Unbekannt und übersehen Ein Schickardtbau im ehemals herzoglichen Schloss in Neuenstadt am

In der Burgen- und Schlösserlandschaft Baden-Württembergs ist das ehemals herzogliche Schloss in Neuenstadt am Kocher nur wenig bekannt. Im Vorfeld einer zurzeit angedachten Umnutzung von zwei der ehemals sechs herrschaft- lichen Bauten fanden in den letzten Jahren umfangreiche bauhistorische Untersuchungen statt, die nunmehr für den sogenannten Türnitzbau neue Erkenntnisse und neue Fragen zur Urheberschaft des ihm zugrunde liegenden Entwurfs erbracht haben.

Gerd Schäfer

Unter dem Titel „Denkwürdigkeiten der herzog- und besteht heute noch aus vier von einstmals lich württembergischen Stadt Neuenstadt“, einer sechs herrschaftlichen Bauten. Um 1825 wurden Art handschriftlicher Dokumentation einer Stadt- zwei Gebäude, das sogenannte „Steinhaus“ und führung, hat der Neuenstadter Diakon Philipp das unter den Württembergern errichtete Amts- Christoph Gratianus im Februar 1782 neben den haus auf Drängen der Stadt abgebrochen. Die frei- Sehenswürdigkeiten des Städtchens auch einige werdende Fläche wollte die Stadt für einen neuen Anmerkungen zum dortigen Schloss und zu des- Marktplatz innerhalb der Altstadt gewinnen. sen Entstehung festgehalten. Er schreibt, dass das Die vier noch vorhandenen Schlossgebäude werden Schloss im Jahr 1560 unter Herzog Christoph von volksmündlich bezeichnet mit „Prinzessinnen bau“ Württemberg (1515– 1568) errichtet worden sei. und daran angefügtem „Langen Bau“, (in den Akten In den folgenden Jahrhunderten übernahmen die ab dem beginnenden 17. Jahrhundert wird dieser nachfolgenden Stadtchronisten diese Information Komplex als das „Alte Schloss“ bezeichnet). Der weitgehend kritiklos. einstige Marstall wird seit dem 19. Jahrhundert als Die Schlossanlage Neuenstadt steht am höchsten „Forstamt“ bezeichnet, der nachfolgend näher be- Punkt der im 14. Jahrhundert entstandenen Stadt trachtete Türnitzbau (Abb. 1) als „Neues Schloss“.

1 Marktplatzansicht des Türnitzbaus 2013. Die schmucklosen Fenster- gewände der beiden Obergeschosse entstan- den nach 1840, jene im Erdgeschoss, rechts des Hauseinganges, um 1865 mit dem Einbau einer Poststation. Die beiden Garagentore wurden 1926 eingebrochen, an- stelle bauzeitlicher Re- naissancegewände. Die kleinen Gewände über den Toren belichten ein Zwischengeschoss über gewölbten Kammern. Der ursprüngliche Nebenein- gang wurde 1844 mit dem Einbau des heute erhaltenen Elementes zur Hauseingangstür.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 4 | 2019 269 2 Freilage des Marktplat- Zufallsfunde bei der Marktplatz- ten, ein- bis dreigeschossigen Bauten; gruppiert zes 2013. Blick aus dem erneuerung um schmale Hofflächen. Drei Gebäude waren 2.OG des Türnitzbaus ganz aus Stein errichtet, die drei anderen ab dem während der Freilage des Bei der Erneuerung der Marktplatzoberflächen 1.Obergeschoss mit Fachwerkaufbauten gestaltet. Marktplatzes brach im Sommer 2013 ein Bagger in einen Hohl- In einer 1819 durch den Neuenstadter Werkmeis- raum ein. Hieraus ergab sich die Gelegenheit zur ter Gross entstandenen Grundrissaufnahme wer- Dokumentation von noch vorhandenen Kelleran- den alle Einzelbauten des Ensembles dargestellt lagen und Fundamenten der beiden 1826 an der (Abb. 3). Die beiden dort gelb angelegten Ge- Stelle des heutigen Marktplatzes abgebrochenen bäude (Amtshaus und Steinhaus) waren damals Gebäude (Abb. 2). Wertvolle Informationen zu zum Abbruch bestimmt, was zur Folge hatte, dass Typologien und Entstehungszeiten der Ensemble- der Türnitzbau an seiner Südseite freigestellt bestandteile ergänzten fortan das schärfer wer- wurde und seither vom neu entstandenen Markt- dende Gesamtbild. platz her einsehbar ist. Das Ensemble erstreckt sich auf rund 100 m Länge entlang der Talkante zum Kochergrund hin und Dendrochronologie und alte Akten dehnte sich in die Stadtfläche hinein auf einer Breite von rund 50 m bis an die Hauptstraße aus. Im Vorfeld einer Umnutzungsplanung des Tür- In ihrer Blütezeit bestand die Schlossanlage aus nitzbaus und des Forstamts, wurden zwischen mehreren dicht auf einer engen Fläche gedräng- 2012 und 2018 umfangreiche bauhistorische Un -

3 Bauaufnahme 1819 von Werkmeister Gross.

270 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 4 | 2019 tersuchungen durchgeführt. Durch eine Untersu- Eines der Blätter (Abb. 4) zeigt die Grundrisse chung der Decken und Dachwerke ließen sich die zweier bislang durch die Schickhardt-Forschung Fälldaten der Bauhölzer (alle als Floßholz) für den nicht eindeutig identifizierter Bauten. Die mit Türnitzbau dendrochronologisch auf die Jahre württembergischem Fuß und Zoll verzeichneten 1603 und 1604 datieren. Maßangaben der Grundrissdarstellung auf der lin- Mit diesem Ergebnis fällt die Errichtung des Ge- ken Blattpartie sind mit den heutigen Abmessun- bäudes in die Zeit von Herzog Friedrich I. von Würt- gen des Türnitzbau-Erdgeschosses übereinzubrin- temberg (1557– 1608) und in die Schaffenszeit des gen. Die rechts auf diesem Blatt abgebildete Bau- herzoglich-württembergischen Landbaumeisters struktur konnte mit dem 2013 dokumentierten Heinrich Schickhardt (1558– 1635). Die Datierung Grundriss als die maßhaltige Darstellung jenes des Bauholzes und der Fund einer Schriftquelle ursprünglich dicht vor dem Türnitzbau stehenden lässt die bisher vielfach zitierte Angabe der Ent- und 1826 abgebrochenen Steinhauses aus der stehungszeit des Türnitzbaus mit „erbaut 1559– zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erkannt 65 unter Herzog Christof“ letztlich hinfällig wer- werden. den. Denn wir wissen nun auch, dass Herzog Fried- rich I. erst am 27. Juli 1606 den Vorgängerbau des Historische Bauaufnahme und Türnitzbaus, namentlich das „alte Bandhaus zur aktueller Befund Erbauung des neuen Schlosses“ käuflich erworben hatte. Dieses neue Wissen um den Türnitzbau in- In der erhaltenen Bauaufnahme von 1819 wird an tensivierte die Suche nach weiteren Schriftquel- der Fuge zwischen Steinhaus und Türnitzbau ein len zu diesem Bauwerk in den staatlichen Archiven. „Schnecken“-Treppenhaus in einer rechteckigen Neben der bereits genannten historischen Bau- Baustruktur dargestellt. Von diesem 1826 abge- aufnahme von 1819 fanden sich im Nachlass von brochenen Treppenhaus fanden sich 2013 in drei Heinrich Schickhardt zwei bemerkenswerte Skiz- Meter Tiefe unter dem Marktplatz noch original zenblätter, die konkreten Anlass zur Hypothese sei- versetzte Wendelsteine und ein Türgewände aus ner Urheberschaft an diesem Bauwerk gaben. Die der Zeit um 1600. Am Türnitzbau sind die zuge- Frage nach dem „geistigen Vater“ des Türnitzbaus mauerten Türanbindungen in dieses Treppenhaus stand nun im Focus. gut zu erkennen, nur in den sehr detailliert gefer- tigten Skizzen Schickhardts findet sich keine Spur Ein Modell, Heinrich Schickhardt von dieser Treppenanlage; weder in der Darstel- 4 Links unten die Auf- und das Schloss in Neuenstadt lung des Bandhauses, noch in jener des Steinhau- nahme des Erdgeschosses ses. zum späteren Türnitzbau. Der rechts abgebildete In seinem zwischen 1630 und 1632 verfassten „In- Hinsichtlich der ansonsten maßhaltigen Stimmig- Grundriss konnte 2013 ventarium“ nennt Heinrich Schickhardt unter der keit der detaillierten Skizzen im Vergleich mit den während der Freilage des Rubrik „in volgenden Schlössern viel gebaut und realen Bauwerken kann hieraus geschlossen wer- Marktplatzes mit dem in etlichen große Hauptgebey gethon“ auch Neu- den, dass es sich bei den Skizzen um eine Be- vorgefundenen Bestand enstadt. Damit ist bereits ein stichhaltiger Nach- standsaufnahme der um 1600 am Platz vorhan- des Steinhauses identifi- weis vorgelegt, dass er dort einen „Hauptbau“ er- denen Gebäudezustände handeln muss. ziert werden. richtet hat. Wie aus der jüngsten Bauforschung be- kannt wurde, sind alle anderen Elemente des Schlossensembles vor oder nach Schickhardts Wir- kenszeit errichtet worden. Es kommt also nur der Türnitzbau für diese Zeitstellung in Frage. Mit der gesicherten Datierung des Haues lässt sich eine Rechnung des Stuttgarter Hofschreiners Se- bastian Rottenburger von 1603 verknüpfen, über den Lohn für die Herstellung einer Visierung für den „Neuen Bau zu Neuenstadt“. Vermutlich ist damit ein Architekturmodell gemeint. Wenn 1603 ein Modell des Hauses entstand, musste die dafür erforderlich Vorarbeit wohl bereits seit längerer Zeit im Gange sein. Unklar ist bisher die Frage nach der entwurflichen Urheberschaft des verantwort- lichen Baumeisters. Starke Hinweise auf Heinrich Schickhardt liefern in dieser Frage zwei handschriftlich verfasste, mit ver- maßten Skizzen versehene Blätter aus seinem Nachlass.

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 4 | 2019 271 Das Bandhaus in der Skizze kann damit als Vor- sein. Diese These wird durch zwei Beobachtungen gängerbau des Türnitzbaus identifiziert werden, untermauert: Wesentliche Teile der vorhandenen womit der Befund älterer Mauerpartien und Außenwände des Erdgeschosses wurden aus Kalk- andersartigen Baumaterials in einigen Teilen der bruch gemauert, die Obergeschosse und Giebel Türnitzbau-Außenwände ebenfalls eine Erklärung des Hauses indessen bestehen aus Sandsteinbruch erhält. Zudem ist der Gewölbekeller unter dem und Werkstein. Die sehr wahrscheinlich vom Vor- Türnitzbau noch aus dieser Vorgängerbebauung gängerbau, in den neu aufgebauten Türnitzbau erhalten. übernommenen Außenwände im Erdgeschoss er- Die „Schnecke“, wie man um 1600 steinerne Spin- hielten nach 1606 durch die neuen Funktionsan- deltreppen nannte, wurde 1606/07 an der Schloss- forderungen an das Gebäude größere Fensteröff- hofseite vor den beiden eng nebeneinander ste- nungen, was durch Aufweitung bestehender henden Häusern so platziert, dass sie die schmale Wandöffnungen geschehen konnte. Das große Tor Fuge zwischen Türnitzbau und Steinhaus ver- an der Westseite entstand anstelle einstmals klei- deckte und beide Häuser gemeinsam vom Keller nerer Wandöffnungen. des Steinhauses bis unter das Dach des Türnitz- Die Aufnahmeskizzen Schickhardts sind daher sehr baues erschließen konnte. Wäre diese wichtige wahrscheinlich als Grundlagenpapier für die ge- 5 Skizze eines Hauses und bis 1825 einzige Erschließungstreppe der plante Neuordnung der Schlossanlage in den Jah- mit Strebepfeiler – An- beiden Gebäude zum Zeitpunkt der Schickhardt’ ren vor 1603 in Neuenstadt vor Ort aufgenommen sicht eines Vorgänger- schen Skizzenerstellung vorhanden gewesen, worden. Vermutlich, damit der Entwurfsverfasser baus zum nach dendro- wäre anzunehmen, dass der Verfasser jener sehr anschließend einen Entwurf zur Verwendung des chronologischer Datie- rung 1675 entstandenen detaillierten Zeichnung dieses wichtige Erschlie- aufgenommenen Bestandes erstellen konnte, wel- Marstall (heute Forstamt ßungsdetail und die anbindenden Türen sicherlich chen der Hofschreiner Rottenburger dann in sei- genannt). Die Datierung mit aufgenommen hätte. ner 1603 abgerechneten „Visierung“ umsetzte. „1617“ wurde im 20. Jahr - Die Schickhardt-Zeichnung muss demnach die Do- Dasselbe dürfte für die Schickhardt zugeordnete hundert eingefügt. kumentation eines vorgefundenen Baubestandes Perspektivdarstellung der Nordseite eines Vorgän- gerbaus, des Marstalls (heute „Forstamt“), in des- sen damaligem Bauzustand gelten (Abb. 5). Neben verschiedenen Merknotizen und Skizzen zum Schlossumfeld ist auf diesem Blatt auch noch eine weitere als Beleg für die Planungsarbeit interes- sante Besonderheit zu finden.

Eine Nebenkostennotiz um 1600

Links über der Schickhardt zugeschriebenen Skizze (Abb. 7) eines Hauses mit einem mächtigen Stre- bepfeiler findet sich ein möglicher Hinweis auf die Arbeitsplanung eines reisenden Baumeisters. Eine dort aufgezeichnete Routenplanung für die An- reise, betitelt mit „Rais von Studgart nach Neuen- statt“ nennt alle auf diesem Weg zu passierenden Orte der rund 70 Km langen Strecke und zählt zu- sätzlich die dafür erforderliche Zeit mit „10 Stund“ auf, was als mögliche Kalkulationsinformation ei- nes erforderlichen Reiseaufwandes für dieses Bau- projekt gelesen werden kann. Die Angaben zur Rei- seroute und der dafür benötigten Zeit deuten auf das vermutlich schon damals erforderliche Sam- meln notwendiger Nachweise von „Nebenkosten“ hin, damit der für die Planungsarbeit an einem Bau- projekt erforderliche zeitliche und monetäre Auf- wand korrekt angesetzt und abgerechnet werden konnte. Und damit in der herrschaftlichen „Bau- meisterei“ auch zeitplanerisch und kalkulatorisch geplant werden konnte. Aus der Summe der Beobachtungen kann gefol- gert werden, dass die beiden vorgestellten Blätter im Staatsarchiv aus der Planungsphase des Tür-

272 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 4 | 2019 richtet worden ist. Die oben bereits erwähnte Grund- 6 Das aktuelle Foto zeigt rissskizze des „Bandhauses“, des Türnitzbau-Vor- die Rückseite des ehe - gängers, zeigt zwar dessen heutige Abmessungen, maligen Marstalls (Forst- enthält an der Südwestpartie aber weder das dort amtes) mit Strebepfeiler. nach 1606 in die Westwand eingesetzte große Tor, noch die heute vorhandenen drei gewölbten Kam- mern. Die von diesen Kammern eingenommene Fläche ist jene, die vom Herzog Friedrich I. eben- falls 1606 nach historischen Akten vom Stadt- schreiber Hermelin erworben wurden. Mit dieser Information erklärt sich eine weitere, 2013 erst erkannte Besonderheit: An der Südwest - ecke des Türnitzbau ist eine zweiflügelige Tür zu einem Kellerzugang eingefügt, welche nicht in den Untergrund des Türnitzbaus führt, sondern über eine viertels-gewendelte Kellertreppe und einen daran anschließenden Gang unter dem frü- heren Hof hindurch zum abgebrochenen Gewöl- beraum unter dem einst benachbarten ehemali- gen Amtshaus. Das Amtshaus besaß keinen inter- nen Zugang zu diesem Keller. Dessen kuriose Zuwegung aus dem Nachbargebäude wird erst mit der Kenntnis verständlich, dass der westlich be- nachbarte Marstall rund 70 Jahre nach dem Tür- nitzbau entstanden ist und auch seine Baufläche einst mit anderen Bauten besetzt war. Augen- scheinlich erhielt ein fremder Eigentümer mit die- nitzbau-Projektes in Neuenstadt stammen dürften. sem exklusiven Kellerzugang das Nutzrecht für den Ob sie tatsächlich mit der Planung des Türnitzbaus unter dem Amtshaus gelegenen Keller, dessen zusammenhängen, lässt sich mangels einer un- ebenfalls 2013 entdeckter, ursprünglicher Außen- mittelbar angegebenen Sach- oder Ortszuweisung zugang vom „Amteyhof“ her für diese Neuanbin- zwar nicht ganz gesichert belegen, ist aber vor dung aufgegeben und zugeschüttet wurde. Viel- dem Hintergrund ihrer Inhalte und der aktuellen leicht war es der Ersatzkeller für jenen, den der Aktenlage schlüssig. Stadtschreiber für das Neue Schloss abgeben musste. Auch solche Lösungen sind Aufgaben ei- Einbeziehung vorhandener Bausubstanz – nes findigen Planers. Die Mitverwendung vorhan- eine Schickhardt-Spezialität? dener Bausubstanz und die Lösung begleitender Probleme zeigt auch ein anderes Schickhardt-Bau- Der Türnitzbau steht über einer älteren Kelleran- werk, das Schloss in Backnang, wo ebenfalls Vor- 7 Ausschnitt aus Abbil- lage, deren Ausrichtung mit dem darüber aufge- gängerbauten in einem Neubau aufgingen. dung 5 mit Reisenotiz: henden Bauwerk wenig zu tun hat. Als Herzog Friedrich I. von Württemberg das Baugelände 1606 „Rais von Studgard erwarb, war diese Kelleranlage vermutlich bereits nach Neuenstatt um die 250 Jahre alt. Sie besteht aus zwei Kellern. Zufenhausen (Zuffenhausen) Der größere ist mit 9 × 21 m zirka 190 qm groß Kornwesten (Kornwestheim) und mit einem Tonnengewölbe aus Kalkbruchstein Beiingen (Beihingen) Bleidelsen (Pleidesheim) in Ost-West-Ausrichtung überdeckt. Dieser knapp Mundeslen (Mundelsheim) 4 Meter hohe Raum liegt um zirka 10 Grad ver- Otmarsheim (Ottmarsheim) dreht unter dem darüberstehenden Erdgeschoss Kaltenwesten () des Türnitzbau, was gegen eine gemeinsame Ent- Lanturn (Landturm südl von Talheim) stehungszeit der beiden Gebäudeebenen spricht. (t)Halheim (Talheim) Auch der kleinere, unmittelbar westlich an den gro- Halbrunn () ßen Keller angefügte Gewölberaum (mit 6 × 6,5 m zirka 39 qm groß) stammt aus einer Vorgänger- Neuenstatt bebauung. An seiner Westseite findet sich eine um- Summe 10 Stund“ gebaute Erschließung vom Hof vor dem Marstall Vermutlich eine Routenplanung oder ein Reise - her, die mit der Neuerrichtung des Türnitzbau sym- nachweis? metrisch auf dessen Erdgeschossfassade ausge-

Denkmalpflege in Baden-Württemberg 4 | 2019 273 8 An der prominenten Hangkante des mit dem Württembergischen Schlossareal bebauten Burgrückens in der Alt- stadt von Montbéliard (Freigrafschaft Burgund) erhebt sich der von Schick hardt 1596– 1598 für Herzog Friedrich I von Württemberg erbaute so- genannte Kavalliersbau, heute Maison du Bailli ge- nannt. Er ähnelt in Lage und Gestalt dem wenige Jahre später entstande- nen Neuenstadter Tür- nitzbau in verblüffender Weise.

Türnitzbau in Neuenstadt allerdings bereits 1674 Ein Vorbild für den Türnitzbau? durch den quer vor den Westgiebel gestellten, zu- nächst eingeschossigen Marstall, stark beein- Ein wenig erinnert der Neuenstadter Türnitzbau trächtigt. Als die Herzöge von Württemberg-Neu- mit seinen Fassadenansichten an das „Kavaliers- enstadt den Marstall nach dendrochronologischer gebäude“ im Schlossareal des einstmals würt- Datierung 1709/10 dann noch um zwei Fachwerk- tembergischen Schlosses in Mömpelgard (heute etagen aufstockten, verschwand der mar kante Gie- Glossar Montbéliard, Franche-Comté, Frankreich). Es liegt bel des Türnitzbaus aus der Wahrnehmung des sogar nahe, dass der heute „Maison du Bailli“ Stadtbildes. Bandhaus (Abb. 8) genannte Bau in der Geburtsstadt Herzog Gebäude, in welchem die Friedrichs I. von Württemberg das Vorbild für den Vom Schlossbau zum unattraktiven Fässer gebunden wurden; Türnitzbau in Neuenstadt gewesen sein könnte. Zweckbau herrschaftliche Küferei/ Büttnerei. Heinrich Schickhardt hat in den 1590igern einige Jahre in einem Zweitwohnsitz in Montbéliard ge- Nach den Reduktionen und Fassadenentstellun- Gesprengter Giebel lebt und in dieser Region zahlreiche bemerkens- gen des 19. Jahrhunderts an der marktplatzseiti- Giebelgestaltung mit De- werte Bauten geschaffen; eben auch das Maison gen Fassadenseite, der heutigen Hauptansicht des korelementen. Die beiden du Bailli (fertiggestellt 1598). Türnitzbau, wirkt dessen Stadtansicht heute trost- aufstrebenden Seiten des Der prägende, am Maison du Bailli noch erhaltene los und unscheinbar. Die gestalterisch und bau - Giebeldreiecks enden nach Volutengiebel fehlt heute in Neuenstadt. Lediglich typologisch wichtigen, die Fassade gliedernden zirka 2/3 ihrer Höhe, sie eine kleine Partie des einst reich geschmückten Etagengesimse sind abgeschlagen, die gekoppel- sind „gesprengt“ und wer- den von einer, in ihre Mitte Westgiebels, in Form eines gesprengten Giebel - ten Fenstergewände sind in der Zeit der Nutzung gestellten Zierform (Vase, aufsatzes und zwei kleiner, typischer „Rudervolu- als Kameral- und Finanzamt durch schmucklose Pyramide, o.Ä.) überhöht. ten“, sind noch zu erkennen. Die Stellung des „Ka- Einzelgewände ersetzt worden. Die marktplatz- valiersbau“ an einer Hangkante des Schlosshügels seitige Fassade ist mit einer Oberflächenstruktur Türnitz im einst an Gewässern reichen Montbéliard hat der 1950er Jahre überputzt. Und wegen des mit Auch Dürnitz (beide den Planer vielleicht zur gleichartigen Positionie- knapp fünf Meter Abstand (Abb. 10) sehr dicht da- Schreibweisen sind ge- rung des Neuenstadter Türnitzbaus an der Hang- nebenstehenden Marstalls, dem heutigen Forst- bräuchlich) – aus dem Sla- kante des Kochertals motiviert. amt, erfahren die am Westgiebel noch umfänglich wischen; gemeint ist ur- Mit den ausschweifend dekorativen Giebelaufbau- erhalten Gliederungselemente nur wenig Beach- sprünglich „die Stube, in der die Herrschaft zusam- ten wirkten beide Gebäude wie Bekrönungen über tung. Als Fassade eines Renaissanceschlosses kann men mit dem Gesinde den jeweils nachbarschaftlichen Bebauungen. Diese man diese Fassade schon lange nicht mehr wahr- speist“ besondere städtebauliche Wirkung wurde beim nehmen.

274 Denkmalpflege in Baden-Württemberg 4 | 2019 Fazit

Mit den jüngsten Erkenntnissen zur Schlossbau- geschichte in Neuenstadt soll auf die besondere historische Bedeutung des Neuenstadter Schloss- ensembles hingewiesen werden. Daneben ist die interessierte Schickhardt-Forschung nun zu weiteren Beiträgen aufgefordert. Im Zusammen- wirken der Experten kann es gelingen, ein ver- gessenes Schloss im Kochertal zukünftig in das ihm gebührende Licht zu rücken, denn die große Aus- stellung von 1999 zum „schwäbischen Leonardo“ hat in ihrem umfangreichen Dokumentationsband das Neuenstadter Schloss und die Arbeiten Schick - hardts im Schlossareal und im dortigen Hofgarten 9 Vorstellung des Neu- lediglich spärlich erwähnt. Der 1606– 1608 ent- enstadter Schlossensem- bles vor 1825 (Rekon- struktionsskizze der Bau- körper nach Auswertung standene Türnitzbau und Schickhardts Wirken im historischer Akten und einstigen Hofgarten sind dabei nicht eindeutig als Maßangaben in histori- Meisterwerk gewürdigt worden. Seit 2004 ist die schen Plänen). Der Tür- „Heinrich-Schickhardt-Kulturstraße des Europa - nitzbau entstand 1606 rates“ eingerichtet. Sie führt von Montbéliard im bis 1608 mit geringem Süden über viele elsässische und südwestdeutsche Abstand hinter dem Steinhaus (15. Jahrhun- Stationen und endet im Norden bislang in Back- dert) und dem Amtshaus nang. Neuenstadt wurde hier schlichtweg ver - (1534). Als diese 1825/26 gessen. abgebrochen waren, lag Der kulturhistorische Wert des Türnitzbaus und der die einstige Hinterhoffas- Neuenstadter Schlossanlage als noch vorhandenes sade des Türnitzbau am Bauensemble aus der württembergischen Renais- neu geschaffenen Markt- sance ist allgemein noch nicht ausreichend er- platz. kannt. Die bereits vorhandenen Funde und die Er- gebnisse der Bauforschung geben genug Anlass, dieses Bauensemble weiter zu erforschen und seine zukünftige Nutzung als öffentlich zugängli- 10 Der geringe Abstand ches Gebäude behutsam auf den Weg zu bringen. zwischen Türnitzbau (rechts) und Forstamt Gerd Schäfer (links) nimmt dem Tür- Freier Bauhistoriker nitzbau seine einstmals Büro für historische Bauforschung beabsichtigte Wirkung als und Stadtsanierung „Krone über der Stadt“.

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