Aus Der Praxis Der Reichskriegsgerichte. Neue
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NORBERT HAASE AUS DER PRAXIS DES REICHSKRIEGSGERICHTS Neue Dokumente zur Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg Eine Geschichte des Reichskriegsgerichts (RKG) als des höchsten Wehrmachtge richts der NS-Zeit ist aufgrund des diffizilen Quellenlage bis heute nicht geschrie ben1. Obschon eine Analyse begrenzter Quellenbestände möglich gewesen wäre, ist der Ertrag bisheriger Forschungen eher dürftig. Die Untätigkeit der historischen Forschung deckte sich lange Jahre mit dem Bedürfnis der beteiligten Justizpersonen, denen an einer Aufarbeitung ihres eigenen Wirkens nicht gelegen war. Sie erklärten - beinahe vier Jahrzehnte unwidersprochen - die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus pauschal zur Bastion richterlicher Rechtschaffenheit im Unrechtsstaat2. Nachfolgend soll neben einer kurzen Forschungsbilanz ein Überblick über die verfügbaren Quellen zur Geschichte des Reichskriegsgerichts gegeben und anhand der jetzt in Prag aufgefundenen Unterlagen dessen Judikatur näher qualifiziert und quantifiziert werden. Darüber hinaus sollen anhand einschlägiger Beispiele die Rolle des RKG bei der Verfolgung des Widerstandes gegen das NS-Regime sowie bislang unbekannte Sachverhalte zur Geschichte des Widerstandes und seiner Randformen beleuchtet werden. Eine umfassende rechtshistorische Untersuchung der Judikatur des RKG, die auch weitere Archivunterlagen auf dem Gebiete der ehemaligen DDR berücksichtigen müßte, muß ausführlicheren Studien überlassen bleiben. 1 Neben den Nachlässen und Personalakten ehemaliger Angehöriger des RKG, ihren Aussagen im Nürnberger OKW-Prozeß, den vereinzelten Biographien der Opfer sowie Zeitschriftenliteratur der NS-Zeit harren eine Vielzahl von Entschädigungsakten der Aufarbeitung. Die veröffentlichte Entscheidungssammlung ermöglicht einen Überblick über die Judikatur des RKG zumindest bis 1941. Vgl. Entscheidungen des Reichskriegsgerichts und des Wehrmachtdienststrafhofs. Herausge geben von Angehörigen des Reichskriegsgerichts, Band I und II, Berlin 1940, 1943. Im Bundesar chiv-Militärarchiv und der Zentralnachweisstelle befanden sich bis zum 2. Oktober 1990 lediglich zu vereinzelten RKG-Verfahren Anklageschriften oder Urteilsbegründungen (vgl. BA/MA-RW 11 II sowie BA/ZNS-Reichskriegsgericht). 2 Noch 1986 hat die Bundesregierung in einer offiziellen Stellungnahme die Auffassung vertreten, daß kriegsgerichtliche Verurteilungen wegen Kriegsdienstverweigerung, Fahnenflucht und Zerset zung der Wehrkraft „im allgemeinen nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen" hätten; BT-Drucksache 10/6287 vom 31. 10. 1986, S: 39ff. 380 Norbert Haase „Weiße Flecken" in der historischen Aufarbeitung der NS-Zeit: Forschungen zur Geschichte des Reichskriegsgerichts Bis in die achtziger Jahre mußte, wer sich von der Geschichte der Militärjustiz und insbesondere des Reichskriegsgerichts ein Bild machen wollte, auf ein „Standard werk" zurückgreifen, das mit dem Mittel der Verfälschung und Entstellung nicht zimperlich umging. Mit Otto Peter Schweling und Erich Schwinge hatten sich ehe malige Kriegsrichter selbst um die Darstellung der Geschichte der NS-Militärge- richtsbarkeit bemüht3. Bei dem Marburger Jura-Professor Erich Schwinge handelte es sich um keinen geringeren als den „Chefideologen" einer rigorosen Abschrek- kungsjustiz, der sich als Verfasser des maßgeblichen Kommentars zum Militärstraf recht in der NS-Zeit einen Namen gemacht hatte4. Autor und Herausgeber dieses Buches, einer „Kameradschaftsarbeit" ehemaliger Kriegsrichter, folgten in ihrer Darstellung des RKG und seiner Richterschaft den im Jahre 1956 schriftlich niedergelegten „Erinnerungen" des ehemaligen, zwischen 1939 und 1944 amtierenden RKG-Präsidenten Admiral Max Bastian5. Nach dessen Selbsteinschätzung, die mit der weitverbreiteten Apologetik ehemaliger Juristen der NS-Zeit, insbesondere den Vertretern der Wehrmachtjustiz, korrespondierte, sei die Judikatur des RKG grundsätzlich von „Behutsamkeit", „Rücksicht" und „Verant wortung" geprägt gewesen. Der § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO), der „Wehrkraftzersetzungs"-Paragraph, sei mit „weitestgehendem Ver ständnis" angewandt worden, das RKG hätte „niemals Abschreckungsurteile" aus gesprochen. „Die persönliche innere Unabhängigkeit in der Urteilsfindung und -fäl- lung", so Bastian, „blieb gewahrt, und kein Richter hätte sich jemals einem Gewissenszwang unterworfen, daran ist kein Zweifel möglich, und jeder von ihnen wäre lieber in eine noch so schmerzliche Verbannung gegangen, als daß er sich in Gegensatz zu Eid, Gewissen und ethischen Grundsätzen gesetzt hätte"6. Jegliche Konzession des RKG an den Nationalsozialismus stellte Bastian in Abrede7. Die 3 Vgl. Otto Peter Schweling, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus. Heraus gegeben und eingeleitet von Erich Schwinge, Marburg 1977; Manfred Messerschmidt/ Fritz Wüll- ner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende,. Baden- Baden 1987; Erich Schwinge, Verfälschung und Wahrheit. Das Bild der Wehrmachtgerichtsbarkeit, Tübingen 1988; Fritz Wüllner, Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, Baden-Baden 1991. Zur Kontroverse um die Veröffentlichung des Schweling-Manuskripts vgl. Karl Dietrich Erdmann, Zeitgeschichte, Militärjustiz und Völker recht. Zu einer aktuellen Kontroverse, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 30 (1979), Heft 3, S. 129 ff. 4 Vgl. Detlef Garbe, In jedem Einzelfall ... bis zur Todesstrafe. Der Militärstrafrechtler Erich Schwinge. Ein deutsches Juristenleben, Hamburg 1989. 5 Lebenserinnerungen 1. 9. 1939-20. 10. 1945. Aufzeichnungen des Admirals a. D. Max Bastian, BA/ MA-N 192/1. 6 Ebenda, S. 31. 7 Ebenda, S. 56 f. Neben Bastian stellte der RKG-Richter Otto Barwinski, der als in politische Bedrängnis geratener Zivilrichter zum RKG fand, in seinen Erinnerungen das RKG ebenfalls als Hort der Rechtsstaatlichkeit dar und verschwieg seine eigene Beteiligung an der Verhängung einer Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts 381 politisch-moralisch zweifelhafte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Wie dergutmachung für die Opfer der Wehrmachtjustiz diente Schweling/Schwinge als Argumentationshilfe. Es wurde der Charakter der Rechtsstaatlichkeit der KSSVO unterstrichen und die Bilanz der NS-Kriegsgerichtsbarkeit durch manipulierte inter nationale Vergleiche mit Todesurteilsbilanzen der alliierten Kriegsgegner relativiert. Der Darstellung Bastians folgend, behaupteten sie, die RKG-Senate hätten sich stets für eine humanere Lösung bei den Zeugen Jehovas eingesetzt und den Versuch unternommen, „der Fälle menschlich Herr zu werden". Durch die Annahme „min der schwerer Fälle" sei häufig die Todesstrafe umgangen worden. Unter Berufung auf Aussagen ehemaliger Beschuldigter in RKG-Verfahren wurde zudem die vor bildliche Verhandlungsführung und Wahrung juristischer Formen hervorgehoben. Die solcher Darstellung gegenüber gebotene Skepsis ist, wie kritische Überprü fungen belegen, auch bei den „Zeitzeugen" von RKG-Verfahren angebracht. So konnte beispielsweise nachgewiesen werden, daß ehemalige Pflichtverteidiger in Prozessen vor dem RKG in ihren Nachkriegserinnerungen die Unwahrheit verbrei tet hatten8. Systematische Untersuchungen zur Tätigkeit der Kriegsgerichte im Nationalso zialismus gibt es bisher nicht. Lediglich Regionalstudien und Einzeldarstellungen haben in den letzten Jahren versucht, sich der Geschichte der Militärjustiz und ihrer Opfer zu widmen9. Dagegen haben eingehendere Darstellungen seriöser Forschung zu Einzelverfahren vor dem RKG Eingang in das wissenschaftliche Schrifttum gefunden10. Detlef Garbe hat in seiner Dissertation über die Zeugen Jehovas im Dritten Reich der Kriegsdienstverweigerung dieser religiösen Glaubensgemeinschaft beträchtlichen Anzahl von Todesurteilen; vgl. Otto Barwinski, Meine Erlebnisse und Erfahrungen als Richter unter dem Nationalsozialismus, BA/MA-N 416/1. Messerschmidt/Wüllner, Wehr machtjustiz, S. 178, bezeichnen auch den Chef der Luftwaffenjustiz von Hammerstein in seiner Eigenschaft als Zeitzeuge als „wenig zuverlässig". 8 Vgl. Erna Putz, Franz Jägerstätter, „. .. besser die Hände als der Wille gefesselt...", Linz 1985, S. 233 f.; Hubert Rottleuthner, Wer war Dietrich Wilde alias Dietrich Güstrow?, in: Kritische Justiz, Heft 1/1988, S. 81 ff.; Hubert Rottleuthner/Johannes Tuchel, Wer war Dietrich Güstrow alias Dietrich Wilde? Ein Nachtrag, in: Kritische Justiz, Heft 1/1991, S. 76 ff. 9 Vgl. Jörg Kammler, Ich habe die Metzelei satt und laufe über. Kasseler Soldaten zwischen Wider stand und Verweigerung (1939-1945), Fuldabrück 1985; ferner die vom Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager herausgegebenen Schriftenreihe, deren erste drei Bände inzwi schen erschienen sind: Hans Frese, „Bremsklötze am Siegeswagen der Nation". Erinnerungen eines Deserteurs an Militärgefängnisse, Zuchthäuser und Moorlager 1941-1945. Hrsg. und mit ergän zenden Beiträgen von Fietje Ausländer und Norbert Haase, Bremen 1989; Fietje Ausländer (Hrsg.), Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bre men 1990; Günter Fahle, Verweigern, Weglaufen, Zersetzen. Deutsche Militärjustiz und ungehor same Soldaten 1939-1945. Das Beispiel Ems-Jade, Bremen 1990. 10 Vgl. Graf Johann Adolf Kielmannsegg, Der Fritsch-Prozeß 1938. Ablauf und Hintergründe, Ham burg 1949; Jürgen Schmädeke, Die Blomberg-Fritsch-Krise: Vom Widerspruch zum Widerstand, in: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft