Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

JÜRGEN DENDORFER / CLAUDIA MÄRTL

Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien – von der Wahl Martins V. bis zum Tod Pauls II. (1417-1471)

Originalbeitrag erschienen in: Jürden Dendorfer/Ralf Lützelschwab (Hrsg.): Geschichte des Kardinalats im Mittelalter (Päpste und Papsttum 39). Stuttgart: Hiersemann, 2011, S. 335-397. Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien – von der Wahl Martins V. bis zum Tod Pauls II. (1417–1471)

von Jürgen Dendorfer / Claudia Märtl

Mit der Wahl Kardinal Oddo Colonnas zu Papst Martin V. auf dem Konstanzer Konzil endete im Jahr 1417 die Kirchenspaltung1. Es begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte des Papsttums, den die kirchengeschichtliche Forschung mit dem Schlagwort «Restauration» gekennzeichnet hat. Der mühsame Weg zur Wiederge- winnung des Kirchenstaats nach den Entwicklungen der avignonesischen Zeit, vor allem aber der Anspruch, das Papsttum und die Kurie wieder als unangefochtenen Bezugspunkt einer geeinten Kirche zu etablieren, prägen die nachfolgenden Jahr- zehnte. Dieser Prozess der erneuerten Durchsetzung päpstlicher Autorität vollzog sich in spannungsreicher Auseinandersetzung mit korporativ-konziliaren Vorstellun- gen und Praktiken der Kirchenleitung. Die Konzilien von Konstanz, Pavia-Siena und Basel debattierten zum einen grundsätzlich über das Verhältnis von konzi- liarer und päpstlicher Gewalt (potestas), entwickelten zum anderen aber auch Vor- stellungen von der Verfasstheit der Kirche neben und unter dem Papst, die jenseits der immer nur zeitlich begrenzt zusammentretenden Konzilien gelten sollten2. Da- bei sahen die Reformer die Angehörigen der drei Kardinalsordines, die sich an der Spitze der Kirche schon im Hochmittelalter als Kolleg etabliert hatten, als mög- liches kollegiales Korrektiv der päpstlichen plenitudo potestatis an, als eine Art kleines Konzil, das alle Teile der Christenheit an der Seite des Papstes repräsen- tierte und durch seine zwingend erforderliche Zustimmung zu päpstlichen Hand- lungen den Konsens der gesamten Kirche, der universalis ecclesia, verkörperte.

1 Zum Kapitel vgl. die kommentierte Bibliographie, S. 458–462, zur Quellenbasis die Quellenkunde, S. 53–62. 2 Zu den Konzilien des 15. Jahrhunderts: Brandmüller, Papst und Konzil; Helmrath/Müller, Konzi- lien; zu Konstanz (1414–1418): Frenken, Erforschung; Brandmüller, Konzil von Konstanz; zu Pa- via-Siena (1423/24): Brandmüller, Konzil von Pavia-Siena; zu Basel (1431–1449): Helmrath, Bas- ler Konzil; Sudmann, Basler Konzil. 336 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

Nie zuvor war die Stellung des Kardinalskollegs in der Kirche auf eine ähnliche Weise gesehen worden. Kennzeichnend für den hier betrachteten Zeitraum in der Geschichte des Kardi- nalskollegs – von der Wahl Martins V. (1417) bis zum Tode Pauls II. (1471) – ist, dass diese Ideen von der Aufgabe und den Funktionen des Kollegs durchaus Wir- kung entfalteten und als von den Konzilien gefordertes Regulativ die schon im Schisma tatsächlich gewachsenen Einflussmöglichkeiten des Kollegs verstärkend stützten. Vom kurialen Alltag der Entscheidung zwischen Papst und Kardinälen über die Reformvorschläge zur Aufwertung des Kardinalskollegs bis hin zur Größe des Kollegs und der Vorbildung seiner Mitglieder bildet dieser Abschnitt von 1417 bis etwa 1471 deshalb eine deutlich erkennbare Einheit. Zugleich beteiligten sich die Kardinäle an den päpstlichen Bestrebungen zur Erneuerung Roms, wurden ihre Paläste im Stil der Renaissance Orte der Repräsentation ihrer Rolle, entwickelten sich die Kardinalsfamilien zur Heimat für Humanisten und Künstler und traten nicht wenige Kardinäle selbst als Verfasser gelehrter Werke hervor. In dieser Hin- sicht unterscheiden sich die Kardinäle des 15. Jahrhunderts, selbst unter Berück- sichtigung des allgemeinen Wandels in diesem Jahrhundert, von ihren Vorgängern. Den deutlichsten Kontrast zur Stellung des Kardinalskollegs im 14. Jahrhundert aber bildete sicher der durch die Konzilien gestützte Anspruch der Kardinäle auf eine verbindliche Beteiligung an der Regierung der Kirche.

I. Papst und Kardinäle

1. Die Kardinäle wählen den Papst und der Papst kreiert die Kardinäle – die Neudefinition tradierter Rollenzuweisungen (Jürgen Dendorfer) a) Die Kardinäle bleiben die Wähler des Papstes Im 15. Jahrhundert kam nicht jeder Papst durch die Wahl des Kardinalskollegs zu seinem Amt. Auch wenn in den vorhergehenden Jahrhunderten, vor allem im 13. Jahrhundert, die Wahl durch die Kardinäle mitunter zu unhaltbaren Verzöge- rungen führte, so blieb in ihnen das Wahlrecht der Kardinäle im Grundsatz unbe- stritten. Die Legitimität des neu gewählten Papstes gründete bis ins 15. Jahrhun- dert auf der Wahl durch das Kolleg, die dann gültig war, wenn sie nach den Regularien vor sich ging, die sich im 12. und 13. Jahrhundert ausgebildet hatten und in den erwähnten Wahlverfügungen von Licet de vitanda über Ubi periculum bis zu Ne Romani niedergelegt waren3. Fünf der sechs Papstwahlen, die hier zu

3 Herde, Papstwahl; Maleczek, Abstimmungsarten. Papst und Kardinäle 337 betrachten sind, vollzogen sich nach den Konklavebestimmungen Papst Gre- gors X. (1271–1276) in ihrer im 14. Jahrhundert leicht modifizierten Form (1431, 1447, 1455, 1464, 1471). Sie wurden alle in einer jeweils konkreten Bedrohun- gen geschuldeten Eile vollbracht, in der die Kardinäle dennoch auf eine peinlich genaue Einhaltung der Vorgaben des kanonischen Rechts achteten. Für die Entwicklung des Papstwahlverfahrens ist das 15. Jahrhundert deshalb nicht von Bedeutung. Der weite Überblick über die Geschichte des Konklaves verdeckt jedoch, dass sich in der ersten Hälfte etwas Grundlegendes veränderte: Nicht mehr die Kardinäle allein konnten einen legitimen Papst wählen. Vielmehr bot in der verfahrenen Lage des Schismas mit seinen am Ende drei konkur- rierenden Päpsten nur das vom Konzil in Konstanz geschaffene Vorgehen einen Ausweg. Im Konklave des Jahres 1417 hatten 30 Vertreter der Nationen die Mehrheit, erst nach Verhandlungen wurden die 23 anwesenden Kardinäle an der Papstwahl beteiligt4. Das Konzil repräsentierte nach seinem Selbstverständnis die gesamte Kirche, und dieser stand die Wahl des Papstes zu. Das Kardinalskolleg handelte folglich nur mehr im Auftrag der universalis ecclesia, sein Wahlrecht stand, solange die allgemeinen Konzilien des 15. Jahrhunderts versammelt waren, in einer latenten Spannung mit dem der Konzilien. 1447, als das Basler Konzil formell noch existierte, bereitete der längere Zeit kränkelnde Papst Eugen IV. (1431–1447) die Wahl nach seinem Tod deshalb besonders umsichtig vor. Denn auch auf dem Basiliense waren neue Wege der Papstwahl dekretiert worden, die dann beschritten werden sollten, wenn ein Konzil noch gültig versammelt sei. Nach dem Zerwürfnis zwischen dem Basler Konzil und Papst Eugen IV. wählte dieses 1439 selbst, wiederum in einem Verfahren ohne Beteiligung der Kardinäle, Papst Felix (V.)5 Aus dem Blickwinkel dieser konziliaren Vorschläge, die Papst- erhebung neu zu regeln, war das Wahlrecht der Kardinäle nur eine Alternative neben anderen Möglichkeiten des Wahlverfahrens – eine Alternative, die dann zum Tragen kommen sollte, wenn kein Universalkonzil versammelt war. Ihr Wahlrecht übten die Kardinäle fortan deutlicher als je zuvor als Stellvertreter und Repräsentanten der gesamten Kirche aus. Auch das Kardinalskolleg wurde da- mit in den Prozess der Neubewertung kirchlicher Strukturen in den Debatten des 15. Jahrhunderts hineingezogen. In ihnen wurde nicht nur das seit langem beste- hende Papstwahlrecht auf veränderte Weise legitimiert, sondern im Zuge dieser Neudefinition der kardinalizischen Stellung durch die konziliar-korporativen Diskussionen wurden dem Kolleg noch darüber hinausgehende Rechte zuge- standen.

4 Fink, Wahl Martins V.; Girgensohn, Berichte; Brandmüller, Konzil von Konstanz II, S. 322–370. 5 Zu den Regelungen des Basler Konzils für das Papstwahlverfahren: Zwölfer, Reform, S.15–28; zum Konklave Felix’ V.: Stieber, Amédée VIII – Félix V, S.339, Anm. 1; S. 349–354. 338 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

b) Die Wahlkapitulationen der Kardinäle Diese gestiegene Bedeutung des Kardinalskollegs in den Reformvorstellungen der Zeit hat eine Entsprechung im Selbstverständnis der Kardinäle. Das zeigt sich am deutlichsten an den Wahlkapitulationen, die das Kardinalskolleg im 15. Jahrhun- dert aufzustellen begann6. Zum ersten Mal 1431, ab 1458 dann in ununterbro- chener Folge versuchten die Papstwähler im Konklave denjenigen von ihnen, der zum Papst gewählt wurde, auf ein künftiges Handeln in ihrem Sinne zu verpflich- ten. Von Festlegungen auf bestimmte Programmpunkte bis hin zu Regeln für das Zustandekommen von Entscheidungen zwischen Papst und Kolleg reichen die Bestimmungen in diesen von allen Kardinälen vor der Papstwahl beschworenen capitula. Der älteren Forschung galten diese Wahlkapitulationen als realitäts- fremde Versuche, den pontifex maximus dem Willen des Kollegs zu unterwerfen, und damit als Höhepunkt seit dem Hochmittelalter immer wieder greifbarer oli- garchischer Bestrebungen der Kardinäle7. Nach dem Konklave wären sie kaum das Papier wert gewesen, auf dem sie standen, denn bei einem ernsthaften Kon- flikt mit dem Kolleg konnte der Papst sich über sie hinwegsetzen. Dagegen wiesen jüngere Beiträge darauf hin, dass sich die Päpste zumindest in den ersten beiden Dritteln des Jahrhunderts bemühten, die Bestimmungen der Wahlkapitulationen einzuhalten8. Beim derzeitigen Forschungsstand zur Herrschaftspraxis der Päpste des 15. Jahrhunderts ist es nicht möglich, diese Frage eindeutig zu entscheiden. Es kann bei ihrer Beantwortung auch nicht darum gehen, ob die Päpste sich dem Buchstaben nach an ihre Wahlkapitulationen hielten. Vielmehr werden die Wahl- kapitulationen als ein für Wahlmonarchien charakteristischer Versuch, über den Tod des Souveräns hinaus vor der Neuwahl Kontinuität zu stiften, zu werten sein. Diese Selbstvergewisserung des Wahlkörpers, aus dem der künftige Papst stamm- te, gibt Aufschluss über die Grundlagen des gemeinsamen Handelns von Papst und Kolleg, auch wenn die Bestimmungen nicht wörtlich eingehalten wurden. Die päpstlichen Wahlkapitulationen stehen damit einerseits in der Tradition anderer pacta conventa in weltlichen und geistlichen Wahlmonarchien9, wie sie auch die Kardinäle schon ein erstes Mal im 14. Jahrhundert, zuerst 1352, für die Papst- monarchie aufgestellt hatten. Sie sind aber andererseits auf der Grundlage der Entwicklungen des 15. Jahrhunderts zu verstehen. Denn die Kardinäle erhoben in ihren capitula Forderungen, die erstaunlich weit mit den Vorstellungen der Re- former auf den Konzilien von Konstanz und Basel übereinstimmten.

6 Lulvès, Päpstliche Wahlkapitulationen; ders., Machtbestrebungen des Kardinalkollegiums; Becker, Primat; ders., Wahlkapitulationen; Krüger, Überlieferung; ders., Wahlkapitulationen. 7 Lulvès, Machtbestrebungen des Kardinalats. 8 Krüger, Überlieferung; Becker, Ansätze. 9 Becker, Pacta conventa. Papst und Kardinäle 339

Die erste Wahlkapitulation von 1431 zeigt diese Nähe zu den Reformvorstel- lungen deutlich10. Nach dem Tod Papst Martins V. forderten die Kardinäle die Reform nicht nur der Kirche, sondern – noch vor dieser – die der römischen Kurie. Das Kardinalskolleg mahnte damit die Fortführung der unter Martin V. nur zö- gerlich begonnenen Kurienreform an. Der Colonna-Papst hatte die Vorschläge zweier Kardinalskommissionen zur Reform der Kurie allenfalls teilweise berück- sichtigt. Diese beruhten entweder auf Übernahmen Konstanzer Reformüberlegun- gen oder versuchten auf den Konstanzer Vorgaben aufbauend tragfähige Lösun- gen für eine Organisation der Kurie und des Kardinalskollegs zu finden. Die Wahlkapitulation von 1431 griff diese Überlegungen der beiden Reformkommis- sionen unter Martin V. wieder auf. Die finanzielle Versorgung des Kardinalskollegs sollte in Abkehr von dem in Konstanz kritisierten Annaten- und Servitiensystem ganz auf Einkünften aus dem Kirchenstaat beruhen; die Zuwahl neuer Mitglieder des Kollegs sei nur mit dem Konsens der maior pars der Kardinäle nach forma et ordinatio des Konstanzer Konzils zu vollziehen. Damit wiederholten die Kardinäle 1431 eine der Kernforderungen der Konstanzer Konzilsväter zur Reform des Kar- dinalskollegs. Die Anzahl der Kardinäle sei beschränkt auf zwölf oder 24, die Zu- sammensetzung des Kollegs repräsentiere die Christenheit möglichst umfassend und der eingeforderte Konsens zu neuen Kardinalskreationen bürge für eine maßvolle Ergänzung des Kollegs im Sinne der vom Konzil dargelegten Grundsätze. Den Konsens der Majorität der Kardinäle zu päpstlichem Handeln sahen die Re- former jedoch nicht nur bei den Kardinalskreationen als Garantie für eine korpo- rative Kontrolle der päpstlichen plenitudo potestatis an Stelle des Konzils an. Ihre Vorstellungen trafen sich hierbei mit dem seit dem 13. Jahrhundert immer wieder greifbaren Anspruch des Kollegs, bei Entscheidungen des Papstes gehört zu wer- den, oder – verstärkt seit dem beginnenden 15. Jahrhundert – sogar mit ihrer For- derung, dass der Konsens des Kollegs für päpstliche Handlungen zwingend not- wendig sei. Immer wieder, gleichsam als Refrain, kehrt in der Wahlkapitulation von 1431 die Bestimmung wieder, der Papst regiere die Kirche, insbesondere aber den Kirchenstaat de consilio et consensu maioris partis dominorum cardinalium. Charakteristisch für das 15. Jahrhundert ist nun, dass diese Formeln nicht mehr nur als haltlose Anmaßung des Kollegs verstanden werden können, die keine Be- deutung für die Entscheidungsbefugnisse des Papstes hatte. Vorbereitet von kano- nistischen und theologischen Beiträgen zur Lösung des Schismas, bestätigt und neu formuliert von den Reformern des Konstanzer Konzils konnte sich diese For- derung des Kollegs auf eine breite Akzeptanz stützen. Das galt vollends, nachdem

10 Druck: Annales ecclesiastici, Bd. 9, S. 91–94. Dazu: Lulvès, Päpstliche Wahlkapitulationen, S. 214f.; Becker, Primat, S.114f.; Krüger, Überlieferung, S.234–238; ders., Wahlkapitulationen, S. 290–292; zur Deutung auch Decker, Politik, S.132f. 340 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien das Basler Konzil in den Kurienreformdekreten seiner 23. Session von 1436 die Konstanzer Bestimmungen dekretierte und in einen Anhang zum Papstwahldekret die Bestimmungen der Wahlkapitulation von 1431 inserierte11. Das konziliare Modell einer Machtbalance an der Spitze der Kirche zwischen Papst und Kardi- nalskolleg verband sich – aus der Sicht des Kardinalskollegs – stimmig mit den im Großen Schisma gewachsenen Einflussmöglichkeiten der Kardinäle. Das Zeitalter der Konzilien, verstanden als eine Phase des anhaltenden Ringens um korporati- ve Formen der Beschränkung der päpstlichen Vollgewalt, musste auch die Rechte der traditionsreichsten kirchlichen Korporation, des Kardinalskollegs, stärken. Hinweise darauf, dass diese Konzeptionen einen Niederschlag in der kurialen Herrschaftspraxis fanden, gibt es, wenn sie auch beim derzeitigen Forschungs- stand nur in einer Spurensuche erhellt werden können. Ein Vergleich der ab 1458 von Konklave zu Konklave jeweils auf der Grund- lage der unmittelbar vorausgehenden capitula fortgeschriebenen und erneuerten Wahlkapitulationen lässt jedoch schon vor einer detaillierten Einzelanalyse der Praxis einige Konfliktpunkte zwischen Papst und Kardinalskolleg erkennen. Im Jahr 1458 wandte sich das Kardinalskolleg gegen den Einfluss der principes sae- culares (Laienfürsten) auf die Vergabe von Bistümern und Abteien, ein um die Mit- te des 15. Jahrhunderts immer drängender werdendes Problem12. Das Augenmerk der im Konklave Versammelten richtet sich wiederum auf eine angemessene Ver- sorgung des Kollegs und reflektiert nun die gewandelte Situation. Beim Erwerb von Pfründen soll der Papst den Kardinälen unter die Arme greifen, ärmeren Kar- dinälen sei sogar eine Pension auszusetzen. Die Fortsetzung der Bemühungen um den Türkenkreuzzug und die Kirchenreform liegt dem Kolleg ebenso am Herzen wie die Einhaltung der Konstanzer Bestimmungen zu den Kardinalskreationen, die noch einmal mit besonderem Nachdruck eingeschärft werden. Nur wenige Jahre später, nach dem Tod Papst Pius’ II., 1464, wiederholen die Kardinäle die Bestimmungen von 1458 im Kern unverändert, präzisieren diese aber an den Punkten, an denen der verstorbene Papst aus ihrer Sicht gefehlt hat13. Die Finanzierung des Kreuzzugs stellen sie nun unter die Aufsicht einer Kardinalskom- mission, die Kirchenreform solle innerhalb von drei Monaten nach der Krönung des Papstes durchgeführt werden. Besonders eingehend überarbeiten sie wiederum den Abschnitt zu den Kardinalserhebungen. Nicht mehr nur die maior pars, son- dern zwei Drittel des Kollegs sollen jetzt der Erhebung neuer Kardinäle zustimmen,

11 Der Text in COD3, S. 494–495, zu den Reformdekreten vgl. die Ausführungen unten. 12 Druck: Annales ecclesiastici, Bd. 10, S. 159f.; dazu: Krüger, Überlieferung, S.239–242; ders., Wahlkapitulationen, S. 292–294; Becker, Ansätze, S.337–342. 13 Pastor, Geschichte der Päpste II, S. 297f., 306–309; Lulvès, Päpstliche Wahlkapitulationen, S. 217–219; Bonelli, Le capitolazioni elettorali; Krüger, Überlieferung, S.242–244; ders., Wahl- kapitulationen, S. 294–297; Becker, Ansätze, S.343–345. Papst und Kardinäle 341 ihre Voten nicht einzeln, sondern vom versammelten Kolleg eingeholt werden. Die in Konstanz und Basel geforderten Qualifikationen für die Kandidaten werden nun detaillierter als je zuvor in einer Wahlkapitulation beschrieben. Die Erfahrungen des Kollegs mit den Kardinalskreationen Papst Pius’ II. in den Jahren 1460 und 1461 führten den Kardinälen an diesem Punkt offensichtlich die Feder. Am Vorge- hen Pius’ II. orientierte Strategien seines Nachfolgers, den kollegialen Zusammen- halt der Kardinäle in dieser Frage zu überwinden, sollten verhindert werden. Doch Paul II. gelang es, diese erste, noch im Konklave aufgestellte Wahlkapitu- lation bald nach seiner Wahl abzuändern und fast das gesamte Kolleg auf einen neuen, uns leider unbekannten Text zu verpflichten. Das Handeln Pietro Barbos als Papst selbst gibt keinen Hinweis darauf, dass er sich über wesentliche Bestim- mungen der ersten Wahlkapitulation von 1464 hinweggesetzt hätte. Erst nach dessen Tod scheinen die weiterhin von Konklave zu Konklave aufgestellten Wahl- kapitulationen nur noch bedingt geeignet zu sein, um in die Konfliktkonstellation von Papst und Kardinalskolleg hineinzuleuchten. 1471 tritt das in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zur Regel werdende Phänomen auf, dass der Text der al- ten, bis 1464 überarbeiteten Wahlkapitulationen fast unverändert – als capitula publica bezeichnet – zum ersten Teil eines umfassenderen Vertragswerks wird14. Die Kardinäle interessierten sich von nun an fast ausschließlich für den zweiten, neu auftretenden Teil, die capitula privata, der sich mit den Vergünstigungen und Privilegien für einzelne Kardinäle beschäftigte. Auch diese Tendenz, weg von den kollegialen Rechten des Kollegs hin zu Privilegien und Vergünstigungen für ein- zelne Kardinäle, hebt den Zeitabschnitt von 1431 bis 1471 deutlich von den nach- folgenden Entwicklungen ab. c) Die Kardinalskreationen als Prüfstein für das Verhältnis von Kolleg und Papst Diese Einschätzung bestätigt sich auch auf dem Feld, das nach dem Ende des Basler Konzils zu den hartnäckigsten Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kardinalskolleg führte: den Kardinalskreationen. Schon im 14. Jahrhundert, in der Wahlkapitulation des Jahres 1352, hatten die Kardinäle für sich beansprucht, die Anzahl der Kardinäle zu beschränken und das Kolleg nur mit der Zustimmung der bisherigen Kardinäle zu ergänzen. Wahlkapitulationen und Reformentwürfe des 15. Jahrhunderts erneuerten diese Bestimmung. Mehr als 24 Kardinäle sollten dem Kolleg nicht angehören, so wollten es die Konstanzer und Basler Konzilsväter und so forderten es die Kardinäle Papstwahl für Papstwahl ein. Seit dem Con- stantiense bildete sich zudem ein Qualifikationsprofil für künftige Kardinäle her-

14 Zur Wahlkapitulation von 1471: Krüger, Wahlkapitulationen, S. 297–301, mit Edition: 311–315. Zur davon ausgehenden Entwicklung der Trennung in capitula publica und capitula privata: Becker, Primat, S.117f.; ders., Wahlkapitulationen, S. 21f. 342 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien aus, das ein Mindestalter von 30 Jahren vorsah und eine universitäre, in Ab- schlüssen dokumentierte Vorbildung einforderte. Komplizierte, sich verändernde Formeln sollten eine ausgeglichene Vertretung verschiedenster nationes im Kolleg sicherstellen und die Dominanz der Italiener oder Franzosen – je nach Schisma- Obödienz – verringern. Der Versuch, den päpstlichen Nepotismus einzuschrän- ken, klang zu diesem Zeitpunkt ebenfalls schon an, wenn er sicher auch nicht das wichtigste Anliegen der Reformer war. Bezeichnend ist nun, dass diese Bestim- mungen in den Pontifikaten von Martin V. bis Paul II. im Wesentlichen eingehalten wurden. Die Anzahl der Kardinäle überschritt nur selten die 24, wobei die Kasu- istik verschiedener Möglichkeiten der Berechnung – 24 Kardinäle allein an der Kurie oder auch außerhalb – etwas Interpretationsspielraum offenließ. Auch der geistige Habitus der Kardinäle in dieser Phase unterschied sich deutlich von dem ihrer Nachfolger am Ende des 15. und dem Beginn des 16. Jahrhunderts. Als Jacopo Ammannati Piccolomini sicherlich im verklärenden Rückblick auf die Zeit seines Gönners Papst Pius’ II. (1458–1464), doch nicht ohne Berechtigung, die Papstwähler des Konklaves von 1464 darstellt, kommt er zum Schluss: «Von allen, die ich aufgezählt habe, ist keiner nicht entweder in der Theologie im welt- lichen oder im päpstlichen Recht mit einem Abschluss versehen, und keiner von ihnen ist der Kirche nicht würdig.»15 Wirklich finden sich bis zu diesem Zeitpunkt kaum Kardinäle ohne Universitätsausbildung, die wenigen Ausnahmen beschrän- ken sich auf Fürstensöhne und Papstneffen, zumindest für die Ersteren hatte schon das Basler Konzil Ausnahmen vorgesehen. In den Kardinalskreationen des Zeitraums zeigt sich immer wieder, dass diese Vorstellungen, die schon im Konstanzer Reformausschuss entworfen worden wa- ren und zum Teil in die Konkordate des Papstes mit den Nationen eingingen, eine Art Richtschnur für künftige Kardinalskreationen blieben. Dabei wurden die normativen Reformvorstellungen aus unterschiedlichsten Gründen akzeptiert. Für die Kurie war es fast über den ganzen Zeitraum hinweg wichtig, mögliche Kri- tikpunkte vor einer konziliaren Öffentlichkeit zu vermeiden. Dies galt nach dem Ende des Konstanzer Konzils (1414–1418), vor den nach Frequens drohenden Konzilien in Pavia-Siena (1423/24), später in Basel (1431–1449) während des Konzils sowie noch in den ersten Jahrzehnten nach dem Basiliense. Die grundsätz- liche Berechtigung dieser Reformvorstellungen stand nicht in Frage. Die Bestim- mungen der einschlägigen Dekrete, die in den Wahlkapitulationen bestätigt wur- den, wurden zudem zum Argument in den politischen Auseinandersetzungen um die jeweiligen Kreationen. Der Papst wies mit ihrer Hilfe Wünsche von Königen und Fürsten für die Kreation eigener Günstlinge zurück, und das Kardinalskolleg stützte auf sie die ältere, schon seit dem 13. Jahrhundert zu beobachtende oligar-

15 Iacopo Ammannati Piccolomini, Commentarii, Sp. 349v. Papst und Kardinäle 343 chische Forderung nach einem möglichst kleinen Kolleg. Während sich die Kardi- nalskreationen Martins V. und Eugens IV. offensichtlich ohne größere Konflikte zwischen Papst und Kolleg und orientiert an den Konstanzer und Basler Reform- vorstellungen vollzogen, scheint in der Zeit nach dem Ende des Basler Konzils eine neue Entwicklung einzutreten. Papst und Kardinalskolleg standen sich nun ge- genüber. Das Kolleg wurde zum Bürgen für eine korporativ-konziliare Kirchen- leitung, wie sie etwa auf dem Basler Konzil für die konzilslosen Zeiten entworfen worden war. Daneben versuchten weltliche Kräfte beharrlich Einfluss auf die Zu- sammensetzung des Kollegs zu nehmen. Kreation für Kreation (1455, 1460, 1461, 1469, 1471) lässt sich ein Ringen um Anzahl und Herkunft der zu erhebenden Kardinäle beobachten, bei dem das Kardinalskolleg als Korporation in der zwei- ten Kreation Pius’ II. (1461) entscheidend unterlag. Ab dem Pontifikat Sixtus’ IV. (1471–1484) deuten die Unregelmäßigkeiten im Kreationsmodus, die signifikant über die vorgeschlagenen 24 Kardinäle hinausgehende Anzahl, die nun deutlich disparatere Vorbildung sowie die verstärkten nepotistischen Tendenzen auf eine nachlassende Geltung der konziliaren Vorstellungen hin16. Auch aus dieser Sicht ist ein Einschnitt am Ende des Pontifikats Pauls II. erkennbar. Die Kardinalskrea- tionen der ersten Pontifikate nach dem Konzil sind ein Verfassungskonflikt, in dem ein monarchisch betonter Papat korporativ-kollegialen Formen der Kirchen- leitung, die durch die konziliare Tradition noch verstärkt wurden, gegenübersteht. Doch haftete dieser Vorstellung, aber auch dem Anspruch des Kollegs selbst, dass dieses dem Papst als Korporation gegenüberstehe, immer etwas Künstliches an. Die Gruppenbildungen im Kolleg widersprachen der Theorie von der korpora- tiven Geschlossenheit und vollzogen sich nach eigenen Kriterien, nicht zuletzt nach der Loyalität zu demjenigen Papst, durch den man zum Kardinal erhoben worden war. Daneben hatte jeder Kardinal als Einzelner ein Verhältnis der Nähe oder Di- stanz zum Papst, das durch informelle Wege der Teilhabe an der Kurie geprägt war.

2. Die Teilhabe der Kardinäle an der Kirchenregierung (Claudia Märtl) Der Anspruch der Kardinäle, an der Kirchenregierung mitzuwirken, wurde gegen Ende des Großen Schismas energisch formuliert und von ihnen hartnäckig vertre- ten. Martin V. (1417–1431) versuchte die Probleme, welche aus einer Beratung im großen Kreis des Kardinalskollegs, etwa durch mangelnde Geheimhaltung, ent- stehen konnten, zu reduzieren, indem er wichtige Angelegenheiten bevorzugt mit wenigen Vertrauten behandelte.

16 Zu den Unregelmäßigkeiten am Ende des 15. Jahrhunderts vgl. die Beobachtungen von Hender- son, In creandis cardinalibus. 344 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

Dies führte unter den Kardinälen zu einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem als tyrannisch empfundenen Regiment des Colonna-Papstes, der zudem einen ausgeprägten Nepotismus pflegte. Eugen IV. (1431–1447) kam zunächst erwar- tungsgemäß finanziellen und materiellen Ansprüchen der Kardinäle entgegen, doch setzte im Laufe des Jahres 1432 eine Entfremdung ein, so dass sich Mitte 1433 der größere Teil des Kollegs in Basel eingefunden hatte. In der Organisati- onsform des Basler Konzils war das Kardinalskolleg als Korporation nicht berück- sichtigt; die Kardinäle handelten bestenfalls gruppenweise. Es gelang weder in der Praxis noch in der Theorie, das Kardinalskolleg in das Modell einer konziliaren Kirchenführung zu integrieren, als deren Gegenpol weiterhin eine aus Papst und Kardinälen gebildete kuriale Spitze erschien. Als das Konzil 1434 begann, Über- legungen zu einer Kurienreform anzustellen, wandten sich die konzilsfreundlichen Kardinäle in der Mehrzahl wieder ab. Allein die Präsidenten des Basler Konzils, allen voran Giuliano Cesarini und Louis Aleman, konnten eine Führungsposition in größerem Stil durchsetzen, während das Handeln der übrigen konziliar enga- gierten Kardinäle vornehmlich im Zusammenhang ihrer jeweiligen Verflechtung in die Politik weltlicher Fürsten betrachtet werden muss. Nachdem das Ringen zwischen Basel und Eugen IV. in der Absetzung des Papstes im Jahr 1439 seinen Höhepunkt erreicht hatte, schickten die Konzilsväter aus Prestigegründen häufig Kardinäle als Gesandte aus, um die Sache des Konzils zu vertreten17. In den Basler Dekreten wurden zahlreiche Bestimmungen getroffen, welche die Rolle der Kardinäle an der Seite des Papstes definieren und das Kolleg zur Vertre- tung der Gesamtkirche in konzilslosen Zeiten umformen sollten. Nach dem Ende der Konzilsepoche wurde der Anspruch der Kardinäle auf Mitwirkung an der Kirchenregierung verstärkt theoretisch untermauert. Die Vorstellung vom Kolleg als einer Art ständigem Konzil wurde an der Kurie eingesetzt, um Forderungen nach der Einberufung einer neuen Generalsynode abzuwehren, da die kontinuier- liche Beratung des Papstes durch die Kardinäle einem solchen nur hin und wieder tagenden Gremium auf jeden Fall vorzuziehen sei18. Aus der Diskussion der theologischen wie rechtlichen Grundlagen des kardina- lizischen Vorrangs und der detaillierten Darlegung seiner symbolisch-zeremoniel- len Äußerungen entstanden jedoch keine substantiell neuartigen Formen der Zu- sammenarbeit zwischen Papst und Kolleg; vielmehr wurden überwiegend die bereits bekannten Verfahren und Institutionen neu reflektiert. Auf der Grundlage der im 13. und 14. Jahrhundert herausgebildeten Traditionen festigten sich im

17 Vgl. Decker, Politik; Helmrath, Basler Konzil, S.42, 57, 112–121; Sudmann, Basler Konzil, S. 412–420. 18 Pius II., Germania III, c. 50, S. 121; vgl. Märtl, Interne Kontrollinstanz, S. 69. Siehe dazu ausführ- lich unten, S. 377ff. Papst und Kardinäle 345

Pontifikat Eugens IV. (1431–1447) die Rahmenbedingungen kurialer Organisati- on in einer Gestalt, die für die folgenden Pontifikate bestimmend blieb, bis unter Sixtus IV. (1471–1484) einige Entwicklungen zu ihrem Abschluss gelangten und zugleich eine neue Ausgangsbasis erreicht wurde. Von den Kardinälen wurde in diesen Jahrzehnten erwartet, dass sie ihren ständigen Wohnsitz am Papsthof nah- men, der als ihr gewissermaßen natürliches Lebensmilieu galt. Rom sei die Hei- mat jedes Kardinals, rief Enea Silvio Piccolomini seinem Kollegen Nikolaus von Kues ins Gedächtnis, und nach den Worten eines zeitgenössischen Beobachters war «ein Kardinal fern vom Papst . . . wie ein Fisch ohne Wasser»19. Entfernte sich ein Kardinal längere Zeit von der Kurie, ohne durch einen offiziellen Auftrag legitimiert zu sein, erschien er trotz Anwesenheit am Papsthof nicht zu den übli- chen Gelegenheiten für die Beratung, so zeigte dies ein tiefgreifendes Zerwürfnis mit dem Papst an. Der Status des einzelnen Kardinals in der kurialen Balance von Macht und Ansehen wurde scharf beobachtet. Für die Einschätzung spielten Fak- toren unterschiedlichster Art eine Rolle; neben der Papstnähe fielen politisches Gewicht und finanzielle Mittel ebenso in die Waagschale wie moralische Reputa- tion oder religiöse und intellektuelle Interessen. Im kirchenpolitischen Alltag ver- wirklichte sich die Mitwirkung der Kardinäle nach wie vor in der täglichen Bera- tung des Papstes, ihrer Mitarbeit bei der Vergabe von Konsistorialpfründen, in der Übernahme von Ämtern, Legationen und Spezialaufgaben, der Beteiligung an Kommissionen und nicht zuletzt in vielfältigen informellen Aktivitäten, mit denen sie den Pontifex unterstützten oder ihm entgegenzuarbeiten suchten. In allen ihren Tätigkeiten sollten die Kardinäle allein dem Papst und der Gesamtkirche ver- pflichtet sein. Einem Reformentwurf Pius’ II. zufolge oblag es ihnen vor allem, ne- gative Entwicklungen in ihren Heimatregionen, seien es Ketzereien, Sittenverfall oder Kriege, anzuzeigen und auf Abhilfe zu drängen; die dauerhafte Vertretung partikularer Interessen war jedoch verpönt und wurde mit der Exkommunikation bedroht, falls ein Kardinal weltliche Vorteile daraus zog. Gleichwohl kamen Vor- formen des neuzeitlichen Nationalkardinalats, insbesondere die Besoldung von Kardinälen durch weltliche Fürsten, vereinzelt bereits seit den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts vor20.

19 Vgl. Meuthen, Die letzten Jahre, S. 133 (Piccolomini an Nikolaus von Kues, 27. Dezember 1456); Märtl, Alltag, S. 136, mit Anm. 71 (Bartolomeo Bonatto an Ludovico Gonzaga, 8. März 1462); zur Bindung an Rom Richardson, Reclaiming , S. 104f. 20 Vgl. Haubst, Reformentwurf, S. 212, Nr.34–36; Strnad, Aus der Frühzeit (Besoldung Branda Ca- stigliones durch König Sigismund); ein Beispiel vgl. auch bei Märtl, Jouffroy, S. 157f. (Besoldung durch Ludwig XI.). 346 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

a) Formen institutionalisierter Beratung zwischen Papst und Kolleg Den institutionalisierten Rahmen für die gemeinsame Beratung von Papst und Kardinälen boten die Geheimkonsistorien, die in einem seit dem 13. Jahrhundert eingespielten Rhythmus dreimal pro Woche stattfanden, während die öffentlichen Konsistorien der Inszenierung der richterlichen und politischen Rolle des Papstes sowie des Konsenses von Papst und Kardinälen dienten. Soweit Schlaglichter, etwa in kurialen Korrespondenzen, auf die Diskussionen der Geheimkonsistorien fal- len, zeigen sie kurz nach der Mitte des Jahrhunderts eine recht offene Gesprächs- kultur, in der einem normativ vorgegebenen Ablauf folgend kontrovers diskutiert und Widerspruch gegen Vorschläge des Papstes vorgebracht werden konnte21. Die Entscheidung der causae maiores war nach der ehrlichen Meinungsäußerung aller Anwesenden vom Papst gemäß dem Mehrheitsprinzip zu treffen, doch konn- te er bei gebührender Abwägung auch davon abweichen. Der Papst sollte die Problemlage unkommentiert darstellen und vor den Äußerungen der Kardinäle seine eigene Ansicht nicht zu erkennen geben, um sie nicht zu beeinflussen; die Kardinäle sollten die Diskussion sachlich in gegenseitigem Respekt und im Be- wusstsein ihrer Verantwortung für die Gesamtkirche führen. Diese Prinzipien be- kräftigte Jacopo Ammannati Piccolomini aus dem Rückblick gegenüber seinem jüngeren Kollegen Francesco Gonzaga als idealtypische Quintessenz der von ihnen gemeinsam erlebten Geheimkonsistorien der Zeit Pius’ II.22 In der Praxis suchten die Päpste allerdings die Meinungsbildung unter den Kardinälen zu steuern. Mar- tin V. hatte angeblich die Kardinäle so eingeschüchtert, dass sie erröteten und erbleichten, wenn sie vor ihm sprechen mussten; bei Paul II. wagten nur wenige Kardinäle standzuhalten und «ihm die Zähne zu zeigen», da er die Mitglieder des Kollegs wie Schuljungen maßregelte23. Pius II. verrät in den Commentarii vor al- lem anlässlich seiner Kardinalskreationen einiges darüber, mit welchen Strategien ein geschickter Pontifex im Vorfeld dafür sorgen konnte, ein bestimmtes Ergebnis der Beratung herbeizuführen24. In den Geheimkonsistorien wurden auch die Konsistorialpfründen vergeben, deren Besetzung sich der Papst vorbehalten hatte. Darunter fielen alle Pfründen –

21 Vgl. Märtl, Unbekannte Notizen (mit weiterer Literatur). 22 Iacopo Ammannati Piccolomini, Lettere II, ed. Cherubini, Nr.363, S. 1190–1202 (Sommer/Herbst 1468). 23 Zu Martin V. vgl. Decker, Politik, S.130, mit Anm. 161 (Bericht des Deutschordensprokurators Wandofen, 11. Juli 1429); zu Paul II. vgl. Märtl, Jouffroy, S. 184, mit Anm. 21 (Giacomo Trotti an Borso d’Este, 5. April 1467) und Iacopo Ammannati Piccolomini, Lettere II, ed. Cherubini, Nr.186, S. 809–814, bes. 811, Z. 14f. (an Guillaume d’Estouteville und Alain de Coëtivy, Oktober 1465). 24 Zur hier zu berücksichtigenden literarischen Selbststilisierung des Papstes vgl. Esch, Enea Silvio Piccolomini; zur Vorgeschichte der Kreation von 1461 vgl. Märtl, Jouffroy, S. 121–129; dies., Bar- tolomeo Vitelleschi. Papst und Kardinäle 347

überwiegend Abts- und Bischofswürden –, die ihrem Inhaber mehr als 100 Gul- den pro Jahr einbrachten. Da die Hälfte der hierbei anfallenden Gebühren dem Kardinalskolleg zustand, wurde über diese Vorgänge vom Kämmerer des Kollegs Buch geführt. Meist trat ein Kardinal als relator auf, der sich über die Angelegen- heit informiert hatte und darüber im Konsistorium berichtete. Eine Durchsicht der Aufzeichnungen über die Pfründenvergabe der Jahre 1433 bis 1456 zeigt, dass die Berichterstattung keineswegs gleichmäßig auf alle Kardinäle verteilt wurde25. Besonders häufig übernahmen unter Eugen IV. die Kardinäle Niccolò Albergati, Jean Lejeune und Francesco Condulmer diese Aufgabe; unter Nikolaus V. ver- schwindet Condulmer bald als relator, während Lejeune weiterhin sehr oft be- richtet und Pietro Barbo nun merklich öfter vorkommt als zuvor. Unter Calixt III. referierten Domenico Capranica und Pietro Barbo auffallend häufig. Manche Kar- dinäle, wie Guillaume d’Estouteville, traten durchweg oft als Berichterstatter auf; andere, darunter , ergriffen hingegen selten das Wort. Über die Gründe dieser unterschiedlichen Verteilung lässt sich nur spekulieren. Eine geographische Zuordnung der Berichtsfälle zur Herkunftsregion des referierenden Kardinals ist jedenfalls kaum festzustellen; nur bei den Pfründen des venezianischen Staatsge- biets und französischen Pfründen deutet sie sich tendenziell an. Deutlicher tritt hervor, dass Kardinäle, die Legaten gewesen waren, öfter Berichte über Pfründen übernahmen, die zu ihrem ehemaligen Legationsgebiet gehörten oder diesem na- hestanden. Leider gibt es aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts keine Notizen über die bei diesen Gelegenheiten geführten Diskussionen, in denen die Umsetzung zeitgemäßer Reformvorstellungen zur Sprache gekommen sein muss. Allein ein Fragment aus der Feder Jacopo Ammannati Piccolominis illustriert aussagekräf- tig die Positionen im Kardinalskolleg zur Zeit Pius’ II. und vermittelt einen Ein- blick in den offen ausgetragenen Konflikt zwischen Reformorientierung und Er- wägungen politischer Opportunität26. Bei komplizierteren Problemlagen bildeten Papst und Kolleg Kardinalskom- missionen, die eine Entscheidung vorbereiten sollten. Die Initiative zur Einsetzung solcher Kommissionen ging wohl häufig vom Kolleg aus, das damit seinen An- spruch einer umfassenden Beteiligung wahrte. Für den Papst mochte es umgekehrt ebenfalls erwünscht sein, die Konsensfindung über wichtige Beschlüsse aus dem Kolleg heraus anzubahnen. Die kardinalizischen Arbeitsgruppen formulierten nicht nur Entwürfe für die Kirchenreform27, sondern übernahmen neben diesem

25 Die folgenden Beobachtungen resümieren erste Eindrücke einer Auswertung der Register ASegV, Cam. Ap., Obl. et sol. 66 und 72; siehe dazu das Quellenkapitel, S. 55, Anm. 196. 26 Vgl. den Text bei Märtl, Unbekannte Notizen, Anhang Nr.III b–e, S. 235–240. 27 Vgl. Jedin, Analekten (mit einem Rückblick auf das 15. Jahrhundert); Miethke, Reform des Haup- tes. 348 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien bekannteren Tätigkeitsfeld vielerlei weitere Aufgaben, untersuchten Rechtsfälle, berieten über die Formulierung brisanter päpstlicher Schreiben, diskutierten für den Kirchenstaat wichtige territorialpolitische Maßnahmen und anderes mehr. Das gesamte Kolleg wurde im Herbst 1463 in drei Gruppen eingeteilt, denen un- terschiedliche Aufgaben zur Vorbereitung des Türkenkriegs übertragen wurden; davon hatten fünf Kardinäle die Aufgabe, sich über die Finanzierung Gedanken zu machen28. Möglicherweise lag hier der Ursprung der unter Paul II. dauerhaft etablierten, mit drei Kardinälen besetzten Kommission für die Verwaltung der Kreuzzugsfinanzen. Daneben kam es immer wieder vor, dass ein einzelner Kardinal eine Spezialauf- gabe erhielt, mit der er dem Papst zuarbeitete; Nikolaus von Kues etwa wurde von Pius II. mit der Beweiserhebung gegen Sigismondo Malatesta beauftragt, als deren Ergebnis eine Verurteilung erfolgte und in einem völlig unerhörten Verfahren eine symbolische Verbrennung des Übeltäters inszeniert wurde. Der für seine Integrität bekannte Kardinal war als Untersuchungsrichter ausgewählt worden, um das vom Papst geplante Vorgehen auf eine unangreifbare Grundlage zu stellen29. Auf den Konzilien von Konstanz und Basel wurde die Forderung erhoben, die Zustimmung der Kardinäle zu Entscheidungen des Papstes sei durch deren eigenhändige Unterschrift auf päpstlichen Urkunden zu fixieren; ein derartiger Paragraph findet sich erstmals auch in der Wahlkapitulation des Jahres 1431. Die erhaltenen Konsistorialurkunden, bei denen die anwesenden Kardinäle einzeln un- terzeichneten, dokumentieren unter Eugen IV. zunächst das Bestreben des Papstes, sich in schwierigen Situationen abzusichern, wurden in der Folge aber zunehmend zu Instrumenten, um den Maßnahmen einiger Pontifices zugunsten ihrer Ver- wandten Dauer zu verleihen. Die ursprüngliche Voraussetzung, dass die Kardinäle aus freier Gewissensentscheidung heraus ihre Unterschrift verweigern und damit päpstliche Pläne zu Fall bringen könnten, wurde durch den Einsatz materieller Vergünstigungen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vollkommen ausge- hebelt30. Eigenständig agierte das Kardinalskolleg vor allem während der Sedis- vakanzen, bei deren Eintreten es das wichtigste Anliegen sein musste, Sicherheit und Ruhe in Rom wie im Kirchenstaat zu gewährleisten, die Finanzmittel sicher- zustellen und den Botenverkehr aufrechtzuerhalten. Ihre Teilhabe an den Gna- denmitteln der Kirche dokumentierten die Kardinäle des 15. Jahrhunderts, indem sie gemeinsam Sammelindulgenzen ausstellten und besiegelten.

28 Diese Arbeitsteilung wird berichtet von einem mantuanischen Gesandten; Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gonzaga, b. 842, Nr.196 (Bartolomeo Marasca an Barbara und Ludovico Gonzaga, 30. September 1463). 29 Vgl. Märtl, Interne Kontrollinstanz, S. 77–80 (mit der weiteren Literatur). 30 Vgl. Krüger, Konsistorialurkunden. Papst und Kardinäle 349

Für die Außenwirkung war der päpstliche Monarch darauf angewiesen, dass seine Linie möglichst einhellig von den Kardinälen unterstützt und propagiert wurde. Dass dem so war, wird am besten in jenen Fällen deutlich, in denen der Konsens ausblieb und einzelne Kardinäle begannen, ihre Kritik nach außen zu tra- gen. Gut verfolgen lässt sich dies im Pontifikat Pius’ II., aber auch unter Paul II. wurden die Konflikte im innersten Kreis der Kurie nach der Kassation der Wahl- kapitulation durch den Papst bald für Außenstehende sichtbar. Im Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen Papst und Kardinälen ist diese Phase besonders we- gen des Verhaltens der französischen Kardinäle von Interesse31. Als es dem Bischof von Arras, Jean Jouffroy, der hierfür mit dem Kardinalshut belohnt wurde, im Jahr 1461 gelang, beim französischen König Ludwig XI. eine Aufhebung der Prag- matik zu erwirken, gingen Papst wie König offenkundig von falschen Annahmen über die auf der Gegenseite mit der Aufhebung verknüpften Erwartungen aus. So kam es bald zu neuen Belastungen der Beziehungen. Zwei Jahre später schied Jouffroy, der von Pius II. der böswilligen Täuschung beschuldigt wurde, in offe- nem Unfrieden aus Rom. Dem französisch-burgundischen Kardinal wurde vor al- lem vorgeworfen, durch seine bedingungslose Vertretung französischer Interessen das bisher gültige Rollenbild des allein dem Wohl der Gesamtkirche verpflichte- ten Beraters zu verletzen und Interna aus den Konsistoriumssitzungen an den fran- zösischen Königshof zu verraten. Jouffroy suchte nach seiner Abreise in Frank- reich als kirchenpolitischer Berater Ludwigs XI. Fuß zu fassen und arbeitete am Königshof offen gegen die politischen Absichten Pius’ II. Guillaume d’Estoutevil- le, der 1458 als Papstkandidat unterlegen war, äußerte gegenüber auswärtigen Ge- sandten schärfste Kritik am Verhalten des Piccolomini-Papstes32. Unter Paul II. ge- rieten die französischen Kardinäle an der Kurie in ein Dilemma, da sie einerseits mit den übrigen Kardinälen gegen den Papst Front machten, andererseits durch die Kirchenpolitik Ludwigs XI. in ihrer Heimat unter Druck gesetzt wurden und päpstliche Unterstützung nötig gehabt hätten. Alain de Coëtivy bewarb sich mit der Legation in Avignon um ein neues Tätigkeitsfeld, das ihn aus dem unmittel- baren Horizont der Kurie entfernte und ihm von Paul II. erst nach längerem Zö- gern zugestanden wurde. Der nach Rom zurückgekehrte Jouffroy versuchte sich zunächst zwar dem neuen Pontifex zu empfehlen, konnte sich aber auf Dauer der Solidarisierung mit der kardinalizischen Opposition nicht entziehen und verließ erneut die Kurie, als sich das französisch-päpstliche Verhältnis wieder verschlech- terte und er als Vermittler französischer Belange nicht mehr gefragt war. So muss- te er ein weiteres Mal erfahren, wie schnell der Status eines Kardinals in Frage ge-

31 Zum Folgenden vgl. Märtl, Jouffroy, S. 129ff., 182ff.; zur Gruppe der französischen Kardinäle um die Mitte des 15. Jahrhunderts auch Pellegrini, Pio II, S. 31ff., 65. 32 Beispiele vgl. bei Pellegrini, Pio II, S. 65, und Märtl, Italienische Berichte, S. 249–255. 350 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien stellt wurde, sobald es sich verbreitete, dass er beim Papst in Ungnade gefallen war33.

b) Die Kardinäle leiten die großen kurialen «Behörden» Im Hinblick auf die kurialen Alltagsgeschäfte ist als auffälligstes neues Phänomen der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts hervorzuheben, dass die Leitungspositio- nen aller großen kurialen «Behörden» nun dauerhaft von Kardinälen besetzt werden. Einige Vizekanzler und Kämmerer verblieben über Jahrzehnte auf ihren Posten. Wenngleich die Behördenchefs nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern stets im Auftrag des Papstes und aufgrund abgeleiteter Kompetenzen han- delten, erlangten sie dennoch innerhalb des kurialen Gefüges ein besonderes Schwergewicht. In dem bei jedem Papstwechsel sich neu formierenden kurialen Kosmos bildeten sie ein stabiles Element, repräsentierten die neben dem Papst wichtigsten Anlaufstellen für auswärtige Besucher der Kurie und vermochten mit ihren familiae als eigene Kristallisationszentren in politischer und kultureller Hin- sicht zu wirken. Der von Clemens VII. zum Vizekanzler34 ernannte Kardinal Jean de Brogny leitete bis zu seinem Tod (1426) unter insgesamt fünf Päpsten die Kanzlei. Als nächster Kardinal wurde Jean de Rochetaillée zum Vizekanzler er- nannt (1432?), der bis 1437 amtierte. Ihm folgte mit Francesco Condulmer ein Papstnepot, dessen Amtsperiode als Vizekanzler (1437–1453) durch eine mehr- jährige Legation nach Konstantinopel unterbrochen wurde. Die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde fast zur Gänze durch die Amtszeit Rodrigo Borgias aus- gefüllt, der von seinem Onkel Calixt III. im Jahr 1457 erhoben wurde und 35 Jah- re lang bis zu seiner Papstwahl 1492 Vizekanzler blieb. Im Amt des Kämmerers35 begann die Zeit der Kardinäle erst unter Eugen IV. Dieser ernannte zunächst sei- nen Neffen Francesco Condulmer (1432–1437), um die Leitung der Kammer im Jahr 1440 zu übergeben, der sie fast ein Vierteljahrhundert lang († 1465) mit einer mehrjährigen Unterbrechung durch eine Kreuzzugslega- tion ausübte. Bei der Auswahl der Großpönitentiare36, die häufiger wechselten, scheinen die Reputation des Kandidaten und möglicherweise seine Bewährung bei früheren Aufgaben eine Rolle gespielt zu haben. Für die erste Hälfte des 15. Jahr- hunderts sind hier Niccolò Albergati, Domenico Capranica und Filippo Caland-

33 Vgl. Märtl, Jouffroy, S.207, Anm. 109 (Zitat aus Jouffroys Traktat in BAV, Ottob. lat. 793, fol. 112r). 34 Vgl. Hofmann, Forschungen I, S. 30ff., zur Verbindung des Vizekanzleramts mit dem Kardinalat bereits seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts. 35 Vgl. Gottlob, Aus der Camera, bes. S. 80ff.; präzisierend zur Stellung des Kämmerers Pitz, Sup- plikensignatur, S.251ff. 36 Vgl. Göller, Die päpstliche Poenitentiarie II, 1, S. 9–12; Schmugge/Hersperger/Wiggenhauser, Sup- plikenregister, S.12–14 (Zitat S. 12). Papst und Kardinäle 351 rini als «herausragende Leiter des Amts» zu nennen, unter denen «die Pöniten- tiarie den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit» erreichte. Der Blick auf die Reihe der Vizekanzler und Kämmerer lässt die Konfliktfälle ahnen, die mit der Besetzung der Behörden auftraten. Zündstoff zu Streit zwischen den Päpsten und dem Kardinalskolleg boten Amtsdauer und Besetzungspraxis37. Sollten Vizekanzler und Kämmerer auf Lebenszeit ernannt werden, oder war ihr Amt nur temporär zu vergeben? Das Kardinalskolleg versuchte eine Beschränkung zu erreichen und fixierte in den Wahlkapitulationen der zweiten Jahrhunderthälfte sowohl seinen Anspruch, bei der Besetzung mitzureden, als auch die Zielvorstel- lung einer dreijährigen Amtsdauer38. Die Stellungnahme der Päpste hing davon ab, ob sie die Möglichkeit hatten, einen Nepoten in eines dieser Ämter zu bringen. War dies der Fall, wie bei Eugen IV., so suchten sie die Vergabe auf Lebenszeit durchzusetzen. Bestand diese Möglichkeit nicht, so favorisierten sie eine Be- schränkung von Amtsdauer und Vollmachten, wie dies etwa in den Reformplänen Pius’ II. formuliert wurde39. Die jeweils mehrjährigen Perioden, in denen die Äm- ter des Vizekanzlers und des Kämmerers vakant blieben und nur mit Stellvertre- tern, die keine Kardinäle waren, besetzt wurden, scheinen auf Zeiten längeren Ringens zwischen Papst und Kolleg hinzuweisen. Für das Vizekanzleramt fällt die erste dieser Perioden, 1426 bis 1430, in die letzten Jahre Martins V., die nächste folgt am Übergang von Nikolaus V. zu Calixt III. (1453–1457). Für das Amt des Kämmerers sind als Fehlzeiten einige Monate 1431/32 und der größte Teil des Pontifikats Pauls II., 1465 bis 1471, zu verzeichnen. Martin V. hatte wenig Gelegenheit, Vizekanzler oder Kämmerer selbst auszu- wählen. Er übernahm im Interesse von Kontinuität und Integration der Kurie nach dem Schisma die Amtsträger Johannes’ XXIII. Als der Vizekanzler starb, ernannte er nacheinander einen Abt und einen Bischof aus dem französisch-savoyischen Raum zum regens cancellariam bzw. vicegerens des Kanzleileiters. Dies war ver- mutlich der Tatsache geschuldet, dass das Kardinalskolleg ihn an der Ernennung eines Nepoten hinderte. Eugen IV. hingegen konnte von Anfang an das Amt des Kämmerers zunächst mit seinem Neffen Condulmer, dann mit seinem ehemaligen Leibarzt Trevisan besetzen40 und befand sich den größten Teil seines schwierigen Pontifikats in der günstigen Situation, dass diese beiden ihm als Vizekanzler und Kämmerer treu ergeben zur Seite standen. Nikolaus V. hatte in Bezug auf den Käm- merer keine Wahl und ernannte nach dem Tod Condulmers einen von dessen

37 Vgl. zum Folgenden Hofmann, Forschungen I, S. 31f. 38 Vgl. Becker, Ansätze, bes. S.338, 343, 347 (jeweils Nr.6). 39 Haubst, Reformentwurf, S. 215, Nr.52; S. 216, Nr.57; S. 222, Nr.105. 40 Vgl. Gottlob, Aus der Camera, S. 268ff.; Hofmann, Forschungen II, S. 69, 87. Zu Condulmer fehlt eine eigene Biographie; vgl. Olivieri, in: DBI 27, S. 761ff.; zu Trevisan (oft falsch Scarampo oder Mezzarota) vgl. Paschini, Lodovico; Pellegrini, Pio II, S. 24, 60ff. 352 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien langjährigen Mitarbeitern zum regens cancellariam, den Bischof von Spoleto, der beim Antritt Calixts III. noch am Tag der Krönung einem spanischen Bischof als Kanzleileiter weichen musste41. Nachdem es Calixt III. gelungen war, diesen Bischof durch seinen Neffen zu ersetzen, waren die Weichen für das Vizekanzleramt auf Jahrzehnte hinaus gestellt. Pius II. sah sich mit Ludovico Trevisan und Rodrigo Bor- gia42 zwei außerordentlich starken Persönlichkeiten als Kämmerer und Vizekanzler gegenüber, von denen zumal der Erstgenannte ihm bisweilen schwer zu schaffen machte. Mit Pietro Barbo wurde als nächster Papst ein Nepot Eugens IV. gewählt. Ludovico Trevisan, der Barbo von Herzen hasste, soll aus Gram über dessen Papst- wahl gestorben sein43. Paul II. verzichtete danach auf die Ernennung eines Kardi- nals zum Kämmerer, was auf die Erfahrungen mit Trevisan zurückzuführen sein dürfte, der seine Position gegenüber allen Päpsten offensiv vertreten hatte. Die Leiter von Kanzlei, Kammer und Pönitentiarie begleiteten den Papst stets auf seinen Reisen, auch wenn ihre Behörden bei kürzeren Abwesenheiten des Pon- tifex am gewöhnlichen Aufenthaltsort der Kurie zurückblieben. Wenn die Besu- cher des Papsthofs über die aus den Ortsveränderungen der Päpste entstehenden Erschwernisse klagten, so darf nicht vergessen werden, dass sich auch die Leiter der großen Behörden vor zusätzliche Anforderungen und Kosten gestellt sahen. Es ist daher kein Wunder, dass Ludovico Trevisan, der aus seiner Ablehnung des von Pius II. nach Mantua einberufenen Fürstenkongresses kein Hehl machte, sich 1459 bei der ersten Gelegenheit unter dem Vorwand einer Badereise nach Vene- dig absetzte, um dort eigene politische Interessen zu pflegen44. Am stärksten klagte über seine Belastung aber der Vizekanzler Borgia, der unterstrich, seine Quartier- wünsche – er wollte in ein Haus mit Garten umziehen – müssten ihm von der Markgräfin von Mantua erfüllt werden, «erstens weil er ihr sehr ergeben sei, so- dann wegen seines Amts und der Arbeit, die er habe, denn kein anderer Kardinal sei so beschäftigt wie er und habe weniger Entspannung als er, da er an einem Tag ins Konsistorium gehen und am nächsten sich um die Supplikensignatur kümmern müsse, wo die anderen sich erholen könnten. Außerdem müsse er, wenn ein Ge- sandter komme, Seiner Heiligkeit immer beistehen, da er Diakon sei, und über- haupt . . . sei er der Einzige, der dauernd im Gefängnis sitze.»45

41 Vgl. Hofmann, Forschungen II, S. 72f., Nr.9 und 10; beide wurden später zu Kardinälen erhoben, de Narnia von Pius II. (1460), Juan de Mella von Calixt III. (1457). 42 Zu den hinter diesen drei Personen stehenden nepotistischen Großkonstellationen vgl. Pellegrini, Pio II, S. 23ff. 43 Vgl. Iacopo Ammannati Piccolomini, Lettere II, ed. Cherubini, Nr.186, S. 811, Z. 8f., mit Anm. 4. 44 Zur Haltung Trevisans während des Kongresses von Mantua vgl. Pellegrini, Pio II, S. 60ff., hier bes. 64. 45 Signorini, Alloggi, S. 387f., Nr.25 (Barbara Gonzaga an Ludovico Gonzaga, 21. Juni 1459). Papst und Kardinäle 353

Von erheblichem Gewicht, insbesondere auch für den Aufbau von Klientelver- bindungen, waren die Kompetenzen bei der Personalauswahl. Die lange Amts- dauer der kardinalizischen Behördenchefs und ihre Behinderung durch vielfältige anderweitige Beschäftigungen verlagerten das Ringen um die Besetzung der Führungspositionen alsbald auf die Stellvertreter, die zu ihrer Entlastung, während ihrer Abwesenheiten oder bei einer Vakanz als Ersatz für einen kardinalizischen Amtsleiter ernannt wurden46. Der Papst versuchte, über diese oft dem Bischofs- rang angehörenden, von ihm ernannten Stellvertreter seinen Einfluss zu stärken, doch gelang es dem Vizekanzler Borgia im Jahr 1472, sich das Recht der Ernen- nung eines locumtenens dauerhaft zu sichern. Die Position des stellvertretenden Kanzleileiters wurde aber ihrerseits am Beginn des 16. Jahrhunderts ebenfalls zu einer Lebenszeitstellung, was diesen Erfolg wieder schmälerte. Die Interessen der Päpste und diejenigen des in Kanzlei, Kammer und Pöniten- tiarie beschäftigten Personals wirkten im Laufe des 15. Jahrhunderts dergestalt zusammen, dass sich die Amtschefs zunehmend auf die Besetzung allein der unte- ren Chargen beschränkt sahen47. Positionen, die auf persönlichem Vertrauen des Papstes und dem ständigen Umgang mit ihm beruhten, wie die Stellen der Ge- heimsekretäre und des Datars, wurden aus der Kanzlei aus- oder gar nicht erst in diese eingegliedert. Auch schaltete die von den Päpsten geförderte Ämterkäuflich- keit de facto den Einfluss des Behördenleiters aus, da die Käufer der Stellen den Kaufpreis in die Privatschatulle des Papstes entrichteten und damit direkt von ihm ein Anrecht erwarben. Die Amtschefs reagierten, indem sie sich Quoten bei der Personalauswahl ihrer Behörden zusichern ließen. Eine erste Andeutung dieser im Pontifikat Sixtus’ IV. voll durchschlagenden Tendenzen brachte der Pontifikat Pius’ II. Dieser schuf Ende 1463 primär zur Finanzierung des Türkenkriegs, aber wohl auch, um die Befugnisse Borgias zu reduzieren, ein Abbreviatorenkolleg mit 70 käuflichen Stellen, das sogleich wieder aufgehoben wurde von seinem Nach- folger Paul II., der dem Vizekanzler nach dem Gutachten einer Kardinalskommis- sion die Zuständigkeit für die Abbreviatoren von neuem zusprach48.

c) Kardinäle in der Verwaltung des Kirchenstaats Neben den Leitern der großen Behörden gab es einen ebenfalls relativ einge- schränkten Kreis von Kardinälen, denen in der Verwaltung und Verteidigung des Kirchenstaats wichtige Aufgaben von längerer Dauer übertragen wurden. In Avig-

46 Zum Folgenden vgl. Hofmann, Forschungen I, S. 33ff. 47 Zum Folgenden vgl. ebd., S. 22ff. 48 Vgl. ebd., S. 31f., 122–126; Pellegrini, Pio II, S. 66; Märtl, Papst, S. 190ff. (mit weiterer Literatur). Zur Ämterkäuflichkeit an der Kurie vgl. bes. Schwarz, Ämterkäuflichkeit; Schimmelpfennig, Äm- terhandel. 354 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien non kam es dabei in den Anfangsjahren des Basler Konzils zum Konflikt über die Besetzung der Legation, doch konnte sich im Jahr 1433 Eugen IV. mit seinem Le- gaten, dem in der Region verwurzelten Kardinal Pierre de Foix d. Ä. († 1464), durchsetzen, der die Legation bis zu seinem Tod innehatte49. Der nördliche Teil des italienischen Kirchenstaats um Bologna wurde nach der endgültigen Rück- kehr der Stadt unter die Herrschaft des Papstes seit 1447 von Kardinallegaten ver- waltet. Das aufgrund innerer Konflikte und der notorischen Widerspenstigkeit Bolognas schwierige Amt wurde u. a. von Bessarion (1450–1455) und Angelo Capranica (1458–1467) wahrgenommen50. Auch wurden einzelne Provinzen des mittelitalienischen Kirchenstaats, wie die Mark von Ancona, hin und wieder Kar- dinälen übertragen. Als Pius II. zum Kongress von Mantua aufbrach, vertraute er Rom Nikolaus von Kues als Generalvikar in temporalibus und legatus urbis an51. Die militärische Profilierung einiger Kardinäle in Italien setzt Traditionen fort, die ins 13. Jahrhundert zurückreichen52. Dazu gehört an erster Stelle der berüchtigte Giovanni Vitelleschi, der nach der Vertreibung Eugens IV. aus Rom rücksichtslose Feldzüge zur Rückeroberung des Kirchenstaats unternahm und nach einigen Erfol- gen 1437 mit der Kardinalswürde belohnt wurde. Als er drei Jahre später in den Ver- dacht geriet, selbst einen Anschlag auf den Papst zu planen, wurde er überraschend festgenommen und kam unter unklaren Umständen in der Engelsburg zu Tode. Eugen IV. billigte im Nachhinein dieses Vorgehen. Zu Vitelleschis Sturz hatte Ludo- vico Trevisan maßgeblich beigetragen, dessen Aufstieg nun mit der Erhebung zum Kardinal, der Ernennung zum Kämmerer und der Übernahme der militärischen Auf- gaben des Verstorbenen begann. Als Feldherr an der Spitze eines päpstlichen Heeres sicherte er vor allem in den 40er Jahren des 15. Jahrhunderts den Kirchenstaat. Mi- litärisches Organisationstalent besaß auch Niccolò Fortiguerri, ein Cousin Pius’ II., den dieser bei seiner ersten Kreation 1460 zum Kardinal erhob. Für die kriegerischen Unternehmungen des Piccolomini-Papstes in Mittel- und Unteritalien war Forti- guerri fortan unverzichtbar; er begleitete praktisch ununterbrochen die großen condottieri der römischen Kirche, um aufständische Barone und unbotmäßige Lehnsleute zu unterwerfen oder die Franzosen aus Unteritalien zu vertreiben.

d) Kardinäle als Legaten Die soeben aufgeführten Verwaltungs- und Verteidigungsaufgaben leiten über zu dem für die Zusammenarbeit von Papst und Kardinälen in jeder Hinsicht erstran- gigen Bereich der Legationen. Allgemeingeschichtliche wie spezifisch kirchenpoli-

49 Vgl. Baron, Pierre de Foix; Gazzaniga, La politique bénéficiale. 50 Vgl. Mazzone, I rappresentanti. 51 Vgl. Pellegrini, Pio II, S. 71; Meuthen, Die letzten Jahre, S. 28ff. 52 Vgl. Chambers, Popes, zum Folgenden bes. S. 42ff., 61ff. Papst und Kardinäle 355 tische Faktoren trugen dazu bei, dass kuriale Gesandtschaften im 15. Jahrhundert an Zahl, Dauer und Reichweite im Vergleich zu früheren Jahrhunderten weiter zu- nahmen53. Die Aufgaben der Legaten des 15. Jahrhunderts differenzierten sich ent- sprechend den immer komplexer werdenden Anforderungen, mit denen die Päpste konfrontiert wurden. Friedensstiftung, Förderung der Kirchenreform, Werben um die Anerkennung päpstlicher Autorität gehörten ebenso zum Tätigkeitsspektrum der Legaten wie Bekämpfung des Hussitismus, Aufruf zum Türkenkrieg, Beglei- tung von Kreuzzugsheeren. Als legatus de latere dazu berechtigt, wie der Papst selbst aufzutreten, und dank der Legatenvollmachten mit einem begrenzten Anteil der päpstlichen Gnadenmittel ausgestattet, vermochte der Kardinallegat einen Ein- druck vom Wirken des Papsttums in Regionen zu vermitteln, deren Bewohner nie einen leibhaftigen Pontifex zu Gesicht bekommen würden. Angesichts des sehr ungleichmäßigen Forschungsstands seien hier nur exemplarisch einige besonders signifikante oder problembehaftete Legationen genannt. Nach der auf dem Konzil von -Florenz am 6. Juli 1439 verkündeten Kirchenunion entsandte Eugen IV. mit Francesco Condulmer jenen Kardinal in das Byzantinische Reich, der ihm von allen Mitgliedern des Kollegs zweifellos am nächsten stand. Er signalisierte damit, welch überaus große Bedeutung er der Ver- einigung von West- und Ostkirche beimaß. Condulmer blieb drei Jahre lang (1440– 1443) in Konstantinopel, konnte aber das sich schon kurz nach der Rückkehr der griechischen Delegation abzeichnende Scheitern der Kirchenunion nicht verhindern. Als sich die Bedrängnis Konstantinopels zuspitzte und Nikolaus V. ein kleines päpst- liches Hilfskontingent im Sommer 1451 an den Bosporus schickte, wurde es be- gleitet von Kardinal Isidor von Kiew. Der Kardinallegat entrann in den Tagen nach dem 29. Mai 1453 der osmanischen Gefangennahme, indem er seinen Ornat mit der Kleidung eines Gefallenen vertauschte. Seine Briefe und mündlichen Berichte gehören zu den frühesten authentischen Zeugnissen für die osmanische Eroberung Konstantinopels54. Calixt III. entsandte im Jahr 1456 den Kämmerer Ludovico Tre- visan mit einer Flotte von zehn Galeeren, deren Ausrüstung dieser zuvor überwacht hatte, als Kreuzzugslegaten in den östlichen Mittelmeerraum. Vermutlich wollte der Papst dem als Truppenführer bewährten, doch als herrschsüchtig geltenden Kardi- nal ein nützliches Tätigkeitsfeld fern der Kurie zuweisen. Trevisan inhaftierte, im Osten angekommen, sogleich zwei Neffen des Papstes unter der Beschuldigung, Piraterie betrieben zu haben. Durch die Erfolge seiner dreijährigen Kampagne – er konnte einige griechische Inseln vorübergehend befreien – noch selbstbewusster geworden, kehrte Trevisan im Frühjahr 1459 nach Italien zurück55.

53 Vgl. Maleczek, Päpstliche Legaten; Studt, Anspruch; zum Gesandtschaftswesen des Basler Konzils Helmrath, Basler Konzil, S. 54–58. 54 Vgl. La caduta di Costantinopoli I, S. 52–119; II, S. 108–111. 55 Vgl. Chambers, Popes, S. 49; Pitz, Supplikensignatur, S.246. 356 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

In das deutsche Reich, nach Böhmen und Ungarn wurden das ganze 15. Jahr- hundert hindurch zahlreiche Kardinallegaten entsandt, die auf weitläufigen Routen Mitteleuropa durchreisten, wobei die kulturellen Nebeneffekte dieser Legationen, vor allem der damit verbundene Transfer von Menschen, Texten und Objekten, bis- weilen eine dauerhaftere Wirkung entfalteten als die oft nur mangelhafte Realisie- rung des eigentlichen Legationsauftrags. Branda Castiglione, Giordano Orsini und Henry Beaufort wurden von Martin V. in dem Jahrzehnt zwischen 1421 und 1431 eingesetzt, um Kirchenreformen zu fördern und den Hussitismus zu bekämpfen56. Giuliano Cesarini begleitete ein Kreuzfahrerheer nach Böhmen, das bei Taus gegen die Hussiten unterlag. Dem Kardinallegaten gelang unter Zurücklassung seiner In- signien gerade noch die Flucht, woraufhin er sich während seiner Tätigkeit als Bas- ler Konzilspräsident zu einem warmen Verfechter des Verhandlungswegs wandelte. Im Jahr 1442 von Eugen IV. nach Ungarn entsandt, um einen politischen Ausgleich und einen Kreuzzug gegen die Türken zustande zu bringen, wirkte Cesarini durch- aus erfolgreich. Nach der Niederlage der Kreuzfahrer gegen ein osmanisches Heer bei Varna im Jahr 1444 blieb er jedoch vermisst; es ging das Gerücht, der Legat sei von flüchtenden Angehörigen der christlichen Truppen in den Sümpfen der Do- naumündung erschlagen worden57. Auch abgesehen von derartigen Katastrophen war die Arbeit der Legaten mit vielen Beschwernissen und Frustrationen verbunden. Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurde der Besuch von Reichsversammlungen durch päpstliche Gesandte fast zum Regelfall58. Wurde in den 30er und 40er Jahren auf diesen Versammlungen noch darum gerungen, eine Entscheidung des Reichs für Eu- gen IV. oder das Basler Konzil und Felix (V.) herbeizuführen, so verschob sich der Fo- kus nach dem Fall Konstantinopels auf die Problematik des Türkenkriegs. Im Zuge der Annäherung zwischen den Reichsständen und der römischen Kurie erhielten am Ende der Konzilsepoche vor allem «deutschlanderfahrene und deutschlandorien- tierte Kardinäle» Legationsaufträge59, doch konnten die mit den schwerfälligen Ent- scheidungsmechanismen des Reichs konfrontierten Legaten nur selten konkrete Be- schlüsse zugunsten der päpstlichen Kreuzzugsaufrufe verbuchen. Auch der Große Christentag, zu dem der in Deutschland erzogene und über viele persönliche Kon- takte verfügende Francesco Todeschini Piccolomini 1470/71 entsandt wurde, er- brachte kein handgreifliches Ergebnis, da noch so ausgefeilte Reden die Fürsten nicht von ihrem Misstrauen, den dummen Deutschen solle unter dem Vorwand des Türkenkriegs das Geld aus der Tasche gezogen werden, abbringen konnten60. Kir-

56 Vgl. Studt, Papst Martin V., S.478ff., 621ff.; dies., Anspruch, S. 89ff. 57 Vgl. Chambers, Popes, S. 48; zum Tod Cesarinis vgl. Piccolomini, Historia Austrialis I, S. 18f. 58 Vgl. Wolff, Päpstliche Legaten. 59 Vgl. Meuthen, Ein «deutscher» Freundeskreis; Studt, Anspruch, S. 111 (Zitat). 60 Vgl. Strnad, Francesco Todeschini-Piccolomini, S. 207–321; Meuthen, Ein «deutscher» Freundes- kreis, S. 514–517; die Quellen jetzt in RTA 22,2. Papst und Kardinäle 357 chenreform und politische Vermittlung standen neben dem Türkenkrieg weiterhin auf der Tagesordnung. Auf seiner Rundreise durch das deutsche Reich propagierte Nikolaus von Kues 1451/52 mit größtem Einsatz sein Herzensanliegen einer Re- form, welche die erneute Ausrichtung auf die römische Kirche verankern sollte, doch erwies sich die Wirkung als ephemer61. Auch Friedensstiftung konnte kläglich scheitern, wie im Fall der Legation Bessarions, der für seine Reise in den Süden des deutschen Reichs 1460/61 eigens Deutsch gelernt hatte62. Letztlich fiel sogar die Bilanz des vielleicht erfolgreichsten, sicher aber erfah- rensten Kardinallegaten des 15. Jahrhunderts zwiespältig aus. Juan de Carvajal († 1469) konnte am Ende seiner Laufbahn auf 22 Legationen zurückblicken; er genoss wegen seines asketischen Lebenswandels und seiner Meinungsfestigkeit die größte Hochachtung; das Zeremoniell seiner Gesandtschaften wurde jüngeren Kollegen als Vorbild geschildert. Carvajal hatte 1448 im Namen Nikolaus’ V. das Wiener Konkordat mit Friedrich III. geschlossen, welches mit einer Kompromiss- lösung die Pfründenvergabe im deutschen Reich endgültig regelte. Seine längste Legation führte ihn von 1455 bis 1461 nach Österreich und Ungarn, wo er – ähn- lich wie Cesarini – in einer politisch angespannten Lage vermitteln und einen Kreuzzug begleiten sollte. Im Jahr 1456 begab er sich mit dem Heer des Guber- nators Johannes Hunyadi auf eine fast aussichtslose Mission nach Belgrad, das durch ein übermächtiges osmanisches Heer belagert wurde. Als die osmanische Belagerung überraschenderweise scheiterte, wozu die Mobilisierung der christ- lichen Kreuzfahrer durch den charismatischen Prediger Giovanni Capestrano beitrug, verhinderte Carvajal die Heiligsprechung des kurz danach an einer Seuche verstorbenen Minoriten. Disziplin und Organisation galten ihm offensichtlich mehr als vermeintlich göttlich inspirierte kurzfristige Erfolge. Seine Ungarnlega- tion endete mit einem Missklang; er wurde gegen seinen Willen abberufen, da der Papst, sein langjähriger Freund Pius II., den Eindruck gewonnen hatte, Carvajal habe sich allzu eindeutig in einem an der Kurie unerwünschten Sinn politisch engagiert. Der Legat protestierte zwar, indem er auf seine vor Ort gewonnenen Einsichten verwies, die der fernen Kurie notgedrungen verborgen geblieben seien, war aber letztlich doch zur Rückkehr gezwungen63. In Westeuropa bildete zunächst die Friedensstiftung im Hundertjährigen Krieg ein Hauptmotiv, weswegen kuriale Legationen entsandt wurden. Hervorzuheben

61 Vgl. Meuthen, Die deutsche Legationsreise; zu den Quellen bis zum März 1452 vgl. Acta Cusa- na 1, 2–3b. 62 Vgl. Strnad, Bessarion; Meuthen, Ein «deutscher» Freundeskreis, S. 506–508; Studt, Anspruch, S. 96, mit Anm. 41 (mit der weiteren Literatur). 63 Vgl. Fraknói, Carvajals Legation; Gómez Canedo, Don Juan de Carvajal; Pitz, Supplikensignatur, S. 227–236; Meuthen, Ein «deutscher» Freundeskreis, S. 504–506; Maleczek, Päpstliche Legaten; Pellegrini, Pio II, S. 73; zu Belgrad 1456 vgl. Babinger, Quellenwert. 358 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien ist Niccolò Albergati, dessen wiederholte Gesandtschaftsreisen schließlich 1435 von einem Teilerfolg in Gestalt des Friedens von Arras64 zwischen Frankreich und Burgund gekrönt wurden. Gleichzeitig mit Albergati, der durch Eugen IV. als legatus de latere beauftragt worden war, hatte das Basler Konzil Kardinal Hugues de Lusignan entsandt, und die Konzilsväter feierten den Friedensschluss als eines der wertvollsten Ergebnisse eigener Friedensbemühungen. Frankreich übernahm mit der Pragmatischen Sanktion im Jahr 1438 Positionen des Konzils und hielt grundsätzlich an ihnen fest, obwohl die Pragmatik, welche den finanziellen Zu- griff der Kurie auf französische Pfründen beschnitt, in der Praxis nicht konsequent angewendet wurde. Römische Legaten trafen auch nach dem Rücktritt des Kon- zilspapstes Felix’ V. im Jahr 1449 noch häufig auf das Misstrauen der politischen Führungsschichten Frankreichs, denen das papstgleiche Auftreten der Gesandten im eigenen Land die Freiheiten der gallikanischen Kirche zu gefährden schien. Die Legaten mussten ihre Fakultäten beim Pariser parlement registrieren lassen; sie wurden bisweilen daran gehindert, mit dem vollen Legatenzeremoniell aufzutre- ten; gegen ihre Entscheidungen wurden Appellationen an ein künftiges Konzil eingelegt65. Wegen der distanzierten Haltung Frankreichs erforderte die Auswahl der kurialen Gesandten hier besonderes Fingerspitzengefühl. Nach dem Ende der Konzilsepoche wurde deshalb der mit dem französischen Königshaus verwandte Kardinal Guillaume d’Estouteville auf zwei Legationen (1451/53, 1454/55) ent- sandt, die in ihrem Anliegen der Friedensstiftung nur teilweise erfolgreich waren, hinsichtlich der Pragmatischen Sanktion und der Werbung für den Kreuzzug voll- kommen scheiterten, jedoch u. a. eine Reform der Pariser Universität brachten und die Rehabilitation der Jeanne d’Arc einleiteten66. Der ihm folgende Alain de Coëtivy, der im Auftrag Calixts III. 1456/57 für den Türkenkrieg werben sollte, traf auf Widerstände des französischen Klerus67. Zu Pragmatik und Türkenkrieg trat schließlich als weitere Hürde für eine Verständigung, dass sich das Papsttum mit Pius II. 1458 endgültig gegen die Ansprüche der Anjou in Unteritalien ent- schied. Die sich rapide verschlechternden Beziehungen führten zu dem völligen Fiasko der letzten Legation Bessarions im Jahr 147268. Trotz all dieser Fährnisse übernahmen die Kardinäle, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Legationen meist bereitwillig und führten sie engagiert aus. Dies zeigt, wie wichtig die Legation im Rollenbild der Kardinäle geworden war. In der Tat vergessen die Grabinschriften des 15. Jahrhunderts kaum jemals, die von dem verstorbenen Kardinal übernom- menen Legationen rühmend zu nennen.

64 Vgl. Märtl, Tommaso Parentucelli (mit weiterer Literatur). 65 Vgl. Gazzaniga, L’appel; ders., Le pouvoir. 66 Vgl. Esposito, d’Estouteville. 67 Vgl. Pitz, Supplikensignatur, S.243–245. 68 Vgl. Ourliac, Louis XI. Papst und Kardinäle 359

e) Finanzielle Wirkungen der Teilhabe an der Kirchenregierung Die Teilhabe der Kardinäle an der Kirchenregierung hatte finanzielle Konsequen- zen. Seit dem 13. Jahrhundert erhob das Kardinalskolleg Anspruch auf die Hälfte aller kurialen Einkünfte, für deren Verwaltung und Verteilung unter die an der Ku- rie anwesenden Kardinäle die Kammer des Kollegs zuständig war. Die durch Kon- stanzer Reformvorstellungen bedingte straffe Haushaltsführung Martins V. ließ auch das Kardinalskolleg nicht ungeschoren; so blieben diesem Einkünfte aus dem Kirchenstaat entzogen, und die Anteile der in einer Abrechnungsperiode verstor- benen Kardinäle wurden dem Papst zugeschlagen69. Aus dem Jahr 1437 sind die ersten Statuten der Kammer des Kollegs erhalten. Möglicherweise als Reaktion auf die unter Martin V. eingetretenen Verluste an Autonomie wurde in ihnen geregelt, dass der Kämmerer des Kollegs aus dem Kreis der Kardinäle für jeweils ein Jahr zu wählen und erst drei Jahre nach Ablauf der Amtsperiode erneut wähl- bar sei; des Weiteren wurde die Pflicht zur Buchführung und Rechenschaftslegung eingeschärft. Grundsätzlich durften nur an den Konsistoriumssitzungen teilneh- mende Kardinäle an der Verteilung der Gebühren partizipieren. Die wichtigste Ausnahme von dieser Regel betraf die Kardinallegaten, die seit 1432 ihren Anteil weiter kassierten. Die erhaltenen Register belegen eine penible Abrechnung, für die offenkundig eine Art Anwesenheitsliste geführt wurde70. Die Einkommenssituation der Kardinäle gestaltete sich sehr unterschiedlich. Ein Entwurf zur Kurienreform, der durch Nikolaus von Kues formuliert worden war, rechnete mit etwa 4.000 Gulden als ausreichendem Jahreseinkommen eines Kardinals71. Die meisten Kardinäle bezogen ein wesentlich höheres Einkommen, das sich aus vielen Quellen, hauptsächlich aber aus dem Ertrag von Pfründen, spei- ste72. Einzelne Großverdiener im Kolleg erreichten über 50.000 Gulden Einkom- men pro Jahr allein aus ihren Pfründen. Zum Vergleich: Die Ausgaben des päpst- lichen Haushalts wurden pro Jahr auf 20.000 Gulden, diejenigen der gesamten Kurie auf etwa 150.000 Gulden geschätzt. An der Kurie anwesende Kardinäle ge- nossen in ihren eigenen Pfründenangelegenheiten den Vorteil der Gebührenfrei- heit. Die gute Ausstattung vieler Kardinäle, vor allem ihre Pfründenkumulation

69 Vgl. Decker, Politik, S.128f. 70 Vgl. Baumgarten, Untersuchungen, S. LXXXIX–XCIV; zu den Registern siehe oben. 71 Vgl. Miethke, Reform des Hauptes, S. 129ff., bes. 132; für einen Überblick zu den Einkommens- vorstellungen der Reformvorschläge des 15. Jahrhunderts vgl. Jedin, Analekten, S. 88ff.; des Wei- teren: Chambers, Economic predicament; Richardson, Reclaiming Rome, S. 83–86. 72 Zum Folgenden vgl. exemplarisch Märtl, Jouffroy, S. 238ff.; weitere Arbeiten zu Zeitgenossen: Brosius, Pfründen (Piccolomini); Chambers, Renaissance cardinal, S. 38–44 (Gonzaga); Meuthen, Pfründen (Nikolaus von Kues); Paschini, Benefici (Marco Barbo); Hausmann, Benefizien, S. 28ff. (Ammannati Piccolomini); des Weiteren: Chambers, Economic predicament. 360 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien und die Anhäufung von Kommenden, bot Anlass zur Kritik; von außen auf die Kurie blickende Kritiker untermauerten Forderungen nach einer Beschränkung der Zahl der Kardinäle häufig mit dem Argument, dass ihre Vermehrung nur die Kirche belaste. In ihren eigenen Kreisen konnten Kardinäle aber meist auf ver- ständnisvolle Behandlung ihrer Pfründenwünsche rechnen, zumal deren Notwen- digkeit mit den unvermeidlichen Aufwendungen, die der Status des Kardinals mit sich brachte, und mit ihren Leistungen für die Kirche begründet werden konnte. Gleichwohl gab es um die Mitte des Jahrhunderts Mitglieder des Kollegs, deren Ausstattung nach allgemeiner Ansicht ein Minimum unterschritt. In den 1458 und 1464 verfassten Wahlkapitulationen wurde deshalb festgesetzt, dass Kardinäle, die unter einem Einkommen von 4.000 Gulden blieben, so lange monatliche Zu- schüsse von 100 Gulden aus der päpstlichen Kasse erhalten sollten, bis sie diese Summe aus anderweitigen Versorgungsmaßnahmen erreichten. Tatsächlich wur- den derartige, teils wesentlich höhere Einkommensbeihilfen unter Pius II. und Paul II. ausgezahlt73. Umgekehrt konnten und mussten die Kardinäle der Aposto- lischen Kammer in Notlagen mit Bargeld unter die Arme greifen. Dies lässt sich im Pontifikat Pius’ II. gut nachvollziehen, in dem vor allem durch wiederholte Kriegsanstrengungen eine akute Finanzkrise eintrat74. Der Kämmerer Ludovico Trevisan stellte bereits im Jahr 1461 aus seinem Privatvermögen mehrere tausend Gulden zur Verfügung, für die er sich Teile des päpstlichen Silbergeschirrs ver- pfänden ließ. Im Herbst 1462 mussten sechs Kardinäle mit einem Darlehen von insgesamt 6.000 Gulden einspringen, wobei daran gezweifelt wurde, ob der Papst diese Summe zurückzahlen könne. Unter Paul II. rühmt einer der Biographen des Papstes an Jean Jouffroy, dass dieser der Apostolischen Kammer freigiebig Dar- lehen gewähre, ohne dafür Zinsen zu fordern, während andere Mitglieder des Kol- legs sich ihre Anleihen honorieren ließen75.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass es für den einzelnen Kardinal ein Höchstmaß an persönlicher Kontaktpflege in alle Richtungen erforderte, um den kardinalizi- schen Anspruch auf Mitwirkung an der Kirchenregierung zu wahren und mit Le- ben zu füllen. Manche Kardinäle erschienen häufig zu Einzelaudienzen beim Papst, um ihre Anliegen mit Nachdruck zu vertreten. Pius II. berichtet in den Commen- tarii über seinen Versuch, den Druck, der durch ihr persönliches Insistieren ent-

73 Vgl. Becker, Ansätze, S.338, 343 (jeweils Nr.5); Meuthen, Die letzten Jahre, S. 95f.; Märtl, Papst, S. 180, mit Anm. 18 und 19; Richardson, Reclaiming Rome, S. 88. 74 Zur Finanzkrise 1462 vgl. Märtl, Papst, S. 188f.; zum Darlehen Trevisans ebd., S. 189, Anm. 68; die Zwangsanleihe der Kardinäle wird erwähnt in Archivio di Stato di Mantova, Archivio Gon- zaga, b. 841, Nr.479 und 480 (Francesco Gonzaga an seine Eltern, 29. September 1462). 75 Gaspare da Verona, De gestis, S. 38. Kardinalskarrieren und die Zusammensetzung des Kollegs (1417–1471) 361 stand, zu vermindern: Er untersagte es den Kardinälen, für andere Suppliken vor- zulegen, die zukünftig nur mehr über die Referendare laufen sollten. Diese Maß- nahme, die auch im Kurienreformplan Pius’ II. normativ vorgeschrieben wurde, war ein Angriff auf die mittels Empfehlungen bewerkstelligte Netzwerkpflege der Kardinäle76. Doch konnte es der Papst kaum ablehnen, die Kardinäle zu empfan- gen, wollte er nicht ausdrücklich Ungnade signalisieren. Einzelgespräche mit Mit- gliedern des Kollegs im Sinne des divide et impera gehörten zudem zu den wich- tigsten päpstlichen Herrschaftsstrategien. Umgekehrt diente aus der Perspektive der Kardinäle die Übernahme von Aufgaben, die dem gerade regierenden Pontifex besonders am Herzen lagen, der Stärkung der eigenen Position. Während Kar- dinäle, hohe Kuriale und auswärtige Gesandte vor den päpstlichen Gemächern an- tichambrierten, stieg der Informationsfluss auf ein Maximum, und damit bot sich auch die Möglichkeit, durch gesteuerte Streuung von Nachrichten Einfluss zu neh- men. Als Gelegenheit gezielter Beziehungspflege nicht zu unterschätzen sind auch die Pflichtbesuche, die den Kardinälen von auswärtigen Gesandten abgestattet wurden; die wichtigeren Mitglieder des Kollegs nutzten diese Kontakte, um selbst Politik zu betreiben. Das schwer nachvollziehbare Geflecht täglicher Kommuni- kation, in dem sich die Teilhabe der Kardinäle an der Kirchenregierung situations- gebunden und nach heutigem Verständnis vielfach eher informell verwirklichte, stellte den Humus dar, auf dem die Strukturen der Entscheidung wurzelten.

II. Wer wird Kardinal? Kardinalskarrieren und die Zusammensetzung des Kollegs (1417–1471) (Jürgen Dendorfer)

Die Größe des Kardinalskollegs pendelt im untersuchten Zeitraum um die von den Konzilien als Reformvorstellung formulierte Anzahl von 24 Kardinälen. Seit dem Pontifikat Sixtus’ IV. (1471–1484) wurden deutlich mehr Kardinäle kreiert; auch aus dieser Sicht stellt sein Pontifikat einen Einschnitt in der Geschichte des Kardi- nalats dar77. Am Beginn des Zeitabschnitts war die Anzahl der Kardinäle deshalb größer, weil die Kollegien der drei Schisma-Obödienzen zu einem Kardinalskolleg vereint werden mussten. An der Wahl Papst Martins V. 1417 in Konstanz nahmen

76 Haubst, Reformentwurf, S. 213, Nr.38; vgl. Pellegrini, Pio II, S. 40. 77 Grundlage für das Folgende ist eine Auswertung der für das 15. Jahrhundert in der Regel zuverläs- sigen Kardinalslisten bei Eubel, Hierarchia catholica II, die gelegentlich durch Angaben aus der Se- kundärliteratur korrigiert wurden. Das Ergebnis dieser Korrektur floss in die am Ende des Buches gegebene Kardinalsliste ein. Namen und Kreationsdaten folgen ihr. Als Überblick zur Zusammen- setzung des Kardinalskollegs nicht nur für das 15. Jahrhundert: Broderick, The sacred college. 362 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

23 Kardinäle aus den drei Obödienzen teil, zu diesem Zeitpunkt gab es insgesamt 30 Kardinäle78. In den nächsten neun Jahren kreierte der Colonna-Papst keine neuen Kardinäle, weil er die in den Konstanzer Konkordaten fixierte Norm von 24 Kardinälen beachtete79. Die Päpste, die zur Zeit der Konzilien von Konstanz und Basel wirkten – Martin V. (1417–1431), Eugen IV. (1431–1447) und Niko- laus V. (1447–1455) –, hielten diese Grenze ein, erst in der zweiten Kardinals- kreation Papst Pius’ II. (1461) überschritt das Kolleg diese Zahl, als normativer Bezugspunkt bleibt sie aber in den folgenden Jahren noch von Bedeutung. Das Kardinalskolleg ist somit im untersuchten Zeitraum größer als im 13. und im 14. Jahrhundert. Die in Rom, an der Kurie präsenten Kardinäle bleiben aber eine überschaubare, unter der Höchstzahl liegende Gruppe.

1. Die Herkunft der Kardinäle Noch deutlicher unterscheidet sich das Kolleg des 15. Jahrhunderts in der Her- kunft seiner Mitglieder von dem des 14. Jahrhunderts. Zur Zeit des Schismas ver- suchten die Päpste der jeweiligen Obödienzen durch die Kreation neuer Kardinäle Anhänger zu gewinnen. Sie erhoben dafür Kandidaten, die nicht nur aus den an- gestammten Regionen (Italien oder Frankreich) kamen. Der Effekt war eine In- ternationalisierung des Kollegs, wie es sie vor dem Schisma nicht gegeben hatte80. Nach 1417 blieb diese Prägung des Kollegs bestehen. Könige und Fürsten sahen es in diesem Zeitraum zudem offenbar als politisches Ziel an, durch einen eigenen Kardinal im Kolleg vertreten zu sein. Politische Notwendigkeiten verbunden mit den konziliaren Leitvorstellungen eines die Christenheit breit repräsentierenden Kollegs führten deshalb dazu, dass die Kardinalskreationen der Päpste nach 1417 diesen internationalen Charakter des Kollegs fortschrieben. Vor allem die großen Kreationen Martins V. von 1426 (12/14 Kardinäle)81 und Eugens IV. von 1439 (17 Kardinäle)82 berücksichtigten ein Personaltableau, das in seiner Repräsentati- vität keine Wünsche offenließ. Als Ergebnis dieser Entwicklungen finden sich im Kolleg des 15. Jahrhunderts zum ersten Mal seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts wieder deutsche Kardinäle83, regelmäßig Engländer84 und Vertreter der König- reiche der Iberischen Halbinsel. Dies alles neben einem ständig präsenten Anteil

78 Vgl. dazu Eubel, Hierarchia catholica II, S. 3–5. 79 Die Konkordate Martins V. mit Spanien, dem Reich und Frankreich enthalten explizit die Bestim- mung, dass die Anzahl der Kardinäle auf 24 beschränkt sei. Vgl. Raccolta di concordati, S. 145, 151, 158; Quellen zur Kirchenreform I, Nr.XVI, S. 516–545. 80 Grundlegend: Girgensohn, Wie wird man Kardinal?. 81 Eubel, Hierarchia catholica II, S. 6; ders., Cardinalsernennung. 82 Bianca, I cardinali, S. 147f. 83 Johann von Bucca, Peter von Schaumberg, Nikolaus von Kues, Burchard von Weisspriach. 84 Bellenger/Fletcher, Princes. Kardinalskarrieren und die Zusammensetzung des Kollegs (1417–1471) 363 von Franzosen und einem immer vorhandenen basso continuo der Kardinäle ita- lienischer Herkunft, der am Ende dieses Zeitraums lauter wird. Diese Entwicklung soll an drei zeitlichen Schnitten verdeutlicht werden: 1. dem Kardinalskolleg am Ende des Pontifikats Martins V. (1431), als die deutlichsten Folgen des Schismas überwunden waren, 2. dem Kolleg beim Tod Papst Nikolaus’ V. (1455) und somit nach dem Basler Konzil bzw. nach der Bewältigung des letzten Schismas der Papst- geschichte durch die Integration der Obödienz Felix’ (V.) und 3. am Ende des Un- tersuchungszeitraums beim Tod Papst Pauls II. (1471). Nach dem Pontifikat Martins V. (1417–1431) bestand das Kardinalskolleg aus 22 Mitgliedern85, von denen 14 am Konklave teilnahmen. Sortiert man die Kar- dinäle nach den Konstanzer nationes, dann ergibt sich folgendes Bild86: Zwölf Kar- dinäle, und damit eine Mehrheit, gehörten der natio Italica an87, fünf waren Fran- zosen88, vier sind der natio Hispanica zuzurechnen, und mit Henry Beaufort war auch ein Engländer Kardinal. In dieser relativ ausgewogenen Zusammensetzung bestand nur knapp die Hälfte des Kollegs aus italienischen Kardinälen. Die Ereig- nisse der nächsten Jahrzehnte sollten ihren Anteil noch stärker zurücktreten lassen. Papst Eugen IV. (1431–1447) bemühte sich, die Unterstützung für seine seit 1439 in Konkurrenz mit dem vom Konzil gewählten Gegenpapst Felix (V.) ste- hende Obödienz durch Kardinalserhebungen zu verstärken. Die große damit zu- sammenhängende Kreation von 1439 führte noch einmal zu einer deutlichen Aus- weitung der im Kardinalskolleg vertretenen Regionen. Papst Nikolaus V. (1447– 1455) oblag es dann, die Folgen des letzten Papst-Schismas der Kirchengeschich- te im Kardinalskolleg rückgängig zu machen. Das Ende seines Pontifikats ist des- halb ein sinnvoller Einschnitt, um die Zusammensetzung des Kardinalskollegs nach dem Ausklingen des Konflikts mit dem Basler Konzil zu erfassen. Zu diesem Zeitpunkt wurde eine Internationalität der Zusammensetzung erreicht, die es zu- vor nicht gegeben hatte und bis ins 20. Jahrhundert nicht mehr geben sollte. Von den 21 Kardinälen, die beim Tod Nikolaus V. das Kolleg bildeten89, kamen nur sechs aus Italien90. Bei den Italienern handelte es sich entweder um Nepoten bzw.

85 Decker, Politik, S.115. Dies unter Einschluss der strittigen Frage des «nicht publizierten» Do- menico Capranica. 86 Vgl. die Übersicht ebd., S. 133. 87 Giordano Orsini, Antonio Correr, Antonio Pancerino, Gabriele Condulmer, Branda Castiglione, Lucido Conti, Antonio Casini, Niccolò Albergati, Ardicino della Porta, Prospero Colonna, Giu- liano Cesarini, Domenico Capranica. 88 Pierre de Foix, Jean de Rochetaillée, Louis Aleman, Guillaume de Montfort. Mit einbezogen wird hier der dem französischen Königshaus nahestehende Hugues de Lusignan. 89 Vgl. Pastor, Geschichte der Päpste I, S. 656–658. 90 Prospero Colonna, Domenico Capranica, Ludovico Trevisan, Pietro Barbo, Latino Orsini, . 364 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

Vertraute der vorhergehenden Päpste und/oder um stadtrömischen Adel91. Die ita- lienischen Republiken und Fürstentümer Mittel- und Oberitaliens sind zu diesem Zeitpunkt – mit Ausnahme Venedigs – nicht im Kolleg vertreten! Frankreich stellt fünf92, die Iberische Halbinsel vier Kardinäle93, die auch das aragonesische König- reich Neapel vertreten. Am erstaunlichsten ist aber, dass es gleich zwei deutsche Kardinäle gibt94, dass Polen und Ungarn jeweils einem Kardinal haben95 und als Ergebnis der Unionsverhandlungen mit der Kirche des Ostens zwei «Griechen» dem Kolleg angehören96. Am Konklave selbst nahmen 15 Kardinäle teil, auch hier waren die Italiener in der Minderheit97. In den Pontifikaten der Frührenaissance wurden das Papsttum und der erneuerte Kirchenstaat wieder stärker zu einem Faktor in der Politik der italienischen Halb- insel. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in dem sich verändernden Kardinals- kolleg. Kleinere und größere italienische Potentaten und Republiken bemühten sich darum, einen Vertreter ins Kolleg zu entsenden, und hatten damit Erfolg, auf lange Sicht sollte diese Tendenz prägend für die Zusammensetzung des Kardinalskollegs werden98. In diesem Zeitraum begann diese Entwicklung, noch prägender waren aber die Effekte des Nepotismus der mit Ausnahme Calixts III. aus Italien stammen- den Päpste. In den Pontifikaten Calixts III. (1455–1457), Pius’ II. (1458–1464) und Pauls II. (1464–1471) vollzog sich auf diesem Wege eine merkliche Italianisierung des Kollegs. Am Ende des Untersuchungszeitraums, nach dem Tod Papst Pauls II. (1471), bestand das Kolleg aus 25 Kardinälen, von denen 18 in Rom anwesend wa- ren und das Konklave, aus dem Sixtus IV. als Papst hervorging, bezogen99. Von die- sen 25 Kardinälen kam weit mehr als die Hälfte aus Italien (16)100, immerhin noch

91 Nepoten bzw. Vertraute Martins V.: Prospero Colonna, Domenico Capranica; Eugens IV.: Ludo- vico Trevisan, Pietro Barbo; Nikolaus’ V.: Filippo Calandrini; stadtrömischer Adel: Latino Orsini und Prospero Colonna. 92 Pierre de Foix, Guillaume d’Estouteville, Alain de Coëtivy, Guillaume Hugues d’Estaing, Jean Ro- lin. 93 Juan de Torquemada, Alonso de Borja, Juan de Carvajal, Antonio de Cerdá. 94 Den nicht an der Kurie anwesenden Bischof von Augsburg Peter von Schaumberg und Nikolaus von Kues. 95 Polen: Zbigniew Oleśnicki; Ungarn: Dionysius Széchy. 96 Isidor von Kiew, Bessarion. 97 Pastor, Geschichte der Päpste I, S. 657, von den 15 Wählern stammten nur sieben aus Italien. Bei der Wahl selbst spielte eine solche Unterteilung in Herkunftsregionen allerdings keine Rolle. 98 Vgl. zu dieser Politisierung des Kardinalskollegs ab dem Pontifikat Sixtus’ IV. Somaini, Un prelato lombardo, S. 680–691, sowie den Beitrag von Marco Pellegrini in diesem Band. 99 Grégoire, Il sacro collegio. 100 Latino Orsini, Filippo Calandrini, Angelo Capranica, Berardo Eroli, Niccolò Fortiguerri, Barto- lomeo Roverella, Jacopo Ammannati, Francesco Todeschini Piccolomini, Francesco Gonzaga, Oliviero Carafa, Marco Barbo, Amico Agnifili, Francesco della Rovere, Teodoro Paleologo del Monferrato, Giovanni Battista Zeno, Giovanni Michiel. Kardinalskarrieren und die Zusammensetzung des Kollegs (1417–1471) 365 fünf stammten aus Frankreich oder Burgund101, während die Iberische Halbinsel nur mehr mit zwei Kardinälen – beide Nepoten Papst Calixts III. – vertreten war102 und ein Kardinal in England wirkte103. Eine Reminiszenz an die Unionsverhandlungen war der «Grieche» Kardinal Bessarion, der ein Jahr später sterben sollte.

2. Die Prägung und Vorbildung der Kardinäle Die rund 120 Geistlichen, die in diesem Zeitraum den Purpur trugen104 – von ihnen wurden 90 neu kreiert –, wiesen in der Regel eine Vorbildung auf, die den Reformvorstellungen der Konzilien von Konstanz bzw. Basel entsprach. Die Konstanzer Konzilsväter hatten im Reformausschuss konkrete Anforderungen formuliert, die in die Konkordate Martins V. mit den Konzilsnationen eingin- gen105. An der Kurie galt dieser Text De numero et qualitate cardinalium, auf dem das Dekret der 23. Session des Basler Konzils beruhte, bis in die Zeit Pius’ II. als Dekret des Konstanzer Konzils. Wahlkapitulationen der Kardinäle forderten sei- ne Berücksichtigung bei den Kardinalskreationen ein. Dieser wichtige Referenz- text beschrieb als Qualifikation der Kardinäle: Kardinäle sollten sich durch ihr Wissen, durch ihre Lebensführung und ihre Erfahrung auszeichnen (sint viri in scientia moribusque rerum experientia excellentes)106. Zum Zeitpunkt ihrer Krea- tion seien sie älter als 30 Jahre und verfügten über eine universitäre, durch Ab- schlüsse dokumentierte Vorbildung in der Theologie oder in weltlichem oder geist- lichem Recht107. Für die – wenigen – Fürstensöhne im Kolleg reiche es hingegen aus, wenn sie lesen könnten108. Die Aufnahme von Nepoten der Kardinäle ins Kol- leg wollten schon die Konstanzer Konzilsväter verbieten, erst die Basler wandten sich auch gegen den päpstlichen Nepotismus109. Gerade die letzte Forderung war weder für den – selteneren – Kardinalsnepotis- mus noch für den für die Päpste zur notwendigen Gewohnheit gewordenen Nepo-

101 Guillaume d’Estouteville, Alain de Coëtivy, Jean Rolin, Jean Jouffroy, Jean Balue. 102 Luis Juan de Mila, Rodrigo Borgia. 103 Thomas Bourchier. 104 Genau 117, worunter neben den 30 Kardinälen, die Papst Martin V. (1417–1431) zum Zeitpunkt seiner Wahl vorfand, alle weiteren, in diesem Zeitraum kreierten und publizierten Kardinäle ge- zählt werden – die der Obödienz Felix (V.) nur dann, wenn sie von Nikolaus V. anerkannt wurden. 105 Zum Entwurf des Konstanzer Reformatoriums: Stump, Reforms, S. 394f.; zum identischen Text der Konkordate mit Spanien, Frankreich und dem Reich: Raccolta di concordati, S. 145 (Spanien). 106 Raccolta di concordati, S. 145. 107 Ebd., S. 145: . . . doctores in theologia aut in jure canonico vel civili . . . 108 Ebd., S. 145: . . . praeter admodum paucos qui de stirpe regia vel ducali, aut magni principis oriundi existant, in quibus competens litteratura sufficiat. 109 Ebd., S. 145: . . . non fratres aut nepotes ex fratre vel sorore alicujus cardinalis viventis . . . Die Basler erweitern den Text an dieser Stelle auf: Non fiant cardinales nepotes ex fratre vel sorore Romani pontificis, aut alicuius cardinalis viventis . . . 366 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien tismus einzuhalten110. Allerdings gestand das bis in die Zeit Sixtus’ IV. maßgeblich an den Kardinalskreationen beteiligte Kolleg den jeweiligen Päpsten nur ein bis drei Nepoten (am Ende des Zeitraums mehr) im engeren Sinne, d. h. leibliche Ver- wandte bzw. wirkliche Neffen, zu. Daneben gab es aber einen kleineren Kreis von dem Papst nahestehenden, weitschichtigeren Verwandten oder/und seiner Kardi- nals-familia angehörenden Personen. Der Kreis der «Papstneffen» unterschied sich zumeist auch durch sein Alter und seine Vorbildung zum Zeitpunkt der Kardinals- erhebung von den anderen Kardinälen. Er ist deshalb als eigene Gruppe zu sehen, für welche die oben genannten Qualifikationsanforderungen nicht in jedem Punkt galten111. So war der Neffe Martins V., Prospero Colonna, zum Zeitpunkt seiner Kardinalserhebung keine 30 Jahre alt und hatte nicht studiert. Zu jung waren auch die Neffen Papst Calixts III., Rodrigo Borgia und Luis Juan de Mila, auch ihnen mangelte es an universitärer Vorbildung, selbst wenn sie kurz vor der Kardinalser- hebung gleichsam in einem Schnellkurs in Bologna in ius promoviert wurden. Ähn- liches gilt für den bei seiner Erhebung erst 21-jährigen Nepoten Pius’ II., Francesco Todeschini Piccolomini, oder für die Nepoten Pauls II., Giovanni Battista Zeno und Giovanni Michiel. Andere Papstverwandte wie Francesco Condulmer (Eugen IV.), Filippo Calandrini (Nikolaus V.), Jacopo Ammannati Piccolomini (Pius II.) oder Marco Barbo (Paul II.) waren dagegen schon älter und verfügten über Erfahrung an der Kurie bzw. in Bischofsämtern. Obwohl bei den Papstneffen nicht immer die erforderliche Vorbildung eingehalten wurde, ist das Bemühen zu erkennen, zumin- dest pro forma die geforderten Abschlüsse vorzuweisen. Neben diesem Kreis von elf eigentlichen Papstnepoten gab es noch eine Gruppe von Kardinälen, die aus dem engeren Umfeld, z. B. aus der Kardinals-familia, der jeweiligen Päpste kam112. Die- se Kandidaten entsprachen in der Regel den auf den Konzilien formulierten Leit- vorstellungen. Sie waren ausnahmslos älter als 30 Jahre, hatten Universitäten mit Erfolg besucht, verfügten über eingehende Erfahrungen in der kurialen Verwaltung oder waren Bischöfe/Erzbischöfe vor ihrer Kardinalserhebung. Durchaus im Einvernehmen mit den Reformforderungen stand, dass die kleine Gruppe Angehöriger königlicher oder fürstlicher Dynastien im Kolleg nicht die- selbe Vorbildung wie die anderen Kardinäle hatte. Mit Zypern, Portugal waren

110 Dazu: Reinhard, Papa Pius; ders., Nepotismus; ders., Papstfinanz und Nepotismus; ders., Strut- tura e significato; ders., Papal power. 111 Als wirkliche bzw. leibliche Neffen der jeweiligen Päpste wurden erhoben unter Martin V.: Pros- pero Colonna; Eugen IV.: Francesco Condulmer, Pietro Barbo; Nikolaus V.: Filippo Calandrini (Halbbruder); Calixt III.: Rodrigo Borgia, Luis Juan de Mila; Pius II.: Francesco Todeschini Pic- colomini, Jacopo Ammannati Piccolomini (adoptiert), Niccolò Fortiguerri; Paul II.: Marco Bar- bo, Giovanni Battista Zeno, Giovanni Michiel. 112 Martin V.: Domenico Capranica; Eugen IV.: Ludovico Trevisan; Pius II.: Berardo Eroli. Kardinalskarrieren und die Zusammensetzung des Kollegs (1417–1471) 367 eher nachrangige königliche Dynastien in den Randgebieten Europas im Kolleg vertreten. Die Erhebung dieser Kardinäle war der Kreuzzugsproblematik geschul- det113. Daneben lassen sich gewisse weitschichtigere Verbindungen zum franzö- sisch-burgundischen Raum erkennen. Die Entwicklung, dass sich die führenden Familien Italiens um ein Mitglied im Kardinalskolleg bemühen, setzt in diesem Zeitraum erst zögerlich ein. Mit den Gonzaga (Pius II.) und den Montferrat (Paul II.) finden sich nur zwei kleinere Dynastien114. Erst in der letzten, nicht mehr publizierten Kreation Pauls II. wird mit den Foscari eine weitere einflussreiche Familie Venedigs den Weg ins Kardinalskolleg finden und damit die Präsenz der Serenissima verstärken. Damit beschleunigte sich die Entwicklung, dass die wich- tigsten Staaten der italienischen Halbinsel im Kolleg vertreten waren. In den letz- ten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts wurden Kardinäle aus den Dynastien der Sforza, Medici und anderen eine Selbstverständlichkeit. Weder die Gruppe der Papstnepoten noch die der Fürstensöhne aber war in diesem Zeitraum repräsentativ für das Erscheinungsbild des Kollegs. Seine Mehr- heit bestand aus universitär gebildeten, im Verwaltungsdienst weltlicher Herren oder als Bischof erfahrenen Kandidaten. In diesem Zeitraum gehörten dem Kar- dinalskolleg bedeutende Gelehrte wie Nikolaus von Kues, der Theologe Juan de Torquemada oder der für die Vermittlung der Schriften Platons so wichtige «Grie- che» Bessarion an. Sie ragten als Persönlichkeiten aus einem Kardinalskolleg hervor, dessen Mitglieder abgesehen von den wenigen beschriebenen Sonderfällen über universitäre Abschlüsse verfügten. Am häufigsten waren sie doctores utrius- que. Durch Examen belegte Rechtskenntnisse lassen sich fast für die Hälfte aller neu kreierten Kardinäle des Zeitraums nachweisen115. Dagegen sind Magister oder Lizentiaten, sehr selten doctores der Theologie zwar kontinuierlich vertreten,

113 Zypern: Hugues de Lusignan; Portugal: Jaime (de Portugallia), Jaime de Cardona; daneben un- ter Eugen IV.: Louis de Luxembourg. 114 Francesco Gonzaga, Teodoro Paleologo del Monferrato. 115 Im Folgenden werden in der Sekundärliteratur genannte Abschlüsse in weltlichem und geistlichem Recht (doctor utriusque iuris) oder in einem von beiden angeführt (in der Reihenfolge der von den jeweiligen Päpsten kreierten Kandidaten). Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständig- keit und kann die fehlenden prosopographischen Studien zum Kardinalskolleg im 15. Jahrhun- dert nicht ersetzen. Martin V.: Domingo Ram, Jean de Rochetaillée, Louis Aleman, Juan Cer- vantes, Ardicino della Porta, Giuliano Cesarini, Antonio Casini, Raimond Mairose; Eugen IV.: Giovanni Vitelleschi, Regnault de Chartres, John Kemp, Giorgio Fieschi, Nicola Acciapaccia, Gerardo Landriani, Peter von Schaumberg, Jean Le Jeune, Dionysius Széchy, Guillaume d’Estou- teville, Alonso de Borja, Juan de Carvajal; Nikolaus V.: Latino Orsini, Nikolaus von Kues, Jean d’Arces, Louis de Lapalud, Guillaume Hugues d’Estaing; Calixt III.: Juan de Mella, Giovanni Castiglione, Giacomo Tebaldi, Richard Olivier de Longueil; Pius II.: Berardo Eroli, Niccolò Forti- guerri, ; Jean Jouffroy; Paul II.: Thomas Bourchier, Stephanus Várday, Oli- viero Carafa, Amico Agnifili, Jean Balue, Giovanni Battista Zeno. 368 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien insgesamt aber nur in kleiner Anzahl nachweisbar116. Eine bloße Ausbildung in den artes, ohne anderweitige Abschlüsse, war selten, sie ist offensichtlich ein erst ab der Zeit Eugens IV. nachweisbares Karrieremodell und nur bei wenigen Kar- dinälen, etwa bei den großen Humanisten – wie Enea Silvio Piccolomini –, zu er- kennen. Selbst bei der derzeitigen, sehr fragmentarischen Erforschung der Kardi- nalsprosopographie des 15. Jahrhunderts lässt sich also für einen Großteil der Kardinäle belegen, dass er den Reformforderungen der Konzilszeit entsprach. Nepoten und Fürstensöhne stellen zwar ebenfalls etwa ein Viertel der Kardinäle dieses Zeitraums. Bei den Nepoten ist das Bemühen zu erkennen, im Umfeld der Erhebung Studien nachzuweisen. Auch ihre Erhebung sollte also an das Idealbild angeglichen werden. Die Kardinäle dieses Zeitraums zeichnen sich somit als eine durch ihre Ausbildung relativ homogene Gruppe ab, die im Wesentlichen dem Mi- lieu der «gelehrten Räte», das die Höfe Europas in dieser Zeit prägte, entspricht. Maßgeblich für ihren Aufstieg zum Kardinalat war aber nicht diese in der Regel wenig spektakuläre Vorbildung, sondern andere Faktoren.

3. Wie wird man Kardinal? Kardinalskarrieren im 15. Jahrhundert Der Weg zum Kardinalat ließ sich nicht planen. Karrierewege, die zwangsläufig mit dem Kardinalshut enden mussten, gab es in diesem Zeitraum nicht. Seit dem Ende des Schismas hatte sich zwar offenbar die Vorstellung ausgebildet, dass die Kar- dinäle durch ihre Herkunft aus unterschiedlichen Regionen im Kolleg die gesamte Christenheit repräsentieren und dass sie über eine gewisse, nach Möglichkeit uni- versitäre Vorbildung verfügen sollten. Auch dass ein Papst einen überschaubaren Kreis von Nepoten erheben durfte, war zwar nicht Auffassung der Reformer, galt aber an der Kurie als unstrittige Praxis. Doch gaben diese im Kern – wie zu zeigen war – eingehaltenen Bestimmungen nur einen ungefähren Rahmen vor. Aus ihrer Einhaltung resultierten keine konkreten Personalvorschläge. Die im Schatten des drohenden oder des in Basel tagenden Konzils eingehaltene Anzahl von 24 Kar- dinälen beschränkte die Möglichkeiten, neue Kardinäle zu erheben. Der oligarchi- sche Stolz des an den Entscheidungen zu beteiligenden Kardinalskollegs verhinder- te ebenso wie dessen Sorge um das eigene Einkommen eine Überschreitung dieser Zahl. Von Kardinalskreation zu Kardinalskreation rangen in diesen Zeitraum des- halb der Papst, das Kardinalskolleg und die sich nachdrücklich um einen Vertreter im Kolleg bemühenden Könige und Fürsten um die Details. Unterschiedliche Inter- essen trafen hart aufeinander. Welche Kandidaten sich im Prozess der Meinungsbil- dung zwischen Papst und Kardinalskolleg durchsetzen würden, war nicht absehbar.

116 Martin V.: Juan Cervantes, Juan de Casanova (Magister, Letzterer zugleich doctor utriusque); Eugen IV.: Giovanni Berardi di Tagliacozzo, John Kemp, Juan de Torquemada, Tommaso Parentu- celli; Nikolaus V.: Antonio de Cerdá; Paul II.: Francesco della Rovere; Pius II.: Alessandro Oliva. Kardinalskarrieren und die Zusammensetzung des Kollegs (1417–1471) 369

Jede Kardinalserhebung war in ein kompliziertes Bedingungsgefüge eingebettet, das von Fall zu Fall der Analyse bedürfte. Die diplomatischen Vorbereitungen und Verhandlungen lange vor dem sich ankündigenden Ereignis sowie das Auseinan- dertreten von Kreation im consistorium secretum und Publikation der ernannten Kardinäle im consistorium publicum, die bei in-pectore-Kreationen lange auf sich warten lassen konnte, zeigen, dass der Erwartungsdruck einer breiteren Öffentlich- keit auf dem Geschehen um die Kardinalserhebung lastete. Auf gewisse Weise blieb eine Kreation deshalb immer ein kontingentes, von den jeweiligen politischen Um- ständen abhängiges Phänomen, dessen Verlauf nicht planbar war. Ob und wie man Kardinal wurde, war deshalb für den jeweiligen Bewerber nur schwer abschätzbar. Dennoch ergeben sich aus der Rückschau einige typische Kar- rierewege, auf denen man zum ersehnten Purpur gelangen konnte. Girgensohn hat für die Zeit des Schismas fünf Kriterien benannt, die selten alleine, aber in der Ver- bindung einer oder mehrerer Qualifikationen zum Kardinalat führen konnten117. Auch für das halbe Jahrhundert nach dem Ende des Schismas erklären diese Krite- rien noch gültig Karrierewege zum Kardinalat. Im Schisma, so darf als erste Beob- achtung festgehalten werden, spielte sich offenbar ein Modus der Auswahl von Kan- didaten ein, der bis weit ins 15. Jahrhundert Bestand hatte. Zwei der Kriterien, die in Zeiten des Schismas besonders wichtig waren, verloren aber an Bedeutung. Eine herausragende Stellung in der kirchlichen Hierarchie, sei es als Erzbischof, Bischof oder Ordensgeneral, kann die Grundlage für einen Kardinalat sein, dieses Kriterium war aber nach 1417 eher selten ausschlaggebend118. Die Erhebung herausragender Vertreter der kirchlichen Hierarchie scheint vielmehr ein Mittel des Ringens um Zu- stimmung für die eigene Obödienz zu sein und war deshalb unter den Notwendig- keiten des Schismas wichtiger. Auch im Untersuchungszeitraum wurden Erzbischö- fe, die an der Spitze ihrer «Landeskirchen» standen, zu Kardinälen erhoben. Gehäuft trat dieses Phänomen in der Zeit der Konkurrenz Papst Eugens IV. mit dem Basler Konzilspapst Felix (V.) auf und somit wiederum in einer Schisma-Situation. In der großen Kardinalskreation vom Dezember 1439, nach der Wahl Herzog Amadeus’ VIII. von Savoyen zu Papst Felix (V.), wurden elf von 17 Erzbischöfen und Bischö- fen vor allem wegen ihres Einflusses in ihrer jeweiligen Kirche vor Ort erhoben119.

117 Girgensohn, Wie wird man Kardinal?, S. 145–153. 118 Nach Girgensohn, Wie wird man Kardinal?, S. 149, war dies der Grund für ca. 30% der Kardi- nalserhebungen während des Schismas. 119 Frankreich: Regnault de Chartres (Erzbischof von Reims); Louis de Luxembourg (Erzbischof von Rouen); England: John Kemp (Erzbischof von York); Italien: Giorgio Fieschi (Erzbischof von Ge- nua); Nicola Acciapaccia (Erzbischof von Capua); Giovanni Berardi di Tagliacozzo (Erzbischof von Tarent); Polen: Zbigniew Oleśnicki (Bischof von Krakau); Ungarn: Dionysius Széchy (Bischof von Eger, später Erzbischof von Gran); Portugal: Antonio Martins de Chavez (Bischof von Por- to); aus der Kirche des Ostens: Erzbischöfe Isidor von Kiew und Bessarion von Nicäa. 370 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

In den meisten Fällen war damit ein politisches Element verbunden, handelte es sich doch häufig um Vertraute und Gesandte ihrer Herren, die an der Kurie bekannt waren und sich in den Verhandlungen der letzten Jahre ausgezeichnet hatten. Solche Kreationen herausragender Erzbischöfe und Bischöfe eines Landes auf Bitten des je- weiligen Fürsten gab es immer wieder, ihre Berücksichtigung hing aber eher von der politischen Stellung, die der jeweilige Fürst an der Kurie hatte, als von der Stellung des Kandidaten in der kirchlichen Hierarchie ab. An Ordensgenerälen wurden in der Zeit nur der General der Augustinereremiten Alessandro Oliva, und wenig später Francesco della Rovere, der Vorsteher der Franziskanerkonventualen, erhoben. Bei- de galten als hervorragende Gelehrte, womit ein zweites Kriterium genannt wäre, das in diesem Zeitraum zwar Bestand hatte, dessen quantitative Bedeutung aber eher gering war. Mit Nikolaus von Kues, mit dem Theologen Juan de Torquemada, mit Bessarion oder den genannten Vertretern der Bettelorden finden sich Gelehrte von Rang im Kardinalskolleg. Mit dieser Handvoll von Kardinälen ist der bedeutendste Kreis aber auch schon benannt. Zu ergänzen wäre im konziliaren Zeitalter diese Gruppe jedoch noch durch Kardinäle, die sich – auch, aber nicht ausschließlich auf- grund ihrer Gelehrsamkeit – auf den Konzilien von Konstanz und Basel hervortaten, auf die der Papst aufgrund ihrer Erfolge aufmerksam wurde und die dann an der Kurie reüssierten. So wurden die Kardinalskarrieren Jean de Rochetaillées, Louis Alemans, Nikolaus’ von Kues und – über den Umweg der Kanzlei Friedrichs III. – auch des Enea Silvio Piccolomini durch ihr Wirken auf dem Konzil initiiert. Entscheidend waren diese beiden Kriterien (Stellung in der kirchlichen Hierar- chie und Gelehrsamkeit) jedoch nicht, der größte Teil der Kardinäle kam aufgrund politischer Motive ins Kolleg. Kardinäle, die Vertraute oder Untergebene von Kö- nigen oder Fürsten waren und sich in Verhandlungen mit der Kurie bewährten, wurden von ihren Förderern aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Kurie gerne emp- fohlen; der Papst und die Kardinäle kannten sie und waren ebenfalls an solchen Mittlern zu Verbündeten interessiert. Im Kardinalskolleg des untersuchten Zeit- raums spiegeln sich auf diese Weise die politischen Verbindungen der Kurie. Die Nähe der Päpste des 15. Jahrhunderts zum Visconti- und vor allem Sforza-Mai- land zeigt sich in drei aufeinanderfolgenden Kardinälen aus dem Umfeld der Mailänder Herzöge120. Nach dem Ausgleich zwischen König Alfons V. von Nea- pel (1442–1458) und Papst Eugen IV. im Jahr 1442 fanden verstärkt Erzbischöfe und Bischöfe aus dem Umkreis der Könige von Neapel den Weg ins Kolleg. Bis 1471 sind insgesamt sieben Kardinäle durch ihre Herkunft zu Vermittlern zwi- schen der Kurie und dem regno berufen121. Spärlicher hingegen ist die Präsenz

120 Gerardo Landriani, Enrico Rampini, Giovanni Castiglione. 121 Giovanni Berardi di Tagliacozzo, Nicola Acciapaccia, Alonso de Borja, Giovanni de Primis, An- tonio de Cerdá, Rinaldo Piscicello, Oliviero Carafa. Kardinalskarrieren und die Zusammensetzung des Kollegs (1417–1471) 371

Mittelitaliens, etwa der Toskana und der mächtigen Republik Florenz, was durch- aus mit den politischen Gegebenheiten übereinstimmt122. Die Republik Venedig bemühte sich offenbar erst am Ende des Zeitraums um einen eigenen Kardinal. Zuvor sicherte der Correr-Condulmer-Barbo-Clan, der mit Eugen IV. und Paul II. gleich zwei Päpste stellte, eine angemessene Vertretung der Serenissima im Kolleg. Das Beziehungsnetz der Kurie über die italienische Halbinsel hinaus spiegelte sich ebenfalls im Kardinalskolleg. Kardinäle aus Frankreich wurden in der Regel auf Drängen des Königs erhoben. Neben herausragenden Erzbischöfen und Ge- lehrten aus dem Königreich, bei denen der Hintergrund der Erhebung nicht auf Anhieb erkennbar ist, gelangten auch Verwandte, Vertraute oder im diplomati- schen Dienst ausgewiesene Geistliche der französischen Könige ins Kolleg, bei de- nen der politische Kontext ihrer Erhebung offensichtlich ist. Aus dem Umkreis der Herzöge von Burgund kamen zwei Kardinäle123. Kaiser Sigismund standen zwei Kardinäle nahe124, und auch Friedrich III. brachte zwei Kandidaten durch (bis 1471)125. Die Iberische Halbinsel war in all ihren politischen Teilen präsent. Kar- dinäle aus Kastilien, Aragón und Portugal, immer aus der Nähe der Herrschen- den, waren über den ganzen Zeitraum vertreten126. Und selbstverständlich waren die drei englischen Erzbischöfe von Canterbury und York, die in diesem Zeitraum zu Kardinälen erhoben wurden, herausragende politische Figuren des König- reichs127. Zählt man zu den Kardinalserhebungen aus politischen Gründen auch die Angehörigen der königlichen und fürstlichen Häuser und die römischen Adli- gen im Kolleg, dann zeigt sich, dass dieses Merkmal die größten Aussichten bot. Nur die Verwandtschaft zum Papst versprach noch mehr Erfolg. Wie schon im 14. Jahrhundert stützten sich die Päpste auch im 15. Jahrhundert bei der Regierung der Kirche und des Kirchenstaats auf ihre Nepoten. Auch ins Kardinalskolleg, in dem sich nur ein Teil der nepotistischen Praxis abbildete, beriefen sie Verwandte oder nahestehende Personen. Dieses oben dargestellte Phänomen führte dazu, dass sich im Kardinalskolleg Verwandtschaftsgruppen finden, die ihren Aufstieg vor al- lem der Nähe zum jeweiligen Papst verdankten. Die im Pontifikat des Papstes Gre- gor XII. (1406–1415), Angelo Correr, im Kolleg konstituierte venezianische Grup-

122 Siena war immerhin mit Antonio Casini und dem allerdings auf Drängen des Kaisers promovier- ten Enea Silvio Piccolomini vertreten. Nur einmal findet sich mit Giorgio Fieschi ein Genuese im Kolleg. 123 Jean Rolin, Jean Jouffroy. 124 Johann von Bucca, Peter von Schaumberg. 125 Enea Silvio Piccolomini, Burchard von Weisspriach. 126 Kastilien: Juan Cervantes, Juan de Mella; Aragón: Juan de Casanova, Alonso de Borja (ferner Kardinäle aus dem Umfeld der Könige des regno, siehe oben); Portugal: Antonio Martins de Chavez. 127 Henry Beaufort, John Kemp, Thomas Bourchier. 372 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien pe gehört zu den wirkmächtigsten Verbindungen und wurde durch die Nepoten- kreationen Eugens IV. und Pauls II. noch verstärkt. Doch auch die übrigen Päpste des Zeitraums erhoben ihre Verwandten und Vertrauten. Diese Nepoten wurden mitunter noch im jugendlichen Alter kreiert und verweilten deshalb meist längere Zeit im Kolleg. Sie prägten es ganz wesentlich. Die Borgia (Calixt III., Alexan- der VI.) und die della Rovere (Sixtus IV., Julius II.) stellten ebenso wie die Condul- mer-Barbo-Gruppe gleich zwei Päpste des 15. Jahrhunderts. Seltener, aber immer wieder erkennbar ist der Kardinalsnepotismus. Etwa ein Viertel des Kollegs be- stand über den ganzen Zeitraum hinweg aus Nepoten der Päpste. Auch das letzte Kriterium, das von Dieter Girgensohn für Kardinalskarrieren im Schisma benannt wurde – der Aufstieg über eine kuriale Karriere –, lässt sich im Untersuchungszeitraum fassen. Am Ende eines cursus honorum an der Kurie und in der Verwaltung des Kirchenstaats war mitunter nach der Übernahme einer besonders schwierigen und ehrenvollen Legation der Kardinalspurpur zu erwar- ten. 14 Kardinäle hielten sich längere Zeit in Rom auf oder versahen kuriale Äm- ter über mehrere Pontifikate hinweg, bevor sie zum Kardinal erhoben wurden128. Der Ausweis der Befähigung in kurialen Ämtern oder auf Legationen allein reich- te in diesen Fällen aber selten aus. Erfolgreicher waren Bewerber dann, wenn für sie zusätzlich ein einflussreicher auswärtiger Fürst vorsprach oder wenn sie einem neu erhobenen Papst freundschaftlich nahestanden129. Wie in der Zeit des Schismas gilt auch für das halbe Jahrhundert nach seiner Beendigung somit, dass selten einer der genannten Punkte den Weg zum Kardi- nalat restlos erklärt. In diesem Koordinatennetz an Vorbildung, Kenntnissen und persönlichen Beziehungen aber konnten sich Kardinalskarrieren entfalten. Die an Beobachtungen aus dem Schisma entwickelten Kriterien helfen auch im 15. Jahr- hundert die für die Handelnden wenig vorhersehbaren, verschlungenen Wege zum Kardinalat aus der Rückschau rational zu erschließen. Dies zeigt, dass der tiefste Einschnitt der Entwicklung nach der Zeit des Papsttums in Avignon im Schisma liegt. Nach 1417 veränderte sich jedoch die Bedeutung der einzelnen Faktoren. Am wichtigsten wird nun das aktive Bemühen von Königen und Fürsten, ihre Kan- didaten ins Kolleg zu bringen; ihrem Drängen können sich Papst und Kardinals- kolleg auf Dauer nicht entziehen.

128 Ardicino della Porta, Giuliano Cesarini, Domenico Capranica, Angelotto Foschi, Alberto Alber- ti, Juan de Carvajal, Antonio de Cerdá, Astorgio Agnesi, Juan de Mella, Giacomo Tebaldi, An- gelo Capranica, Berardo Eroli, Niccolò Fortiguerri, Bartolomeo Roverella, Jacopo Ammannati Piccolomini. 129 Dies gilt etwa für eine Gruppe von Kurialen um Enea Silvio Piccolomini: Berardo Eroli, Niccolò Fortiguerri, Jacopo Ammannati Piccolomini. 373

III. Zur Theorie des Kardinalats im konziliaren Zeitalter (Jürgen Dendorfer)

Vor, auf und nach den Reformkonzilien des 15.Jahrhunderts wurde mit einer Intensität über den Kardinalat diskutiert wie nie zuvor. Was seit dem Hochmit- telalter an kanonistischen und theologischen Begründungen für dessen de facto immer bedeutendere Stellung vorgebracht worden war, wurde nun systematisiert und zu einer stimmigen Lehre von der Stellung der Kardinäle in der Kirche aus- gearbeitet130. Eigene Monographien zum Kardinalskolleg bündeln verstreute Be- merkungen der kanonistischen Kommentarliteratur. Möglich wurde dies durch ein ekklesiologisches Problembewusstsein, das sich in den Diskussionen des Kon- stanzer, mehr noch aber des Basler Konzils entwickelt hatte. Durch diese neue Sprachmächtigkeit über die Verfasstheit der Kirche war es möglich, über den Ur- sprung, das Wesen und die Stellung des Kardinalats zu handeln. Die nun entste- henden Texte waren nicht nur graue Theorie. Denn sie entstanden in krisenhaf- ten Situationen, in denen die Rolle der Kardinäle in der kirchlichen Verfassung zweifelhaft wurde. In ihnen dienten sie als legitimierendes Argument. Vor dem Pisaner und Konstanzer Konzil rechtfertigten sie, warum die Kardinäle an Stelle der widerstreitenden Päpste ein Konzil einberufen konnten. Im Verlauf der Kon- zilien von Konstanz und Basel dachte man dann allgemein über die Verfasstheit der Kirche nach, davon war auch die ekklesiologisch besonders schwach be- gründete Stellung des Kardinalskollegs betroffen. Die Versuche der Konziliaren, die Kirche zu reformieren, verengten sich schnell auf das caput, den Papst und die Kurie. Die Kardinäle galten vor allem in Konstanz als besonders fragwürdi- ger Ausdruck des verhassten kurialen Systems. Die Konstanzer und Basler Ent- würfe zur Kurienreform betrafen deshalb immer auch das Kardinalskolleg. Nach dem Basler Konzil aber war die Verunsicherung über die Berechtigung der ein- flussreichen Stellung des Kardinalskollegs allgemein. Monographische Abhand- lungen, die sich ausschließlich mit dem Kardinalat beschäftigten, entstanden erst jetzt, ab 1446/47. Die dichte Folge von Texten des 15. Jahrhunderts zum Kardi- nalat bezeugt dessen Bedeutung in diesem Zeitraum. Ohne die Kenntnis ihrer Grundgedanken wird die Geschichte der Kardinäle in diesem Zeitabschnitt nicht zu verstehen sein.

130 Für die Zeit vor dem 15. Jahrhundert: Sägmüller, Thätigkeit; Alberigo, Cardinalato e collegialità; Tierney, Foundations. 374 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

1. Die Traktatliteratur im Umfeld des Konstanzer und Basler Konzils und ihr Bild des Kardinalats Aus der Fülle der Traktatliteratur dieser Zeit seien nur drei besonders wirkmäch- tige oder originelle Überlegungen zur Stellung des Kardinalskollegs in der Kirche hervorgehoben. Alle drei Traktate behandeln nicht ausschließlich den Kardinalat, sondern betten die Ausführungen zu ihm in einen umfassenderen Argumentations- gang ein. Noch vor dem Pisaner Konzil verfasste der berühmte Kanonist Francesco Zabarella, später selbst Kardinal, einen ausladenden Kommentar zur Dekretale Licet de vitanda, aus dem Titel De electione des Liber Extra (X 1.6.6)131. Dieser Text bildete den ersten Kanon des III. Lateranum von 1179, in dem nach den Er- fahrungen des alexandrinischen Schismas die Modi des Papstwahlverfahrens festgelegt worden waren. Die dort fixierte Rolle als exklusive Papstwähler war in den nachfolgenden Jahrhunderten der Ausgangspunkt für eindringliche Kom- mentare zur Stellung der Kardinäle. Zabarellas mehrfach erweiterter Kommen- tar weitete sich bis zum eigenständigen Traktat über das Schisma (Tractatus de schismate), der 1408 noch vor dem Zusammentritt des Pisaner Konzils abge- schlossen war132. Der Kanonist will verschiedene Wege (modi) aufzeigen, auf denen das bestehende Schisma zu lösen sei. Gedanklicher Ausgangspunkt seiner Überlegung ist der Korporationsgedanke. Die gesamte Kirche (universalis eccle- sia) sei als eine Korporation zu verstehen. Sie werde durch das Konzil repräsen- tiert, das aber nicht immer zusammentreten könne. Bei der Papstwahl und im All- tag der Regierung der Kirche vertrete deshalb das Kardinalskolleg die Kirche. Da die römische Kirche (ecclesia Romana), die aus Papst und Kardinäle bestehe, ebenfalls eine Korporation sei, habe das Kardinalskolleg Aufsichts- und Kon- trollrechte gegenüber dem Vorsteher dieses Kollegs, dem Papst. Der erfolgreiche Weg aus dem Papst-Schisma kann deshalb nur über die Einberufung eines die gesamte Kirche repräsentierenden Konzils führen. Da die Kardinäle in Fragen der Papstwahl die gesamte Kirche vertreten, können diese den Päpsten den Gehor- sam entziehen und ein Konzil einberufen, das über den Papst urteilt. Dieser Mo- dus zur Lösung des Schismas wird dann in Pisa verwirklicht. Für die Theorie des Kardinalats ist der Tractatus de schismate wichtig, weil er die in der kanonisti- schen Literatur angelegten korporationsrechtlichen Überlegungen zur Stellung der Kardinäle aufgreift und mit seltener Eindeutigkeit bejaht.

131 Girgensohn, Zabarella; Morrissey, Leben. Zu diesem Traktat: Girgensohn, Zabarella, S. 273– 276; Tierney, Foundations, S. 199–214; Merzbacher, Konzeption, S.279–287. 132 Der Text findet sich in: Franciscus de Zabarellis, Lectura ad X 1.6.6, f. 98v–102r. Zur Theorie des Kardinalats im konziliaren Zeitalter 375

Auf anderem Wege kommt der einflussreiche Pariser Theologe Pierre d’Ailly in seinem Werk De ecclesiastica potestate zu einem ähnlichen Ergebnis133. Der Kardinal und Konstanzer Konzilsteilnehmer will um 1416 die Beteiligung der Kardinäle an der künftigen Papstwahl des Konstanzer Konzils begründen und die Stellung des Kollegs gegenüber den Konzilsnationen stärken. Doch argumentiert er nicht kanonistisch, sondern theologisch. Wie die Bischöfe stünden auch die Kardinäle in der Nachfolge der Apostel (successio apostolica). Ihre Apostelnach- folge habe sogar noch Vorrang vor der der Bischöfe, aus ihr ließen sich umfang- reiche Rechte des Kollegs gegenüber dem Papst, dem Nachfolger Petri, aber eben auch dem vicarius Christi, ableiten. Sie wählen den Papst, und der gewählte Papst verpflichtet sich, sein Amt mit ihrem Rat und ihrer Zustimmung auszuführen. Kardinäle verkörpern in der kirchlichen Mischverfassung das aristokratische Ele- ment. Da sie die ganze Christenheit vertreten, kommt es ihnen zu, die Ausübung der plenitudo potestatis durch den Papst zu maßregeln. Beide Traktate, der eine aus der Perspektive eines Kanonisten, der andere aus der eines Theologen, zeichnen ein positives Bild von der Stellung der Kardinäle. Das ist nicht in allen Texten der Zeit so. In den Reformdiskussionen wird auch Kritik am Kardinalat geübt. Dennoch ist das Ergebnis der Konstanzer und Basler Diskussio- nen eine dezidierte Aufwertung der Rolle des Kardinalskollegs. Wegen seiner Ori- ginalität sei noch ein Basler Beitrag zum Thema skizziert. Nikolaus von Kues misst in seiner Schrift De concordantia catholica dem Kardinalskolleg einen zentralen Platz in der kirchlichen Verfassung zu134. Wie das Konzil die universalis ecclesia re- präsentiere, so stehe das Kardinalskolleg, das concilium cottidianum an der Seite des Papstes, ebenfalls für die gesamte Kirche. In der Zustimmung des Kollegs zum Han- deln des Papstes artikuliere sich der Konsens der universalis ecclesia. Als Repräsen- tanten der ganzen Kirche seien die Kardinäle dadurch legitimiert, dass sie aus einem abgestuften System von Wahlen hervorgehen. Der Klerus einer Diözese wähle seine Bischöfe, die Bischöfe die Metropoliten, die Metropoliten aber die Legaten der Kir- chenprovinzen (legati provinciarum)135. Unter diesen legati provinciarum seien die Kardinäle zu verstehen. Auf diese Weise legitimiert, sollen sie an der Seite des Pap- stes die ganze Kirche repräsentieren. Mit diesem originellen Gedankengang wertet der Cusanus wie die beiden anderen vorgestellten Traktate die Rolle des Kardinals- kollegs auf. Für alle drei Autoren vertritt das Kardinalskolleg die gesamte Kirche an der Seite des Papstes. Die Zustimmung der Kardinäle zu Handlungen des Papstes ist für sie deshalb nicht nur wünschenswert, sondern zwingend notwendig.

133 Oakley, Political thought; Pascoe, Church and reform. Der Text: Petrus de Alliaco, Tractatus de ecclesiae, concilii generalis, Romani pontificis et cardinalium auctoritate. 134 Krämer, Konsens; Sieben, Konzilstraktat, S.172–180; Lücking-Michel, Konkordanz und Kon- sens. Der Text: Nicolai de Cusa, De concordantia catholica. 135 Nicolai de Cusa, De concordantia catholica II, c. 18, Abschnitt 164. 376 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

2. Die Überlegungen des Konstanzer und Basler Konzils zur Kurienreform Doch wurde in Traktaten vieles diskutiert, was sich nicht mit konkreten Erschei- nungsformen der kirchlichen Verfasstheit in Übereinstimmung bringen lässt. Ob- wohl etwa Pierre d’Aillys Traktat weit verbreitet war, gab er doch nur die Positio- nen eines, wenn auch eines besonders einflussreichen Autors wieder. Weitere Kreise jedoch zogen die auf dem Konstanzer und Basler Konzil diskutierten Reformüber- legungen zum Kardinalskolleg, die in der 23. Session des Basler Konzils offiziell als Dekret publiziert wurden. In ihnen fassen wir einen kontinuierlichen Strom auf den Konzilien diskutierter Reformüberlegungen, die in die Konstanzer Konkordate Papst Martins V. mit den Konzilsnationen eingingen, in Basel wieder aufgegriffen und ergänzt wurden und von denen sich schließlich sogar Reflexe in den Wahlka- pitulationen von 1431 und 1458 finden. Die nachfolgenden Kurienreformentwür- fe bis zum Ende des 15. Jahrhunderts werden ebenfalls immer wieder von diesen Konstanz-Basler Vorüberlegungen ausgehen. Sie stellen, das zeigt der häufige Bezug auf diese Referenztexte, eine äußerst wirkmächtige Leitvorstellung von den Aufga- ben und der Erscheinungsform des Kardinalskollegs dar. In den Eckpunkten stim- men diese Texte mit den Ergebnissen der Traktate Francesco Zabarellas und Pierre d’Aillys überein. Auch für sie repräsentiert das Kolleg die gesamte Kirche an der Sei- te des Papstes, und wie in den beiden Traktaten ist für sie deshalb die Mitwirkung des Kollegs bei Entscheidungen des Papstes notwendig. Die Traktatliteratur des frühen 15. Jahrhunderts und die Reformentwürfe sehen die Stellung des Kardinals- kollegs deshalb ähnlich, womit sich eine im Kern einheitliche Vorstellung andeutet. Zum ersten Mal ist diese auf dem Konstanzer Konzil in den Beschlüssen des Re- formausschusses zu greifen136. Sie fordern eine ausgeglichene Repräsentation der gesamten Kirche im Kardinalskolleg, damit die Kunde von den Problemen in den unterschiedlichen Teilen der Christenheit rasch an die Kurie gelangen könne. Da- mit die Kirche nicht zu sehr belastet würde, sollte die Anzahl der Kardinäle nicht größer als 24 sein. Das Alter von 30 Jahren und die oben skizzierte Vorbildung seien unabdingbar. Vor einer neuen Kardinalserhebung müsse die Mehrheit der Kardinäle schriftlich zustimmen, so wird dem Kardinalskolleg als konstitutionel- les Recht zugesichert137. Als Dekret erließ das Konstanzer Konzil diese Bestim- mung nie. Der Textentwurf De numero et qualitate cardinalium, der auf diesen Vorformulierungen beruht, ging aber in die Konkordate zwischen Papst Martin V. und den Konstanzer nationes ein. Das Kardinalskolleg fordert wenige Jahre spä- ter in der Wahlkapitulation von 1431 ein, dass bei der Kreation neuer Kardinäle

136 Stump, Reforms, S. 328, c. 4; S. 394f., c. 11. 137 Am detailliertesten hier die Beschlüsse der Common Collection, c. 4, S. 328. Zur Theorie des Kardinalats im konziliaren Zeitalter 377 die Form und die Anordnung des Konstanzer Konzils zu beachten seien. Doch weitet die auf weiteren älteren Vorlagen beruhende Wahlkapitulation die Kon- sensrechte des Kollegs gegenüber dem Papst über die Kardinalskreationen aus. Sie fordert die Zustimmung der Kardinäle bei allen Entscheidungen in wichtigeren Angelegenheiten (causae arduae), welche die ganze Kirche betreffen, ebenso wie beim Regierungshandeln im Kirchenstaat138. Einschneidend ist nun, dass das Basler Konzil in den in seiner 23. Session be- schlossenen Dekreten diese ausgedehnte Vorstellung der Wahlkapitulation von den Konsensrechten des Kardinalskollegs aufgriff und aus konziliarer Perspektive rechtfertigte. Die notwendige Zustimmung des Kardinalskollegs zu Handlungen des Papstes wurde damit begründet, dass dieses, gleichsam als kleines Konzil an der Seite des Papstes, den Konsens der universalis ecclesia zu dessen Handeln gab. In zwei Dekreten der 23. Session zeigt sich diese Auffassung. In De professione werden die Grundsätze festgelegt, auf die sich der gewählte Papst eidlich ver- pflichten solle139. In der Regierung der Stadt Rom, des Kirchenstaats oder auch der gesamten Kirche handle er nur mit Zustimmung des Kardinalskollegs. Amts- träger in der Stadt Rom und im Kirchenstaat bedürften des Konsenses des Kollegs und hätten sowohl dem Papst als auch den Kardinälen ihren Eid zu schwören140. Im Kirchenstaat dürften keine Nepoten des Papstes Ämter übernehmen, die Hälfte der Einkünfte aus dem Patrimonium stehe dem Kardinalskolleg zu141. Setze der Papst Verwandte ein, dann könnten ihm die Kardinäle die Gefolgschaft verwei- gern. In all diesen Punkten folgt das Dekret fast wörtlich der Wahlkapitulation von 1431. Über diese hinaus geht es, wenn es eine Beteiligung der Kardinäle an der Regierung der gesamten Kirche postuliert. Wieder sind es die ardua, bei denen der Papst den Rat der Kardinäle einholen solle. Das Dekret De numero et qualitate cardinalium wiederholt die genannten Vor- lagen des Konstanzer Konzils und der Konkordate mit den Bestimmungen über Anzahl der Kardinäle, über deren Herkunft und Vorbildung ebenfalls fast wört- lich142, um dann doch in einem Anhang spezifische Basler Komponenten hinzu- zufügen. Den Kardinälen wird die Sorge für ihre Titelkirchen ans Herz gelegt. Re- gelmäßige Visitationen sollten zur Intensivierung der Seelsorge beitragen. Eine erstaunlich klare Parallelisierung zwischen der Organisation des Kardinalskollegs und dem Konzil zeigt sich in der Aufgabenbeschreibung des Dekrets für die ein- zelnen Ordines. Die Kardinalbischöfe sollten sich demnach um Angelegenheiten

138 Zur Kurienreform auf dem Basler Konzil: Zwölfer, Reform; Helmrath, Basler Konzil, S.331–341; Sudmann, Basler Konzil, S. 252–255. 139 COD3, S. 495–501. 140 Ebd., S. 499. 141 Ebd., S. 499. 142 Ebd., S. 501–504. 378 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien des Glaubens sorgen. Die Kardinalpriester haben als ihre Aufgabe auf die Einhal- tung der Sitten, des göttlichen Gesetzes und der kirchlichen Disziplin zu dringen. Die Kardinaldiakone aber hätten Kriege beizulegen und Frieden zu stiften. Diesen Ressortzuschnitt, der ohne Vorbild ist, inspirierte ganz offensichtlich die Eintei- lung des Basler Konzils in seine drei Deputationen: de fidei, de pace et de refor- mationibus. Das Kardinalskolleg steht somit im Kleinen für das große Basler Kon- zil. Von hier ist der Weg zur Ansicht des Nikolaus von Kues in der Concordantia catholica, das Kolleg sei das cottidianum concilium an der Seite des Papstes, nicht weit. Dass das Basler Konzil die Aufgabe des Kollegs ähnlich sah, zeigt sich in dem Korrektur- und Aufsichtsrecht, das es ihm zuwies. Wenn der Papst gegen die Be- stimmungen der Reformdekrete fehlte, dann sollten ihn zuerst einzelne Kardinäle ermahnen, dann das Kolleg als Ganzes, und wenn auch dies nichts fruchte, so soll- ten sie dieses an das nächste allgemeine Konzil melden143. Auf diese Weise fielen die von den Kardinälen selbst in den Wahlkapitulatio- nen erhobenen Ansprüche mit den konziliaren Reformforderungen zusammen. Es entstand eine kaum mehr entwirrbare Gemengelage zwischen den konziliaren Überlegungen und den von den Kardinälen in den Konklaven von 1431, 1458 und von da an in regelmäßiger Folge beeideten capitula. Diese konziliare Kon- zeption des Kardinalats als konstitutionellen Gegengewichts zur Papstgewalt sah bei wichtigen Entscheidungen die Bindung des Papstes an die Zustimmung des Kardinalskollegs vor. Jeder päpstliche Versuch zur Kurienreform in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ging hiervon aus144.

3. Die nachkonziliare Diskussion – die Traktate De cardinalatu Auf diesen Voraussetzungen ruhten auch die ersten Traktate De cardinalatu auf, die am Ende des Basler Konzils entstanden145. Nach der Diskreditierung des Basiliense durch die Absetzung Papst Eugens IV. musste fraglich sein, auf welche Legitimation das von den Konzilien in so positivem Licht gesehene Kardinals- kolleg seine Konsensrechte bei der Regierung der Kirche künftig stützen konnte. Zudem war die Zeit durch die Basler Erörterungen geradezu sensibilisiert für die Probleme der Legitimität kirchlicher Gewaltausübung. An den Universitäten, in den Kanzleien der Fürsten und insbesondere an der Kurie wirkten Konzilsteil- nehmer. Die im Vergleich zur Zeit des avignonesischen Papsttums gestiegene Be- deutung des Kardinalskollegs bedurfte einer Begründung, um von den Zeitge-

143 Ebd., S. 503. 144 Jedin, Analekten; Dendorfer, Habita plenissima informatione. 145 Zur Diskussion über den Kardinalat im 15. Jahrhundert: Jedin, Analekten; ders., Kampf um das Konzil. Zum Folgenden künftig meine Münchner Habilitationsschrift: Zwischen Konzil und Papst. Zur Legitimation des Kardinalats in der Frührenaissance (ca. 1450–1475), München 2008. Zur Theorie des Kardinalats im konziliaren Zeitalter 379 nossen um die Mitte des 15. Jahrhunderts akzeptiert zu werden. Deshalb wurde in den nächsten Jahrzehnten an der Kurie ein skrupulöser Legitimitätsdiskurs ge- führt, in dessen Zentrum das kleine Konzil neben dem Papst, das Kardinalskol- leg, stand. Dies war der größere historische Kontext, in dem die Traktate De car- dinalatu standen, daneben waren aber konkrete Anlässe für die Entstehung der Traktate aufzuzeigen. Dabei ließen sich zwei Phasen der Diskussion unterschei- den: ein erster, gleichsam durch eine nachkonziliare Bestandsaufnahme gepräg- ter Abschnitt im Pontifikat Nikolaus’ V. (1447–1455) und ein zweiter, in dem – ausgehend von den Konflikten um die Mitwirkung der Kardinäle an den Kardi- nalskreationen – über die Grundlagen kardinalizischer Gewalt diskutiert wurde.

Traktate De cardinalatu (1446–1483) Bernard de Rosier, Liber de statu, auctoritate et potestate . . . cardinalium (1446/47) Martinus Garatus Laudensis, Tractatus de cardinalibus (1448/49) Andrea Barbazza, De praestantia cardinalium (1452–1455) Domenico de’ Domenichi, Tractatus de creatione cardinalium (1456) Domenico de’ Domenichi, Tractatus de praeeminentia cardinalium Romanae ecclesiae (= Das zweite Buch des Tractatus de episcopali dignitate) (1461) Domenico de’ Domenichi, Consilium in materia creationis cardinalium (1461) Teodoro de’ Lelli, Contra supercilium eorum, qui plenitudinem potestatis Christi vicario divinitus attributam . . . cardinalibus communicatam censent (1461–1464) Jean Jouffroy, Dialog über die Kardinalswürde (1467) Gundisalvo di Villadiego, Tractatus de cardinalium excellentia et dignitate ac de officio vicecancellarii (1482) Alfonso de Soto, Comentarius ad concilium Constantiense de cardinalibus (1483)

Die ersten drei Kardinalstraktate entstanden in dichter Folge ab 1446/47. Sie sind Ausdruck der ekklesiologischen Verunsicherung, welche die Debatten des Basler Konzils hinterlassen hatten. Für Papst Eugen IV. und das Kardinalskolleg verfas- ste um die Jahreswende 1446/47 der an der Kurie als Referendar tätige Bernard de Rosier seinen Liber über den status und die potestas der Kardinäle146. Vor der

146 Eine gute Handschrift des Textes, vielleicht das Widmungsexemplar, findet sich in: BAV, Vat. lat. 1022. Am ausführlichsten zum Autor des bisher nur als Marginalie in der Literatur behandelten Textes: Arabeyre, Un prélat languedocien. 380 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien absehbaren Sedisvakanz versicherte sich mit diesem wohl im Auftrag des Papstes und der Kardinäle entstandenen Text die Kurie gleichsam selbst des Papstwahl- rechts der Kardinäle. Darüber hinaus entwarf der Propst von Toulouse ein ganz im Sinne der Wahlkapitulation von 1431 und der Basler Dekrete der 23. Session gehaltenes Bild von umfassenden Aufsichts- und Korrekturrechten des Kardi- nalskollegs an der Seite des Papstes. Dieser Text ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass an der Kurie die weitgehenden Vorstellungen der Konzilien von den Rech- ten des Kardinalskollegs angekommen waren. Bernard de Rosier kompilierte die möglichen Legitimationsfiguren der Tradition für den Kardinalat, am wichtigsten ist bei ihm der von Pierre d’Ailly übernommene Gedanke von der successio apo- stolica des Kardinalskollegs. Nicht an der Kurie, doch im Kirchenstaat und für Kardinäle verfassten Martin von Lodi und Andrea Barbazza ihre Traktate. Da- bei stellt Martin von Lodi in seinem Werkchen wenig gewichtet die Positionen der klassischen und nachklassischen Kanonistik ohne Bezug zu den drängenden Problemen seiner Zeit zusammen147. Der Text offenbart die Mehrdeutigkeit der kanonistischen Tradition des Schreibens über den Kardinalat, die durch fehlen- de Kodifizierungen der eindeutigeren Konzilsdekrete auch nicht überwunden werden sollte. Bei Andrea Barbazzas Traktat De praestantia cardinalium, der aus Diskussionen im Umfeld Kardinal Bessarions hervorging, waren hingegen deut- liche formale, aber auch inhaltliche Spuren der Konstanzer und Basler Erörte- rungen zu greifen148. Für ihn waren die Kardinäle in den sacerdotes levitici ge- neris des Alten Testaments präfiguriert und damit im göttlichen Recht begründet. Dadurch legitimiert stand ihnen das Recht zu, dass der Papst negotia ardua nur mit ihrem Konsens entscheide. Im Vergleich mit ekklesiologischen Traktaten aus demselben Zeithorizont vertreten Bernard de Rosier und Andrea Barbazza keine Sondermeinung. Das Ergebnis der ekklesiologischen Bestandsaufnahme nach dem Konzil war eindeutig: Die Kardinäle waren als Nachfolger der sacerdotes levitici generis oder der Apostel unaufhebbar in der kirchlichen Verfassung ver- ankert. Ihre von den Konzilien dekretierten und von den Wahlkapitulationen ge- forderten Konsensrechte waren dadurch ekklesiologisch legitimiert. In dem zweiten Zeitabschnitt der Erörterung kardinalizischer Rechte nach dem Konzil, im Pontifikat Pius’ II. (1458–1464), veränderte sich diese Bewertung. Konflikte um den notwendigen Konsens der Mehrheit des Kardinalskollegs zu den Kardinalserhebungen der Päpste entfachten 1456 und 1461 eine über diesen Einzelpunkt hinausgehende Diskussion über die Rechte der Kardinäle. Wir ken- nen diese Debatte vor allem aus dem Werk Domenico de’ Domenichis, dessen

147 Zum Text (mit Edition): Soldi Rondinini, Storia; zum Autor: Baumgärtner, Laudensis. 148 Der Text ist gedruckt: Andrea Barbatia, De praestantia cardinalium; Tractatus de cardinalibus legatis a latere. Dazu und zum Autor: Bianca, Note. Zur Theorie des Kardinalats im konziliaren Zeitalter 381 wichtigste Schriften in diesem Zeitraum entstanden149. Selbst in den Consilien und Traktaten dieses einen Autors veränderten sich innerhalb weniger Jahre die Urteile150. In dem mehrdeutigen Rahmen der Aussagen der kanonistischen Tra- dition verschob der Bischof von Torcello seine Akzente merklich hin zur Beto- nung der päpstlichen Prärogativen. 1456 sah Domenico de’ Domenichi das Kar- dinalskolleg noch als ein durch das angebliche Konstanzer Dekret De numero et qualitate cardinalium legitimiertes Organ, das bei der Wahl des Papstes die uni- versalis ecclesia repräsentierte und in das deshalb nur auf die vom Konzil und in Vertretung der allgemeinen Kirche dekretierte Weise Mitglieder kooptiert werden konnten. Als er 1461 mit seinem Tractatus de episcopali dignitate einen Schluss- punkt unter die von ihm selbst angestoßene, im Umfeld Pius’ II. ein bis zwei Jahre diskutierte Frage der Präzedenz von Protonotaren oder Bischöfen setzte, kompi- lierte er im zweiten Buch den Diskussionsstand seiner Zeit zur ekklesiologischen Stellung des Kardinalskollegs151. Ausweichend und bemerkenswert unentschie- den griff er Argumente wie die Apostelnachfolge des Kollegs auf und referierte die Diskussion der Kanonistik über die notwendige Zustimmung der Kardinäle in den ardua. Im göttlichen Recht sah er allein die Pflicht des Papstes verankert, sich beraten zu lassen. Diese Aufgabe hätten gegenwärtig die Kardinäle inne, sie könnte aber auch anderen übertragen werden. Damit wandte sich Domenico de’ Domenichi, der Vertraute Papst Pius’ II., gegen die Grundlage für die Legitima- tion der Rechte des Kardinalskollegs in den Jahren nach dem Ende der Konzilien. Etwa um dieselbe Zeit, als er den Tractatus de episcopali dignitate abschloss, for- derte ihn der Papst auf, ein Gutachten für die Kardinalskreation des Jahres 1461 zu erstellen. Wieder kam er zum selben Ergebnis: Weder die Konzilsdekrete noch die Eide auf die Wahlkapitulationen bänden den Papst, und die Rechte des Kar- dinalskollegs seien nicht unabhängig vom Papst legitimiert. Domenicos Argu- ment scheint im Kreis um den Papst weiterverfolgt worden zu sein. Es erscheint zur gleichen Zeit in einem Tractatus de potestate papae des Galgano Borghese, und nicht viel später ließ auch der Rota- Teodoro de’ Lelli in seinem Traktat nur mehr die Beratungsfunktion der Kardinäle gelten152. Letzterer aber vertrat einen radikalisierten Papalismus, der ganz ohne die von Domenico emp- fohlenen Rücksichtnahmen und Differenzierungen auskam. An diesen beiden Diskussionsbeiträgen zur Kardinalskreation des Jahres von 1461 sind somit zwei unterschiedliche Pole der Bewertung der korporativen Rechte des Kardinalskol-

149 Jedin, Studien. 150 Dendorfer, Ambivalenzen. 151 Der Text ist gedruckt: Dominicus de Dominicis, Liber de dignitate episcopali. 152 Zum Text: Sägmüller, Geschichte des Kardinalates (mit Edition); zum Autor und zur Interpreta- tion: Prügl, Konzil und Kardinäle. 382 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien legs an der Seite des Papstes zu fassen. Domenico de’ Domenichi führte in seinen Werken ausführlich die Argumente für die Rechte des Kardinalskollegs an und empfahl trotz aller Einwände, die Kardinäle bei Entscheidungen zu hören. In Teo- doro de’ Lellis Invektive gegen die Rechte des Kardinalskollegs war hingegen kein Platz mehr für die korporativen Autoritäten, die seit dem Beginn des Schismas die Aufwertung des Kardinalskollegs gefordert hatten. Die einschneidende Posi- tion des Rota-Auditors ging einher mit einer neuen, durch den Humanismus be- einflussten Art, über die Rechte des Kardinalskollegs zu schreiben. Anstelle des umständlichen Pro und Kontra setzte er eine Meinung, die er durch Autoritäten und exempla stützte. Seine eigenen Studien der Vätertexte und der Konzilsbe- schlüsse der alten Kirchen ließen ihn Schwächen in Gratians Dekret aufspüren, und durch diese Textkritik an entscheidenden Stellen legte er mitunter die Axt an die Wurzel ganzer Kommentartraditionen. Als neue Autoritäten traten exempla aus der Alten Geschichte neben die und mitunter an die Stelle der bisherigen Tra- ditionen des Schreibens. Der durch Teodoro de’ Lellis Text greifbare Bruch ist einschneidend, wie sich durch einen Ausblick auf die Diskussionen der Hochrenaissance über den Kar- dinalat zeigt. Über den Kardinalat wurde nun in neuen Formen geschrieben, der Kanon der Autoritäten begann zu variieren, und nicht zuletzt verschoben sich die inhaltlichen Wertungen offensichtlich zu einem weitgehend unbeschränkten Pa- palismus. Der kundige Kanonist Alfonso de Soto kommentierte 1483 in völliger Ignoranz der konziliaren und nachkonziliaren Diskussionen das Basler Dekret De numero et qualitate cardinalium und sah in diesem Schlüsseltext keinen An- satzpunkt mehr für korporative Beschränkungen der plenitudo potestatis153. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre zeigen sich somit im Diskurs über den Kardi- nalat deutliche Brüche: Die Formen des Schreibens über den Kardinalat verän- derten sich, die Verbindlichkeit der bisher gültigen Autoritäten schwand, und in- haltliche Grundüberzeugungen, die bis zu diesem Zeitpunkt alle Autoren geteilt hatten, galten nun nicht mehr. Dieser Bruch in der kurialen Diskussion über die Legitimität der Rechte des Kardinalskollegs geht zeitlich einher mit den in den Wahlkapitulationen ab 1471 zaghaft auftretenden, in Folge dann deutlicher artikulierten individuellen Inter- essen der Kardinäle. Das unveränderte Fortschreiben des konstitutionellen Teils der Wahlkapitulationen, der sogenannten capitula publica, deutet auf eine ähn- liche Entwicklung hin, wie sie in der Traktatliteratur sichtbar wird. Auch im Selbstverständnis der Kardinäle scheint die Bedeutung der Konsensrechte des Kollegs bei Handlungen des Papstes zurückgegangen zu sein. Bis zu den Texten

153 Den besten Text des bisher ungedruckten Traktats bietet: Venedig, Marciana, Cod. Lat. III, 77, f. 205r–223r.; zum Autor: Göller, Kommentatoren, S.443–449. Zur Theorie des Kardinalats im konziliaren Zeitalter 383

Domenico de’ Domenichis wurde an der Kurie in der spezifischen Form des ek- klesiologischen «Sprechens», wie sie sich auf dem Basler Konzil ausgeprägt hat- te, über den Kardinalat diskutiert. Die scholastische Quaestio, bis dahin Grund- element aller Consilien und Traktate zum Kardinalat, ließ das Für und Wider für die Rechte des Kardinalskollegs zu Wort kommen. Sie gelangte auf diese Weise nie zu einem eindeutigen Schluss, sondern bot das ganze Arsenal an möglichen Antworten. In entscheidenden Punkten unterschieden sich selbst konträre Posi- tionen nur in Nuancen. Ob der Papst nun in den negotia ardua den Konsens der Kardinäle oder das consilium, dessen Verbindlichkeit dem consensus nahe- kommen konnte, einholen musste, sollte oder aber ob sich dies nur ziemte, war in seinen Auswirkungen für den Alltag der päpstlichen Herrschaftspraxis nicht entscheidend. Ob die Rechte des Kollegs dadurch legitimiert waren, dass die Kar- dinäle als sacerdotes levitici generis im Alten Testament bzw. als successores apo- stolorum im Neuen Testament im ius divinum begründet waren oder durch die Dekrete des Konstanzer bzw. Basler Konzils ihre Rechte an der Seite des Papstes bekamen, war ebenfalls nebensächlich, solange in den entscheidenden Kreisen um den Papst die Meinung vertreten wurde, es gebe stichhaltige Argumente für eine eigenständige Legitimation der Rechte des Kollegs. Am Ende des Pontifikats Pius’ II. aber zeigen sich in der Auseinandersetzung über die Kardinalskreation von 1461 Risse in diesem in den korporativen Traditionen der Kanonistik be- gründeten und in der Konzilszeit verstärkten Fundament, auf dem die Rechte des Kardinalats gegenüber dem Papst ruhten. Bis zu den Anfängen des Pontifikats Papst Sixtus’ IV. (1471–1484) scheint die Akzeptanz für eigenständige Rechte des Kardinalskollegs weitgehend geschwun- den zu sein. In den Versuchen zur Legitimation des Kardinalats in den Pontifi- katen der Frührenaissance werden somit charakteristische Züge nicht nur des Kardinalskollegs, sondern auch des Papsttums dieser Zeit sichtbar. Die besonders intensiv diskutierten Modelle eines an den korporativen Konsens des Kollegs ge- bundenen Papats standen ganz im Bann der vorausgehenden konziliaren Dis- kussionen. Aus dieser Sichtweise lässt sich der Abschnitt in der Geschichte des Papsttums von Nikolaus V. bis zu Paul II. deutlich von den Pontifikaten der Hochrenaissance unterscheiden. 384 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

IV. Kulturgeschichte des Kardinalats: Aspekte von Kommunikation und Repräsentation (Claudia Märtl)

1. Der Kardinalspalast Am Beginn des 16. Jahrhunderts widmete der Apostolische Protonotar Paolo Cortesi einen Abschnitt seines 1510 posthum erschienenen Traktats De cardi- nalatu dem Palast des Kardinals154. In ihm gab er eine an Leon Battista Albertis Architekturtheorien orientierte Schilderung, die von der Lage des Gebäudes über die Anordnung der Räume bis zur Thematik von Wandgemälden einen anschau- lichen Eindruck einer idealtypischen Kardinalsbehausung vermittelt. Cortesis Kardinalspalast spiegelt die religiöse, intellektuelle und (kirchen)politische Rolle des Besitzers, deren Verwirklichung der Palast über die äußerliche Statusinsze- nierung hinaus ermöglichen soll. Der Traktat kondensiert die zeitgenössischen Anschauungen über die Funktionen des Kardinalspalasts und nimmt, wie seine Verweise auf konkrete Beispiele zeigen, Rücksicht auf die Entwicklung seit der Rückkehr der Kurie nach Rom. So kann der Text nicht nur zur Interpretation frühneuzeitlicher Kardinalspaläste dienen, sondern erlaubt auch Rückschlüsse auf die Kardinalspaläste des 15. Jahrhunderts, die überwiegend verschwunden sind oder bis zur Unkenntlichkeit verändert wurden. Wie schriftliche Erwähnun- gen und erhaltene Gebäude nahelegen, nahmen die Kardinalspaläste des 15. Jahr- hunderts bauliche Elemente päpstlicher Paläste, insbesondere des Vatikanpalasts, auf; gewissermaßen als Standard gehörten zu ihnen eine bisweilen mehrstöckige Loggia mit Aussicht auf einen Garten oder in die Landschaft und ein den Baukör- per überragender Belvedereturm. Der früheste aus dem 15. Jahrhundert erhalte- ne Palast steht in Tarquinia (Corneto), wo Kardinal Giovanni Vitelleschi († 1440) ein repräsentatives Gebäude im Stil der Frührenaissance errichten ließ. Die von Rodrigo Borgia und Jean Jouffroy in Pienza erbauten Paläste vervollständigten das von Papst Pius II. gewünschte Stadtbild, sind aber in relativ kleinen Propor- tionen gehalten und dienten ihnen kaum zum Aufenthalt, während Jacopo Am- mannati Piccolomini dort in einem ansehnlichen Palast regelmäßig die Sommer- frische verbrachte155. In Rom mussten Kardinäle auf der Suche nach einer geeigneten Behausung nicht nur die Marktlage berücksichtigen, sondern auch die

154 Vgl. Weil-Garris/d’Amico, The Renaissance cardinal’s ideal place, mit Abdruck des Kapitels II aus Cortesi, De cardinalatu III (ebd., S. 69–97). 155 Zu Tarquinia vgl. Mack, Pienza, S. 56, mit Anm. 39; Mencarelli, I Vitelleschi; zu Pienza vgl. Mack, Pienza, S. 108–112, 118–130. Kulturgeschichte des Kardinalats: Aspekte von Kommunikation und Repräsentation 385 politische Topographie, um nicht in unerwünschte Nachbarschaften zu geraten; häufig, aber nicht immer, befanden sich die Kardinalspaläste bei den Titelkir- chen156. Der von Domenico Capranica um die Mitte des 15. Jahrhunderts er- richtete Palast ist dank seiner Umwidmung für das von dem Kardinal gestiftete Studienkolleg erhalten geblieben. Maßstäbe über das 15. Jahrhundert hinaus setzte der von Pietro Barbo erbaute Palazzo Venezia, wenngleich der Bau nicht vollkommen den ursprünglichen Plänen entsprechend fertiggestellt wurde, die Ausmalung nur noch fragmentarisch und Anbauten sowie Außenanlagen nicht mehr vorhanden sind. Der Anspruch dieses Baus zeigt sich nicht nur in der Größe der Anlage, sondern auch in der Loggia, die der integrierten Titelkirche S. Mar- co vorgeblendet wurde und in kleinerem Maßstab die von Pius II. vor St. Peter errichtete Loggia wiederholt. In Dimensionen und Ausstattung ebenfalls über das 15. Jahrhundert hinausweisend präsentiert sich der von Kardinal Raffaelle Sansoni Riario 1483 bis 1511 erbaute mächtige Palazzo della Cancelleria, der ab 1517 als Sitz der Kanzlei genutzt wurde. Die Ausstattung der Kardinalspaläste des 15. Jahrhunderts konnte sich meist mit fürstlichem Ambiente messen. Als Kardinal Francesco Gonzaga im Jahr 1462 seinen Wohnsitz in Rom nehmen wollte, bewerteten Angehörige seiner familia von ihnen besichtigte Paläste seiner bereits dort etablierten Kollegen. Das höch- ste Lob erhielt der Kämmerer Ludovico Trevisan, dessen «paradiesisch» anmu- tender Palast sich auf dem Areal des heutigen Palazzo della Cancelleria befand. Doch selbst die Paläste ärmerer Kardinäle, wie derjenige Enea Silvio Piccolomi- nis, wiesen Marmorverkleidungen auf, die bei seiner Papstwahl der Spoliierung anheimfielen157. Der Reformentwurf Pius’ II. suchte die Innenausstattung zu reglementieren; die Aussagen zu Tapisserien und anderen Bildern, deren Inhalte dem geistlichen Stand der Besitzer gemäß gewählt werden sollten, erlauben den Rückschluss, dass in Kardinalspalästen darauf meist wenig Rücksicht genommen wurde. Opulente Bestände an Tapisserien und wertvollen Stoffen, die nach Rom importiert wurden, sind für die Kardinäle des 15. Jahrhunderts vielfach belegt158. Für den Palazzo Venezia wurde im Jahr 1457 ein umfassendes Inventar erstellt, das eindrucksvoll die reichen Sammlungen an liturgischen Gegenständen, Silber- und Goldgeschirr, Tapisserien, Ikonen, Büchern und Antiquitäten vorführt, die

156 Vgl. als Überblick Aurigemma, Residenze cardinalizie, und Sperindei, Repertorio (mit Karte); zur politischen Topographie und Stadtentwicklung Roms vgl. Burroughs, From signs; zu Titelkirchen, Palästen und Grundeigentum der Kardinäle vgl. Richardson, Reclaiming Rome, bes. S. 263ff.; zu dem Palast bei SS. XII Apostoli, der noch Bausubstanz des 15. Jahrhunderts enthält, vgl. Schel- bert, Palast. 157 Chambers, Housing problems, bes. S. 43, Nr.3; Pius II., Commentarii I, 37, S. 106. 158 Haubst, Reformentwurf, S. 214, § 48; Esch, Le importazioni, bes. S. 37ff.; Ertl, Stoffspektakel, bes. S. 157ff.; zum kurialen Luxus vgl. jetzt Pompa sacra. 386 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

Pietro Barbo zusammengetragen hatte. Testamente oder Nachlassverzeichnisse informieren im Fall Guillaume d’Estoutevilles, Francesco Gonzagas oder Fran- cesco Todeschini Piccolominis über die von diesen Kardinälen besessenen Wert- gegenstände159. Aber nicht nur die mobile Ausstattung, auch die künstlerische Wandgestaltung trug zur Repräsentativität einer Kardinalsresidenz bei. Eine nachdrückliche Wirkung übte die Ausmalung von Giordano Orsinis Palast auf dem Monte Giordano aus, wo sich humanistische Diskussionsrunden versam- melten; der Zyklus berühmter Männer, der dort als Wandgemälde zu bewundern war, ist durch die mehrmals abgeschriebenen Inschriften überliefert und kann auch in seinem Aussehen rekonstruiert werden160. Auf Geräumigkeit, günstige Anordnung der Räume und einen Garten legten die meisten Kardinäle Wert. Ein wichtiger Aspekt war dabei, dass die Kardinäle durch Rückzug in die eigenen Räume oder in den eigenen Garten der Belastung der ständigen Beobachtung, der sie sich ausgesetzt fühlten, entkommen und so Erholung finden wollten. Auch in dieser Hinsicht wurde der römische Palast Ludovico Trevisans bewundert, hinter dem sich gepflasterte Stallungen und ge- pflegte Gartenanlagen mit in verschiedenen Formen geschnittenen Büschen er- streckten. Im disabitato Roms gelegene Villen oder vigne dienten in der heißen Jahreszeit der Naherholung. Ein aus dem 15. Jahrhundert stammendes Sommer- haus eines Kardinals (Bessarions oder Giovanni Battista Zenos) hat sich unter- halb des Palatins erhalten161. Andere begaben sich im Sommer in das Hinterland Roms. Sie kamen dort in Familienpalästen unter, wie die Colonna-Kardinäle in dem von Martin V. ausgebauten Genazzano, oder errichteten selbst Häuser, wie Ludovico Trevisan, der eine Menagerie exotischer Tiere in seinem Landhaus unterbrachte, einer ehemals verfallenen Klosteranlage bei Albano162.

2. Die Kardinals-familia Kardinäle waren von einer familia umgeben, die nicht nur der praktischen Or- ganisation der Lebensführung diente, sondern durch Umfang, Zusammenset- zung und Auftreten Auskunft über Vermögen, Klientelbeziehungen und sonstige Schwerpunktsetzungen ihres Herrn gab. Eine gegen Ende des Konstanzer Kon-

159 Müntz, Les arts II, S. 181–287 (Barbo); III, S. 285–297 (d’Estouteville); Chambers, Renaissance cardinal, S. 144–188; Ertl, Stoffspektakel; Richardson, The lost will. Siehe auch oben, S. 59, Anm. 229. 160 Amberger, Giordano Orsinis Uomini, bes. S.253ff.; zur Ausmalung von Gonzagas Gartenwän- den Chambers, Renaissance cardinal, S. 86ff. 161 Vgl. Burroughs, From signs, S. 190–192 und im Register s. v. vigne; Richardson, Reclaiming Rome, S. 289ff.; zu den Gärten Trevisans vgl. Märtl, Alltag, S. 129, Anm. 56 (Alessandro Gon- zaga an Barbara Gonzaga, 30. März 1462). 162 Vgl. Chambers, Renaissance cardinal, S. 75f. (nach Pius II., Commentarii XI, 22, S. 703). Kulturgeschichte des Kardinalats: Aspekte von Kommunikation und Repräsentation 387 zils formulierte idealtypische Ordnung des Kardinalshaushalts zeigt eine an den Haushalt des Papstes angelehnte funktionelle Differenzierung und gibt zugleich Verhaltensnormen vor163. Außerhalb des Hauses und beim Empfang von Besu- chern innerhalb des Hauses sollte der Kardinal stets von seinen Kaplänen beglei- tet sein. Ein auditor war für dem Kardinal übertragene Rechtssachen zuständig; ein camerarius oder Majordomus führte die Aufsicht über das gesamte Personal und hatte alle materiellen Angelegenheiten zu erledigen; Sekretäre, Hofmeister, Sänger, Kammerdiener, Köche, Kellermeister, Stallmeister, Türhüter usw. wal- teten ihres Amts. Jeder, der mit Vermögenswerten des Kardinals umging, hatte darüber vor dem Kämmerer schriftlich Rechenschaft abzulegen. Breiter Raum wird insbesondere dem Tisch des Kardinals eingeräumt. Während Reformvorschläge um die Mitte des 15. Jahrhunderts von 40 bis 60 Familiaren ausgehen, betrachtete Paolo Cortesi im Jahr 1510 eine Zahl von 120 bis 140 Personen als angemessene Größe; die wohl am besten bekannte familia eines Kardinals des 15. Jahrhunderts, diejenige Francesco Gonzagas, um- fasste etwa 70 bis 80 Personen und überschritt damit von Anfang an das im Re- formentwurf Pius’ II. gesetzte Limit164. Die Aufnahme in eine Kardinals-familia bedeutete einen wesentlichen Vorteil, da geistliche Familiaren eines Kardinals an der Quelle der Informationen über frei werdende Benefizien saßen und weitere Begünstigungen genossen, z. B. beim Antritt eines Papstes Anwartschaften auf Pfründen erbitten konnten. Unter Paul II. ließen 19 Kardinäle Rotuli für jeweils zwölf namentlich genannte Familiaren einreichen, doch unter seinem Nachfolger galt keine Beschränkung mehr. So wurden ein halbes Jahr nach dem Antritt Six- tus’ IV. Rotuli für Familiaren von 21 Kardinälen eingereicht, die auf einen Schlag 1.275 Personen aus der Umgebung dieser Kardinäle in den vatikanischen Regi- stern auftauchen lassen. Die höchste Zahl von geistlichen Familiaren wies hier Rodrigo Borgia mit 142 Personen auf, gefolgt von Guillaume d’Estouteville mit 91 sowie Marco Barbo und Alain de Coëtivy mit je 88 Personen165. Noch nicht systematisch untersucht ist, inwiefern eine Tätigkeit in den anspruchsvolleren Po- sitionen eines Kardinalshaushalts gerade bei Männern, die von unbedeutender Herkunft waren, eine Karriere innerhalb der Kurie fördern konnte. Tommaso Parentucelli wirkte jahrzehntelang als Majordomus des Kardinals Niccolò Alber- gati, Jean Jouffroy fand seine erste Beschäftigung an der Kurie als Auditor des Vi- zekanzlers Francesco Condulmer, Jacopo Ammannati Piccolomini arbeitete als Se- kretär Domenico Capranicas. Aber auch Laien waren in den Kardinalshaushalten zu finden; Waffenimporte nach Rom zeigen in der zweiten Hälfte des Jahrhun-

163 Dykmans, La maison cardinalice, in: ders., Le cérémonial papal III, S. 446–461. 164 Vgl. Chambers, Renaissance cardinal, S. 12ff., hier bes. 20. 165 Schwarz, Kardinalsfamiliaren, S. 138. 388 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien derts, dass sich einzelne Kardinäle regelrecht kleine Privatarmeen hielten166. Die regionale oder im Gegenteil «gemischte» Rekrutierung einer familia bildete den Horizont des Kardinals ab; neben seiner eigenen Herkunft konnten auch Legatio- nen und politische Beziehungen die Zusammensetzung der familia beeinflussen, was insbesondere im Hinblick auf die deutschen Kurialen untersucht wurde167. Familiaren von Kardinälen trugen um die Mitte des 15. Jahrhunderts wohl meist eine Livree, doch wurde dies noch als neue Entwicklung empfunden. Vespasiano da Bisticci bemerkt im Rückblick auf die Zeit Branda Castigliones († 1443), «damals» habe es noch keine Livreen gegeben. Der junge Francesco Gonzaga erhielt 1462 den Rat, seiner Dienerschaft eine einheitliche Kleidung von geziemendem Schnitt und ohne Stickereien zu geben, die schließlich die Gestalt einer Livree annahm; sein Kollege Jean Jouffroy kaufte gleichzeitig einen teuren englischen Wollstoff von dunkelroter Farbe für seine familia168. Dass sich Kar- dinalsfamilien durch die Präferenzen des Dienstherrn im Umgangston voneinan- der unterscheiden konnten, legen Bemerkungen des Papstbiographen Gaspare da Verona nahe, der an Carvajals familia das gesittete, einfache und bescheidene Auf- treten und an d’Albrets familia den hohen Bildungsstand lobte; angeblich hatten sogar die Köche des Kardinals bei Gaspare da Verona studiert169. Im Wechsel von Alltag und Festen an der Kurie entwickelten die Kardinalsfamilien ein gewisses Eigenleben. Charakteristisch ist jene Fazetie Poggios, in der es auf die Frage nach dem schönsten Klang auf Erden heißt, dies sei der Klang der Glocke im Speisesaal des Kardinals, der die Familiaren zum Essen ruft. Man erfährt auch von gegen- seitigen Einladungen oder gemeinsamen Fastnachtsveranstaltungen, bei denen die Haushaltsangehörigen der Kardinäle in verschiedenen Verkleidungen auftraten170.

3. Bibliotheken und Sammlungen der Kardinäle Kirchenreformer des 15. Jahrhunderts erwarteten von den Kardinälen, dass sie ihre Freizeit mit angemessener Lektüre verbrächten. Ebenso wie eine Kapelle gehörte deshalb eine Bibliothek in jeden Kardinalspalast171. Tatsächlich gibt es kaum einen Kardinal des 15. Jahrhunderts, der keine Handschriften hinterlassen hätte. Die Kardinalsbibliotheken dieser Zeit weisen ganz unterschiedliche Profile auf, wobei die für die Überlieferung von Klassikern und Kirchenvätern wichtigen

166 Esch, Le importazioni, S. 51f. 167 Vgl. Schuchard, Die Deutschen, passim; Schwarz, Über Patronage und Klientel. 168 Vespasiano da Bisticci, Vite; Chambers, Renaissance cardinal, S. 20; Märtl, Jouffroy, S. 149f.; Ertl, Stoffspektakel, S. 156f. 169 Gaspare da Verona, De gestis, S. 27f., 37. 170 Poggio, Facezie, Nr.192, S. 324; Märtl, Alltag, S. 128f., 134f. 171 Haubst, Reformentwurf, S. 214, § 49; zum Forschungsstand siehe oben, S. 59, Anm. 231; zu den Austauschbeziehungen zwischen kurialen Bibliotheken vgl. Bianca, In viaggio. Kulturgeschichte des Kardinalats: Aspekte von Kommunikation und Repräsentation 389

Sammlungen verstärkt das Augenmerk der Forschung gefunden haben. Intellek- tuell engagierte Kardinäle und ihr Umfeld nutzten Beziehungen in ihre Heimat oder Legationen, um Handschriften zu erwerben, die dann im kurialen Milieu weiterwirkten. So machte Nikolaus von Kues im Gefolge des Legaten Giordano Orsini neben einer Reihe anderer Funde auch seine berühmte Entdeckung von zwölf Komödien des Plautus, die von Poggio Bracciolini begierig erwartet und später von Kardinal Niccolò Fortiguerri eingehend studiert wurden172. Etliche Kardinäle waren auch Stammkunden des florentinischen Buchhändlers Vespasia- no da Bisticci oder gaben anderweitig Abschriften im humanistischen Geschmack in Auftrag. Neben Kardinälen, die ihre Codices durcharbeiteten und mit Glossen versahen, wie Nikolaus von Kues oder Jean Jouffroy, gab es Bibliophile wie Pie- tro Barbo, von dem das Gerücht ging, ihm gelte die wertvolle Ausstattung der Handschriften mehr als ihr Inhalt173; auch sein Neffe Marco Barbo zeichnete sich durch ausgesprochenen Sammeleifer aus. Nicht immer lassen sich große Samm- lungen mit spezifischen Interessen oder eigener schriftstellerischer Tätigkeit des Besitzers in Verbindung bringen; dies ist beispielsweise der Fall bei Guillaume d’Estouteville, der eine der größten Handschriftensammlungen zusammentrug. Kardinalsbibliotheken trugen ab Sixtus IV. dank des Spolienrechts in erheblichem Umfang zum Grundstock der Vatikanischen Bibliothek bei. Die bedeutende Sammlung des Giordano Orsini, die aufgrund seines Testaments dem Kloster S. Biagio an der Via Giulia erhalten bleiben sollte, wurde auf Anweisung Papst Pius’ II. beim Kapitel von St. Peter untergebracht174. Mit dem Fortschreiten des 15. Jahrhunderts werden auch die Nachrichten zu Antikensammlungen von Kar- dinälen häufiger175. Zu den großen Sammlern antiker Objekte gehörten Prospe- ro Colonna, Ludovico Trevisan, Pietro Barbo und Francesco Gonzaga, während Guillaume d’Estouteville sich bevorzugt für Inschriften interessierte. Barbo hatte sich eine hervorragende Kennerschaft antiker Münzen erworben und offenbar ein eigenes Klassifizierungsprinzip entworfen, wie aus dem Inventar des Palazzo Venezia hervorgeht; auch präsentierte er stets bereitwillig seine Schätze. Als er Papst geworden war, kaufte er Münzen und Kunstgegenstände aus dem Nachlass Trevisans auf. Einzelne, heute noch erhaltene Kunstwerke lassen sich durch den Besitz mehrerer Kardinäle verfolgen, so die Gruppe der drei Grazien, die sich im Besitz Prospero Colonnas nachweisen lässt und schließlich über Francesco Todeschini Piccolomini in die Bibliothek am Dom zu Siena gelangte.

172 Acta Cusana I, 1, Nr.66, S. 22f.; Nr.67, S. 25; Nr.73, S. 27f. (Briefe Poggios an Niccoli, 1429); Gaspare da Verona, De gestis, S. 31. 173 Vgl. Märtl, Jouffroy, S. 291ff. 174 König, Kardinal Giordano Orsini, S. 106. 175 Vgl. Chambers, Renaissance cardinal, bes. S. 74ff.; Cavallaro, Introduzione, in: Collezionismo; Genovese, La collezione; Richardson, Reclaiming Rome, S. 431f.; Pfisterer, Lysippus. 390 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

4. Bildliche Darstellungen von Kardinälen

Kardinäle sind auf bildlichen Darstellungen des Spätmittelalters häufig leicht als solche zu identifizieren, sind sie doch in ihrer Kleidung zumindest durch den Hut und nicht selten auch durch die cappa magna gekennzeichnet. Außer Hut und cappa gehörten zum kardinalizischen Ornat noch ein Ring mit Saphir (wohl ein Lapislazuli), der dem neuen Kardinal während seiner Erhebung vom Papst im Zusammenhang der Zuweisung einer Titelkirche überreicht wurde, und eine silberne, teilweise vergoldete kleine Glocke, die ihm wohl meist von älteren Kollegen geschenkt wurde176. Die zahlreichen im 15. Jahrhundert entstandenen Abbildungen rotgewandeter Kardinäle mit dem Kardinalshut auf dem Kopf sind jedoch nicht als Wiedergabe kardinalizischer Kleidungsgewohnheiten aufzufas- sen, sondern verdanken sich dem Bestreben der Künstler, Kardinäle eindeutig als solche zu markieren. Anders als die Bilder suggerieren, trugen Kardinäle sowohl im Alltag als auch bei feierlichen Gelegenheiten keine charakteristische Stan- destracht, die sie eindeutig von anderen hohen Würdenträgern der Kurie unter- schieden hätte. Mit Ausnahme des rein zeremoniell, nicht als tägliche Kopf- bedeckung zu verstehenden roten Huts war der Gebrauch der Farbe Rot durch die Kardinäle strenger Beschränkung unterworfen. Bei den großen Auftritten gemeinsam mit dem Papst trugen sie eine weiße Mitra und nach ihren Weihe- graden abgestufte liturgische Kleidung. Von Ordensangehörigen unter den Kar- dinälen wird berichtet, dass sie ihr Ordensgewand auch nach der Erhebung zum Kardinal beibehielten. Kardinallegaten trugen während der Dauer ihrer Legation die dem Papst vorbehaltene rote Kleidung, hatten sie aber bei der Rückkehr wie- der abzulegen. Als Paul II. den Kardinälen Ende 1464 rote Birette und später die Verwendung roter Pferdedecken bei Prozessionen gestattete, wurde dies in seiner Signalwirkung sogleich aufmerksam registriert, da er damit den Kardinälen für einen kleinen Teil ihrer gewöhnlichen Kleidung die päpstliche Farbgebung zuge- stand177. Die Traktate zum Kardinalat bemühten sich, die für den Kardinal typischen Kleidungsstücke als Visualisierung von Rang, Ansprüchen und Tugenden sym- bolisch zu deuten. So sollten die rote Farbe des Huts auf das Blut der Märtyrer und die reinigende Kraft des Feuers, seine Kordeln auf die Verbindung des Kar- dinals zu Kirche und Papst, die Weite wie Länge der cappa auf Geheimhaltungs- pflicht, würdige Gesetztheit und Beharrlichkeit des Trägers hindeuten. Der La-

176 Vgl. zum Folgenden jeweils mit weiteren Hinweisen Berthod, From papal red; Richardson, Reclai- ming Rome, S. 106, 122ff., 185; Märtl, Zwischen Habitus. 177 Dykmans, L’œuvre I, S. 158, Nr.424; Richardson, Reclaiming Rome, S. 124, 136f.; Märtl, Zwi- schen Habitus. Kulturgeschichte des Kardinalats: Aspekte von Kommunikation und Repräsentation 391 pislazuli des Rings verwies durch seine Farbe auf den Himmel, die Glocke auf die Verpflichtung des Kardinals zur Wachsamkeit178. Die mit einer pelzgefütterten Kapuze und einer Schleppe versehene cappa magna war, nach ihrem Schnitt zu urteilen, aus einem Chormantel nach dem Vorbild der Amtstracht der Univer- sitätsgelehrten weiterentwickelt worden. Dies steht im Zusammenhang mit der Propagierung des Hieronymuskults und der Darstellung des Kirchenvaters als ge- lehrten Kardinals, die das Modell für den kardinalizischen Habitus abgab179. Am Ende des 15. Jahrhunderts deutet sich ein Wandel in der Darstellung der Kar- dinäle an, welcher die schwere cappa im Laufe des 16. Jahrhunderts aus den Kar- dinalsporträts allmählich verschwinden lässt. Die Kardinalsdarstellungen ahmen nun zunehmend jenen um die Jahrhundertwende aufkommenden Typ päpstlicher Bildnisse nach, in denen die Pontifices nicht mehr im großen Ornat erscheinen, sondern dem Betrachter mit mozzetta und Rochett vor Augen treten. Entsprechend der allgemeinen Entwicklung der Kunst nehmen im 15. Jahrhun- dert individuelle Porträts von Kardinälen180 zu. Als eigentümliches Phänomen dieses Zeitraums sind Darstellungen von Kardinälen in Gestalt des heiligen Hie- ronymus hervorzuheben, wobei hier die Identifikationen allerdings oft umstritten sind. Während der Detroiter Hieronymus im Gehäus weithin als Porträt Niccolò Albergatis akzeptiert wird, ist das in Wien hängende Porträt eines älteren Mannes von Jan van Eyck höchstwahrscheinlich nicht mit diesem Kardinal in Verbindung zu bringen; für das Tafelbild des heiligen Hieronymus im Gehäus von Antonello da Messina wurden Identifizierungen mit Nikolaus von Kues und Marco Barbo vorgeschlagen181. Häufig stehen die Porträts in Zusammenhang mit Stiftungen, in deren Rahmen sich die Kardinäle auf Altarbildern abbilden ließen oder zum Ge- dächtnis im Nachhinein abgebildet wurden, so Jean Rolin in Autun, Nikolaus von Kues in der Hospitalkirche zu Kues, Juan de Torquemada und Oliviero Carafa in S. Maria sopra Minerva. Von Pietro Barbo, Guillaume d’Estouteville und Alain de Coëtivy sind plastische Stifterbildnisse erhalten182. Darstellungen von Kardinälen im Medium der Buchmalerei sind noch kaum untersucht; sie treten als Autoren (Enea Silvio Piccolomini), Empfänger von Widmungen (Jean Jouffroy) oder Be- sitzer von Handschriften (Hugues de Lusignan, Antonio de Cerdá) auf; im letzt- genannten Fall handelt es sich um eine Handschrift mit Briefen des heiligen Hie-

178 Zur symbolischen Deutung der Gewänder am Beispiel eines Traktats Jean Jouffroys vgl. Märtl, Jouffroy, S. 197. 179 Meiss, Scholarship; Rice, Saint Jerome; Russo, Saint Jérôme; Wiebel, Askese; Märtl, Zwischen Habitus. 180 Eine eigene Arbeit hierzu fehlt, doch vgl. das Bildmaterial in Haidacher, Geschichte. 181 Märtl, Zwischen Habitus; Ridderbos, Saint; Aikema, De Heilige Hieronymus. 182 Richardson, Reclaiming Rome, S. 348f., mit Abb. 89; Haidacher, Geschichte, S.213; Prigent, Art, Tafel XXXII, Abb. 8. 392 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien ronymus183. Neu und zeittypisch ist die Gestaltung von Medaillen auf Kardi- näle184; von besonderem Interesse hinsichtlich der kommunikativen Intention ist eine Medaille Guillaume d’Estoutevilles, für die das Entstehungsdatum 1458 und ein Zusammenhang mit der Papstwahl dieses Jahres wahrscheinlich gemacht wur- den. Versehen mit einer rühmenden Umschrift, sollte die Medaille mit dem Profil des französischen Kardinals wohl dessen Kandidatur propagieren.

5. Grabanlagen und Stiftungen Zahlreiche römische Kirchen beherbergen Grabanlagen von Kardinälen, die sich um die Mitte des 15. Jahrhunderts rasch im Stil der Renaissance zu entwickeln begannen185. Das erste Beispiel des nachmals verbreiteten Typs scheint das nur mehr unvollständig erhaltene Grabmal des Kardinals Antonio Martins de Chavez († 1447), dessen Urheber umstritten ist, im Lateran geboten zu haben; danach übernahm die Werkstatt des Andrea Bregno für etwa ein halbes Jahrhundert eine Art Monopolstellung in der Verfertigung von Kardinalsgräbern. Ihr erstes erhal- tenes Produkt ist das Grab des Louis d’Albret († 1465) in S. Maria in Aracoeli. Überwiegend sind diese Gräber als Nischen- oder Wandgräber gestaltet, in denen auf einem Sarkophag die Bildnisfigur des mit liturgischen Gewändern und einer Mitra bekleideten Kardinals liegt. Personifikationen und Heiligenfiguren präsen- tieren Tugenden und religiöse Verbundenheiten des Verstorbenen; eine Inschrift rühmt seine Laufbahn, seine Verdienste für die römische Kirche sowie sonstige Leistungen und Eigenschaften. Bisweilen waren Abbildungen des Verstorbenen als knienden Beters in das Grabmal integriert; älteren Traditionen folgend, fan- den sich solche Darstellung meist in den Lünetten des Grabaufbaus, deren Aus- malung heute oft verloren ist. Das wohl bekannteste Beispiel der plastischen Dar- stellungen eines knienden Beters im Zusammenhang einer Grablege ist in Rom das Epitaph des Nikolaus von Kues in S. Pietro in Vincoli; auch außerhalb Roms sind mindestens zwei Beispiele nachzuweisen, Jean Jouffroy in seiner Grabkapel- le im Dom zu Albi und Oliviero Carafa in der Familienkapelle der Carafa in Nea- pel. Kardinalsgräber außerhalb Roms gehorchten eigenen Traditionen. Die Dar- stellung des Verstorbenen als verwesenden Leichnams oder Skeletts, für die das Grab des Kardinals Jean de la Grange († 1402) in St-Martial in Avignon eines der ältesten Beispiele bietet, war in Rom nicht üblich; Jean Jouffroy und Peter von Schaumberg ließen jedoch einen «Transi» in ihre Grabanlagen in Albi und Augs-

183 Vgl. Piccolomini, De viris illustribus, Abb. nach S. XV; Märtl, Jouffroy, S. 207; Hunter, Who is, S. 214, Abb. 8; Ruysschaert, Une annonciation. 184 Riegel, Medaillen. 185 Vgl. Kühlenthal, Andrea Bregno; Richardson, Reclaiming Rome, S. 351ff., 448ff.; zusammen- fassend zum Berliner Requiem-Projekt: Zitzlsperger, REQUIEM. Kulturgeschichte des Kardinalats: Aspekte von Kommunikation und Repräsentation 393 burg integrieren186. Grabanlagen von Kardinälen wurden nicht immer von ihnen selbst, sondern oft auch von Testamentsvollstreckern, Nepoten und sonstigen Verwandten oder dem Papst in Auftrag gegeben. Wer es allerdings versäumte, beizeiten selbst für seine memoria zu sorgen, riskierte sein Andenken. Dies war gerade bei sehr reichen Kardinälen der Fall. Ludovico Trevisan († 1465) hatte zwar ein Testament gemacht, doch wurde dieses von Paul II. kassiert. Ob die eher bescheidenen Anordnungen der Apostolischen Kammer für ein Grab des Kar- dinals ausgeführt wurden, ist nicht klar; im Jahr 1505 wurde jedenfalls ein Grab in seiner Titelkirche S. Lorenzo in Damaso errichtet, das den Verstorbenen, der zu Lebzeiten als Kämmerer, Feldherr, Admiral, Gartenliebhaber und Tierzüchter von sich reden gemacht hatte, mit einer griechischen Inschrift und über einem Stapel von Büchern liegend als Freund humanistischer Bildung zeigt187. Gar kein Grab- monument erhielt Guillaume d’Estouteville († 1483) in Rom, obwohl er in seinem Testament und vier Kodizillen ein Begräbnis in seiner Kathedrale in Rouen, in S. Maria Maggiore oder S. Agostino angeordnet hatte. Er hatte diese Kirche eines Augustinerkonvents in der Nähe der Piazza Navona auf eigene Kosten erbauen lassen. Hier hatte der nach kurzem Kardinalat verstorbene, aus dem Augustine- reremitenorden kommende Alessandro Oliva († 1463) im Jahr 1475 ein Grabmal erhalten; der Humanist Jacopo Ammannati Piccolomini († 1479) wollte sich ne- ben seiner Mutter ein Monument mit originellem Programm188 im Chor setzen lassen. Bewunderer der Kirche suchten jedoch vergeblich nach einem Grab des Er- bauers, der über vier Jahrzehnte eine der wichtigsten Figuren im Kardinalskolleg gewesen war. Der als unermesslich reich geltende Kardinal hatte sich nicht recht- zeitig um seine Grabstätte bemüht, während er in Rouen noch zu seinen Lebzeiten ein Herzbegräbnis nach königlichem Vorbild errichtet hatte189. Dass die Verwei- gerung einer repräsentativen Grabstätte Absicht sein konnte, lehrt das Beispiel Marco Barbos, der sich allein eine Inschriftenplatte bescheidenen Ausmaßes in seiner Titelkirche S. Marco setzen ließ. Aufs höchste gefordert waren schließlich Kardinalnepoten beim Tod eines Papstes. Keiner der römischen Päpste des 15. Jahrhunderts traf selbst für sein Grab Vorsorge, während es für die Kardinalnepoten darauf ankam, das politi- sche und religiöse Gewicht des Verstorbenen auch im Interesse ihres eigenen Sta- tus zu verewigen190.

186 Märtl, Jouffroy, S. 228f.; Grünsteudel/Hägele/Frankenberger, Augsburger Stadtlexikon (21998), S. 707; Röll, Nordeuropäisch-spätgotische Motive; Biget, La chapelle, S. 36; Haidacher, Ge- schichte, S. 205. 187 Vgl. Richardson, Reclaiming Rome, S. 431–433, mit Abb. 102, S. 366. 188 Ladegast, Liturgie. 189 Vgl. Gill, Death; Richardson, Reclaiming Rome, S. 449, 455. 190 Vgl. ebd., S. 345–382. 394 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

Viele Kardinäle des 15. Jahrhunderts tätigten noch zu Lebzeiten oder per Testament191 umfangreiche fromme Stiftungen, die teilweise bis heute existieren. Häufig waren Verfügungen über die Bibliothek des Verstorbenen in die Stiftungs- pläne integriert. Bessarion, der in Rom in seinem Palast bei SS. XII Apostoli ein Zentrum griechischer Kultur geschaffen hatte, überlegte lange, wohin er seine Handschriftensammlung stiften sollte. Er hinterließ sie schließlich der Markus- republik in der Absicht, sie dort öffentlich zugänglich zu machen. Venedig wusste jedoch zunächst wenig mit den Handschriften anzufangen, die schließlich als wichtiger Bestand in die Biblioteca Marciana eingingen192. Wurde die Biblio- theksstiftung Bessarions von der Sorge um die Überlieferung der griechischen Philosophie und Literatur getragen, so war die Stiftung des Nikolaus von Kues in seinem Geburtsort an der Mosel durch religiös-soziale Motive angeregt. Der deutsche Kardinal bereitete die Gründung eines Hospitals für arme Alte gemein- sam mit seinen Verwandten sorgfältig vor und sicherte sie durch päpstliche Privilegien ab; ein gegen Ende des 15. Jahrhunderts errichteter Bibliotheksraum beherbergt einen großen Teil der von dem Kardinal besessenen Handschriften. In den Kernbauten inzwischen musealisiert, erfüllt die Stiftung des Nikolaus von Kues in zeitgemäß angepasster Form bis heute die ihr zugedachte Funktion als Altenheim. Daneben tätigte der Cusanus jedoch noch zahlreiche weitere Stif- tungen193. Domenico Capranica gründete in seinem römischen Palast für arme Studenten das heute noch existierende Collegio Capranica, dem er seine Hand- schriften hinterließ, die auf Umwegen im 20. Jahrhundert in die Biblioteca Apo- stolica Vaticana gelangten194. Juan de Torquemada hingegen rief eine Bruder- schaft zugunsten armer römischer Mädchen ins Leben, die diesen eine Mitgift sichern sollte195. Abgesehen von diesen institutionalisierten Verfügungen mit Memorialcharakter wird von vielen Kardinälen auch berichtet, dass sie bereits zu Lebzeiten Bedürftige, insbesondere mittellose Studenten, unterstützten. Des Weiteren entfalteten sie eine rege Tätigkeit als Bauherren und Förderer bildender Kunst, um ihre Titelkirchen oder kirchliche Einrichtungen, mit denen sie als Be- sitzer von Pfründen und Ämtern oder auf andere Weise besonders verbunden wa- ren, zu erhalten oder zu verschönern196.

191 Zu Testamenten von Kardinälen des 15. Jahrhunderts vgl. jetzt ebd., S. 424ff. und oben S. 59. 192 Vgl. Labowsky, Bessarion’s library. 193 Vgl. Hensel-Grobe, Das St.-Nikolaus-Hospital; umfassende Darstellung aller Stiftungsaktivitäten des Cusanus bei Tritz, Die Stiftungen. 194 Vgl. zuletzt Saraco, Il cardinale Domenico Capranica und oben S. 59. 195 Vgl. Sieben, Torquemada, hier Sp. 1049. 196 Zahlreiche Hinweise auf Mäzenatentum im Umfeld der Kurie vgl. in dem Ausstellungskatalog Il 400 a Roma; jetzt eingehend Richardson, Reclaiming Rome S. 157ff. Kulturgeschichte des Kardinalats: Aspekte von Kommunikation und Repräsentation 395

6. Kardinäle als Schriftsteller

Die Bedeutung literarischer Bildung für die Kardinäle des 15. Jahrhunderts ver- anlasste Paolo Cortesi in seinem eingangs erwähnten Traktat über die Kardinals- würde zu der Behauptung, dass bevorzugt Männer, die Kommentare oder eigene Werke verfasst hätten, in das Kolleg aufzunehmen seien, da sich in diesen Tätig- keiten am klarsten Gesinnung und Lebensweise des Kandidaten zeigten197. Tatsächlich traten in den Pontifikaten von Martin V. bis Paul II. viele Kardinäle als Schriftsteller hervor, wobei hier die mehrfach überlieferten, in anderem Zu- sammenhang zu behandelnden Reformvorschläge aus kardinalizischer Feder bei- seitegesetzt seien. Von überragender Wichtigkeit war die Tätigkeit Bessarions als Übersetzer griechischer Texte und Kritiker der Übersetzungen des Georg von Tra- pezunt. Der griechischen Sprache bediente sich Isidor von Kiew, dem eine man- gelhafte Kenntnis des Lateinischen nachgesagt wurde, für einige theologische Schriften. Als Theologe, Philosoph, Mathematiker und Kirchenrechtler verkör- perte Nikolaus von Kues den Typus des einerseits spekulativ, andererseits prak- tisch veranlagten Universalgelehrten. Cusanus wollte in die Breite wirken: Neben etwa 300 Predigten belegen dies einige sprachlich bewusst einfach gehaltene Trak- tate, wie etwa De visione Dei, ein Werk, das er für die Mönche von Tegernsee schrieb, und seine didaktisch-pädagogischen Hilfskonstruktionen, wie das von ihm erfundene Globusspiel (De ludo globi), das die Annäherung der Seele an Gott illustrieren sollte. Über seine intellektuellen Leistungen geben auch die Randnoti- zen seiner Handschriften198 Auskunft, in denen er historisch-kritischen Sinn be- wies. Nikolaus von Kues widmete Pius II. während des Kongresses von Mantua seine Schrift De pace fidei, um engagiert den Weg der Glaubensdiskussion für den Umgang mit den Muslimen zu empfehlen; Juan de Torquemada stellte gleichzei- tig die religionsgeschichtliche und dogmatische Grundlage bereit, aus der Pius II. seine Kenntnisse des Islam in seinem Brief an Mehmed bezog. Torquemada hin- terließ ein reiches, zum Teil ungemein breit überliefertes theologisches und kano- nistisches Œuvre, darunter eine umfassende Summa de ecclesia199. Er beteiligte sich mit einer eigenen Stellungnahme an der letzten großen Diskussion über die Armutsbewegung, die unter Paul II. anlässlich der Verhaftung einiger Fratizellen stattfand. Während der Dominikaner Torquemada die Vorstellung einer armen Urkirche, die jedem Christen als Vorbild zu gelten habe, verteidigte, vertrat Jean Jouffroy in einem Bessarion gewidmeten Traktat die Meinung, der Fortschritt der

197 Cortesi, De cardinalatu II, 31. 198 Vgl. die Beschreibungen von Handschriften aus dem Besitz des Cusanus in: Mitteilungen und For- schungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 3 (1963) bis 16 (1984). 199 Vgl. Kaeppeli, Scriptores III, S. 24–42. 396 Papst und Kardinalskolleg im Bannkreis der Konzilien

Zeiten rechtfertige die Tendenz zum Luxus, die unter Paul II. an der Kurie um sich griff. Auch hatten die Kardinäle teil am Aufschwung humanistischer Oratorik, sei es, dass sie selbst Reden hielten, wie Giovanni Castiglione, Bessarion und vor allem Jean Jouffroy200, sei es, dass sie – zumal während ihrer Legationen – wie- derholt mit Reden empfangen und verabschiedet wurden201. Auch die historio- graphischen Bemühungen einzelner Kardinäle waren stark vom Humanismus ge- prägt. Dies gilt für Enea Silvio Piccolomini, der in seiner kurzen Zeit als Kardinal (Dezember 1456 bis August 1458) mit der Überarbeitung der Historia Austrialis, der Historia Bohemica und der Europa einen bedeutenden Teil seines historio- graphischen Werks schuf, wozu noch die sogenannte Germania kommt. Der von ihm protegierte Jacopo Ammannati Piccolomini verfasste bis 1469 reichende Commentarii zeitgeschichtlichen Inhalts, verarbeitete den Konflikt Pauls II. mit den Grafen von Anguillara in einer Dichtung und begann ein erstes, nur unvoll- ständig erhaltenes Diario concistoriale, das wertvolle Nachrichten über öffent- liche und geheime Konsistorien bietet. Jean Jouffroy überreichte Pius II. eine stark tendenziöse Geschichte Herzog Philipps des Guten von Burgund, die der Papst teilweise in seinen Commentarii verwertete. Von den umfangreichen Kardinalsbriefwechseln des 15. Jahrhunderts seien an- gesichts des unbefriedigenden Bearbeitungsstands nur wenige bereits erschlossene Beispiele202 genannt, die für die Themenfelder, welche in diesen Korrespondenzen typischerweise vorkommen, stehen. Für die Beziehungen innerhalb des Kardinals- kollegs und die Lebenswelt eines humanistisch gebildeten Kardinals ungemein auf- schlussreich ist der ausgedehnte Briefwechsel Jacopo Ammannati Piccolominis. Höchst interessant sind zumal jene Schreiben, in denen die Spannungen zwischen Paul II. und dem Kolleg, Pfründen- und Einkommensprobleme oder Aktivitäten während der Sommerpause thematisiert werden. Nikolaus von Kues führte mit den Mönchen von Tegernsee eine Korrespondenz, in der neben der Erörterung theologischer Fragen immer wieder auch Persönliches zur Sprache kam; daneben ist von ihm eine beträchtliche Anzahl von Schreiben eher administrativen Cha- rakters oder – zumal im Zusammenhang mit den Konflikten im Bistum Brixen – kirchenpolitischen Inhalts bekannt. Ludovico Trevisan stand mit Angehörigen der Familie Caetani in einem regen Briefwechsel, der die Verflechtung eines Kardinals in die regionale Adelswelt im Umland Roms gut zu illustrieren vermag. Verstreut publizierte Schreiben Francesco Todeschini Piccolominis belegen die weit ge-

200 Vgl. Märtl, Jouffroy, S. 347–351, darunter eine Rede zur Überreichung des roten Huts an Jean Balue, S. 349, Nr.27. 201 Zahlreiche Hinweise auf solche Reden, die noch zu untersuchen wären, bietet Kristeller, Iter ita- licum. 202 Zum Forschungsstand siehe oben, S. 57–59. Kulturgeschichte des Kardinalats: Aspekte von Kommunikation und Repräsentation 397 spannten politischen Interessen des Kardinals, der von seinem Onkel Enea Silvio die Vertretung von Belangen aus dem deutschen Reich übernommen hatte, aber auch zur Anlaufstelle für englische Petenten wurde und am Ende des Jahrhunderts als Legat über den französischen Einmarsch in Italien berichtete. Die Kardinäle des 15. Jahrhunderts haben schließlich auch neue mediale Kom- munikationsformen gefördert. Noch eher traditionell, doch aufgrund der selte- nen Erhaltung derartiger Gegenstände bemerkenswert ist die Tafel in nieder- deutscher Sprache, die Nikolaus von Kues während seiner Deutschlandlegation zur Belehrung der Laien in Hildesheim aufhängen ließ203. Enea Silvio Piccolomi- ni, damals noch nicht Kardinal, beschrieb dem Kardinallegaten Juan de Carva- jal Lagen der von Gutenberg gedruckten Bibel, die er 1454 in Frankfurt oder 1455 in Wiener Neustadt gesehen hatte, und pries dem offenkundig fehlsichtigen Spanier die leichte Lesbarkeit der Lettern204. Juan de Torquemada erdachte Me- ditationes de vita Christi, die im Druck zusammen mit Holzschnitten verbreitet wurden, welche Motive eines von dem Kardinal für den Kreuzgang von S. Maria sopra Minerva in Auftrag gegebenen Bilderzyklus aufnahmen. Vermutlich initi- ierte Torquemada, der als Kommendatarabt von Subiaco über die Niederlassung der Drucker Sweinheim und Pannartz in dem Kloster informiert gewesen sein dürfte, die von Han in Rom 1467 gedruckte erste Auflage seiner Meditationes selbst205. Die ersten Frühdrucker in Rom, die meist Kleriker deutscher Herkunft waren, bewegten sich im klientelären Umfeld der Kardinalsfamilien; vom in- tellektuellen Milieu des Nikolaus von Kues war auch sein Sekretär Giovanni Andrea Bussi geprägt, der – freilich nach dem Tod des Cusanus – zu einem der bedeutendsten Anreger römischer Druckprojekte wurde206. Viele, im Einzelnen bisweilen widersprüchliche Faktoren wirkten zusammen, um das Kardinalskolleg während der Pontifikate von Martin V. bis einschließlich Paul II. zu einer kulturfördernden Institution ersten Rangs zu machen: Das im heiligen Hieronymus verkörperte Leitbild des gelehrten Kardinals, die wach- senden Repräsentationsansprüche eines fürstlichen Modells des Kardinalats, die Sorge um die erneute Stärkung der ecclesia Romana, die zunehmende Orientie- rung an humanistischer Intellektualität und Renaissanceästhetik auf der einen, doch auch die Bemühungen um eine Kirchenreform, um den Türkenkrieg und die Pflege des traditionellen Patronage- und Klientelwesens auf der anderen Seite ver- liehen in dieser Zeit den kulturellen und intellektuellen Aktivitäten der Kardinäle eine unerhörte Dynamik.

203 Vgl. Rieckenberg, Katechismus-Tafel. 204 Vgl. Meuthen, Ein neues frühes Quellenzeugnis; Davies, Juan de Carvajal; Sandal, Il libro. 205 Vgl. Kaeppeli, Scriptores III, S. 40f., Nr.2736; Richardson, Reclaiming Rome, S. 169–174. 206 Vgl. Esch, Deutsche Frühdrucker; Saggi di stampa; Israel, Romnähe, bes. S. 284–286.