separate Gesellschaften.

1999 Wechsel aus dem Vorstand in den Aufsichtrat der MAX SCHÖN AG 2001-2005 Präsident des Unternehmerverbands „Die Familienunternehmer – ASU“ heute u.a. Präsident der Deutschen Gesellschaft THE CLUB OF ROME, Hamburg Mitglied im Klimarat des Landes Schleswig-Holstein, Vorsitzender des Aufsichtsrats der DESERTEC Foundation, Berlin.

34 Die Energie-Ressourcen unserer Erde sind knapp Max Schön

Unser diesjähriger Referent ist der Lübecker Unternehmer Max Schön. In seiner kurzen aber sehr persönlichen Vorstellung präsentiert er sich zunächst in seiner Rolle als Familienvater einer insgesamt 7-köpfigen Patchworkfamilie und betont deren besonderen Einfluss auf seinen beruflichen Werdegang. Seine zentrale Rolle als Familienvater unterstreicht den für ihn wichtigen Wandel seiner beruflichen Tätigkeit vom ehemaligen Geschäftsführer der MAX SCHÖN-AG zum Aufsichtsrat, um mehr Zeit für Ehefrau (Tiermedizinerin) und Kinder zu haben. Dadurch seien auch die für ihn so wichtigen und vielfältigen ehrenamtlichen Aktivitäten mit seinen privaten Verhältnissen im Einklang. Die Schwerpunkte bestünden jedoch in seiner seit 2007 bestehenden, ehrenamtlichen Präsidentschaft des CLUB OF ROME Deutschland. Dieser Club sei in den 60-er Jahren bei einem Abendessen Industrieller in Rom entstanden und habe eine intensive Nachhaltig- keitsdebatte angeregt, da man damals erstmals per Computer die Vorgänge auf der Erde simulieren konnte. Heute würden 16 CLUB OF ROME-Schulen alleine in Deutschland nachhaltiges, vernetztes, ganzheitliches Wissen vermitteln. Er verweist auf Dennis Meadows Buch „Die Grenzen des Wachstums“, welches zeige, dass wir im Jahre 2050 drei Erdplaneten bräuchten, falls wir die Ressourcen unserer einen Erde weiterhin so überstrapazierten. Max Schöns Tätigkeit für DESERTEC steht im Zentrum dieser Veranstaltung. Sehr anschaulich, anhand einer Vielzahl farbig gestalteter Folien, beeindruckt Schön mit Szenarien, die unsere zukünftigen Heraus- forderungen durch Klimaveränderungen, Energie- und Wasserknappheit, Bevölkerungswachstum und damit einhergehender Kriege und anderer Auseinandersetzungen eindringlich machen. Mit weiteren Grafiken beweist er die Notwendigkeit der frühzeitigen Vermeidung künftiger Horror- szenarien der Menschheit. Diese würden vor allem durch den verschwenderischen Umgang mit Energie entstehen, wozu jedoch jeder einzelne von uns schon alleine durch veränderte Ernährungs- weisen (zum Beispiel weniger Fleisch und mehr Gemüse, veränderte Mobilitätsgewohnheiten im Alltag und im Urlaub, schonender Umgang mit Wasser und Wärme) beitragen könnte. Eine bedeutende zukünftige Maßnahme zur Vermeidung von CO2-Ausstoß ist das von Max Schön als Aufsichtsratsvorsitzendem wesentlich vorangetriebene Projekt DESERTEC, welches die Idee einer zukünftigen Versorgung der Menschheit mithilfe einer nahezu CO2-freien Energiegewinnung durch die regenerativen Energien propagiert und auf der Erkenntnis beruht, dass alle Wüsten dieser Erde in nur 6 Stunden mehr Energie durch die Sonne empfangen, als die gesamte Menschheit in einem ganzen Jahr verbraucht. Solarkraftwerke sollen künftig in Wüstengebieten den dezentralen Ausbau von Wind und Sonne ergänzen. Somit finde, so erläutert Max Schön, eine Energie- wirtschaft statt, die Strom vor Ort produziert und verbraucht, aber auch die Energie in weiter entfernte, nördliche Gegenden transportiert und somit in Zukunft zur Lösung der globalen Energie- versorgung beiträgt. Afrika, der bislang „vergessene Kontinent“ könne nun erstmals selbst erzeugte Energie gewinnbringend vermarkten und auch nutzen zur Gewinnung von notwendigem Süßwasser aus Meerwasserentsalzungsanlagen. Viele namhafte Weltkonzerne seien bereits zur Unterstützung dieser Initiative gewonnen worden. Die politische Notwendigkeit solcher Entwicklung sei immens, denn überall auf der Erde drängten bereits jetzt schon viele Menschen aus den kargen Wüstenregionen in die großen Städte anderer Gebiete, wodurch riesige Migrationsbewegungen entstünden. Eine weltweite Vernetzung von Universitäten solle die notwendigen Voraussetzungen an technischem Wissen weltweit vermitteln. Auch jeder einzelne von uns könne sich für dieses zukunftsweisende Projekt schon jetzt engagieren, beispielsweise durch Spenden oder Registrierung als Unterstützer unter www.desertec.org. Zukünftig geplant seien auch Aktionen wie zum Beispiel die Ermöglichung des Kaufs einer einen Quadratmeter großen Spiegelfläche in der Sahara. Und schließlich könne jeder von uns sofort durch das Ausüben von ‚Druck’ auf unsere Politiker aktiv werden, zum Beispiel durch eine Postkarte an lokale Bundestagsabgeordnete, auf denen er die Unterstützung der DESERTEC Initiative fordert. Eine sich anschließende Diskussion mit den anwesenden Schülerinnen und Schülern verläuft sehr lebhaft, engagiert und interessiert.

Lübeck, 27. April 2010 35 MICHAEL SOMMER...... Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes und.... Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes....

Seit Mai 2002 ist Michael Sommer Bundesvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seit Juni 2010 Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Der „studierte Malocher“ wurde in der Postgewerkschaft groß und war maßgeblich an der Gründung von ver.di beteiligt. Den am 17. Januar 1952 in Büderich geborenen Michael Sommer verschlug es früh nach Berlin, wo er seine Kindheit verbrachte und schließlich 1971 bis 1980 sein Politologiestudium an der Freien Universität absolvierte. Um sich das Studium finanzieren zu können, arbeitete er im gleichen Zeitraum nebenbei bei der Post als Mitarbeiter in der Paket- und Eilzustellung.

Auszug aus dem Lebenslauf 1980 Dozent im Bildungszentrum der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) in Gladenbach seit 1981 Mitglied der SPD 1988-1993 Hauptabteilungsleiter Zentrale Angelegenheiten beim Hauptvorstand der DPG 1997 Stellvertretender Vorsitzender der DPG seit 2001 stellvertretender Bundesvorsitzender der Vereinten Dienstleistungs-gewerkschaft „ver.di“ 2002 Wahl zum Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes 2010 Wahl zum Präsidenten des Internationalen Gewerkschaftsbundes

36 „Prekäre Arbeit ist die Geißel der arbeitenden Menschen“ Michael Sommer

Unser zweiter diesjähriger Referent ist Michael Sommer. Er stellt sich vor in seiner neuen Rolle als aktuell gewählter Präsident des internationalen Gewerkschaftsbundes und globale Stimme der arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt. Überall seien Menschen abhängig beschäftigt, ja sogar in Zwangsarbeit (z.B. Philippinen, Kolumbien) oder äußerst prekär beschäftigt oder gar ganz ohne Arbeit. Alleine durch die Finanzkrise seien 24 Mill. Menschen arbeitslos geworden, problematisch die Beschäftigungssituation vor allem für junge Menschen. In Südafrika seien sie nach der Schule in den folgenden 10 Jahren chancenlos, einen Beruf ausüben zu dürfen. Auch in Deutschland befänden sich 397.000 junge Menschen in einer „Warteschleife“ zum Beruf. Weitere große, von Arbeitslosigkeit betroffene Gruppen bildeten die Frauen; weltweit entweder massiv ausgebeutet oder ohne jede Chance auf Arbeit und auch als erste bei wirtschaftlichen Problemen wieder aus dem Arbeitsleben hinausgedrängt. Der weltweite Trend zu immer mehr prekären Arbeitsverhältnissen sei inzwischen auch in Deutschland angelangt. In den 60er Jahren hätten die Gewerkschaften viel mehr durchsetzen können, doch seit der Massenarbeitslosigkeit sei man immer mehr unter Druck geraten, sodass die Durchsetzungskraft auch derjenigen, die noch Arbeit hätten, weiter sinke. So leisteten in Deutschland etwa 2,5 Mill. Menschen prekäre Arbeit, könnten von ihrer Vollzeitbeschäftigung vielfach kaum noch leben. Als Beispiele für diese fatale Entwicklung nennt Sommer Verkäuferinnen oder Floristinnen, – eine generell äußerst unbefriedigende, ja sogar entwürdigende Situation für diese Menschen. Wer seine Arbeit hingegen gänzlich verloren habe, sei noch stärker in seiner Würde gefährdet, denn er könne sich nicht mehr selbst verwirklichen, sein Leben kaum noch schöpferisch gestalten und auch nicht mehr für sich selbst sorgen. Diese verloren gegangene Würde gelte es den Menschen zurückzugeben; es sei nicht in Ordnung, den Reichtum von Finanzspekulatoren zu bewundern im Vergleich zu denjenigen, die mit ihrer eigenen Hände Arbeit etwas erschafften.

Wie bei jeder Veranstaltung „Forum Emil-Possehl-Schule“ wurde der Vortragsraum von den in unserem Hause ausgebildeten Floristinnen und Floristen in der entsprechenden Thematik mit Blumenschmuck versehen. Eine junge Auszubildende erläutert Bedeutung und Geschichte der Nelke als Symbol der Arbeiterbewegung. Die aufstrebenden Blätter repräsentierten die kraftvolle Rolle der Gewerkschaft.

Im Anschluss an Sommers völlig frei vorgetragene Gedanken orientieren sich die Schülerfragen an aktuellen Problemen, wie Bildung und der Gefahr der drohenden Schließung der Lübecker Uni-Klinik, dem demografischen Wandel und seinen Auswirkungen auf die Gewerkschaften, jedoch auch an der Person Michael Sommer, indem man sich interessiert für seinen persönlichen Werdegang und seine Prägungen. Michael Sommer antwortet spontan und anschaulich: Der Kauf eines Mercedes M-Klasse sei in Deutschland aus dem Verdienst der eigenen Hände Arbeit kaum möglich; „Geiz ist geil“ das Schlimmste, was er je gehört habe; Arbeit sei ein hohes Gut, ein Wert, der auch wertvoll bezahlt werden müsse. Am Ende zeigt Michael Sommer unseren Schülerinnen und Schülern konkrete Wege auf, wie man sich als junger Arbeitnehmer gewerkschaftlich engagieren und seine Interessen im Betrieb wahrnehmen kann.

Unser Referent hat massive Nöte in der deutschen und auch weltweiten Arbeitswelt aufgezeigt und aufgeschreckt hinsichtlich der großen Gefahren für ein künftiges, würdevolles Arbeiten der Menschen. Eine sehr nachdenkliche und ernst gewordene stille Schülerschaft spendet massiven Beifall.

Lübeck, 1. Juli 2010 37