Das Phänomen Scham Bei Wilhelm Genazino
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Deutsche Philologie Das Phänomen Scham bei Wilhelm Genazino Hausarbeit Zur Erlangung des Grades einer Magistra Artium der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Westfalen vorgelegt von Melanie Ball aus Hamburg 2008 I PRÄAMBEL „Du willst eine Magisterarbeit über Charme schreiben? Den Charme des Autoren Ge- wie hieß er noch gleich?“ – „Nein! Ich schreibe über Scham: Scham, Peinlichkeit und so weiter. Bei Wilhelm Genazino, einem deutschen Gegenwartsautoren.“ Es war mir fast schon peinlich, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, das offenbar keiner kannte oder nachvollziehen konnte oder akustisch richtig verstand. Ich bin Frühaufsteher, das heißt, ich fange an zu arbeiten so zwischen halb acht und acht. Es kommt darauf an, dass man frisch und gut vorbereitet den Text schreibt, den ich mir ungefähr vorgenommen habe. Das sind so etwa zwei bis drei Seiteni. Der Reiz der Erkenntnis wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel Scham zu überwinden wäreii. Die verunglückte Mitteilung sagt ja auch etwas. Sie führt immer etwas Unaussprechliches mit sich. Der gut formulierte Satz ist immer auch einer, der etwas Bestimmtes nicht mehr sagt. Die Form ist auch dem Nichtaussprechlichen geschuldet. Es bleibt da etwas auf der Streckeiii. Ich muß lange lauern und warten, sage ich, bis meine Arbeit und ich gut aufeinander zu sprechen sindiv. Denn wenn die wahren Dimensionen der Scham bekannt würden, müßte sich die Menschenwelt in ein Hospital der Nachsicht verwandeln, wozu ihr jegliche Fähigkeit abgehtv. i NICOLE RODRIGUEZ CARDENAS: Diese komische Melancholie des Wilhelm Genazino – Ein Filmporträt des Georg-Büchner-Preisträgers – von Burghard Schlicht. Sendemanuskript des hr-Fernsehens vom 24.10.2004, 9 S., hier S. 1. http://www.hr-online.de/servlet/de.hr.cms.servlet.File/genazino- wilhelm-portrait-schlicht?ws=hrmysql&blobId=57015&id=2712726, abgerufen 04.08.2008. ii FRIEDRICH NIETZSCHE: Jenseits von Gut und Böse (Erstausg. 1885). Stuttgart: 1976, S. 11. iii Massakrierte Gedanken. Interview mit Wilhelm Genazino über Sehnsucht, Peinlichkeit und Wahnsinn. Von Manfred Stuber. Rezensionsforum Literaturkritik, Februar 2002. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=4564&ausgabe=200202, abgerufen 22.07.2008. iv WILHELM GENAZINO: Die Liebesblödigkeit. Roman (Erstausg. 2005). 3. Aufl. Lizenzausgabe. München: 2007, S. 37. v WILHELM GENAZINO: Die Liebesblödigkeit, S. 170. II INHALT 1 EINLEITUNG...........................................................................................S. 1-9 1.1 Mein Forschungsziel.......................................................................S. 1 1.2 Der Forschungsstand...................................................................... S. 1 1.3 Meine Fragestellung....................................................................... S. 6 1.4 Mein methodisches Vorgehen.........................................................S. 7 2 THEORETISCHER TEIL: KONZEPTE/ HINTERGRÜNDE............................ S. 10-18 2.1 Definition von Scham.....................................................................S. 10 2.2 Abgrenzung des Scham-Begriffs von verwandten Konzepten.......S. 14 2.3 Wortgeschichte von Scham und Peinlichkeit..................................S. 17 3 ANALYTISCHER TEIL: TEXTINTERPRETATIONEN.....................................S. 19-92 3.1 Der Autor Wilhelm Genazino......................................................... S. 19 3.2 Die Charakteristika von Genazinos Werk.......................................S. 21 3.3 Die literaturgeschichtliche Einordnung von Genazinos Schaffen.. S. 22 3.4 Die Liebesblödigkeit.......................................................................S. 26 3.4.1 Inhalt......................................................................................... S. 26 3.4.2 Themen, Motive und Figuren..........................................................S. 26 3.4.3 Reine Körperscham in der Kindheit................................................. S. 30 3.4.4 Körperscham im Alter als Deckaffekt...............................................S. 35 3.4.5 Die aufgedeckte Todesangst........................................................... S. 38 3.4.6 Körperscham und Ekel – noch eine Deckgeschichte............................S. 43 3.4.7 Die Auflösung der Todesangst durch ihre Konfrontation...................... S. 51 3.4.8 Zwischenfazit I............................................................................S. 58 3.5 Mittelmäßiges Heimweh.................................................................S. 59 3.5.1 Inhalt......................................................................................... S. 59 3.5.2 Themen, Motive und Figuren..........................................................S. 59 3.5.3 Gesellschaftliche Randfiguren – Projektionsfläche für soziale Scham.......................................................................................S. 64 3.5.4 Schamopfer Sonja Schweitzer.........................................................S. 71 3.5.5 Der Verlust von Körperteilen – die Körperscham eines vermeintlich Behinderten................................................................................S. 74 3.5.6 Die gescheiterte Ehe – Grund und Folge psychischer Scham.................S. 81 3.5.7 Das Sprechverbot der Scham.......................................................... S. 85 3.5.8 Die Überwindung der Angst vor dem Alleinsein.................................S. 89 3.5.9 Zwischenfazit II...........................................................................S. 92 III 4 ERGEBNISSE...........................................................................................S. 93-97 4.1 Bezug zu den Fragestellungen und Thesen.................................... S. 93 4.2 Vergleich der Behandlung der Scham-Thematik in beiden Primärtexten..................................................................................S. 94 4.3 Ausblick auf weitere Texte Genazinos............................................S. 96 5 LITERATUR.......................................................................................... S. 98-103 1 1. EINLEITUNG 1.1 Mein Forschungsziel Diese Arbeit hat sich der Aufgabe verschrieben, die Bearbeitung des Phänomens ‚Scham‘ in den zwei jüngsten Romanen von Wilhelm Genazino zu untersuchen. Dass ‚Scham‘ ein zentrales Thema bei Genazino ist, zeigt sich allein am quantitativen Vorkommen von Schamsituationen in seinen Texten1. Ziel dieser Arbeit ist zum Einen eine interdisziplinäre Analyse unter Einbeziehung psychologischer, soziologischer und philosophischer Fachliteratur zum Schamaffekt. Zum Anderen wird eine literaturwissenschaftlich fundierte Interpretation der Scham-Thematik als zentrales Motiv der Genazino'schen Texte angestrebt. Genazinos Werk, zumal das jüngere, gilt noch nahezu als Tabula rasa, was den Stand der Sekundärliteratur betrifft. So wird mit dieser Arbeit selbstverständlich auch bezweckt, ein kleines Stück zur literaturwissenschaftlichen Erforschung des Autors Genazino beizutragen2. 1.2 Der Forschungsstand Im Folgenden wird kurz der Stand der Sekundärliteratur wiedergegeben: zum Autoren Genazino, zum Thema Scham in seinem Werk sowie in der Literatur allgemein, weiter zum Schamaffekt in der psychologischen, soziologischen, historischen, ethnologischen sowie philosophischen Fachliteratur. Obwohl Wilhelm Genazino bereits seit weit über 30 Jahren als Autor von Prosatexten, Hörspielen und jüngst auch von Dramen tätig ist, galt er die meiste Zeit als Geheimtipp in der deutschen Gegenwartsliteratur, dessen Leserkreis wenige tausend Interessierte umfasste3. Entsprechend klein war bis vor Kurzem auch die 1 So findet sich der Begriff ‚Scham‘ oder eine Form von ‚schämen‘ im aktuellen Roman Mittelmäßiges Heimweh 14 mal, in Die Liebesblödigkeit 15 mal. Dazu kommen die ebenfalls häufige Verwendung des Begriffs ‚peinlich‘ bzw. ‚Peinlichkeit‘ sowie weitere Textstellen, die eine Schamsituation beschreiben, ohne sie entsprechend zu titulieren. 2 Des Weiteren wird das Ziel verfolgt, ein derart vertrautes, ja „wesentliche[s] menschliche[s] Gefühl[]“, wie Scham es zweifellos ist, aus der verbalen Tabuisierung zu holen. CHRISTINE PERNLOCHNER-KÜGLER: Körperscham und Ekel. Wesentliche menschliche Gefühle. Münster, 2004. 291 S. (zugl.: Univ. Innsbruck, Diss. 2003.) Zwar ist das Gefühl, sich zu schämen, jedem bekannt, und auch in der Psychoanalyse sowie in der Entwicklungspsychologie wird der Schamaffekt seit einigen Jahren verstärkt erforscht – doch im alltäglichen Gespräch wird Scham eher selten eingestanden. Da dies keine primär literaturwissenschaftliche Zielsetzung ist, wird sie nur nebenbei genannt. 3 Vgl. MELANIE FISCHER: Ding-Diskurs. Die Darstellung der Dingwelt bei Wilhelm Genazino. Beispielhaft an „Ein Regenschirm für diesen Tag“ und „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“. 2 Zahl der Publikationen zu Genazinos Werk. Zwar gibt es ein paar Aufsätze, vor allem zur Roman-Trilogie Abschaffel aus den 1970er Jahren, aber auch zu späteren Veröffentlichungen, die in einer Ausgabe der Edition Text + Kritik4 sowie in einem Ausstellungsbegleitheft5 zusammengefasst sind. Im Jahr 2004 erschien dann eine Magisterarbeit, die den philosophischen Ding-Diskurs in zwei Romanen Genazinos nachweist6, 2006 eine Dissertation über das Gesamtwerk des Erzählers7. Seit diesem Jahr liegt außerdem eine Monographie zu den poetologischen Konzeptionen in Genazinos jüngerer Prosa vor8. Abgesehen davon beschränken sich die Veröffentlichungen zu den Texten Genazinos auf Rezensionen in Zeitungen, Magazinen