BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0003/20000314.shtml

Sendung vom 14.03.2000, 20.15 Uhr

Prof. Dr. Hans Apel Bundesminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen bei Alpha- Forum, zu Gast ist heute Professor Hans Apel, der ehemalige Bundesfinanz- und Bundesverteidigungsminister im Kabinett von . Heute ist er Professor an der Universität in Rostock. Herzlich willkommen, Herr Professor Apel. Apel: Guten Abend. Reuß: Es gibt ein sehr schönes Zitat von Ihnen: "Wenn ich überhaupt ein Laster habe, dann das, dass ich es nicht abkann, wenn ich nichts zu tun habe." Dieses Zitat ist 30 Jahre alt: Gilt es heute noch? Sind Sie tatsächlich ein Workaholic? Apel: Ob ich das bin, weiß ich nicht, aber eines ist absolut richtig: Wenn ich nichts zu tun habe, dann suche ich mir Arbeit. Gestern war ich um die Mittagszeit mit der Schlussredaktion eines Buches fertig: Da hätte ich mich ja hinsetzen und mich zurücklehnen können. Nein, da musste ich unbedingt leere Flaschen, Altpapier und olle Kleider zur Müllsammelstelle fahren. Meine Frau fand das ganz normal, denn sie sagte: "Der kann nicht stillsitzen, der Kerl!" Reuß: Nun haben Sie mich neugierig gemacht. Sie sagten, ein Buch sei gerade fertig geworden. Worum geht es in diesem Buch? Apel: Es geht im Wesentlichen um meine Erfahrungen mit der deutschen Einheit: dies aber in einem sehr speziellen Sinne. Ich bin seit 1990 zuerst Treuhand- Aufsichtsratsvorsitzender der Braunkohle-Unternehmen in der Lausitz gewesen und bin heute neutraler Mann in diesem privatisierten Unternehmen. Ich versuche, die Entwicklung der Region von 1989 bis 1999 nachzuzeichnen: mit ganz vielen Interviews der Betroffenen. Denn nur auf diese Weise wird ja so ein Buch lesenswert. Reuß: Sie haben seit 1991 einen Lehrauftrag an der Universität in Rostock: an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Was lehren Sie dort? Apel: In diesem Wintersemester habe ich Pause wegen dieses Buchs. Im Sommersemester werde ich europäische Integration machen: aktueller Stand, Probleme. Ich werde das Ganze dann auch so darstellen, dass die Studentinnen und Studenten begreifen, um was es dabei geht und wohin das Ganze führen kann. Reuß: Ich habe einmal gelesen – ich hoffe, es stimmt –, diese Professur sei für Sie so eine Art Erfüllung eines Jugendtraums. Stimmt das? Was fasziniert Sie so an dieser Aufgabe? Apel: Ich wollte in meiner Jugendzeit Lehrer werden. Hochschullehrer zu sein, war weniger mein Ziel, weil es zu meiner Zeit ja so war – heute wird es wohl noch genauso sein –, dass man die Meinung derer vertreten musste, von denen man an der Universität abhängig war: Die Meinungen des jeweiligen Professors nachzubeten, war nie meine Art. Aber ich finde es schon toll, wenn man jungen Leuten klar machen kann, um was es wirklich geht. Reuß: Kennen Ihre Studenten, die ja alle so um die 20 bis 25 Jahre alt sein dürften, eigentlich noch den Politiker Hans Apel? Wenn ja, wie reagieren sie auf Sie? Apel: Sie kennen ihn eigentlich nicht. Das ist ja auch ganz klar: 1982, also vor 17 Jahren, hörte die Regierungszeit von Helmut Schmidt auf. Ich bin dann zwar noch einige Jahre in der Politik geblieben, aber ich stand bei weitem nicht mehr im Brennpunkt des Geschehens. Mit anderen Worten, die Alten in Ostdeutschland erkennen mich, die Jungen erkennen mich nicht. Ich empfinde das auch eher als gut. Reuß: Sie haben eine phantastische politische Karriere erlebt, aber auch einen, wie man fast sagen kann, brutalen Abstieg. Sie haben selbst Ihre Karriere einmal so beschrieben: "Vom Sonnyboy über den Kronprinzen zum Armleuchter." Würden Sie mit Ihrem heutigen Wissen, mit all dem, was Sie erlebt haben, noch einmal diesen Schritt machen und in die Politik gehen? Apel: Wissen Sie, das ist alles eine Frage der Alternativen. Ich habe nach meiner aktiven politischen Zeit zwei Lebensbereiche kennen gelernt. Der eine Bereich ist das hohe Management: Das sind die Vorstandsetagen mindestens der Energiekonzerne. Denn wir haben dann ja die Lausitzer Braunkohlewerke privatisiert. Ich habe zweitens den universitären Bereich kennen gelernt. Ich muss daher sagen, dass einem bei allen Problemen, die man in der Politik hat, dieser Bereich doch sehr viel mehr Möglichkeiten, sehr viel mehr Freiheit und sehr viel mehr Unabhängigkeit gibt als diese anderen beiden Bereiche. Der Bereich der Politik ist also sehr viel weniger einengend als diese. Reuß: "Politik ist wie eine Krankheit. Man arbeitet wie verrückt und läuft doch nur in einem Tretrad." Ist in der Politik daher vieles nur vergebene Liebesmüh? Apel: Auf der Bundesebene mit Sicherheit. Ich habe das zwar nie erlebt, aber ich denke mir schon, dass man dann, wenn man als Oberbürgermeister einer Stadt oder als Landrat klassischer Kommunalpolitiker ist, so manches gestalten kann. Geld muss dabei allerdings schon vorhanden sein, denn das ist die Voraussetzung dafür. Wenn man in der Bonner Politik ist, dann dreht sich alles im Kreise: Man hat die großartigsten Ideen, fädelt sie klug ein, und dann sagt entweder der Finanzminister nein, weil das Geld dazu fehlt, oder andere sind eben sonst wie anderer Meinung. Da muss man schon sehr beharrlich sein, um überhaupt etwas von der Rampe zu bekommen. Reuß: Sie waren gerade einmal ein Jahr Bundesminister in Bonn, als Sie 1975 auf dem Evangelischen Kirchentag in Frankfurt ein sehr offenes Bekenntnis abgegeben haben, das auch mich sehr beeindruckt hat. Sie sagten damals: "Als demokratischer Politiker schließe ich Kompromisse, die auch faul sein können. Ich kämpfe manchmal unfair für den Erhalt der Macht meiner politischen Gruppe, weil ich davon überzeugt bin, dass das für unser Land gut ist. Ich sage nicht immer die Wahrheit, ich vernachlässige meine Freunde und manchmal zwangsläufig auch meine Familie." Helmut Schmidt soll das einmal Seelenstriptease genannt haben. Wie haben politische Freunde und politische Gegner auf ein solch ehrliches Bekenntnis reagiert? Apel: Helmut Schmidt haben Sie ja bereits zitiert. Er war stocksauer, weil er in der Tat sagte: "Was soll das? Deinen protestantischen Striptease kannst du dir schenken." Meine politischen Freunde haben dazu freundlicherweise nichts gesagt. Die CDU und insbesondere die CSU haben mir das im Plenum immer wieder um die Ohren gehauen: Mit dem Argument, ich würde ja selbst zugeben, ich sei ein Lügner. Es war also nicht sonderlich intelligent von mir, es so zu sagen. Aber ich habe das sogar immer wieder gesagt, weil ich der Meinung bin, dass der Bürger durch die Maske des Politikers auch hindurchsehen können muss, um zu sehen, was in ihm wirklich vorgeht. Reuß: Gab es denn neben den offiziellen Verlautbarungen darüber auch private Äußerungen von Politikern in der Art, dass sie zu Ihnen gesagt haben: "Da haben Sie schon Recht gehabt." Gab es das auch? Apel: Das ist doch etwas ganz Merkwürdiges. Manfred Wörner und ich haben über viele Jahre hinweg in der Bundestags-Fußballmannschaft zusammen gespielt, insbesondere in der Zeit der Großen Koalition. Denn da hatten wir so riesengroße Mehrheiten, dass wir im Plenum ja nicht auch noch anwesend sein mussten. Daher haben wir eigentlich jeden Tag Fußball gespielt: er als Rechtsaußen und ich als linker Verteidiger, so wie sich das eben gehört. Wir haben untereinander ganz ernsthaft und ehrlich geredet. Er hat mir zu diesem Zitat bestimmt gesagt: "Du hast ja Recht, Hans." Aber wenn wir dann in die Arena stiegen, dann wurden natürlich schon die schweren Geschütze auf beiden Seiten aufgefahren. Reuß: Zum Politiker Hans Apel würde ich gerne später noch einmal zurückkehren, zunächst aber würde ich mich dem Menschen Hans Apel nähern, wenn Sie einverstanden sind. Sie sind am 25. Februar 1932 in -Barmbek geboren. Sie haben über dieses Stadtviertel einmal gesagt: "Es hatte bis zur Zerbombung Hamburgs den Ruf, dass dort die Miete mit dem Revolver kassiert werden würde." Hat Sie dieses Milieu geprägt? Apel: Ich glaube schon. Meine Frau und ich kommen ja aus dem gleichen Stadtteil: Dort, wo sie geboren wurde, waren in dem Wahllokal bei den beiden großdeutschen Volksabstimmungen, die Hitler gemacht hat, in ganz Großdeutschland die drittmeisten Neinstimmen. Das war also durchaus ein proletarisches Milieu. Das zweite Beispiel: Als ich 1955 in die Partei eintrat, herrschte noch Ordnung. Das hieß, man fing als Kassierer an. Da sagte der örtliche Vorsitzende zu mir: "Hans, du musst dir im jeweiligen Mietblock immer nur zwei Namen merken: Der eine ist ein Nazi und der andere ein Kommunist. Alle anderen sind Sozialdemokraten. Bei denen kannst du anklingeln und kassieren. Du darfst dir nur nicht überall einen Korn einschenken lassen, denn sonst kommst du nicht weit." So war es dort wirklich. Reuß: Ihr Vater hat sich hochgearbeitet zum Prokuristen. Er war nolens volens auch Mitglied der NSDAP und an sich ein unpolitischer Mensch, wie Sie schreiben. Nach den Erlebnissen in Stalingrad war er eigentlich ein überzeugter Pazifist und gläubiger Christ. Hat er seine Einstellungen auf Sie übertragen können? Apel: Indirekt. Meine Mutter starb 1946. Ich war einziges Kind, und daher schlief ich fortan in dem Ehebett, in dem meine Mutter geschlafen hatte. Denn wir hatten ja diese übliche Zweizimmerwohnung mit dem Herrenzimmer, in das man natürlich nur an Weihnachten hinein durfte, einem Schlafzimmer und der Wohnküche. Mein Vater hat damals ununterbrochen gegen die Wiederaufrüstung Konrad Adenauers polemisiert. Allerdings hat er eines dabei übersehen, nämlich die Tatsache, dass sein Sohn ein konsequenter Mensch ist. Und so bin ich in die SPD eingetreten. Das fand mein Vater dann wiederum überhaupt nicht gut. Ich habe meine Frau schon sehr früh kennen gelernt: Nächstes Pfingsten, also an Pfingsten 2000, kennen wir uns 50 Jahre. Mein Vater hat damals zu meiner Frau gesagt: "Ingrid, du darfst nie in die SPD eintreten, denn dein Mann wird ja in Sibirien enden. Und dann musst du die Kinder großziehen." Er hatte also Angst, dass mir ein ähnliches Schicksal beschieden sein könnte wie ihm, der durch seine NSDAP-Mitgliedschaft nach dem Krieg ja doch ein paar Probleme hatte. Reuß: Sie haben es schon gesagt: Sie haben Ihre Mutter eine Zeit lang gepflegt, bis Sie sie sehr früh, im Jahr 1946, verloren haben. Zu der Zeit waren Sie 14 Jahre alt. Fortan mussten Sie im Haushalt kräftig mithelfen: putzen, waschen, kochen, Kohlen besorgen usw. Sie haben sogar die Haushaltskasse verwaltet, wie ich gelesen habe. Wurden Sie durch diese Umstände ein Stück weit zum Pflichtmenschen? Apel: Ich denke schon. Nun ist allerdings meine ganze Generation so orientiert worden, dass man seine Pflicht zu tun hat. Wenn das so ist, dann kann man natürlich mit Lustmenschen wie auch nichts anfangen. Aber in der Zeit war etwas ganz anderes entscheidend. Wenn man mit 14 Jahren von seinem Vater das Monatseinkommen und die Lebensmittelkarten auf den Tisch gelegt bekommt und er einem sagt: "Das hat bis jetzt deine Mutter gemacht, das musst du jetzt machen", dann ist man natürlich sehr frühzeitig sehr selbständig, sehr pflichtbewusst, sehr aktiv und auch bereit, Führungsaufgaben zu übernehmen. Ich war also ab dem Zeitpunkt immer mit dabei, wenn es darum ging, bestimmte Sachen zu regeln: Ich wollte dann schon selbst mitgestalten. Reuß: Sie haben dann 1951 das Abitur gemacht und wollten eigentlich studieren. Ihr Vater wollte, dass Sie Pastor werden. Sie haben dann, weil das Geld für ein Studium nicht reichte, eine Lehre gemacht. Was war das für eine Lehre? Apel: Das war eine ganz normale kaufmännische Ex- und Importlehre. Bei der Gelegenheit habe ich dann auch anständig Englisch sprechen gelernt. Nach zwei Jahren war die Lehre um, und ich wollte dann eben studieren mit meinen gut 20 Jahren. Damals herrschten aber ganz einfach noch normale Zustände, denn mein Vater hat gesagt: "Du bist noch viel zu jung dazu. Deswegen machst du jetzt noch ein Jahr einen kaufmännischen Angestellten bei einem Mineralölkonzern." Als ich das dann herum hatte, habe ich studiert. Reuß: Sie haben sich sehr frühzeitig in der evangelischen Jugendarbeit engagiert. Dort haben Sie auch Ihre Frau kennen gelernt. Aus der Zeit gibt es eine Begebenheit, die mich doch überrascht hat. Ihre Frau war genau wie Sie ein Einzelkind und ihre Mutter war Witwe. Ihr Vater wiederum war Witwer: Über Sie beide haben sich dann auch Ihre Eltern kennen gelernt und dann auch noch vor Ihnen geheiratet. Das ist doch eine seltene Begebenheit: Glauben Sie daher an Schicksal? Apel: Nein, nein, das habe ich organisiert, das hat mit Schicksal überhaupt nichts zu tun. Wissen Sie, mein Vater und ich waren eng zusammen. Die Sonntage sahen so aus: Morgens zur Kirche und nachmittags entweder zum Heimspiel des FC St. Pauli – dorthin gehen wir immer noch – oder aber auf den Friedhof. Als ich dann meine Freundin kennen lernte, saß mein Vater ziemlich traurig alleine zu Hause. Ich habe dann festgestellt, dass das bei meiner Frau ähnlich war: Da saß ihre Mutter auch traurig zu Hause. Das fand ich nicht intelligent. Und so habe ich dann dafür gesorgt, dass sich die beiden kennen gelernt haben – und das hat dann auch gut funktioniert. Das war allerdings am Ende auch komisch. Mein Vater starb 1965, und ich befand mich gerade in der Kandidatur für den . Unsere Mutter, die ja nun Apel hieß, zog zu uns, und wenn sie ans Telefon ging, dann sagte sie "Apel" – denn so hieß sie ja auch. Wenn die Leute fragten, ob sie denn ihren Sohn sprechen könnten, dann hat sie geantwortet: "Nein, der ist in Bonn, aber ich gebe Ihnen meine Schwiegertochter." Das fand nun meine Frau immer sehr ärgerlich: "Meine Mutter verleugnet mich!" Ich habe darauf gesagt: "Aber soll sie denn nun jedes Mal diese gesamte Geschichte erzählen?" Also hat sie "Schwiegertochter" gesagt, obwohl es natürlich ihre eigene Tochter war. Es war schon sehr gut mit Oma. Reuß: Ich würde Ihnen nun gerne eine Frage stellen, die eigentlich sehr privat und persönlich ist. Ich mache das auch nur deswegen, weil Sie selbst sehr offen darüber geschrieben haben. Sie haben einmal gesagt, die Religion sei ein zentrales Element in Ihrem Leben. Was ist für Sie Religion, wo hilft sie Ihnen? Apel: Meine Frau und ich sind gerade in einer ganz schwierigen Phase. Wir sind dabei, aus der evangelischen Kirche auszutreten, weil ich finde, dass das, was Nordelbien – so heißt bei uns die Kirche – tut, immer weniger mit Kirche zu tun hat und immer stärker parteipolitisch und tagespolitisch orientiert ist. Das fällt uns aber enorm schwer, denn ohne Kirche kann ich nicht leben. Ich habe jedoch bisher noch keine Möglichkeiten gefunden, woanders hinzugehen. Daran sehen Sie schon: Ich kann ohne Gottesdienst, ohne Glauben und ohne Beten nicht leben. Das ist bei meiner Frau schon ein wenig anders, aber da wir uns lieben, geht sie eben sonntags mit. Reuß: Es gibt noch ein Zitat von Ihnen, das die Bedeutung des Glaubens in der Gesellschaft betrifft und das ich auch für sehr nachdenkenswert halte. "Jeder Verweis auf Gott wird in unserer Zeit mit Hohngelächter und Unverstand beantwortet. Christentum ist tabuisiert. Christliche Symbole ja, christliches Abendland als inhaltsloser Begriff ja, Abgrenzung unserer Welt gegenüber anderen Welten mit christlichen Floskeln ja, aber christliches Bekenntnis in unserer Zeit nein – es sei denn mit Leerformeln und inhaltslosen Überschriften." Das haben Sie 1979 gesagt. Gilt das Zitat Ihrer Ansicht nach heute auch noch? Apel: Das gilt heute sogar noch verstärkt. Denn Kirche und Religion und damit auch die Bezüge zum Christentum sind ja so mega-out, dass es die Leute gar nicht mehr spüren, wenn man da Bezüge herstellt. Ein Beispiel: Als ich 1990 bei der Lausitzer Braunkohle Treuhand-Aufsichtsratsvorsitzender wurde, habe ich in Aufsichtsratssitzungen manchmal die Bibel zitiert. Die alten Kommunisten, die da für die IG-Bergbau im Aufsichtsrat saßen, sagten: "Hans, kannst du nicht mal aufhören mit der Bibel?" Die haben das also schon noch gecheckt. Bei meinen Studenten in Rostock könnte ich wahrscheinlich das Vaterunser beten, und sie würden trotzdem zu mir sagen, was dieser Quatsch denn soll, was das denn mit John Maynard Keynes zu tun hat. Mit anderen Worten, das ist zu einer Terra incognita geworden. Es fehlt damit das elementare Wissen – und das ist nun einmal die Voraussetzung dafür, dass man überhaupt weiterkommt im Glauben. Reuß: Sie haben dann Volkswirtschaft studiert und hatten 1958 das Angebot, entweder zu promovieren oder ein Sekretär der sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament zu werden. Sie haben sich für das Sowohl-als- Auch entscheiden. Sie waren damit hautnah dabei, als die EWG sozusagen gegründet wurde und sich entwickelt hat. Wie war das damals in Brüssel? Apel: Das war eine ganz tolle Zeit. Wir haben uns damals, im Jahr 1958, wirklich eingebildet, wir würden Europa neu schaffen. Wir haben Tag und Nacht gearbeitet. Wir haben für die Verkehrspolitik – das war eine meiner Zuständigkeiten – und für die Finanzpolitik – das war meine zweite Zuständigkeit – tolle Konzepte entwickelt: Das waren wirklich europäische Konzepte. Und dann ging alles kaputt. Dann kam nämlich General de Gaulle mit seinem Veto. Im Übrigen haben sich viele europäische Regierungen darüber gefreut, dass er das gemacht hat – ganz nach der alten Melodie: "Hansemann geh' du voran!" Ab da wurde es dann langweilig. Wir haben zu Hause dann zu Beginn der sechziger Jahre debattiert, und ich habe dabei zu meiner Frau gesagt: "Ich will hier weg! Es herrscht hier nur noch Frust und Langeweile." Nun gut, ich bin dann Helmut Schmidt über den Weg gelaufen. Er fragte mich, was ich denn gerade machen würde. Ich sagte: "Ich gehe gerade die Treppe herauf!" Da war er beleidigt und meinte: "Du bist immer noch so ein Flegel." Wir sind aber dann doch ins Gespräch gekommen, und dabei hat er mich gefragt, warum ich denn nicht für den Bundestag kandidieren würde. So geschah es dann auch. Reuß: Aber das war doch schon ein großes Risiko. Mich hat das beeindruckt, als ich das gelesen habe. Denn Sie hatten damals ein ordentliches Monatsgehalt, und Sie waren Beamter auf Lebenszeit. Sie haben sich jedoch für das Risiko entschieden und dadurch im Bundestag Ihr Gehalt mehr als halbiert. Warum sind Sie dieses Risiko eingegangen? Apel: Wenn man jung ist, und damals war ich doch extrem jung, dann muss man auch einmal das eigene Herz in beide Hände nehmen und über eine Hürde werfen. Ich finde es ganz schrecklich, wenn die heute Dreißig- und Vierzigjährigen schon so in Kategorien der Sicherheit denken. Mein Gott noch mal, das Leben ist doch so kurz. Und das war ja auch eine richtige Entscheidung: Es war eine tolle Zeit. Reuß: Sie sind dann 1965 auch als Direktkandidat in den Bundestag gewählt worden, und ein Jahr später kam dann die Große Koalition. Sie selbst haben dann allerdings auch gleich ein paar Marken gesetzt: Sie haben nämlich sofort von der "Dreiklassen-Gesellschaft" im Bonner Parlament gesprochen und haben das auch kritisiert. Was meinten Sie mit diesem Ausdruck? Apel: Es ist eigentlich immer noch so, obwohl sich die Verhältnisse doch etwas angeglichen haben. Damals war es so: Der normale Abgeordnete teilte sich mit einem Kollegen ein 10-qm-Zimmer – und Schluss. Die Fraktionsspitze hatte demgegenüber bereits damals Personal: Sekretärinnen und alles, was dazu gehörte. Die Funktionäre in den Fraktionen – die Gewerkschaftsfunktionäre genauso wie die Arbeitgeberfunktionäre – hatten natürlich alles. Insofern war die Wettbewerbsungleichheit schon beachtlich. Andererseits habe ich dann später aber doch gelernt: Zu meinen, aus einem schlechten Abgeordneten wird ein guter Abgeordneter, weil er Mitarbeiter bekommt, ist ein großer Irrtum. Reuß: Nach der Bundestagswahl 1969 kam es zur ersten Sozialliberalen Koalition: mit einer hauchdünnen Mehrheit. Diese Mehrheit hielt dann auch nicht sehr lange. Es kam zum konstruktiven Misstrauensvotum von Barzel, das jedoch nicht zum Erfolg führte. Es gab Neuwahlen, die SPD wurde stärkste Partei, und Sie kamen dann, wie es heute heißt, als Staatsminister ins Auswärtige Amt unter . Zunächst einmal wollten Sie das jedoch gar nicht: Warum nicht? Apel: Wissen Sie, ich war stellvertretender Fraktionsvorsitzender: Es war großartig, mit zusammenzuarbeiten. Ich kann eigentlich nicht behaupten, dass ich je ein politisches Vorbild gehabt hätte, aber wenn es in meinem Leben so etwas gab, dann war es Herbert Wehner. Reuß: Warum? Apel: Tja, dieser Typ war doch z. B. nicht bestechbar. Er war eiskalt und eisern. Er hat den Deutschen Bundestag sieben Jahre lang daran gehindert, die eigenen Abgeordnetendiäten zu erhöhen. Das ist doch eine Leistung, wenn man das einmal mit heute vergleicht. Er war ein eindrucksvoller Mensch. Darüber hinaus war ich Vorsitzender des Verkehrsausschusses. Warum sollte ich also zu Walter Scheel gehen? Um mit ihm vielleicht "Hoch auf dem gelben Wagen" zu singen oder warum? Aber ich bin eben am Ende doch hingegangen: Denn wissen Sie, Befehl ist Befehl. In der Politik muss Disziplin herrschen. Reuß: Als jedoch klar war, dass Walter Scheel weggehen würde, weil er Bundespräsident werden sollte, und ihm Hans-Dietrich Genscher nachfolgen sollte, haben Sie gesagt: "Nein, unter dem mache ich das nicht." Wenn man Ihre Bücher und Aufsätze liest, dann hat man den Eindruck, dass Sie nicht unbedingt ein enger Freund von Genscher sind. Warum wollten Sie nicht unter Genscher arbeiten? Apel: Man muss ja sehr aufpassen, dass man einem Dritten, der sich hier nicht verteidigen kann, nicht wehtut. Aber der Politikertyp Genscher entsprach eben nie meiner Art. Er war immer ein schlauer Mensch, der "es" verstand. Walter Scheel war da ganz anders: Er war gradlinig und geradeheraus. Allerdings sollte man sich über ihn auch nicht täuschen. Ich habe immer gesagt, Scheel ist wie eine Glasmurmel: Sie sieht bunt und gefällig aus, aber wenn man darauf beißt, dann verliert man einen Zahn. So war Walter Scheel – und das war gut. Reuß: So weit kam es nicht, denn trat in Folge der Guillaume-Affäre zurück, Helmut Schmidt, der Finanzminister, wurde Bundeskanzler und Sie Nachfolger von Helmut Schmidt als Bundesfinanzminister. War Ihnen dieses Amt eigentlich auf den Leib geschnitten? Waren Sie gerne Finanzminister? Apel: Ich habe es gerne gemacht, ich hatte dabei nur ein Problem, und dieses Problem habe ich immer noch: Ich kann nur schwer mit Schulden leben. Als Privatmann muss man das ja nicht. Ich hatte selbst als kaufmännischer Lehrling immer mehr in der Tasche, als ich verdiente. Mein Vater sagte immer: "Du wirst nicht von dem reich, was du einnimmst, sondern von dem, was du nicht ausgibst. Diese Schulden waren also wirklich ein Riesenproblem für mich: Diese Schuldengebirge, über die heute ja immer wieder debattiert wird, haben wir zu dieser Zeit damals natürlich mit aufgebaut. Insofern ist das eine Gemeinschaftsproduktion aller politischer Parteien in dieser Republik. Reuß: Der Finanzminister hat im Kabinett ja eine recht starke Stellung, aber Helmut Schmidt hat Sie selten geschont und schon auch manchmal finanzwirksame Zusagen gemacht, ohne Sie vorher gefragt zu haben. Sie haben über Helmut Schmidt einmal geschrieben: "Natürlich traue ich ihm nicht mehr unbesehen über den Weg. Im Interesse der Sache, so hat er mir mal erklärt, müssten manchmal leider auch Menschen große Opfer bringen, die eigentlich nur unfair von ihnen zu fordern sind und ihnen eigentlich auch nicht zugemutet werden könnten." Wie war Ihr Verhältnis zu Helmut Schmidt? Apel: Wir haben immer noch ein sehr gutes Verhältnis, aber es ist auch heute noch das Verhältnis eines großen Politikers zu einem jungen Mann, denn als diesen betrachtet er mich immer noch. Das ist zwar ein bisschen naiv, aber wenn man fast 81 Jahre alt ist, dann betrachtet man eben einen Siebenundsechzigjährigen immer noch als jungen Mann. Aber es war schon so: Wenn er zu einem bestimmten Ergebnis gekommen war, dann hat er das auch so gemacht. Ich glaube, die Stärke dieses Kanzlers lag genau darin, dass er bestens informiert war, hart gearbeitet hat und das Showbusiness nicht übertrieben hat, wie das Gerhard Schröder permanent tut. Von daher hat er notfalls eben auch gegen Menschen entscheiden müssen. Ich habe mich damals deswegen gekränkt gefühlt: Es hat mich geärgert. Aber heute weiß ich, dass es richtig war, wie er das gemacht hat. Reuß: Als dann vom Amt des Verteidigungsministers zurückgetreten war, wurden Sie abermals in die Pflicht genommen, denn man hat erneut gesagt, dass Sie das machen müssen. War das nicht schwierig für Sie? Denn Sie gehören ja zu den "weißen Jahrgängen", die nicht gedient hatten. Sie waren in die SPD eingetreten, weil Sie gegen die Wiederaufrüstung waren, und dann wurden Sie Verteidigungsminister. Apel: Es war extrem schwierig, jedoch weniger aus diesen Gründen. Ich hatte ja inzwischen doch ein wenig hinzugelernt: Die sieben Jahre in Europa haben mir doch geholfen, von diesem Primitiv-Pazifismus der SPD der vierziger und fünfziger Jahre wegzukommen. Etwas anderes war das Problem. Ich ging da z. B. auf so eine Bundeswehrmaschine zu, um loszufliegen, als da ein Offizier nach vorne springt und soldatisch zackig meldet: "Maschine startklar, keine besonderen Vorkommnisse." Ich sage sofort: "Na, das will ich aber auch hoffen." Oder es war z. B so, dass ich beim ersten großen Zapfenstreich, beim ersten großen Empfang, mit meiner Frau händchenhaltend über den Paradeplatz geschlendert bin und sie mehrfach geküsst habe. Das tut man aber dort nicht! Wissen Sie, am Ende lernt man das alles, und ich finde, dass auch die Soldaten Anspruch darauf haben, dass man ihre Lebensart ernst nimmt. Denn das ist ja keine böse Lebensart. Ich benehme mich in der Kirche ja auch so, wie das dorthin passt. Nachdem ich das dann alles gelernt hatte, ging es gut auf der Hardthöhe. Die Soldaten sind treu: Diese Treue von Menschen habe ich anschließend nie wieder in irgendeinem Lebensbereich erlebt. Reuß: hatte ein ähnliches Schicksal wie Sie: Auch er wurde nach seiner Zeit als Finanzminister Verteidigungsminister. War der Wechsel vom Finanzministerium ins Verteidigungsministerium politisch ein Abstieg? Apel: Nein, eigentlich nicht. Natürlich steht der Finanzminister sehr viel mehr im Mittelpunkt, und natürlich kann er sehr viel mehr gestalten. Auf der Hardthöhe hat man demgegenüber ja ganz lange Vorläufe. Als Schorsch Leber ging und ich sein Nachfolger wurde, hat er zu mir gesagt: "Hans, ich habe alle Waffen bestellt, du musst sie nur noch bezahlen." So war das dann eben auch tatsächlich: Da kamen Riesenrechnungen, und keiner wusste, woher das Geld dafür herkommen sollte. Man steht da also in einer ganz anderen Weise in der Kontinuität des Amtes als im Finanzministerium. Reuß: Es gibt noch einen schönen Satz von Ihnen: "Nichts ist so gefährlich wie der Typ von Politiker, der so tut, als wisse er überall und über alles Bescheid." Sie haben sich von der Partei immer wieder in die Pflicht nehmen lassen: Waren Ihnen die Parteiloyalität wichtiger als Ihr eigenes Ansehen und auch Ihr eigenes politisches Ansehen? Waren Sie eine Art – ich sage einmal dieses schreckliche Wort – Parteisoldat? Apel: Ja. Ich denke, das waren wir alle. Die alte SPD, die es ja schon lange nicht mehr gibt, war eine Partei, die durch Disziplin, durch Pflichterfüllung, durch persönlichen Einsatz insbesondere natürlich auch in diesen zwölf schrecklichen Jahren des Nationalsozialismus groß geworden ist. Obwohl jünger, gehöre ich eigentlich zu den Alten. Bei mir, bei meiner Generation, befindet sich die Grenze: Danach kommt der Toskana-Sozialismus. Und das ist wirklich etwas anderes. Reuß: Sie haben immer versucht, sich einen Rest an Normalität zu bewahren. Auch als Bundesminister standen Sie im Hamburger Telefonbuch – auch in der schrecklichen Zeit des Terrorismus. Sie hatten für Ihr Reihenhaus keine Angestellten: Sie haben den Haushalt zusammen mit Ihrer Frau selbst geführt. Brauchten Sie diese Bodenhaftung für Ihr inneres Gleichgewicht? Apel: Ich brauchte das zunächst einmal für unsere Kinder. Diese Kinder sind dort groß geworden, und sie sind normale Menschen geworden: Sie standen zu keinem Zeitpunkt in der Gefahr, durch das Theater, das um so ein Amt gemacht wird, irritiert zu werden. Wir beide brauchten das zweitens auch für unser ganz privates Leben. Wir brauchten einander. Wir wollten zusammen sein. Deswegen haben wir viele Dinge auch nicht mitgemacht, die sich dabei so angeboten haben, wie große Empfänge usw. Das alles brauchten wir nicht. Da sind wir lieber zu Hause auf dem Sofa gesessen und haben Fernsehen gekuckt: Das war schön! Reuß: Kommen wir zurück zu Ihrer Zeit als Bundesverteidigungsminister: Sie waren das von 1978 bis 1982. Das waren ja doch harte Jahre. Es gab die Iran-Krise, den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, das Kriegsrecht in Polen, und es gab vor allen Dingen auch den NATO-Doppelbeschluss und die Nachrüstungsdebatte. Was war für Sie im Amt des Ministers das schwierigste Problem? Apel: Das letztere. Denn wissen Sie, wir waren davon überzeugt, dass wir der russischen Mittelstrecken-Vorrüstung etwas entgegenstellen müssen, um abschreckend zu wirken und nicht um Krieg zu führen. Eppler und Lafontaine haben das zwar immer behauptet, das stimmte aber nicht. Wenn man dann jedoch merkt, wie man sowohl von der eigenen Kirche, aber insbesondere von der eigenen Partei alleine gelassen wird, dann ist das bitter. Am Ende waren wir noch zwölf Hanseln von 400 Delegierten, die für diese Position waren: Zu dem Zeitpunkt hatten wir allerdings in Bonn bereits die Macht abgegeben. Wenn man also das alles merkt, dann wird es wirklich schwierig. Da kann man sich dann nur noch fragen, was einem denn eigentlich wichtiger ist: Ehrlichkeit vor einem selbst oder weitere Karriere? Da habe ich mich für die Ehrlichkeit entschieden, und das habe ich dann jedoch auch bezahlen müssen. Insofern war es auch total idiotisch, nach zu gehen: Ich hätte ja wissen müssen, dass ich ein Nonvaleur für die Partei geworden war und sie nur noch darauf wartete, mich irgendwann loszuwerden. Reuß: Diese Nachrüstungsdebatte wurde ja teilweise sehr hart geführt - auch in der SPD. Man darf dabei einerseits nicht vergessen, dass es damals sicherlich Menschen gab, die – und das ist heute kaum mehr vorstellbar – tatsächlich Kriegsangst hatten. Es gab andererseits aber auch eine Debatte, die wenig rational war. Sie war sehr emotional und ging häufig genug auch unter die Gürtellinie. Hat es Sie damals verletzt, was da so alles in der Presse zu lesen war? Apel: Ja, natürlich. Denn im Endeffekt war uns ja klar, dass das Ganze nur Teil der Friedenssicherung durch Abschreckung war. Das hat sich im Übrigen ja auch als solches herausgestellt. Die Argumente dagegen waren teilweise so verlogen und die Positionen teilweise so opportunistisch, dass man sich nur wundern konnte. Ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. Eine meiner Töchter bat damals in der Schule darum, eine Klassenarbeit um einige Tage zu verschieben, weil sich diese Klassenarbeiten gerade häuften. Darauf sagte die Lehrerin: "Hanne, du kannst um gar nichts bitten. Dein Vater ist für den NATO-Doppelbeschluss!" Da wurde es wirklich kriminell. Wenn plötzlich nicht nur der Mann selbst ins Kreuzfeuer gerät, sondern auf diese Art und Weise wie bei den Nazis Sippenhaft geübt wird, dann wird es kriminell. Aber die Atmosphäre war damals wirklich in dieser Art und Weise vergiftet. Plötzlich kam die CDU dran, bekam 1983 48 Prozent der Stimmen, und die Debatte fiel in sich zusammen wie ein schlechter Hefekuchen. Reuß: Hat sich denn – den Eindruck gewinnt man, wenn man Ihr Buch liest – die SPD von der eigenen Regierung ein Stück weit entfernt in dieser Zeit? Apel: Kräftig sogar. Ich möchte dazu allerdings Folgendes sagen. Das lag weniger am NATO-Doppelbeschluss als an der ökonomischen Unfähigkeit, die hohe Arbeitslosigkeit zu Beginn der achtziger Jahre zu überwinden. Wenn Helmut Schmidt das geschafft hätte – wir wissen heute, dass es nicht zu schaffen war –, dann hätte sich vielleicht doch noch ein wesentlicher Teil der Partei hinter dem NATO-Doppelbeschluss wiedergefunden. Aber so verloren wir Landtagswahl auf Landtagswahl wegen der ökonomischen Probleme. Ich weiß noch, wie ein führender Hamburger Politiker zu mir sagte: "Sag' mal, wann geht ihr in Bonn endlich in die Opposition? Wir wollen nämlich endlich mal wieder Landtagswahlen gewinnen können." Ich kann Ihnen nicht sagen, ob Schröder solche Fragen auch schon gestellt bekommen hat. So war dann eben irgendwann Schluss: Es ging nicht mehr. Reuß: Sie waren immer ein Vertreter der Bündnistreue und der Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland: Erlauben Sie mir daher eine hypothetische Frage. Deutschland war im Kosovo-Krieg bei den Angriffen gegen das serbische Militär zum ersten Mal wieder selbst an einem Krieg beteiligt: Wie hätten Sie in so einem Fall als Verteidigungsminister entschieden? Apel: Ich denke, ich hätte ähnlich entschieden. Mir fehlen dazu heute natürlich Detailkenntnisse, aber ich denke, es gab überhaupt keine andere Möglichkeit, als diesen Weg zu gehen. Ob jeder einzelne Schritt richtig und vernünftig war, das weiß ich nicht. Aber darum geht es ja auch gar nicht. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Ich bin froh darüber, dass die Koalition in dieser Frage so sauber gestanden hat. Reuß: Die damalige Koalition in Bonn kam demgegenüber Anfang der achtziger Jahre ins Trudeln. Auch die FDP entfernte sich von der SPD. Löste das Ende der Regierung im September 1982 eher ein Gefühl der Erleichterung aus bei Ihnen, oder hat Sie das betroffen gemacht? Apel: Mich hat es sehr betroffen gemacht: nicht zuletzt deswegen, weil Herbert Wehner damals sagte - und er hat damit ja Recht behalten -, dass wir nun für 16 Jahre in der Opposition bleiben müssten. Meine Erfahrung mit diesem Mann sagte mir, dass er in seinen Prognosen eigentlich immer sehr genau war. Die Vorstellung, diese Republik anderen politischen Kräften überlassen zu müssen, war schon beängstigend. Reuß: In der Opposition waren Sie dann finanzpolitischer Sprecher der SPD- Bundestagsfraktion und damit Gegenspieler von Gerhard Stoltenberg. Hans-Jochen Vogel war der Fraktionschef der SPD: Zu ihm hatten Sie offenbar keinen sehr guten Draht. Sie sagten damals, er würde die Fraktion nach Gutsherrenart führen. Wie würden Sie denn heute Ihr Verhältnis zu ihm beschreiben? Apel: Ich denke, ich war auch ungerecht gegenüber Hans-Jochen Vogel. Heute würde ich das alles doch ein wenig nuancierter sehen. Ich sehe ihn ja hin und wieder: Es ist so, dass da zwei Menschen aufeinander treffen und trafen, die extrem unterschiedlich sind. Hans-Jochen Vogel ist strikt, genau, ordnungsliebend und jedes Wort genau abwägend. Demgegenüber bin halt ich so, wie ich bin: Ich sage auch einmal Dinge, die blöd sind und die mir dann anschließend wehtun, weil nachgekartet wird wie z. B. bei der Sache mit der Lüge auf dem Kirchentag in Frankfurt. Ich bin auch explosiv, und so ging das eben nicht so gut zusammen bei uns beiden. Das war schon so. Reuß: 1984 hat Sie die Partei erneut gerufen, wie Sie bereits angedeutet haben. Sie wurden in Berlin gebraucht als Spitzenkandidat, und Sie haben sich auch dieser Aufgabe nicht verschlossen, obwohl Sie selbst wenig an die Erfolgschancen geglaubt haben. Warum macht man so etwas, warum lässt man sich dann trotzdem einbinden? Apel: Also das war eine Mischung aus Eitelkeit und Fehleinschätzung. Es war Eitelkeit, weil ich mir gedacht habe: Mein Gott, die brauchen dich also wieder. Ich war 1982 aus dem Ministeramt ausgeschieden, und jetzt sagen sie, sie würden mich wieder brauchen. Helmut Schmidt rief mich auch an und sagte zu mir: "Das gewinnst du!" Meine Frau sagte Ähnliches. Natürlich war auch Pflichtbewusstsein mit dabei. Mich haben damals aber auch einige Berliner angerufen, die ich aufgrund meiner Bonner Arbeit sehr schätzte und die zu mir gesagt haben: "Lass bloß die Finger davon. Die Partei dort ist ein Sauhaufen. Die werden dich nur zur Sau machen." Nun ja, ich bin da hingegangen, und wenn man einmal 14 Tage dort ist und dann langsam merkt, dass das wohl eine Fehlentscheidung war, dann bleibt einem trotzdem überhaupt nichts anderes übrig, als das durchzuziehen. Ich kann mich sehr wohl an diese Nächte erinnern, die meine Frau und ich damals in Steglitz in unserer Wohnung erlebt haben. Nachts um zwei waren wir hellwach. Es ging nicht mehr, unsere Nerven, unser Gemüt: Alles war am Ende. Wir standen dann auf, haben Bier getrunken, haben uns gut zugeredet, haben Händchen gehalten, haben uns wieder ins Bett gelegt und konnten doch nicht einschlafen. Am Morgen danach musste ich dann wieder auf irgendeinem Wochenmarkt durch den Matsch stapfen, mit den Marktleuten belanglose Worte reden und bekam auch gleich wieder den nächsten Ärger, weil ich Frikadelle sagte, wo man doch in Berlin Bulette dazu sagt. Aber was hilft's? Nichts, da muss man ganz einfach durch. Da wusste ich am Wahltag ganz genau, dass es schief gehen wird. Wir beide waren dadurch sehr beschädigt, aber es musste so sein. Wissen Sie, wenn ich dann so etwas erlebe wie Lafontaine, dann bin ich nicht nur entsetzt, sondern wütend. Denn der normale Arbeitnehmer kann auch nicht sofort nach Hause laufen, wenn er in seinem Betrieb angemacht wird, und dann zu Hause zur Frau sagen: "Ich habe keine Lust mehr. Mutter, du musst mal sehen, wie du jetzt die Kröten zusammenbekommst." Er muss also auch seine Pflicht tun. Was wir von ihm erwarten, das müssen wir auch von Politikern erwarten können. Reuß: Aber diese Loyalität, die Sie gegenüber der Partei geübt haben, hat die Partei nicht unbedingt auch Ihnen gegenüber geübt. 1988, auf dem Parteitag in Münster, wurden Sie nicht mehr in den Parteivorstand gewählt. Sie haben daraus sofort die Konsequenzen gezogen, und zwar mit der Überzeugung, "dass die politische Moral und meine Selbstachtung von mir verlangen, meine Parteiämter zurückzugeben". Sie haben auch erklärt, dass Sie nicht mehr für den Bundestag kandieren werden. Ist Ihnen das nach so vielen Jahren nicht schwer gefallen? Apel: Sehr schwer. Den entscheidenden Anstoß für diesen richtigen Schritt hat meine Frau gegeben. Sie hat zu mir gesagt: "Du kannst da schon wieder hingehen. Du kannst dich zur Cornedbeef verarbeiten lassen. Aber es ist vorbei." Und so war es auch. Reuß: Sie haben in einem Artikel bereits im Jahr 1979 – da waren Sie noch Bundesminister – geschrieben: "Gnade und Barmherzigkeit gibt es in der Politik nicht. Wer strauchelt oder nicht den erwarteten Erfolg bringt, von wem nichts mehr zu erwarten ist, der wird mit Schmach bedeckt und mit Häme verfolgt." Ist es Ihnen ähnlich ergangen? Apel: Nein, eigentlich nicht, und zwar deswegen nicht, weil ich ja nirgends mehr hingegangen bin. Ich bin zwar regelmäßig nach Bonn gefahren, wie es meine Abgeordnetenpflichten erforderten. Ich bin auch in den Ausschuss gegangen, den man mir zugeteilt hatte. Ich bin auch ins Plenum zur Abstimmung gegangen, aber ich habe mich in dieser Zeit im Wesentlichen doch darauf beschränkt, Bücher zu schreiben. Ich wusste allerdings, dass das keine Perspektive sein konnte, denn schließlich konnte ich ja nicht so eine Art Polit-Konsalik werden. Aber geholfen hat mir das sehr wohl. Reuß: Gibt es nach einem solchen gravierenden Schritt eigentlich auch private und persönliche Reaktionen von politischen Freunden? Oder ist man da plötzlich ganz alleine? Apel: Nein, die gibt es schon, aber je niedriger Menschen in der Hierarchie stehen, desto mitfühlender sind sie. Ich glaube jedoch, dass das eine generelle Erfahrung ist. Unsere normalen Nachbarn sind viel mitfühlender und viel einfühlsamer als diejenigen, die die Vorturner sind. Denn diese denken doch im Wesentlichen an sich selbst. Im Übrigen glaube ich, dass ich auch so war, als ich noch Vorturner war. Deswegen habe ich auch überhaupt keinen Grund, andere zu kritisieren. Reuß: Für Sie war die Familie immer sehr wichtig: auch die wenigen Hobbys, die Sie sich doch noch gegönnt haben. Wie sehr hat Ihnen das geholfen, am Ende diesen Abschied von der Politik zu verschmerzen? Apel: Wenn ich ehrlich bin, dann muss ich sagen: Geholfen hat mir nur die deutsche Einheit, denn diese Jahre waren schon ziemlich schrecklich für mich. Aber es gab mit der Einheit eben plötzlich eine neue Herausforderung: die Uni in Rostock und die Lausitzer Braunkohle. Da konnte ich in der Tat die Politik hinter mir lassen und mich in neue Engagements einbringen. Sie haben bereits erwähnt, dass der Apel ohne Arbeit nicht leben kann: Das ist wirklich so. Reuß: Hätten Sie denn die Einheit nicht auch gerne politisch mitgestaltet? Hat es Sie am Ende doch gereut, dass Sie gesagt haben, Sie würden nicht mehr kandidieren für den Bundestag? Apel: Wenn man nicht zu den oberen fünf oder zehn gehört, insbesondere in einer Oppositionspartei, dann gestaltet man sowieso nichts mit. Da bekommt man seine Marschbefehle, da bekommt man gesagt, wie man abzustimmen hat. Mit anderen Worten: Das Gehalt stimmt, alles andere nicht. Reuß: Sie haben es schon erwähnt: Sie haben verschiedene Aufsichtsratsmandate übernommen in ostdeutschen Betrieben. Wie wurden Sie denn dort aufgenommen? Sie waren ja doch ein auch aus dem Fernsehen sehr bekannter Politiker: Wie hat man Sie aufgenommen? Apel: Ich erzähle dazu am besten eine Geschichte. Ich war in Hoyerswerda, und dort hatten wir ein ostdeutsches Mitglied in den neuen Vorstand bestellt. Er hat mich zu sich nach Hause eingeladen: Das war in Hoyerswerda im zwölften Stock, selbstverständlich im Plattenbau. Wir saßen uns da bei Rotkäppchen-Sekt eigentlich ziemlich sprachlos gegenüber. Als ich dieses Appartement wieder verließ, stand da ein alter Mann und sagte zu mir: "Sind Sie nicht der Apel? Waren Sie nicht mal Verteidigungsminister?" - "Ja", sage ich, "stimmt." - "Und was machen Sie jetzt hier?" - "Jetzt verteidige ich die Braunkohle!" Das fand er gut, und so ist es mir wirklich häufig gegangen: insbesondere dann, wenn die Leute gemerkt haben, dass ich nicht zu diesen Besserwessis gehöre, sondern mich wirklich engagiere und mich kümmere. Reuß: Wird gerade auch in den neuen Bundesländern Ihr großes politisches Wissen genutzt? Wird Ihr politischer Rat gefragt? Apel: Nein. Reuß: Worauf führen Sie das zurück? Apel: Glauben Sie wirklich, dass es Politiker gibt, die meinen, einen Rat zu brauchen? Die Politiker tun doch nur so. Natürlich fahren sie zu Helmut Schmidt: aber doch nicht, um Rat zu holen, sondern um damit angeben zu können, dass sie bei ihm waren. Reuß: Richard von Weizsäcker hat einmal gesagt: "Zwischen der Macht der Parteien im Staat einerseits und ihrer Befähigung zur Lösung der Probleme andererseits hat sich eine breite Kluft aufgetan." Sehen Sie das auch so? Apel: Das sehe ich genauso. Das hängt aber im Wesentlichen damit zusammen, dass sich die Parteien, genauer gesagt die Spitzen der Parteien, nicht genügend vorbereiten. Nachdem die Bundesregierung, die wir derzeit haben, die Wahlen gewonnen hatte, wurden dort die Programmschubladen geöffnet: Darin fanden sich aber nur ein paar tote Fliegen. Entsprechend war das Ergebnis: chaotisch, unverständlich, immer wieder korrigierend. Wenn die Parteien ihren Sachverstand jedoch nutzen, wenn sie sich sehr gut vorbereiten, dann sind sie sehr wohl in der Lage, diese Lücke zu schließen, von der von Weizsäcker gesprochen hat. Aber sie machen das nicht: Sie machen Show anstelle von Politik. Reuß: Sie haben es schon gesagt: Die Parteien haben sich verändert. Stimmt denn auch der Satz von Weizsäcker, dass die Parteien machtversessen und machtvergessen seien? Apel: Dass sie machtversessen sind, halte ich für ganz normal. Sie sind ja dafür angetreten, Wahlen auch zu gewinnen. Aber da gehört es eben auch mit dazu, dass sie die Konditionen beherzigen, die die Voraussetzungen der Machtausübung darstellen, nämlich programmatische Arbeit zu leisten, die Wahrheit zu sagen und stehen bleiben zu können, wenn es um klar erkannte Perspektiven geht. Reuß: Gibt es denn noch etwas, was Hans Apel gerne tun würde? Haben Sie noch einen Wunsch, den Sie sich erfüllen möchten? Apel: Ja. Ich habe nun in meinem Leben zehn Bücher geschrieben. Das letzte davon ist gerade fertig geworden. Ich möchte eigentlich noch ein elftes Buch schreiben. Ich trau mich aber nicht. Denn ich möchte etwas über den Bezug der Religionen zueinander schreiben. Ich habe mich ein Jahr mit dem Hinduismus auseinandergesetzt: Wir waren im Februar 1999 einen Monat lang in Indien. Ich bin im Moment beim Buddhismus, und deswegen gehen wir im Januar auch für einen Monat nach Burma und nach Thailand. Aber eigentlich trau ich mich nicht, dieses Buch zu schreiben: Ich glaube, ich kann das nicht. Ich werde es aber auf jeden Fall versuchen. Reuß: Wir würden uns jedenfalls darauf freuen. Unsere Zeit geht leider zu Ende, ich darf mich bei Ihnen, Herr Professor Apel, für Ihr Kommen und für das sehr angenehme Gespräche herzlich bedanken. Ich möchte gerne mit einem Zitat aus dem Magazin "Der Spiegel" über Sie schließen: "Aktionismus und Puritanismus, das sind die entscheidenden Elemente der Karriere von Hans Apel. Er ist ein Mensch, der eitle Menschen verachtet, jeden gehobenen Konsum scheut, der schwerlich fremdgeht, der nicht trinkt, Zigarren mehr aus Nervosität als um des Genusses willen raucht, der überhaupt so lebt, als müsse er irgendeiner Unterprima tagtäglich Modell stehen für den unvermeidlichen deutschen Aufsatz über die Freuden der Pflicht, und der das auch noch lustig findet, jedenfalls nicht lästig, sondern eben als normal." Noch einmal herzlichen Dank, Herr Professor Apel. Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, das war Alpha-Forum, heute mit Professor Hans Apel, dem ehemaligen Bundesminister und heutigen Professor an der Universität in Rostock. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen, auf Wiedersehen.

© Bayerischer Rundfunk