VOLKER HAGE LETZTE TÄNZE, ERSTE SCHRITTE

VOLKER HAGE Letzte Tänze, erste Schritte DEUTSCHE LITERATUR DER GEGENWART

Deutsche Verlags-Anstalt

SGS-COC-1940

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifi zierte Papier EOS liefert Salzer, St. Pölten.

1. Aufl age Copyright © 2007 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH und SPIEGEL-Verlag, Alle Rechte vorbehalten Typografi e und Satz: Brigitte Müller /DVA Gesetzt aus der Minion Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in ISBN: 978-3-421-04285-9 www.dva.de INHALT

1. TEIL: CHRONIK

11 Kurze Geschichte der neuesten deutschen Literatur (1999–2007)

2. TEIL: KRITIKEN

103 Das ganze Säkulum: ein Quiz Günter Grass: „Mein Jahrhundert“ (1999) 108 Der Westen küsst anders Thomas Brussig: „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ (1999) 112 Ehebruch vor dem Kloster Doris Dörrie: „Was machen wir jetzt?“ (2000) 117 Fenstersturz im Täterland Maxim Biller: „Die Tochter“ (2000) 119 Gottes Auge, Menschenblick Botho Strauß: „Das Partikular“ (2000) 124 Wildwest im Ossiland : „Willenbrock“ (2000) 127 Hände wie Zauberstäbe Alissa Walser: „Die kleinere Hälfte der Welt“ (2000) 130 Der Bulle und das Mädchen : „Gier“ (2000) 132 Der Mörder im Keller Josef Haslinger: „Das Vaterspiel“ (2000)

137 Anjas Wunsch und Wahn Dieter Wellershoff: „Der Liebeswunsch“ (2000) 141 Wunderfahrt ins Alte Land : „Teufelsbrück“ (2000) 145 Theaterszenen im All Silvia Szymanski: „Agnes Sobierajski“ (2000) 149 Blutiger Abgang Helmut Krausser: „Schmerznovelle“, Thomas Lehr: „Frühling“ (2001) 154 Der Duft der Frauen Thomas Hürlimann: „Fräulein Stark“ (2001) 157 Ich bin nicht unschuldig Bodo Kirchhoff: „Parlando“ (2001) 160 Wilde Bärbel, geheime Konten Frank Schulz: „Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien“ (2001) 163 Vom tausendmaligen Sterben erzählen Günter Grass: „Im Krebsgang“ (2002) 171 Auf Leben und Tod : „Leibhaftig“ (2002) 176 Geliebtes Monster Liane Dirks: „Vier Arten meinen Vater zu beerdigen“ (2002) 180 Deutschland im Herbst : „Endmoränen“ (2002) 184 Auf der Suche nach Therese Daniel Kehlmann: „Ich und Kaminski“ (2003) 186 Sex mit dem Hundemörder Sabine Gruber: „Die Zumutung“ (2003)

189 Sommergäste, hautnah Ernst Augustin: „Die Schule der Nackten“ (2003) 191 „Nimm dich nicht so wichtig!“ Christa Wolf: „Ein Tag im Jahr“ (2003) 198 Geiseln der Sucht Maike Wetzel: „Lange Tage“ (2003) 200 Siegen und siechen Einar Schleef: „Tagebuch 1953–1963. Sangerhausen“ (2004) 206 Fremde in der Kleinstadt Christoph Hein: „Landnahme“ (2004) 208 Die Verteidigung der Blindheit : „Der Augenblick der Liebe“ (2004) 211 Als die D-Mark jung war Dieter Forte: „Auf der anderen Seite der Welt“ (2004) 216 Luxuriöses Unglück : „Die Liebesblödigkeit“ (2005) 220 Chor der stummen Stimmen Walter Kempowski: „Culpa“, „Abgesang ’45“ (2005) 226 Wiener Pointenstadl Eva Menasse: „Vienna“ (2005) 230 Die Bucht der toten Schiffe Jochen Missfeldt: „Steilküste“ (2005) 232 Glücksgefühle ohne Dauer Annette Mingels: „Die Liebe der Matrosen“ (2005)

233 Ganz verrückt nach Ada Jens Petersen: „Die Haushälterin“ (2005) 235 Wühlarbeit im Haus der Ahnen Arno Geiger: „Es geht uns gut“ (2005) 239 Nach dem Sommerfest Dieter Wellershoff: „Das normale Leben“ (2005) 241 Held auf der Laufstrecke Hans-Ulrich Treichel: „Menschenfl ug“ (2005) 244 Strapazen der Rückkehr Bernhard Schlink: „Die Heimkehr“ (2006) 246 Von hinten anschleichen Walter Kempowski: „Hamit“ (2006) 249 Ein Fremder in Paris : „An einem Tag wie diesem“ (2006) 252 Meine Frau, deine Frau Botho Strauß: „Mikado“ (2006) 254 Kain und Abel, dem Himmel nah : „Der fl iegende Berg“ (2007) 257 Im toten Winkel : „Kali“ (2007) 260 Dichter auf Reisen Ingo Schulze: „Handy“ (2007) 263 Zerbrechliches Wunderkind Pascal Mercier: „Lea“ (2007) 3. TEIL: INTERVIEW

267 Unsicherheit als Motor Gesprächsrunde mit Judith Kuckart, Clemens Meyer und Ilija Trojanow (2006)

277 Bio-bibliografi sche Angaben 295 Nachweise 296 Register

1. TEIL CHRONIK

Kurze Geschichte der neuesten deutschen Literatur (1999 –2007)

Die erste Reaktion von Günter Grass auf die gute Nachricht aus Stockholm: Er habe rund 20 Jahre lang als Kandidat gegolten, und das Warten habe ihn jung gehalten. Nun beginne für ihn das Alter. Kurz bevor das 20. Jahrhundert seinem Ende zuging, erlebte die deutsche Nachkriegsliteratur noch einen großen Triumph. Am 30. September 1999 kam die Meldung, dass dem damals 71 Jahre alten deutschen Autor der Nobelpreis für Literatur zuerkannt worden sei. Als erster Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg war 1972 Heinrich Böll (1917–1985) mit dem begehrten Preis aus- gezeichnet worden – schon damals war sich die literarische Fach- welt weitgehend einig gewesen, dass die Auszeichnung eigentlich eher Grass zugestanden hätte, dem größeren und risikobereiteren Erzähltalent. Grass erhielt den Preis 40 Jahre nach dem Erscheinen seines internationalen Erfolgsromans „Die Blechtrommel“. Ein wenig wie Zahlenmystik mutet es an, dass dem aus Danzig stammen- den Schriftsteller ausgerechnet im Jahr mit der Dreifach-Neun als neuntem deutschsprachigen Autor der Preis zugesprochen wurde – mitgezählt Hermann Hesse und Nelly Sachs, die beide aus Deutschland stammten, jedoch nicht als Deutsche ausgezeichnet worden waren (Hesse war 1946 Bürger der Schweiz, und die aus Deutschland gefl ohene Sachs wurde 1966 als Schwedin geehrt). Immerhin vermied es die Jury in Stockholm, ausschließlich den Debütroman zu würdigen – wie es 1929, sehr zum Verdruss des Autors, bei Thomas Mann und dessen „Buddenbrooks“ (1901) geschehen war. Freilich wurde „Die Blechtrommel“ deutlich

11 Chronik genug in der Preisbegründung hervorgehoben: Bei Erscheinen des Romans im Jahre 1959 sei es gewesen, „als wäre der deutschen Literatur nach Jahrzehnten sprachlicher und moralischer Zerstö- rung ein neuer Anfang vergönnt worden“. Ein großartiger Anfang war das damals, in der Tat: Für Grass sowohl wie für die deutsche Literatur nach 1945. Und ein genialer Romananfang überdies: Dem gerade 31 Jahre alten Grass war ein Auftakt gelungen, der bis heute zu den elegantesten Spieleröffnun- gen der Weltliteratur zählt. Nicht nur, dass sich der Romanheld, der aus eigenem Entschluss kleinwüchsige Oskar Matzerath mit wenigen Worten („Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pfl egeanstalt“) als höchst eigenwilliger Ich-Erzähler und frag- würdiger Zeuge der Ereignisse präsentiert, es werden auch gleich auf den ersten Seiten die modischen Zweifel am Erzählen auf- gegriffen und lässig vom Tisch gewischt. Es macht immer noch Vergnügen, dem wild entschlossenen epischen Debütanten Grass dabei zuzusehen, wie er sich sein Recht aufs Fabulieren gegen die literaturtheoretischen Verbotstafeln der Zeit ertrotzt: Natürlich könne man eine Geschichte in der Mitte beginnen, lässt er seinen Oskar sagen, man könne auch ganz am Anfang behaupten, es sei heutzutage unmöglich, einen Roman zu schreiben, oder beteuern, es gebe keine Romanhelden mehr, „weil es keine Individualis- ten mehr gibt, weil die Individualität verlorengegangen, weil der Mensch einsam, jeder Mensch gleich einsam, ohne Recht auf indi- viduelle Einsamkeit ist und eine namen- und heldenlose Masse bildet“. Er, Oskar, und sein Pfl eger Bruno seien aber Helden, „ganz verschiedene Helden“. Selbst eine dem traditionellen epischen Erzählen abholde Autorin wie die Österreicherin Elfriede Jelinek, die kaum ahnen konnte, dass sie wenige Jahre später selbst den Nobelpreis er- halten würde, sprach 1999 aus Anlass der Grass-Auszeichnung in höchsten Tönen von diesem Roman und seinem Beginn, von der „Atemlosigkeit und Gehetztheit des frühen Grass“. Jelinek schrieb weiter: „Er hat nach dem Mief der Nazis etwas geschafft, was ich an Innovationskraft in der deutschen Literatur nie wie- der gefunden habe. Den Prosarhythmus, diesen großen epischen

12 Erzählen? Warum denn nicht?

Atem – wer hat das denn noch? Ich habe Böll sehr geschätzt, aber Grass hatte die größere Bedeutung für die Literaturge- schichte.“

Erzählen? Warum denn nicht?

Der Nobelpreis für Grass weckte hohe Erwartungen, auch und gerade bei Autoren, die bisher im Schatten der Größen der deut- schen Nachkriegsliteratur gestanden hatten, im Schatten von Böll und Grass, von Walter Kempowski und Siegfried Lenz, Martin Walser und Christa Wolf. Nachdem in den achtziger und neun- ziger Jahren nur eine relativ geringe Aufmerksamkeit für die Prosa der Nachfolger und Nachgeborenen zu verzeichnen gewesen war – von Ausnahmen wie Patrick Süskind („Das Parfum“, 1985), Christoph Ransmayr („Die letzte Welt“, 1988), Robert Schneider („Schlafes Bruder“, 1992) oder Bernhard Schlink („Der Vorleser“, 1995) abgesehen –, zog das Interesse Ende der neunziger Jahre merklich an, und auch jüngere deutsche Autoren aus Ost und West erreichten mit ihren Büchern hohe Aufl agen. Der 1965 in Ost-Berlin geborene Thomas Brussig etwa hatte von seinem 1995 publizierten Roman „Helden wie wir“ schon rund 200 000 Exem- plare verkauft, als die Verfi lmung im November 1999 in die Kinos kam. Gerade einmal 17 Jahre alt war Benjamin Lebert, als im Früh- jahr 1999 sein später dann ebenfalls verfi lmter Erstling „Crazy“ erschien – bis Ende desselben Jahres waren schon an die 180 000 Stück abgesetzt. Das waren Zahlen, von denen jüngere Autoren bis dahin nur träumen konnten, nicht selten mussten sie sich mit Aufl agen von wenigen 1000 Exemplaren zufriedengeben. Auch das Ausland, an der deutschen Literatur lange Zeit desin- teressiert, begann sich wieder für deutsche Romane und Novellen zu erwärmen. „Die Situation hat sich plötzlich verändert“, stellte im Oktober 1999 das Londoner Literaturblatt „The Times Literary Supplement“ fest: dank einer „ungewöhnlich großen Anzahl per- fekter Erstlingsromane“ jüngerer deutscher Autoren. Der Nobel- preis für Grass war da eine zusätzliche Ermutigung. „Ich glaube

13 Chronik ganz sicher“, sagte etwa Michael Krüger, Chef des Münchner Han- ser-Verlags und selbst Autor, „dass diese Preisverleihung an Grass einen Schub für die deutsche Literatur bringen wird. Schon in den Jahren zuvor hat sie im Ausland mehr Aufmerksamkeit gefunden als in früheren Jahren.“ Seit 1995 gibt es auch das Deutsche Literaturinstitut Leipzig, hervorgegangen aus dem ehemaligen Johannes-R.-Becher-Institut der DDR und nun der Universität angegliedert: eine regelrechte Schreibakademie. Der österreichische Schriftsteller Josef Haslin- ger, der 1996 dort seine Arbeit als Dozent aufnahm, erklärte drei Jahre später, man könne zwar keine Autoren heranzüchten, aber viele Anfängerfehler vermeiden helfen. Die ewige Frage „Lässt sich noch erzählen?“ spiele kaum noch eine Rolle, sagte er. „Da gibt es eine neue Unbekümmertheit.“ Die Enkel der Nachkriegsliteratur traten an, befreit von man- cher Beschwernis der vom Zweiten Weltkrieg geprägten Vorgän- gergeneration. Übermächtige Schuldgefühle waren es vor allem, die deutsche Autoren nach 1945 immer wieder in erzählerische Selbstzweifel getrieben hatten. Die Nachkriegsliteratur konnte nicht umhin, sich von der ersten Stunde an mit dem Schatten der Nazi-Verbrechen, den Folgen des verlorenen Krieges und der Frage der deutschen Schuld auseinanderzusetzen. Das war nicht nur ein moralisches, es war auch ein ästhetisches Problem: Wie ließ sich – und ließ sich überhaupt – angemessen auf den Horror reagieren, der vergangen, aber nicht vergessen, ja noch nicht ein- mal richtig erinnert worden war? „Die Literatur war nicht vorbereitet auf und hat keine Mit- tel entwickelt für solche Vorgänge“, hatte bald nach dem Krieg Bertolt Brecht mit Blick auf die deutschen Konzentrations- lager notiert: Die Vorgänge dort würden „keine Beschreibung in literarischer Form“ vertragen. Noch Jahrzehnte später sah der damalige Rowohlt-Verleger Michael Naumann die deutschen Schriftsteller in einer schwierigen Lage: Keiner von ihnen könne „bei hellem Verstand“ eine Geschichte erzählen, als wäre nichts geschehen. Das „wahre Wunder“ sei, dass die deutsche Dichtung nach dem Krieg nicht gänzlich verstummte. Rigorose Ansich-

14 Erzählen? Warum denn nicht? ten hatte nicht zuletzt Theodor W. Adorno formuliert, der das Schreiben von Gedichten nach Auschwitz für „barbarisch“ hielt, außerdem 1954 kategorisch behauptete: „Es läßt sich nicht mehr erzählen.“ In der Folge des Krieges sei die „Identität der Erfah- rung“ und damit „die Haltung des Erzählers“ für immer ver- lorengegangen. Erst vor diesem Hintergrund war auch die Leistung des „Blechtrommel“-Verfassers recht zu würdigen, ließ sich die Wir- kung des Romans überhaupt verstehen: Gegen alle Skrupel hatte Grass Ende der fünfziger Jahre in seinem Pariser Kellerzimmer munter angeschrieben, bestärkt und beraten nicht zuletzt von sei- nem Gesprächspartner (1920–1970), dem melancholi- schen Holocaust-Überlebenden und rätselvollen Lyriker („Todes- fuge“). Wild entschlossen trommelten der Autor und sein Held, der Winzling Oskar Matzerath, gegen das Erzählverbot. Der Bericht aus Zwergensicht ermöglichte das ungezwungene Fabulieren und dabei auch die Darstellung von Greueltaten und Schrecken, ohne die Form des Romans zu sprengen. Oskar erzählt von einer klein- bürgerlichen Kindheit in Danzig, einer Jugend unter Hitler, von deutschen Kriegs- und Nachkriegszeiten. Und er schildert einige sexuelle Begebenheiten – übrigens geradezu dezent, auch wenn das Brausepulver-Vorspiel zwischen dem kleinen Oskar und der gewaltigen Maria bald schon einen fast legendären Ruf genoss: „Mir jedoch lag Marias Bauchnabel nahe, und ich vertiefte meine Zunge in ihm, suchte Himbeeren und fand immer mehr […], und ich ließ mir einen elften Finger wachsen.“ Doch kaum waren 1959 und im Jahr darauf die ambitionierten Romane von Grass, von Heinrich Böll („Billard um halbzehn“), („Mutmassungen über Jakob“) und Martin Walser („Halbzeit“) erschienen, begann der Aufstand gegen das Erzählen erst richtig. In den sechziger Jahren wurde eine regelrechte Anti- haltung von jenen Autoren und Literaturtheoretikern kultiviert, die sich als Statthalter der Moderne verstanden. Die literarischen Gattungen wurden für überholt, der Roman und schließlich – im Verbund mit der Studentenrevolte – die ganze „bürgerliche Lite- ratur“ für tot erklärt. Von heute her gesehen will das damalige

15 Chronik

Literaturklima nahezu suizidal erscheinen: Den Schriftstellern selbst galt plötzlich das Erfi nden von Geschichten als verdächtig und verachtenswert. Die Voraussetzungen für den Roman seien zusammen mit dem Bürgertum verschwunden, wurde behauptet, spannende Fabeln mit auffälligen Helden seien anachronistisch, mithin bloß noch trivial, ja auf das Fabulieren überhaupt müsse verzichtet werden. Der junge Österreicher Peter Handke schrieb 1967: Die „Methode der Geschichte“ sei für ihn nur noch anwend- bar „als refl ektierte Verneinung ihrer selbst: eine Geschichte zur Verhöhnung der Geschichte“. Dieses selbstzerstörerische Endzeitlied wurde Ende der sech- ziger Jahre, als die neue Linke gegen Konventionen revoltierte, zum intellektuellen Gassenhauer. Die Autoren schufen sich gewis- sermaßen selbst ab: „Die Geschichten machen keinen Spaß mehr“ (Wolf Wondratschek), „Literatur in jeder Form ist unnütz“ (Peter O. Chotjewitz), hieß es, und als Gebot der Stunde wurde ernst- haft ausgegeben: „Holen wir die geschriebenen Träume von den brechenden Bücherborden der Bibliotheken herunter und drü- cken wir ihnen einen Stein in die Hand“ (Peter Schneider). Wer nicht gleich auf die Straße ging und dennoch auf der Höhe der Zeit sein wollte, produzierte gattungslose „Texte“, experimentierte mit Zitatmontagen und dokumentarischem „Material“ und ödete damit nicht nur das Publikum an, sondern am Ende wahrschein- lich auch sich selbst. Mitte der siebziger Jahre galt es vielen, wie dem Maler und Autor (1912–1991), als ausgemacht, dass die Schriftsteller „unsicher über Wert und Gül- tigkeit der Fiktionen geworden sind“ und „keine Geschichte mehr zum Erzählen fi nden“ – wobei Hildesheimer ketzerisch fragte: „Warum wagen diese Schriftsteller nicht den endgültigen Schritt und geben die Literatur auf?“ Der ausgestellte Überdruss am eigenen Metier, das Misstrauen den „eigenen Kunststücken“ (Grass) gegenüber, alles im Namen eines dubiosen literarischen Fortschritts und gerichtet gegen das angeblich naive und traditionelle Geschichtenerzählen, ver- schreckte zahlreiche Nachwuchstalente – zumal ein Großteil der deutschen Literaturkritik sich die Argumente zu eigen machte. Da

16 Erzählen? Warum denn nicht? half es vorerst auch wenig, wenn einige der Autoren bald schon die voreilige Preisgabe von Fabel und Fiktion bereuten und zur Umkehr mahnten. Peter Handke erkannte zu Beginn der siebziger Jahre, „daß eine Fiktion nötig ist, eine refl ektierte Fiktion, damit die Lesenden sich wirklich identifi zieren können“. Doch vielen Lesern war die Lust auf deutsche Literatur vorerst vergangen: Es gab ja genug großartige Erzähler in Europa, von denen aus Nord- und Südamerika ganz zu schweigen. Allenfalls hatte ein Fabulierkopf wie Michael Ende noch eine Chance, der sich als Jugendbuchautor weitgehend frei von Erzählskrupeln fühlen durfte und mit den beiden für Kinder und Jugendliche geschriebenen Romanen „Momo“ (1973) und „Die unendliche Ge- schichte“ (1979) überraschend ein Millionenpublikum erreichte. Die zwei Bücher belegten die ersten beiden Plätze der „Spiegel“- Jahresbestsellerliste 1981 und gaben die Richtung für die acht- ziger Jahre vor: Wenn die Phantasie schon nicht im Straßenkampf an die Macht zu bringen war, so sollte sie doch in der Literatur wieder zu ihrem angestammten Recht kommen. Mit seinem 1985 veröffentlichten Roman „Das Parfum“, der ebenfalls märchenhafte Züge trägt, gelang dem 1949 geborenen Patrick Süskind als erstem deutschen Autor der Nachkriegsgeneration ein großer interna- tionaler Bucherfolg, der nicht nur an den der „Blechtrommel“ heranreichte, sondern ihn glatt überrundete: Mittlerweile ist der Süskind-Bestseller weltweit mehr als sechzehn Millionen Mal ver- kauft worden. Auf „Das Parfum“ folgte „Der Vorleser“: Schlinks zehn Jahre später publizierter Roman, der in Deutschland von der Kri- tik positiv aufgenommen worden war, ohne gleich zu einem spektakulären Verkaufserfolg zu werden, machte international eine beachtliche Karriere, zunächst in Frankreich und Groß- britannien. Im Frühjahr 1999 führte „The Reader“ (so der angel- sächsische Titel) dann auch die Bestsellerliste der „New York Times“ an. Ein ungewöhnlicher Erfolg für ein ungewöhnliches Buch: Aus der Perspektive eines Nachgeborenen, der als Schü- ler von einer älteren Frau verführt worden ist und sie später als Student in einem KZ-Prozess auf der Anklagebank erkennt,

17 Chronik schildert Schlink das Dilemma einer Generation, die es sich mit der Verurteilung der Eltern leicht macht und kaum Fragen an sich selbst richtet. Schon 1997, als der Roman – mit bescheidener Startaufl age – in Amerika herausgekommen war, hatte ihn die „New York Times“ hymnisch begrüßt. „Gerade in dem Moment, wo alles über Deutschland und den Krieg gesagt zu sein scheint, kommt dieses fesselnde, philosophisch elegante und moralisch komplexe Buch von Bernhard Schlink“, war in der Kritik zu lesen. Am Ende sei der Leser bewegt und verstört, erschüttert und irritiert – und vor allem „mächtig angesprochen von einer Erzählung, die das Gewicht der Wahrheit auf ihren Schultern trägt“. Andere ameri- kanische Zeitungen waren nicht minder begeistert, das anspruchs- volle Blatt „New York Review of Books“ begann seine umfangrei- che Rezension des Werks mit den Worten: „Nur selten vermag ein Roman von diesem bescheidenen Umfang solche Anforderungen an seine Leser zu stellen.“ Wie für Süskinds Roman (dessen nicht besonders überzeugende Verfi lmung 2006 in die deutschen Kinos kam) interessierte sich die Filmindustrie auch bald für Schlinks „Vorleser“. Als 1998 das Hollywood-Studio Miramax den Zuschlag erhielt, lagen beim Schweizer Diogenes-Verlag nicht weniger als 34 Anfragen aus den USA, 21 aus Deutschland und noch einmal rund 30 aus dem übrigen Europa vor (die Dreharbeiten sollen im Spätsommer 2007 beginnen). Von Nachkriegsgrößen wie Grass und Walser unterschieden sich die jüngeren Erfolgsautoren wie Süskind und Schlink in einem wesentlichen Punkt: Sie suchten nicht das Scheinwerfer- licht der Öffentlichkeit, waren als Person wenig greifbar. Zum Inbegriff solcher Zurückgezogenheit war der – wie Schlink – 1944 geborene Botho Strauß geworden, der seit den achtziger Jahren eine Form von Gedankenprosa kultivierte („Paare, Passanten“), die von der neuen Fabulierlust gleich weit entfernt war wie von Avantgardedenken und Sprachexperiment. Mit mildem Spott schaute Strauß denn auch in seinem Prosabuch „Die Fehler des Kopisten“ (1997) auf die jüngere „Roman-Literatur“ der Kollegen, die zumindest „auf dem Markt einen produktiven Aufschwung“

18 Erzählen? Warum denn nicht? zeige – „seitdem die Risiken der Moderne in Vergessenheit gerie- ten und eine nachschöpferische Unbefangenheit die Werke leich- ter hervorbringt“. Strauß klagte nicht, er stellte nur fest: Man werde Woche für Woche von „Meisterwerken“ bedrängt, von neuen Romanen und Filmen, die freilich, so seine Einschätzung, „ein wenig zu harm- los ausfallen und es zu meisterlich verstehen, größere Gefahren des Geistes und der Form zu vermeiden, um nicht letztlich aus der Werkstatt von Kleinmeistern zu stammen.“ Grimmiger und unversöhnlicher äußerte sich der „Merkur“-Herausgeber Karl Heinz Bohrer: „Die literarischen Standards sind auf dem tiefs- ten Niveau der Nachkriegszeit angelangt.“ Es sei das Wesen des modernen Erzählens, dass es „die erzählte Gegenständlichkeit der weit fortgeschrittenen Refl exion aussetzte“. Davon konnte Boh- rer in der neueren deutschen Gegenwartsliteratur offenbar nichts mehr entdecken. War der junge Erfolg der erzählenden Literatur mit formalen und inhaltlichen Zugeständnissen an den Publikumsgeschmack erkauft? Die ästhetischen Verbotstafeln der Adorno-Ära hatten offenbar an Faszination und Überzeugungskraft eingebüßt. etwa, Jahrgang 1961, deren im Frühjahr 1999 publizierter „Regenroman“ sich schnell zu einem Verkaufsschlager entwickelt hatte, erklärte recht gelassen in einem Gespräch im Oktober des- selben Jahres: „Nachdem lange genug verkündet wurde, direktes, geradliniges, munteres Erzählen eigener Erlebnisse sei naiv oder gar ,unmöglich‘ – noch in den achtziger Jahren galt unterhaltsame Prosa nicht als Literatur –, kommt jetzt eben die Gegenbewegung, und man zieht mit dem gleichen Eifer und der gleichen Ungerech- tigkeit über experimentelle Schriftsteller her. Ich habe irgendwann beschlossen, mich nicht mehr in Texträtsel zu hüllen, die zwar einigen Kritikern gefi elen, mir selbst aber schon bald keinen Spaß mehr machten.“ Ende des Jahres 1999, befragt zu den Erwartungen an die Kul- tur im neuen Jahrhundert oder Jahrtausend, blieb die Autorin dagegen wortkarg und beharrte auf ihren Rechenkünsten: Sie werde „ständig darauf hinweisen“, dass das neue Jahrhundert erst

19 Chronik mit dem Jahr 2001 beginne. Der zunächst hauptsächlich als Lyri- ker bekannt gewordene Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, holte etwas weiter aus. Er sah die zukünftige Entwicklung der Kul- tur in skeptischem Licht, nämlich „dicht auf den Fersen der leicht verkäufl ichen Künste“, degradiert zur schönsten Nebensache der Welt: „Ein Heer von Kulturangestellten ist zur Stelle, wann immer es einen Rest Kunst zu verwalten gilt. Und so wird es wohl wei- tergehen. Kultur schafft Arbeitsplätze und nimmt Visionen. Kein Künstler muss mehr ins Armengrab, Gott sei Dank, die Beteilig- ten gehen, ein wenig gelangweilt, aber gut bezahlt, abends nach Hause, wo das Dessert sie erwartet: in Form eines kulinarischen Fernsehprogramms. Die Zeiten des totalen Kulturkapitalismus brechen eben erst an. Kultur, das lässt sich voraussagen, hat eine große Zukunft.“ Selbstbewusst und optimistisch äußerte sich im September 1999 Thomas Brussig in einem Gespräch: „Es soll sich unter den Lesern herumsprechen, dass sich in der deutschen Gegenwarts- literatur etwas tut. Die Leute haben ja den größten angelsächsi- schen Schrott gekauft. Auch da gibt es eine Wende, glaube ich. Es entsteht eine lesbare, aber auch gehaltvolle Literatur – also im schönsten Sinne Belletristik. Das wünsche ich mir.“

Liebe im Gästehaus der DDR

Kaum ein jüngerer Autor hatte sich in den neunziger Jahren so stark als Chronist der untergegangenen DDR etabliert wie Brussig. Im Jahr 1999 kam nicht nur die Verfi lmung seines Bestsellers „Hel- den wie wir“ in die Kinos, sondern zugleich noch ein weiterer Film mit einem Brussig-Stoff: „Sonnenallee“ – parallel dazu erschien die Erzählung „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“.* „Jetzt, da es vorbei ist, bemerken wir plötzlich, dass sich die DDR ganz gut anhand ihrer Profanitäten und Lächerlichkeiten erzählen lässt“, erklärte der Autor im Gespräch. „Die DDR hatte einen Alltag, und

* Rezension s. S. 108.

20 Liebe im Gästehaus der DDR sie hatte ein konkretes Interieur, und darin stecken jede Menge guter, bislang vernachlässigter Geschichten. Und komischerweise werden gerade die überall auf der Welt verstanden.“ Auf die Frage, mit welchem Gefühl er auf die DDR zurück- blicke, antwortete Brussig: „Sehr präsent ist sie nicht mehr, aber sie beschäftigt mich ständig, und viel mehr, als mir lieb ist. Dabei hat es in den letzten zehn Jahren so viel interessante, geradezu umstürzende Veränderungen gegeben: Es gibt das Internet, die digitale Revolution, es gibt Kleinanleger, Einschaltquoten, deut- sche Soldaten im Krieg und die neue Mitte. Aber im Osten wird immer nur über den Osten geredet, als wäre stehen geblie- ben.“ Er werde die Herkunft nur schwer los und sehe das auch als Chance: „Es gibt da die Erfahrung des Bruches.“ Gut zehn Jahre nach dem Verschwinden des SED-Staats von der politischen Landkarte tauchte die deutsche Republik im Osten auf wundersame Weise wieder auf: als Schauplatz zahlreicher Romane und Erzählungen. Im Jahr 2000 meldeten sich auffällig viele Auto- ren literarisch zu Wort, die, wie oder Katja Lange-Müller, ihre Kindheit, Jugend und manche Erwachsenen- jahre im SED-Staat zugebracht hatten, bevor sie in den Westen gingen, oder die, als Kinder der DDR, noch jung waren, als die Mauer fi el. Andere wiederum kannten den SED-Sozialismus über- haupt nur vom Hörensagen oder aus Recherchen: so der 1961 in München geborene Michael Kumpfmüller, in dessen Debüt roman „Hampels Fluchten“ ein Mann geschildert wird, der in den sech- ziger Jahren vor seinen Gläubigern aus der Bundesrepublik in die DDR fl üchtet. „Die DDR wird jetzt zum Thema, weil sie verschwunden ist“, sagte Katja Lange-Müller, Jahrgang 1951, bei einem Gespräch am 3 . Oktober 2000 in Berlin. Die Autorin, die mit ihrer Erzählung „Die Letzten“ auf die siebziger Jahre im Osten zurückblickt, wurde wie ihre Kollegin Honigmann, Jahrgang 1953, in Ost-Berlin gebo- ren, und beide gingen im selben Jahr, 1984, in den Westen. In ihrem Buch – Untertitel: „Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Dru- ckerei“ – beschreibt Lange-Müller eine Nische im staatlich gelenk- ten Wirtschaftssystem: In einem der wenigen Privatbetriebe, die

21 Chronik es in der DDR gab, einer kleinen Druckerei, fi ndet eine Hand voll andernorts Gescheiterter zusammen. „Haben Sie ein Schwein, daß wir hier nicht im Westen sind, wo die Versager in der Gosse lan- den“, sagt ein Volkspolizist zur Ich-Erzählerin, der linkshändigen Setzerin, die in dem Haufen der Verlorenen eine Art Heimat fi n- det, bis der Besitzer der Klitsche in den Westen abhaut und seine Belegschaft ihrem Schicksal überlässt. Was zunächst wie eine halbwegs liebevolle Erinnerung an ver- gangene Zeiten aussieht, wandelt sich am Ende zur Abrechnung eines der Kollegen mit seiner Mutter, bei der zugleich an den ver- hassten Staat gedacht werden darf. Für Lange-Müller war, wie sie erzählte, völlig klar: „Ich musste noch einmal schreibend in jene Zeit zurück, als ich stiften gegangen bin – wie ein Täter, der zum Tatort zurückkehrt.“ Im Übrigen begrüße sie es, dass sich jetzt auch solche Kollegen für den untergegangenen Staat interessier- ten, die dort nie gelebt haben. Aber können die wirklich über die DDR schreiben? „Sie sollten sogar. Neugier auf das andere ist immer gut.“ Überraschend war das erzählerische Interesse des Westens am Osten dennoch. Hatte die DDR nicht schon in ihren besten Jahren als wenig aufregend gegolten? Als eine Art politisches Biotop, an dem unangenehme Realitäten wie Konkurrenzstreit, Karrieregerangel und Verdrängungswettbewerb irgendwie abge- prallt waren – ein diktatorischer Überwachungsstaat zwar, doch nicht schrecklich genug, um als Reich des Bösen wenigstens lite- rarisch zu interessieren? In Barbara Honigmanns kleinem Roman „Alles, alles Liebe!“ heißt die Heldin, die Anfang November 1975 nach Prenzlau kommt, Anna: Die junge Regisseurin aus Ost-Berlin soll hier, erstmals auf Probe angestellt, bis Weihnachten am Theater ein Stück inszenie- ren. Sie hat kaum ein paar Schritte aus dem Bahnhof gemacht, da wird ihr schon „Zigeunerin“ nachgerufen, und wie zum Hohn liegt die kleine Pension, in der sie ein Zimmer hat, an der Straße der Völkerfreundschaft. Anna, in Berlin schon mal die „kleine Schwarze“ genannt, ist als deutsche Jüdin in der israelfeindlichen DDR manchen Kum-

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