Demokratiezentrum Wien Quelle: Forum Parlament, 2/2005, S. 44-49 Online: www.demokratiezentrum.org 44 Parlament im Wandel – offenes Parlament?

Oliver Rathkolb Das Parlament als Ort des Gedenkens und der Vergangenheitspolitik

Deskriptoren: BGBl 1995/432; BGBl I 1998/181; züglich der Entnazifizierungsfolgen bis hin zur BGBl I 2000/74; BGBl I 2001/11; BGBl I 2001/12; großen umfassenden Amnestie 1957 sind aus E 90 (XX. GP); E-176-BR; Entschädigungsfonds; Na- tionalfonds; Restitution; Vergangenheitsbewälti- heutiger Sicht höchst irritierende Dokumente gung; Versöhnungsfonds. einer kollektiven Unschuldsvermutung und des Verantwortungstransfers auf das ehemalige Deutsche Reich und die spätere Bundesrepu- Umgang mit der Geschichte blik Deutschland (BRD). Die Stenographischen Protokolle des Natio- Hier sei nur eines der vielen Beispiele für nalrates sind eine hervorragende Quelle, um die höchst zurückhaltende österreichische Po- die gesellschaftlichen Entwicklungen und Än- sition kurz ausgeführt. Im Staatsvertrag 1955, derungen der kollektiven Einstellungen ge- Art 26, hat die Republik Österreich zuge- genüber historischen Vorstellungen und Inter- stimmt, noch offene Vermögensfragen zu lö- pretationen von jüngerer und jüngster Vergan- sen: Obwohl am 17. März 1959 auf Ebene des genheit sichtbar zu machen. Im Zentrum steht österreichischen Ministerrates von ÖVP und die Auseinandersetzung über den Zivilisations- SPÖ eine Entschädigungssumme von sechs bruch Auschwitz, über die systematische Aus- Mill US-Dollar plus zehn Prozent Verwaltungs- grenzung, Verfolgung und letztlich Ausrottung kosten genehmigt worden war, sollte sich die der europäischen Juden/-innen durch das NS- weitere Umsetzung noch weitere zwei Jahre in Regime. Viele Jahrzehnte war die Debatte die Länge ziehen, denn diese Frage wurde mit über den Anteil von Österreichern/-innen an den Ansprüchen Österreichs gegenüber der der NS-Verfolgungs- und Vernichtungsmaschi- BRD junktimiert nerie, die Simon Wiesenthal bereits in den Diese Frage war auch im Nationalrat heftig 1960-er Jahren in einer Dokumentation1 an umstritten, wie Außenminister Bundeskanzler thematisiert und am 15. Juli 1960 zugab: „Art 26 verweist ganz dokumentiert hatte, überlagert von der per- offen über unsere Schwierigkeiten in dieser sönlichen Erfahrung der KZ-Generation unter Beziehung. Er vertrat die persönliche Überzeu- den politischen Entscheidungsträgern um Bun- gung, dass die österreichische Regierung nicht deskanzler , die im Opfermythos genug getan hat für politische Opfer, die in über fast alle Österreicher/innen gebreitet Österreich selbst leben. Eine kleine Minderheit worden war. von Helden. Aber Helden sind zu Lebzeiten nie Wer heute die tausenden Seiten in den Ste- populär. (Finanzminister) Kamitz hatte mehr nographischen Protokollen über die Entnazi- Verständnis für ausländische Flüchtlinge als für fizierungsgesetzgebung, über die sieben die Opfer im Inland. Die Parlamentarier warten Rückstellungsgesetze 1946–1949, die vier nun auf (die) Gelegenheit, um (den) Finanz- Rückstellungsanspruchgesetze (1947–1949) minister unter Druck zu setzen – zugunsten der oder das Opferfürsorgegesetz 1947, das Be- inländischen Opfer“.2 amtenentschädigungsgesetz 1952 bis zum 1961 fand man letztlich eine Lösung. Sie Hilfsfondsgesetz 1956 und dem Abgeltungs- war ein Ergebnis der zeitgleich stattfindenden fondsgesetz aus 1961 nachliest, wird einen deutsch-österreichischen Vermögensverhand- Eindruck über die Folgen dieser überzogenen lungen – erst als hier die Eckdaten klar waren, Opferdoktrin gewinnen. Auch die Debatten die dann im Bad Kreuznacher Abkommen mit über die diversen Amnestierungsgesetze be- der BRD vom 27. November 1961 endeten,

1 Vgl dazu Pick, Simon Wiesenthal. Eine Biographie 2 Österreichisches Institut für Zeitgeschichte, Tage-

FORUM PARLAMENT 2/2005 Jg. 3, Nr. (1997). Übersetzt von Susanne Klockmann. bücher Martin Fuchs, Eintragung 15. Juli 1960.

FORUM PARLAMENT, Nr. 0/2002 Nr. FORUM PARLAMENT, Demokratiezentrum Wien Quelle: Forum Parlament, 2/2005, S. 44-49 Online: www.demokratiezentrum.org Parlament im Wandel – offenes Parlament? 45

wurde der Abgeltungsfonds zur Entschädi- wie das ganze deutsche Parlament stand hin- gung von Vermögensverlusten wie Bankkon- ter ihr3. Die österreichische Regierung war ten, Wertpapiere, Hypotheken, am 22. März vom Beginn an entschlossen, nichts zu geben, 1961 vom Nationalrat per Gesetz begründet nicht mit uns zu arbeiten und alle unsere Be- und zumindest formal die Junktimierung ge- mühungen zu sabotieren. Und das ganze Par- löst. Gleichzeitig wurde auch die 12. Novelle lament stand hinter ihr“.4 zum Opferfürsorgegesetz beschlossen. Letzt- lich erhielten auch die „Heimatvertriebenen“, Verantwortung für Vergangenheit in dh die deutschen Flüchtlinge nach 1945, die in Gesetzen Österreich lebten, 125 Mill DM, für die NS- Verfolgten waren 95 Mill DM vorgesehen. Wei- Erst 1991 hat der damalige Bundeskanzler tere sechs Mill DM zahlte die BRD an die Sam- Franz Vranitzky von der Regierungsbank aus melstellen, sodass mit der Verdopplung durch für eine österreichische Bundesregierung die Republik Österreich dann letztlich der Ge- „eine moralische Mitverantwortung für Taten samtbetrag von 1,3 Mrd Schilling aufgebracht unserer Bürger“ anerkannt.5 Diese neue wurde. Staatsdoktrin, die die umfassende Opferdok- Der Zeitraum zw dem Abschluss des trin auch im Gefolge der heftigen nationalen Staatsvertrages 1955 und der Entfertigungs- und internationalen Diskussion über die erklärung bezüglich der Erfüllung des Art 26 Kriegsvergangenheit des Bundespräsident- Staatsvertrag durch Nahum Goldmanns na- schaftskandidaten und späteren Bundespräsi- mens des Jewish Claims Committee am 19. denten seit 1986 langsam ab- Dezember 1961 signalisiert diese konfliktbe- zulösen begann, wurde in einer weiteren ladene Nachverhandlungsphase. Dies ist zum Grundsatzrede Vranitzkys an der Hebrew Uni- einen auch auf die zu ungenaue Formulierung versity in Jerusalem vertieft, indem er eine An- des Art 26 zurückzuführen und zum anderen erkennung der „kollektiven Verantwortung“6 dem Faktum geschuldet, dass zum Unter- aussprach, aber gleichzeitig auch eine Kollek- schied von den sowjetischen Ansprüchen auf tivschuld ablehnte. das Deutsche Eigentum keine präzisen Verein- In der parlamentarischen Debatte über den barungen – vergleichbar mit dem Moskauer Nationalfonds, gegr als aktives Erinnerungsin- Memorandum 1955 – getroffen wurden. Selbst strument zum 50. Jahrestages des Endes des die USA begnügten sich trotz der bereits seit Zweiten Weltkrieges im Gefolge eines parla- Juni 1953 deutlich zurückhaltend bis verzö- mentarischen Initiativantrages7 der SPÖ-ÖVP- gernd von der österreichischen Bundesregie- Koalitionsregierung Bundeskanzler Franz Vra- rung geführten Verhandlungen mit dem Com- nitzkys und Vizekanzler Erhard Buseks, wurde mittee for Jewish Claims on mit dem deutlich, dass inzwischen trotz mancher lauter status quo des Art 26. Zwischenrufe die Revision der Opferdoktrin Die zitierte Entfertigungserklärung des Je- eine klare Mehrheit fand. In diesem von Peter wish Claims Committee sollte jedoch nicht Ein- Kostelka und Andreas Khol als Klubobleute zelansprüche abdecken und auch nicht jene ausgearbeiteten Antrag wurde die Verpflich- Institutionen binden, die nicht dem Committee angehörten. Einer der Chefverhandler auf Sei- 3 Anm d Verf: Zahlreiche Mitglieder der CDU/CSU- ten des Committee, Gustav Jellinek, 1885 in Fraktion im Bundestag enthielten sich oder ver- Mistelbach geboren, zog den Schluss, der weigerten die Zustimmung zu dem Luxemburger durchaus die politisch unterschiedliche Strate- Abkommen über Entschädigungsleistungen auch gie der BRD und Österreichs zum Ausdruck an den Staat Israel. 4 Jellinek, Die Geschichte der österreichischen bringt und damit der letztlich doch gezahlten Wiedergutmachung, in: Frankel (Hrsg), The Jews Entschädigung in Österreich viel an politischer of Austria. Essays on their life, history and de- Akzeptanz nimmt: „(...) die deutsche Regie- struction (1967) 426. rung war, (...) vom Beginn an bereit, mit der 5 XVIII. GP, 35. NR-Sitzung v 8.7.1991, 3283. 6 Kabinettsunterlagen Franz Vranitzky, Reden, 9.6. Claims Conference zu arbeiten und rasch zu 1993 (Stiftung Bruno Kreisky Archiv).

einem gedeihlichen Ende zu kommen; so gut 7 XIX. GP, IA 251/A. FORUM PARLAMENT 2/2005 Jg. 3, Nr. Demokratiezentrum Wien Quelle: Forum Parlament, 2/2005, S. 44-49 Online: www.demokratiezentrum.org 46 Parlament im Wandel – offenes Parlament?

tung untermauert, „sich an das unermessliche wenn nicht – aufgrund der zunehmenden inter- Leid zu erinnern, das der Nationalsozialismus nationalen Vernetzung der Finanzmärkte – über Millionen Menschen gebracht hat, und Schweizer Unternehmen und Konzerne in New der Tatsache zu gedenken, dass auch Österrei- York und generell in den USA zunehmend mit cher an diesen Verbrechen beteiligt waren“. rechtlichen und va ökonomischen Problemen Der Nationalfonds8, der auch im Parlament di- konfrontiert worden wären, wobei die mög- rekt institutionalisiert wurde, hat seit 1995 an lichen Konsequenzen eines breiten Boykotts 29.461 Opfer des nationalsozialistischen Ter- durch US-Aktieninhaber (va US-Aktienfonds) rors symbolische Pauschalzahlungen geleis- nicht absehbar waren. tet.9 Die österreichische Politik griff die Schwei- 1997 haben sowohl Nationalrat als auch zer Debatte auf und schottete sich nicht ab. Bundesrat Entschließungen angenommen, die Die unabhängige „Kommission zur Prüfung den Tag der Befreiung des Konzentrations- des Vermögensentzugs auf dem Gebiet der lagers Mauthausen (4. Mai) zum „Gedenktag Republik Österreich während der NS-Zeit so- gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an wie Rückstellungen bzw Entschädigungen (so- die Opfer des Nationalsozialismus“ erklären – wie wirtschaftliche oder soziale Leistungen) ein Tag der seither jährlich mit einer großen der Republik Österreich ab 1945“ (Historiker- Gedenkveranstaltung begangen wird.10 Kommission11) wurde im Unterschied zu der Bemerkenswert ist, dass hier die öster- Schweizer Lösung nicht vom Parlament, son- reichische Vergangenheitspolitik erstmals die dern aufgrund einer Vereinbarung durch den internationale Diskussion vorweggenommen österreichischen Bundeskanzler, Vizekanzler hat, wohl auch aufgrund des Nachholbedarfs. sowie den Präsidenten des Nationalrates so- Erst als die politische und mediale Auseinan- wie des Bundesrates am 1. Oktober 1998 ein- dersetzung um die bei Schweizer Banken gerichtet. Ein Gesamtbudget von 90 Mill Schil- schlafenden bzw gesperrten Konten von Ho- ling sollte auch in entsprechend umfassenden locaust-Opfern ab 1996 signalisierte, dass in und konkreten Forschungsergebnissen für den dieser Frage das Schweigen der Nachkriegs- Auftraggeber, die Republik Österreich, mün- gesellschaft gebrochen werden würde, schal- den – im Zeitraum von drei Jahren. teten sich auch Anwälte ein – unter ihnen Ed Während zu Beginn der Tätigkeit der Fagan. Bereits am 2. Oktober 1996 reichte Fa- Schweizer Kommission noch von einem „Rich- gan für Frau Gizella Weisshaus, eine Holo- teramt“ der Geschichte in der öffentlichen caust-Überlebende aus Rumänien, eine Sam- Diskussion die Rede war, das aber nicht dem melklage bei einem Gericht in Brooklyn ein: Mandat entsprach, wurde von der österreichi- Streitwert 20 Mrd US-Dollar. Die US-Bundes- schen Kommission diese Metaebene sehr zivilprozessordnung ermöglicht mit diesem rasch aufgegeben. Sie reduzierte ihre Aufgabe Rechtsinstrument eine Klage durch Repräsen- auf die Rekonstruktion von Grundinformatio- tanten einer Gruppe, die denselben Nachteil nen. So legte die österreichische Historiker- erlitten haben müssen, dh durch gemeinsame Kommission nicht die Differenzierungs-Kate- Rechts- und Tatsachenfragen verbunden sind. gorien von Zwangsarbeiter/innen (zB nach Na- Class Actions sind in den USA nicht unumstrit- tionalität, Rechtsstatus etc) fest, sondern zähl- ten, va wegen der extrem hohen Honorare der te alle Gruppen von zivilen Zwangsabeiter/in- Anwälte und der relativ geringen Einzelent- nen summarisch ohne Wertung auf (inklusive schädigungen für die Klasse der Geschädig- der Arbeiter/innen aus Westeuropa oder der ten. ausgebeuteten Kriegsgefangenen und italieni- Letztlich hätte aber auch die mediale und schen Militärinternierten, die aber von vorne- politische Beschäftigung mit den schlafenden herein nicht in eine Entschädigungsregelung Schweizer Konten keine Reaktion gehabt, aufgenommen werden sollten, um nicht die Gesamtthematik Kriegsgefangenschaft neu 8 BGBl 1995/432; www.nationalfonds.org. „aufzuschnüren“). 9 Meissner (Hrsg), 10 Jahre Nationalfonds. Zahlen, Daten, Fakten (2005) 17.

FORUM PARLAMENT 2/2005 Jg. 3, Nr. 10 E 90 (XX. GP) und E-176-BR. 11 www.historikerkommission.gv.at.

FORUM PARLAMENT, Nr. 0/2002 Nr. FORUM PARLAMENT, Demokratiezentrum Wien Quelle: Forum Parlament, 2/2005, S. 44-49 Online: www.demokratiezentrum.org Parlament im Wandel – offenes Parlament? 47

Gleichzeitig wurde das österreichische Par- die Rückkopplung zum öffentlichen Rechts- lament auch in Sachen Kunstgüterrestitution und Unrechtsbewusstsein. So hat beispiels- aus bundesstaatlichen Sammlungen und Mu- weise die Zwangs- und Sklavenarbeiter/innen- seen durch ein „Rückgabegesetz“ 199812 tä- Entschädigung durch den österreichischen tig, durch das bis dato 1.657 vor 1945 geraub- Versöhnungsfonds durchaus die öffentliche te Kunstgegenstände restituiert werden konn- Einstellung in der österreichischen Gesell- ten.13 Ebenso wirksam wurden die Zahlungen schaft verändert. Über 131.000 Menschen ha- für ehemalige Zwangs- und Sklavenarbeiter/ ben Zahlungen aus diesem Fonds erreicht. innen auf der Basis des Versöhnungsfondsge- Auch die Wechselwirkung zw der medialen Be- setz aus 200014. In weiterer Folge wurde auch richterstattung und den parlamentarischen das Nationalfondsgesetz auf der Basis des Wa- Prozessen bildet einen höchst positiven Mei- shingtoner Abkommens erweitert, um durch nungsbildungsfaktor. den Entschädigungsfonds15, der am 31. Jänner 2001 vom Nationalrat und am 15. Februar Erklärungsversuch 2001 vom Bundesrat einstimmig per Gesetz eingerichtet wurde, noch offene Vermögens- Ein wesentliches Erklärungsmoment für diese verluste entschädigen zu können. Anzumerken verzögerte Reaktion ab 1995 ist sicherlich der ist hierbei, dass Mietrechte bereits ab 2001 Kalte Krieg – so banal dieser Hinweis auch sein pauschal abgegolten werden.16 mag. In „West“-Europa wurden sehr rasch Der Nationalfonds und sein Kuratorium er- nach Kriegsende gesellschaftsändernde Re- weiterten auch sukzessive den Opferbegriff formprojekte, die eine umfassende politische und vergrößerte damit jenen Personenkreis, und rechtliche Auseinandersetzung mit dem der Anspruch auf Leistungen aus dem Fonds Nationalsozialismus und Holocaust inkludiert hat: von Personen, die aus politischen Grün- hätten, zu Gunsten einer stabilen und breiten den, Gründen der Abstammung, Religion, Na- antikommunistischen Allianz erheblich einge- tionalität verfolgt wurden bis hin zu Personen, schränkt. Es gab Entnazifizierungsgesetze und die wegen ihrer sexuellen Orientierung, auf- -maßnahmen in Deutschland (Ost- und West) grund körperlicher oder geistiger Behinde- oder Österreich, Kollaboranten wurden in rung, aufgrund des Vorwurfs der „Asozialität“ Frankreich, den Niederlanden rechtlich ver- oder aufgrund der typisch nationalsozialis- folgt und verurteilt – aber eine tiefgreifende tischen Unrechtspolitik zu Opfern der NS-Ver- gesellschaftspolitische Auseinandersetzung folgung geworden waren. Aktuell findet eine mit dem Nationalsozialismus, seinen Wurzeln intensive Debatte über die „Wehrmachtsde- und seinen Auswirkungen gab es nicht. Die serteure“ als neue Opfergruppe statt. In dieser anti-kommunistische Allianz wagte es nach Hinsicht ist der Nationalfonds durchaus dem 1945 nicht, die sensiblen Fragen, die die Kolla- gesellschaftlichen Diskurs manchmal voraus. boration im wirtschaftlichen Bereich in neutra- Für Einstellungsänderungen sind die parla- len Staaten, wie der Schweiz und Schweden, mentarischen Vorbereitungen und Debatten aber auch in Ländern mit starken Widerstands- sehr wichtig, da letztlich auch politisch ent- gruppen (wie in Frankreich) aufgezeigt hätte, schieden werden muss, warum eine Entschädi- zu stellen und entsprechende Konsequenzen gung zu leisten ist. Wichtig ist in diesem Fall zu ziehen. Selbst die USA unterstützten die jüdischen Wiedergutmachungsforderungen nur halbherzig. 12 BGBl I 1998/181 und eine Nov des National- Verstärkt wurde der Trend in Richtung fonds-Gesetzes BGBl I 1998/183. 13 Khol, Vorwort, in: Parlamentsdirektion (Hrsg), eines raschen Schlussstrichs nach 1945 durch Wege der Versöhnung. 10 Jahre Nationalfonds. Nachkriegsmythen. Jedes Land versuchte sei- Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassis- ne inneren Kriegswunden durch eine „natio- mus im Gedenken an die Opfer des National- nale Doktrin“ zu heilen und damit intensiven sozialismus (2005) 11. 14 BGBl I 2000/74. gesellschaftspolitischen Diskussionen auszu- 15 BGBl I 2001/12. weichen. Parallel zu dieser Entwicklung domi-

16 BGBl I 2001/11. nierten zw 1945–1947 Nachkriegsprozesse mit FORUM PARLAMENT 2/2005 Jg. 3, Nr. Demokratiezentrum Wien Quelle: Forum Parlament, 2/2005, S. 44-49 Online: www.demokratiezentrum.org 48 Parlament im Wandel – offenes Parlament?

Fokussierung auf die ausführenden Täter, dh tions“17 zu recht die These aufgestellt, dass auf jene, die auf dem Gebiet der BRD, DDR Restitution als kulturelles Konzept auch ein oder in Österreich Verbrechen begangen hat- „Verhandeln“ über Geschichte impliziert. Es ten. Die Verfahren gegen übergeordnete Be- wäre vermessen zu behaupten, dass damit der hörden und Entscheidungsstrukturen sowie Opfernarrativ aufgelöst und in der zweiten die zahllosen Delikte außerhalb der Grenzen oder dritten Generation im Narrativ der Täter-, der BRD – in den Grenzen des Einflussberei- Mittäter- oder Zuschauergesellschaft aufgeht, ches des Deutschen Reiches bis 1945 – und die aber es wird zumindest Verständnis für die „Schreibtischtäter“ blieben großteils – wenn Traumatisierungen und das Unrecht, das der überhaupt – in Vorerhebungen stecken. Nationalsozialismus auch den österreichischen Im kommunistischen Osteuropa wurde Opfern zugefügt hat, geweckt. zwar ein staatlicher Antifaschismus forciert; Letztlich wird aber das kollektive Gedächt- man nahm auch eine entsprechende Wertung nis nicht allein von der Politik und dem Parla- des anti-nationalsozialistischen Widerstandes ment bestimmt oder nur in den Schulen ver- vor, eine Restitution geraubten jüdischen mittelt, sondern in der Familie und im persön- Eigentums hat jedoch nur unter großen lichen Umfeld geformt. Nur wenn Politik und Schwierigkeiten und inkomplett stattgefun- Aufklärung in diese privaten Bereiche perma- den; va Verstaatlichungen entzogen jüdisches nent hineinwirken, bleibt eine kritische Analyse Eigentum den Eigentümern. der jüngsten Vergangenheit präsent und wird Es ist ein Phänomen, dass die Wiederauf- nicht immer wieder durch internationale De- bau-Mythen europäischer Staaten bisher keine batten hervorgeholt, um dann zu höchst pein- differenzierten Sichtweisen zuließen. Spätes- lichen Analysen der Amnesie oder Vorurteils- tens in den 1990-er Jahren wurden aber die bildung zu führen. Die Geschichtswissenschaft Risse in diesen Wiederaufbaumythen größer; ihrerseits begann in den letzten Jahren wieder differenziertere Interpretationen fanden und stärker in Richtung des gesellschaftlichen his- finden auch politische und öffentliche Reso- torischen Gedächtnisses zu arbeiten, wobei nanz – in vielen Fällen keineswegs als Mehr- die Phase der Aufklärung über Antisemitismus heitspositionen, aber zumindest als „politische und Nationalsozialismus in den 1970-er und korrekte“ Position artikuliert. 1980-er Jahren wichtig war und funktional in Für die Dekonstruktion der Nachkriegs- vielen Bereichen Wirkung gezeigt hat. Die mythen hat die österreichische Historikerkom- postmoderne Ruhepause in vielen historischen mission wie viele andere Kommissionen in Disziplinen beginnt zunehmend zu Ende zu ge- Europa wichtige Vorarbeiten geleistet, die hen. auch fortgesetzt werden. Inwieweit es gelingt, Gleichzeitig muss aber auch klar sein, dass diese Dekonstruktionen auch in das breite öf- Vergangenheit in der Gegenwart nicht nur den fentliche Bewusstsein zu bringen, hängt sicher- Nationalsozialismus und Holocaust umfassen lich davon ab, inwieweit eine gesamtgesell- kann. Wie stark historische Einstellungen und schaftliche Langzeitanalyse – unter Einschluss Bewertungen – beispielsweise in der Einschät- des NS-Themas und dessen Folgen – gelingt. zung unserer osteuropäischen Nachbarn – bis Nationalsozialismus und Faschismus in Europa herauf in die Gegenwart wirksam sind, doku- haben sowohl eine Vor- als auch eine Nachge- mentierte etwa der Diskurs über die Benesˇ- schichte. Eine angemessene Gesamtanalyse ist Dekrete und die Vertreibung der Sudetendeut- eine Voraussetzung dafür, Einstellungsände- schen (ein Kapitel, das die Nachkriegseliten rungen zu erzielen. 1945 bewusst nicht politisch thematisiert hat- ten). Hier wurde in der Debatte über die EU- Erweiterung ein historisches Thema instrumen- Herausforderungen für die Zukunft talisiert, wobei die Vorurteile der Österrei- Der amerikanische Kulturanthropologe Elazar cher/innen gegenüber den Tschechen/-innen Barkan hat in seinem Buch „Guilt Among Na- jenen der Zeit um 1900 entsprechen. Selbst in den negativen nationalen Zuschreibungen do-

FORUM PARLAMENT 2/2005 Jg. 3, Nr. 17 Barkan, Guilt Among Nations (2000). minieren die Worthülsen der Jahrhundertwen-

FORUM PARLAMENT, Nr. 0/2002 Nr. FORUM PARLAMENT, Demokratiezentrum Wien Quelle: Forum Parlament, 2/2005, S. 44-49 Online: www.demokratiezentrum.org Parlament im Wandel – offenes Parlament? 49

de. Das heißt, dass die Vorurteile des Nationa- vor im Zentrum des Erinnern an Gedenktagen lismus des späten 19. Jahrhunderts über nun- und auch bei künstlerischen Veranstaltungen mehr vier Generationen bis in Gegenwart steht, sondern sollte zunehmend auch in die transportiert wurden. Auseinandersetzung mit den anderen nationa- Gerade vor dem Hintergrund der europäi- len Identitätsprozessen und Entwicklungen im schen Einigung kommt den nationalen Parla- Rahmen der europäischen Entwicklungen ge- menten im Allgemeinen und dem österreichi- hen – letztlich ein Prozess, der weit über den schen Parlament im Besonderen eine große EU-Raum hinausgeht und in dem dem Parla- Bedeutung zu, da letztlich hier die wechselsei- ment eine große Verantwortung zukommt. In tigen Einschätzungen historischer Abläufe und diesem Sinne gilt es, selbstkritisch bei der Re- Beurteilungen ausgesprochen und geformt flexion über Geschichte mitzudenken, da letzt- werden. Vergangenheitspolitik und Erinnerung lich die zukünftige Entwicklung auch von der beschränkt sich daher nicht nur auf den Holo- Geschichte beeinflusst wird – gerade in Zeiten caust und den Zweiten Weltkrieg, der nach wie rasanter Integration und Globalisierung.

Brigitte Hamann Das Palais Epstein im Lauf der Geschichte

Deskriptoren: Familie Epstein; Palais Epstein; Ring- lichkeit zu erhalten. Es galt, dieses Palais als straße. Kunstwerk zu retten und zu beleben. Die Vor- schläge, man solle doch auf einen geplanten teuren Neubau am Morzinplatz für ein „Haus Umfeld der Geschichte“ warten, gingen am Kern der Das Palais Epstein, das am 26. Oktober 2005 Sache vorbei. Denn alle Pläne Zelmans beruh- vom neuen Hausherrn, dem Parlament, nach ten ja darauf, dieses spezielle Haus und dessen jahrelanger sorgsamer Restaurierung feierlich Geschichte für die Öffentlichkeit, Wiener wie eröffnet wird, war im Vorfeld lange in öffentli- Fremde, zu bewahren und zu erforschen. cher Diskussion. Leon Zelman wies als erster Freilich: die Chancen, solche Pläne zu reali- immer wieder auf die historische Bedeutung sieren, waren winzig. Aber die Bemühungen, dieses Hauses für die Geschichte der Wiener über eine öffentliche Diskussion das Palais Ep- Juden, der Ringstraßenkultur und Wiens und stein und seine einzigartige Bedeutung für die Österreichs hin und machte den Vorschlag, Geschichte Wiens zum Thema zu machen und dort einen christlich-jüdischen Treff- und Dis- dieses einzigartige Haus vor einem zu raschen kussionsort zu etablieren, der die ganz speziel- Umbau in ein Bürohaus zu bewahren, war nö- le Vergangenheit der Wiener Juden aufarbei- tig. tet, sich aber auch mit den Themen beschäfti- Nun ist alles gut ausgegangen: Das Denk- gen solle, die dieses besondere Haus aufwirft – malamt war wachsam. Die Architekten arbeite- bis zur Zeit der russischen Kommandantur. Das ten bei der Restaurierung sehr sorgfältig, ja traurige Beispiel des Palais Todesco stand liebevoll und voll Respekt für dieses prachtvol- auch ihm vor Augen: ein nach 1945 noch gut le Haus, das sie vieles Neue entdecken ließ. erhaltenes, erstklassiges, ebenfalls „jüdisches“ Auch den Präsidenten des Nationalrates, Univ. Palais wurde „entkernt“ und „modernisiert“, Prof. Dr. Andreas Khol, hat die Begeisterung bis kaum noch etwas vom Original übrig war. für das Palais erfasst, daher ist es für ihn selbst- Beim Palais Epstein ging es nun darum, das verständlich, es auch für die Öffentlichkeit zu letzte noch einigermaßen gut erhaltene Wie- öffnen. Dort, wo früher das Epstein Bankge-

ner Palais der Ringstraßenzeit für die Öffent- schäft war, entsteht nun, zugänglich vom Ring FORUM PARLAMENT 2/2005 Jg. 3, Nr.