Der Zeitungsleser
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22 forum 339 Dossier Der Zeitungsleser Ernährungswissenschaftler sind sich ei- Zeitungsleser legen – und dies haben ganz Tatsächlich entwickelt sich im Laufe der nig: Milchkaffee ist für den menschlichen ernsthafte Studien herausgefunden – ei- Jahre eine magische Identität zwischen Magen nicht geeignet. Kuhmilch entwi- nen hohen Grad an rituellem Verhalten an dem Zeitungsleser, seiner Zeitung und ckelt in der Kombination mit Kaffee eine den Tag. Sie sind meistens mit Zeitungen der Welt. Wenn sich in diesem Dreige- für die Verdauung des Homo sapiens stirn zwei Komponenten (Zeitung und praktisch unüberwindbare, gallertartige Welt) verändern sollten, gerät die dritte Masse. In einer Art Selbstversuch hat Mittlerweile ahnt der Zeitungsleser, (der Leser) aus der Bahn. Die dabei zu sich der Autor während 25 Jahren jeden dass dies nur der Anfang ist. Tage tretenden, ungeheuren Beharrungs- Morgen einen Liter Milch mit starkem Der abendliche Blick über die kräfte erschweren es Zeitungsmachern, Kaffee im Verhältnis 1 zu 1 eingeflößt. Onlineangebote raubt ihm seine einen Wandel im Blatt einzuleiten ohne Die Versuchsanordnung in früher Mor- Neugierde und sein Lesevergnügen gleich die gesamte Leserschaft auszutau- genstunde beinhaltete darüberhinaus das am nächsten Morgen. schen. Heute, wo die Einnahmen aus gleichzeitige Lesen der (in diesem Fall) dem Anzeigengeschäft einbrechen und luxemburgischen Tagespresse. Auch hier die gute alte Tageszeitung sowohl durch sind Experten davon ausgegangen, dass sozialisiert worden oder hatten eine geeig- die Gratispresse als auch von Seiten der vitale Organe in Mitleidenschaft gezogen nete Initiationsphase (depressive Jugend, Onlinemedien unter Druck gerät, ist die werden könnten. Die Feldstudie führte lange Wartezeiten an Bushaltestellen, in Versuchung natürlich groß, gut gemeinte jedoch zu einem überraschenden und be- manchen Fällen ein Studium). Ist das Ritual aber nicht immer genauso durchdachte ruhigenden Ergebnis, das Soziologie und erst einmal etabliert und verläuft das Leben Veränderungen vom Zaun zu brechen. Psychologie längst in anderen Bereichen in geordneten Bahnen, kann so ein Leser bestätigen konnten: der physische und über Jahrzehnte hinweg als treuer Abon- Auch die luxemburgische Presse ist zum psychische Metabolismus des Menschen nent gehalten werden – bis er in eine an- Leidwesen des Zeitungslesers schon Ende (und artverwandter Mäuse und Ratten) dere Stadt zieht, keinen Milchkaffee mehr der 90er Jahre in eine Phase größter Un- gewöhnt sich an nahezu alles! Eine leichte trinkt (wie im vorliegenden Fall) oder die ruhe geraten. Eine Flut neuer Publika- Bewusstseinstrübung war das einzige, was Lieblingszeitung einen Relaunch startet. tionen (Le Quotidien, Le Jeudi, La Voix, über die Jahre festzustellen war. Feierkrop, Luxemburg Privat, Contacto, Zeitungsleser sind grundsätzlich konser- Correio, L’Essentiel, Point 24, Paperjam...) Vor einem Jahr hat der betreuende Arzt vativ – selbst wenn sie eine linke Zeitung kam vor dem Hintergrund ausufernder dann die Reißleine gezogen: Die Testper- lesen. Sie hassen nichts so sehr wie Ver- Anzeigenbudgets hinzu und wollte gele- son solle ihren Organismus zumindest änderung. Ein Relaunch ist in ihren Au- sen werden, wobei sich das publizistische teilweise entgiften und das Experiment gen kein Anfang sondern ein Ende. Der Anliegen (oder seine Notwendigkeit) abbrechen. Seitdem trinkt der Autor kei- Wechsel des Chefredakteurs ist ihnen zu- manchmal selbst nach jahrelangem Kon- nen Milchkaffee mehr. Die Zeitungen wider, denn ein neuer Chefredakteur geht sum nicht erschließen ließ. Einige Titel, liest er zwar immer noch, aber sie schme- erfahrungsgemäß mit dem Anspruch ans an die man sich halbwegs gewöhnt hatte, cken nicht mehr. Die Lektüre wirkt weni- Werk, die Dinge verändern zu wollen, die verschwanden wieder vom Markt. Das ger frisch und inspirierend, immer öfter in seinen Augen verkrustet und den Zeiten Luxemburger Wort halbierte das Papierfor- überkommt ihn das Gefühl, er hätte den nicht angemessen sind (und im übrigen mat und verdoppelte gleichzeitig die An- Text schon einmal an anderer Stelle gele- nicht den Lesegewohnheiten seiner Kin- zahl seiner Artikel, das Lëtzebuerger Land sen, das Ereignis wäre die Meldung nicht der entsprechen). Der Zeitungsleser fühlt verdoppelte nur das Format nicht jedoch wert und die Kommentare hätte man sich sich dann im Kern seiner Persönlichkeit die Zahl der Beiträge. Der Gréngespoun eigentlich sparen können. bedroht. veränderte seinen Namen, beließ es aber Printmedien April 2014 23 bei den wöchentlichen Arbeitsstunden fen). Andererseits entdeckte er Les Echos, lichkeit benötigt, die über mehr als Geld seiner Journalisten. Paperjam veränderte die erhellende Serien und Rubriken bieten verfügt – nämlich über Zeit! in gleichem Maß das Selbstverständnis und dazu überraschend kritische Informa- der Kommunikationsbranche wie das Alt- tionen zu Wirtschaft und internationa- Das Aus für die gedruckte Presse könnte papieraufkommen. Das Journal veränderte ler Politik. Nachdem in Deutschland die beim heutigen Tempo der Veränderung alles (zum Guten!), vergaß aber, dies der Frankfurter Rundschau von den Gewerk- schon in 15 Jahren eintreten. Nischen- Welt mitzuteilen. Nur das Tageblatt blieb schaften abgewickelt wurde, fühlt sich der produkte wie forum und intelligente Ma- sich treu und veränderte rein gar nichts. Zeitungsleser einsam. Den Spiegel hatte er gazine wie Brand Eins werden vielleicht seit der Pubertät nicht mehr in der Hand. überleben (weil sie freizeit- und bade- Mittlerweile ahnt der Zeitungsleser, dass Für Die Zeit fehlt einfach der Platz. Es zimmerkompatibel sind), aber sicherlich dies nur der Anfang ist. Der abendliche bleiben natürlich die bürgerlichen Flagg- keine Tageszeitung im heutigen Sinne. Blick über die Onlineangebote raubt ihm schiffe Süddeutsche und FAZ. Wenn diese Stattdessen wird auf einem zusammenfalt- seine Neugierde und sein Lesevergnügen Zeitungen (bzw. er) bis dahin durchhalten, baren und in der Westentasche verstau- am nächsten Morgen. Die Stellenkürzun- wird er sie während der Pension lesen. Die baren Schirm ein komplettes Medien- und gen bei den großen internationalen Zei- großen angelsächsischen Zeitungen ma- Informationsangebot auf uns einstürzen tungen verheißen nichts Gutes. Wenige chen vor, wohin die Reise gehen könnte: mit kontinuierlichen News und Updates, Tageszeitungen machen vor, wie man sei- große Geschichten, die sich sowohl vom Bildern, Videos und Filmen, Live-Inter- nen Lesern einen Mehrwert liefert. Von Le Rechercheaufwand als auch vom Stil und views und Kommentaren, interaktiven Monde und seiner bigotten Berichterstat- der Länge der Beiträge nun wirklich nicht Angeboten und Diskussionsforen ... tung musste der Zeitungsleser aus Selbstre- fürs Internet eignen. Der Zeitungsleser spekt irgendwann Abschied nehmen (die kennt in Luxemburg nur zehn Personen, Der Zeitungsleser wird seinen Milchkaffee Art und Weise ihrer Recherche und das die sich so etwas wünschen – ein Indiz für vermissen. entsprechende Ergebnis hatte er ein paar die geringe Zukunftsfähigkeit dieses Kon- Mal live in Luxemburg mitverfolgen dür- zeptes, für das es eine bürgerliche Öffent- Jürgen Stoldt Förderung der Pressevielfalt? Die staatliche Pressehilfe in Zahlen 2010 2011 Tageblatt 1 642 507 1 650 445 Luxemburger Wort 1 493 224 1 516 769 Le Quotidien 1 204 855 1 230 389 80,6 % 19,4 % La Voix du Luxembourg 898 843 488 357 Journal 529 621 549 047 Télécran 376 472 401 758 Zeitung vum lëtzebuerger 355 937 368 206 Vollek Le Jeudi 349 532 327 751 Revue 332 813 336 972 Editpress und Saint-Paul Andere d’Lëtzebuerger Land 268 405 274 541 Mit den Titeln Tageblatt, Le Quotidien, Le Journal, Zeitung vum lëtze- Woxx 233 348 240 885 Jeudi und Revue von Editpress und Luxem- buerger Vollek, d’Lëtzebuerger burger Wort, La Voix du Luxembourg und Land und woxx Total 7 685 557 7 385 120 Télécran von Saint-Paul Höhe der direkten Pressehilfe (in Euro), die der Staat 2010 und 2011 an die Zeitungen auszahlte und an die Europäische Kommission meldete..