BergWelten BERG 2016

BergFokus Hütten im Gebirge Alpenvereinsjahrbuch BERG 2016

Zeitschrift Band 140 © Heinz Zak Alpenvereinsjahrbuch Berg 2016

Zeitschrift Band 140

Herausgeber Deutscher Alpenverein, München Österreichischer Alpenverein, Alpenverein Südtirol, Bozen

Redaktion Anette Köhler, Tyrolia-Verlag · Innsbruck-Wien Inhalt

Editorial: „Das Werk eines Augenblicks“ >> Anette Köhler ...... 6 BergWelten: Karwendel Der Reiz des Unscheinbaren. Wandern und Bergsteigen im Karwendel >> Heinz Zak ...... 10 Schatzsuche im Vorkarwendel. Erlebnisse links und rechts des Rißbachs >> Joachim Burghardt ...... 24 Silber, Blei und weißes Gold. Zur Geschichte des Bergbaus >> Hanspeter Schrattenthaler ...... 32 Zwischen Albtraum und Wahnsinn. Die Klettergeschichte des >> Andi Dick ...... 40 Im Schatten der großen Wand >> Rudolf Alexander Mayr ...... 52 Jäger und Sammler des Augenblicks. Ein Karwendel-Tag mit Heinz Zak >> Georg Hohenester ...... 64 BergFokus: Hütten im Gebirge Geborgen inmitten der Wildnis. Zu Sinn und Bedeutung unserer Alpenvereinshütten >>Martin Scharfe ...... 72 Geordnete Verhältnisse. Woher kommen unsere Hüttenregeln? >> Martin Achrainer ...... 82 Schutz-Hütten. Denkmalpflege bei Alpenvereinshütten >> Susanne Gurschler ...... 88 Gebaut für das Vaterland. Schutzhütten und Politik an der deutsch-italienischen Sprachgrenze >> Florian Trojer ...... 96 Neue Hütten baut das Land. Moderne Hüttenarchitektur in den Schweizer Alpen >> Marco Volken 104 Konflikt in luftigen Höhen. Debatten um zeitgemäße Hüttenarchitektur >> Susanne Gurschler ...... 112 BergSteigen Höher, härter, schneller. Sonst noch was? Alpinismus-Highlights 2014/2015 >> Max Bolland ...... 120 And the winner is? Auszeichnungen im Alpinismus >> Dominik Prantl ...... 134 Vom Randphänomen zum Aushängeschild. Alpiner Wettkampfsport im Überblick >> Matthias Keller und Johannes Schmid ...... 140 Die Ursprünge des Freikletterns. Die Bewegung der Führerlosen und die Wiener Schule >> Nicholas Mailänder ...... 148 Plumpsklo, Spiritus und Dschungelöl. Die skandinavische Outdoor-Kultur >> Ingrid Hayek ...... 162

4 | Berg 2016 Alpenvereinsjahrbuch BERG 2016

BergMenschen Felsen als Tor zur Welt. Die iranische Kletterin Nasim Eshqi im Porträt >> Karin Steinbach ...... 172 Mein Bruder, der Schafer. Der Bergbauer Fortunat Gurschler >> Susanne Gurschler ...... 180 Das geheime Leben eines Steuerbeamten. Porträt des britischen Alpinisten Mick Fowler >> Jochen Hemmleb ...... 188 Man geht nicht nur mit den Beinen. Eine Erinnerung an den behinderten Kletterer Otto Margulies >> Martin Krauß ...... 196 BergWissen „Da lacht man doch Tränen“. Interview mit dem Schweizer Landschaftsschützer Raimund Rodewald >> Axel Klemmer ...... 204 Zeit zum Umdenken. 40 Jahre Sagarmatha National Park >> Hans-Dieter Sauer ...... 210 Konstant im Rätselmodus. Das Spannungsfeld von Scheitern und Gelingen als pädagogisches Potenzial des Klettersports >> Sabina Dopczynska ...... 220 Am Anfang kam der Jäger. Die Nutzung der Alpen in der Urgeschichte >> Andreas Putzer ...... 224 BergKultur Ein analytischer Romantiker. Der Maler Nino Malfatti >> Stephanie Geiger ...... 232 Die Vermessung des Himmels. De Saussure, Humboldt und das Cyanometer >> Barbara Schäfer ...... 240 Foucault, die Viktorianer und wir. Selbstgestaltung und Experimentierfreudigkeit im Berg- und Trendsport >> Waltraud Krainz ...... 248 „Es giebt nichts, was unzugänglicher aussähe …“ Edward Whympers Erstbesteigung des Matterhorns vor 150 Jahren >> Jürgen Goldstein ...... 254

Autorinnen und Autoren ...... 262 Impressum ...... 264

Berg 2016 | 5 „Das Werk eines Augenblicks“ Zur 140. Ausgabe des Alpenvereinsjahrbuches >> Anette Köhler

Beginnen wir mit dem Ende: Den Schluss dieses Buches einen nahezu prophetischen Bericht über die Erdbebenge- setzt der deutsche Philosoph Jürgen Goldstein mit einem fahr in Nepal veröffentlicht hat) nimmt dies zum Anlass, brillanten Beitrag über Edward Whymper und die Erstbe- über den Sagarmatha National Park am Fuße des Mount steigung des Matterhorns vor 150 Jahren. Diese wiederum Everest zu berichten, der vor bald vierzig Jahren unter völlig bildete den Endpunkt jener sensationellen Erfolgsgeschich- anderen Voraussetzungen als heute gegründet wurde. te, die wir als die „Goldene Zeit“ des Alpinismus bezeichnen. Der Erhalt von intakten Natur- und Kulturräumen bleibt Whymper selbst könnte man als deren Personifikation be- aber auch in den Alpenländern eine große Herausforde- schreiben: 1840 in London geboren und in ärmlichen Ver- rung. Eine Gesellschaft, die sich rein an ökonomischen und hältnissen aufgewachsen, wurde er von seinem Dienstge- funktionalen Gesichtspunkten orientiert, könne sich nicht ber seiner zeichnerischen Begabung wegen als Illustrator in weiterentwickeln, meint der Schweizer Landschaftsschützer die Alpen geschickt, wo der junge Mann bald als Bergstei- Raimund Rodewald. Im Gespräch mit Axel Klemmer erklärt ger reüssierte: 1864 gelang ihm die Erstbesteigung von Bar- er, was er unter wertvollen Landschaften versteht und war- re des Écrins, Aiguille d’Argentière und Mont Dolent, im um es sich – bei allem Frust – lohnt und ja, sogar Spaß Frühsommer des folgenden Jahres – eben jenem bedeutsa- macht, sich für ihren Erhalt zu engagieren. men Jahr 1865 – die Erstbesteigung der Aiguille Verte und „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail der Grandes Jorasses. Die Berge hatten aus dem perspekti- better.” Dieses Motto von Samuel Beckett, das einem anre- venlosen Jungen einen selbstbewussten, erfolgreichen genden kleinen Bericht über den pädagogischen Wert des Mann gemacht. Und dann, am Höhepunkt seiner Karriere, Scheiterns beim Sportklettern vorangestellt ist, dürfte sinn- die tödliche Tragödie –„das Werk eines Augenblicks“ (E. gemäß auch Rodewald wie allen engagierten Menschen Whymper) –, die ihn, den Überlebenden, für den Rest seines aus der Praxis bekannt sein: nicht aufgeben, dranbleiben, Lebens zeichnete und zum nebenstehend zitierten Memen- und sei’s nur, um gescheiter zu scheitern. Ohne diese innere to mori veranlasst hat. Einstellung würde wohl kein Kind je das Laufen lernen, ge- Warum ich dies an den Anfang stelle? – Weil mich die schweige denn würden Prozesse in Gang gesetzt werden, Lektüre von Goldsteins Interpretation der Alpingeschichte die die Kraft haben, die sich verändernde Welt zu gestalten. beeindruckt und gedanklich begleitet hat. Als ich heuer im Und die Welt verändert sich, ob wir nun wollen oder nicht. Frühjahr von einer längeren Reise zurückgekehrt bin, haben Kaum ein Thema beschäftigt Politik und Gesellschaft derzeit mich viele Nachrichten erst verspätet und umso geballter so wie der Exodus Tausender und Abertausender Menschen erreicht: der fatale Lawinenunfall der „Jungen Alpinisten“ im aus den Kriegs- und Terrorregionen des Nahen und Mitt- Dauphiné, der tödliche Absturz von Dean Potter und Albert leren Ostens oder aus Afrika nach Mitteleuropa. Unsere Ge- Precht. All dies: das Werk eines einzigen Augenblicks. Genau sellschaft wird sich wandeln – „by design“ oder „by desaster“, wie die verheerenden Erdstöße in Nepal. wie es der Postwachstumsökonom Nicho Paech in einer der Die Tod und Zerstörung bringende Erdbebenkatastro- letzten Jahrbuchausgaben formulierte. phe vom April 2015 hat das Himalayaland um Jahre zurück- Der Österreichische Alpenverein hat sich mit seinem Pro- geworfen. Auch wenn die Not der Menschen und die Zer- jekt „Miteinander unterwegs“ zum „design“ bekannt und störungen in vielen Landesteilen nach wie vor groß sind, ist erste Schritte in diese Richtung gesetzt: Er geht aktiv auf das Schlimmste überwunden und Zeit, wieder nach vorne Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zu blicken. Hans-Dieter Sauer (der übrigens nur wenige Wo- zu und lädt sie ein, mit auf Tour zu kommen und zusammen chen vor dem großen Beben in der Neuen Zürcher Zeitung die Bergwelt zu erleben. Eine wunderbare Idee, denn was

6 | Berg 2016 Ersteige die Hochalpen, wenn du willst, aber vergiß nie, daß Muth und Kraft ohne Klugheit nichts sind, und daß eine augenblickliche Nachlässigkeit das Glück eines ganzen Lebens zerstören kann. Edward Whymper

gibt es Verbindenderes, als gemeinsam zu gehen, zu schwit- organisierten Alpinismus so sichtbar wie hier: Zivilisations- zen und zu lachen, sich selbst in der Natur zu spüren … Wir müde Städter suchen die Ursprünglichkeit der Bergwelt. wissen doch selbst, wie gut uns die Berge tun. Warum das Und richten sich dort ein. Die Hütten, so der Marburger Kul- nicht weitergeben? turwissenschaftler Martin Scharfe, seien der Versuch, das „Was die Welt retten wird, sind die Dinge, die uns verbin- Unbehagliche behaglich zu machen. Auch wenn von der den, nicht unsere Differenzen“, so der Gründer von Green- Erschließung neuer Hüttenstandorte längst Abstand ge- peace, David McTaggert. Die gemeinsame Liebe zu den Ber- nommen wurde, bleibt die zeitgemäße Adaption und Inter- gen verbindet über ideologische Grenzen hinweg – das pretation des Bestands von mehr als 350 Unterkünften in weiß auch der Deutsche Alpenverein, der als einendes Mot- den Ostalpen Aufgabe und Herausforderung genug: So ent- to für über eine Million verschiedenster Mitglieder den Slo- zünden sich z. B. an der Frage nach zeitgemäßer Hüttenar- gan „Wir lieben die Berge“ gewählt hat. Dieses Wir aktiv zu chitektur immer wieder Debatten. In der Schweiz, wo man gestalten wird für unsere Gesellschaft für absehbare Zeit über Generationen genau wusste, wie eine SAC-Hütte aus- eine der wichtigsten Herausforderungen bleiben. zusehen hatte, vollzog sich vor etwa zwanzig Jahren der Von den großen gesellschaftlichen Herausforderungen Wechsel: Plötzlich wurden in ästhetischer wie funktioneller zurück zu den unmittelbaren: Wie kann es uns, den Heraus- Hinsicht ganz neue Lösungen gefunden. Die Schweiz, einst gebern, weiterhin gelingen, alljährlich ein attraktives Alpen- Gralshüter einer in Stein gemeißelten Hüttenarchitektur, vereinsjahrbuch für Sie zu gestalten? Mit der Teilnahme an wurde zum Vorreiter einer modernen Ästhetik. Diese span- der großen Leserumfrage vom letzten Jahr und Ihrem diffe- nende Entwicklungsgeschichte, die Marco Volken erzählt, renzierten Feedback haben Sie uns dafür wichtige Leitlinien bringt auch Licht in so manche heimische Diskussion. gegeben. Herzlichen Dank dafür! Ermutigend und motivie- Dass man in den Bergen auch ohne ein derartiges Hüt- rend ist die breite Zustimmung: Etwa 85 Prozent aller Teil- ten- und Wegenetz wie in den Alpen unterwegs sein kann, nehmer gaben an, dass das Jahrbuch ihnen sehr gut bis gut weiß Ingrid Hayek und erzählt mitreißend von ihren Erleb- gefällt. Die Umfrageergebnisse unterstreichen die Bedeu- nissen mit der skandinavischen Outdoor-Kultur. Hätten Sie tung der jährlich wechselnden Gebiets- und Schwerpunkt- gewusst, was für die Schweden ein Smultronställe ist? Ein themen und das Interesse an solider Information in allen „Erdbeerplätzchen“? Es bezeichnet, so Hayek, „einen idylli- Angelegenheiten, die die Alpen betreffen, von naturkund- schen Ort oder Augenblick im Leben, bei dem dir das Herz lichen Sujets bis hin zu Geschichte und Kultur. vor lauter Glück zerspringt. Ein Paradies, zu dem du voller Die vorliegende Ausgabe trägt diesen Ergebnissen mit Sehnsucht immer wieder zurückkehren möchtest.“ zwei besonders attraktiven Schwerpunktthemen Rech- Gehen wir in diesem Sinn zurück an den Anfang und le- nung: Die Rubrik BergWelten ist dem Karwendel gewidmet, sen Whympers Memento mori für einen Moment lang ge- BergFokus stellt mit „Hütten im Gebirge“ ein Kernthema des gen den Strich: Heißt es dann nicht auch carpe diem, pflücke Alpenvereins vor. In keinem anderen Bereich werden die den Tag, und achte den Augenblick? Nicht dass wir aus Ver- grundlegenden und ambivalenten Gestaltungskräfte des sehen an unserem Smultronställe vorübergehen.

Berg 2016 | 7 © H. Zak

BergWelten

Wie ein felsiger Drachenrücken ragt der Karwendel-Hauptkamm mit dem Doppelgipfel der Sonnenspitze aus dem Nebelmeer. Im Vordergrund leuchtet die einsame Östliche Praxmarerkarspitze im letzten Sonnenlicht. Mit seinen vier großen Felsketten und den langen, von Wildbächen durchfrästen Tälern bildet das Karwendel das ursprünglichste Gebirge der Nördlichen Kalkalpen.

8 | BergWelten BergWelten | 9 Der Reiz des Unscheinbaren Wandern und Bergsteigen im Karwendel >> Heinz Zak (Text und Bilder)

Das Karwendel, dieses weitläufige, ungezähmte Wildland zwischen Isar und Inn, bildet eines der größten und vielseitigsten Naturschutzgebiete der Ostalpen. Heinz Zak stellt die schönsten Möglichkeiten vor, dieses Paradies vor der Haustür aktiv zu entdecken.

10 | BergWelten Warum ich so gern im Karwendel unterwegs bin, ist für einen Außenstehenden vielleicht schwer zu begreifen. Meine Jugendzeit als Kletterer hatte ich in den nahen Kalkkögeln verbracht, und es war mir dort schon wichtig gewesen, auf jedem ein- zelnen Berg gewesen zu sein. Dabei bin ich wirk- lich nicht jemand, den man als „Gipfelsammler“ bezeichnen würde. Trotzdem wollte ich auch je- den einzelnen Gipfel der vier Hauptketten des Karwendels besteigen und fand dafür eine denk- bar einfache Lösung, die dem Charakter dieser Berge optimal entspricht: einfach die Bergkette vom Anfang bis zum Ende überschreiten. Drei der Ketten überschritt ich im Winter im Alleingang, die zweite Kette nach mehreren gescheiterten Winterversuchen dann lieber im Sommer. Die Gipfel zu kennen und schwierige Wände erstmals zu besteigen war eine Sache, aber im Lauf der Zeit reizte es mich ebenso, das Karwendel so gut wie möglich in allen Ecken und Winkeln zu durch- streifen. Beim Blick von der Birkkarspitze offenbart Ich fühle mich wohl hier, in diesen tief einge- sich der wilde, urtüm- schnittenen Tälern mit den türkis schimmernden liche Charakter des und glasklaren Wassern, es macht mir Spaß, auf Karwendels. Über der Kaltwasserkarspitze sind verlassenen Hochalmen nach uralten Zirben oder die Gipfel des Alpen- einfach nach einer Adlerfeder zu suchen oder auf hauptkammes zu den zauberhaften, versteckten Ahornböden, die erkennen. Weit seltener Besuch als der Kleine bei den Jägern vielversprechende Namen wie „En- Ahornboden (unten: im gelsgarten“ tragen, jeden einzelnen Baum zu ken- herbstlichen Farben- nen. Meine spielerische Suche nach den schöns- rausch Ende September) bekommt die Westliche ten Fotomotiven hat mich in verborgene Schluch- Ödkarspitze (kleines Bild ten oder der leuchtenden Edelweiß wegen in gra- links).

BergWelten | 11 Das Karwendel ist in großzügigen, von Ost nach West verlaufenden sige Steilwände geführt. Den Bächen entlang bin ter bis zur Kastenalm, dann Schotter in den weiten Ketten aufgebaut. Kein ich bis zur Quelle gefolgt. Karen, Schrofen und Schotter bis zum Gipfel. menschliches Zeichen unterbricht den Anblick Das Karwendel ist ein uriges Wildland, das je- Trotzdem kommen viele immer wieder, denn das der Grate und Wände. Die der Wanderer und Bergsteiger in einer heutzutage Karwendel und seine Gipfel bieten noch viel Frei- Pyramide der Birkkarspit- selten unverfälschten Art erfahren kann. Nur an raum. Freiraum im Sinne des Mottos von Hermann ze, mit 2749 Meter der höchste Punkt im den Rändern besiedelt, bietet es viel naturbelas- von Barth (1845–1876), dem großen Karwendel- Karwendel (Bildmitte), senen Raum. Im Karwendel kann man einfach „ab- Erschließer: „Selbst sehen, selbst planen, selbst han- hebt sich nur unwesent- tauchen“. Und das nicht erst weit droben auf ab- deln – das ist hier die Losung“. lich ab von den ähnlich hohen Gipfeln. gelegenen Gipfeln. Wer die Gelegenheit hat, mit einem Ballon über das Karwendel zu schweben Auf den Blickwinkel kommt es an oder sich gut in die topografische Karte hinein- Dieses etwa 900 Quadratkilometer große Felsland denken kann, wird leichter ein Gefühl dafür be- zwischen der Seefelder Senke im Westen und kommen, wie viele ruhige Flecken ihn dort im In- dem Achensee im Osten wird im Süden vom Inn- nern des Gebirges erwarten. Wer dann auf dem tal begrenzt. Die Isar, die im Herzen des Karwen- höchsten Punkt des Karwendels, der Birkkarspitze dels entspringt, durch das Hinterautal nach Schar- (2749 m), steht, sieht rundherum nur Berge. Die nitz fließt und sich bei Wallgau wieder gegen Ortschaften und Städte in Südbayern, falls im Osten wendet, bildet die nördliche Grenze des Dunst des Tieflandes überhaupt erkennbar, sind Gebirges. Vier gewaltige, in Ost-West-Richtung nur Randerscheinungen am Horizont. verlaufende Gebirgsketten und drei tief einge- Wer hier heraufgestiegen ist, hat viel Schotter schnittene Täler prägen diese einzigartige Berg- hinter sich: 18 Kilometer Schotterstraße von landschaft. Zartgrüne, mit Blumen übersäte Alm- Scharnitz bis zum Karwendelhaus oder 15 Kilome- böden, goldgelb und braunrot leuchtende

12 | BergWelten Herbstwälder, tiefgrüne Latschendschungel und herrlich sprudelnde Bergbäche stehen im krassen Gegensatz zu den fahlen Geröllhalden, den riesi- gen öden Karen und den darüber aufragenden, abweisend grauen Wandfluchten. Von außen be- trachtet schaut das Karwendel relativ uninteres- sant aus. Da blicken einem nicht schon von der Ferne schneebedeckte Dreitausender oder mar- kante Felsgestalten entgegen. Die Berge des Kar- wendels und die Schönheit der Täler und Almen verstecken sich im Inneren. Interessant ist auch die Tatsache, dass die Zu- gänge ins Karwendel ganz unterschiedlich sind. Von Süden, von Innsbruck aus starrt man auf das Bollwerk der „“. Wie eine Befestigungs- mauer zieht diese steile Bergflanke nahezu 2000 Höhenmeter hinauf zu felsigen Riegeln, aus de- nen nur wenige markante Gipfel herausragen. Von Osten kommend, beginnt das Karwendel am Achensee. Von dort kann man auf einer Mautstra- ße ins Gerntal oder ins Falzthurntal fahren, das den Zustieg zur Lamsenhütte eröffnet. Wer von Norden durch das Rißbachtal kommt, hat viele Möglichkeiten, die ruhigeren Vorberge, die Soi- erngruppe und die Berge rund um den Großen Ahornboden zu erkunden. Den besten Ausgangs- Am Gipfel des Kleinen punkt für die meisten Berg- und Wandertouren Bettelwurfs steht man an bietet der Zugang von Westen: In Scharnitz laufen fende, aus mächtigen Kalkbänken aufgebaute der Schneide zwischen Karwendel-, Hinterau- und Gleierschtal zusam- Faltenzüge. Sie sind so aufgefaltet, dass sie nach laut und leise: im Rücken das dicht besiedelte men, hier beginnen oder enden die meisten Ge- Norden steil abfallen. Dieser charakteristische Inntal, vor uns mit bietsdurchquerungen. Aufbau zeigt sich in der Gleierschkette (zwischen Hochkanzel und Halleranger und Praxmarerkarspitze) und im Brantlspitze eine der einsamsten Gegenden Auferstanden aus einem alten Meer Hauptkamm (zwischen Grubenkarspitze und Lali- des Gebirges (oben). Erdzeitlich gesehen ist das Karwendelgebirge mit dererspitze) am deutlichsten. Die Bruchkanten Unten: Das Falzthurntal einem Alter von rund 230 Millionen Jahren noch der Auffaltung bilden hier nordseitig senkrechte, leuchtet nach einem recht jung. Flüsse transportierten riesige Mengen bis zu 800 Meter hohe Wände. sommerlichen Gewitter. von Schlamm in das alte Mittelmeer „Tethys“, das Die letzte dramatische Veränderung erfuhr das Über der Gramaialm erhebt sich das Sonnjoch. sich damals vom heutigen Atlantik bis zum Pazifi- Karwendel in der Hocheiszeit. Der mächtige Inn- schen Ozean erstreckte. Die oberen Schichten üb- talgletscher umfloss die Karwendelketten bis in ten über Jahrmillionen Druck auf die unteren eine Höhe von 2200 Metern. Die Ausläufer Schichten aus und bewirkten damit eine Um- schwappten über niedrige Jöcher wie das Lafat- wandlung in festes Gestein. In der geologischen scher Joch in die innersten Gebirgsregionen, wo Neuzeit – vor 150 Millionen Jahren – wurden die sie die großen Kare ausfrästen. Auf den Gipfeln übereinanderliegenden, drei bis vier Kilometer selbst kam es zu einer Eigenvergletscherung, de- mächtigen Schichten durch den gewaltigen ren Reste noch bis ins 20. Jahrhundert an den Druck der afrikanischen Platte verbogen, zusam- schattigen Nordrinnen der Eiskarlspitze, den so- men- und übereinandergeschoben und anschlie- genannten „Eiskarln“, sichtbar waren. Den Eiszei- ßend gehoben. Dabei entstanden die vier Haupt- ten verdanken wir auch die terrassenförmigen ketten: vier riesige, in West-Ost-Richtung verlau- Flussaufschüttungen oberhalb des Inntals.

BergWelten | 13 14 | BergWelten Gewitterstimmung vom Die 1500 Meter mächtige Kalkbank ist verant- nächst nur Wald um sich, bis sich plötzlich, wie aus Gipfel der Lackenkar- wortlich für die spärliche Vegetation und die dün- dem Nichts, der Blick ins paradiesisch anmutende spitze. Glutrot leuchten ne Besiedlung, denn diese Kalkschicht kann das Karwendeltal auftut und die Augen über die voll- die Felsen der Grabenkar- spitze und der Östlichen Niederschlagswasser nicht halten. Es versickert in kommen einsame und unberührt wirkende Land- Karwendelspitze im Licht tiefen Spalten, und der Fels trocknet sofort wieder schaft am Fuß des markanten Hohen Gleiersch der aufgehenden Sonne, aus. Glücklicherweise kam oberhalb von Inns- wandern. Obwohl ich diesen Blick sicher Tausende während von Westen rasend schnell die bruck eine Schicht von alpinem Buntsandstein zu Male genossen habe, überrascht er mich immer Gewitterfront heranzieht. liegen. Diese wasserundurchlässigen Tonschich- wieder. Ebenso ist für mich auf diesem Weg der ten sammeln das im Berg versickerte Wasser und Abstecher zum Wasserfall am Karwendelsteg ein liefern erstklassiges Trinkwasser für die Ortschaf- absolutes Muss. Kaum fünf Minuten von der Forst- ten des Inntals von Zirl bis Jenbach. straße entfernt, steht man an einem magischen Wer sich für den geologischen Aufbau interes- Platz: In fünf kleinen Fallstufen rauscht das kristall- siert, wird überall im Karwendel Besonderheiten klare Wasser in türkisgrün schimmernde Gumpen entdecken. Augenscheinlich ist die gelbbraune, und donnert dann in eine 30 Meter hohe, nur we- brüchige Reichenhaller Schicht mit seltsamen Tür- nige Meter breite Schlucht. men, Pilzköpfen und Höhlen, die im Halltal, am Wer Mitte Juli zum Karwendelhaus unterwegs Sonnjoch, im Rossloch und unterhalb des Bärn- ist, wird am Hochalmsattel von einem der schöns- alpls zutage tritt. Trotz der geringen Mächtigkeit ten Blumenteppiche des Karwendels überrascht prägt auch die Raibler Schicht das Landschafts- – hier stehen Tausende von Enzian, Silberwurz bild auffallend: Aufgrund ihrer schnellen Verwitte- und vielen anderen Blumen dicht nebeneinander rung bleiben bei senkrechter Lagerung die härte- in schönster Blütenpracht. Das Karwendelhaus, ren Kalkplatten wie Mauern stehen, was an den das wie ein Adlerhorst an den Felsen klebt, bietet Schichttafeln der Speckkarspitze bestens zu be- willkommene Rast. Am nächsten Tag taucht man obachten ist. Flach gelagerte Raibler Schichten ein in eines der Kernstücke des Karwendels: den hingegen sammeln das Wasser und bilden so die Kleinen Ahornboden. Beim Weiterweg, vorbei an Voraussetzung für herrliche Almen und Zirbenbe- der originellen Hütte der Ladizalm, wird der Blick stände wie am Halleranger und an den Hochbö- immer eindrucksvoller: Die Nordwand der Lalide- den unter der Gleierschkette (Hinterödalm). rerspitze, einer der größten Kalkmauern der Ostal- pen, erhebt sich in ihrer ganzen Ernsthaftigkeit Der klassische Karwendelmarsch über der Falkenhütte. Die dritte und letzte Tages- Der altbekannte Klassiker von Scharnitz nach Per- etappe beginnt eindrucksvoll mit der Querung tisau zählt zu den schönsten und bekanntesten entlang der düsteren Nordwände. Der Abstieg auf Gebietsdurchquerungen der Ostalpen. Früher den Großen Ahornboden in den Rummel der Eng galt es als selbstverständlich, dass man für diese kann unter Umständen ernüchternd sein. Der as- Durchquerung drei Tage lang unterwegs war. phaltierte, brettebene und gerade mal 600 Meter Heute ist der Karwendelmarsch ein beliebtes Out- kurze Wanderweg vom Alpengasthof zu den Häu- door-Event, das seit 2009 von der Olympiaregion sern der Engalm ist das Ausflugsziel zahlloser Bus- und vom TVB Achensee veranstaltet wird. Der Eil- touristen. Zeit für die Schönheit des Großen marsch – an diesem Tag wird eine Strecke von 52 Ahornbodens sollte man sich lieber an einem an- Kilometern und immerhin 2280 Höhenmetern zu- deren Tag nehmen. Über die Binsalm und den rückgelegt – erfreut sich steigender Beliebtheit, Gramaihochleger geht es weiter ins Falzthurntal wobei die Teilnehmerzahl auf 2500 beschränkt ist. und hinaus nach Pertisau am Achensee. Die derzeitige Bestzeit legte 2014 Thomas Bosnjak vor – er schaffte die Strecke in sensationellen Zu den Quellbächen der Isar 4.19.05 Stunden. Wer es langsamer angeht, be- Von Scharnitz aus führt der Forstweg lang und kommt anhand dieser Durchquerung einen wun- flach ins traumhaft schöne Hinterautal. Schnell derbaren Eindruck von dem, was das Karwendel fällt einem als Vergleich dazu das Yosemite Valley ausmacht. Von Scharnitz aus geht es auf einem in Kalifornien oder der Name „Kleinkanada“ ein. Forstweg Richtung Karwendelhaus. Man hat zu- Das Tal ist so malerisch und ursprünglich, dass

BergWelten | 15 Blick in die urtümliche Märchenlandschaft des Hinterautals. man es sich besser kaum vorstellen kann. Die Isar – sozusagen die „Quelle der Quellen“, die Ur- Rechts: Fast wie im meiste Zeit führt der Fahrweg direkt entlang der quelle der Isar. So ist es auch offiziell im Tiroler Regenwald – alter türkisgrünen Isar. Beim eingezäunten „Isar-Ur- Wasserbuch verzeichnet. Jedem, der in diese Ge- Ahornbaum am Kleinen sprung“ lohnt es sich, einige der Wasseraustritte gend kommt, kann ich nur empfehlen, einen zu- Ahornboden. der Isar, die hier direkt aus dem Berg sprudeln, in sätzlichen Tag an einem der für mich schönsten einem kleinen Spaziergang zu erkunden. Von der Plätze der Welt zu bleiben! Kastenalm führt der Fahrweg steil bergauf und Als Weiterweg vom Halleranger bieten sich mündet in ein wunderschönes Hochtal. Entlang drei Möglichkeiten. Die kürzeste führt über das von herrlichen Almwiesen, direkt unter den ein- Lafatscher Joch hinüber ins Halltal. Schöner ist es, drucksvollsten Steilwänden der zweiten Karwen- diesen Übergang mit dem aussichtsreichen Weg delkette, spaziert man ins Herzstück des Karwen- über die Bettelwurfhütte zu verbinden. Der zwei- dels, den Halleranger. te, ebenfalls beliebte Weiterweg führt vom Haller- Zwischen den beiden Unterkunftsmöglichkei- anger über den „Wilde-Bande-Steig“ Richtung ten Hallerangerhaus und Hallerangeralm liegt in Stempeljoch. Von dort gelangt man problemlos einer Senke der höchstgelegene Quellaustritt der zur schön in einem Kessel gelegenen Pfeishütte.

Die Lebenswelt im Alpenpark Karwendel oder warum Ödön von Horváth falsch lag

Das Karwendel ist ein mächtiger Gebirgsstock, und seine herrlichen Hoch- der bis zu sechzehn Steinadler-Brutpaare durchaus mit Flugverkehr zu täler zählen unstreitbar zu den ödesten Gebieten der Alpen. Von brüchigen rechnen. In harten naturkundlichen Zahlen: 1305 Pflanzenarten und Graten ziehen grandiose Geröllhalden meist bis auf die Talsohle hinab und über 3000 Tierarten wurden bisher nachgewiesen. Tendenz steigend. treffen sich dort mit dem Schutt von der anderen Seite. Dabei gibt‘s fast Von „einem der ödesten Gebiete der Alpen“ kann also keineswegs die nirgends Wasser und also kaum was Lebendiges. Rede sein. Mit diesen Worten hat Ödön von Horváth in seinem Roman „Der ewi- Seit 1928 ist das Karwendel unter Schutz. Stand bis in die 1970er-Jahre ge Spießer“ (1930) das Karwendel sehr pointiert charakterisiert. Er vor allem der juristische Vollzug der Verordnung zum Schutz ausge- ahnte vermutlich nicht, wie falsch er damit lag. wählter Tiere und Pflanzen im Vordergrund, so haben in den letzten Mit 340 Quellen von ausgezeichneter Wasserqualität verfügt dieser dreißig Jahren alternative Ansätze zum Erhalt der gesamten Artenviel- Gebirgsstock über einen sprichwörtlichen Wasserschatz, der mit den falt und natürlicher Prozesse an Bedeutung gewonnen. Mühlauer Quellen auch wesentlich die Stadt Innsbruck versorgt. Der Parallel dazu hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass dies nur in ei- Fluss der Münchner, die Isar, hat hier ihren Ursprung. ner intensiven Zusammenarbeit mit den regionalen Akteuren erfolg- Die Wälder leisten mit ihrer Spechtfauna einen wesentlichen Beitrag versprechend ist. zum europäischen Naturerbe und auf den 101 Almen verbringen Eine logische Konsequenz daraus war die Gründung des größten Na- mehr als 8000 Kühe ihren Sommer. In den Gipfelregionen ist aufgrund turparks Österreichs, welcher nicht nur alle Karwendelgemeinden,

16 | BergWelten Ein besonders idyllischer Winkel: die kleine Von dort bieten sich dann abermals zwei Möglich- Eine der Königsetappen der gesamten Route Hochalm des Lafatscher keiten: entweder über den Goethe- bzw. Her- führt vom Karwendelhaus zum Hallerangerhaus, Niederlegers. mann-Buhl-Gedächtnisweg aussichtsreich hinü- vorzugsweise über den Gipfel der Birkkarspitze Links: Am Isar-Ursprung ber zum Hafelekar und mit der Seilbahn hinunter oder zumindest über den Schlauchkarsattel. Nicht sprudeln überall kleine Bäche aus dem Wald- nach Innsbruck oder durch das Samertal hinunter selten kommen hier Wanderer an ihre körper- boden. zur Möslalm und von dort zurück nach Scharnitz. lichen Grenzen: Erst 1000 Höhenmeter im Auf- Die dritte Abstiegsmöglichkeit vom Halleranger stieg, dann 1500 Höhenmeter im Abstieg zur Kas- führt durch das urige Vomper Loch tief hinunter tenalm und schließlich nochmals 500 Höhen- ins Inntal. Diese einsame und weite Etappe, die meter Aufstieg zum Halleranger, das ist ein Tages- man am besten nur in dieser Gehrichtung durch- pensum, das nicht viele gewohnt sind. führt, sollte nicht unterschätzt werden. Ein weiteres Highlight in Sachen Karwendel- Durchquerung ist sicher der Anstieg von Schar- Karwendel-Kreuzfahrten nitz durch die wilde Gleierschklamm entlang des Durch die Gleiersch- Seit einigen Jahren erfreut sich der Weitwander- alten Triftsteigs hinauf zu den großen Wiesen der klamm führt ein alter weg München – Venedig steigender Beliebtheit. Möslalm. Dort kann man sich mit Almprodukten Triftsteig.

sondern auch die Tourismusverbände, Land- und Forstwirtschaft so- wie die Alpinverbände integriert. So vielfältig wie das Karwendel selbst ist auch die Palette an Aufga- ben, die der Naturpark wahrnimmt. Zusehends gewinnt dabei die Einbindung der Freizeitnutzer an Bedeutung. Dem tragen wir mit un- serer Freiwilligen-Plattform TEAM KARWENDEL Rechnung. Damit schließt sich für uns der Kreis: Der Alpinist gestaltet hier die Kultur- landschaft aktiv mit und übernimmt in bisher unbekannter Form Ver- antwortung für seine Umgebung. „Ich möchte dem Karwendel was zurückgeben“ – diesen Satz hören wir häufig von unseren Teilnehmern. Ein schöner Gedanke. Hermann Sonntag ist Biologe und seit 2008 Geschäftsführer des Na- turparks Karwendel Weitere Informationen unter www.karwendel.org

BergWelten | 17 stärken, bevor es durch das romantische Samertal im Schlauchkar quert man unter der wuchtigen weiter zur schön gelegenen Pfeishütte geht. Wer Nordwand hinaus auf den Gratrücken, von dem trittsicher ist und es luftig und aussichtsreich liebt, man ins Marxenkar abzweigt. Spätestens da erlebt startet in Seefeld bzw. am Seefelder Joch, wandert man Karwendel pur: ein einsames, abgeschiede- auf dem Freiungen-Höhenweg zum nes Hochkar mit herrlichen Grasböden und Blu- und anderntags weiter zu Möslalm und Pfeishüt- men. Nach dem steinigen Aufstieg zur Seekar- te. Von dort geht es, wie beim Halleranger be- scharte lohnt sich der Abstecher auf die formschö- schrieben, übers Hafelekar zurück nach Innsbruck ne Pyramide der Seekarspitze. Auf der Südseite oder durch das Samertal nach Scharnitz hinaus. wechselt nun schlagartig das Erscheinungsbild: Der Weg wird steinig und karstartig. Besonders an Ein alpiner Höhenweg der Extraklasse stillen Herbsttagen schluckt hier die Hitze jeden Der Scharnitzer Toni Gaugg, genannt „Pleisen- Ton. Wer nicht genug Wasser dabei hat, wird spä- Toni“, war ein richtiges Urgestein, der im Karwen- testens in den Latschengürteln richtig durstig del seine Heimat und seine Leidenschaft sah. werden – und Wasser gibt es hier keines mehr. Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft Auf der Pleisenhütte ist mittlerweile Siggi erfüllte er sich mit der Errichtung der Pleisenhütte Gaugg in die Fußstapfen seines Vaters getreten: Unten links: Blick auf die im Jahr 1953 seinen Lebenstraum. Als hervorra- als ganz eigenständiges Original und jemand, der Kastenalm im Hinterau- tal, einem beliebten gender Gebietskenner erschloss er den Verbin- seine Leidenschaft Berg gern mit anderen teilt. MTB-Ziel. dungsweg vom Karwendelhaus herüber zu „sei- Unten rechts: Nach dem ner“ Pleisenhütte. Der Toni-Gaugg-Weg ist so Höhenweg mit Aussichtsgarantie ebenen Talboden der ziemlich die intensivste und typischste Tagestour, Den Mittenwalder Höhenweg als richtigen Klet- Angeralm im Karwendel- die man im Karwendel machen kann. tersteig zu bezeichen, erscheint angesichts der tal steht der steile Anstieg zum Karwendel- Der Weg folgt vom Karwendelhaus zunächst heutigen Definition von Klettersteig beinahe haus bevor. dem Brendelsteig. Vorbei an den grünen Böden übertrieben. Breite Eisenleitern und Bretter ent-

Mit dem Mountainbike im Karwendel Die flachen und langen Täler sowie die über Forststraßen erreichba- als Bike & Hike-Tour gestalten. Überall im Karwendel gibt es beliebte ren Almen und Sättel, wie etwa der Hochalmsattel, machen das Kar- Kurzstrecken hinauf auf bewirtschaftete Almen wie etwa die Mösl- wendel zu einem weithin beliebten Mountainbike-Eldorado. Die alm, die Walderalm und natürlich den Dauerklassiker, die Höttinger bekannteste MTB-Tour führt durch das Karwendeltal zum Karwen- Alm. Auch die Hüttenwege zur Brunnstein- oder Magdeburger Hüt- delhaus, über den Kleinen Ahornboden nach Hinterriß, von dort te stehen bei den einheimischen Bikern als Feierabendziel hoch im noch einmal anstrengend hinauf zur Fereinalm, hinunter nach Mit- Kurs. Mittlerweile ist selbst der Hüttenanstieg zur Pfeishütte wesent- tenwald und zurück zum Ausgangspunkt in Scharnitz. lich besser zu befahren als in früheren Jahren. So sind mit Mountain- Ein weiterer Klassiker ist der Ausflug durch das Hinterautal zur Kas- bike oder Pedelec viele der längeren Karwendelanstiege auch als tenalm. Der weitere Aufstieg zum Halleranger lässt sich damit ideal Tagestouren möglich.

18 | BergWelten lang ausgesetzter Passagen erleichtern das Fort- tischen Wandgürtel im Bereich des Bettelwurfs kommen. Was aber ohne Zweifel feststeht: Dieser erschließt und eine wunderbare Möglichkeit bie- Höhenweg sucht seinesgleichen, wenn es darum tet, auf die Bettelwurfhütte aufzusteigen. Trotz geht, mit wenig Aufwand, in leichtem Auf und Ab der exakten Zeit- und Schwierigkeitsangabe an einer Bergkette entlangzupromenieren. Die kommt es immer wieder vor, dass Begeher über- Auffahrt mit der Karwendelbahn von Mittenwald fordert sind angesichts der Länge und der hohen aus spart gut 1300 Höhenmeter, und nach kurzem Temperaturen, die herrschen, wenn die Sonne Aufstieg zum Pasamisattel und der Nördlichen gnadenlos in diese Südflanke brennt. Am Ausstieg Linderspitze kommt man vor lauter Aus- und des Klettersteigs – von dem es immerhin noch Fernsicht nicht vom Fleck vor lauter Schauen. Ost- eine Stunde hinauf zur Bettelwurfhütte ist – hat wärts zeigt sich einer der besten Überblicke über der Hüttenwirt vorsichtshalber ein Depot an Was- das Karwendel, im Süden grüßen die hohen Berge serflaschen angelegt, das gern in Anspruch ge- der Stubaier Berge und im Westen ist der Gebirgs- nommen wird. stock des Wettersteins der Begleiter während der gesamten Tour. Im Gedenken an den Kaiser Der Kaiser-Max-Klettersteig zählt zu den ältesten Wunderbar und sinnvoll angelegt Eisenwegen in Tirol. Nur wenige Gehminuten sind Eine weitere Panoramatour der Extraklasse, direkt es vom Parkplatz am Fuß der Martinswand bis über den Dächern von Innsbruck, bietet der wun- zum Einstieg. Kein Wunder, dass der „Kaiser Max“ derbar und sinnvoll angelegte Innsbrucker Klet- überaus beliebt ist und vor allem von den Einhei- tersteig. Der schwierigste Abschnitt befindet sich mischen als Trainingsstrecke oder Feierabend- gleich am Einstiegswandl. Wer das gut schafft, hat Ausflugsziel genützt wird. Dementsprechend ab- zumindest das klettertechnische Können für den geschmiert sind heute schon die Tritte. Man er- weiteren Verlauf. Was nicht unterschätzt werden kennt sofort die eingefleischten Dauergeher, die darf, ist die Länge des Steigs. jeden Schritt kennen und den „Kaiser Max“ hinauf- Während der Auffahrt mit der Nordkettenbahn und auch wieder hinunterrennen. Aus irgendei- aufs Hafelekar erscheint die Strecke zunächst rela- nem irrationalen Grund meinen einige dieser Spe- tiv kurz und man wundert sich dann, wenn man zialisten, dass sie an „ihrem“ Klettersteig ohne im ständigen Auf und Ab gar nicht so schnell wei- Sicherung und ohne Helm unterwegs sein kön- terkommt, wie man zunächst vermutet hat. Das nen, dabei herrscht in einigen Passagen perma- liegt auch daran, dass man immer wieder an ei- nente Steigschlaggefahr, besonders bei starkem nem Gipfelkreuz vorbeikommt, wo es sich lohnt, Föhn. Dann sollte man den Klettersteig auf jeden kurz Rast zu machen und in aller Ruhe die Ausbli- Fall meiden. cke zu genießen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Nach Süden schaut man 2000 Höhen- Aussichtsgipfel in Seilbahnnähe meter tiefer quasi ins Wohn- oder Arbeitszimmer Fährt man mit der Karwendelbahn von Mitten- der Innsbrucker, auf der Nordseite verliert sich der wald steil und ausgesetzt empor, landet man un- Blick in öden Karen und wandert weiter auf die verhofft in der flachen Karwendelgrube. Die meis- Gipfel der Gleierschkette. ten Bahngäste wandern von hier hinauf zum Pasa- Beste Aussichtslage: die Wer hier hinunterschaut und meint, dass er misattel und auf breitem Weg weiter zur Nördli- Reither Spitze (oben). nun eine Vorstellung vom „echten“ Karwendel chen Linderspitze. Der erklärte Traumberg in Luftiger Klassiker: der hätte, täuscht sich – um dieses wirklich zu erleben, greifbarer Nähe ist aber die Westliche Karwendel- Kaiser-Max-Klettersteig (Mitte). muss man schon tiefer hineingehen in das Kar- spitze (2385 m). Der felsige Klotz mit dem schö- wendelgebirge! nen Gipfelkreuz lockt schon beim Verlassen der Schwer und spektakulär: der Absamer Klettersteig Seilbahn. Die schwierigeren Passagen des Auf- (unten). Klettersteig mit Durststrecken stiegs sind mit Drahtseilen versichert, wobei sich Der Absamer Klettersteig – derzeit der anspruchs- der letzte kleine Aufschwung zum Gipfel für so vollste im Karwendel – ist ein attraktiver und sinn- manchen Halbschuhtouristen zum wahren voll geplanter Klettersteig, der einen wild-roman- „Kreuzgang“ entwickelt … Der Gipfel ist felsig,

BergWelten | 19 Im Aufstieg zur Birkkar- spitze eröffnet sich ein fantastisches Panorama. richtig spitz und bietet großartige Eindrücke. Tief seitigen Weiterweg – zunächst kurz durch einen Hier der Blick nach Süden stürzen direkt vom Gipfel die Felsen ins Kirchlkar Latschengürtel – sollte man jedoch nicht zu spät Richtung Alpenhaupt- kamm. und weiter hinunter in das enge Karwendeltal. am Tag unterwegs sein. Über einen Gratrücken, an Darüber liegen die steilen Nordabstürze des Kar- dem meist ein angenehmes Lüftchen weht, er- Rechts: Über grasige Rücken steigt man von wendel-Hauptkammes: ganz karwendel-klassisch reicht man schließlich auf einem guten Steig ei- Süden auf den Gipfel der der Latschengürtel, weiter oben die einsamen nen der herrlichsten Aussichtsberge des Gebiets. Erlspitze. Dahinter liegen Hochkare mit den fahlen Schutthängen und darü- Der Hohe Gleiersch ist einer der formschöns- die Gipfel der Inntalkette mit dem Großen und ber die schrofigen Wände und die kleinen Gipfel- ten Berge im Karwendel und ebenso ein herrlicher Kleinen Solstein. erhebungen. In weiter Ferne liegen die schneebe- Aussichtsberg. Der Aufstieg über die Möslalm deckten Berge der Zillertaler und Stubaier Alpen, bzw. die „Amtssäge“ ist ein Klassiker. Der Weg im Westen öffnet sich der herrliche Panoramablick führt zunächst in flachen Serpentinen gemütlich auf das gesamte Wetterstein. durch den Wald, dann weiter durch Latschen bis Ebenso aussichtsreich ist der Aufstieg zur See- kurz vor den Gipfel. Erst hier wird der Weg steil felder Spitze (2220 m) ab der Gipfelstation der und etwas schotterig. Bergbahnen Rosshütte in Seefeld. Ein bestens prä- parierter Steig führt entlang des Gratrückens auf Die höchsten Gipfelziele den Gipfel, der ein wunderbares 360-Grad-Pano- Die Birkkarspitze (2749 m) ist für jeden Bergstei- rama bietet. Noch schöner und etwas anspruchs- ger zu Recht das Traumziel im Karwendel, bietet voller ist die Besteigung der nahen Reither Spitze der zentral gelegene, höchste Gipfel des Gebirges (2373 m). Einige steilere Passagen sind seilversi- doch auch die beste Aussicht. Ideal ist die Bestei- chert, der Einstieg in die schrofige Gipfelflanke gung in Verbindung mit einer Mountainbiketour erfolgt über eine Eisenleiter. Der aussichtsreiche durchs Karwendeltal und Übernachtung auf dem Gipfel ist der westliche Eckpfeiler des Karwendels, Karwendelhaus. Gleich nach der Hütte wartet dementsprechend fällt der Blick nach Süden na- eine der schwierigeren Stellen des Aufstiegs: Der hezu 2000 Höhenmeter ins Inntal hinab. teilweise mit Drahtseilen versicherte Steig führt über abschüssige Platten über die erste Steilstufe. Gipfelziele im Westlichen Karwendel Im Schlauchkar zieht der Weg dann in angeneh- Die Pleisenspitze (2567 m) ist, vor allem dank der mer Steigung in Serpentinen durch das Schuttkar auf halber Strecke gelegenen Pleisenhütte und hinauf in die Scharte am Hauptkamm und führt dem Hüttenwirt Siggi, wahrscheinlich der belieb- hinüber zum kleinen Notunterstand, dem Birkkar- teste Berg im westlichen Karwendel. Auf einem hüttl. Hier darf man sich vom Weiterweg zum Gip- schattigen Waldweg geht es von Scharnitz be- fel nicht abschrecken lassen: Die ersten, mit einem quem in zwei Stunden bis zur Hütte. Für den süd- Drahtseil versicherten Meter ab der Scharte sind

20 | BergWelten Der Gipfel des Sonnjochs ist einer der besten die steilsten und anspruchsvollsten. Über Bänder Anstieg von der Neuen Magdeburger Hütte aus Aussichtsgipfel im und einige steilere Felsstufen, die abermals mit etwas mühsamer ist. Anspruchsvoller ist der teil- östlichen Teil des Gebirges. Tief unten der Drahtseilen versichert sind, kommt man jedoch weise ausgesetzte Aufstieg auf den höheren Klei- Achensee. leichter als erwartet auf den höchsten Punkt des nen Solstein. Die schwierigen Passagen sind zwar Links: Die Überschreitung Karwendels. Beachten sollte man allerdings, dass gut mit Drahtseilen versichert, die Ausgesetztheit vom Großen zum Kleinen im Frühjahr in den Steilflanken der Nordseite sehr über den senkrechten Wandabbrüchen bleibt Bettelwurf gehört zu den lange Schnee liegen kann. aber eindrucksvoll. eindrucksvollsten und aussichtsreichsten Auf erfahrene Bergsteiger wartet mit der Über- Die Vordere Brandjochspitze (2558 m) ist einer Unternehmungen im schreitung der nahen Ödkarspitzen (Mittelgipfel, der beliebtesten Hausberge der Innsbrucker. Am Karwendel. 2743 m) auf dem Brendelsteig ein wahrhaft uriges besten fährt man mit der Nordkettenbahn auf die Karwendelunternehmen. Logistisch gesehen ist Seegrube und steigt über den teils schwierigen es sinnvoller, gleich aus dem Schlauchkar nach und ausgesetzten Steig zum Frau-Hitt-Sattel em- Westen zu queren und die Gipfel von West nach por. Von dort führt der wunderbare, mit einigen Ost zu überschreiten, denn so findet man den Seilversicherungen versehene Ostgrat zum aus- schwach ausgetretenen und mäßig markierten sichtsreichen Gipfel. Südseitig liegt einem Inns- Weg besser! Veraltete, dünne und teils schlecht bruck direkt zu Füßen, nordseitig schaut man ins verankerte Drahtseilstücke bieten in den steileren menschenleere Karwendel. Passagen zumindest eine Orientierungshilfe. Auf der teils ausgesetzten Gratschneide werden alle Die Riesen über dem Halltal drei Gipfel überschritten. Das Gelände ist schotte- Vom Inntal aus betrachtet, erinnern die Bettelwür- rig, ausgesetzt und kann mehr Zeit in Anspruch fe beinahe an einen Himalaya-Riesen: Mächtige nehmen, als mancher denkt. Bei zweifelhaftem Wände stürzen 1600 Meter tief ins Tal! Diese Berge Wetter sollte man von einer Überschreitung abse- zählen sicher zu den markantesten Gipfeln in Tirol hen, denn von den Gipfelgraten kann man nicht und ihre Besteigung zu den großartigsten Berg- ausweichen. Erst vor wenigen Jahren sind hier touren im Karwendel. Schon allein für den Auf- Bergsteiger vom Blitz erschlagen worden. stieg zur Bettelwurfhütte stehen mehrere attrakti- ve Optionen zur Wahl: Der klassische Aufstieg Klassiker in der Inntalkette durch die Gamsgufel bildet ein urig-steiniges Un- Der Große (2540 m) und der Kleine Solstein ternehmen, der Zustieg vom Lafatscher Joch ver- (2637 m) sind die mächtigsten Berge in der Nord- läuft auf einem herrlichen Panoramaweg, und der kette und große, aussichtsreiche Gipfelziele, die Aufstieg über den Absamer Klettersteig ist eine man am besten vom Solsteinhaus oder von der Klasse für sich. Eine Übernachtung auf der Hütte Neuen Magdeburger Hütte aus angeht, wobei der sollte man allein schon wegen der herrlichen Lage

BergWelten | 21 terschätzende Überschreitung vom Kleinen zum Großen Bettelwurf. Der gesamte Anstieg ist voll- kommen südseitig exponiert und kann zur richti- gen Durststrecke werden.

Klassiker über dem Falzthurntal Der Zugang vom Achensee durch das Falzthurntal eröffnet den Weg zu zwei der beliebtesten Gipfel des östlichen Karwendels. Der steile Aufstieg zur Sonnjochspitze (2458 m) führt über die oft üppig mit Blumen bedeckten Grashänge des Gramai- Hochlegers und weiter über einen aussichtsrei- chen Grat, wo man so gut wie sicher Gämsen oder Steinböcke zu sehen bekommt. Im Vergleich zur Sonnjochspitze ist der Aufstieg zur Lamsenspitze (2508 m) weit mehr „karwendlerisch“. Enge Ser- pentinen ziehen zunächst zur Lamsenjochhütte empor, ab dort wird der Weiterweg etwas schotte- rig und führt über Schrofen auf diesen beliebten und zentralsten Gipfel in der Achensee-Region.

Gipfel über dem Halleranger Die paradiesisch gelegenen Stützpunkte Haller- angeralm und Hallerangerhaus sind Ausgangs- punkte für mehrere ausgezeichnete Berg- und Gipfeltouren. Die beliebteste Bergtour ist die Speckkarspitze (2621 m) mit ihren eindrucksvol- len Kalkschichten. Zunächst geht es hinauf ins Lafatscher Joch. Im weiteren Verlauf auf dem gu- ten Weg über den Nordwestkamm sind die schwierigeren Passagen mit Drahtseilen versi- chert. Ebenfalls über das Lafatscher Joch erreich- bar, aber viel abgelegener ist der Gipfel des Klei- nen Lafatschers (2635 m). Die wenigen Stein- männchen und Trittspuren zeigen, dass hier eine andere Musik spielt. Der Kleine Lafatscher ist eine ernstzunehmende Tour mit felsigen Passagen, aber auf jeden Fall lohnenswert!

Ur-Karwendel über der Pfeishütte Von keiner anderen Hütte im Karwendel kann man ringsherum so leicht so viele Gipfel bestei- Lamsenhütte und Lamsenspitze (oben). gen wie von der Pfeishütte: im Süden die Rumer In den kleinen Lacken am einplanen. Der Aufstieg zum Großen Bettelwurf Spitze (2453 m) und das Gleierschtaler Brandjoch Überschalljoch spiegelt (2725 m) über den Eisengatterweg ist ein belieb- (2374 m) über seilversicherte Steige; als Hütten- sich die Gleierschkette ter Klassiker und gut mit Drahtseilen versichert. berg kann man die Stempeljochspitze (2543 m) (Mitte). Für den Aufstieg zum Kleinen Bettelwurf (2649 m) bezeichnen. Kapelle auf der Halleran- geralm, darüber der benötigt man eine Klettersteigausrüstung. Sehr Die interessantesten Gipfelziele liegen jedoch Kleine Lafatscher (unten). lohnend und empfehlenswert ist die nicht zu un- in der einsamen Gleierschkette – von der sonni-

22 | BergWelten Ein neuer Tag beginnt: Sonnenaufgang über den gen Hüttenterrasse aus lohnt sich also ein Blick in Berge im „Hintersten Loch“ Gipfeln der Gleiersch- die andere Richtung! Über ein schönes, grasiges Dreizinkenspitze (2602 m) und Grubenkarspitze kette, gesehen vom Gipfel der Speckkar- Hochkar kommt man leicht an den Fuß der felsi- (2661 m) sind zwei Touren für Karwendelliebha- spitze. gen Wand der Hinteren Bachofenspitze (2668 m). ber und -experten! Zunächst geht es, am besten Bestens markiert und an der entscheidenden Stel- mit dem Bike, durch das Hinterautal und an der le gut mit Stiften gesichert, führt der Weg letztlich Kastenalm vorbei auf einsamen Wegen weiter in leichter als erwartet über Bänder und felsige Stu- das urige Rossloch. Nahezu senkrecht steigen hier fen auf diesen aussichtsreichen Gipfel. zu beiden Seiten die Wände empor. Im hintersten Der Aufstieg auf die Kaskarspitze (2580 m) Winkel führt der Weg steil in Richtung Rosskar. zeigt ganz ähnlichen Charakter, er ist nur etwas Hier kommt man an einem Quellbach vorbei – die weiter und im schrofigen Gipfelbereich an- letzte Wasserstelle! spruchsvoller und stärker ausgesetzt. Die beiden Das Rosskar ist ein weites und sehr einsames Praxmarerkarspitzen sind urige und typische Kar- Hochkar, in dem man sich leicht verlaufen kann. wendelgipfel. Der Zustieg über felsige Bänder Der Weg ist mäßig markiert und verliert sich im- führt in ein abgelegenes Hochkar. Von hier geht es mer wieder. Im felsigen Gipfelaufbau der Dreizin- durch steile, ausgesetzte Schrofen, in denen sich kenspitze erleichtern Eisenstifte den Aufstieg. nur teilweise Trittspuren befinden, hinauf in eine Noch uriger und etwas schwieriger ist der Auf- felsige Rinne und weiter zum Grat. stieg über den Südgrat auf die Grubenkarspitze. Der schrofendurchsetzte Gipfelaufbau hinauf Der Fels ist hier plattig und trotz der geringen zur Östlichen Praxmarerkarspitze (2636 m) ist brü- Schwierigkeit recht ausgesetzt. Wer es dennoch chig und ausgesetzt. Richtigen „Karwendelbruch“, schafft, erreicht einen der einsamsten Karwendel- allerdings in gutmütiger Form, erlebt man beim gipfel, auf dem für mich persönlich das schönste Weiterweg über die Scharte auf den westlichen Gipfelkreuz steht: ein schlichtes, verwittertes Gipfel (2642 m). Holzkreuz mit einem kleinen Edelweiß aus Metall.

BergWelten | 23 Schatzsuche im Vorkarwendel Erlebnisse in den Bergen links und rechts des Rißbachs >> Joachim Burghardt (Text und Bilder)

Den langen felsigen Hauptketten nördlich vorgelagert, breiten sich zwischen Isar und Achensee die Karwendel-Vorberge aus – ein weites Gebiet voller unspektakulärer, wenig beachteter Graskegel, Latschenkuppen und Waldflanken, aus denen lediglich ein paar bekanntere Spitzen wie der Schafreiter oder die Montscheinspitze hervorstechen. Wer stille Wege und intensive Naturerlebnisse sucht, wird dort das ganze Jahr über reich beschenkt.

24 | BergWelten Wo das Land vor den Bergen am flachsten ist, dort fel von Kaltwasserkarspitze, Birkkarspitze und Öd- bin ich zu Hause. Und aus diesem ebenen Land, karspitze. Genau bis zu ihnen reicht die Fernsicht aus den heimatlichen Weiten des Dachauer Moo- und nicht weiter. ses vor den Toren Münchens, wandert mein Blick Wenn ich sie sehe, werden leuchtende Bilder an vielen Tagen jedes Jahr bergwärts. Über Lich- im Geiste wach: von einem heißen, nicht enden terkolonnen des Berufsverkehrs und den Dunst wollenden Aufstieg zur Kaltwasserkarspitze, der der bayerischen Millionenstadt hinweg, über die sich bis in die Dunkelheit hinzog. Wir richteten uns dampfenden Wiesen eines Junimorgens, durch am Grat knapp unter dem Gipfel notdürftig zur herbstliche Baumreihen spähend oder in der von Nachtruhe und bestaunten aus dem Schlafsack Rosa zu Blau wechselnden Kälte eines Winter- den mattrot leuchtenden Mars über dem Hori- abends: Immer suche ich die unverwechselbare zont. Oder Bilder von einer spontanen Abendtour Zackenlinie der höchsten Karwendelgipfel und auf die Birkkarspitze, die spätnachmittags um fünf finde sie, wenn die Luft klar genug ist, exakt süd- am Parkplatz im Rißbachtal begann, bevor uns lich in 95 Kilometer Entfernung – die felsigen Gip- die unbändige Lust am Bergsteigen und schier unbegrenzter innerer Auftrieb im Eilmarsch bis zum höchsten Karwendelgipfel und wieder zu- rück ins Tal führten. Bilder schließlich auch von der Ödkarspitze, der wir uns in knapp achtstündiger Wanderung von Scharnitz durchs Große Ödkar näherten: Dort fanden wir eine vergessene, ur- tümliche Welt ohne menschliche Spuren vor und konnten staunend erleben, wie es sich anhört, wenn wirklich vollkommene Stille herrscht. Das sind meine großen, meine herausragenden Erin- nerungen vom Wandern und Bergsteigen im Kar- wendel – vordergründig und präsent, so wie die höchsten Gipfel selbst eben auch. Doch wo hohe Gipfel sind, da sind auch Vor- berge, und wo starke Erinnerungen sind, da sind auch andere, die sich nicht immer nach vorne drängen, sondern bewusst aus der Tiefe hervorge- holt und wachgerufen werden wollen, wie die fol- genden neun Erlebnisse aus den Bergen links und rechts des Rißbaches, deren schlichte Schönheit wie ein heimlicher Schatz weit in den Alltag hin- einwirkt.

Winterbergsteigen am Vorderskopf Es ist Dezember. Mit schweren Rucksäcken stap- fen wir vom Rißbach in Richtung Vorderskopf hin- auf, das flache Gipfelplateau des gut 1800 Meter Kurz vor Sonnenunter- hohen Bergs ist unser Ziel. Kein Mensch ist weit gang die letzten Schritte und breit zu sehen, keine Spur in den tiefen zum Gipfel: Es sind Schnee gelegt. Die Fortbewegung geht im Schne- Momente wie dieser hier am Galgenstangenkopf, ckentempo vonstatten, strengt sehr an, kostet an die man sich lang und Zeit und Kraft. Immer wieder bleiben wir stehen, gern zurückerinnert. schauen tief atmend hinüber zum Schafreiter, den Im Hintergrund links das Isartal, rechts mit dem das späte Licht der Nachmittagssonne anstrahlt. markanten hellen Gehen wieder weiter, suchen den Weg. Bleiben Streifen das Grasköpfl.

BergWelten | 25 Abendstimmungen im Karwendel: Im Februar bei wieder stehen, lauschen, überlegen. Und als es rungen auch einen Stein, den ich zuletzt noch – grau-blauer Atmosphäre schließlich dunkel wird, geben wir auf: Wir schaf- im Dunklen und bei minus 19 Grad – als Souvenir und eisigen Tempera- turen von unter fen es heute nicht, haben hier heroben im einsa- aus dem dampfenden Rißbach klaube. Der Bach minus 15 Grad – men, schwarzen Winterwald nichts mehr verloren. ist über zwanzig Grad wärmer als die Luft, dabei und (rechts) im August, Zügig geht’s wieder hinab – so überraschend zü- aber noch mehr als dreißig Grad kälter als ich am Übergang von einem heißen Sommertag zu gig und einfach, dass man sich insgeheim fragt, selbst – eine simple Erkenntnis, die mich faszi- einer milden, hellen ob man nicht doch hätte weitersteigen können. niert. Bis heute stand ich nie auf dem Vorderskopf, Mondnacht. Traurigkeit kommt aber keine auf: Wir haben ein- aber irgendwann werde ich es ein drittes Mal ver- drucksvolle Stunden erlebt und sind eher amü- suchen. siert darüber, den Gipfel eines harmlosen kleinen Bergs nicht erreicht zu haben. Eine gute Lektion! Winterabenteuer auf dem Juifen Ein schöner Gipfelerfolg stand dafür in jungen Noch mehr Kälte am Vorderskopf Jahren auf dem Juifen zu Buche, dem nördlich vor- Jahre später, im Januar. Wieder steht der Vorders- geschobenen Eckpfeiler der Karwendel-Vorberge. kopf auf dem Programm, wieder liegt viel Schnee, Gerade mal achtzehn Jahre alt und in der Bergstei- wieder ist nicht gespurt, wieder sind wir nachmit- gerei reichlich grün hinter den Ohren starteten wir tags und ganz allein am Berg. Der Rucksack ist nachmittags nach Schulschluss und fuhren über leichter als damals, aber der Körper, vor allem vom den Achenpass ein Stück nach Tirol hinein, um Bauch her, schwerer und festtäglich untrainiert; einfach mal den Juifen zu „machen“. Dass an die- zudem herrscht gerade sibirische Kälte. In naivem, sem Märztag möglicherweise die Zeit nicht reich- spätjugendlichem Überschwang stürmen wir los te, dass Nebel am Berg hing und dass nur einer und übersehen den von der Schneedecke gut ver- von uns beiden mit Schneeschuhen ausgestattet borgenen korrekten Wegverlauf – schon finden war, während der andere regelmäßig durch die wir uns hüfttief eingesunken irgendwo im Steil- Schneedecke brach, schien uns kaum zu stören. wald wieder und rätseln über die bestmögliche Wir durchstreiften eine menschenleere, mono- Route. Wieder gehen die Stunden und auch das tone Landschaft, standen an der Rotwandalm Oberschenkelschmalz zur Neige, und es liegt erst kurz vor der Umkehr, sahen aber plötzlich über die halbe Strecke bis zum Gipfel hinter uns, als in uns die Wolken aufreißen und den tiefblauen der eisig-pastellfarbenen Abenddämmerung der Abendhimmel durchleuchten, kämpften uns Entschluss zum Abstieg fällt – lachend machen schließlich über eine Tiefschneeflanke und den wir uns auf den Weg ins Tal. Mit nach Hause neh- Südwestgrat hinauf und wurden belohnt. Lange men wir außer den soeben gesammelten Erinne- nach Sonnenuntergang erreichten wir den höchs-

26 | BergWelten Morgenstimmungen im Karwendel: ten Punkt und schauten in einen Traumabend hin- dort oben einmal bequem zu machen und die Zu Beginn eines sonnigen aus: Unter uns nebelerfüllte Täler, über uns Mond ganze Nacht zu bleiben. Wir stiegen an einem Frühlingstags auf der Soiernspitze (links) – und und Sterne, am Horizont ein violettes Glimmen, Schönwettertag Ende April hinauf, als alles um uns nach einer November- rundherum Tiefe, Stille, Einsamkeit. Danach folgte herum den Frühling signalisierte: hier noch ein nacht auf dem Schaf- der stundenlange, von Krämpfen begleitete Schneefeld, dort erste Blüten, diesige, dampfige reiter. Gipfel und Grate leuchten schon golden, nächtliche Rückweg, eine Gämse erschreckte uns Luft und überraschend milde Temperaturen, dann während im Tal noch mit ihrem unheimlichen heiseren Kreischen, das wieder ein kalter Windstoß. Das ganze Gebirge düstere Kälte herrscht. wir damals noch nicht zu deuten wussten, und schien im Aufbruch, im Umbruch begriffen zu endlich fand der Marsch am geparkten Auto sein sein; was wir erlebten, war nichts Eindeutiges, son- herbeigesehntes Ende. Wie so oft empfanden wir dern ein Übergang. Und sogar die Soiernspitze die größte Euphorie nicht am Gipfel, sondern in selbst zeigte sich weder als typischer kleiner Vor- den Momenten der wohlbehaltenen Rückkehr. Es berg noch als „richtiger“ Karwendelbrocken, son- war eine absurde nächtliche Parkplatzszene: kör- dern als ein Zwischending, das die Vorzüge beider perlich zurück in der Welt der künstlichen Be- – Gras und Fels – in sich vereint. leuchtung, des Asphalts, der unerbittlich rufen- Auf ihrem Gipfel dann, nach zügigem Aufstieg den nächsten Alltagspflicht; im Kopf und mit dem mit schwerem Gepäck, intensive, miteinander Herzen aber noch oben, draußen, frei … Daran, wetteifernde Eindrücke: Müdigkeit, Freude, Hun- dass dieses Glück noch eine Zeit lang vorhielt, ger, vor allem aber eine tiefe, gedämpfte Ruhe. An konnte nicht einmal der Wecker etwas ändern, der Fernsicht war überhaupt nicht zu denken; kaum, uns anderntags nach vier Stunden Schlaf wieder dass wir die direkt gegenüberliegenden Nord- aus dem Bett quälte und zu zehn Schulstunden wände von Wörner und Hochkarspitze im abend- inklusive Sportunterricht rief. Diese Tour zum lichen Dunst erspähen konnten. Die Sonne ver- Juifen war mein allererster Besuch in den Karwen- schwand schließlich hinter einer Wolkenfront, die del-Vorbergen. Nacht brach herein. Später ebbte der Wind ab, es wurde noch stiller. Wir lagen da – satt, behaglich Frühlingsbeginn auf der Soiernspitze und mit allem im Reinen – und sahen, wie der hel- Ganz anders erlebten wir das Gebirge auf der Soi- le Mond mit der milchig-trüben Luft eine Stim- ernspitze: Sie ist mit ihren 2257 Metern höher als mung von eigentümlicher Schönheit schuf. An- die meisten anderen kleineren und vorgelagerten derntags folgte heiteres „Gipfelabräumen“, wie es Karwendelberge, aber immer noch niedrig genug, im Buche steht: Am höchsten Punkt begonnen, um auch im Gipfelbereich Wiesenbewuchs zu er- waren keine langen Aufstiege nötig, um die Rei- lauben. Ein guter Grund, so fanden wir, um es sich ßende Lahnspitz, die Soiernschneid, den Feldern-

BergWelten | 27 zonten spielen: diese eigenartigen Blumen hier vor mir – ich kann sie nicht benennen; aber dort hinten, das ist die Lalidererspitze! Die Reduktion der menschengemachten Din- ge, die beim Aufstieg zu erleben war, geht sogar noch weiter, als ich zum nächsten Gipfel hinüber- quere: Er hat nicht einmal einen Namen. Das heißt, zumindest in manchen Karten ist er unbenannt, und in anderen ist unklar, ob sich der Name „Rether Joch“, der in seiner Nähe steht, auf den Gipfel oder den davor gelegenen Sattel bezieht. Es ist nicht wichtig. Noch ein bisschen streife ich umher und schaue ins weltferne Bächental hinab, bevor ich wieder zum Ausgangspunkt zurückkehre. In Erin- nerung bleiben nicht die monströsen Bauten, die Bagger, die Werbetafeln des Talorts – von ihnen weiß ich nur noch, dass es sie gab, aber nicht mehr, wie sie aussahen –, sondern der grasbewachsene Grat an der Rether Spitze, das Summen der Insek- ten, die Blumen, der frühsommerlich-diesige Blick hinüber zur Karwendel-Hauptkette, die Brenn- kopf, das Feldernkreuz, die Schöttelkarspitze, den nesseln auf dem namenlosen Nebengipfel. Seinskopf, den Signalkopf und den Lausberg nacheinander „einzusackeln“ – eine reiche Ernte, Auf Pfadsuche am Grasköpfl durch die noch vor Mittag der Bergsteigerhunger Ein anderes Mal bin ich am nördlichen Rand des des Tages gestillt war. Karwendelgebirges unterwegs – allein, auf Pfad- suche. In der Karte habe ich eine vielversprechen- Frühsommertag auf der Rether Spitze de, schwarz gestrichelte Route entdeckt, die aus Nun ist es Juni, die Tage sind endlos lang, die Hitze dem Isartal 700 Höhenmeter weit den Berg hin- des jungen Sommers noch ungewohnt heftig, das aufführt; offenbar ein alter, unmarkierter Almpfad, Mittagslicht gleißend und hart – außer, wenn eine über den es weder in der Literatur noch im Inter- dichte Wolkendecke den Himmel verhängt und net Informationen gibt. Touristisch gesehen also einzelne kleine Regentropfen angenehm auf die Niemandsland und, wie sich bei der Begehung freien Hautpartien treffen. So einen entspannen- herausstellt, für findige Bergsteiger ein kleines den grauen Tag habe ich erwischt, als ich mich in Abenteuer: Mehrere Bäche sind ohne Brücke zu Achenkirch auf den Weg zur Rether Spitze im öst- überqueren, der Pfad verschwindet mitunter im lichen Teil der Karwendel-Vorberge mache. Je hö- hohen Gras, über eine abschüssige, felsige Stelle her man auf dieser Tour steigt, umso ungetrübter gilt es konzentriert hinwegzubalancieren, genuss- ist das Naturerlebnis: Zu Beginn wandere ich noch reiche Wegabschnitte wechseln sich mit Passagen über Großparkplätze, vorbei an Hotelkomplexen ab, wo keine Begehungsspuren mehr sichtbar Schön geformt und und Liftanlagen, es folgt der lange Fahrstraßen- sind und nur das Vorhandensein durchgesägter dennoch kaum bekannt: die Rether Spitze (oben). aufstieg zur Gröbenalm, dann kommt ein Wander- Baumstämme verrät, wo vor Jahren einmal ein Eine interessante weg und zuletzt der weglose Südgrat der Rether Weg freigeschnitten wurde. Aufstiegsroute stellt der Spitze, über den ich steil den höchsten Punkt des Zwischendurch drehe ich mich immer wieder Südgrat dar, die Linie zwischen Schatten und Berges erreiche. Weitum ist niemand zu sehen, um und staune über den Tiefblick zur silbrig glit- Licht im linken Bildteil. das zweifelhafte Wetter hat wohl vielen die Lust zernden Isar, die kurz vorm Sylvenstein-Stausee An einem anderen Berg aufs Wandern verdorben. Umso ungestörter kann noch einmal Wildfluss sein darf, bevor sie in das ganz in der Nähe standen diese kleinen Schönhei- ich rasten, lasse Blicke und Aufmerksamkeit zwi- Korsett menschlicher Hochwasserregulierung ein- ten am Wegrand. schen ganz nahen Perspektiven und weiten Hori- treten muss. Das alles im Licht des Spätnachmit-

28 | BergWelten Bei Vorderriß treffen sich die beiden Hauptflüsse tags und in völliger Abgeschiedenheit – ein Tag tokolonnen im Rißbachtal und bunter Wander- des Gebirges: der zum Träumen. Auf guten Wanderwegen eile ich trubel. Die oft gewittrige erste Sommerhälfte geht Rißbach und die Isar, die ab hier gemeinsam im Anschluss noch auf das Grasköpfl, steige süd- über in den klareren, stabileren zweiten Teil; der durchs Geröll mäandern lich hinab zum Wiesenbauern-Hochleger und zuvor weißlich-trübe Himmel zeigt sich öfter in ei- und mit vereinter Kraft komme dann in den seltenen Genuss eines Reit- nem majestätischen Blau, die Tage werden bereits Karwendelsteine in die Welt hinaustrans- weg-Abstiegs, wie er komfortabler nicht sein spürbar kürzer, und wer noch zwei, drei Wochen portieren. könnte. In immer gleichem, sanftem Gefälle ohne weiterdenkt, erahnt schon die Vorboten des Stufen hinab, letzte goldene Sonnenstrahlen, ein Herbsts: erste heimliche Nebelschleier im nächtli- scheues Reh, das mit einem kurzen Rascheln im chen Talgrund und verfärbte Tupfer in der sattgrü- Wald verschwindet … Zuletzt noch vier flache, un- nen Baumkrone. Noch aber herrscht unum- angenehme Straßenkilometer in der Dunkelheit, schränkt der Sommer, die Wildblumen duften, um den Kreis zu schließen, doch die sind nur eine und das Kuhgeläut bildet den freundlichen Hin- Fußnote; bedeutungsvoll und lebendig bleibt in tergrund eines Wandertags im Karwendel. der Erinnerung wie immer zuvorderst das Helle Wir mischen uns ins fröhliche Treiben und und Schöne. Und wenn es nur für einen halben wandern auf den Schafreiter. Er ist neben der Tag war: allein in wilder Natur, aber nicht in Montscheinspitze der eigentliche „König“ der Kar- schrecklicher, sondern in idyllisch-wilder Natur – wendel-Vorberge, eine weithin sichtbare, auffälli- wie heilsam ist das! ge Pyramide – aber noch weit entfernt von der Ernsthaftigkeit wirklich großer Karwendelberge, Wandertrubel am Schafreiter was unter anderem auch die Hinterlassenschaften Im August kommt das Bergjahr zu seinem Höhe- des Weideviehs bis zum höchsten Punkt hinauf punkt: Ferienmonat, heiße Tage, volle Hütten, Au- belegen. Nach dem stillen Aufstieg über die Moo-

BergWelten | 29 Als „Pfadfinder“ unterwegs in den Karwendel-Vorbergen: senalm und das Kälbereck genießen wir am gut Eine Novembernacht am Schafreiter Am grasbewachsenen bevölkerten Gipfel den Rundblick und steigen Und ich muss schmunzeln, wenn ich noch einmal Grat zur Baumgarten- schneid ist die Orientie- dann zur Tölzer Hütte ab, wo wir uns stärken. Bis an den Schafreiter denke. Wie anders lagen die rung einfach, und auch hierhin bereits eine gelungene Tour – doch das Dinge, als ich einmal im November dort hinauf- die markierten Alpen- Tüpferl auf dem i folgt noch in Gestalt von zwei stieg! Es war später Abend und längst völlig dun- vereinswege an der Fleischbank (rechts) kaum bekannten Nebengipfeln des Schafreiters: kel, als ich mich im stillen und menschenleeren lassen kaum Zweifel über Steil steigen wir hinauf auf das Delpsjoch und ge- Rißbachtal zum Aufbruch rüstete. Allein wanderte den weiteren Wegverlauf hen auf einem schmalen Pfad direkt über den Grat ich los, den Schlafsack mit im Gepäck, der Stun- aufkommen. hinüber zum Baumgartenjoch. denzeiger stand kurz vor der Zwölf. Beim Gehen Es ist paradox: Fast in Rufweite des Trubels, nur versuchte ich instinktiv, so leise wie möglich zu einen Steinwurf von Tölzer Hütte und Schafreiter sein, auf keinen Fall wollte ich die Stille des nächt- entfernt, spazieren wir ganz allein durch die hoch- lichen Bergwalds stören. Ich wollte keinerlei Auf- stehenden Wiesen eines kaum bekannten Bergs, merksamkeit erregen, sondern verstohlen wie ein liegen am Gipfel in der Sonne, verdösen im Flie- Tier dort hinaufschleichen. gengesumm die Mittagsstunde. Eben standen wir Es dauerte, bis ich mich daran gewöhnte, nach noch da drüben auf dem vielbesuchten Besucher- der Geborgenheit der eigenen Wohnung, ja noch magnet, nun ist es fast so, als befänden wir uns an des Autos, ohne Schutz und Begleitung in men- einem anderen Tag auf einer anderen Tour. schenferner, fast unheimlicher Natur unterwegs Beim weglosen Abstieg schließlich bahnen wir zu sein. Ich versuchte es mit einem völlig gleich- uns den Weg durch eine Herde aufdringlicher mäßigen Gehrhythmus ganz ohne Pausen – und Schafe, die sich darüber zu wundern scheinen, es gelang. Die bangen Gefühle wurden im wie- Menschen zu sehen. Und auf dem weiteren Weg genden Takt der Schritte und des Atems schwä- ins Tal begleitet uns die Freude darüber, an die- cher, innere Ruhe trat an ihre Stelle. Bei der verlas- sem Augustwochenende nicht nur dort gewesen senen Tölzer Hütte blieb ich ein erstes Mal stehen, zu sein, wo viele waren, sondern einen schönen genoss minutenlang die friedliche Atmosphäre Ort gefunden zu haben, an dem wir ganz unbe- dieser Nacht, schaute stumm in den Sternenhim- helligt, ganz für uns verweilen durften. Den mel hinaus. Und dann die letzte Etappe zum Gip- Schlusspunkt dieser langen Tour bildet ein Bade- fel: Noch einmal galt es, Kräfte zu mobilisieren, stopp an der Isar, den Epilog ein stilvoll genosse- sich zur Konzentration zu ermahnen, um im felsi- ner Eiskaffee in der Altstadt von Bad Tölz. Ein gen Gelände bloß nicht fehlzutreten. prächtiger Tag geht zu Ende, ein prächtiger Som- Kurz vor zwei Uhr morgens stand ich neben mer wird bald dasselbe tun. dem Gipfelkreuz, vollkommen eingetaucht und

30 | BergWelten