Wissenschaftliche Beiträge 75 Jahre Erdmagnetisches Observatorium – ein Rückblick

Dietrich Voppel, Buchholz, Günter Schulz, Otterndorf und Monika Korte, Helmholtz-Zentrum Potsdam, Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ

Am 3o. April 1938 wurde das Erdmagnetische Observato- Zweikomponenten-Spulensystems (nach Fanselau-Braun- rium Wingst feierlich unter Beteiligung zahlreicher Wis- beck), mit dem an Schiffsmodellen der magnetische Ei- senschaftler der Geophysik und Personen des öffentlichen genschutz (MES) gegen magnetische Minen erprobt und Lebens in Betrieb gegeben. Es ist Nachfolgestation von Wil- verbessert werden sollte. Eine andere aus dem Krieg stam- helmshaven, wo die Observatoriumsarbeiten wegen zu- mende Aktivität ist die Nutzung von Spulen mit Weichei- nehmender technischer Störungen durch Industrie und senkernen aus englischen Minen zur Registrierung von Hafen kurz vor Beginn des 1. Weltkrieges nicht mehr zu- natürlichen erdmagnetischen Pulsationen. verlässig getätigt werden konnten. Hauptaufgabe war es Nach dem Krieg wandte man sich den (vernachläs- dort, am Standort des Marine-Observatoriums seit 1878 sigten) wissenschaftlichen Themen und der Optimierung (ERRULAT 1939), mit der Beobachtung des erdmagneti- der magnetischen Messpraxis zu. Otto Meyer, Observator schen Feldes und dessen zeitlichen Änderungen Misswei- von 1938 bis 1954, fand im Rahmen einer Studie über erd- sungsangaben für die Marine und Seeschifffahrt zu erstel- magnetische Baystörungen (MEYER 1951) heraus, dass die len (Abb. 1), und auch die Entwicklung von Methoden zur Ausschläge der Z-Komponente in Wingst und Niemegk bei Messung auf beweglichen Plattformen wie Schiffen voran- diesem Störungstyp stets gegenläufig waren. Er schloss da- zubringen. raus auf die Existenz eines induzierten Erdstromes in der Diese Arbeiten mit modernen Instrumenten in norddeutschen Tiefebene. Das löste in der Folgezeit eine Wingst wieder aufzunehmen, wurde Prof. Dr. Friedrich sehr aktive Untersuchung der „norddeutsch-polnischen“ Errulat von der Deutschen Seewarte übertragen. Er sagte Leitfähigkeitsanomalie aus und führte letztlich zu dem, mir (D.V.), als ich 1954 meinen Dienst als Observator in was man heute als Elektromagnetische Tiefenforschung Wingst antrat, der sehnsüchtigste Wunsch eines messen- bezeichnet. An diesen Untersuchungen war auch das Erd- den Erdmagnetikers sei es, die Stärke des Erdmagnetfeldes magnetische Observatorium Wingst beteiligt. Außerdem auf Knopfdruck messen zu können. wurde in dieser Zeit der erdmagnetische Variograph der Er erzählte mir das, da er noch die Zeit erlebt hatte, Askania-Werke (Berlin) entwickelt. In Wingst wurden in als zur Messung der Horizontalintensität neben der Ablen- der Folgezeit etwa 12o Geräte dieses Typs geeicht, auf das kungs- eine Schwingungsmessung ausgeführt werden Einsatzfeld (weltweit) eingestellt und testiert. musste, die sich zur Messung der Schwingungsperiode der Im Jahr 1954/55 wurden Feuchtigkeitseinflüsse auf „Auge-Ohr-Methode“ bediente: Mit dem Auge beobachtete die Messungen von Quartz-Horizontal-Magnetometern man die Nulldurchgänge des schwingenden Magneten und (QHM, s. Abb. 2) festgestellt und Koeffizienten gemessen mit dem Ohr hörte man die Zeitmarken eines Chronometers. (MEYER & VOPPEL 1959). Versuche zur Messung der In- Aus zahlreichen Durchgängen wurde dann die Schwin- klination mit einem teils selbstgefertigten Förster son- gungsdauer mit hoher Präzision errechnet. Mir stand aber den(Fluxgate)-Theodoliten (MEYER & VOPPEL 1954) konn- schon ein Chronograph zur Verfügung, auf dem beide Sig- ten damals nicht in die Messroutine übernommen werden, nale registriert werden konnten. da die Sonden noch zu instabil waren. Erst etwa 3o Jahre Wie dieser im Jahr 1938 noch völlig utopische Wunsch später gelang das (s.u.). im Laufe der 75 Jahre im Observatorium Wingst unter den Etwa 1o Jahre nach Kriegsende war das Wirtschafts- Einflüssen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natür- wachstum in vollem Gange. Gesellschaftspolitisch wurde lich Wissenschaft und Technik verwirklicht werden konnte, der Sonnabend arbeitsfrei und die wöchentliche Arbeits- davon berichten wir im Folgenden. zeit wurde stufenweise von 48 auf 4o Stunden reduziert. Ein Jahr nach der Gründung des Observatoriums Das erforderte bei gleichem Personalstand und noch knap- Wingst unter der Federführung der Deutschen Seewarte pen Haushaltsmitteln erhebliche Eigeninitiative und Im- im Jahr 1938 begann der Zweite Weltkrieg. Im Observato- provisation der Bediensteten, um durch Installation von rium wurde eine Halle errichtet für die Aufnahme eines Thermostaten in den Registrierräumen und Messlaboren

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Auswertearbeiten (Temperaturreduktionen) zu erleichtern xis. Der sehr anfällige Erdinduktor (Abb. 2) wurde nun ab- bzw. einzusparen. Die Beschriftung der in den Magneto- gelöst, weil nunmehr die Totalintensität anstelle der grammheften veröffentlichten Originalregistrierungen Inklination mit wesentlich geringerer Messunsicherheit wurde durch Eigenentwicklung eines optischen Beschrif- erfasst werden konnte. Mit dem nächsten Schritt, der Ent- tungsapparats automatisiert (VOPPEL 1972a). wicklung von Spulentheodoliten zur Komponentenmes- Die Deutsche Bahn plante die Elektrifizierung der im sung mit dem Protonenmagnetometer (z.B. VOPPEL 1969, Abstand von 5oo m am Observatorium vorbeiführenden 1972b), vollendete sich der Übergang von der elektrome- Strecke von Stade nach . Um technische Störun- chanischen in die elektronische Erfassung des Magnetfel- gen am Observatorium zu vermeiden, wurden Maßnah- des für die Basismessungen. Die Ablenkungsmessungen men zur Stromzuführung und -ableitung durch die Schie- mit der Gaussschen bzw. Lamontschen Methode (Stations- nen überlegt und vorsorglich mit der Bahnverwaltung be- theodolit Schulze 75, Abb. 2) erübrigte sich nun. Der Über- sprochen. Schließlich verzichtete die Deutsche Bahn aus gang auf dem Gebiet der Registrierungen erfolgte später, wirtschaftlichen Gründen auf die Maßnahmen. nachdem die Fluxgate-Sonden für diesen Zweck stabil ge- Die Lage des Observatoriums im Luftkurort Wingst nug waren (s.u.). ist hinsichtlich künstlicher von menschlichen Aktivitäten 1973/74 wechselte der Beobachter. Überlappende Ein- erzeugter Störungen ideal. Jedoch liefert auch die „Weiße arbeitungszeiten sorgten dafür, das Know-how des erfah- Industrie“ (Land- und Forstwirtschaft, Erholung und Frei- renen Vorgängers an den Nachfolger weiterzugeben – eine zeitgestaltung) Störquellen, z.B. der Ersatz eines hölzernen sinnvolle Investition, wenn es darum geht, eine Beobach- Aussichtsturmes durch einen aus Stahlbeton in 2oo m Ab- tungsreihe in hoher Qualität unterbrechungsfrei fortzu- stand oder der Autoverkehr auf den Wegen um das Obser- setzen. Diese Begründung gilt heute nach wie vor für die vatorium. In diesen Fällen mussten einschränkende Auf- Observation, und, im Zeitalter der digitalen Datenaufzeich- lagen zur Vermeidung von Störungen erarbeitet werden. nung, auch verstärkt für die Aufbereitung der Messwerte Auf wissenschaftlich-technischem Gebiet versucht bis zur Veröffentlichung – von ersten, nahezu in Echtzeit man an jedem Observatorium die Kontinuität der Regis- zur Verfügung gestellten bis zu den mehrfach kontrollier- trierungen zu gewährleisten und die Messunsicherheit zu ten definitiven Ergebnissen. minimieren. In den Zeitraum der zweiten 25 Jahre des Ob- Mittlerweile waren zum einen Fluxgate-Sonden so- servatoriums Wingst fiel die Einführung des Protonenre- weit entwickelt worden, dass sie (im Nullfeld betrieben) sonanz-Magnetometers in die erdmagnetische Messpra- die an Observatorien geforderte Linearität erreichten; zum anderen war die Digitaltechnik auf ei- nem Stand angelangt, der die Speiche- rung und Weiterverarbeitung der Da- ten vor Ort erlaubte. Zur gleichen Zeit hatte der Sender DCF77 der PTB Braunschweig mit der Ausstrahlung von Zeitsignalen in kodierter Form be- gonnen; das Problem der Synchroni- sation der Aufzeichnungen war damit elegant gelöst. Im Laufe der Folgejahre entstand so am Observatorium Wingst ein recht modernes Registriersystem. Die Flux- gates waren getrennt installiert und auf unkonventionelle Weise derart orien- tiert worden, dass beide Horizontal- komponenten einen Beitrag zum Sei- tenschlussfehler lieferten, der sich lau- fend über ein Protonenmagnetometer kontrollieren ließ (SCHULZ 1988). Es zeigten sich allerdings bald saisonale Schwankungen der Basen, die auf Feuchtigkeitsänderungen im Variome- terhaus zurückgeführt werden konn- ten. Zur Sicherung der Deklinationsba- Abb. 1: Deklination Wilhelmshaven und Wingst seit 1886. Bis 1911 sowie 1931 und 1932: Mari- sis wurde der Spulentheodolit (s.o.) neobservatorium Wilhelmshaven + 36,4’; 1935: Reichsvermessung, Säkularpunkt Wingst; ab fortan auch für die relative Bestimmung 1939: Observatorium Wingst des magnetischen Meridians genutzt

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Abb. 2: Wingst, Absoluthaus, Blickrichtung NW (vor 1970). Zu sehen sind die folgenden Instrumente: Sockel SW: QHM, NW: Erdinduktor Schulze 552, NE: Stationstheodolit Schulze 75, SE: BMZ, Nordwand: Schwingungskasten zum Schulze 75, Stativ: Gfz Askania, darunter: Sen- sor des Protonenmagnetometers Varian4931

(SCHULZ 1981). Erst mit der nächsten Fluxgate-Generation Das Umfeld ist weitgehend ungestört, sehr homogene wurden die Probleme mit der Feuchtigkeit beherrschbar Zusatzfelder konnten schon früh über hochwertige Helm- (SCHULZ 1998). holtzspulen und sehr stabile Stromquellen erzeugt werden. Mitte der neunziger Jahre machten sich am Spulen- Sekundärnormale für Spannung und Widerstand vervoll- theodoliten Verschleißerscheinungen bemerkbar, die ei- ständigten das Instrumentarium und dienten der metro- nen Ersatz unvermeidlich machten. Die Wahl fiel auf ein logischen Qualitätssicherung. Das Trägersignal des DCF77 Gerät, welches schon vor der Wende am Adolf-Schmidt- bot sich zudem als stabile Frequenzreferenz zur Eichung Observatorium für Erdmagnetismus in Niemegk entwickelt von Protonenmagnetometern an. Die Einrichtungen des worden war (AUSTER 1991). Es besaß nur noch eine Spule, Observatoriums wurden daher wiederholt von anderen In- die auf einem unmagnetischen Sekundentheodoliten der stitutionen genutzt. Firma Zeiss Jena montiert war und Magnetfelder in hori- Kehren wir zu den QHM zurück, deren Feuchtigkeits- zontaler Richtung erzeugen konnte. Gemeinsame Entwick- abhängigkeit sich in den fünfziger Jahren offenbart hatte. lungsarbeiten führten zu einer mehrjährigen Zusammen- In der Serie befanden sich drei Instrumente mit den Num- arbeit mit dem Hersteller (SCHULZ 2oo2). mern 25, 26 und 27, die in keiner Inventarliste auftauchten. Schon früher gab es ähnliche Kooperationen, die bei- Es lag die Vermutung nahe, dass dieselben, zumal im in- den Seiten zum Vorteil gereichten. So beteiligte sich Wingst ternen Sprachgebrauch als „Beuteinstrumente“ bezeich- Mitte der siebziger Jahre am Bau eines im Institut für Nach- net, eben eine solche Herkunft hatten. Es sollten noch über richtentechnik der TH Braunschweig entwickelten rausch- drei Jahrzehnte vergehen, bis die Frage geklärt werden optimierten Induktionsspulen-Magnetometers. Zunächst konnte: Einer Veröffentlichung polnischer Kollegen konnte für simultane Terminbeobachtungen von Pulsationen im entnommen werden, dass das Observatorium Hel, an der Sekundenbereich eingesetzt, wurde es später in den Rou- Spitze der gleichbenannten Halbinsel gelegen, beim Über- tinebetrieb übernommen und ersetzte das System aus den fall auf Polen 1939 durch die deutsche Kriegsmarine stark Weicheisenspulen der englischen Minen (s.o.). in Mitleidenschaft gezogen und das Absoluthaus anschlie- Wie schon die Zertifizierung der Askania-Variographen ßend beraubt worden war. Die rechtmäßigen Besitzer wur- deutlich machte, bietet Wingst ideale Voraussetzungen für den informiert und eine Rückgabe vereinbart, was über magnetische Kalibrierarbeiten für schwache Magnetfelder. den „kurzen Dienstweg“ 199o während einer Reise dorthin

22 DGG-Mitteilungen 3/2o13 Wissenschaftliche Beiträge geschah – ein Beispiel dafür, wie im kleinen Rahmen tionstheodoliten Schulze 75 (Abb. 2) wurden danach nur Zeichen einer Verständigung gesetzt werden können noch gelegentlich durchgeführt. (VOPPEL & SCHULZ 2oo2). Die Kombination von Protonenmagnetometern und Wegen ihrer Robustheit und Stabilität fanden die Fluxgate-Theodoliten bewährte sich weltweit und bildete QHM eine nicht zu unterschätzende Bedeutung bei Ver- bald das Standardinstrumentarium der von der Interna- gleichsmessungen zwischen Observatorien weltweit und tional Association of Geomagnetism and Aeronomy (IAGA) somit zur Sicherung der magnetischen Standards. Sie wa- organisierten internationalen Workshops mit Möglichkei- ren leicht und konnten per Post versandt werden. Sie be- ten Vergleichsmessungen auszuführen. Eine solche Gele- währten sich zudem während der DFG-geförderten Säku- genheit wurde auch während des Kolloquiums „Activities larpunktvermessungen der Bundesrepublik, einer Koope- of Geomagnetic Observatories in the past and the future“, ration zwischen Wingst und dem geophysikalischen 1988 anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Obser- Observatorium Fürstenfeldbruck der Ludwig-Maximili- vatoriums Wingst veranstaltet, geboten. Mit Wissenschaft- ans-Universität München. Da mit diesen Geräten nicht nur lern aus 1o Ländern und 2o Vorträgen (Dt. hydrogr. Z. 41, die Horizontalintensität, sondern auch die Deklination 1988: 91-289) war die Resonanz erfreulich hoch. Über die hinreichend genau bestimmt werden konnte, waren Pro- Aktivitäten in den ersten 5o Jahren berichteten ausführlich tonenmagnetometer die ideale Ergänzung (Epoche 1965.o, SCMUCKER (1988), VOPPEL (1974, 1988) und SCHULZ VOPPEL & WIENERT 1974). Die nächste Säkularpunktver- (1988). messung (Epoche 1982.o, SCHULZ et al. 1997a) profitierte Durch Instrumentenvergleiche können zwar Geräte - vom instrumentellen Entwicklungsschub, den die Fluxga- feh ler aufgedeckt werden, Niveauverschiebungen aufgrund tes erfahren hatten (s.o.). Dazu wurde in Wingst ein altes von variablen Störquellen außerhalb der Instrumen te blei- Reise-Inklinometer zu einem Fluxgate-Theodoliten umge- ben hingegen unerkannt. Dort greift das Verfahren des „Mo- baut. So fanden die bereits beschriebenen frühen Bemü- mentanwertvergleichs zwischen europäischen Stationen“ hungen aus den fünfziger Jahren einen erfreulichen Ab- (simultane Terminbeobachtungen während magnetisch ru- schluss. higer Nachtzeiten), für dessen Durchführung und Auswer- Nicht nur während der Säkularpunktvermessungen tung Wingst federführend zeichnete. 1955 begann der Ver- arbeiteten die Observatorien der alten Bundesrepublik gleich zunächst mit fünf Stationen und wuchs im Laufe der (Fürstenfeldbruck und Wingst) eng zusammen, sondern Jahrzehnte auf 25 Observatorien an (SCHULZ & GENTZ auch auf den Gebieten der instrumentellen Entwicklung 1998). Durch eine Initiative von G. Fanselau, Niemegk, stieg und Softwareerstellung – von der Auswertung bis zur Ver- die Zahl allein zwischen 1968 und 1971 um weitere sieben öffentlichung (Jahrbücher). Zu erwähnen ist in diesem Zu- aus Ländern des damaligen Ostblocks an. Das macht deut- sammenhang die gemeinsame Revision der graphisch ska- lich, dass, zumindest auf geomagnetischem Sektor, selbst lierten Stundenmittel der vordigitalen Zeit. Durch syn- in der Zeit des Kalten Krieges eine fruchtbare Zusammen- chrone Differenzbildungen über mehrere Jahrzehnte arbeit zwischen Ost und West möglich sein konnte. konnten Unstimmigkeiten erkannt und so die Qualität der Noch nicht berichtet wurde über die statistischen Ver- Daten im Nachhinein verbessert werden. fahren zur Schätzung des Störungsgrades des Erdmagnet- Die Kooperation mit Niemegk war in den Nachkriegs- feldes. Das Observatorium Wingst wurde nach dem 2. Welt- jahren keineswegs unterbrochen. So wurden regelmäßig krieg als sogenannte Kp-Station in die vom Institut für Geo- Magnetogramme ausgetauscht (Studie über erdmagneti- physik der Universität Göttingen entwickelte Prozedur sche Baystörungen, s.o.) sowie Vergleichsmessungen aus- eingebunden (Kennzifferndienst). Damit verknüpft ist die geführt. Dazu zählte insbesondere der Rücktransfer des Jahrzehnte lange Zusammenarbeit innerhalb der „Arbeits- während der Kriegswirren in Niemegk verloren gegange- gemeinschaft Ionosphäre“ der deutschen geophysikali- nen Standards der Horizontalintensität (z.B. SCHULZ schen Institute und der Union Radio Scientifique Interna- 2oo1). Bald nach der Wende wurde die Zusammenarbeit tional (URSI). Bemerkung am Rande: Die visuelle Schät- aller deutschen Observatorien über die neue „Arbeits- zung der Kennziffern war in Wingst bis zu deren gruppe Erdmagnetismus“ innerhalb des Forschungskol- Automatisierung Mitte der neunziger Jahren dem Obser- legiums der Physik des Erdkörpers (FKPE) koordiniert mit vator vorbehalten. So war dieser durch die termingebun- dem Ziel, parallel laufende Entwicklungen zusammenzu- dene Sichtung der aktuellen Magnetogramme immer recht führen und Arbeitsabläufe zu standardisieren. gut über die Entwicklung des momentanen ionosphäri- In Verbindung mit einem Fluxgate entsprach der schen und solar-terrestrischen Zustands informiert – ein schon erwähnte Zeiss-Theodolit den Forderungen der ab- offensichtlicher Vorteil, der mit der Automatisierung leider soluten Messtechnik an Observatorien. Er perfektionierte mehr oder weniger verloren ging. auf Grund seiner Robustheit die Messungen an den Säku- Für die Verbreitung der Daten oder deren Austausch larpunkten (Epoche 1992.o, SCHULZ et al. 1997b) und war bewirkte der Fortschritt in der Kommunikationstechnik zugleich für instrumentelle Vergleiche geeignet. Seine Be- in den neunziger Jahren einen Quantensprung. Nur stich- schaffung im Jahre 199o führte in Wingst zu einem Wechsel wortartig seien erwähnt: des Deklinationsstandards (kleiner 1’). Messungen am Sta- • Einbindung des Observatoriums in das globale INTER-

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Bereitstellung wissenschaftlich hoch- wertiger und für die Observation des Erdmagnetfeldes unerlässlicher Daten zu gewährleisten. Damit war die dro- hende Schließung abgewendet, eine 62 Jahre währende Zeitreihe konnte fortgesetzt werden. Die Abgabe der wissenschaftli- chen Verantwortung war mit der Strei- chung der Stelle des Observators vor Ort verbunden. Das Observatorium Wingst sollte mittelfristig als „Außen- station“ des Observatoriums Niemegk betrieben werden. Damit war auch für Wingst eine Entwicklung verwirklicht, die sich weltweit abzeichnete: Automa- tisierung und Fernkontrolle sowie Ba- sismessungen fortan in der Hand eines verbleibenden Technikers oder des Hausmeisters. Der Umbruch bildet sich im Falle Wingst sehr klar in der Folge der Basismessungen ab (Abb. 3). Zu sehen sind die Residuen zum aus- geglichenen Verlauf der Horizontalin- tensität für den Zeitraum 2ooo bis 2oo9. Der Wechsel fand im Frühjahr Abb. 3: Wingst, Residuen der Basismessungen der Horizontal inten sität (in nT) gegen den aus- 2oo4 statt, die Qualität der Vorjahre geglichenen Verlauf derselben von 2000 bis 2009 wurde offensichtlich erst wieder nach mehreren Jahren erreicht. MAGNET-Projekt ab 1995, Abfrage der Daten über Satellit, Nachdem im Jahr 2oo9 auch der noch verbliebene später über das Internet, Techniker und der Hausmeister aus dem Dienst für das • Aufbau einer Homepage mit dem Angebot ständig aktua- BSH ausgeschieden waren, wurde der Kooperationsvertrag lisierter Variationen und Kennziffern ab 1998, mit Wirkung zum 31.12.2o11 gekündigt. Erneut war der Fort- • Versorgung der Weltdatenzentren, von Instituten, Ämtern bestand des Observatoriums in Gefahr, da das GFZ sich und Privatpersonen sowie der Industrie über E-Mail-Kon- nicht in der Lage sah, die volle Verantwortung für den takte. Unterhalt der gesamten Liegenschaft zu übernehmen. Im Jahr 1989 änderte sich der Name des Trägers in Bun- Grundstück und Gebäude des Observatoriums befinden desamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH). Damit sich derzeit in der Verwaltung der Bundesanstalt für Im - verbunden war die schon länger diskutierte Absicht, den mobilienaufgaben. Für die wöchentlichen Basismessungen erdmagnetischen Beobachtungsdienst vom Verkehrsmi- konnte eine motivierte Nachbarin gewonnen werden. Es nisterium an das Ministerium für Forschung und Techno- wird intensiv an einer Lösung gearbeitet, um dem weiteren logie zu übergeben. Betrieb des Observatoriums durch das GFZ wieder eine Zehn Jahre später war es dann soweit. Das BSH war langfristig tragbare Perspektive zu geben. wegen zunehmender Reduzierung der Mittel gezwungen, Denn hochqualitative magnetische Messreihen von seine Aufgaben neu zu bewerten und Prioritäten zu setzen. erdmagnetischen Observatorien haben im Laufe der letz- Das führte zu der Entscheidung, das Observatorium ent- ten 75 Jahre nichts von ihrer Bedeutung verloren. Im Ge- weder zu schließen oder einer neuen Dachorganisation genteil, durch aktuelle magnetische Satellitenmissionen zuzuführen. Das GeoForschungsZentrum Potsdam, heute wie dem dänischen Ørsted (seit 1999), dem deutschen Helmholtz-Zentrum Potsdam, Deutsches GeoForschungs- CHAMP (2ooo bis 2o1o) und der geplanten ESA-Mission Zentrum (GFZ), welches bei seiner Gründung im Jahr 1992 Swarm (ab 2o13) ergaben sich völlig neue Möglichkeiten schon das Adolf-Schmidt-Observatorium für Erdmagne- zur Erforschung der internen und externen Magnetfeld- tismus in Niemegk übernommen hatte, sagte schließlich anteile. Die Observatoriumsdaten sind dabei eine unver- zu, den fachbezogenen Bereich in Wingst sicherzustellen. zichtbare Ergänzung. Im Gegensatz zum Satelliten, der So ist der Präambel zum Kooperationsvertrag zu entneh- aufgrund seiner Bewegung durch die Umlaufbahn zeitliche men, dass sich das GFZ aus wissenschaftlichen Erwägun- und räumliche Signale mischt, liefern die Observatorien gen bereit erklärt, den Messbetrieb weiterzuführen, um die reine Zeitreihen von festen Beobachtungspunkten aus. Die

24 DGG-Mitteilungen 3/2o13 Wissenschaftliche Beiträge wesentlich längere Zeitabdeckung dieser Beobachtungs- • SCHMUCKER, U. (1988): The Wingst Geomagnetic Observatory reihen ist für die genaue Bestimmung der Säkularvariation and the Development of Geomagnetism during the past 50 years. – nützlich, und das nicht nur, um zeitliche Lücken zwischen Dt. hydrogr. Z. 41: 93-107. Satellitenmissionen zu füllen. Auch die Kombination der • SCHULZ, G. (1981): Base-line measurements of the declination, by Daten aus unterschiedlichen Beobachtungshöhen ist für means of a proton vector magnetometer, at Wingst Observatory die Trennung der einzelnen Feldanteile von großem Wert: (Erd magnetisches Observatorium Wingst). – Dt. hydrogr. Z. 34: 26-37. für ein Observatorium am Erdboden liegen interne Feld- • SCHULZ, G. (1988): The standard of Wingst Geomagnetic Observa- anteile unterhalb und externe Feldanteile oberhalb der Be- tory (Erdmagnetisches Observatorium Wingst) – its improvement obachtungshöhe, während vom Satelliten aus einige der and preservation, demonstrated by some examples. – Dt. hydrogr. externen Magnetfelder innerhalb seiner Umlaufbahn und Z. 41: 119-129. damit unterhalb seiner Messhöhe liegen können. Gleich- • SCHULZ, G. (1998): Long-term experience with variometer systems zeitig steigt das Bewusstsein für die Anfälligkeit unserer of different generations at Wingst observatory. – GFZ Scient. Tech. modernen Technik gegenüber Auswirkungen magneti- Report 98/21. scher Stürme (Sonnenstürme). Beobachtung und Erfor- • SCHULZ, G. (2001): From Deutsche Seewarte Hamburg to GeoFor- schung des Weltraumwetters (space weather) gewinnen schungsZentrum Potsdam – Wingst Geomagnetic Observatory an Bedeutung. Das Observatorium Wingst ist nicht nur, during six decades. – Contr. to Geophysics and Geodesy 31: 17-24. wie bereits erwähnt, eines der dreizehn weltweit verteilten • SCHULZ, G. (2002): Absolute measurements at Wingst Observatory Kp-Observatorien. Dank seiner Lage spielt es seit kurzem – a retrospective view of the past few years. – Proceedings of the Xth für die Untersuchung der Auswirkung magnetischer IAGA workshop on geomagnetic instruments, data acquisition and Stürme auf Stromleitungsnetze eine wichtige Rolle. processing, Hermanus Magnetic Observatory: 157-168. Der Standort des Observatoriums auf dem Fahlenberg • SCHULZ, G., BEBLO, M. & GROPIUS, M. (1997a): The 1982.5 geo- (Deutscher Olymp) in der Wingst ist dabei nach wie vor gut magnetic normal field of the Federal Republic of Germany and the gewählt. Observatorien weltweit leiden unter zunehmen- secular variation field from 1965 to 1992. – Dt. hydrogr. Z. 49: 5-20. den Störungen durch fortschreitende Industrialisierung • SCHULZ, G., BEBLO, M., BEST, A., AUSTER, V. & GROPIUS, M. und Besiedelung der Umgebung. Der Standort Wingst (1997b): Definitive results of the 1992.5 geomagnetic repeat station konnte bisher von Bedrohungen der Datenqualität bewahrt surveyof Germany: normal field model and anomalies. – Dt. bleiben. Es ist angestrebt, die traditionelle Datenreihe die- hydrogr. Z. 49: 21-33. ses Observatoriums als Dienst für die wissenschaftliche • SCHULZ, G. & GENTZ, I. (1998): Results of the momentary value geomagnetische Gemeinschaft und für die Beobachtung comparison between European observatories – a summary of the von Weltraumwetter und Entwicklung des Erdmagnetfelds last two decades. – GFZ Scient. Tech. Report 98/21: 366-374. noch lange fortzusetzen. • VOPPEL, D. (1969): Ein Spulentheodolit zur Messung der erdmag- netischen Komponenten mit dem Protonenmagnetometer. – Z. Geophys. 35: 151-159. • VOPPEL, D. (1972a): An apparatus for photographic inscription of normal magnetograms. – In: Deutsches Hydrographisches Institut (Hrsg.): Magnetogramme Wingst, 1970; Hamburg. • VOPPEL, D. (1972b): The proton vector magnetometer at Wingst Literatur Observatory, technical data and application. – In: Deutsches Hy- • AUSTER, A. (1991): Vektor proton magnetometer system for diffe- drographisches Institut (Hrsg.): Erdmagnetisches Jahrbuch Nr. 17, rent uses in the geomagnetic measuring technique. – HHI, Procee- Ergebnisse der erdmagnetischen Beobachtungen im Observato- dings of the International Symposium, 100 Years Geomagnetic Ob- rium Wingst in den Jahren 1969 und 1970: 133-149; Hamburg. servatory Potsdam-Seddin-Niemegk. • VOPPEL, D. (1974): Hundert Jahre Erdmagnetischer Dienst in • ERRULAT, F. (1939): Das erdmagnetische Observatorium Wingst Norddeutschland. – In: BIRETT, H. et al. (Hrsg.): Zur Geschichte der Deutschen Seewarte. – Ann. d. Hydr. u. Mar. Meteor. 67: 355- der Geophysik, Festschrift zur 50jährigen Wiederkehr der Grün- 360. dung der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft: 139-147; • MEYER, O. (1951): Über eine besondere Art von erdmagnetischen Berlin (Springer Verlag). Bay-Störungen. – Dt. hydrogr. Z. 4: 61-65. • VOPPEL, D. (1988): Some remarks on the history of Wingst Geo- • MEYER, O. & VOPPEL, D. (1954): Ein Theodolit zur Messung des magnetic Observatory during the first 50 years. – Dt. hydrogr. Z. erdmagnetischen Feldes mit der Förstersonde als Nullfeldindika- 41: 109-117. tor. – Dt. hydrogr. Z. 7: 73-77. • VOPPEL, D. & SCHULZ, G. (2002): An episode in the history of geo- • MEYER, O. & VOPPEL, D. (1959): Der Einfluß der Luftfeuchtigkeit physics against the background of world events. – Proceedings of auf Messungen mit dem Quarz-Horizontal-Magnetometer. – In: the Xth IAGA workshop on geomagnetic instruments, data acquisi- Deutsches Hydrographisches Institut (Hrsg.): Erdmagnetisches tion and processing, Hermanus Magnetic Observatory: 281-286. Jahrbuch Nr. 10, Ergebnisse der erdmagnetischen Beobachtungen • VOPPEL, D. & WIENERT, K. (1974): Die geomagnetische Vermes- im Observatorium Wingst in den Jahren 1955 und 1956: 143-148; sung der Bundesrepublik Deutschland, Epoche 1965.0. – Dt. Hamburg. hydrogr. Z. 27: 49-56.

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