Kultur SÜDDEUTSCHER VERLAG SÜDDEUTSCHER Volksgerichtshof-Präsident Freisler (M.), Angeklagter Hans Georg Klamroth (1944): „Mit-Wisser, nicht Mit-Täter“

Nachlass sichten: eine ungewöhnliche Fül- ZEITGESCHICHTE le von Tagebüchern, Briefen, Ahnentafeln, Dokumenten aller Art. In ihrer weit ver- zweigten Verwandtschaft bat sie um zusätz- „So unendlich verloren“ liches Material. Hauptsächlich aus diesen Dokumenten Sie war die erste prominente Nachrichten-Frau beim ZDF. Nun hat setzt die Autorin nun das Bild ihrer Fami- lie und die Konturen ihres Vaters zusam- Wibke Bruhns ein faszinierendes Buch über ihren Vater men – und aus ihren Vermutungen und geschrieben, der 1944 von den Nazis zum Tode verurteilt wurde. Kommentaren. Bruhns holt weit, sehr weit aus. ie Reporterin kommt, irgendwann Die Klamroths, eine angesehene und im Jahr 1979, von einer anstren- wohlhabende Kaufmannssippe aus Halber- Dgenden Reise aus Israel in ihre stadt im Harzvorland, sind stolz auf eine Hamburger Wohnung zurück. Die 40-Jäh- lange Tradition. Die Firma handelt mit rige kann nicht schlafen. Nachts gießt sie Saatgut und anderen Waren – zuletzt sehr sich einen Whisky ein und schiebt eine erfolgreich mit Kunstdünger. Videokassette in ihren Recorder. Sie sieht Bruhns rekapituliert den Aufstieg ihrer einen Bericht über die Prozesse vor dem Vorfahren. Sie zeichnet die Biografien von Berliner Volksgerichtshof 1944. Es sind die Urgroßvater, Großvater und Vater nach Verhandlungen gegen die Attentäter vom und beschreibt auch ausführlich die Fami- 20. Juli um Claus Schenk Graf von Stauf- lie ihrer Mutter Else. fenberg, der mit einer Bombe versucht hat- Ihren Vater Hans Georg, den Wibke te, in dessen ostpreußischem Bruhns nur noch „HG“ nennt, schildert Hauptquartier, der Wolfschanze, zu töten. die Autorin als schwierigen Charakter. Er Das Attentat schlug fehl, Hitler überlebte, ist scheu, gefallsüchtig, intelligent, und er

und die meisten Widerständler und Mit- MARK OLIVER erfindet Lügenmärchen, mit denen er an- wisser wurden verhaftet. Die meisten Ange- Autorin Bruhns deren offenbar imponieren will. hörigen kamen in Sippenhaft. „Du hast den Blutzoll bezahlt“ Er ist so kaisertreu wie sein Vater. Nach- Wer von den Verschwörern wie etwa dem der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist, Stauffenberg nicht gleich standrechtlich die „diffuse Familien-Übereinkunft des brennt der Gymnasiast darauf, endlich erschossen wurde, musste sich vor dem Nicht-Redens“ immer fremd geblieben ist: „felddiensttauglich“ geschrieben zu wer- Volksgerichtshof und dessen geiferndem „Meines Vaters Land – Geschichte einer den. Er rückt ein, steigt zum Offizier auf Präsidenten Roland Freisler verantworten. deutschen Familie“ ist eine faszinierende und erleidet im April 1918 ein lebenslanges Plötzlich sieht die Reporterin auf dem Mischung aus privater Chronik, zeitge- Trauma. Bei einer Patrouille im Baltikum historischen Filmmaterial von 1944 ihren schichtlichem Report und persönlicher erschießt Hans Georg Klamroth in Notwehr Vater. Er gehörte zu den Angeklagten und Identitätssuche*. Es ist der Versuch, den einen der angetrunkenen deutschen Infan- wurde in einem Schauprozess zum Tode fremden Mann, den Vater, der immer nur teristen, die in einem Dorf gestohlen hatten. verurteilt. eine Leerstelle im Leben war, nachträglich HG fürchtet, vor ein Kriegsgericht ge- Die Reporterin ist Wibke Bruhns, 1971 kennen zu lernen. stellt zu werden. Dazu kommt es nicht. die erste Nachrichten-Frau beim ZDF und Bruhns sucht seit 25 Jahren nach der Aber die Bilder seiner Tat gehen ihm nicht spätere „Stern“-Journalistin. Ihr Vater ist Wahrheit über ihren Vater, seit jener mehr aus dem Kopf. Er hat Schuldgefühle. Hans Georg Klamroth. Er wurde elf lange Nacht, in der sie ihn auf dem Video sah, Auch noch lange nach dem Krieg. Tage nach der Urteilsverkündung in der wo er „so unendlich traurig und verlo- Selbst nach seiner Hochzeit mit Else, der Haftanstalt Plötzensee gehängt. Da war ren“ wirkte. Erst nach dem Tod ihrer Mut- Tochter eines reichen Unternehmers aus seine Tochter Wibke knapp sechs Jahre alt. ter 1987 konnte sie deren umfangreichen Wismar. Das junge Paar, das nun in Halber- Jetzt, mit 65, hat sie über den Vater ein stadt lebt und fünf Kinder bekommen soll- Buch geschrieben, in dem sie versucht, te, hatte, wie Tochter Wibke, die jüngste, * Wibke Bruhns: „Meines Vaters Land – Geschichte einer ihn sich „zurechtzulegen“, den Mann, deutschen Familie“. Econ Verlag, München; 396 Seiten; 22 nach Jahrzehnten noch von Zeitzeugen über den sie „nichts“ weiß, der ihr durch Euro. hört, eine ungemein fesselnde Ausstrah-

148 der spiegel 8/2004 Kultur lung. Die beiden sind sehr beliebt: witzig, Im Krieg schickt das Oberkommando warmherzig, weltgewandt. der Wehrmacht HG 1940 nach Dänemark. Aber es passieren in jener Zeit auch Ge- Er, der Sprachen so leicht lernt, kann Dä- schichten, die Tochter Wibke nachträglich nisch und hat viele Freunde und Verwandte gar nicht gefallen. Immer wieder fällt sie im Land. Seine Schwiegermutter ist Dä- ihrer eigenen Erzählung ins Wort, fällt nin. HG wird Offizier der Abwehr. Dann Moralurteile und beschreibt ihre zwiespäl- wird er nach Russland versetzt. Schließ- tigen Gefühle beim Schreiben: „Ich erzäh- lich, 1943, nach , wo er im „Amt Aus- le die Geschichte nicht gern“, heißt es land/Abwehr III“ im Oberkommando der plötzlich. „Sie macht mich traurig.“ Wehrmacht arbeitet. Er überwacht dort, Und es ist in der Tat nicht lustig, in den glaubt Bruhns, „Personalien und Geheim- Tagebüchern der Eltern zu lesen, dass sie schutz des Heereswaffenamtes, das zu- zeitweise in einer merkwürdigen sexuellen ständig ist für moderne Waffenentwick- Ménage à quatre gelebt haben. Ein Halber- lung von der Atomforschung bis zur Ra- städter Ehepaar, Cläreliese und Helmuth ketenrüstung“. Hinrichs, unterhalten nicht nur gesell- Inzwischen hat HGs Vetter zweiten Gra- schaftliche Beziehungen zu den Klamroths. des, Bernhard Klamroth, HGs Tochter Ur- Die Ehepaare haben über Kreuz Sex miteinander. Aber wie um an der Konvention festzuhalten, spie- len die vier auch noch Bridge mit- einander – sooft es geht. Bridge und Bett. HG nennt seine Ge- liebte Cläreliese schließlich sogar „meine kleine Vize-Frau“. Selbst als das komplizierte Quartett zerbricht, herrscht im Hause Klamroth keineswegs wie- der altdeutsches Familienglück. HG betrügt seine Frau mit einer Vielzahl von Geliebten. Immer und überall. Er konsumiert sie „wie Drogen“ (Bruhns). Manche Damen werden sogar nach Hal- berstadt geladen – und Else Klamroth bewirtet sie. Die Ehe wird, trotz vieler Ver- Vater Klamroth, Tochter Wibke (1939): Leerstelle im Leben söhnungen, immer brüchiger. Else und HG versinken allmählich aber sula geheiratet. Bernhard Klamroth ist nicht nur im privaten Unglück. Im Deut- ebenfalls Offizier und arbeitet im Ober- schen Reich erobern 1933 die Nazis die kommando des Heeres in Mauerwald in Macht. Zu den ersten Mitgliedern der Ostpreußen, unweit der Wolfschanze. NSDAP in Halberstadt gehören die Klam- Bernhard gehört zum Widerstand. Er ist roths. HG tritt noch im Jahr der Machter- maßgeblich daran beteiligt, den Spreng- greifung der Partei bei, Else erst 1937. Spä- stoff für das Attentat auf Hitler am 20. Juli ter wird der Reserveoffizier Mitglied der 1944 zu besorgen. Was wusste HG, sein SS, er soll dort eine Reiterstaffel aufbauen. Schwiegervater, darüber? Wibke Bruhns Seine Frau wird Ortsgruppenführerin der zieht nach jahrelangen Recherchen den NS-Frauenschaft. Schluss: „Viel spricht dafür, dass HG über 1933 ist auch das Jahr, in dem HG zum die seit etwa zwei Jahren laufenden Atten- ersten Mal nach der neuen Ideologie han- tatsplanungen informiert ist.“ Er ist, so die delt. Der „Jude Jacobsohn“ wird aus dem Tochter, „Mit-Wisser, nicht Mit-Täter“. Halberstädter Arbeitgeberverband ausge- Es hilft ihm nichts. Als das Attentat schei- schlossen. Als Vorstandsmitglied verhin- tert und die Verschwörer nach und nach dert HG es nicht. Er stimmt dafür. gefasst werden, wird auch Hans Georg Tochter Wibke fällt nun immer häufiger Klamroth – genauso wie sein Schwieger- aus der Rolle der Chronistin. Sie rechtet sohn Bernhard – verhaftet, verurteilt und mit ihrem Vater: „Ich schleiche um meinen hingerichtet. Computer herum seit Tagen. Ich kann Seine jüngste Tochter Wibke hat an das nicht weiterschreiben“, schreibt sie über Drama keine Erinnerung. Sie brauchte die- die Jacobsohn-Geschichte. „Ich fürchte ses Buch, um den Verlust, den sie erst viel mich vor den nächsten Eintragungen in später spürt, zu verarbeiten. HGs Tagebuch.“ Und etwas später: „Es ist „Ich hätte gern die Chance gehabt, dich sein Leben. Er hat dafür bezahlt. Ich muss zu lieben“, schreibt sie ihrem Vater zum mich raushalten. Ich bin Chronistin.“ Schluss. „Du hast den Blutzoll bezahlt, den Eben nicht nur. Sie ringt um ihr Bild ich nicht mehr entrichten muss. Ich habe vom Vater. Hätte er sich nicht anders ver- von dir gelernt, wovor ich mich zu hüten halten können? „Nein“, kommentiert die habe. Dafür ist ein Vater da, nicht wahr? Tochter. „Er hätte nicht.“ Ich danke dir.“ Joachim Kronsbein

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