England Und Westeuropa
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S-071-168_Abs. 2 III_Kraus 20.07.2006 11:17 Uhr Seite 71 ZWEITER ABSCHNITT: ENGLAND UND WESTEUROPA III. DAS BILD DER ENGLISCHEN VERFASSUNG IN DER ENGLISCHEN UND FRANZÖSISCHEN LITERATUR VOM AUSGEHENDEN 17. BIS ZUR MITTE DES 18. JAHRHUNDERTS 1. DIE HUGENOTTEN UND IHRE GEGNER Der Widerruf des Ediktes von Nantes durch König Ludwig XIV. im Jahre 1685 und der anschließende Exodus eines großen Teiles der protestantischen Huge- notten aus ihrem Mutterland Frankreich nach den Niederlanden, nach Deutschland und etwas später auch nach Großbritannien brachte nicht nur das protestantische Europa in Aufruhr1, sondern hatte zugleich überaus bedeuten- de Wirkungen auf die Entwicklung der politischen Ideen dieser Zeit2. Der Er- folg der Glorreichen Revolution in Großbritannien drei Jahre später beeinfluß- te diese Entwicklung nicht weniger stark und lenkte sie zudem in eine be- stimmte Richtung. Die neue Verfassung von England, die sich aufgrund des politischen Umbruchs von 1688/89 herausbildete, avancierte – nicht nur – in den Augen der Hugenotten zu einem Modell, das sich vorzüglich dazu eignete, als positives Gegenbild zum vielfach verabscheuten und heftig bekämpften Ab- solutismus des Königreichs Frankreich etabliert und propagiert zu werden. Denn nun erschien „allen Völkern des Nordens [...] Ludwig XIV. als der Feind 1 Vgl. die immer noch wichtigen Bemerkungen bei PAUL HAZARD, Die Krise des europä- ischen Geistes 1680–1715, Hamburg 1939, S. 112ff. – Siehe zum Zusammenhang der huge- nottischen Emigration nach Großbritannien u. a. JOSEPH TEXTE, Jean-Jacques Rousseau and the Cosmopolitan Spirit in Literature. A Study on the Literary Relations Between France and England During the Eighteenth Century, London 1899, S. 14ff.; SIMONE GOYARD-FABRE, La philosophie du droit de Montesquieu, Paris 1973, S. 24ff.; grundle- gend: BERNARD COTTRET, The Huguenots in England. Immigration and Settlement c. 1550–1700, Cambridge u. a. 1985, bes. S. 185ff.; sodann RUDOLF VON THADDEN / MICHEL- LE MAGDELAINE (Hrsg.), Die Hugenotten 1685–1985, München 1986. 2 Bis heute in der Materialfülle und Gründlichkeit der gedanklichen Durchdringung unüber- holt: ERICH HAASE, Einführung in die Literatur des Refuge. Der Beitrag der französischen Protestanten zur Entwicklung analytischer Denkformen am Ende des 17. Jahrhunderts, Berlin 1959. Besonders wichtig ebenfalls: GUY HOWARD DODGE, The Political Theory of the Huguenots of the Dispersion – With Special Reference to the Thought and Influence of Pierre Jurieu, New York 1947. Auch KOSELLECK, Kritik und Krise, S. 51 weist darauf hin, daß die nach England emigrierten Hugenotten „zu den glühenden Verteidigern der parlamentarischen Verfassung wurden. Sie gründeten im Rain-Bow-Coffee-House, einem Freimaurerlokal zu London, eine Informationszentrale, von wo aus sie englischen Geist, englische Philosophie und vor allem die englische Verfassung über den geistigen Umschlag- platz Holland im absolutistischen Europa propagierten“. S-071-168_Abs. 2 III_Kraus 20.07.2006 11:17 Uhr Seite 72 72 Zweiter Abschnitt: England und Westeuropa par excellence, der Feind der freien Glaubenswahl“3, und insofern ließ sich die einfache – fraglos allzu einfache – Formel „Protestantische (= englische) Frei- heit versus katholische (= französische) Despotie“ vorzüglich im religionspoli- tischen Tageskampf verwenden, und schon ein knapper Blick auf die überrei- che Literatur des frühen Refuge läßt erkennen, in welcher Weise dies geschah. Die große Schlüsselgestalt nicht nur der französischen calvinistischen Theo- logie dieser Zeit, sondern auch der profilierteste und wortmächtigste politische Kopf der Hugenotten war Pierre Jurieu (1637–1713)4. Das Jahrhundertereignis der Revokation veranlaßte ihn, der sich 1685 bereits im Exil befand, zur Abfas- sung einer Fülle von theologischen Kampfschriften und politischen Pamphle- ten, durch die er recht bald schon zum bedeutendsten und auch innerhalb der gesamten protestantischen Welt einflußreichsten Sprecher des geistlichen und politischen Anliegens seiner Glaubensgenossen aufstieg. Mit seinen seit 1686 erscheinenden „Hirtenbriefen“, den heimlich nach Frankreich geschmuggelten „Lettres pastorales adressés aux fideles de France, qui gemissent sous la captivi- té de Babylon“, wurde er auch für die daheimgebliebenen Hugenotten, die in jener Zeit schweren Repressionen ausgesetzt waren, zur authentischen Stimme ihres Glaubens5. Durchaus treffend ist über Jurieu gesagt worden, daß „ein Hauch des Alten Testaments [...] alle seine Äußerungen“ durchweht habe6. Durch die Revokation endgültig „vom Theologen zum Politiker“7 gewor- den, entwickelte sich Jurieu in den Jahren nach 1685 zum entschiedensten Kri- 3 HAZARD, Die Krise des europäischen Geistes, S. 112. 4 Pierre Jurieu, geboren 1637 in Mer bei Blois, studierte an den hugenottischen Akademien in Saumur und Sedan Philosophie und Theologie. Nach einer Reise in die Niederlande und nach Großbritannien trat er 1660 ein Pfarramt in seiner Geburtsstadt an, in den Jahren 1674–1681 lehre er Hebräisch an der Akademie von Sedan, wo er gleichzeitig auch als Pre- diger wirkte. Schon vor der Revokation des Edikts von Nantes verließ Jurieu Frankreich und ging 1681 als Professor und reformierter Geistlicher nach Amsterdam, wo er 1713 starb. Aus seiner Feder stammen eine Fülle theologischer Schriften und Predigten; viele da- von (besonders aus der Zeit nach 1685) sind Polemiken und Kontroversschriften. Bis zu seinem Tode galt er unter den Hugenotten als wortmächtigster und einflußreichster Anklä- ger der Religionspolitik Ludwigs XIV., daneben befand sich Jurieu im Zentrum eines in den Diensten Wilhelms von Oranien stehenden Systems von Informanten. – Vgl. aus der Literatur vor allem DODGE, The Political Theory, passim; und HAASE, Einführung in die Literatur des Refuge, bes. S. 114ff. u. passim. Zu Jurieus Politik nach 1685 siehe die materi- alreiche, aber einseitige Arbeit von JOSEPH DEDIEU, Le Rôle Politique des Protestants Français, Paris 1920, bes. S. 9ff. u. passim; sodann FRANK PUAUX, Les défenseurs de la souveraineté du peuple sous la règne de Louis XIV, Paris 1917; ÉMILE KAPPLER, Le droit de résistance à la tyrannie, d’après Jurieu, in: Revue d’Histoire et de Philosophie religieuses 17 (1937), S. 201–246. 5 Diese für das Selbstverständnis der Hugenotten nach 1685 besonders wichtigen „Hirten- briefe“ Pierre Jurieus sind heute in einem Nachdruck bequem zugänglich: [PIERRE JURIEU], Lettres pastorales adressées aux fideles de la France, qui gemissent sous la captivité de Babylon, Amsterdam 1686–1695; Ndr. hrsg. v. ROBIN HOWELLS, Hildesheim u. a. 1988 (wichtig hierin die Einleitung von HOWELLS, S. VII–LXXVII). 6 HAASE, Einführung in die Literatur des Refuge, S. 115. 7 Ebd., S. 116. S-071-168_Abs. 2 III_Kraus 20.07.2006 11:17 Uhr Seite 73 III. Die englische Verfassung in der englischen und französischen Literatur 73 tiker nicht nur der religiösen Unfreiheit, sondern auch der allgemeinen politi- schen Zustände im zeitgenössischen Frankreich. Die Glorious Revolution wirkte auf ihn und seine Glaubensgenossen wie ein befreiender Gegenschlag auf europäischer Ebene gegen die Konfessionspolitik Ludwigs XIV.; sie sahen sich mit einem Mal befreit von dem Alpdruck einer – unter den Stuarts immer- hin noch als reale Möglichkeit erscheinenden – Rückkehr Großbritanniens zum Katholizismus. Insofern verwundert es nicht, daß sich die weitaus meisten unter ihnen (wenngleich keineswegs alle) auf die Seite der Führer der Revolu- tion und im besonderen auf die Seite Wilhelms von Oranien schlugen, der 1689 als König Wilhelm III. den englischen Thron bestieg8. Jurieu reagierte auf die Ereignisse mit einer Reihe von politischen Kampfschriften gegen den „Despo- tismus“ in Frankreich, in denen er seiner Kampfeslust nun keinerlei Zügel mehr anlegte. Die wohl wichtigste unter ihnen, „Les soupires de la France es- clave qui aspire après la liberté“, erschienen anonym im Jahre des Heils 1689, handelt in drei Kapiteln „de l’oppression de l’Eglise, des Parlements, de la No- blesse & des Villes“9. Ausführlich widmet er sich der massiven Beschränkung der althergebrachten Freiheiten vor allem der „Parlements“ und des Adels durch das Königtum und nicht zuletzt der brutalen Unterdrückung des Volkes durch korrupte Steuereintreiber und durch eine nicht weniger korrupte Justiz10. Die „tyrannie“ in Frankreich widerspreche, so sein Resultat, allen her- gebrachten Grundsätzen politischer Freiheit11; das Erbübel Frankreichs beste- he, so hebt der Autor immer wieder hervor, in nichts anderem als eben in jener „pleine puissance & authorité despotique“ des Königs und in „la Puissance Despotique & Arbitraire du Gouvernement de France“12. Freilich bestehe jetzt – und die Vermittlung dieser Botschaft scheint der eigentliche Zweck seiner Schrift gewesen zu sein – berechtigte Hoffnung auf eine wirklich tiefgreifende Veränderung, denn der große politische Umbruch in Großbritannien werde auch auf das geknechtete französische Königreich ausstrahlen13. Ein ganzes Feuerwerk seiner auf dem religiösen wie dem politischen Feld in gleicher Weise wortmächtigen Rhetorik entfaltete Pierre Jurieu in den zwi- schen 1686 und 1695 erscheinenden „Hirtenbriefen“14, die sich vor allem (wenngleich keineswegs ausschließlich) an die in der „babylonischen Gefan- 8 Vgl. ebd., S. 118f.; allgemein auch COTTRET, The Huguenots in England, S. 188ff. 9 [PIERRE JURIEU], Les soupirs de la France esclave qui aspire après la liberté, o. O. 1689, S. 3. 10 Vgl. ebd., bes. S. 21ff., 34ff. u. passim. 11 Vgl. ebd., S. 38. 12 Die Zitate ebd., S. 120, 134. 13 Vgl. bes. ebd.,