Kulturgeschichte Preußens – Colloquien #9

Die Zeit vor Augen. Die Chronos-Uhr im Thronsaal des Berliner Schlosses

Autor: Silke Kiesant

Datum: 11.12.2020

DOI: 10.25360/01-2020-00014

Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz Namensnennung · Keine kommerzielle Nutzung · Keine Bearbeitung (CC-BY-NC-ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/byncnd/4.0/

Zitierhinweis:

in: Silke Kiesant (Hrsg.) unter Mitarbeit von Florian Dölle nach dem Konzept von Saskia Hüneke, Kaleidoskop. Seitenblicke auf die Bildhauerkunst in den preußischen Schlössern und den Gärten, in: Kulturgeschichte Preußens – Colloquien #9, 11/12/2020, DOI: 10.25360/01-2020-00014 Silke Kiesant

Die Zeit vor Augen. Die Chronos-Uhr im Thronsaal des Berliner Schlosses

Abstract 1793 oder kurz darauf erwarb Friedrich Wilhelm II. von Preußen für die Königskammern im Berliner Schloss ein bedeutendes Kunstwerk, das eine Skulptur, eine Uhr und ein mechanisches Musikinstrument miteinander verband: die Flöten- und Klavieruhr mit einem bekrönenden lebensgroßen Chronos. Der König platzierte das Stück im zentralen Raum der Macht: in seinem Thronsaal.1 Als monumentales Raumkunstwerk mit fast drei Metern Höhe vereinigte die Chronos- Uhr mehrere Funktionen, wobei die Anzeige der genauen Uhrzeit nicht im Vordergrund stand, vielmehr diente es als Musikautomat, Bildwerk und Mahnmal. Während der massive Unterbau mit der Uhr- und Musikspielmechanik während bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg verlorenging, blieb die marmorne Chronos-Figur, die die Züge des Geschichtsschreibers Herodot zeigt, bis heute erhalten. Der Beitrag zeigt den Einfluss der Gräfin Lichtenau auf die Entstehung und Erwerbung der Uhr auf und versucht, den Hersteller zu identifizieren.

<1> Aufbau der Uhr Das Kunstwerk bestand ursprünglich aus zwei Teilen: aus dem 1,41 m hohen Sockel, in dem die Mechanik untergebracht war, und aus der 1,54 m hohen Chronos-Statue. (Abb. 1)

Der Sockel Das verhältnismäßig große und stabile Postament mit abgeschrägten Ecken bestand aus grauem schlesischen Marmor. Wegen seiner Funktion als Substruktion für die Marmorstatue war es besonders massiv ausgeführt. Bronze- Dekorationen zeigten vorn in einem oblongen Feld einen vergoldeten Strahlenkranz mit dem Gesicht des Apollon, in den Ecken jeweils einen Korb mit Blumen, ein Ährenbündel, Weintrauben sowie eine Theatermaske – Symbole für die jeweiligen typischen Beschäftigungen in den vier Jahreszeiten. Die Seiten des Postaments waren nur mit dem Strahlenkranz ohne Umrandung etwas schlichter gestaltet. An allen vier Seiten befanden sich herausnehmbare, mit grüner Seide hinterlegte Füllungen als Schallöffnungen.

<2> Abb. 1: Chronos-Uhr im Schloss Monbijou, Abbildung aus: Paul Lindenberg: Das Die Mechanik Hohenzollern-Museum in , Berlin 1892, Im Inneren des Kastens verbargen sich das Klavierwerk, Tf. VII ein Saiteninstrument im Mahagoni-Rahmen, sowie zwei Flötenregister. Der Spielwerksmechanismus

1 SPSG, historische Inv. Nr. HM 4436 (Uhrkasten verloren), Chronos: SPSG, Skulpt.slg. 1097. – Vgl. mit ausführlichen Quellen: Silke Kiesant: Prunkuhren am brandenburgisch-preußischen Hof, Petersberg 2013, Kat. 41, 377-380, hier 378, Abb. 41.2, Aufnahme der Chronos-Uhr im Thronzimmer des Berliner Schlosses, Messbild, vor 1945 (BLDAM). 85 konnte ein- und ausgeschaltet werden. Die Musik war auf sechs mit Messing belegten Mahagoniholzwalzen programmiert, die in einem eigenen Holzkasten aufbewahrt wurden. Die Stundenuhr in Verbindung mit der heute verlorenen Erdkugel aus vergoldeter Bronze war zu Füßen des Chronos auf dessen Sockelplatte angebracht. (Abb. 2)

Abb. 2 Chevalier de Werder, Chronos, Detail der Grundplatte mit dem leeren Platz für die früher dort befindliche Stundenuhr, 1793, Marmor, SPSG, , Skulpt.slg. 1057, SPSG, Foto: Silke Kiesant, 2019

Die Kugel drehte sich einmal innerhalb von 24 Stunden um die eigene Achse. An der Stelle des Äquators befand sich ein weiß-emaillierter Ring mit der Stundeneinteilung. Die Anzeige der Zeit erfolgte durch die Zunge der sich am Fuß windenden, bronzenen Schlange. Bei dem Achttagegehwerk handelte es sich vermutlich um ein Pendulenwerk à cercle tournant, das heißt, es war in diesem Fall horizontal im Inneren der Erdkugel angeordnet. Die Uhr schlug zu den halben und vollen Stunden.

86

<3> Die Skulptur (Abb. 3-5)

Abb. 3 Chevalier de Werder, Chronos, 1793, Marmor, Höhe: 154 cm, SPSG, Marmorpalais, Skulpt.slg. 1057, SPSG, Foto: SPSG / Wolfgang Pfauder, 2003

87

Abb. 4 Chevalier de Werder, Chronos, SPSG, Marmorpalais, Skulpt.slg. 1057, SPSG, Foto: Silke Kiesant, 2019 88

Abb. 5 Chevalier de Werder, Chronos, SPSG, Marmorpalais, Skulpt.slg. 1057, SPSG, Foto: Silke Kiesant, 2019

89

Die jugendlich-muskulöse Figur tritt dem Betrachter energisch mit einem Schritt entgegen, wobei der linke Fuß fest auf der Erde steht. Beim rechten Fuß setzt nur der Ballen auf, die Ferse ist leicht angehoben. Um die Hüfte ist ein Tuch geschlungen, das auf der linken Seite verknotet und durch ein diagonal über den Oberkörper laufendes Band gehalten wird. Das stark ausgeprägte, in „Ruheposition“ angeordnete Flügelpaar auf dem Rücken gleicht die leichte Vorwärtsbewegung aus. Der Baumstumpf verleiht der Statue Stabilität. Bis auf das bärtige Gesicht mit den horizontalen Stirnfalten, das den Gott der Zeit als gealterten Mann erscheinen lässt, ist die Haut glatt und makellos. Flügel und Bart sind somit die einzigen verbliebenen Attribute des Chronos. Die Sense aus vergoldeter Bronze, die er in seiner Linken hielt, ging verloren; ebenso die (ehemals) vor seinem rechten Fuß liegende Erdkugel mit der am Boden fixierten Schlange und der Stundenanzeige. Der rechte Arm mit dem ausgestreckten Zeigefinger weist noch auf diese Stelle und auf die eigentliche Funktion des gesamten Kunstwerks.

<4> Entstehungs- und Erwerbungsgeschichte unter Friedrich Wilhelm II. Die Chronos-Uhr wird erstmals als Nachtrag im Inventar des Berliner Schlosses von 1793 im Thronzimmer erwähnt: “Eine Acht Tage Uhr, befindlich in einem von grau schlesischem Marmor verfertigten Postumente, schlägt Stunden und halbe Stunden, spielt vermöge eines mahagoni Seiten Instruments und zwey Flöten=Sätzen Forte et Piano. Auf diesem Postumente stehet die Zeit in großer Figur von weißen Marmor, und zwischen seinen Füßen windet sich eine bronzirte Schlange herum, die mit ihrer Zunge die Stunden an dem emaillirten Stundenring, welches sich an der zu den Füßen befindlichen bronzenen Erdkugel /: die sich alle 24 Stunden einmahl herum dreht :/ zeigt. Zu dieser Uhr sind 6 mahagoni Walzen mit Meßing beschlagen.“2 Das Thronzimmer gehörte zu den 1787 bis 1789 für Friedrich Wilhelm II. eingerichteten Königskammern, zu denen neben Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff und auch Carl Ludwig Bauer Entwürfe für das Interieur – Letzterer besonders für das Konzert- und des Thronzimmers – lieferten.3 Geht man von einer Urheberschaft Bauers für die Ausstattung des Thronzimmers, die sich an französischen Entwürfen des Louis Seize-Stil orientierte, aus, so liegt es nahe, dass dieser auch die Dekoration des Uhren-Postaments beeinflusste. Der Strahlenkranz an der Vorderseite spielt auf eine ähnliche Gestaltung der Decke im Thronsaal an. Die Eckverzierungen an der Vorderseite finden sich an der Dekoration der Wände bzw. des Kamins in ähnlicher Weise wieder. Ursprünglich zierten die Wände dieses Raums keine Gemälde, sondern eine tiefrote Samtbespannung mit vergoldeter Fassung. Von Anfang an stand eine Uhr dem Thronbaldachin gegenüber. Zuerst war es noch die von Friedrich II. für das Neue Palais in erworbene französische Pendule im Régence-Stil auf Piedestal mit Schildpattfurnier und reich vergoldeter Bronze, die heute im Schloss Köpenick (Kunstgewerbemuseum, Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz) bewahrt wird.4 1793 oder kurz danach nahm diesen Platz die Chronos-Uhr ein. Ein erheblicher Anteil an der Vermittlung der Uhr an den König kommt seiner ehemaligen Geliebten zu: Wilhelmine Encke, verheiratete Ritz, später vom König zur Gräfin Lichtenau erhoben, schrieb im August 1793 an ihren Mann, den Geheimkämmerer des Königs, Johann Friedrich Ritz (1755-1809): “wehgen des königs neuhe uhr mitt die schtatüe der zeitt klinkt es fürchtterlich viel aber doch nicht viel mehr als Berger seine und wen in gantz teutschlandtt eine schönere uhr ist als die und da bei so

2 SPSG, Hist. Inventare, Nr. 44: Schloss Berlin, 1793: I. Corps de Logis Sr. jetzt regierenden Majestät F. W. II., 11. – Kurz darauf auch bei Rumpf, 1803/04, 170f. 3 Burkhardt Göres / Adelheid Schendel: Die Königskammern im Berliner Schloß, in: Ausst.-Kat. Friedrich Wilhelm II., 1997, 220-223, hier 222. – Burkhardt Göres: Carl Ludwig Bauer – Hofbeamter, Innenarchitekt und Mechaniker, in: Kunst in Preußen. Hans-Joachim Giersberg zum 65. Geburtstag, Berlin 2003, 107-125. 4 SPSG, Hist. Inventare, Nr. 44: Schloss Berlin, 1793, S. 12. – Vgl. Kiesant: Prunkuhren (wie Anm. 1), Kat. 1. 90 ein grosses artiges an sehhen so bezahle sie aus meinr tasche ich habe sie gestern zu samm gesetzt gesehhen es ist über alle erwartung schön.“5 Diese Briefstelle zeigt, wie sich Wilhelmine Ritz persönlich – wenn nötig auch mit eigenem Geld – an den Erwerbungen des Königs zur Ausstattung der Königskammern und hier ganz dezidiert für die Uhr mit dem Chronos engagierte.

<5> Ob die verloren gegangene Mechanik der Chronos-Uhr signiert war, ist nicht bekannt. Jedoch kommen für diese Art von äußerst aufwendigen Musikspieluhren vor allem zwei der bedeutendsten Berliner Uhrmacher dieser Zeit in Frage: Christian Ernst Kleemeyer (1739-1799) oder – noch wahrscheinlicher – sein ehemaliger Mitarbeiter, der Oberhofuhrmacher Christian Möllinger (1754- 1826). Mit letzterem stand der Geheimkämmerer Ritz nämlich schon zwei Jahre zuvor in Verbindung. In einem Brief Möllingers an Ritz vom 30. Juli 1791 schrieb dieser im Zusammenhang mit einer Uhrenreparatur, “(…) daß ich (…) ein neues (Uhrwerk – S.K.) zustande bekommen werde, welches sowohl in ansehung der Kunst als auch in der überaus reiche(n) und geschmackvolle(n) Verziehrung des Gehäuses dem Modernen Königlichen Thron Zimmer vollkommen angemeßen ist. Ich wünschte die gnädigste Aceptation dieses stücks und die erlaubniß es im Thron Zimmer aufsetzen zu dürfen (…).“6 – Es liegt die Vermutung nahe, hier bereits die Chronos-Uhr zu erkennen. Doch wahrscheinlich handelt es sich um ein anderes Werk: um die mit1791 datierte und von Möllinger signierte astronomische Bodenstanduhr mit Flötenwerk (SPSG V 48). Sie stand jedoch nie im Thronsaal, sondern in der Blauen bzw. Grünen Französischen Kammer des Berliner Schlosses und heute im Marmorpalais in Potsdam. Die Initiative sowohl für das Angebot dieser Uhr als auch für ihren möglichen Aufstellungsort im Thronzimmer ging in diesem Fall interessanterweise gar nicht vom König, sondern von Möllinger oder vielmehr von dem Geheimkämmerer Ritz bzw. seiner Frau Wilhelmine aus. In ihrem Charlottenburger Wohnhaus besaß Wilhelmine bereits seit 1790 eine astronomische Uhr von Möllinger, die von der vasenförmigen Gedenkurne für ihren und des Königs verstorbenen Sohn Alexander von der Mark bekrönt war.7

<6> Diese enge Verbindung zwischen Wilhelmine Ritz als Vermittlerin von Kunstwerken – hier repräsentativen Uhren – an den König und dem Uhrmacher Möllinger lässt den Schluss zu, dass auch die Mechanik der Chronos-Uhr in Möllingers Werkstatt entstand. Er gehörte neben Kleemeyer zu den gefragtesten und geschicktesten Uhrmachern in Berlin. Am 4. November 1786 hatte sich der aus der Pfalz stammende Möllinger an den gerade auf den Thron gekommenen Friedrich Wilhelm mit einem Bittschreiben gewandt. Hierin gibt er an, dass er sich bereits seit sechs Jahren in Berlin aufhalte. In dieser Zeit hätte er die erstaunliche Anzahl von 70 großen Flötenuhren gefertigt und diese “größtentheils außwärts debitiret, und daß Geld dafür ins Lande gezogen“. Vor diesem Hintergrund bat er darum, seine seit vielen Jahren in Arbeit habende mathematisch-astronomische Uhr vorführen zu dürfen. Vermutlich handelt es sich um die als erste Normaluhr berühmt gewordene Akademie-Uhr, die 1787 im Fenster über dem Eingang zur Akademie der Wissenschaften Unter den Linden angebracht worden war. Sie gab fast 100 Jahre lang nicht nur die Normzeit für wissenschaftliche Untersuchungen der Akademie, sondern auch für das öffentliche Leben Berlins an.

<7> Möllinger, der anfangs in Berlin bei Christian Ernst Kleemeyer gearbeitet hatte, lernte von diesem den Bau der im In- und Ausland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so bewunderten

5 GStA PK, BPH Rep. 48 M, Nr. 71, sd 5: Schreiben Wilhelmine Ritz (Enke) an Johann Friedrich Ritz, Geheimkämmerer Friedrich Wilhelms II., vom August 1793. – Ich danke Dr. Alfred P. Hagemann für diesen Hinweis. 6 GStA PK BPH Rep. 192 Nachlass Ritz A, Nr. 1449: Möllinger, 1791 (1 Blatt). 7 Alfred P. Hagemann: Wilhelmine von Lichtenau (1753-1820). Von der Mätresse zur Mäzenin. (Dissertation TU Berlin 2005), Berlin / Köln / Weimar 2007, 85. 91

Musikspieluhren. Und er produzierte, ebenso wie Kleemeyer, manufakturartig und in großer Stückzahl. Der mechanische Aufbau dieser Musikuhren ähnelt sich sehr, so dass man von einem Berliner Typus sprechen kann. Die Etablierung einer solchen Luxusuhrenproduktion hatte schon Friedrich II. von Preußen 1765 mit der Gründung der Berliner Uhrenmanufaktur befördert. Sein Neffe Friedrich Wilhelm II. erwarb zunächst mehrere Musikspieluhren von David Roentgen und dem Uhrmacher Peter Kinzing aus Neuwied (darunter das berühmte Neuwieder Kabinett). Stolz präsentierte der König diese Meisterwerke in einem eigenen Raum im Berliner Schloss. Möllinger kam später als Oberhofuhrmacher unter anderem die Aufgabe zu, diese empfindlichen Neuwieder Musikspieluhren zu warten.

<8> Neben dem hoch geachteten Möllinger kommt aber auch der vielseitige Carl Ludwig Bauer, wenn auch nicht unbedingt als Verfertiger, so doch möglicherweise als Berater für die Mechanik der Chronos-Uhr in Frage. Als Hofrat und Kastellan Friedrich Wilhelms II. in dessen Kronprinzenzeit tat sich Bauer nicht nur als Entwerfer von Holzbildhauerarbeiten, Marketerien und ganzer Raumdekorationen hervor, sondern auch als Schöpfer von Musikinstrumenten bzw. -automaten wie Flötenuhren und zwei neuen Arten von Klavieren.8 Bereits 1769 lieferte er an König Friedrich II. für eine Bodenstanduhr in der Königswohnung im Neuen Palais in Potsdam ein mit “N°. 1“ gekennzeichnetes Flötenspielwerk.9 Eine weitere 1771 von Bauer signierte Bodenstanduhr befindet sich in der Eremitage von Sankt Petersburg. 1784 kaufte Zarin Katharina die Große in Berlin eine weitere Uhr mit Bauer-Mechanik für 3.000 Rubel.10

<9> Die Chronosfigur11 Die sinnreiche Verbindung eines Zeitmessgeräts mit einer allegorischen Chronos-Darstellung ist häufig und in großem Variantenreichtum anzutreffen. Im weiteren Sinne geht Chronos als allgemeiner Zeitgott etwa als Architekturdekoration ein, wie am Schloss Augustusburg in Brühl, wo an der Westfassade im Zentrum des Giebelreliefs Chronos mit einem Putto einen Ziffernring hält. An zahlreichen Zimmeruhren in unterschiedlichen Materialien und Größen wird aber mitunter auch auf den ursprünglichen Kronos/Saturn-Mythos verwiesen: Im Schloss beispielsweise dient im Arbeitszimmer Friedrichs II. Kronos, Sohn der Gaia und des Uranos, als Beifigur zur Dekoration eines französischen Dokumentenschrankes mit Uhrenaufsatz. Gezeigt wird der Titan, wie er eines seiner Kinder verschlingen will.12 (Abb. 6)

8 Vgl. Friedrich Nicolai: Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlichen Merkwürdigkeiten, und der umliegenden Gegend., 3 Bde., Berlin 1786, 2. Bd., 576f. und 580. – Arthur W. J. G. Ord-Hume: The musical clock: Musical & automaton clocks & watches, Ashbourne 1995, 104. – Göres: Carl Ludwig Bauer (wie Anm. 3). 9 Kiesant: Prunkuhren (wie Anm. 1), Kat. 21, 304-309. 10 Nicolai: Beschreibung, 2. Bd. (wie Anm. 8), 580. 11 Ausst.-Kat. Friedrich Wilhelm II. und die Künste. Preußens Weg zum Klassizismus, Ausstellung, Potsdam, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, 1997, Potsdam 1997, 234, Kat. III.14. 12 Kiesant: Prunkuhren (wie Anm. 1), Kat. 7, 261-264. 92

Abb. 6 Jean-Pierre Latz (zugeschrieben), Cartonnier mit Uhrenaufsatz, Detail mit figürlicher Dekoration (links: Kronos, im Begriff, eines seiner Kinder zu verschlingen), SPSG, Schloss Sanssouci, Arbeitszimmer von Friedrich II. von Preußen, SPSG, Foto: SPSG / Wolfgang Pfauder, 2011

Zwar haben ursprünglich Kronos/Saturn und Chronos als allegorische Gestalt der Zeit nichts miteinander zu tun, sie wurden aber schon in der Antike aufgrund der Namensähnlichkeit häufig zu einer Figur verschmolzen. Für größere, mit der Berliner Chronos-Uhr vergleichbare Darstellungen gibt es allerdings nur wenige Beispiele, wie der wenige Jahre zuvor von Giacomo Monaldi (1733-1798) ebenfalls in Marmor geschaffene Chronos im Rittersaal des Warschauer Schlosses. (Abb. 7)

93

Abb. 7 Giacomo Monaldi, Statue zur Chronos-Uhr, Warschau, Königsschloss, Rittersaal, Foto: Silke Kiesant, 2015

Während dieser jedoch stehend und wie Atlas die Himmelskugel mit Ziffernring im Nacken zwischen seinen Schultern balanciert, kommt der Zeitgott an der Berliner Uhr mit gesenkter Sense aufrecht, athletisch, ja fast provozierend auffordernd daher. Weder meuchelt er gerade seine Kinder, noch ist er mit der Sense aktiv oder selbst vom Alter oder einer Last erdrückt.

<10> Das Modell dieses Chronos fertigte Johann Wetschernik, wie Johann Gottfried Schadow berichtet. Wetschernik war 1789 Gehilfe des französischen Bildhauerateliers in Berlin und schon in den beiden Jahren zuvor mit kleineren Kopien an den Akademieausstellungen beteiligt.13 Später wurde er Schadows “Eleve“, der ihn als ein “Gemisch aus Genie und Taugenichts“ beschrieb. 1813 soll er gestorben sein.14

13 Ausst.-Kat. Friedrich Wilhelm II. (wie Anm. 3), 234, Kat. Nr. III. 14: Katalogeintrag von Saskia Hüneke. 14 Johann Gottfried Schwadow: Kunst-Werke und Kunst-Ansichten, Berlin 1849, 8. 94

Die Statue selbst ist mit “Le Chevallier de Werder f. 1793“ signiert und datiert. Über diesen Bildhauer ist nicht viel bekannt. Er soll – nach Aussage Schadows15 – in Rom geboren worden und nach dem Sommer 1787 in Berlin angekommen sein. Laut Berliner Adresskalender wohnte er 1798 in der Jägerstraße “in seinem Haus“.16 Die wahre Identität des in der preußischen Hauptstadt als Lebemann auftretenden “Chevaliers“ blieb auch nach seinem überraschenden Tod in Freienwalde im Dunkeln Angeblich besaß er das gleiche Petschaft wie der damalige Minister Hans Ernst Dietrich von Werder.17 Doch die adelige Herkunft zweifelten schon seine Zeitgenossen, allen voran Schadow, an.

<11> Offensichtlich gewann der gutaussehende Chevalier de Werder bereits kurz nach seiner Ankunft in Berlin die Gunst der Wilhelmine Ritz, die mit verschiedenen Künstlern in Verbindung stand und maßgeblich an der Vergabe von Aufträgen des Königs mitwirkte. In künstlerischen Angelegenheiten kam ihr bei der Innenausstattung der königlichen Bauten eine wichtige Rolle zu, wie Alfred Hagemann anschaulich dargestellt hat.18 Dazu gehörte auch eine weitere Flötenuhr (wahrscheinlich ebenfalls mit Möllinger-Mechanik) im Gehäuse von David Hacker für die Winterkammern im .19 1795 schuf der Chevalier de Werder – sicher protegiert durch Wilhelmine Ritz – die 60 cm hohe Marmorbüste des Königs Friedrich Wilhelm II. in der Akademie der Wissenschaften in Berlin,20 die Mitte des 19. Jahrhunderts dort im Saal stand und selbst in einem Touristenführer der Zeit Erwähnung fand.21 Erinnert sei an den oben zitierten Brief Wilhelmines an den Geheimkämmerer Ritz vom August 1793. Deutlich wird hier, dass die Initiative für die Chronos-Uhr offensichtlich von ihr selbst ausgegangen war, da sie “die Anerkennung Friedrich Wilhelms als eigenverantwortliche Gestalterin auch bei königlichen Bauprojekten zu erlangen“ suchte.22 Der im Brief erwähnte “fürchtterlich“ hohe Preis für die Uhr, den wir nicht kennen, setzt sich aus dem schon teuren Musikspielwerk und dem aufwändigen Marmor-Sockel in Verbindung mit der Chronos-Statue zusammen.

<12> Das weitere Schicksal der Chronos-Uhr In den Königskammern, “Dem Thron gegenüber“,23 stand die Uhr bis 1888, danach kam sie bis 1932 in das Hohenzollernmuseum im Schloss Monbijou.24 (siehe Abb. 1)

Anschließend war sie wieder im Berliner Schloss ausgestellt, wo sie in dem Tonfilm “Alte Spieluhren“ von 1938 (Regie: Walter Schneider, Kamera: Waldemar Lemke) zu sehen, jedoch leider nicht zu hören

15 Schadow: Kunst-Werke (wie Anm. 14), 7f. 16 Adreß-Kalender der Königlich Preußischen Haupt- und Residenz-Städte Berlin und Potsdam (…) auf das Jahr 1798, 76 (bei den Akademischen Künstlern). 17 Schadow: Kunst-Werke (wie Anm. 14). 18 Hagemann: Wilhelmine von Lichtenau (wie Anm. 7). 19 Kiesant: Prunkuhren (wie Anm. 1), Kat. 43 und Hagemann: Wilhelmine von Lichtenau (wie Anm. 7), 181. 20 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften > Sammlungen > Gesamtbestand des Kunstbesitzes > Plastiken, Inv. Nr. AAWBON-0020, URL: https://archiv.bbaw.de/sammlungen/gesamtbestand-des-kunstbesitzes/plastiken <24.06.2020>. 21 Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1805: April, May, Junius. 2. Teil, Halle 1805, Spalte 726. – Schadow: Kunst-Werke (wie Anm. 14), 7. – Der neueste Passagier und Tourist. Ein Handbuch für Reisende durch ganz Deutschland und die angrenzenden Länder (…), Berlin 1844, 15. 22 Hagemann: Wilhelmine von Lichtenau (wie Anm. 7), 125. 23 SPSG, Hist. Inventare, Nr. 59: Schloss Berlin, 1811, fol. 18. 24 Thomas Kemper: Schloss Monbijou. Von der königlichen Residenz zum Hohenzollern-Museum, Berlin 2005, 185 (mit Raumaufnahme, Raum 19) und Fußnote 417 auf 283. – Führer durch das Hohenzollernmuseum, Berlin 1892, Abb. VII Raumaufnahme, Raum 19. – Hildebrand, 1930. – Kemper: Schloss Monbijou (wie Anm. 24), 186. 95 ist.25 Höchstwahrscheinlich wurde das Postament mit der Spieluhr durch die Kriegseinwirkungen zerstört. Die Statue des Chronos hat sich erhalten und steht heute im Marmorpalais in Potsdam.

<13> Denkmal mit Überraschungseffekt Die Kombination aus Uhr, mechanischer Musik und monumentaler Skulptur gibt diesem Werk einen ausgesprochenen Denkmalscharakter. Die Platzierung gegenüber dem Thron, Herz der neuen Paradekammern Friedrich Wilhelms II., sollte dem Herrscher sinnfällig das ständige Verstreichen der Zeit demonstrieren, auf dass dieser sie nach bestem Wissen und Gewissen verantwortungsvoll nutze. Der tatkräftig in den Raum schreitende, körperlich jung wirkende Chronos mit seiner Sense und der Stundenuhr musste dem Monarchen als ständige Mahnung für das unaufhaltsame Vorangehen der Zeit vor Augen gestanden haben. Dass es sich um eine Uhr handelt, fällt zunächst gar nicht auf; allein das hohe Postament unterstreicht in erster Linie die Monumentalität der Statue. Im Gegensatz zu den hochbewegten barocken Darstellungen des Chronos bleibt dieser förmlich “auf dem Boden“. Auch wenn er – wie die Zeit selbst – nach vorn schreitet, ist der Eindruck eher statisch und wirkt sehr beruhigt. (siehe Abb. 3-5)

Ein Vergleich mit barocken Darstellungen zeigt das, wie etwa mit dem 1746 entstandenen kraftvoll- bewegten Chronos des Hannoveraner Hofbildhauers Johann Friedrich Blasius Ziesenis (1715-1787). Dieser Zeitgott ist inmitten einer Aktion mit seiner Sense dargestellt, seine unterschiedlich aufgestellten Flügel unterstreichen die Bewegung ebenso wie der nach unten gerichtete Blick. Jener Chronos war einst Teil eines Epitaphs für Johann Georg von dem Bussche in der Marktkirche Hannover (heute im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover). Das Beispiel demonstriert die im Barock häufig aufgenommene Parallele zwischen Chronos und Tod, die freilich an der Uhr Friedrich Wilhelms II. keine Rolle spielt.

<14> Die Köpfe der Berliner wie auch der Warschauer Chronos-Statuen lehnen sich deutlich an antike Vorbilder an. So kann in der Darstellungsart von Kahlköpfigkeit, Barttracht und querliegenden Stirnfalten eine Ähnlichkeit mit einer römischen Herodot-Büste des 2. Jahrhunderts n. Chr. nach einem griechischen Original erkannt werden, derzeit ausgestellt in der Stoa von Attalos in Athen. (Abb. 8-10)

25 Vgl. Silke Kiesant: “Alte Spieluhren“ - Neue Erkenntnisse zu dem historischen Dokumentarfilm und zum Uhrmachermeister Franz Steggemann, in: Das mechanische Musikinstrument. Journal der Gesellschaft für Selbstspielende Musikinstrumente e.V., Nr. 138, Juli 2020 (in Vorbereitung). 96

Abb. 8 Büste des Herodot, römische Kopie nach einem griechischen Original, 2. Jh. n. Chr., Athen, Museum der Antiken Agora, Portikus der Stoa des Attalos, Foto: Giovanni Dall’Orto, 2009, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:3393_-_Athens_-_Sto%C3%A0_of_Attalus_-_Herodotus_- _Photo_by_Giovanni_Dall%27Orto,_Nov_9_2009.jpg <24.6.2020>

97

Abb. 9 Chevalier de Werder, Chronos, Detail, SPSG, Marmorpalais, Skulpt.slg. 1057, SPSG, Foto: Silke Kiesant, 2019

98

Abb. 10 Giacomo Monaldi, Statue zur Chronos-Uhr, Detail, Warschau, Königsschloss, Rittersaal, Foto: Silke Kiesant, 2015

Es ist nicht bekannt, auf welche Weise sich der Chevalier de Werder mit dem Studium der antiken Kunst beschäftigte. Da er in Rom geboren wurde, ist es vorstellbar, dass er dort auch seine Ausbildung erhielt und Berührungspunkte mit antiker Kunst hatte. Wenn Künstler des 18. Jahrhunderts solche antiken Bildwerke nicht aus eigener Anschauung kannten, so lagen ihnen diese zumindest in Form von Kupferstichen als Anregung vor.26 (Abb. 11)

26 Publiziert bei: Georg Wilhelm Zapf: Galerie der alten Griechen und Römer in zwey und achtzig Abbildungen und einer kurzen Geschichte ihres Lebens. Geschrieben von Hofrath Zapf, in Kupfer gestochen und verlegt von Gottlieb Friedrich Riedel, 1. Bd., Augsburg 1780, Tf. XXXVIIII. 99

Abb. 11 Gottlieb Friedrich Riedel, Büste des Herodot, vor 1780, Kupferstich, publiziert in: Georg Wilhelm Zapf: Galerie der alten Griechen und Römer in zwey und achtzig Abbildungen und einer kurzen Geschichte ihres Lebens. Geschrieben von Hofrath Zapf, in Kupfer gestochen und verlegt von Gottlieb Friedrich Riedel, 1. Bd., Augsburg 1780, Tf. XXXVIIII, Archiv und Foto: Silke Kiesant, 2020

100

Möglicherweise ging die Wahl dieses Darstellungstypus‘ des Herodot ebenfalls auf die Auftraggeberin Wilhelmine Ritz zurück, die als hochgebildete Italien-Reisende über eine große Kennerschaft in künstlerischen Fragen verfügte. Sicherlich ist die Analogie Chronos – Herodot kein Zufall: Der “Chronist“ Herodot von Halikarnassos (490/480 v. Chr. – 430/420 v. Chr.), griechischer Geschichtsschreiber, Geograph und Völkerkundler, galt seit Cicero als “Vater der Geschichtsschreibung“. Die Berücksichtigung seiner Gesichtszüge bei der Darstellung des Chronos führt neben dem Aspekt der verrinnenden Zeit an einer Uhr auch die Summe zeitlicher Ereignisse als Geschichte vor Augen. Angesichts dessen konnte auch König Friedrich Wilhelm II. seine eigene Regierung in historische Zusammenhänge einordnen.

<15> Letztlich diente die Chronos-Uhr jedoch nicht nur als Zeitmesser, als Mahnung, die Zeit sinnvoll zu nutzen, und als Erinnerung an das Eingebundensein in historische Abläufe, sondern auch der Unterhaltung! Für unvorbereitete Besucher bot das Kunstwerk ein Überraschungsmoment, denn zunächst war gar nicht erkennbar, dass sich im Postament unter der Chronos-Statue ein Musikwerk befindet. Gewöhnlich wurde dieses ausgelöst durch das Schlagwerk der Uhr, also beispielsweise zu jeder vollen Stunde. Von den ursprünglich sechs Walzen hat sich keine erhalten. Nur für eine konnte bislang in der Literatur ein Titel gefunden werden. Sie spielte die Ouvertüre zu “Die Karawane von Kairo“ (1783) von André-Ernest-Modeste Grétry (1741-1813).27 Der wallonische Komponist feierte mit diesem exotisch-morgenländischen Opernballett auf dem Höhepunkt der “Türkenmode“ seit der Uraufführung 1783 in Fontainebleau seine größten Erfolge bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Das Werk war nicht nur wegen des exotischen Sujets beliebt, sondern auch für die neuartige Kombination von Elementen der französischen Ballettoper, der Opéra comique, der italienischen Opera seria sowie Opera buffa. Wie allgemein verbreitet diese Musik war, zeigt auch die Tatsache, dass die Melodie der Ouvertüre später bei Drehorgelspielern quasi ein Gassenhauer wurde. Die Walzen zu den Spielwerken solcher Uhren waren austauschbar, so dass zwischen unterschiedlichen Musikstücken gewechselt werden konnte. Nicht selten gaben die Besitzer solcher Musikspieluhren bei Walzensetzern neue Stücke à la mode in Auftrag. Die Melodien stammten von berühmten Komponisten, wie Mozart, Haydn oder Gluck, die sogar eigens für die Abspieldauer einer mechanischen Walze kleine Stücke von etwa ein bis drei Minuten Länge komponierten. Wie schon sein Onkel Friedrich II. von Preußen war auch der musikliebende Friedrich Wilhelm II. fasziniert von der Verbindung einer Uhr mit einem mechanischen Musikinstrument. Die Chronos-Uhr fügte einem solchen Objekt ein drittes Element, ein Kunstwerk der Bildhauerkunst, hinzu. Es eröffnete dem Nutzer und Betrachter neben der simplen Zeitangabe nicht nur den musikalischen Genuss, sondern auch vielfältige Assoziationsmöglichkeiten über die Sinnfälligkeit des eigenen Tuns und dessen Einordnung in eine historische Bedeutungsebene.

Autorin: Silke Kiesant Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG)

27 Ernst Simon: Friedrich der Große und die Mechanischen Musikinstrumente, in: Zeitschrift für Instrumentenbau, Vol. XXXII, 1911-1912, 743-746, 1911/12, hier 745. 101