SCHWERPUNKTTHEMA DIGITAL CONCERT HALL

DIE BERLINER PHILHARMONIKER IM EIGENEN WOHNZIMMER

Von Cornelia Härtl

Wer den Berliner Philharmonikern lauschen möchte, muss entweder ins Konzert gehen oder auf eine Fernseh-Übertragung warten. Oder? Weit gefehlt: Seit neun Jahren kann man sich die Berliner Philharmoniker zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit ins eigene Wohnzimmer holen – in der Digital Concert Hall. CLARINO sprach mit Tobias Möller, der bei den Berliner Philharmonikern für die Online- Kommunikation und Medienvermarktung zuständig ist.

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Seit wann gibt es die Digital Concert Hall Das Gefühl, ein Orchester live im Konzert- und welche Idee bzw. welches Ziel steckt saal zu erleben, wird sich durch keine vor- dahinter? Wer war der Initiator? stellbare Technik ersetzen lassen. Das ist einfach ein nicht reproduzierbarer Thrill. Die Digital Concert Hall ist im Dezember Aber natürlich bekomme ich bei einem di- 2008 online gegangen, und wenige Wo- gitalen Konzert die Musiker ganz aus der chen später gab es unsere erste Live-Über- Nähe und aus vielfältiger Perspektive zu tragung. Die Idee reicht aber noch einige sehen. Und man sitzt ganz gemütlich auf weitere Jahre zurück. Sie geht im Wesent- dem Sofa, muss sich keine Krawatte bin- lichen auf Olaf Maninger zurück, der sich den und keinen Parkplatz suchen. als Solocellist und Medienvorstand mit der Frage beschäftigt hat, wie man als Orches- Wie viele Menschen nutzen die Digital ter im digitalen Zeitalter ein internationa- Concert Hall? les Publikum ansprechen kann. Zusammen mit dem Filmproduzenten Robert Zimmer- Aktuell haben wir über 900 000 registrierte mann und einem neu zusammengestellten Nutzer, darunter gut 30 000 Inhaber eines Digital-Team hat er dann das Projekt ent- bezahlten Tickets. wickelt. Und wer sind die Nutzer des digitalen An- Welche Inhalte werden in der Digital Con- gebots? cert Hall bereitgestellt? Wir stellen bei der Registrierung nur ganz Neben Live-Übertragungen und Aufzeich- wenige Fragen, denn die würden erfah- nungen der jüngeren Vergangenheit kann rungsgemäß viele potenzielle Nutzer ab- man bei uns weit in die philharmonische schrecken. Wir fragen allerdings nach dem Historie zurückreisen – mit Konzerten, die Herkunftsland. Aus Deutschland kommen bis in die Karajan- und Abbado-Jahre zu- 22 Prozent der Besucher, aus den USA rund rückreichen. Dazu gibt es Bonus-Filme, 18 Prozent, aus Japan rund 16 Prozent. Interviews und Dokumentationen. Die übrigen stammen vor allem aus euro- päischen und asiatischen Ländern, aber Handelt es sich bei den Konzerten um auch Südamerika wird für uns ein immer Live-Aufnahmen oder Aufzeichnungen? wichtigerer Markt. Wie viel wird nachbearbeitet? Ähneln sich das digitale und das reale Jedes live übertragene Konzert wird nach- Publikum? Oder gibt es gravierende Un- bearbeitet und nach wenigen Tagen als terschiede? Aufzeichnung im Archiv veröffentlicht. Die Bearbeitung betrifft vor allem Fehler, die Das digitale Publikum ist naturgemäß wohl im Live-Bildschnitt passieren können, aber etwas jünger als das reale. Was aber nicht manchmal auch musikalische Einsätze, die bedeutet, dass unser reales Publikum in nicht hundertprozentig gelungen sind. der Philharmonie konservativer wäre. Ich Aber das sind alles minimale Korrekturen, habe eher den gegenteiligen Eindruck: Wer verglichen mit dem, was bei regulären öfter ins Konzert geht, ist eher dem Experi- Fernsehproduktionen bearbeitet wird. mentellen, Ungewöhnlichen gegenüber aufgeschlossen. Ist der digitale Konzertsaal eine Konkur- renz zu »richtigen« Konzertbesuchen? Was sind die beliebtesten Beiträge mit Oder ist vielleicht sogar das Gegenteil den meisten Zugriffen? der Fall? Was genau ist die Digital Concert Hall? Das kann man so allgemein nicht sagen. Unser Publikum kommt zu über 75 Prozent Natürlich gibt es Klassiker unseres Kata- Rein technisch gesehen ist die Digital Con- aus dem Ausland und hätte sonst kaum je logs, die ganz oben in der Statistik stehen: cert Hall eine Videoplattform, mit der man die Möglichkeit, live dabei zu sein. Wir sind Beethovens Neunte mit Simon Rattle, Live-Übertragungen und Aufzeichnungen der festen Überzeugung, dass die Digital Schumanns Klavierkonzert mit Martha von Konzerten der Berliner Philharmoniker Concert Hall auf den Besuch unserer realen Argerich. Aber am meisten Aufmerksam- abrufen kann – auf dem Fernseher, auf Konzerte neugierig macht und gerade keit erregen doch unsere jeweils neuesten Mobil geräten, auf dem Computer. keine Konkurrenz dazu darstellt. Sonst hät- Veröffentlichungen. Das kann dann auch Die Grundidee des Projekts geht aber über ten die Musiker diesem Projekt nie zu- mal Janáčeks »Schlaues Füchslein« sein. diese technische Seite hinaus. Die Digital gestimmt. Concert Hall ist neben der Berliner Philhar- Werden die Zugriffszahlen als Trend für monie eine weitere Spielstätte der Berliner Inwiefern unterscheidet sich für den Zu- die zukünftige Programmplanung be-

Foto: Fotolia/Antonioguillem,Foto: Screenshot Philharmoniker – nur eben im Internet. hörer das digitale Konzert vom realen? rücksichtigt?

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Nein, und das ist auch richtig so. Dass die Im Videostudio unter dem Dach der Phil- oder man überträgt das Signal vom Mobil- Musiker programmatische Entscheidungen harmonie sitzen bei einer Übertragung gerät auf den großen Bildschirm. Es gibt autonom nach rein künstlerischen Er- meist ein halbes Dutzend Kollegen, darun- wirklich viele, viele Möglichkeiten, bei uns wägungen fällen, ist ja Teil des Erfolgs- ter ein Bildregisseur und ein Kameramann, dabei zu sein. rezepts des Orchesters. der gleichzeitig acht ferngesteuerte Kame- ras im Saal bedient. Gibt es konkrete Pläne für die Zukunft? Wie ist das überhaupt für die Musiker be- Der Ton kommt aus einem separaten Soll das Angebot noch weiter ausgebaut ziehungsweise Dirigenten? Müssen diese Audio studio. Das Signal wird dann noch in werden? bestimmte Dinge beachten, wenn das der Philharmonie encodiert und an ein so- Konzert auch für den digitalen Konzert- genanntes Content Delivery Network über- Auf jeden Fall. Zunächst sind inhaltlich saal verwendet werden soll? geben, das die Weiterleitung in alle Welt viele Erweiterungen denkbar: Kammer- übernimmt. musikkonzerte, Meisterkurse, noch mehr Am Anfang war das alles für einige Musiker historische Aufzeichnungen. Vor allem schon gewöhnungsbedürftig. Aber inzwi- Welche technischen Voraussetzungen aber eröffnet die sich rasant entwickelnde schen sind unsere Übertragungen für das benötigt man denn selbst, wenn man das Technologie immer neue Möglichkeiten. Orchester ja Alltag. Die Musiker sollen sich Angebot nutzen möchte? Wir haben in diesem Jahr Panasonic als auch nicht anders verhalten als an Konzert- Technologiepartner der Digital Concert abenden ohne Live-Stream. Das war eine Der Abruf von Online-Videos ist heute ja Hall gewonnen und konnten daraufhin un- entscheidende Anforderung bei der Ent- ganz alltäglich geworden. Sie können un- ser Videostudio mit brandneuer 4K-Tech- wicklung der Digital Concert Hall: Das Er- sere Konzerte per Website abrufen oder nologie ausstatten. Wir werden also in lebnis im Saal darf sich durch die Technik mit unseren Mobil-Apps für Smartphone absehbarer Zeit in der Lage sein, Konzerte weder für das Publikum noch für die Musi- und Tablet. mit vierfacher HD-Auflösung zu über- ker auf der Bühne verändern. Am größten ist der Konzertgenuss natür- tragen. Das ist schon eine Pioniertat und lich mit einem Fernseher, an den man ein unglaublich spannend. z Wie viel Technik steckt in dem Projekt? gutes Audiosystem angeschlossen hat. Für Wie viele Techniker sind im Einsatz? Fernseher haben wir TV-Apps entwickelt, www.digitalconcerthall.com

Etwa sechs Personen sind bei einer Übertragung für die Digital Concert Hall im Videostudio aktiv. Foto: Peter Adamik

24 CLARINO JANUAR 2018 SCHWERPUNKTTHEMA THEINERTS THEMA DIE MEDIEN UND DIE MUSIK

Von Klaus Härtel

»Tue Gutes und rede darüber« lautet ein geflügeltes Wort. Ge- meint sind hier PR, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit – vielleicht auch im Bereich der Musik. Andererseits wusste schon Frank Zappa: »Über Musik zu reden ist wie über Architektur zu tanzen.« Was denn nun? Wir haben uns mit Markus Theinert unterhalten.

Sie kennen die Medien in den USA und versitäten beschränkt. Diese Aktivitäten dem wir nur das Detail herauspicken, was auch in Deutschland. Kann man die werden auf regional beschränkten Medien wir gerade benötigen – scheint auch das Medien – was die Darstellung von Blas- dargestellt, wie etwa der Webseite der Bedürfnis kleiner geworden zu sein, sich musik angeht – miteinander vergleichen? Schule oder einem Newsletter. Das Land mit einer ganzheitlichen Struktur oder ist einfach zu groß, als dass sich ein natio- Thematik auseinanderzusetzen. Da hat uns Die Unterschiede sind gar nicht so groß, nales Magazin noch mit regionalen Ver- die Digitalisierung keinen Fortschritt ge- wie man vermuten könnte. Natürlich ist die anstaltungen und Orchestern beschäftigen bracht, eher einen Verlust an Kommunika- Medienlandschaft international bunter ge- könnte. tionskultur. Ich glaube, dass vollständige worden in jeder Beziehung – nicht nur im Artikel in einer Fachzeitschrift immer selte- digitalen Bereich, sondern auch auf dem Ist also die Auseinandersetzung der ner gelesen werden. Wer weiß, wie viele Gebiet der Printmedien. Zum Glück gibt es Medien mit der Amateurszene ähnlich Leser es bis zu diesem Absatz unseres Ge- ja noch einige Magazine, die sich auch im sparsam wie in Deutschland? Das wird sprächs geschafft haben. Wir suchen uns digitalen Zeitalter gehalten haben. Dazu bisweilen ja scharf kritisiert. die Stückchen heraus, die uns gerade ge- zählt natürlich auch die CLARINO, obwohl legen kommen, und sind beim nächsten die Menschen doch im Alltag immer selte- Viel weniger noch. Es besteht überhaupt Detail schon wieder bei einem anderen ner dazu kommen, einen Artikel in Ruhe nur die Chance, in privaten und lokalen Autor oder auf einer anderen Webseite ge- durchzulesen anstatt schnell im Internet zu Radiostationen oder Fernsehprogrammen landet. Diese Zerstückelung, die ja das stöbern. Nimmt man sich aber die Zeit, so zu berichten. Wie Sie wissen, habe ich per- Wesen der Digitalisierung ist, basiert auf bekommt man doch detailliertere Informa- sönlich eine kritische Einstellung zu Kon- der Annahme, dass wir nur das aufnehmen tionen und weniger oberflächliche Zitate. zertmitschnitten und Studioproduktionen. können, was wir gerade zu benötigen Allerdings geht es in den Medien nicht um Aber natürlich können wir Dokumentatio- scheinen. Die sozialen Medien und insbe- Musik, sondern um Einrichtungen und Ver- nen zeigen und über Konzerte berichten. sondere die »Kultur«, die sich heutzutage anstaltungen, es geht um Orchester, Kon- Aber das passiert in den USA in noch klei- auf Twitter abspielt, sind sozusagen der zertprogramme, Probenphasen und Pro- nerem Maßstab als etwa beim Bayerischen Gipfel der Dekadenz und des Zerfalls einer jekte. Wir können medial nur kommunizie- Rundfunk, der das in seinen Blasmusik- ganzheitlichen Kommunikation. ren, was wir tun oder wann wir es tun, aber sendungen ganz gut hinbekommt. die Musik selbst ist dem Augenblick vor- Die Entwicklung wird vermutlich schwer behalten, in der der lebendige Klang auf Ist vor diesem Hintergrund die Digi- aufzuhalten sein. Ist da jeder Einzelne das Bewusstsein trifft. Da muss ich gleich talisierung einerseits von Vorteil, weil gefordert, Entschleunigung zu finden, zu Beginn des Gesprächs einen großen Ab- man sich das herausziehen kann, was die Langsamkeit zu entdecken? strich machen, weil viele glauben, die Me- man möchte, andererseits aber auch ein dien eigneten sich dazu, Musik selbst zu Nachteil, weil ich viel genauer filtern Sicher, jeder ist für sich verantwortlich. übertragen oder zu vermitteln. Aber darum muss? Und Sie haben recht, einen Trend, der geht es nicht, sondern um die Kommunika- von Technologiekonzernen vorangetrieben tion, um Werbung für die Konzerte und Das ist eine Krankheit unserer modernen wird und der den Zeitgeist widerspiegelt, Infor mationen über die Szene. Zivilisation und zeigt in erschütternder kann man weder als Gesellschaft noch als Aber zu Ihrer Frage: Die USA haben einen Weise, wie wir immer weniger in der Lage Einzelner aufhalten. Auf der anderen Seite großen Nachteil gegenüber Europa: Die zu sein scheinen, Ganzheit nicht nur aufzu- glaube ich nicht, dass es hier um Langsam- Blasmusik bleibt hier im Wesentlichen auf nehmen, sondern auch zu empfinden. Mit keit geht, sondern schlicht und ergreifend

Foto: Mannheimer Bläserphilharmonie Mannheimer Foto: die allgemeinbildenden Schulen und Uni- diesem Aufspalten von Informationen – in- um den Abstand, der erforderlich ist, um

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das Gesamtbild zu erfassen. Unser mensch- dings im Wege. Wenn ich mir nicht eine eine solche Möglichkeit beschert hätte. Es liches Wesen ist nicht darauf ausgelegt, mit Selbstdisziplin aneigne, die mir diesen gibt aber Phänomene, die vollständig un- der Vielfalt der einzelnen Eindrücke irgend- Schritt ermöglicht, werde ich das wahr- abhängig von Daten sind. Klang ist keine etwas anfangen zu können. Wir brauchen scheinlich nicht schaffen. digitale Information. Klang ist Bewegung, die Beziehungen untereinander. Wenn es Klang ist Schwingung, die über unser Ohr keine Relation zwischen den Details gibt, Das heißt, Musik ist damit massenmedial auf unser Bewusstsein übertragen wird und sind wir überfordert, ja gerade zu erschla- nicht nur nicht darstellbar, sondern auch die sich im Raum abspielt. Und zwar mit gen von der Vielfalt der Ereignisse und ein Ausweg aus dieser eingeengten Welt? einer Resonanz, die kein Lautsprecher und Wahrnehmungen. Da muss sich der Einzel- kein Internet in irgendeiner Form wieder- ne selbst zurückziehen, wenn er in dieser Nicht nur ein Ausweg! Die lebendige Musik geben kann. Wenn wir jetzt Zugriff auf all Vielfalt überleben möchte, und immer wie- ist alleinig in der Lage, ein musikalisches die großen Dirigenten haben und uns da- der von Neuem darauf besinnen, was ihm und nicht nur klangliches Erlebnis über- rüber informieren können, wie schnell ein am nächsten steht, was ihm sein eigenes haupt zu ermöglichen. Konserven zu genie- Stück geht und was er mit diesem Über- Ich widerspiegelt. Man darf sich nicht dem ßen ist ja nur eine Ersatzhandlung. Selbst gang macht, wie er die Klarinette behan- Sog der Medien hingeben und glauben, im Sprachgebrauch wird der Unterschied delt oder ob er diese Stelle solo spielen dass das, was dort passiert, die neue Reali- gar nicht mehr gemacht: Wenn mir heute lässt oder mit dem ganzen Register – dann tät sei. Jeder von uns, ob überfordert oder ein junger Mann erzählt, dass er gestern mag mir das im besten Fall ein paar Ideen gar überwältigt, wird irgendwann ent- die 2. Symphonie von Johannes Brahms ge- mit auf den Weg geben, was ich in der Pro- decken, dass das der menschlichen Natur hört hat, dann kann ich nicht einfach mehr be probieren kann. Aber letztlich ist das diametral entgegengesetzt ist. davon ausgehen, dass er ein Konzert der was ich tue entscheidend – solange ich Münchner Philharmoniker besucht hat. noch jemanden habe, der lebendig musi- Sehr wahrscheinlich hat er sich eine Auf- ziert, solange ich mit Musikern in einem Man darf sich nicht nahme auf YouTube angehört – und die Raum sitze und an einem Stück arbeite, das » dem Sog der wahrscheinlich noch unvollständig! Jetzt dort entsteht und durch die einmaligen Medien hingeben. glaubt er, dass er die Symphonie von Beziehungen zwischen den Klängen zum « Brahms gehört hat. Das ist die große Ver- Erblühen kommt. Das geschieht nur im wechslung. Sogar die Sprache macht hier Moment und nur an diesem Ort und nur Doch kann man den Abstand dazu wie- keinen Unterschied mehr. Aufgenommene mit den anwesenden Individuen. Das lässt dererlangen? Gerade junge Leute sind ja Klangfetzen, die wir über Computer oder sich weder festhalten noch außerhalb des »außen vor«, wenn sie nicht bei Face- Smartphone anhören, werden quasi als Augenblicks übertragen. Wenn ich mein book und Co. vertreten sind… Ersatz für den Reichtum des lebendigen Bewusstsein von den akustischen Phäno- Klangs hergenommen. Meine Befürchtung menen einer Aufnahme berieseln lasse, Der reflektierende Erwachsene könnte es ist – und bei jungen Leuten ist das oft schon dann wird anstelle des Erlebnisses mein mit sehr viel Disziplin sicherlich schaffen, der Fall –, dass man gar nicht mehr ver- Gedächtnis agieren, welches nun mehr auf das Rad für sich ein wenig zurückzudrehen. steht, was der Klang im Bewusstsein bewir- das gestern oder letzte Woche Gehörte Allerdings macht es die Schulausbildung ken kann. Denn wenn wir nicht wissen, was reagiert als auf den lebendigen Klang für junge Leute immer schwerer, in eine wir alles nicht wissen, ist das Bedürfnis nur selbst. Damit verlieren Dirigent, Musiker ganzheitliche Kultur hineinzuwachsen. im Unterbewusstsein vorhanden. Für den und auch die Zuhörer jede Beziehung Denn wenn sie sich auf ein paar Deutsch- direkten Handlungsbedarf des täglichen zwischen den Erscheinungen. Wir haben stunden verlassen, in denen noch Goethe Lebens spielt das gar keine Rolle mehr. Wir keinen Zugang zum Geschehen in der und Schiller gelesen und im Unterricht werden wahrscheinlich in den kommenden Gleichzeitigkeit mehr. Die Referenz von nicht nur schemenhaft in Analysen ver- Generationen in manchen Regionen dieser YouTube-Videos ist also nicht nur wenig arbeitet werden, dann kommen unsere Welt gar nicht mehr wissen, was uns fehlt, hilfreich, sondern könnte musikalisches Er- heutigen Schüler ja gar nicht mehr dazu, und auch gar nicht mehr wissen, was uns leben sogar vollständig verhindern. sich einmal nur in eine Ecke zu setzen und seelisch krank macht: der Mangel an Ein- ein Buch zu lesen. Alleine das würde bereits heit, das Fehlen von Harmonie. Musik entsteht in der helfen. Auch ein Spaziergang draußen in » der Natur kann uns aus der Diskontinuität Nun ist die heutige digitale Massenkom- Zeit, aber sie vergeht auch in der Zeit. der digitalen Medien heraus- und in eine munikation auch und vor allem für Diri- « kontinuierliche Erlebnisform hineinbrin- genten sehr verlockend, wenn ich mich gen. Die Musik selbst, das lebendige Musi- auf ein Konzert vorbereiten möchte. Wie Man sollte sich also freimachen von vor- zieren in der Wirklichkeit eines Konzert- kann ein Dirigent mit der Menge an Infor- gefertigten Meinungen und sich sein ei- saals, eines Wohnzimmers oder auch eines mationen und Möglichkeiten, die ihm oft genes Bild machen? Unterrichtsraums, ist mehr wert als 1000 noch frei Haus geliefert wird, umgehen? Worte, die das zu erklären versuchten. Dort Nicht sein eigenes Bild, aber die Partitur kommen wir tatsächlich zu einer konti- Die technischen Möglichkeiten, die das dient als Wegweiser für die geschaffenen nuierlichen Erlebensform zurück, die dem Internet bietet, sind immens. In Bruchtei- Strukturen, die sich der Komponist ausge- menschlichen Bewusstsein am nächsten len einer Sekunde filtere ich den Inhalt des dacht hat. Wir müssen uns seinen Weg zu liegt. Die Diskontinuität der einzelnen, für weltweiten Netzes mit Suchmaschinen. eigen machen und versuchen, ihn im Jetzt sich stehenden Erscheinungen, die in der Wir haben Zugriff auf eine Datenmenge, und im Raum neu zu gestalten und neu zu Medienwelt so lebhaft und bunt dargestellt die unvorstellbar ist. Es gibt gar keinen Ver- erleben. Musik ist da ganz anders als etwa werden, steht dieser Annäherung aller- gleich, der uns in vergangenen Jahrzehnten die Malerei oder Bildhauerei. Musik ent-

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steht in der Zeit aber sie vergeht auch in stöbern muss, die ich bislang ja auch noch was ich mit den sozialen Medien verbinde, der Zeit – wie der Klang selbst auch. Mit physisch aufsuchen musste. Wer in den weil sie sich trotz aller Konnektivität zwi- Energie wird eine Masse in Schwingung 60ern, 70ern und 80ern studiert hat, wird schen den einzelnen Parteien, die sich in versetzt, durch Reibung und Schwerkraft sich daran noch erinnern… Bei der Vielzahl dieser Welt bewegen, nur als Einbahnstraße kommt diese Schwingung wieder zur Ruhe. der heutigen Arrangements und Komposi- entpuppt. Wir sehen Kommentare, even- Das ist das Wesen der Musik selbst auch. tionen für Blasorchester ist natürlich das tuell reagieren wir darauf, aber eine echte Wenn ich nun noch einmal auf die Vielfalt Internet wunderbar, wo die Notenverlage Kommunikation im Sinne eines Dialogs fin- der medialen Angebote zurückkomme, so ihre Stücke und Angebote darstellen. Ich det in den seltensten Fällen statt. Am ehes- gibt es sicherlich den einen oder anderen kann mir innerhalb von wenigen Minuten ten noch, wenn ich eine Nachricht direkt an Dirigenten, der sehr behutsam mit dieser sämtliche Informationen und Werkver- die entsprechende Person richte. Die per- Quelle umgeht und sich Informationen da- zeichnisse bestimmter Komponisten be- sönliche Verbindlichkeit geht dahin, wir ha- rüber beschafft, welche anderen Komposi- sorgen und auch neue Komponisten ent- ben mit einer anonymen Gruppe zu tun, wir tionen es von diesem oder jenem Kompo- decken, die mir vorher vollkommen unbe- wissen überhaupt nicht, wer was liest oder nisten noch gibt. Vielleicht hört er auch ein kannt waren. Als Informationsquelle sind anschaut, und ob wir die Menschen, die wir bisschen hinein, vielleicht findet er auf die Medien in der heutigen Zeit sicherlich erreichen wollten, tatsächlich ansprechen diese Weise neue, interessante Literatur eine Bereicherung. So kann man an der Er- – anstatt zum Telefon zu greifen oder un- für sein Orchester. Wenn er klug ist, wird er arbeitung des Programms arbeiten und sere »Freunde« persönlich aufzusuchen. sich die Partitur bestellen und sich das muss nicht mehr so viel Zeit damit ver- Auch hier, glaube ich, ist die Nutzung der Werk und seine musikalischen und struktu- bringen, es zu recherchieren und zusam- sozialen Medien eine Ersatzhandlung für rellen Relationen genauer anschauen, an- menzustellen. den persönlichen, zwischenmenschlichen statt sich weiter mit der Oberflächlichkeit Kontakt. Das, was wir auf dem Schulhof einer Aufnahme auseinanderzusetzen. Zum Abschluss möchte ich kurz auf die heute beobachten, dass selbst Schüler sozialen Medien zu sprechen kommen: kaum mehr miteinander reden, sondern Zusammengefasst: Medien zur Informa- Facebook, Twitter und Co. Wie beurtei- per WhatsApp, Snapchat, Facebook oder tionsbeschaffung ja, zur musikalischen len Sie diese? Eignen die sich als Informa- Twitter kommunizieren, während sie sich Umsetzung nein. tionsquelle und Kommunikationsplatt- gegenübersitzen, ist ja schon fast keine form? Satire mehr… Ich glaube, dass diese Form Fürs Erste ist die Technologie ein großer der Kommunikation der menschlichen Segen, weil ich nicht mehr in Werkver- Es fällt mir unheimlich schwer, in Bezug auf Natur entgegensteht und zu einer Verein- zeichnissen verschiedener Bibliotheken sinnvolle Kommunikation etwas zu finden, samung des Individuums führt. z SCHWERPUNKTTHEMA BLASMUSIK UND MEDIEN KOLLEKTIVE OHNMACHT ZWISCHEN MUSIKALISCHER HOCHKULTUR UND MEDIALER IGNORANZ?

Von Stefan Fritzen sem Kontext die nicht hoch genug zu be- wertenden Leistungen der vielen Musik- Dieses Thema scheint wieder ein »rabenschwarzes« zu werden, wenn man lehrer an den Musikschulen und in den Ver- über die inhaltliche Ausrichtung unserer Radio- und Fernsehsender nach- einen, die oft ein relativ kümmerliches finanzielles Dasein fristen und trotzdem denkt sowie über die künstlerische Präsenz der Blasmusik innerhalb deren voller Enthusiasmus ihre pädagogische Programmen – und über die ungenügende Berichterstattung unserer Ama- Arbeit verrichten. Sie sind als Lehrer und teur arbeit in den Printmedien. Leiter die eigentlichen Motoren unseres beeindruckenden Musiklebens außerhalb der professionellen Ebene. Vertrauen wir den Zahlen! Millionen Verbandsmitglieder des instru- mentalen Laienmusizierens spielen in Ak- Zensur in den Medien? Zuvorderst muss man allerdings die Frage kordeonorchestern, Sinfonie- und Streich- stellen, wie die Blasmusik überhaupt in un- orchestern, Zupforchestern und Zither- Diese unglaublichen und weltweit einmali- serer Gesellschaft verwurzelt ist, wie sich musikgruppen sowie in verschiedenen gen Aktivitäten finden so gut wie keinen die Gattungen verteilen und welchen Stel- kirchlichen Instrumentalgruppen. Die Widerhall in unseren Fernseh- und Rund- lenwert die konzertante oder sinfonische meisten jedoch sind in Blasorchestern und funkanstalten. In diesen ist Blasmusik bes- Bläsermusik darin besitzt. Spielmannszügen engagiert, die mit fast tenfalls als volkstümlicher Beitrag enthal- 80 Prozent den höchsten Mitgliederanteil ten. Selbst große nationale oder inter- Das Deutsche Musikinformationszentrum unter den Verbänden des instrumentalen nationale Musikfeste finden kaum Erwäh- (MIZ), ein Projekt des Deutschen Musik- Laienmusizierens aufweisen.« nung und schon gar keine Würdigung. Wir rates, kommt zu folgenden Zahlen: Min- Blasmusiker befinden uns allerdings in die- destens 14 Millionen Menschen musizieren Musikpädagogik als Grundlage sem »Ghetto des Verschweigens« in aller- in Deutschland auf einem Instrument oder der Kulturerziehung bester Gesellschaft, denn auch Chöre und singen in einem Chor. Dies sind im Bereich die Vertreter der musikalischen Hochkultur des instrumentalen Laienmusizierens etwa Diese Zahlen sind beeindruckend und be- sind anteilsmäßig nur sporadisch in den 13 Prozent der Gesamtbevölkerung ab dem weisen, dass in Deutschland auch außer- Programmen vertreten. 14. Lebensjahr, also etwa 9 Millionen In- halb der Medienpräsenz ein überaus leben- stru mentalisten. Etwa 4 Millionen singen in diges und vielseitiges Musikleben besteht. Über die akustischen Kalamitäten von Kon- einem Chor. 32 Prozent der Sänger geben Besonders herausheben muss man in die- zertübertragungen habe ich in CLARINO jedoch an, noch ein Instrument zu spielen, schon mehrfach resümiert. Jüngster trau- sodass sich die Zahl der Instrumentalisten riger Höhepunkt war die Übertragung des auf etwa 12 Millionen erhöht. Die Zahl der Europakonzerts der Wiener Philharmoni- musizierenden Kinder und Schüler wird mit ker aus Budapest, bei dem sich die Fern- 2 Millionen beziffert. Diese Zahl muss den sehleute nicht entblödeten, mitten im Or- Amateuren und der großen Zahl der Kin- chesterkonzert von Béla Bartók sinnlose der- und Jugendorchester zugerechnet Bilder der Stadt oder irgendwelcher Ge- werden. bäude einzublenden. Man hält mittlerweile selbst das Publikum, das sich für klassische Viele der Orchester sind in den Verbänden Musik interessiert, offenbar für unfähig, des instrumentalen Laienmusizierens orga- einmal eine Stunde ungestört nur zuzu- nisiert, und die Zahl der nichtmusizieren- hören. Oder macht man doch nur Zuge- den Förderer des Amateurmusizierens wird ständnisse an »Krethi und Plethi« (siehe 2. bundesweit auf etwa 700 000 geschätzt. Buch Samuel), die bespaßt werden müs- Das MIZ gibt zu den Zahlen noch folgende sen, ohne eine Ahnung von Musik zu ha- Analyse: »Die Vielfalt und Ausdifferenzie- ben, jedoch die Quote heben? rung der Ensembles, die bei den Chören zunehmend zu beobachten ist, war schon Unsere durch Gebühren am Leben erhalte- immer auch ein Kennzeichen des instru- nen öffentlich-rechtlichen Medien schielen

mentalen Laienmusizierens. Die rund 1,5 schamlos auf diese Quoten; die Macher diego_cervo Elements/ Envato Foto:

28 CLARINO JANUAR 2018 haben sich durch bedingungslose Loyalität Und in den 1920er Jahren mokierte sich Werden die Medien für unsere Musik bewährt und es wird zwischen den politi- bereits Kurt Tucholsky in einem Gedicht wirklich gebraucht? schen »Hofberichten« am liebsten ge- über den durch die Medien verdorbenen kocht, gequizzt, gegärtnert oder wieder- Massengeschmack: Wir sind heute schon so »erzogen«, dass holt. Sehr gerne schauen wir auch zu, wie wir glauben, nur was in den Medien Er- Tiere gestreichelt werden oder sich gegen- An das Publikum wähnung findet, ist wirklich real vorhan- seitig auffressen. Ach, wie sind wir alle gut! O hochverehrtes Publikum, den. Dabei merken wir oft gar nicht, dass Was nicht ins Weltbild passt, wird ver- sag mal: Bist du wirklich so dumm, wir bereits durch die Auswahl der immer schwiegen (zum Beispiel auch der »Marsch wie uns das an allen Tagen gleichen Themen und Personen vor dem für das Leben«) und das Atypische und alle Unternehmer sagen? Bildschirm massiv manipuliert werden. Spektakuläre in den Fokus gerückt. Jeder Direktor mit dickem Popo Heinrich Böll (1917 bis 1985) lässt in seiner spricht: »Das Publikum will es so!« herrlich satirischen Erzählung »Dr. Murkes Auch die Printmedien und regionalen Ta- Jeder Filmfritze sagt: »Was soll ich machen? gesammeltes Schweigen« einen Rund- geszeitungen schreiben von Hamburg bis Das Publikum wünscht diese zuckrigen funkredakteur sagen: »Verfeaturest du München nahezu das Gleiche, und regio- Sachen!« mich, verfeature ich dich.« Und es ist meis- nale Ereignisse wie Konzerte oder Theater- Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht: tens die Kulturredaktion, wo gegenseitige abende finden kaum Erwähnung. Mir sa- »Gute Bücher gehn eben nicht!« Beziehungen besonders helfen, da nur in gen Dresdner Kritiker, dass sie allergrößte Sag mal, verehrtes Publikum: der Kultur inhaltlich so Unkonkretes ge- Mühe hätten, überhaupt Kulturereignisse Bist du wirklich so dumm? sprochen werden kann. 3 x 3 = 9 bleibt in in die Presse zu bringen. Die Dresdner Blä- diesem Kontext eine dürre Wahrheit, die serphilharmonie könne aber einen eigenen So dumm, dass in Zeitungen, früh und spät, keine Interpretation zulässt und mit der Artikel vor wichtigen Konzerten schreiben, immer weniger zu lesen steht? man kaum Geld verdienen kann. der gegen eine Gebühr von etwa 1500 Euro Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein; auch gedruckt würde. Na toll! aus lauter Angst, Lasst uns deshalb munter aufspielen es soll niemand verhetzt sein; Alles wie gehabt! aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn Wir haben in Deutschland über 30 000 Blas- könnten mit Abbestellung drohn? orchester, Bläsergruppen und andere »bla- Nun sind alle diese beklagenswerten me- Aus Bangigkeit, es käme am Ende sende« Musiziergemeinschaften. Wenn dialen Tatbestände nicht neu. Geld muss einer der zahllosen Reichsverbände jedes Orchester nur ein Konzert pro Jahr fließen, und je mehr man einen Massen- und protestierte und denunzierte vor etwa 500 Zuhörern spielt, lässt sich geschmack befriedigt, desto sicherer spru- und demonstrierte und prozessierte... leicht ausrechnen, wie viele musikinteres- deln die warmen Quellen. Und wer gibt Sag mal, verehrtes Publikum: sierte Hörer mit viel Empathie für die Musi- schon gern wieder etwas her?! Im Kommu- Bist du wirklich so dumm? zierenden jährlich als Publikum an den nismus hieß die nahrhafte Weide für die Konzerten teilnehmen. Und wenn in jedem Wenigen »Diktatur des Proletariats« – Ja dann... Konzert nur ein Werk der konzertanten heute nennt man das »Globalismus«. Der Es lastet auf dieser Zeit oder sinfonischen Bläsermusik erklingt, er- deutsche Dichter Friedrich Rückert (1788 der Fluch der Mittelmäßigkeit. reichen wir mit unserer Gattung und ihren bis 1866) kommt schon in seinem Lehr- Hast du so einen schwachen Magen? gehobenen Höransprüchen eine immense gedicht »Die Weisheit des Brahmanen« zu Kannst du keine Wahrheit vertragen? Zahl von aufgeschlossenen Hörern. Diese der Erkenntnis: »Wer sitzet in dem Röhricht Bist also nur ein Grießbrei-Fresser? Zahlen beweisen auch den riesigen Bedarf und keine Pfeife sich da schneidet, der ist Ja, dann... an guten, spielbaren Werken in unserer

Foto: Fotolia/Zerbor Foto: töricht.« Ja, dann verdienst du’s nicht besser. Bläserszene. Die meisten Uraufführungen

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finden im Bereich der Bläsermusik statt. Unverzichtbar für die Kommunikation un- Neun beherzigenswerte Dies ist auch ein Grund, weshalb viele tereinander sind die verschiedenen Fach- Programmregeln »ernste« Komponisten für Bläserbesetzun- zeitschriften wie CLARINO, Eurowinds gen schreiben. In unserer musikalischen und die regionalen Verbandsnachrichten. Vor der Frage, entweder in trüben Wässern Domäne finden sie Aufführungsmöglich- Sie sind hervorragende Multiplikatoren zu fischen oder an die reine Quelle der keiten und ein Publikum. und Informatoren der vielfältigen Aktivitä- Kreativität vorzustoßen, steht jeder Vor- ten landauf und landab. Jedes Orchester stand und jeder Dirigent von Blasorches- Lassen wir uns also nicht verunsichern, sollte diese Medien abonnieren! tern. So sagte mir unlängst ein Musiker, wenn »Klassiker« und Musikologen über meine Programme seien ihm zu »intellek- unsere Arbeit die Nase rümpfen. Von un- Noch immer ist die gute alte CD ein wun- tuell«. Er machte es wie alle Parteistrate- seren Besucherzahlen können die nur träu- derbarer Informationsträger der Aktivitä- gen: Er meinte, viele seien seiner Ansicht. men! ten anderer Orchester. Ich freue mich über Die anschließende Aussprache brachte zu- jede neue Aufnahme, die mir zugesandt tage, dass er mit seiner Meinung allein Vernetzung und Kommunikation wird oder die ich über Verlage erhalte. Sie stand und das Orchester gerade anspruchs- beweisen mir die Ernsthaftigkeit, mit der volle Kost wollte. Dieser ansonsten sehr Sind wir nun aufgrund der mangelnden andernorts musiziert wird. gute und überaus engagierte Musiker ist im Medienpräsenz nur Alleinkämpfer? Das Grunde in dem Medienschleim fest ge- glaube ich eigentlich nicht. In meinem Or- Viele Orchester stellen auch ihre Konzert- backen, der süß, klebrig und massentaug- chester in Dresden spielen viele Musiker mitschnitte ins Netz. Diese Möglichkeit der lich daherkommt. von Berlin bis Görlitz mit, die noch in an- Kommunikation hilft allen Musikern, einen deren Orchestern mitwirken. Dies sind Leistungsvergleich vorzunehmen, neue Ich habe daraufhin einen 9-Punkte-Plan Brassbands, Kammerensembles, Sinfonie- Werke auf ihre Machbarkeit hin zu testen aufgestellt, wie ein gutes Konzertpro- orchester, Bigbands oder Posaunenchöre. und zu verfolgen, wie der äußere Auftritts- gramm aussehen könnte: Diese Musiker sind nicht unbedingt »Aus- rahmen beschaffen ist. Man hört/sieht alte hilfen«, sondern sie werden vom künstleri- Bekannte und erlebt junge aufstrebende 1. Abrundung des Programms durch in- schen Profil und unseren Anforderungen Künstler. Und die große Zahl der Aufrufe haltliche und stilistische Vielfalt angesprochen. Über diese Musiker findet beweist, dass nicht nur Musiker diese Sei- Auf die musikerzieherische und bildungs- ein fruchtbarer künstlerischer Austausch ten anklicken. politische Verantwortung der Musik ver- statt, der das allgemeine Niveau anzu- eine habe ich oft hingewiesen. Voller heben hilft. Viele Musiker aus den genann- Ein wunderbares Kommunikations- und Sorge erlebe ich bei Wertungsspielen und ten Regionen sitzen zusätzlich im Publikum Multiplikationsmittel sind Musikfeste und Jahreskonzerten die zunehmende Redu- unserer Konzerte, und ebenso viele sehe Wertungsspiele. Die Musiker stehen in ei- zierung der Programme auf Titel im »Big- ich in anderen Konzerten. nem unmittelbaren fröhlichen Wettstreit, band-Verschnitt« oder »Pseudo-Rock«. und der Fortbildungsgehalt dieser Veran- Über einem »marschierenden« Drumset staltungen ist enorm. erklingen banale Melodien mit einigen wenigen Harmonien. Kompakte und mas- Ohne Medien medienkonform? sive Stimmverdopplungen führen zu ei- nem Einheitsklangbild und zur beliebigen Ein großes Phänomen der Blasmusik bleibt Austauschbarkeit der nur durch die Über- eine medienorientierte Programmgestal- schriften scheinbar unterschiedlichen tung vieler Blasorchester. Durch die Seicht- Werke. heit der Fernsehunterhaltung wird uns suggeriert, dass man nur in die unteren Hinweise auf vielfältige Programmmög- Schubladen greifen müsse, um erfolgreich lichkeiten bereits in den unteren Leistungs- zu sein. stufen werden von den Verantwortlichen oft mit dem Argument konterkariert, Musi- An dieser Stelle sei mir gestattet, noch ker und Publikum wollten diese »einfache zwei Verse eines Gedichts von Heinz Er- Kost«. Ich habe in meinem langen Berufs- hardt zu zitieren: leben genau das Gegenteil erlebt, nämlich, dass den Ausführenden musikalisches An einen Schlagerkomponisten »Denken« Spaß bereitet und sie mit Hin- Willst du Schlager fabrizieren, gabe schon in der Unterstufe an kniffligen weil so wenig existieren, und anspruchsvollen, allerdings auch al- so ergreife deine Feder tersgerechten Werken arbeiten. Es gibt oder auch den Blei entweder umfangreiche Literaturlisten, in denen und versuche zu notieren, man nach vielseitigen, auch konzertanten was gerade du ersannst. Werken suchen kann. Doch musst du dich dagegen wehren, etwas Neues zu gebären; 2. Musikalischer und spieltechnischer denn nur das, was alt und mager, Fortbildungsgehalt der Ausführenden wird ein sogenannter Schlager, Es sollten in den Programmen immer auch

nach dem alles singt und tanzt. Werke enthalten sein, die nach dem Motto Fotolia/KonstiantynFoto:

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»Schweres wird durch Schwereres über- wunden« die allgemeine Orchesterleistung steigern.

3. Förderung der Spielfreude aller Aus- führenden Dieser Aspekt hat nicht nur hinsichtlich der Probendurchführung Bedeutung, sondern auch bei der Werkauswahl. Die verschie- denen Instrumentalregister sollten in den Werken mit eigenständigen Aufgaben und Soli bedacht sein; Stimmen, die nur musi- kalische »Füllmenge« oder unsinnige Ver- dopplungen sind, führen bei den Ausfüh- renden schnell zu Langeweile. Bei guter und abwechslungsreicher Musik besteht diese Gefahr nicht.

4. Publikumswirksamkeit der ausgewähl- ten Literatur Gut beraten ist der Dirigent, der sich nicht der medialen Meinung unterwirft und das spielt, was ohnedies den ganzen Tag in Funk und Fernsehen »dudelt«, sondern der 8. Der große Musikpädagoge Karl Mi- chestern zu machen sind. Der Hörer erhält sein Publikum durch gezielte und informa- chael Komma formulierte in seinen 10 einen repräsentativen Querschnitt der tive Öffentlichkeitsarbeit in den Bildungs- Thesen zur Musikerziehung: »Der oft und Blasmusikszene geboten, lernt neue Werke prozess mit einbezieht. Dass dies gelingen zu Recht karikierte monomane Musi- kennen und erfährt viel über die Kompo- kann, beweisen die »Sinfonischen Bläser- kant, der sich mit seinem Geklimper oder nisten, deren künstlerische Lebensläufe konzerte« der Dresdner Bläserphilharmo- Gefiedel selbst genügt, ist nicht die Ziel- durchaus auf allgemeines Interesse sto- nie, in denen zum Beispiel die anspruchs- figur echter Musikerziehung. Aus dem ßen. vollen Werke Rolf Rudins die größten Er- Spiel und dem durch die Regeln erwach- folge hatten. senden Ernst der Kunst wird nicht ein au- Man hat als Hörer auch nicht den Eindruck, tistischer, sondern ein geselliger Mensch, dass das Blasorchester nur die Philharmo- 5. Innovatives Suchen nach neuen und in der im sozialen Miteinander viel bewir- nie der kleinen Leute sei, denen man ohne- Faktur und Duktus interessanten Wer- ken kann.« hin nicht viel zutrauen könne. Es wird als ken, die einen ausgeprägten und unver- vollgültige Kunstform zelebriert. wechselbaren Individualstil des Kompo- 9. Berücksichtigung regionaler Bedin- nisten beinhalten gungen und Gegebenheiten, um Konkur- Lebendiges, medienloses renzsituationen möglichst zu vermeiden Selbstbewusstsein 6. Uraufführungen Ich werde also kein rein volkstümliches Ich habe in meiner musikalischen Laufbahn Programm spielen, das zum Alltag zum Haben wir also keine Minderwertigkeits- mindestens 35 Werke zur Uraufführung ge- Beispiel des Dresdner Musikvereins 71 ge- komplexe, weil wir in den Medien so gut bracht und damit auch vielen Komponisten hört. Diese Vereine sollen ihr eigenständi- wie nie vorkommen. Seien wir im Gegenteil eine Öffentlichkeit geschaffen und sie er- ges Musikleben nicht unterlaufen sehen. stolz, wir befinden uns doch in guter Ge- mutigt, auch für Bläser zu schreiben. Dabei sellschaft! Denken Sie an Lessing, Goethe gebe ich im Regelfall deutschen Komponis- Ein Blick über die Grenzen oder Schiller, aber auch an Strawinsky, ten den Vorrang, weil die großen Verlage Alban Berg oder Anton Webern, die zumin- eine Lobbyarbeit betreiben, der viele unse- Dass es auch Länder gibt, in denen Blasmu- dest in den Medien scheinbar nie gelebt rer Komponisten kaum gewachsen sind. sik zum festen Repertoire der Programm- und der Menschheit bleibende Werke hin- Wir brauchen jedoch Werke, die aus unse- planung staatlicher Rundfunkanstalten ge- terlassen haben. rem etymologischen Kulturkreis erwach- hört, beweist der Klassiksender Radio Clá- sen sind. sica España. Ich höre diesen Sender immer Jedes neue Werk, das wir uraufführen, ist in meinen Urlaubstagen auf Fuerteventura. ein Edelstein unserer Gesellschaft, gleich- 7. Beachtung von Gedenktagen und run- Er überträgt jede Woche an einem Vor- gültig, ob kommende Generationen sich an den Geburtstagen mittag mehrere Stunden Blasmusik mit unser Streben erinnern wollen oder mei- zum Beispiel der international hoch geach- fachkundiger Einführung. Von der feurigen nen, dass sie jetzt Zugang zur Krippe teten Andrea Csollány oder Richard Wag- Tarantella bis zu seriellen Werken erklingen brauchten. Wir erreichen ein Millionen- ner. Auch ein heiteres Stück von van Nooy hochinteressante Programme der ver- publikum und leisten damit einen unver- umfasst einige Gedenktage. Gegenwärtig schiedensten spanischen und internationa- zichtbaren Beitrag zur Bildung und Ge- bereiten wir ein Programm zu Ehren von len Blasorchester. Dabei hört man durch- sittung unserer Gesellschaft. Wer kann das Klaus-Peter Bruchmann anlässlich seines aus auch Mittelstufenbandas mit all den schon von sich sagen!? z

Foto: Archiv Todes vor. fachlichen Abstrichen, die bei diesen Or-

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IM POPSONG-FORMAT DAS ZDF PRÄSENTIERT KLASSIK

Von Hans-Jürgen Schaal stärke, Verkaufstaktik, Werbung, Promi- gutes Dutzend ist Platz. Wen also wählt nenz. Der ECHO Klassik ist eine Aus- man aus? Antwort: die Berühmten und die Klassische Musik im Fernsehen. Zur zeichnung für die Besten unter den Best- Telegenen, die populären Instrumente und vermarkteten, ein »Echo« der Umsatz- das populäre Repertoire. Drei Sängerin- besten Sendezeit, an einem Samstag- ergebnisse. Firmen wie Sony und Deutsche nen, zwei Sänger, zwei Pianisten, einen abend, kurz nach 21 Uhr. Und das Grammophon stellen daher das Gros der Geiger, eine Cellistin... Die üblichen Ver- nicht etwa auf einem Spartenkanal, Preisträger. Motto: Musik ist auch Wirt- dächtigen von den Titelseiten der Maga- sondern im Hauptprogramm des ZDF. schaft. Musik ist auch Sozialprodukt. zine. Keine Bläser natürlich. Sony und DG Kann das wirklich sein? Am 29. Okto- sind nun fast ganz unter sich. Die Echos des ber 2017 war wieder ECHO-Klassik- Verliehen wurde der ECHO Klassik dieses Marktes werfen weitere Echos. Preisverleihungs-Gala. Jahr sage und schreibe 54 (!) Mal. Man könnte diese inflationäre Zahl für eine Ent- Gottschalk und Lammert wertung dieses Preises halten. Man könnte Bei dieser Veranstaltung feiert die Musik- darin auch eine maßlose Selbstüberschät- Ganz klar: Es geht an diesem Fernseh abend branche jedes Jahr sich selbst. Die Jury: zung der Branche sehen. Aber was soll’s: gar nicht in erster Linie um Musik. Das ist eine Abordnung des Bundesverbandes Der amerikanische Grammy wird jedes Jahr kein Konzert, das ist eine Gala. Mindestens Musikindustrie. Der Preisverleiher: eine fast doppelt so oft verliehen. Daneben wir- ebenso wichtig sind Präsentation, Abend- Interessengemeinschaft der Tonträger- ken die 25 Hollywood-Oscars geradezu be- garderobe, Werbung für die Elbphilharmo- branche. Die Nominierten: die aktuellen scheiden. Allerdings: Bei 54 Auszeichnun- nie, Fernsehprominenz und ein bisschen Bestseller des Musikmarktes. Tatsächlich gen kann es schon ein wenig unübersicht- Glamour. Für die Moderation benötigt man belohnen die ECHO-Klassik-Auszeichnun- lich werden. Worin noch mal unterscheiden ein bekanntes Gesicht – es gehört Thomas gen nicht nur künstlerische Qualität, son- sich die Kriterien der zehn verschiedenen Gottschalk. Der 67-Jährige ist medien- dern auch wirtschaftlichen Erfolg, also Preise für die beste Konzerteinspielung? gewandt, witzig, hellwach, auch wenn Verkaufszahlen – was von den Initiatoren Und die der sechs verschiedenen für die seine Alte-Männer-Allüren gegenüber jun- verbrämt wird als »Votum des Publikums«. beste Kammermusikeinspielung? Ein be- gen Musikerinnen doch ein wenig nerven. Dabei wissen wir alle: Verkaufszahlen spie- sonderes Problem mit der Preisfülle hatte Von Klassik versteht er nichts, aber er soll geln nicht den Publikumsgeschmack, son- das ZDF. 54 Preisträger passen einfach ja auch keine Interviews führen. Die finden

dern die Publikumsansprache, also Markt- nicht in eine Fernsehsendung. Nur für ein versteckt hinter der Bühne statt und sind Walterscheid Oliver Fotos:

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nur im Internet zu sehen – dort also ver- gen der Jury oder die Laudatio der Pianistin tisten Sebastian Manz und Sabine Meyer, mutet man das wahre Klassik-Publikum. Olga Scheps, die doch beide etwas von der die Oboistin Maria Sournatcheva, die Saxo- Die Moderationen liest Gottschalk vom Sache verstehen müssten, verstecken sich fonistin Eva Van Grinsven. In die Gala und Teleprompter ab, einschließlich so man- zu oft hinter Pressezitaten. Und zwar nicht ins Fernsehen haben sie es nicht geschafft cher Fehler – einige Fehler kann er auch einmal Zitaten aus Fachartikeln – es müs- – und selten genug schaffen sie es auf die geistesgewandt korrigieren. Selbst seine sen schon populäre Medien sein wie Der Titelseiten von Klassikmagazinen. Die Hor- scheinbar spontane Ironie und Wortspiele- Spiegel, die FAZ, Die Zeit. Das ZDF schnei- nistin Sarah Willis bekam immerhin einen rei sind gar nicht spontan. Trotzdem wirkt det zum Glück einiges davon heraus. Ir- Job als Preisträger-Interviewerin – exklusiv Gottschalk angenehm respektlos und lo- gendwann sagt Thomas Gottschalk: »Wenn fürs Internet-Angebot. Und der Jazztrom- cker. Bloß im Fernsehen keine steife Klas- Sie die eine oder andere Melodie noch mal peter Till Brönner durfte eine Laudatio hal- sik-Atmosphäre aufkommen lassen! nachhören wollen...« – und hält schon mal ten und schien dabei für die Fernsehgala die CD zur laufenden Gala in die Kamera. wichtiger zu sein als die beiden Preisträge- Neben dem bekannten Moderator braucht rinnen, die er vorstellte. Von Gottschalk es außerdem einige telegene Laudatoren. Unter den musikalischen Drei-Minuten- wurde Brönner als »einer der weltweit bes- Auch da ist Fachkenntnis sekundär. Wichti- Häppchen des Abends gibt es durchaus ein ten Trompeter und ganz sicher unser bester ger ist der TV-Promifaktor – Schauspiele- paar Leckerbissen, obwohl die Komponis- Bläser« vorgestellt. Das Samstagabend- rinnen und Schauspieler von nationalem tenwahl natürlich ohne Risiko ist: Brahms, Fernsehpublikum wird es geglaubt haben. Mattscheiben-Ruhm sind erste Wahl. Gott- Massenet, Vivaldi, Puccini, Gounod, Bern- schalk muss schon manchmal »die Nähe stein, Piazzolla, Purcell, Chopin, Bizet, Am Ende der Gala in der Elbphilharmonie zur Klassik herbeimoderieren«, wie er Mahler. Der junge Pianist Lucas Debargue gab es noch eine Kurzvorstellung der rest- schmunzelnd meint. Die Laudatorin des überrascht am Ende immerhin mit einer lichen Preisträger, die keinen Auftritt hat- Geigers Daniel Hope kann immerhin von angejazzten Improvisation über einen ten. Viele konnten ihren Preis dabei per- sich behaupten, Hopes Nachbarin zu sein. Luther-Choral. Und vor dem »Raus- sönlich in Empfang nehmen – für das Fern- Daher erfährt man Ungeheuerliches: »Er schmeißer« witzelt Moderator Gottschalk, sehen war das nicht mehr interessant. Ei- besitzt mehr Koffer als ich.« Eine andere das Publikum habe doch sicherlich im Pro- nige dieser Preisträger zweiter Klasse und Laudatorin fürchtet sich eigentlich vor gramm etwas von György Ligeti vermisst. kleinerer Labels hatten aber einen musika- Opernsängerinnen, liefert dann aber eine Als Zugabe spielt dann das Philharmoni- lischen Auftritt am Vorabend. Diese Veran- blumige Würdigung von Joyce DiDonato. sche Staatsorchester Hamburg unter Kent staltung namens »Klassik XL«, früher »Vor- Seltsamerweise wirken die Schauspieler ECHO« genannt, fand in der Hamburger auch hier wie Schauspieler – als würden sie St.-Michaelis-Kirche statt, während drau- schlechte Laudatoren mimen, selbstver- ßen das Sturmtief Herwart tobte. Auch liebt, überdreht, unnatürlich, melodrama- hier wurde moderiert (Axel Brüggemann), tisch. Selbst die unausgegorene Qualität aber mit Fachwissen, und es blieb sogar ihrer Texte erinnert an Vorabendserien im Zeit für kleine Interviews mit den Musikern. Fernsehen. Unpassenderweise ist aber Glamouröse Vokalisten waren im »Michel« manche sperrige Branchen-Information keine zu hören – dafür aber zwei Saxofone eingebaut, vermutlich eingeschmuggelt (Eva Van Grinsven und Lars Niederstras- von den Plattenlabels. Die beste Laudatio ser), ein großartiges Streicherensemble hält dagegen ein Politiker: Norbert Lam- (Dogma Chamber Orchestra), eine bemer- mert, der ehemalige Bundestagspräsident. kenswerte Bassgambe (Thomas Fritzsch), Er schauspielert nicht, er spricht keinen sehr gute Pianisten (Thomas Günter, Cora Rollentext, er hält einfach eine nüchterne Irsen, Clare Hammond), ein interessanter Rede auf die zwölf Cellisten der Berliner Geiger (Henning Kraggerud) und eine Men- Philharmoniker. ge erstaunlicher Orgelmusik. Man erlebte an diesem Abend einige der weniger pro- Kuriose Nebensache: Musik minenten, dafür aber musikalisch interes- santeren ECHO-Preisträger 2017. Und es Wie präsentiert man klassische Musik ei- gab nicht wenige völlig unbekannte Werke nem Fernsehpublikum, das samstag- zu entdecken. Das ZDF-Publikum hätte abends seichte Unterhaltung gewohnt ist? sich bestimmt gewundert. z Die Anbiederung an die TV-Norm kennt Nagano tatsächlich ein Stück des großen keine Grenzen. Etwa neun Minuten gibt es Avantgardisten. Für viele ist der Schluss- pro Preisträger – von der Vorstellung des satz aus Ligetis frühem »Rumänischem Laudators bis zum Schlussapplaus. Die Konzert« eine Entdeckung. Dieses balka- » VIDEOS musikalische Kostprobe des Geehrten darf nisch-rhythmische Stück könnte sogar zum ECHO Klassik 2017 in der Elb- dabei nicht länger dauern als ein drei- populären Zugaben-Evergreen werden. philharmonie (ZDF, 2:07 Std.): minütiger Popsong – Musik wirkt in die- https://dvo.tips/echo-elphi sem Ablauf wie eine kuriose Nebensache. Das Vor-Echo Lediglich Maurizio Pollini erlaubt sich (Gott Klassik XL 2017 in der St.-Michaelis- sei Dank) eine Ausnahme. Erläuternde Und wo waren die Bläser? Es gab wirklich Kirche (3:28 Std.): Worte zu den gehörten Musikstücken gibt welche unter den Preisträgern, etwa den https://dvo.tips/klassik-xl es leider nie. Selbst die Preis-Begründun- Trompeter Gábor Boldoczki, die Klarinet-

JANUAR 2018 CLARINO 35 SCHWERPUNKTTHEMA »ICH BIN EIN PRODUKT« MARKETING UND SOZIALE MEDIEN

Von Kathrin Christians Egal ob Kunst oder ein Produkt, das man in Website der Hand halten und kaufen kann: Kommu- Sobald es ans Bauen der Website geht, Mein Name ist Kathrin Christians und nikation mit dem Käufer, den Fans und Kol- können wir auf viele Portale zurückgreifen. ich bin Querflötistin. Meinen Beruf legen gehört dazu. Doch welche Mittel gibt Von fertigen Designs über eine Wordpress- es hierfür in den Online-Medien und wel- basierte Website mit Drag & Drop-Mög- übe ich mit Leidenschaft aus, er ist die che sind – für mich persönlich – geeignet, lichkeiten bis hin zur maßgeschneiderten Kunst. Und häufig haben wir Künstler um meine Dienstleistung darzustellen? Seite sind der Fantasie keine Grenzen ge- Skrupel, uns selber zu vermarkten. setzt. Zu entscheiden gilt: Wieviel Zeit Was ich anbiete, ist jedoch eine Ich biete eine Dienstleistung an unter der möchte und kann ich jetzt und in Zukunft Dienstleistung, die ihren persönlichen Marke »Kathrin Christians«. Diese ist be- hierfür investieren? Reicht es mir, ein vor- Marktwert hat. reits eine gewisse Zahl an Jahren auf dem gefertigtes Design zu nutzen, wie zum Markt, ist gereift und hat an Profilschärfe Beispiel bei Premier Tone, oder habe ich gewonnen. Durch eine Zahl an Studien- bereits eine Idee für Form und Funktion jahren, Selbstkorrektiv und Reflexion, meiner Seite, die sich mit einem Tool wie durch das Zusammenarbeiten mit Kollegen Wordpress und den dortigen Themes um- im Orchester, in der Kammermusik und als setzen lässt? Wenn ich gar finanzielle Mit- Solistin hat sich mein Spiel stetig verändert tel für eine individuelle Website habe, sind und wird es weiter tun. Ich habe für mich der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Programme und Epochen gefunden, in de- nen ich mich besonders wohl fühle und die Soziale Medien ich besonders gerne meinem Publikum Unter den sozialen Medien finden wir in- präsentieren möchte. Daraus resultierend zwischen eine Vielzahl unterschiedlichster stelle ich meine Programmvorschläge zu- Anbieter. Vom professionellen Netzwerk sammen. Ohne mich verdrehen zu wollen, bis hin zum spielerisch eingesetzten. indem ich zeige, wer ich bin und wofür ich Um diese gezielt bespielen zu können, soll- stehe. te man sich selber zunächst einige Fragen stellen: Um über meine Dienstleistung zu berich- • Bin ich eher intro- oder extrovertiert? ten, bieten sich viele Möglichkeiten. Von • Möchte ich mit meinem Publikum kom- der Website, die meine aktuelle Biografie, munizieren? ak tuelle Konzertdaten und Tonaufnahmen • Wieviel Zeit bin ich bereit zu investieren? bereithält, über soziale Medienportale, in Täglich oder nur wöchentlich? denen ich regelmäßig über meinen aktuel- • Fotografiere ich gerne oder schreibe ich len Ist-Zustand berichte, bis hin zu Video- lieber? portalen, in denen Aufnahmen zum Hören • Werde ich regelmäßig über mich berich- bereit stehen. ten können? Habe ich genügend interes- sante Inhalte für mein Publikum? Ein aktiver Musiker sollte heute in jedem Fall im Besitz einer Website sein. Nicht nur Facebook wollen unsere Fans wissen, ob in ihrer Nähe gibt uns die Möglichkeit, ein privates Profil in Zukunft ein Auftritt stattfindet. Auch und/oder eine Fanpage anzulegen. Inzwi- Veranstalter möchten sich möglichst kom- schen sehe ich keine radikale Unterschei- pakt über potenzielle Künstler informieren. dung mehr zwischen diesen beiden. Hierbei gilt jedoch, wie bei allem Nach- In der privaten Seite liegt die Limitierung folgenden auch: Inhaltliche Aktualität und darin, dass ab 5000 Freunden keine weite- ansprechendes Design sollten nicht außer ren zugelassen werden. Die Fanpage kennt Acht gelassen werden. Investieren sollte hier keine Limitierung. man deshalb vor dem Beginn in professio- nelle Bilder und Tonaufnahmen. Außer dem Beiträge auf der Fanpage können mit Geld in eine Biografie, die nicht aus zusammen- beworben werden. Hierfür kann man sich

kopierten Floskeln besteht. gezielt seine Zielgruppe aussuchen. Der Fotos: Janine Kühn, Nurten Yurbas

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Definition der potenziell Interessierten sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Al- » KURZ & KNAPP ter, Geschlecht, Stadt, Region, Interes- Website: sensgebiete, Bildung und vieles mehr. Business-to-Consumer (B2C) und Bei der Erstellung von Veranstaltungen ist Business-to-Business (B2B); Anbie- es sinnvoll, auch eine private Seite zu be- ter: www.wordpress.de www.premier- sitzen, denn über die Fanpage kann man tone.de, www.musikerseiten.de; Akti- keine Freunde einladen. vität: alle 1 bis 3 Monate

Instagram Facebook: B2C und Auch hier besteht die Möglichkeit, Beiträge B2B; private Seite zu bewerben. Der Fokus liegt in diesem nicht schaden, hier ein ausführliches und und/oder Fanpage, Fo- Portal auf Bildern und dazugehörigen ansprechendes Profil zu gestalten. tografien, Videos, Ver- Hashtags (= #). Anhand dieser Hashtags anstaltungen, Verlin- suchen andere Nutzer wiederum Bilder. Sie Xing kungen, Texte, Auffindbarkeit durch bleiben entweder Fans wegen eures the- Die gleichen Punkte wie bei LinkedIn grei- Hashtags; Aktivität: ca. 4 bis 6 Mal pro matischen Contents oder wegen eurer Bild- fen auch hier. Allerdings ausschließlich für Woche sprache. Nicht zu verachten sind die 24- den deutschen Markt. Instagram: B2C und Stunden-Storys mit Funktionen wie Ort, B2B; Fotografien, Vi- Umfrage und Verlinkung mit Personen Alle hier genannten Produkte sind kosten- deos, 24-Stunden-Sto- oder über Hashtags. los oder aber sehr preiswert zu nutzen. Um rys, kurze Texte, Auf- sich jedoch nicht zu verkalkulieren mit der findbarkeit über Hash- Twitter eigenen Zeit, ist es wichtig, zunächst eine tags; Aktivität: bis zu 7 Mal pro Woche ist eine harte Nuss. Man kann ernsthaft Prioriätenanalyse zu machen. Wer bin ich? oder lustig sein. Oder beides. Auch infor- Wo will ich hin? Wen möchte ich erreichen? Twitter: B2C und mativ. Werbung über sich selbst funk- Wen muss ich erreichen? Und das Wich- B2B; sehr kurze Texte, tioniert, wenn sie neben anderen Dingen tigste: Bei welcher Social-Media-Aktivität Fotos; Aktivität: täg- gestreut wird. Jedoch nicht ausschließ- bleibe ich am Ball? Denn auch hier gilt: lich lich. Regelmäßigkeit ist ein entscheidender Faktor. Und: Fotografiere ich eher oder Snapchat: B2C; Vi- Snapchat mache ich Videos? Schreibe ich eher lange deos, Fotos, Filter, Meiner Meinung nach inzwischen irrele- oder kurze Texte? kurze Texte; Aktivität: vant, jedoch mit teils sehr guten Filtern. täglich Die Videosnaps werden 24 Stunden online Vergesst nicht, dass es nicht dabei bleibt, Hello Stage: B2B; gehalten und danach gelöscht. Die eigenen zu posten. Reagiert euer Publikum, solltet Musiker, Komponis- Follower kann man erst erfassen, wenn ihr antworten – in einem Zeitraum von bis ten, Manager, Festi- man ihnen selber folgt. Keine gute Such- zu drei Tagen sagt man bei E-Mails. In den vals; Aktivität: alle 1 funktion. Alles in allem meiner Meinung schnelllebigen sozialen Medien innerhalb bis 3 Monate nach weit überholt durch Instagram. von 24 Stunden. YouTube: B2C und Hello Stage Jeden Musiker kann und möchte ich er- B2B; Videoaufnah- Ein großes Portal mit einer guten Idee mutigen, den Schritt in die sozialen Medien men von Auftritten; dahinter: vernetzt euch Kulturschaffende zu wagen. Plant eine gute Website und zu- Aktivität: je nach Ver- rund um den Globus. Musikerbörse für sätzlich ein soziales Medium. Zu Anfang fügbarkeit Auftritte. Werbemöglichkeit für Konzerte. wird es Zeit benötigen sich einzuarbeiten, Automatisierter Newsletter für Fans. aber ihr lernt dazu. LinkedIn: B2B; pro- fessionelle Darstel- Mailchimp Was wir alle vor allem lernen sollten: Wir lung, weniger Akti- Mit diesem Tool könnt ihr eure Fans über sind keine Einzelgänger und sollten nicht vitäten für Musiker; Neuigkeiten direkt informieren wie aktuell argwöhnisch auf andere schauen. Weder in Aktivität: eigentlich anstehende Konzerte oder neue Videos. der Realität noch im Netz. Denn besonders wöchentlich Verlinkungen zu euren sozialen Profilen hier werden Verlinkungen durch Kollegen Xing: B2B; professio- sind hier empfehlenswert, um neue Fol- durch Algorithmen positiv bewertet. Doch nelle Darstellung, we- lower zu generieren. Vorsicht: Sind diese nicht ehrlich, rächen niger Aktivitäten für sie sich in der Realität. z Musiker; Aktivität: ei- LinkedIn gentlich wöchentlich zu finden sind auf LinkedIn international tätige Musiker, Dirigenten, Agenten, Ma- Mailchimp: B2C und nagements und vieles andere. Meiner B2B; Newsletterpro- Meinung nach funktioniert – vielleicht ak- gramm; Aktivität: alle tuell – die Szene der Künstler und Musiker 1 bis 3 Monate nicht auf diesem Sektor. Trotzdem kann es

JANUAR 2018 CLARINO 37 RUBRIK ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT? THOMAS BÖCKER ÜBER SPIELEMUSIK

Von Klaus Härtel

In Japan sind Spielekonzerte der Renner. Und auch in Europa bekommen diese Veranstaltungen, in denen Musik aus Videospielen dargeboten wird, immer mehr Zulauf. Ist das sozusagen die Rückkehr aus der digitalen in die ana loge Welt? Wir sprachen mit Thomas Böcker, dessen Konzept im Frühjahr auf Tour geht.

CLARINO: Wie sieht solch ein Konzert stellte für die Umsetzung ein internationa- sen. Vereinfacht gesagt: Ein Dirigent muss eigentlich aus? Wie ein »normales« Kon- les Team zusammen, das ich koordinierte. einer seits aufgeschlossen einem neuen zert oder spielen Sie mit der audiovisuel- Wir diskutierten die künstlerische Umset- Gebiet gegenüber sein und Crossover-Pro- len Wahrnehmung? Sprich: Werden Se- zung, ich trug das unternehmerische Risiko jekte nicht ablehnen, sondern mit aller Lei- quenzen auf Leinwänden dargestellt? als Produzent wie auch als Veranstalter; ich denschaft unterstützen, andererseits aber war und bin in jeden Aspekt von »Final genauso Sinfonien von Mahler und Schos- Thomas Böcker: Im Bereich Spielemusik Symphony« involviert. Heute tritt vor- takowitsch zur Aufführung bringen kön- existieren unterschiedliche Konzepte – bei nehmlich meine Agentur, Opus 3 Artists nen. Will heißen: Unsere Musik ist ver- meinen Veranstaltungen habe ich mich be- Berlin, an Orchester weltweit heran, um gleichsweise komplex und will interpretiert wusst dafür entschieden, auf Leinwände zu eine Zusammenarbeit zu ermöglichen. werden. verzichten. Deren Ablauf ist an klassische Kooperationen schließen führende Klang- Konzerte angelehnt, mein Team schreibt körper wie das London Symphony Orches- Welches der Spiele haben Sie selbst Tondichtungen, Klavierkonzerte und Sinfo- tra, die San Francisco Symphony, das Royal schon gespielt? Beziehungsweise, sollte nien, die Themen der Spiele aufgreifen und Philharmonic Orchestra oder man die Spiele kennen, wenn man die weiterentwickeln. Der Fokus liegt auf der das Hong Kong Philharmonic Orchestra Konzerte produziert? Musik und den Musikern. ein. Für »« haben mein Team Was ist Ihre Aufgabe als Produzent? Wie sieht die Zusammenarbeit mit Musi- und ich Monate mit Recherchen verbracht. kern und Dirigenten aus? Dazu gehörte es, die Titel anzuspielen, auf Die Welttournee »Final Symphony – Music YouTube sogenannte Walkthroughs anzu- from « war meine Idee, ich Die Herausforderung bei »Final Sym- schauen (das können pro Spiel gut und gern schrieb das Konzept, verhandelte mit dem phony« ist es, dass involvierte Künstler ein mehr als 50 Stunden sein), Rezensionen

japanischen Lizenzgeber und breites Spektrum Können mitbringen müs- auszuwerten – und natürlich die Musik zu Ramakers Philippe Enix, Square Fotos:

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analysieren. Welche Stücke haben eine Was ist das Besondere der jeweiligen besondere Relevanz für die Fans? Welche Musiken? »Angry Birds« etwa ist ja ein Szenen werden als wichtig erachtet, wel- vollkommen anderes Spiel als »Clash of che haben sich ins kollektive Gedächtnis Clans«… gebrannt? Die Arrangements bei »Symphonic Selec- tions«, unserem Programm mit Spielen von Ist Spielemusik etwas für die »Computer- Herstellern aus aller Welt, sind sehr farbig Nerds«? Oder kann dies auch, ein »Nor- gehalten – die humorvolle Partitur zu malo« genießen? »Angry Birds« beispielsweise bildet den skurrilen Kampf Vögel versus Schweine ab, Spielemusik umfasst viele verschiedene mit Effekten wie Quaken oder Hupen in- Stilrichtungen, abhängig vom Genre. Mein nerhalb der bekannten und beliebten Melo- Anspruch ist es, unsere orchestralen Um- dien. Hier, wie auch bei »Clash of Clans«, setzungen so gestalten zu lassen, dass sie wo es etwas dunkler, mysteriöser und Wiedererkennungswert für die Fans bieten blechlastiger zugeht, hat Jonne Valtonen und gleichzeitig handwerklich so interes- mit viel Fantasie die Klangpalette des Or- sant sind, um auch für Nichtkenner der chesters gewitzt genutzt und Geschichten Materie attraktiv zu sein. Einzige Voraus- erzählt. Abwechslung ist auf jeden Fall ge- setzung für Zuhörer ist es, offen Neuem boten – ein Satz einer Sinfonie, ein Klavier- gegenüber eingestellt zu sein. konzert und auch ein Stück für Streich- » THOMAS BÖCKER orchester offerieren einen guten Einblick in ist ein Pionier im Bereich sinfonischer Wie wird Spielemusik eigentlich kompo- die Welt der Spielemusik. Videospielemusik und dort der wohl niert? Schließlich gibt es ja nicht wie einflussreichste Konzertproduzent der beim Film Sequenzen einer bestimmten Gerade »Final Fantasy« ist – auch durch westlichen Welt. 2003 organisierte er Dauer, sondern diese ist vom Spieler be- die Musik – sehr emotional, aber auch das erste Spielekonzert außerhalb Ja- einflussbar. Oder? indi viduell. Schlägt sich das im Konzert pans, aufgeführt im Gewandhaus zu nieder? Wie bekommt man diese Emo- – eine Leistung, für die er vom Das variiert. Es gibt Spielemusik, die tion in große Konzertsäle mit vielen Men- Guinness-Buch der Rekorde gewürdigt schlicht im Loop gespielt wird. Ändert sich schen? Wird ein Videospiel so vom indivi- wurde. Durch den Erfolg der Veran- die Situation, gibt es einen abrupten Wech- duellen Ereignis zum »Massenerleben«? staltung beflügelt, produziert er seit- sel – beispielsweise wenn ein Gegner auf her weltweit Konzertaufführungen dem Bildschirm erscheint. Etwas kom- Für viele Fans ist das ein wichtiger Aspekt. und ist beratend tätig. plexer wird es, wenn übereinanderliegende Zu Hause hat man Stunden mit dem Spiel So arbeitet Thomas Böcker heute mit musikalische Ebenen einzeln ein- und ab- verbracht, im Konzertsaal trifft man nun berühmten Orchestern wie dem Lon- geschaltet werden, um Übergänge stimmi- auf Gleichgesinnte, die der Musik etwas ab- don Symphony Orchestra, der San ger zu machen. gewinnen können, die man selbst so liebt. Francisco Symphony, dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra und dem Tokyo Philharmonic Orches- tra zusammen. Seine Beziehung zum London Symphony Orchestra ist von besonderer Bedeutung: »Final Sym- phony« war 2013 das erste Spiele- konzert für den Klangkörper über- haupt, mit »Final Symphony II« folgte eine Japantournee. Ein Novum: Nie- mals zuvor hatte dort ein ausländi- sches Orchester Spielemusik aufge- führt. Auch das Bestseller-Album »Final Symphony« produzierte Tho- mas Böcker, aufgenommen in den Abbey Road Studios, eingespielt vom London Symphony Orchestra. Thomas Böcker wurde 2015 die Aus- zeichnung »Kultur- und Kreativpiloten Deutschland« von der Bundesregie- rung verliehen, die jährlich an heraus- ragende Entrepreneure der Kultur- und Kreativwirtschaft vergeben wird.

www.thomasboecker.de Spielszene aus dem Videospiel »Final Fantasy VII«.

JANUAR 2018 CLARINO 39 SCHWERPUNKTTHEMA

Speziell bei »Final Fantasy« sind die Melo- » dien gut geschrieben, sie haben einen sehr ist ein japanischer Komponist hohen Wiedererkennungswert, vergleich- und Musiker, der Musik für bar mit Filmmusik von John Williams, Video- und Computerspiele sprich »Harry Potter«, »Star Wars« oder und zuweilen auch für Filme »Indiana Jones«. Anhänger der »Final komponiert. Nachdem er die Fantasy«-Reihe bringen oft musikalische Oberschule abgeschlossen Vorbildung mit; Hersteller Square Enix ver- hatte, graduierte Uematsu öffentlicht seit vielen Jahren CDs haus- von der Universität Kanaga- eigener Soundtracks, unterschiedlich in- wa. Als Uematsu 22 wurde, strumentiert. Das bedeutet, dass unsere trat er vielen Amateur-Bands Arrangeure relativ frei mit dem Ausgangs- als Keyboard-Spieler bei, material umgehen können – und der Groß- merkte jedoch bald, dass ihm teil dies begrüßt und honoriert. das Schreiben von Musik mehr zusagte als das Spielen. In Japan sind Konzerte mit Video Game Daher begann er eine Kar- Music schon lange populär. Sie haben riere als Komponist und schickte Demo-Bänder an viele Unternehmen. Schließlich 2003 das erste Spielekonzert außerhalb wurde er engagiert und schrieb Musik für Radio CM. Japans organisiert. Wie war das damals? Im Jahre 1985 wurde Uematsu von einem Freund, der bei der Videospiel-Firma Square Das war eine aufregende Zeit – ich habe beschäftigt war, gefragt, ob er nicht Musik für einige Videospiele verfassen wolle. So das Konzert für die Leipziger Messe produ- begann Uematsu, Soundtracks zu schreiben, unter anderem für fast alle Spiele der ziert, als offizielle Eröffnungsveranstal- bekannten »Final Fantasy«-Reihe von Square/Square Enix. Bei diesen arbeitete er auch tung der Games Convention im Leipziger mit anderen Künstlern zusammen. Im November 2004 verließ er die Firma Square Gewandhaus. Man war sich sehr unsicher, Enix, um als freischaffender Komponist zu arbeiten. wie viele Konzertbesucher man wohl er- Nobuo Uematsu komponiert Musik für die meisten Titel der »Final Fantasy«-Reihe. warten könne; letztlich war der Saal aus-

verkauft. Sprach man Spielehersteller auf die Erlaubnis zur Aufführung der Musik an, musste oftmals intern zunächst die Zu- ständigkeit für dieses neue Thema geklärt werden. Selbst für Stücke, die im Original schon mit Orchester aufgenommen wur- den, mussten wir die Partituren rekons- truieren, weil die Noten verlorengegangen waren etc. Heute hat sich die Industrie professionalisiert, immerhin locken signi- fikante Lizenzeinnahmen.

Wie haben Musiker und Publikum re- agiert?

Das Publikum war von Anfang an sehr an- getan von der Musik – was verständlich ist, immerhin gab es im Konzertsaal Men- schen, die in der Mehrheit aufgrund der Games Convention in Leipzig weilten und entsprechend spiele-affin waren. Die Musi- ker waren und sind skeptisch, wir konnten und können sie aber überzeugen: Welt- klasse-Orchester führen die Musik heute auf, was einiges über die Qualität aussagt und über die wachsende Akzeptanz.

Was hat sich seitdem getan? Wird Spiele- musik auch hierzulande vermehrt wahr- genommen?

In Deutschland hat es mit dem Boom etwas

»Final Symphony« mit dem London Symphony Orchestra und dem Dirigenten Eckehard Stier länger gedauert als beispielsweise in Japan Ramakers Philippe Fotos:

40 CLARINO JANUAR 2018 SCHWERPUNKTTHEMA » KONZERTE 4. Februar, Liederhalle Stuttgart: Symphonic Selections – Video Game Music in Concert (Württembergische Philharmonie Reutlingen)

2. März, Laeiszhalle Hamburg: Final Symphony (Deutsches Filmorchester Babelsberg)

4. März, Philharmonie Berlin: Final Symphony (Deutsches Filmorchester Babelsberg)

14. März, Philharmonie München: Fi- nal Symphony (Deutsches Filmorches- ter Babelsberg)

17. März, Konzerthaus Wien: Final Symphony (Deutsches Filmorchester Babelsberg)

11. Juni, Konzerthaus Dortmund: Symphonic Selections – Video Game Music in Concert (Dortmunder Phil- harmoniker)

www.gameconcerts.com Volles Haus: Das Barbican Centre in London. oder den USA. Das große Glück war hier Abhängig vom Konzept kann man dies Welches sind Ihre Top5-Spielemusik-Titel? letztlich, dass der ehemalige Manager des durchaus so beschreiben. Im Spielebereich WDR Rundfunkorchesters, Winfried Fech- gibt es sie aber auch, die sehr kommerziell Das kann ich leider unmöglich beantwor- ner, 2007 erkannte, welch Potenzial sich ausgerichteten Veranstaltungen mit Lein- ten – wie bei anderen Genres ist das von auftat – und mir den Auftrag für fünf jähr- wänden und Videosequenzen. Zweifellos vielen Faktoren abhängig und ändert sich liche Konzerte in Köln erteilte, die dank helfen diese Clips, mangelnde Substanz zu über die Zeit. Was ich aber sagen kann, ist, Audio- und Videostreams international kaschieren; unsere Arrangeure sehen sich dass Nobuo Uematsu für mich zu den inte- große Aufmerksamkeit erfuhren. Heute also immer der großen Herausforderung ressantesten Komponisten von Spiele- gibt es weltweit Tourneen mit Spielemusik ausgesetzt, Partituren so zu schreiben, musik gehört. mit hunderten Aufführungen. dass die Musik auf sich allein gestellt den- noch funktioniert. Herr Böcker, vielen Dank für das Ge- Filmmusikkonzerte sind logischerweise spräch! z schon älter als Spielemusikkonzerte. Worin unterscheiden sich diese eigent- lich genau? » BLASORCHESTER Vermutlich werden in Filmmusikkonzerten Spielemusik ist ein Phänomen der zeit- vornehmlich Original-Partituren verwen- genössischen Musikwelt. Videospiele sind det bzw. Arrangements nah am Original bereits zu einer weltweiten Konzerttour- erstellt. Der entscheidende Zwischen- nee geworden, an der Hunderttausende schritt wie bei uns, elektronische Klänge von Menschen teilnehmen, nicht nur junge aus 8-bit- und 16-bit-Zeiten sinfonisch um- wohlgemerkt. Die Feinheiten und Nuancen zusetzen bzw. teilweise ganz neu zu den- der Musik sind so verbessert wie die Spiele ken, zu strukturieren und in aufregende selbst geworden sind. Und dieses Phäno- Formen zu gießen, entfällt so. men macht auch vor dem Blasorchester nicht halt: Die Arrangeure Robert Sheldon Anders gefragt: Viele »herkömmliche« und Ralph Ford bieten Musik für Blasorches- Konzerte spielen heute mit der multi- ter. Die Musik stammt aus Spielen wie »One medialen Aufbereitung, indem etwa Winged Angel«, »Myst III«, »Bounty Hunter«, Filmsequenzen eingespielt werden. Geht »Civilization IV«, »Halo«. die Spielemusik den umgekehrten Weg? Kehrt die »digitale Welt« in die »analoge www.blasmusik-shop.de Welt« zurück?

JANUAR 2018 CLARINO 41 SCHWERPUNKTTHEMA

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42 CLARINO JANUAR 2018 So einfach geht’s mit Tablet oder Smartphone:

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4. Ihr E-Paper-Abo von CLARINO ist nun freigeschaltet. JANUAR 2018 CLARINO 43 LUST AUF WEITERBILDUNG?

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