Manuskript

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Die fast vergessenen Mütter des Grundgesetzes

Autorin: Gerda Kuhn Redaktion: Brigitte Reimer

ZUSPIELUNG: „Wir arbeiten acht Stunden, haben eine Viertelstunde Frühstück und eine halbe Stunde Mittag, und sonst ist die Arbeit sehr, sehr schwer, wir haben sehr tief zu schippen, wir sind in den Kellerschachtungen, wir haben zwei Meter 20, und wenn wir diese Arbeit vollendet haben, dann sind wir sozusagen auch fertig.“

ERZÄHLERIN: Eine sogenannte Trümmerfrau aus dem zerstörten Nachkriegs-Berlin. Zu Zehntausenden gab es sie nach 1945 in Deutschland, entschlossen zupackend, ausdauernd, uneitel. Die harten Kriegsjahre, als fast alle Männer im Feld waren, hatten den Frauen das Äußerste an Überlebenswillen und Organisationstalent abverlangt. Sie wussten längst aus eigener Erfahrung, dass es viele unangenehme Aufgaben gab, die sie nicht delegieren konnten. Und sie hatten millionenfach bewiesen, dass sie keineswegs davor zurückschreckten, Verantwortung zu übernehmen – in der Familie ebenso wie in Beruf und Gesellschaft.

ERZÄHLER: Die mutigen Trümmerfrauen haben sich eingebrannt ins kollektive Gedächtnis der Deutschen. Sie gelten als Paradebeispiel für Tatkraft und Pragmatismus, als Synonym für den ungebrochenen Willen der Nation zu Neubeginn und Wiederaufbau. Vielfach vergessen sind dagegen jene Frauen, die sich nach Kriegsende an das Wegräumen ganz anderer Hindernisse machten – beispielsweise von ideologischen und rechtlichen Hürden. Elisabeth Selbert war eine dieser Frauen. Der kämpferischen Juristin verdanken wir einen ganz bestimmten Satz in unserem Grundgesetz. Er lautet:

ZITATOR: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt".

ERZÄHLERIN: Eine Formulierung, die heute nichts Spektakuläres mehr an sich hat. Doch als sie entstand, war sie geradezu revolutionär. Sie findet sich im Grundgesetz, Artikel 3, Absatz 2. Die Sozialdemokratin Selbert hat sie zusammen mit drei weiteren couragierten Frauen durchgesetzt: Ihrer Parteifreundin Frieda Nadig, der CDU-Politikerin und von der katholischen Zentrums-Partei. Auch wenn es in den wenigsten Schulbüchern erwähnt wird: Das Grundgesetz hatte keineswegs nur Väter, sondern auch engagierte Mütter.

ERZÄHLER: Vier erfahrene Politikerinnen, die schon vor dem Krieg aktiv waren. Doch die treibende Kraft im Kampf um die rechtliche Gleichstellung der Frauen war die Sozialdemokratin Selbert. Sie nahm nicht nur die mühsame Arbeit auf sich, die überwiegend männlichen Mitglieder ihrer eigenen Partei auf ihre Seite zu ziehen, sondern setzte auch über Parteigrenzen hinweg auf die Zusammenarbeit mit anderen Politikerinnen.

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ERZÄHLERIN: Alle vier „Mütter des Grundgesetzes“ hatten berufliche Erfahrungen aufzuweisen, damals keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Denn noch galt das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900, das davon ausging, der „eigentliche Platz“ einer Frau sei zuhause bei Küche und Kindern. Der ersten deutschen Frauenbewegung, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts gebildet hatte, waren nur Teil-Erfolge gelungen: So durften Frauen seit 1908 in Parteien eintreten. Auch ein Universitätsstudium stand ihnen nun offen. Mit der Gründung der Weimarer Republik erhielten Frauen zudem das aktive und das passive Wahlrecht.

ERZÄHLER: Doch am patriarchalen Familienrecht hatte auch die Weimarer Reichsverfassung nichts geändert. Frauen konnten beispielsweise nicht über das Vermögen entscheiden, das sie in die Ehe miteingebracht hatten. Ohne schriftliche Zustimmung ihres Mannes durften sie nicht einmal ein Bankkonto einrichten. Die Pflicht der Ehefrau, den Haushalt zu führen, war im Gesetz festgeschrieben; über die Erziehung und Ausbildung der Kinder entschied letztendlich der Mann. Politikerinnen wie Elisabeth Selbert hielten deshalb eine Reform des bürgerlichen Rechts für überfällig.

ERZÄHLERIN: Die gebürtige Hessin stammte aus eher beengten Verhältnissen; eine Ausbildung als Lehrerin konnten ihr die Eltern aus finanziellen Gründen nicht ermöglichen. 1918, mit 22 Jahren, trat sie in die SPD ein und engagierte sich mit Leidenschaft in der Kommunal- und Landespolitik. Als Mutter von zwei Kindern holte sie später extern das Abitur nach und begann im Anschluss daran ein Jurastudium. 1930 promovierte sie über das Thema „Ehezerüttung als Scheidungsgrund“. Später, als Anwältin war Elisabeth Selbert immer wieder mit den Härten des geltenden Scheidungsrechtes konfrontiert:

ZUSPIELUNG: „Wie groß war immer das Erschrecken dieser Frauen, die vielleicht ein ganzes Leben lang hinter dem Ladentisch gestanden, als sogenannte „Seele des Geschäftes“ oder des landwirtschaftlichen Anwesens oder Familie den Wohlstand miterarbeitet, in Kriegsjahren allein erarbeitet hatte, wenn sie dann hörten, dass sie bei einer Scheidung mit leeren Händen aus dem Hause gingen, weil sie nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verpflichtet waren, im Geschäft oder im Betrieb des Mannes mitzuarbeiten, ohne allerdings an dem Gewinn oder dem Vermögen, das sie miterarbeitet hatte, beteiligt zu sein.“

ERZÄHLER: Mit Nachdruck setzte sich die Juristin dafür ein, das Schuldprinzip im Scheidungsrecht abzuschaffen. Mit dieser Forderung war sie allerdings ihrer Zeit weit voraus: Erst 1977 trat unter der damaligen sozialliberalen Bundesregierung ein neues Ehe- und Familienrecht in Kraft, das das Zerrüttungsprinzip einführte.

ERZÄHLERIN: Die Nazi-Propaganda reduzierte die Frauen auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau. Weitergehende Ambitionen waren nicht im Interesse des Staates. Der weibliche Anteil an der Studentenschaft sollte nicht höher sein als zehn Prozent, zur Habilitation waren Frauen nicht zugelassen. Die Berufstätigkeit von Ehefrauen war unerwünscht – dieses Ziel wurde in der Regel durch das Verbot des Doppelverdienertums erreicht.

ERZÄHLER: Elisabeth Selbert erhielt ihre Zulassung als Rechtsanwältin 1934 – wenige Monate, bevor die Nazis den Zugang von Frauen zu diesem Beruf völlig blockierten. Doch was die Berufstätigkeit von Frauen betraf, war das NS-Regime nicht konsequent: Als die Rüstungsindustrie auf Hochtouren lief und männliche Arbeitskräfte vielfach fehlten, wurden auch die Frauen zum Arbeitsdienst verpflichtet. Während die Männer an der Front

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kämpften, war Frauenarbeit ganz generell gefragt. Ein Schlager des Operettenkomponisten Emmerich Kálmán, der die dieses Thema aufgreift, war während der Kriegsjahre sehr beliebt:

ERZÄHLERIN: Nach dem Krieg aber wünschte sich so mancher die alten Verhältnisse zurück. Doch die Frauen, die während der Kriegsjahre die Lücken in den Büros und Fabriken geschlossen hatten, wollten sich nicht so einfach wieder in die zweite Reihe zurückdrängen lassen. Insgesamt gab es bei Kriegsende sieben Millionen mehr Frauen als Männer, fast vier Millionen waren allein stehend. Angesichts einer mehrheitlich weiblichen Wählerschaft, so konnte man vermuten, würde auch das künftige Grundgesetz die neue Lebenswirklichkeit der Frauen widerspiegeln.

ERZÄHLER: Mit der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung wurden von der amerikanischen Militärregierung die Abgeordneten aus den wieder erstandenen Parteien beauftragt. Elisabeth Selbert musste sich ihre Mitarbeit erst erkämpfen, aber sie setzte sich durch. Am 1. September 1948 kamen die Mitglieder des sogenannten Parlamentarischen Rates - 65 Frauen und Männer - erstmals zusammen. Im zoologischen Museum Koenig in Bonn, wo in der großen Halle hinter hohen Vorhängen ausgestopfte Tiere standen, wurde über den politischen Neubeginn in Deutschland beraten.

ERZÄHLERIN: Schnell verteilten sich die Abgeordneten je nach fachlichem Hintergrund und persönlicher Interessenslage auf die einzelnen Ausschüsse. Über die Grundrechte – zu denen nach Ansicht von Elisabeth Selbert die Gleichberechtigung von Mann und Frau zählen sollte – wurde im Grundsatzausschuss diskutiert. Die Juristin war dort nur als Stellvertreterin präsent, hielt dies aber nicht für problematisch, da sie davon ausging, eine Verankerung der Gleichberechtigung im Grundgesetz sei eine Selbstverständlichkeit.

ERZÄHLER: Doch der Ausschuss sah das anders: Der schlichte, aber eindeutige Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ fand keine Mehrheit. Er war als Vorschlag der SPD-Fraktion eingebracht worden – nachdem Elisabeth Selbert dafür in der eigenen Partei hartnäckig gekämpft hatte. Die Ausschussmitglieder einigten sich schließlich auf den Satz: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“. Im Klartext: Frauen sollten - wie schon in der Weimarer Republik – das Wahlrecht erhalten, mehr aber auch nicht. Eine Gleichberechtigung von Mann und Frau auch im Familienrecht war nicht vorgesehen.

ERZÄHLERIN: Die Vorlage wanderte wenig später in den Hauptausschuss. Bei der ersten Lesung Anfang Dezember 1948 warb Elisabeth Selbert noch einmal für ihren Vorschlag und warnte zugleich:

ZITATORIN: „Sollte der Artikel in dieser Fassung heute wieder abgelehnt werden, so darf ich Ihnen sagen, dass in der gesamten Öffentlichkeit die maßgebenden Frauen wahrscheinlich dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, dass unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist“.

ERZÄHLER: Doch auch im Hauptausschuss fiel der Satz durch - für Elisabeth Selbert ein Schock. Nach ihrer Einschätzung waren die Abgeordneten auf dem besten Weg, eine historische Chance zu verspielen.

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ERZÄHLERIN: Obwohl alle vier Frauen im Parlamentarischen Rat am Ende gemeinsam kämpften, musste Elisabeth Selbert zunächst auch bei ihren Geschlechtsgenossinnen Überzeugungsarbeit leisten, sogar bei der Parteifreundin Frieda Nadig. Diese befürchtete anfänglich ein rechtliches Chaos, wenn im Grundgesetz die rechtliche Gleichstellung der Frau festgeschrieben würde, ohne dass gleichzeitig die entsprechenden Passagen im geltenden Familienrecht geändert würden.

ERZÄHLER: Ähnliche Bedenken hatte auch die CDU-Abgeordnete Helene Weber. Sie verteidigte ihre Haltung mit dem Hinweis, man habe alle Argumente sorgfältig abgewogen. Weber war Mitbegründerin des „Katholischen Deutschen Frauenbundes“ und eine enge Vertraute von . Der Weimarer Nationalversammlung hatte sie von 1919 bis 1920 als Abgeordnete der Zentrumspartei angehört und an der Weimarer Verfassung mitgearbeitet.

ERZÄHLERIN: Die dritte potentielle Verbündete war die Zentrumspolitikerin Helene Wessel. Die Tochter eines Lokomotivführers hatte ihre politische Karriere ebenfalls bereits in der Weimarer Republik gestartet. Von 1928 bis 1933 hatte sie einen Sitz im Preußischen Landtag inne. Wessel arbeitete als Fürsorgerin für die katholische Kirche. Auch mit ihr diskutierte Elisabeth Selbert über ihre Pläne. Schließlich erklärte Wessel gegenüber Journalisten:

ZITATORIN: „Ich bin grundsätzlich dafür, aber die Auswirkungen müssen gut überlegt sein.“

ERZÄHLER: Helene Wessel war 1945 zur stellvertretenden Vorsitzenden der Zentrums-Partei gewählt worden. Vier Jahre später wurde sie Parteichefin und war damit die erste weibliche Vorsitzende einer politischen Partei in Deutschland.

ERZÄHLERIN: Die Sozialdemokratin Selbert musste auf vielen Ebenen gleichzeitig Überzeugungsarbeit leisten. Zum einen wollten auch die Männer ihrer eigenen Partei nicht so ohne weiteres auf ihre bisherigen Vorrechte verzichten - sei es das Entscheidungsrecht über den ehelichen Wohnort, über die Erwerbstätigkeit ihrer Ehefrauen oder über die Kindererziehung. Andrerseits fehlte es auch nicht an generellen Mahnungen aus konservativen Bevölkerungskreisen, man möge es doch bei der „gottgewollten“ Vorherrschaft des Mannes im Verhältnis der Geschlechter belassen. Und schließlich gab es auch noch die Stimmen jener Frauen, die ihre Geschlechtsgenossinnen davor warnten, nicht um eines abstrakten Rechtsprinzips willen auf ihre „natürlichen Privilegien“ und die „Macht weiblichen Charmes“ zu verzichten.

ERZÄHLER: Die anfängliche Zurückhaltung der drei anderen weiblichen Mitglieder im Parlamentarischen Rat hielt Selbert nicht davon ab, in erster Linie auf die Solidarität von Frauen zu setzen. Sie hoffte insbesondere auf die Unterstützung überparteilicher Frauenvereinigungen. Da dort auch Kommunistinnen mitarbeiteten, riskierte Selbert damit einen Konflikt mit SPD-Chef , der jegliches Zusammenwirken mit kommunistischen Kräften ablehnte. Selbert berichtete später von zum Teil sehr scharfen Kontroversen mit Schumacher. Doch sie ließ sich nicht entmutigen.

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ERZÄHLERIN: Ohnehin hatte sie von männlicher Seite nicht allzu viel Unterstützung zu erwarten – und wenn es diese nach langen Diskussionen irgendwann doch gab, schmeckte sie oft bitter. So schrieb Selbert im Oktober 1948 – nachdem sie die Genossen in der Fraktion endlich hatte überzeugen können - an ihre Parteifreundin Herta Gotthelf:

ZITATORIN: „Ich bin noch ganz glücklich über den Erfolg in der Fraktion, wenn mich auch die Art, wie einige Genossen das Thema behandelt haben, deprimiert hat. Man sieht zwar, dass man an dieser Sache dieses Mal nicht vorbei kommt, aber mit Ironie und Sarkasmus, um nicht zu sagen Hohn, tat man die Frage kurz ab“.

ERZÄHLERIN: Selbert begann schließlich, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Sie hielt zahlreiche Vorträge - in Hamburg, Frankfurt, München und anderen Städten. Die SPD-Politikerin wandte sich sogar an die Ehefrauen von CDU-Mitgliedern, um auf privater Ebene Druck auf die Abgeordneten auszuüben.

ERZÄHLER: Sie löste einen regelrechten Sturm an Beschwerden aus und erreichte sogar eine punktuelle Zusammenarbeit zwischen der bürgerlichen Frauenbewegung und der Arbeiterbewegung. Zahlreiche Gewerkschaftsfrauen, unter ihnen allein 40 000 Metallerinnen, wandten sich mit Eingaben an den Parlamentarischen Rat. Auch ganze Betriebsbelegschaften – so beispielsweise die Mitarbeiterinnen des Arbeitsamtes Frankfurt an Main – stellten sich hinter Selberts Initiative. Darüber hinaus unterzeichneten nahezu alle weiblichen Landtagsabgeordneten der Westzone eine entsprechende Petition – lediglich die bayerischen Abgeordneten zogen nicht mit. Das überwältigende Echo gab Elisabeth Selbert Recht, auch wenn Politiker wie der Liberale herablassend von einem „Quasi-Stürmlein“ sprachen. Selbert erinnerte sich später:

ZITATORIN: „Es war geradezu begeisternd und erschütternd, wie die Proteste aus dem ganzen Bundesgebiet, und zwar Einzelproteste und Verbandsproteste in großen Bergen, in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hineingeschüttet wurden. Körbeweise! Und ich wusste, in diesem Augenblick hätte kein Abgeordneter mehr gewagt, gegen diese Fülle von Protesten anzugehen und bei seinem Nein zu bleiben.“

ERZÄHLERIN: Auch die übrigen Frauen im Parlamentarischen Rat waren inzwischen auf Elisabeth Selberts Linie eingeschwenkt. Die Sozialdemokratin Frieda Nadig übte bei einer Anhörung deutliche Kritik an den patriarchalen Strukturen im Eherecht:

ZUSPIELUNG: „Im deutschen Familienrecht ist der Mann das Oberhaupt der Familie. Ihm steht das Entscheidungsrecht in allen das gemeinschaftliche Eheleben betreffenden Angelegenheiten zu. Die Frau hat sich seinen Entscheidungen zu fügen. „

ERZÄHLERIN: Nadig forderte insbesondere eine Neuordnung der vermögensrechtlichen Bestimmungen:

ZUSPIELUNG: „Am reformbedürftigsten ist zweifellos das gesetzliche Güterrecht. Der gesetzliche Güterstand des Bürgerlichen Gesetzbuchs weist der Frau die Rolle eines bevormundeten Kindes zu. Die Verwaltung und Nutznießung des Vermögens der Frau steht dem Manne

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zu, er ist berechtigt, das Vermögen der Frau in Besitz zu nehmen, er ist auch berechtigt, mit diesem Vermögen zu arbeiten, ohne seiner Frau Auskunft geben zu brauchen.“

ERZÄHLER: Elisabeth Selbert nahm die Einwände ihrer Kolleginnen ernst. Um das befürchtete rechtliche Chaos zu vermeiden, schlug sie einen Kompromiss vor: alle Bestimmungen des bürgerlichen Rechts, die nicht im Einklang mit dem Gleichberechtigungs-Grundsatz im Grundgesetz waren, sollten noch solange in Kraft bleiben, bis der zum Stichtag 1. April 1953 auch ein neues Familienrecht schaffen würde. Das hieß im Umkehrschluss: Alle der Gleichberechtigung entgegenstehenden Bestimmungen im Bürgerlichen Gesetzbuch waren innerhalb einer bestimmten Frist aufzuheben. Genau diese Festschreibung war es, die eigentlich revolutionär war, da sie die Lebensrealität künftiger Frauengenerationen entscheidend verändern sollte.

ERZÄHLERIN: Bei der zweiten Lesung im Hauptausschuss – am 18. Januar 1949 - warb Elisabeth Selbert noch einmal mit Nachdruck um Zustimmung. Und sie erlebte schließlich die Sternstunde ihres Lebens – wie sie es später nannte. Die Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ wurde einstimmig angenommen. Damit waren die Weichen gestellt: Der Satz, für den Elisabeth Selbert und ihre Mitstreiterinnen so lange gekämpft hatten, konnte Teil des Grundgesetzes werden. Einen Tag später wandte sich Elisabeth Selbert in einer Rundfunkansprache an die Öffentlichkeit:

ZUSPIELUNG: „Meine verehrten Hörerinnen und Hörer. Der gestrige Tag, an dem im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates in Bonn dank der Initiative der Sozialdemokraten die Gleichberechtigung der Frau in die Verfassung aufgenommen worden ist – dieser Tag war ein geschichtlicher Tag, eine Wende auf dem Weg der Frauen der Westzonen.“

ERZÄHLER: Am 8. Mai 1949 - vier Jahre nach Unterzeichnung der Kapitulationserklärung - verabschiedete der Parlamentarische Rat das Verfassungswerk. Die drei Militärgouverneure genehmigten die Vorlage. Zwei Wochen später trat das Grundgesetz nach der Annahme durch die Länderparlamente für die westlichen Besatzungszonen in Kraft - nur Bayern verweigerte die Zustimmung.

ERZÄHLERIN: Es sollten allerdings noch etliche Jahre vergehen, bis sich der Gesetzgeber auch zu einer Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches durchringen konnte. Erst ab 1. Juli 1958 – also fünf Jahre später, als Elisabeth Selbert vorgeschlagen hatte - galt das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Damit konnten Frauen nun immerhin über den ehelichen Wohnsitz mitentscheiden, ihren Mädchennamen als Namenszusatz führen und den Haushalt in eigener Verantwortung führen. Die Ehefrau hatte jetzt auch das Recht, einen Beruf auszuüben – allerdings nur – wie es im Gesetz so schön hieß - „soweit das mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“. Beide Ehegatten wurden zudem gegenseitig zum Unterhalt verpflichtet.

ERZÄHLER: Insgesamt 37 Mitglieder des Parlamentarischen Rates wurden in den Bundestag gewählt – unter ihnen Frieda Nadig, Helene Weber und Helene Wessel. Elisabeth Selbert jedoch gehörte nicht dazu. Es blieb nicht die einzige Enttäuschung für die engagierte Juristin und Sozialdemokratin: Anfang der 50er Jahre hatte sie die Möglichkeit, Richterin am Bundesverfassungsgericht zu werden. Doch sie scheiterte letztendlich am Widerstand der eigenen Parteifreunde.

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Möglicherweise ein Indiz dafür, dass Selberts entschlossene Alleingänge in manchen juristischen Fragen bei einigen Genossen in unguter Erinnerung waren. Der SPD- Abgeordnete sprach aus, was viele seiner Parteigenossen nicht offen zu sagen wagten:

ZITATOR: „Du warst vielen unserer Leute und auch anderen Leuten politisch zu profiliert“.

ERZÄHLERIN: Der Satz hat Elisabeth Selbert sicherlich geschmerzt, öffentlich beklagt hat sie sich nie. Sie blieb zunächst hessische Landtagsabgeordnete, kandidierte aber 1958 nicht mehr. Zwei Jahre zuvor hatte sie noch das Große Bundesverdienstkreuz erhalten, dann wurde es allmählich still um sie. Erst die neue Frauenbewegung begann sie wieder zu entdecken. Dass der Artikel 3, Absatz 2 Grundgesetz später noch einmal ergänzt wurde, hat sie nicht mehr miterlebt – sie starb im Juni 1986. 1994 wurde im Zuge der Verfassungsreform der Gleichberechtigungs-Grundsatz durch die Formulierung erweitert: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."

ERZÄHLER: Die „Mütter des Grundgesetzes“ haben in der Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland bleibende Spuren hinterlassen. Daran erinnerte 2006 auch Jutta Limbach, ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, bei einer Festveranstaltung zu Ehren von Elisabeth Selbert:

ZITATORIN: „Es hat nach Elisabeth Selberts Sternstunde noch eines halben Jahrhunderts bedurft, um das deutsche Recht egalitär zu formulieren. Doch die Rechtswirklichkeit hinkt trotz einiger sichtbarer Erfolge – immerhin haben wir eine Bundeskanzlerin! – noch immer hinter der formalen Rechtsgleichheit her. Es bleibt darum nach wie vor viel zu tun…. Gleichwohl oder gerade deswegen ist und bleibt dieser kleine Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ das Fanal und die Verheißung, die beide Geschlechter verpflichtet und für die alle nachfolgenden Generationen von Frauen Elisabeth Selbert Dank schulden.“

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