DEZ2016 LEIPZIGER ZUSTÄNDE chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um

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Herausgeberin: chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskrimi- nierender Ereignisse in und um Leipzig

Redaktionsschluss: November 2016

Rechte: © bei den Autor_innen und dem Projekt chronik.LE. Alle Rechte vorbehalten. Alle Bildrechte liegen, falls nicht anders vermerkt, bei den jeweiligen Fotograf_innen.

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ISSN 2191-3501

chronik.LE Gefördert im Rahmen der Kommunalen Unterstützt durch die Ein Projekt bei EnWi e.V. Gesamtstrategie „Leipzig. Ort der Vielfalt“ Rosa Luxemburg Stiftung Sachsen - DOKUMENTATION & ANALYSE FASCHISTISCHER, RASSISTISCHER FASCHISTISCHER, ANALYSE & .LE - DOKUMENTATION

Gefördert durch Im Rahmen des Bundesprogramms chronik UND DISKRIMINIERENDER EREIGNISSE IN UM LEIPZIG www.chronikLE.org DEZ2016 LEIPZIGER ZUSTÄNDE chronik.LE - Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig

04 EDITORIAL 46 »Im Krieg siehst du, wie alles zusammenbricht« Ein Interview mit Salah Massoud 01 LEGIDA & FRIENDS 48 »Wir wollten die Zustände nicht hinnehmen« 06 Zwei Jahre Legida Ein Interview mit Sandra Münch von Bon Courage Eine Chronologie der Ereignisse 50 »Das alles ist kein Zustand« von Tim Wagner Ein Interview mit Isabel Schmidt, Sozialbetreuerin in einer 10 Der Ami, der Jude, der Russe und ich Gemeinschaftsunterkunft Ein Besuch bei Legida 53 »Manchmal habe ich keine Lust mehr auf Leipzig« von Schubél von Bernard Kololo 14 Angst 54 Anarbeiten gegen eine falsche Gegenüberstellung von Nhi Le Antimuslimischen Rassismus zu Antisemitismus in Beziehung setzen von Nicola Eschen 16 Rechte Hetze im Hochglanzformat Das Compact-Magazin des Jürgen Elsässer 04 RECHTE SUBKULTUR von Paul Simon und Andreas Raabe 18 Weg von links und rechts, hin zum Verstand? 58 Neonazis feiern – ein Dorf resigniert Lokale Querfront-Bestrebungen in Nordsachsen In Staupitz treffen sich fast monatlich Rechtsradikale von chronik.LE aus ganz Deutschland von Stefan Hantzschmann 20 Worauf Bettina Kudla anschlägt 60 Der »letzte Akt« CDU-Bundestagsabgeordnete twittert sich ins Abseits Das »Runes & Men«-Festival im Eventpalast: Eine Bühne von shadab für den rechten Rand des Neofolk-Spektrums von Juliane Nagel 22 Die Angst des weißen Mannes Professor Rauschers Twitter-Account erregte 2016 viel 62 Zwischen »Gauner« und Imperium Fight Night Aufmerksamkeit von Kritische Jurist*innen Leipzig Rechte Aktivitäten der Fanszene Lok Leipzig von chronik.LE 02 ALTE UND NEUE RECHTE 64 Sport frei von Menschenfeindlichkeit? Ergebnisse einer Studie im Breitensport in Sachsen 26 »Oldschool Society« von Hannes Delto Gescheiterte Nazi-Terroristen mit Schwerpunkt im Landkreis Leipzig von Sebastian Lipp 05 RECHTE GEWALT 28 NPD - JN - Die Rechte: 68 Rassistische Mobilisierungen und Rechte Neonaziparteien und ihr Nachwuchs Aktuelle Entwicklung der Neonaziparteien in Leipzig und Gewalt in der Region Leipzig von Steven Hummel Umgebung von Simone Knuspert 70 Dem Krieg entflohen – im Krieg gelandet 30 „Nicht zu viel lospoltern, alles im Hintergrund Zur rassistischen Situation im Leipziger Umland, den tun, ein Fundament schaffen“ Folgen für die Betroffenen und den Herausforderungen Der angebliche Ausstieg des langjährigen Delitzscher für die Unterstützer_innen von Lena Nowak Neonazis Maik Scheffler 72 Rechte Anfeindungen und Angriffe 32 Mehr Schein als Sein gegen demokratische Institutionen und ihre Die Identitäre Bewegung in Leipzig von Kim Richter Vertreter_innen von chronik.LE 33 Zwischen bürgerlichem Konservativismus 74 11. Januar 2016 - Angriff auf Connewitz und völkischem Nationalismus Von Surina Kleinermann Die AfD im Spannungsverhältnis von Sarah Ulrich 76 Die verschwiegenen Toten 36 Wer wählt die AfD – reloaded Ein Beitrag zur Aufarbeitung rechter Gewalt Soziale Merkmale und politische Einstellungen 2016 im Landkreis Leipzig von „Rassismus tötet!“-Leipzig & Initiativkreis Antirassismus von Johannes Kiess 78 Aus der Chronik 03 RASSISMUS Eine kleine Auswahl aus Leipzig und Umland 41 Das Wohnen in Wohnungen lernen? 06 SERVICE Die Stadt Leipzig und ihre Unterbringungspraxis für Geflüchtete von Initiativkreis: Menschen.Würdig 81 Film & Literaturempfehlung 44 »Leipzig wurde mein Hasaka« 82 Beratung – Bildung – Engagement Ein Interview mit Aziz Al-Ayyoobi Anlaufstellen für Leipzig und Umgebung

3 EDITORIAL

LIEBE LESER_INNEN,

hiermit halten Sie und ihr die fünfte und bisher umfang- gandahandlungen organisierter und nicht-organisierter reichste Ausgabe der Leipziger Zustände in den Händen. Neonazis, rechte Übergriffe, Alltagsrassismus, aber auch an- Der Seitenumfang ist in diesem Fall allerdings kein Grund derweitig diskriminierende Vorfälle. zum Feiern, denn seit der letzten Broschüre vor zwei Jahren ist vieles passiert. Wir beobachten eine Verschärfung des ge- Wir verstehen diese Broschüre als Teil einer inhaltlichen sellschaftlichen Klimas auch in Leipzig und Umgebung. Im Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen von Dis- Internet hetzen Nazis und „besorgte Bürger“ gegen Geflüch- kriminierung auf dem Weg zu einem „demokratisch-viel- tete, Muslime und die „Lügenpresse“. Wir sahen 40 Legida- fältigen“ und „weltoffenen“ Leipzig (vgl. „Kommunale Ge- Demonstrationen seit Anfang 2015, zahlreiche Anschläge samtstrategie für Vielfalt und Demokratie“), das nicht auf geplante und bestehende Unterkünfte für Asylsuchende, einfach schon da ist, sondern das über eine nachhaltige Zu- Angriffe auf Parteien, Politiker_innen und zivilgesellschaft- rückdrängung von Ideologien der Ungleichwertigkeit wie liche Akteur_innen. Rassismus, Antisemitismus, Chauvinismus, Nationalismus, Sexismus, Homophobie und Obdachlosenfeindlichkeit erst Wir erheben mit dieser Broschüre, die in freiwilliger, eh- noch erreicht werden muss. In dieser Auseinandersetzung renamtlicher Tätigkeit entsteht, keinen Anspruch auf Voll- spielt es keine Rolle, wie sich diejenigen, die eine solche ständigkeit, wollen aber einen möglichst umfangreichen „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ zur Grundlage Überblick bieten. Ein Schwerpunkt dieser Ausgabe liegt ihres Handelns machen, (partei-)politisch positionieren. Es bei Legida, dem Leipziger Ableger der Dresdener Pegida- geht also nicht gegen eine „bestimmte politische Richtung“, Bewegung, sowie deren Fürsprecher_innen in Politik, Me- sondern um die Ermöglichung gleichberechtigter und dis- dien und Zivilgesellschaft. Unter der Rubrik „Alte und neue kriminierungsfreier Teilhabe aller Einwohner_innen am Rechte“ stellen verschiedene Autor_innen die Entwicklung öffentlichen Leben in Leipzig und Umgebung. Erfreulich von Parteien, Gruppen und Personen dar, die Rassismus in diesem Sinne antwortete übrigens Sozialbürgermeister und Diskriminierung zum maßgeblichen Teil ihrer politi- Thomas Fabian im Stadtrat auf die AfD-Anfrage: „Auch schen Aktivitäten gemacht haben. Ein weiterer Schwerpunkt mein Dezernat und meine Person werden hin und wieder setzt die schon in der letzten Broschüre aufgegriffene De- kritisiert. Ich halte das aus. Die Förderung solcher Projekte batte um Asylunterkünfte und Alltagsrassismus fort. Neben dient auch der demokratischen Bildung. Das müssen Ver- den Legida-Demonstrationen kamen wir besonders hier in waltung und Politik auch mal aushalten.“ manchen Wochen kaum mit der Dokumentation von Über- griffen hinterher, so sehr überschlugen sich die Ereignisse. Wir danken allen Menschen, die auf vielfältige Weise zur Ent- Über einzelne Ereignisse hinaus wollen wir in mehreren In- stehung dieser Broschüre beigetragen haben, insbesondere den terviews vor allem der Perspektive der von Rassismus Be- Fördermittelgeber_innen der Stadt Leipzig und der Rosa- troffenen Raum geben. Die Rubriken „Rechte Subkultur“ Luxemburg Stiftung Sachsen. Und natürlich den zahl- und „Rechte Gewalt“ beleuchten die Ausprägungen dis- reichen Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen, die diese kriminierender Ideologien in alltäglichen gesellschaftli- Ausgabe mit ihren Artikeln bereichert haben. Dank auch an chen Bereichen (z.B. dem Breitensport) und deren Folgen in Layout, an Fotograf_innen und Korrekturleser_innen. Form zunehmender gewaltvoller Angriffe. Wie immer gilt, dass sich die Redaktion die namentlich ge- Dass eine regelmäßige Bestandsaufnahme der „Leipziger kennzeichneten Artikel nicht unbedingt zu eigen macht. Wir Zustände“ notwendig ist, zeigen auch die Reaktionen auf ihr haben uns zudem bemüht, in allen Artikeln den verschie- Erscheinen. So warf uns im Dezember 2015 die AfD-Frak- denen Geschlechtsidentitäten gerecht zu werden, statt wie tion im Leipziger Stadtrat in einer Anfrage vor, „tendenziös durch die deutsche Grammatik suggeriert nur Männer an- [gegen eine] bestimmte politische Richtung Stimmung“ zu zusprechen, oder das einschränkende Mann-Frau-Schema machen. Maßstab für die Berichterstattung auf www.chro- zu bedienen. Daher verwenden unsere Autor_innen ver- nikLE.org und in der Broschüre sind die universellen Men- schiedene Schreibweisen. Falls Sie und ihr beim Lesen da- schenrechte und die Gleichwertigkeit aller Menschen. Auf rüber stolpern sollten, so war das unsere Absicht. Diese unserer Webseite werden seit November 2008 neonazisti- Schreibweisen verwenden wir nicht bei Personen, die auf sche, rassistische und diskriminierende Ereignisse in der den patriarchalen Vorstellungen der Geschlechter beharren. Stadt Leipzig sowie den Landkreisen Leipzig und Nord- sachsen dokumentiert. Dazu gehören Gewalt- und Propa- Die Redaktion

4 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: De Havilland bei Flickr unter CC BY 2.0 - Format geändert photo:

01KAPITEL LEGIDA AND FRIENDS Legida am 6. Juni 2016

5 photo: visual.change

LEGIDA AND FRIENDS

ZWEI JAHRE LEGIDA Eine Chronologie der Ereignisse

von Tim Wagner straßenviertel. Bei der zweiten Demo, am 21.01., mobi- Je nach Zählweise haben seit Januar 2015 in Leipzig min- lisiert Pegida aufgrund eines Demoverbots in Dresden destens vierzig Demonstrationen der „Leipziger gegen die nach Leipzig. Dort findet mit ca. 5000 Polizist*innen Islamisierung des Abendlandes“, dem lokalen PEGIDA -Able- laut Medienberichten einer der größten Polizeiein- ger, stattgefunden. Hinzu kamen Demos der OFFENSIVE FÜR sätze seit der Wende statt. Legida hatte bis zu 60.000 DEUTSCHLAND (OfD) und Aufmärsche von THÜGIDA (Thürin- Demonstrierende angemeldet, schlussendlich betei- gen gegen die Islamisierung des Abendlandes). Es waren die ligen sich ca. 5000. Am Tag selbst kommt es zu einer ersten erfolgreichen, für Neonazis anschlussfähigen, rechten völligen Stilllegung der gesamten Innenstadt und zu Aufmärsche seit über 15 Jahren in der Leipziger Innenstadt einer bundesweiten Neonazibeteiligung an der rechten und eine Demonstrationsserie neuer Qualität. Demo über den Leipziger Ring. Bei dieser kommt es unter den Augen der Polizei zu Angriffen auf Gegende- [1] Die Europa-Ausgabe Damit einher ging zumindest teilweise der „Mythos der monstrierende und Journalist*innen. In einer chaoti- des Time Magazins hatte roten Hochburg Leipzig“ zu Bruch sowie die tempo- schen Aufmarsch-Situation schaffen sich Neonazis für im Februar 2016 Pegida als räre Etablierung von Angsträumen für Migrant*innen, kurze Zeit einen rechtsfreien Bedrohungsraum, in dem Cover-Foto. Linke und „Vermeintlich Andere“. Im Laufe des Jahres das Gefühl der spontanen Selbstermächtigung sichtbar 2016 wurden die Demos jedoch zunehmend unregel- zu Freude bei den Beteiligten führt. mäßiger und seit Herbst zeichnet sich vermutlich ein Am folgenden Mittwoch, dem 30.01.2015, dem Jah- Ende der Legida-Aufmärsche ab. restag Tag der Machtübernahme durch Hitler, wird Legida, unter den Eindrücken der Vorwoche sowie Im Oktober 2014 findet der erste Pegida-Aufmarsch fehlender Polizeikräfte nur eine stationäre Kundge- in Dresden statt. Die Demos wachsen rasch an und er- bung erlaubt. Die Teilnehmendenzahlen auf beiden halten weltweite Aufmerksamkeit[1]. Im Dezember ver- Seiten gehen am 30.01. deutlich zurück und Legida öffentlicht Pegida ihr Positionspapier und Legida radikalisiert sich im Verhältnis zur Teilnehmerzahl kündigt ihren ersten „Abendspaziergang“ für Januar mit noch mehr Hooligans und Neonazis weiter. Die 2015 an. Ende Dezember folgt Legida ebenfalls mit Polizei greift jedoch weiterhin vor allem hart gegen einem Papier was inhaltlich deutlich radikaler ist und Gegendemonstrant*innen durch und verhaftet vorü- über die Dresdener Forderungen hinausgeht. Unter bergehend einen Fotojournalisten. anderem fordert es die „Beendigung des Kriegsschuld- In der Zwischenzeit werden die Streitigkeiten zwischen kultes“. Pegida-Gründer Lutz Bachmann ist nicht be- Pegida und Legida größer und Pegida prüft angeb- geistert und Legida überarbeitet die Forderungen lich sogar eine Unterlassungsklage. Auch wenn die leicht. Differenzen später ausgeräumt werden, bleibt das Ver- hältnis zwischen den beiden Gruppen angespannt und Die ersten Legida-Demos im Januar 2015 in Leipzig es gibt immer wieder Konflikte. sind städtische Großereignisse mit vielen Superlativen. Bei den Gegenprotesten am 12.01. kommen bis zu Die nächste eigentliche Demo am 09. Februar 2015 30.000 Menschen zusammen, jedoch läuft Legida re- wird von der Stadt Leipzig mit Verweis auf einen Po- lativ unbehelligt mit ca. 3000 Personen durchs Wald- lizeinotstand in Sachsen untersagt. Dabei handelt

6 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: Tim Wagner

Insgesamt 65 Kilometer lang waren die Aufmarschstrecken der LEGIDA-Aufmärsche. es sich um einen viel diskutierten Grundrechteein- Team und gründet die neue Initiative Offensive für [2] Götz Kubitschek ist ein griff. Stadt, Land, Polizei schieben sich gegenseitig Deutschland (OfD).[5] Markus Johnke aus Wurzen wichtiger Vordenker der die Schuld zu. Dennoch versammeln sich spontan ca. übernimmt die Führung von Legida. Außerdem „neuen Rechten“ und Mit- 150 Personen, vorrangig Neonazis, in Leipzig. Diese schließt sich erstmals und einmalig ein eigener Block begründer des „Instituts für werden von der Polizei zum Hauptbahnhof geleitet der Identitären-Bewegung[6] der Demo an. Götz Ku- Staatspolitik“. und erhalten Ordnungswidrigkeitsbescheide. Auch am bitschek spricht als Redner und Ester Seitz macht Wer- 16.02. wird Legida nur eine stationäre Kundgebung bung für Widerstand Ost West (WOW)[7]. [3] Jürgen Elsässer ist auf dem Augustusplatz gestattet, auf der sie die Grün- Herausgeber des neu-rechten dung eines Vereins bekannt geben. Zum Spätsommer und Herbstbeginn kommt es bei vier Magazins Compact und Legida-Demos zu Sitzblockaden. Im August versucht sprach mehrmals bei Pegida, Die folgenden Demos im März 2015 sind deutlich ru- sich Legida im Waldstraßenviertel und muss trotz siehe Artikel zu Compact in higer. Legida läuft fünfmal nord-östlich vom Augus- eines brutalen Polizeieinsatzes Streckenverkürzungen diesem Heft, S. 16 tusplatz um das Wintergartenhochhaus und bei den durch Gegendemonstrierende hinnehmen. Im Sep- Gegenprotesten hat sich die Zivilgesellschaft praktisch tember wird Legida dann dreimal teilweise am Haupt- [4] Gerd Wilders ist Vorsit- komplett zurückgezogen. Unter den rechten Demons- bahnhof und auf dem Westring blockiert. Hervorzu- zender der rechtspopulisti- trierenden sind regelmäßig Personen aus Neonazi-Ka- heben ist der 14. September, an dem ca. 100 Personen schen „Partij voor de Vri- meradschaften. Auch dieNpd läuft einmal offen mit aus dem Hooligan- und Neonazi-Spektrum nördlich jheid“ (Partei für die Freiheit) eigenem Transparent mit. Aus der Demo ertönen, ähn- vom HBF zur Legida Kundgebung ziehen. Sie haben in den Niederlanden. lich wie in den ersten Wochen, Rufe wie „Frei, sozial ein Transparent dabei, welches auch schon bei Lok und national“ und „Antifa Hurensöhne“. Zu diesem Fußballspielen zum Einsatz kam. Auf diesem steht ge- [5] Die OfD ist eine rechte Zeitpunkt haben bei Legida, neben dem Orga-Kreis, schrieben: „Wir sind Leipzig ihr Fotzen“. Vor Beginn Abspaltung von Legida, die schon einige prominente Redner gesprochen, z.B. Götz der Demonstration versuchen Teilnehmende die Po- sich noch früher offen für Kubitschek[2], Jürgen Elsässer[3] und Lutz Bachmann. lizeiketten zu durchbrechen und den Legida-Aufzug extrem rechte Positionen gab. Über Ostern macht Legida Pause und mobilisiert zur eigenmächtig zu beginnen. Es kommt zu Jagdszenen Großdemo mit Geert Wilders[4] nach Dresden. auf Gegendemonstrierende und die Polizei verliert of- [6] Siehe Artikel zur Identi- fenbar kurzzeitig die Kontrolle. Der Legida-Aufzug ären Bewegung in diesem Bei der einzigen Demo im April 2015 sorgt vor allem wird abgebrochen. Nach weiteren Blockaden in der Heft, S. 32 die Polizei mit Gewalt für Aufmerksamkeit. Auf der Folgewoche melden die längst Totgeglaubten frustriert zukünftigen „Standard-Route“ vonLegida über den für Mittwoch den 23. September einen Trauermarsch [7] WOW war der Versuch West Ring besprühen bis zu vier Beamte gleichzeitig an. Sie wollen die Versammlungsfreiheit zu Grabe auch in Westdeutschland eine friedliche Sitzblockade der Gegendemonstrie- tragen und ziehen deswegen mit einem schwarzen Sarg große, überregionale renden mit Pfefferspray. Weiter tritt ein Beamter auf vor das Rathaus der Stadt. Der Trauermarsch verläuft „rechtspopulistische“ Demos eine am Boden liegende Person ein und ein Pferd reitet nicht sonderlich ruhig, sondern muss um ein gutes zu organisieren. WOW in die Menge. Dutzend Sitzblockaden geleitet werden. Es wird nicht versuchte dabei an „Hooligans die einzige skurrile Darbietung der Rechten gewesen gegen Salafisten“ HoGeSa( ) Die nächste erwähnenswerte Demo findet am 15. Juni sein. So läuft Legida im April 2016 mit einem „Kot- aus Köln anzuknüpfen. 2015 statt. Legida Chef Silvio Rösler verlässt das Orga- Haufen“ aus Pappmaché zur Polizeidirektion Dimit-

7 LEGIDA AND FRIENDS

[8] Chemtrails sind eine roffstraße. Auslöser war eine ungenaue Darstellung zend Übergriffe auf Journalist*innen gegeben. Diese Verschwörungstheorie in Ver- in einer Pressemitteilung der Polizei zu einem Ha- sind jedoch nicht neu, sondern seit Beginn von Le- bindung mit Kondensstreifen kenkreuz eines Legida-Teilnehmenden. Außerdem gida allgegenwärtig. Der Störungsmelder-Blog von am Himmel, über die angeb- finden sich auf der Straße regelmäßig Portraits der Au- Zeit-Online schreibt in einem lesenswerten Artikel[13] lich Gifte in der Bevölkerung tokraten Vladimir Putin und Viktor Orbán sowie ver- dazu: „Die mantraartigen „Lügenpresse“- Rufe wurden verbreitet werden. einzelt verschwörungstheoretische Schilder, z.B. gegen zunehmend zu einer Art Selbstrechtfertigung für phy- Chemtrails[8]. sische wie verbale Angriffe“. Nach Zusicherungen über [9] Kategorie C ist eine mehr Sicherheit für Journalist_innen seitens der Po- Band aus Bremen, die der Im Herbst 2015 sind Legida und die Gegenproteste lizei setzt die L-IZ ihre Berichterstattung jedoch fort. neonazistischen Hooligansze- ein ritualisiertes Spektakel. Der rechte Protest hat sich ne zugeschrieben wird. Das zwischen 500-900 Personen stabilisiert und startet Die letzte Legida-Demo mit Unterstützung von Pe- C ist auf die Kategorisierung fast immer auf dem Richard-Wagner-Platz. Die Route gida findet Anfang März statt. Lutz Bachmann kommt als „gewaltsuchende Fans“ bei lässt sich von der Polizei gut abriegeln und erfüllt den- nochmals in die Messestadt, bevor Markus Johnke Sportereignissen zurückzu- noch das Innenstadt-Bedürfnis der Rechten. Größere Mitte des Monats seinen Rücktritt vom Vorsitz erklärt. führen. Zwischenfälle oder Blockadeversuche sind selten, nur Auf Facebook macht er dabei Andeutungen, dass bei der Abreise zum Hauptbahnhof kommt es regel- es inhaltliche Differenzen mitPegida gab. Die über [10] Ignaz Bearth war und mäßig zu Pöbeleien und kleineren Zusammenstößen. den gesamten Zeitraum andauernden regelmäßigen ist in verschiedenen rechten Bei der letzten Demo im September 2015 behauptet Rechtsstreitigkeiten um jede Demoroute und die damit Kleinstparteien tätig. der Redner Friedrich Fröbel: „Bei IQ-Tests schneiden verbundenen Gerichtsgänge sind zu diesem Zeitpunkt Weiße und Asiaten deutlich besser ab als Afrikaner“. längst nicht mehr das größte Problem von Legida. [11] Tatjana Festerlingt war Denn es zeigen sich starke Ermüdungserscheinungen von Februar 2015 bis Mitte Es folgen einigen Klagen und Possen um die Aufzugs- auch bei den Organisatoren. April 2016 eine führende strecke. Eine Legida-Veranstaltung wird abgesagt, Person bei den Dresdner die Teilnehmenden treffen sich alternativ zum Glüh- Im April 2016 macht Legida endgültig kein Ge- Pegida-Demonstrationen. weintrinken. Legida marschiert im Dezember auf- heimnis mehr aus ihren Sympathien für Neonazi- grund des Weihnachtsmarkts nur einmal am Bayri- gruppen und geht in einer parallelen Demo mit Wir [12] Siehe Artikel zu Rechten schen Bahnhof. Dies wird von den Anwohner*innen lieben Sachsen/Thügida „gegen imperialistische Anfeindungen und Angriffe mit Musik und Wasserbomben quittiert. Kriegstreiber“ auf die Straße[14]. Es ist der endgültige gegenüber demokratischer Bruch mit Pegida und der wohl gescheiterte Ver- Institutionen in diesem Heft, Die zweite Demo im Januar 2016 zum einjährigen such Legida neue Attraktivität zu verleihen. Nun auch S. 72 Jubiläum von Legida wurde groß beworben. Knapp wieder mit dabei Silvio Rösler, einstiger Gründer von 3000 Menschen folgen dem Aufruf. Mit Hannes Ost- Legida, der bereits im Dezember versuchte mit OfD [13] http://blog.zeit.de/ endorf, Sänger der Band Kategorie C[9], und Ignaz und Thügida durch Connewitz zu demonstrieren. stoerungsmelder/2016/02/15/ Bearth[10] aus der Schweiz stehen offen rechtsextreme ein-jahr-Legida-ein-jahr- Personen auf der Bühne. Die eigentlichen Ereignisse In der folgenden Zeit übernehmen Edwin Wagenfeld angriffe-auf-die-pressefrei- finden jedoch abseits vonLegida statt. Denn während und Tatjana Festerling zunehmend bei Legida. Die ge- heit_21224 Tatjana Festerling[11] in der Innenstadt die Unterstüt- schasste Pegida-Frontfrau gründet mit Festung Eu- zung bulgarischer Menschenjäger fordert und gegen ropa eine eigene Initiative in Dresden, die in offener [14] Der nicht offiziell von Journalist*innen hetzt, machen Neonazis im Leipziger Konkurrenz und im Streit mit Pegida steht. Im Juni PEGIDA anerkannte Ableger Süden ernst. In einem koordinierten Angriff auf Con- fordert Festerling von der Legida-Bühne öffentlich ein wird von Neonazi-Kadern newitz zerstören über 250 Rechte mit Pflastersteinen, „klares Bekenntnis zu rechts“. Im Hintergrund steht aus NPD und Die Rechte Baseballschlägern und Feuerwerkskörpern bewaffnet noch auf dem Legida-Transparent aus früheren Zeiten mitgetragen und stellt seinen die Hauptstraße des links geprägten Stadtteils.[12] geschrieben „nicht links, nicht rechts.“ Antisemitismus offen zur Schau. http://jungle-world. Nach der Demo im Februar 2016 herrscht vor allem Beim Gegenprotest ist vor allem die Kesselung und com/artikel/2016/15/53828. Interesse an der Berichterstattung über Legida. Die Personalienfeststellung von ca. 160 Aktivist*innen er- html Leipziger Internet Zeitung (L-IZ) kündigt auf- wähnenswert, denen es im Mai erstmals gelang, Teile grund der vielen Übergriffe auf Journalist*innen die der Aufzugsstrecke auf dem Westring zu blockieren. Einstellung dieser an und erhält damit bundesweit Währenddessen ist es 2016 deutlich ruhiger als im Aufmerksamkeit. Sie beklagt die dauerhaft mangelnde Vorjahr. Nur ein Drittel so viele Demos und stagnie- Unterstützung der Polizei, das Nicht-Unterbinden von rend niedrige Teilnehmenden-Zahlen läuten ab Mitte Angriffen sowie Drohungen aus dem rechten Lager. des Jahres langsam den Abgesang von Legida ein. Die Allein 2016 hat es zu diesem Zeitpunkt bereits ein Dut- rechten Vorkämpfer gegen eine vermeintliche Islami-

8 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016

Entwicklung der Teilnehmendenzahl bei Legida-Versammlungen Entwicklung der Teilnehm endenzahlen bei LEG IDA

50005000

4400 45004500

40004000

35003500

2950 30003000 2500 e e e 25002500 d d d n n n e e e m m m h h h 20002000 e e e 1725 n n n l l l i i i e e e T T T 15001500 1000 958,5 956 937 900 960 10001000 775 750 800 750 815 805 775 666,5 715 690690 650 575 550 475 520520 450 425 410 385 425 450 385385 500500 330330 295295 330330 350350 330330 200200 11 0 150150

00 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 66 66 66 66 66 66 66 66 66 66 66 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 00 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ..22 ...22 ..22 ..22 ..22 ..22 ...22 ...22 ...22 ...22 ...22 ..22 ..22 11 11 11 22 22 33 33 33 33 44 44 55 66 77 88 88 99 99 99 99 99 00 00 00 11 11 11 11 22 11 11 22 33 44 44 55 66 77 77 99 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..00 ..11 ..11 ..11 ..11 ..11 ..11 ..11 ...11 ..00 ..00 ..00 ..00 ...00 ...00 ...00 ...00 ...00 ..00 ..00 22 11 00 66 33 22 99 33 00 00 77 44 55 66 33 11 77 44 11 33 88 55 22 66 22 99 66 33 77 44 11 11 77 44 11 22 66 44 99 55 11 22 33 11 22 00 00 22 33 22 22 00 11 00 00 33 00 11 22 22 22 00 11 22 00 00 11 22 00 00 11 00 00 00 22 00 00 00 00 00 m m m m m m m m m m m m m m m m m m m m m m m m m m m m mm m m m m mm mm mm mm mm m m AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA A A A A A A A A A AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA AA

Datum

Quelle: Mittelwert des Schätzintervalls der „Forschungsgruppe Durchgezählt“ (www.durchgezaehlt.org)

sierung des Abendlandes in Leipzig, welche sich gerne in Leipzig den Grundstein für ein Klima, in dem sich in der Tradition der friedlichen Revolution sehen und Rechte legitimiert und befähigt sahen, Angriffe auf sich vieler Anleihen aus dem Herbst 89 bedienen - bis Linke und Asylsuchende durchzuführen. hin zu Selbstermächtigungs- und Revolutionsphanta- sien - sind auf eine kleine, immer gleiche Gruppe ge- Legida war und ist Teil der neuen überregionalen so- schrumpft. zialen Bewegung von rechts, die vor allem in Sachsen sehr erfolgreich ist und auch vor Leipzig nicht halt- Die vorläufig letzten Demos von Legida sind unspek- macht. Hier speziell blieb Legida jedoch ein isolierter takulär. Nachdem der Ordner „Ronny“ auf seinem rechter Aufmarsch, dem es in Leipzig nicht gelang, Nachhauseweg von der Demo am 04. Juli angegriffen diesen Bewegungscharakter zu entfalten und größere und verletzt wird, veranstaltet Legida wenige Tage Teile der Bevölkerung oder gar die Zivilgesellschaft später eine Sonder-Demo unter dem Motto „Wir gegen zu erreichen. Dies unterscheidet Leipzig und Legida Gewalt“. Nur ca. 150 Personen kommen. Die Anmel- vom restlichen Sachsen, in dem rechte Strukturen oft dung für August zieht Legida beim Ordnungsamt zu- bis tief in Stadt- oder Dorfgemeinschaften reichen und rück und im September wird aus der angemeldeten es eine lang tolerierte Geschichte von Neonaziaufmär- Demo, aufgrund der wenigen 200 Teilnehmenden, schen gibt. Es ist Antifaschist*innen und linken Netz- nur eine stationäre Kundgebung. Parallel dazu entsteht werken mit ihren Gegenprotesten, ihren Interventi- eine weitere neue Facebookseite, da es wohl Schwierig- onen und ihrem öffentlichen Druck zu verdanken, dass keiten mit der Administration gibt. Im Oktober 2016 eine solche Erosion der Zivilgesellschaft nach rechts in muss Legida wegen verschiedener Gerichtsverfahren Leipzig ausblieb. n ihre Anhänger*innen um Geldspenden bitten. Für die nächste ausstehende Demo Anfang November gibt es Tim Wagner ist Fotojournalist, studiert Soziologie und beglei- zwei Wochen vorher noch keinerlei Mobilisierung. tete viele Legida Demos.

Legida hat mit ihren knapp 65 km gelaufener Gesamt- Zum Weiterlesen über rechte Bewegungen: strecke Leipzig nachhaltig verändert. Zwar ist es Le- Geiges, L., S. Marg & F. Walter, 2015: PEGIDA die gida nicht gelungen, eine Massenbasis wie in Dresden Schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?. Bielefeld: aufzubauen, dafür gerierte sie sich von Anfang an offen transcript Verlag. neonazistisch und trat umso aggressiver auf. Dies ver- stärkte sich im Laufe der Zeit durch die immer stärkere Häusler, A. & F. Virchow (Hrsg.), 2016: neue soziale Bewe- gung von rechts? Hamburg: VSA Verlag. Anbiederung an neonazistische Gruppen, während die Zahl der Teilnehmenden kontinuierlich sank. Mit den Liske, M. & M., Präkels (Hrsg.), 2015: Vorsicht Volk! zweitweise wöchentlichen Demos legte Legida auch Oder: Bewegungen im Wahn? Berlin: Verbrecher Verlag.

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DER AMI, DER JUDE, DER RUSSE UND ICH Ein Besuch bei Legida

von Schubél triotischen Plattform“ - der Rechtsaußen-Flügel der Am 1. Februar 2016 habe ich an der LEGIDA-Demo teilge- Rechtsaußen-Partei AfD - angebracht. Der politi- nommen. Ich wollte wissen, was das für Menschen sind, wie sche Schulterschluss zwischen Würstchen und Ober- sie reden, wie sie denken oder fühlen. Reden wir also über trikotagen entlarvt die politische Stoßrichtung der Standpunkte. Beteiligten. Wer AfD sagt, meint *GIDA und umge- kehrt. Die Versammlung beginnt mit der Titelmusik Der Artikel erschien zuerst Um einen „abgesicherten Zu- und Abgang“ zu ge- des „Schwarzen Kanals“, der Propaganda-Sendung des als dreiteiliger Erlebnisbe- währleisten, treffen sich dieLegida -Teilnehmer im DDR-Fernsehens. Das Licht auf dem Platz erlischt, als richt zur Demonstration Leipziger Hauptbahnhof. Ich stelle mich wie selbstver- die Versammlungsauflagen verlesen werden. Mittler- von Legida und den Ge- ständlich zu herzhaft debattierenden Leuten. Um die weile stehen 500 Leute lose auf dem Platz. genprotesten vom 01. Fe- Tarnung zu perfektionieren, habe ich mir eine Dose bruar 2016 auf dem Blog Bier gekauft und starre nun scheel-grimmig auf die Ein Mann verteilt Flyer einer neuen Bewegung namens www.blog.flohbu.de. Zur Menschheit. Es fällt mir schwer, den Blick soweit zu „Einprozent“. Professionell gestaltet, nicht zu viel Text, Veranschaulichung ver- entleeren, bis er nicht mehr neugierig wirkt. Das Miss- dafür jede Menge Sendungsbewusstsein. Ich frage ihn, wendet der Autor Formu- trauen gegen jeden, selbst gegen den Nachbarn im was das denn für ein Anliegen sei. Einprozent. Klingt lierungsweisen, wie sie bei Pulk, ist mit Händen zu greifen. Was treibt diese Men- irgendwie seltsam klein. Legida üblich sind. schen an? Sind das hier wirklich alles Nazis und bein- – Nein! Das ist so ein neues Projekt. Da steckt der El- harte Rassisten? Die eine Hälfte wirkt, als stünde sie sässer dahinter. regelmäßig vor oder hinter mir an der Kasse des Su- – Der Elsässer… permarkts, während die andere sich gar keine Mühe – Kennste den? macht, ihre potenzielle Aggressivität zu verbergen. – Elsässer? Ist das der mit der Zeitung? – Ja, genau, der. Von Compact. Den sein Ding ist das. Der Zug setzt sich in Bewegung. Einzelne skandieren – Kann man sich ja mal angucken. Aber Ruhe nun, die „Jung muss weg!“, andere stimmen mit ein. Man sam- Rede beginnt. melt sich vor dem Hotel Astoria, ist solidarisch, wartet [An dieser Stelle in Gänze zu beschreiben, was zu aufeinander. Es geht weiter. Wir erreichen die Un- hören ist, mag ich dem werten Leser nicht zumuten. terführung - ein steinerner Darm durch den sich die Alle, so die Redner, haben Angst. Alle, so die Redner, Masse auf die andere Straßenseite ergießt. Es riecht bewaffnen sich. Ständig, so die Redner, werden un- auch so. Akustiktest: „Unsre Fahne | unser Land | Ma- sere Frauen und Töchter vergewaltigt. Andauernd, so ximaler Widerstand!“. Jemand hat wohl auf den Stufen die Redner, werden die Deutschen bestohlen und be- Buttersäure vergossen. Der Zug trottet weiter vorbei raubt. Grundsätzlich, so die Redner, berichtet die am Einkaufszentrum, an dem sich Gegenprotest for- Presse nicht darüber. Und alle anderen, außer den Red- miert hat. Der Chor stimmt „Antifa – Hurensöhne“ an. nern und den stolzen Patrioten, sind daran Schuld, so Ein Einzelner: „Warum seid ihr Huren so wenig?“. Wir die Redner.] Das Publikum wird im Wechselspiel zy- erreichen den Richard-Wagner-Platz. Am Eingang des nisch lachend, empört aufheulend, zustimmend klat- Demonstrationsgebietes steht ein junger Mann und schend und kehlig „Jawoll“ rufend gemacht. Präambel versucht auf dem letzten Meter aufzuklären: „Mit der des Abends: Die USA sind der Satan. Da wir aber nicht NPD stellt ihr euch da hin, wisst ihr das?“. Man legt in Teheran sind, wird differenziert: Es sei ja nicht alles ihm nahe, das Maul zu halten und arbeiten zu gehen. schlecht an den USA. Es gäbe da ja noch „Harley Da- vidson, die Rocky Mountains und Las Vegas“. Männer mit Dosen gehen umher: „Eine Spende für Legida“. Neben der Bühne werden bedruckte T-Shirts Legida entreißt der Raumzeit den mit Hamburger angeboten. Ein Imbiss verkauft Punsch, Kaffee, Würst- Gittern umzäunten Richard-Wagner-Platz. Über uns chen und das gute Gefühl, mit dem Verzehr Legida zu bildet sich eine Blase die gegen alle Vernunft wirksam unterstützen. Am Transporter ist ein Schild der „Pa- abschottet. Während der Redebeiträge herrscht die

10 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: Tim Wagner

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Wladimir Putin: Hoffnungsträger vieler LEGIDA-Anhänger_innen eine, schillernde Wahrhaftigkeit im Kasernenhof der Da die Straßenbeleuchtung noch funktioniert, ist klar, eigenen Empathiereste. Der hier miteinander geschlos- weshalb diese Flugabwehr-Strahler mitgeführt werden. sene Friede durch Einigkeit ist so stark, dass man alles Aber man erzählt es gerne jedem nochmal: „Die das Mögliche tun kann, außer den Rednern wirklich zu hier fotografieren, das ist alles Antifa!“. folgen. Schließlich verpasst man nichts, wenn einem nach dem Maul gesprochen wird. Die Ordnungsbehörden der Stadt haben Legida den Weg bereitet, in dem sie den Gegenprotest systema- Johnke spricht: Wir „hier unten“ werden gegenein- tisch ins nicht mehr Wahrnehmbare abgegrenzt haben. ander aufgehetzt. Aber Legida hat den Plan erkannt, Den Rest der Strecke dürfen sie sich als Sieger fühlen. aber „leider sind wir noch zu wenige“. Die ganzen Die Straßen sind gespenstisch leer. Nur wenige Poli- Volksverräter, die Lügenpresse und all die anderen zisten halten sich weit entfernt von der Menge auf. Das Verbrecher, die uns gegeneinander ausspielen und un- muss diese so viel besprochene Deeskalation sein. So terdrücken müssen endlich zur Rechenschaft gezogen bleiben auch die unsägliche Hetze im Innern des Auf- und entmachtet werden! marsches oder die Absprachen bezüglich der Gegende- Niemand hört mehr so recht zu. Aber Johnke hat noch monstrierenden oder die sich wiederholende Hatz auf ein AfD im Ärmel. Der Anwalt Roland Ulbricht gibt Journalist*innen und vieles mehr unbeachtet. sich einleitend servil, entschuldigt sich für den nun kommenden „juristischen Zwischenruf“. Dann legt Manchmal wird der Zug lauter, wenn beispielsweise er los: die Lügenpresse und Höcke; die Kommunika- aus einem „Merkel muss weg!“ ein „Ferkel muss weg!“ tion der deutschen Gerichtsbarkeit; Petrys „kolpor- wird. „Das Volk“ indes ist sehr sendungsbewusst. So- tierter“ Schießbefehl; die Blockade von Demonstrati- bald man sich einem Demonstranten nähert, bekommt onen… Spätestens jetzt hat man es amtlich beglaubigt man seine hauseigene Theorie über den Lauf der Welt und hoheitlich gesichert erzählt bekommen. Der Mann zu hören. Es existiert offenbar ein Urmythos, der aus ist schließlich Jurist. diesen Menschen heraus drängt, erzählt werden will, seine Wahrhaftigkeit dadurch erlangt, weil alle diesen Dies expertokratische JAWOLLJA! der ganzen Welt! Mythos kennen und erzählen: Vom Bösen da draußen Das „Wir“ in dieser Raum-Zeit-Singularität kann wahr- und vom Guten hier drinnen. Die Bösen sind ein- lich nicht mehr aus schlechten Menschen bestehen, deutig identifiziert: Das internationale Finanzkapital. sondern aus formal sauberen, permanent Bedrohten. Die USA. Die Araber. Die Muslime. Die Kirchen. Die Da kann sich der Gutmensch aber mal einen Senkel Gewerkschaften. Die Regierung. Die Ölscheichs. Die draus drillen! Der Anwalt schließt: „Es lebe unser hei- Multis. Die Moslems. Die USA. Neger. Die Multis. Die liges Deutschland!“. Kleine Gruppen gibt es nun nicht Guten: Wir. Exklusiv. mehr. Die Menge ist wieder ganz Menge. Die von mir anfänglich wahrgenommene Zurückhaltung in den Ich stelle mich ahnungslos, biete mich als Projektions- untereinander getätigten Äußerungen ist nicht mehr schirm für all die Schmalfilme an, die aus den schwach wahrnehmbar. Johnke ruft zum Spaziergang. Eilig wird erleuchteten Köpfen hasserfüllt strahlen wollen. Mir in Rucksäcken gekramt, Taschenlampen hervorgeholt. wird schlecht. Um nicht aufzufallen und den Rede-

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fluss bei meinem Gegenüber nicht versiegen zu lassen, mostrecke, erkennt sie und taxiert sie auf einen ge- nuschele ich immer irgendwas von „Verstehe“ und wissen „Fickbarkeits-Marktwert“. Dieses Gespräch „Ja. Aha. Ok!“. Nichts liebt man hier mehr als eine or- findet zwischen Frauen statt. Männer feixen. Über- dentliche Dozentur und so merkt auch niemand, wie haupt wird an dieser Stelle auch der Charakter als ega- schnell man „gemeinsam“ die Zone der Differenzie- litäre Graswurzelbewegung deutlich: Alle anderen ge- rung verlässt, um im Sumpfland des Hasses über die hören gleich schlecht behandelt, das Wir hingegen darf braunen Flecken in der Hose des jeweils Anderen zu sich so beschissen benehmen wie es will. Dies ist der debattieren. Denn eins ist klar: Nazi ist hier mal schon Dung, an dem die Wurzeln zehren. Er kommt aus des gar keiner. Nur weil Deutschland damals dieser Krieg Volkes Mund. passiert…Vom „Sie“ zum „Du“ in unter zehn Se- kunden. Im Antisemitismus sich vereint glaubend, Der Zug wendet. Protest in Hör- und Sichtweite wird überspringt der Demonstrant in nur wenigen Augen- an dieser Stelle von der sächsischen Polizei strategisch blicken die Distanz zu mir. Diese Reihen sind wahrlich gedehnt ausgelegt. Als „Wir sind das Volk“ vorm Zu- fest geschlossen. Der Widerstand braucht das. gang zum Burgplatz abdrehen, hört man, wie der Was- serwerfer seine Aggregate hochfährt. Es muss nicht Wir erreichen die „Runde Ecke“. In der langgezogenen betont werden, dass dieser stets auf die Gegendemons- Kurve hat sich eine Sitzblockade formiert. Die Menge tration gerichtet ist. Doch es scheint nur so, als läge fordert die Exekutive zum Handeln auf: „Räumen! ein handfester Widerspruch vor. Während der Leip- Räumen! Räumen!“. Schnell wird hier ein spartaner- ziger Polizeipräsident beklagt, dass im gesamten Land gleiches Gemetzel herbei gewünscht, gerne auch unter eine Pogromstimmung herrsche, lassen Ordnungsbe- Einsatz der beiden Wasserwerfer. Von der Hochschule hörde und Polizei nichts unversucht, denjenigen, die für Musik und Theater ruft es herunter. Junge Men - diesem Treiben Einhalt gebieten wollen, das Leben so schen rufen laut „Refugees Welcome“. Man ist er- schwer wie möglich zu machen. Die Polizei kontrolliert regt. Weitere junge Menschen winken aus den Fens- nach ihren eigenen, unhinterfragbaren Maßstäben die tern des Schauspiels. Das stürzt die Spaziergänger in Szene. Legida ist unter sich. Einwände stören hier nur. arge Selbstzweifel. Man sucht Halt aneinander, aber Die Parade defiliert wieder zum Ring. Das gegenseitige nicht nur geistige Wagenburgen sind so eng, dass man Angebrülle ebbt ab. Eine polizeiliche Kontrolldichte nur Rücken an Rücken nach außen schreien kann. ist bei Legida kaum wahrnehmbar, währenddessen in Die Chöre genossen bisher den Imperativ des „Jung der Vergangenheit Einsatzfahrzeuge an der Hainspitze muss weg!“, betrieben Abstammungslehre via „Ant- durch die Gegendemos bretterten. Freistaatlich wird fiaaaaaa!!! Hurensöhöneeee!!!“, wussten zu sagen, wie ein Demonstrationserlebnis organisiert, der Besitz der viel man Deutschland lieben muss, um hier bleiben zu Straße gefeiert und ausgekostet. können und antworteten auf die nie gestellte Frage, wer denn eigentlich das Volk ist. Nach dem Schauspiel ge- Wir sind auf dem Rückweg. Schlecht ist mir seit einer langt man nun an die zweite lautstarke Gegenbewe- ganzen Weile schon. Ich schäme mich weil ich mir ein- gung, bei der man sich aber sicher ist, dass es dieselbe bilde, dass die Menschen auf der anderen Seite mich wie auf dem Richard-Wagner-Platz ist. ansehen und denken: So sehen also Rassisten aus. An der Spitze des Zuges läuft ein Fronttransparent der Im Spiel der Elemente wächst der Mensch. Der Bürgerbewegung Altmark neben dem von Legida. Himmel stürmt, der Gegenprotest tobt. Links und Jemand hat ein T-Shirt mit der Aufschrift „Asylwahn rechts stehen Journalisten in sicherer Entfernung. Und stoppen“ darüber gehangen. Daneben: Ein Schild mit immer wieder blitzen die Lichter, einerseits entlang an der Aufschrift „Deutsche Volksherrschaft PEGIDA“. Fassaden, um sich potenzielle Fensterfeinde vom Hals The Walking Dead. halten zu können, andererseits in die Objektive der Ka- meras. Irgendwo sieht man Abgeordnete an der De- Bunte Fahnen tanzen: Die Wirmer-Flagge läuft neben

12 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: visual.change TEXT

Gruß aus Dresden bei LEGIDA am 7. März 2015 der des Königreichs Preußen, hinter der der Bundesre- bequem in der wohlig beheizten Drei-Zimmer-Woh- publik Deutschland, neben der des Königreichs Sach- nung, so marschiert es über den Ring of Rumgeleier. sens, flankiert von einer DDR-Fahne mit verdrehtem Emblem, eine „Islamists not welcome“-Fahne mit Müde trotten wir auf den Platz der Kundgebung zu- identitärem Minilogo verdeckend, kontrastierend zu rück. Es ist kalt, Nasen laufen. Wenn man eine Flüs- einem Schland-Russland-Mix, gespenstisch ange- sigkeit abkocht, bleibt ihr fester Bestandteil zurück. So flattert vom kaiserlichen Schwarz-Weiß-Rot, vor der nun auch hier. Die Gesichter sind grimmiger, die Ja- Sachsenflagge. Die Fahnenstangen bestehen aus me- cken schwärzer, die Haare kürzer, die Fäuste geballter. tallischen Teleskop-Besenstielen, florettartigen Angel- Die ursprüngliche Melange aus Kleinbürgertum und ruten, und massiven Billard-Queues. rechts-spektraler Klientel hat eine Phasenverschiebung durchgemacht. Mich überkommt zum ersten Mal am Woher kommt der Hass? Ich vermute: Absurderweise Abend das Gefühl, dass nur noch ein Funke benötigt aus einem Gefühl tiefster Verunsicherung. Scheinbar wird, um die Eskalation zu initiieren. Der letzte Redner: angegriffene Selbstwertgefühle knicken vor einer ex- Graziani aus Berlin, menschgewordener Brandsatz un- tern produzierten Angst ein. Die Gründe des Hasses terwegs im Namen der Verachtung. Hörten schon bei stammen nicht aus eigenen Erlebnissen von bedrohli- Johnke nur noch Wenige zu, ist beim Gastredner auf- chen, klar benennbaren Situationen, sondern aus Nar- grund des Abwanderungsverlustes noch weniger An- rativen, eingeflüstert von fahrbaren Rednerpulten, quer klang zu registrieren. verteilt durch ganz Deutschland, bequem erreichbar in innerstädtischen Fußgängerzonen bei Mondschein Die Kundgebung ist beendet. Wir verlassen den Platz. oder Tablet-PCs auf heimischen Sofas. Eine von allen Am Eingangsgatter kommt es kurz zum Tumult. Die direkten Erlebnisformen der Welt abgekoppelten Mit- Rechten sammeln sich flugs und brechen Richtung Ge- telschicht ist von dem Gefühl beherrscht, aufgrund von gendemonstranten auf. Diese stehen nahe an der Fahr- Bedingungen, die sie selbst nicht kontrollieren kann, bahn und können nicht ausweichen. Der Tross lässt unter ihren Möglichkeiten geblieben zu sein. Obschon also verbal noch einmal alles raus, was drin ist. Hier man nach den Regeln des Systems gespielt hat, ist man gehen Hunderte an einem Dutzend vorbei und fühlen im System selbst nur Letzter. Ganz im Gegenteil zu den sich volker als Volk. Wir gehen den selben Weg wie bei Anderen, den Fremden, den Fremdartigen, den Unar- der Anreise zurück zum Bahnhof. Mir ist kalt. Ich bin tigen, den Nutzlosen, den Systemverweigerern: Deren fertig. n Sorgen werden gehört, meine nicht. So weint es sich

13 von Nhi Le da man wissen wolle wo ich WIRKLICH herkomme. Ich sitze am Fenster mit Blick auf die Hannoveraner Ein Nest an der Werra könnte doch nicht meine Her- Limmerstraße. Der türkische Supermarkt hat für kunft beschreiben, weil ich ja so anders aussehe. heute zugemacht. Neben der Sparkasse ist ein Be- Hitze, Verkehrschaos und Reis, sind Dinge, die ich kleidungsshop, dann kommen Kioske. In Leipzig doch mögen müsste, weil sie mir so nahe stehen, nennt man das anders, Spätis zum Beispiel. Aber in einfach weil ich ja so anders aussehe. Leipzig ist es sowieso ein bisschen anders. Ich liebe Da ist man 18 Jahre lang in einer thüringischen die Stadt, aber nicht was dort mittlerweile wöchent- Kleinstadt aufgewachsen und war meist nur Nhi Le. lich zu sehen ist. Legida nennt sich das Phänomen Nicht „die kleine Asiatin“ oder „die kleine Vietna- und die Bewegung zeigt sich offen rassistisch. mesin“ oder „die Kleine mit den Schlitzaugen“. Men- schen tun so, als sei ich eine Fassade, angekettet an Die Hälfte meines Monats verbringe ich in Leipzig, den Migrationshintergrund. die andere in Hannover. Statt in unterschiedlichen Aber eigentlich wäre das ja alles egal. Man könnte Bundesländern, fühle ich mich wie in zwei Welten. immer noch sagen, dass je mehr Menschen in einer Während mir in Leipzig ständig neue hässliche Stadt leben, desto mehr auch blöde Fragen und Seiten der besorgten Bürger und Bürgerinnen ge- Kommentare von sich geben können und ich liebe zeigt werden, sperre ich in Hannover alles aus. Das mein Leipzig doch, aber ich gehe auch gerne fremd ist nicht der dauerhafte Umgang und auch hier gibt mit Hannover. es Nazis, aber in Hannover spüre ich nicht dieses enge Gefühl in der Brust. Denn während ich die 12. Januar Limmer runterlaufe und sich die junge Familie beim Die Freundin der Freundin sagt, dass diese An- türkischen Bäcker Baklava kauft und der Herr im tifas ja nur auf Krawalle aus seien. Ich drehe mich Anzug sich etwas bei Viet Street Kitchen über die vi- um. Wir laufen die Jahnallee entlang und ich habe etnamesische Küche erklären lässt, kommt niemand das Gefühl, dass das nicht das letzte Mal Gegen- auf die Idee zu bemerken, dass ich ja irgendwie demo sein wird. Zuerst steht nur ein kleiner Haufen Angst haben müsste, da ich ja anders bin. mit Deutschlandfahnen am Waldplatz einer brüllt Eigentlich fühle ich mich nicht anders, es ist eher so, uns „Geht zurück nach Istanbul“ zu. Das ist also dass ich anders gemacht werde. ein Leipziger, der hier gegen die Islamisierung des Abendlandes protestiert. Und alles daran ist falsch. Freude, Staunen, Begeisterung sind Reaktionen auf Dieses Abendland ist so ein blödsinniger Begriff, so Sätze, die aus meinem Mund kommen, weil sie so blödsinnig, dass es perfekt zu der Bewegung und schön klar klingen. Weil mein Deutsch so gut sei. all seinen Widersprüchen passt. In Leipzig fordert Diese Leute gestehen es mir nicht zu, dass ich ganz man respektvollen Umgang mit Kultur und Sprache normal sprechen kann, weil ich ja so anders aussehe. und schafft es kaum, einen rechtschreibfehlerfreien Aus Thüringen, aus Leipzig, aus der Innenstadt sind Facebookpost zu verfassen. Man stellt ein Thesen- Antworten, mit denen man sich nicht zufrieden zeigt, blatt zusammen, das vor rechtspopulistischen und

14 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 ANGST

Nhi Le studiert in Leipzig Kommunikations- und Medienwissenschaft und ist Slam Poetin, Model und Bloggerin.

Auf nhi-le.de schreibt sie u.a. über Feminismus, Anti-Rassismus und Popkultur. Der Text „Angst“ entstand nach den ersten LEGIDA-Demos. Auch wenn die Demos weniger geworden sind, ist seit dem Aufkommen ein Angstgefühl geblieben. photo: Tom Thiele verschwörungstheoretischen Forderungen nur so russischen Menschen im Neubaugebiet schimpfen. wimmelt und letztlich könnte man auch das NPD Man fordert ein friedliches Europa, doch verflucht Wahlprogramm abgedruckt haben. Das würde dann alle Flüchtlinge, selbst wenn sie aus einem europäi- auch erklären, warum so viele NPD-Mitglieder dort schen Staat kommen. Denn letztlich sind Ausländer drüben auf der Straße stehen. Gut 5000 besorgte nur dann okay, wenn sie Pizza oder Baguettes ver- Bürger und 30000 dagegen. Man feiert sich. Aber kaufen, aber der Rest überschwemmt doch nur das wir sehen heute keinen wirklichen Erfolg, denn Land. laufen konnte Legida trotzdem. Ich bin müde, aber Montag, Mittwoch und heute Freitag. „Pervers, dass ich habe keine Angst. man die Demo extra auf den Jahrestag der Machter- greifung gelegt hat“ bemerkt eine Freundin und reißt 21. Januar mich aus meinen Gedanken. Außerdem wurden Le- Anderer Wochentag, andere Route. Es herrscht Aus- gida-Demos für jeden Freitag bis zum Ende des nahmezustand in der Innenstadt, die Uni ist voller Jahres angekündigt. Ich drehe durch. Freitags kann Polizisten, der Hubschrauber macht mich wahn- ich nicht, da fahre ich doch immer nach Hannover. sinnig. Vor uns die Polizei und vor der Polizei Le- Ich bin richtig sauer und die Angst ist egal. gida. Sie winken und jubeln und wir können wieder mal nichts tun. 16. Februar Mein Kumpel müsste zurück nach Hause, zurück Das vierte Mal, keine Lust mehr, kein Elan mehr. nach Delitzsch. Ich halte ihn fest. „Am Bahnhof Jeden Tag liest man etwas neues, das frustriert. Es hat es geknallt“ flüstere ich und sage, dass er bei gibt Leute, die immer noch nicht akzeptieren wollen, mir schlafen soll. Wir sitzen vor der Heizung und dass die Demonstranten da drüben auf dem Au- hängen vor Twitter. Unter dem No Legida Hashtag gustusplatz Nazis sind. Und diese Demonstranten wird die Timeline geflutet. In unmittelbarer Nähe sind nicht in einem Bus-Shuttle gekommen, son- werden Journalisten verprügelt, die Polizei sieht zu. dern wohnen hier. Leipzig – das sind deine Hools, Ich bin sauer und ich habe ein bisschen Angst. ja Leipzig – das sind deine Nazis. Ich bin sauer, ich habe Angst und ich muss erstmal weg. 30. Januar In den letzten Tagen gab es zu viel Furcht davor, al- Auf der Facebookseite steht, dass man vor und nach leine irgendwo hinzugehen und zu oft rollte ich mit der Demo nicht alleine durch die Straßen gehen meinen Augen, weil ein „Wo kommst du WIRK- sollte. Ich habe sehr viel Angst. Wir stehen am LICH her?“ nicht nur eine nette Smalltalk-Floskel Schwanenteich. ist. Und im Hannoveraner Linden tauche ich einfach Im schwarz rot goldenen Getümmel sind auch Russ- ab. Tue so, als gäbe es die Probleme in Leipzig nicht, landfahnen zu sehen. Und schon wieder ein Wider- weil auch eine Stadt recht leicht ersatzbar scheint. spruch. Die Leute, die sich eine neutrale Haltung Und Freitag und Samstag wird ein langes Wochen- zu Russland und einen starken Politiker wie Putin ende und daraus noch ein paar Urlaubstage mehr. wünschen, sind sicher auch die Leute, die über die 7 Tage ohne Angst. n

15 photo: visual.change

LEGIDA AND FRIENDS

RECHTE HETZE IM HOCHGLANZFORMAT Das COMPACT-Magazin des Jürgen Elsässer

von Von Paul Simon und Andreas Raabe cher angeklickt – und auf keiner asylfeindlichen De- Jürgen Elsässer am 21. Januar 2015 Die AfD hofiert ihn, für Ex-LEGIDA-Chef Johnke ist er ein „per- monstration im Land scheinen die Compact-Plakate als Redner bei LEGIDA sönlicher Freund“, für seine Gegner ein rechter Hetzer: Jürgen zu fehlen. Elsässer ruft zum Sturz der Regierung auf und sieht sich als Auch bei den beginnenden Legida-Demos in Leipzig Stichwortgeber einer rechten Volksbewegung. Seine Zeitschrift soll Werbung für Compact gemacht worden sein. COMPACT ist die Stimme der Ausländerfeinde. Redaktionsad- Dreimal trat Elsässer dort als Redner auf. „Meine resse ist ein Leipziger Postfach. Er selbst wohnt schon seit Zielgruppe ist das Volk“, ruft er dann ins Mikrofon mehreren Jahren im Leipziger Osten. – „Und ihr seid das Volk!“ Die allgegenwärtigen Demo-Plakate mit Compact-Titelbildern werden den Lesern auf der Website kostenfrei angeboten. Ein PEGIDA als publizistischer Durchbruch Geniestreich des Politmarketings: Woche für Woche wird so in Dresden, Leipzig und anderswo nicht Für die meisten Menschen ist Compact bloß ir- nur gegen die Überfremdung demonstriert, sondern gendein unseriöses Heft mit reißerischen Titelbil- auch für die Zeitschrift Werbung gemacht. Ein Titel- dern, über das man in letzter Zeit immer öfter im bild vom Januar 2015, das eine verschleierte Angela Bahnhofskiosk stolpert. Für Tausende treue Leser Merkel zeigt, wurde gar zum zentralen Symbol der aber ist die Compact viel mehr. Wahrheiten, die Pegida-Bewegung. Während Elsässer den nationalen ihnen die „Mainstreammedien“ und „Blockparteien“ Widerstand beschwört, baut er so auch an seinem ei- verschweigen, werden ihnen hier enthüllt – und ihre genen kleinen Medienimperium. Ressentiments bestätigt. Den Chefredakteur Jürgen Elsässer verehren sie dafür wie einen Helden. Im düs- Vom Antideutschen zum Amerikafeind teren Boulevardstil warnt das Blatt vor der fremden Bedrohung und seit Monaten geht es um wenig an- Wer Compact einmal in Händen gehalten hat, mag deres als „Morde, Massaker und Migranten“. Auch In- kaum glauben: Jürgen Elsässer ist nicht einfach „ir- terviews mit AfD-Spitzenpolitikern erscheinen regel- gendein Rechtspopulist“. Seine publizistische Kar- mäßig: Gauland, Petry, Höcke. Ein Nischenblatt für riere hatte ihre ersten Höhepunkte in der radikalen Verschwörungstheoretiker ist die Zeitschrift schon Linken des wiedervereinigten Deutschlands. Elsässer lange nicht mehr. Manchmal scheint es, als habe das gilt gar als Begründer der Antideutschen Bewegung Magazin weniger Leser als vielmehr Jünger, Fußsol- in den neunziger Jahren. Der Ex-Linke, Ex-Antideut- daten im Infokrieg, die immer wieder dazu aufge- sche, Mitbegründer der antirassistischen Zeitschrift rufen werden, sich für die Zeitschrift einzusetzen: Bahamas, Ex-Mitherausgeber der linken Wochen- „Sorgen Sie so dafür, dass wir immer stärker werden zeitung Jungle World, langjähriger Autor von Kon- – und unsere Gegner in den Teppich beißen“, fordert kret und Neues Deutschland, der heute vom Be- Elsässer sie auf. Im Webshop werden „Bekenner“- freiungskampf des deutschen Volkes predigt, ist wie Utensilien verkauft, die ihre Träger als Compact- die Bewegung, der er jetzt die Stichworte liefert: wi- Anhänger zu erkennen geben. Als die Pegida-Auf- dersprüchlich, für Außenstehende ein Rätsel. Noch märsche begannen, erkannte der Herausgeber gleich immer steckt in ihm das Revoluzzertum, das ihn of- das große Potenzial. „Liebe Leute, das ist der Wahn- fenbar einst zum Kommunistischen Bund trieb, für sinn! So etwas gab es zuletzt vor zig Jahren!“, konnte dessen Zeitung Arbeiterkampf er zu Beginn seiner er sich vor Begeisterung kaum halten. Im letzten Karriere schrieb. Politik betreibt Elsässer heute mit Jahr sei die Auflage dann auch „explodiert“. Mehr als der Unerbittlichkeit eines rechten Jakobiners: Die 100.000 Leser erreiche man nach eigenen Angaben AfD ist für ihn „der Stock, mit dem wir die Block- bereits jeden Monat, die Compact-Website hätten al- parteien prügeln müssen, bis sie grün und blau sind“. lein im Januar 2016 mehr als zwei Millionen Besu- Anfang der neunziger Jahre war Elsässer ein scharfer

16 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016

Kritiker des Völkischen. „Meine damaligen Schwach- Provinz und probt den nationalen Aufstand. Beispiel sinnigkeiten“ nennt er das jetzt. Dass er nun selbst Zwickau im Februar 2016: Trotz des eisigen Regens RECHTE HETZE IM HOCHGLANZFORMAT die Ressentiments unter die Leute bringt, die er da- drängen sich mehr als 3.000 Menschen auf dem histo- mals noch knallhart auseinander- nahm, lässt viele rischen Marktplatz und verwandeln ihn in ein rechtes Das COMPACT-Magazin des Jürgen Elsässer an seinen Motiven zweifeln. Pure Geschäftemacherei Fahnen- und Schildermeer. Ein Netzwerk regionaler mit den leichtgläubigen Wutbürgern unterstellen Graswurzelgruppen hatte zum Aufmarsch gerufen, ihm manche, Selbstdarstellerei die anderen. Aus dem mit Jürgen Elsässer als Publikumsmagnet. Auch aus scharfen Kritiker des neuen deutschen Antisemi- Bautzen, wo noch in derselben Nacht eine leer ste- tismus wurde ein Anti-Zionist, ein Kritiker der „Is- hende Flüchtlingsunterkunft in Flammen aufgehen rael-Lobby“, und schließlich aus dem Linksradikalen wird, sei eine Abordnung angereist, wird später ge- ein Wiederentdecker des nationalen Gedankens. meldet. Die Menge jubelt, als Elsässer das Podium Und es scheint ihm ernst zu sein: Während an- betritt. Er lächelt, hebt die Faust zum Gruß. Überall dere „Merkel muss weg“ schreien, entwirft Elsässer sieht man Plakate mit Motiven des Compact-Maga- in seiner Zeitschrift Compact das dreistufige Pro- zins. „Mein Name ist Jürgen Elsässer“, hallt es endlich gramm dafür. Erst müsse geklagt werden, dann bei in seinem unverkennbaren badischen Dialekt über den Wahlen mit der AfD dem „Regime“ ein Denk- den Platz. „Ich bin Deutscher und ich werde nicht zu- zettel verpasst, und schließlich, falls das noch nicht lassen, dass dieses Land vor die Hunde geht!“ genügt, komme die Stunde des Massenprotestes: „eine Elsässer tritt im schwarzen Mantel auf, trägt sonst bei zentrale Großdemonstration“, um die Regierung zum seinen Vorträgen meist Anzug und Krawatte. „Wir sind Abtreten zu zwingen. Im Oktober bereits malte er hier die neue Mitte!“, ruft er. „Die Extremisten und Fa- sich aus, mit 500.000 Anhängern den Reichstag zu schisten sitzen in Berlin in der Regierung!“ Als er An- belagern. „Es kann jetzt keine Entschuldigung mehr fang 2015 erstmals bei Legida sprach, hatte er noch geben, zu Hause zu sitzen – das Haus brennt“, sagte erklärt: „Wir sind keine Ausländerfeinde.“ Seitdem ist er auf einer Konferenz in Berlin. „Und wenn 500.000 auch in der Rhetorik Elsässers viel passiert. In Zwi- den Reichstag belagern – friedlich! –, dann hat Merkel ckau hetzt er gegen „Gang-Bang-Migranten“ und die fertig!“ Immer wieder kommt er in seinen Reden auf „Türken, Araber und andere asoziale und schlecht er- diese 500.000 zurück, es scheint eine fixe Idee zu sein. zogene Orientalen“ – er weiß, wie er auf einem säch- So wie 1989 könnten sie die Regierung stürzen, glaubt sischen Marktplatz Applaus kriegt. Er spricht vom er, oder scheint es zu glauben. „Hass auf das eigene Volk“, der die deutschen Eliten treibe. „Wir lassen uns nicht betrügen durch Humani- Der Traum vom Volksaufstand tätsschwindel!“, gibt er als Losung aus. Immer wieder wird seine Rede durch Sprechchöre unterbrochen. Seit es Pegida und seine zahlreichen Ableger gibt, „Wir dürfen nicht zulassen, dass wir auf zwölf dunkle tourt Elsässer von Leipzig aus immer öfter durch die Jahre reduziert werden“, fordert er. Er spricht von der

photo: chronik.LE „Islamisierung“, der „Kolonisierung und Invasion“. Und vom Widerstand. In prophetischen Worten be- schwört er den Weg zum Umsturz: „Jetzt, in diesem Frühjahr, können wir in die Offensive gehen. Das Re- gime hat Angst vor uns!“ Er träume davon, hier wird seine Stimme weich, fast andächtig, dass „aus dieser Bevölkerung, einer amorphen Masse atomisierter In- dividuen, dass aus dieser gesichtslosen Masse wieder ein Volk wird.“ Es scheint, als hätte er das Massenpub- likum gefunden, das er als Linker nie hatte. n

Paul Simon ist freier Journalist, Andreas Raabe ist Redak- teur beim Leipziger Stadtmagazin Kreuzer. Der Text ist eine Kurzfassung des Artikels „Wehe uns“, der zuerst im Kreuzer erschien (Ausgabe April 2016, http://kreuzer- Das COMPACT-Titelbild, das mit einem Kopftuch zeigt, wurde zum Symbol bei PEGIDA und LEGIDA. leipzig.de/2016/06/22/wehe-uns)

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WEG VON LINKS UND RECHTS, HIN ZUM VERSTAND? Lokale Querfront-Bestrebungen in Nordsachsen

Diskussionsforum des nordsächsischen Vereins SPEKTRUM AUFRECHTER DEMOKRATEN mit LEGIDA-, AfD- und von chronik.LE COMPACT-Vertretern am 13.02.2016 in fiziell aus gesundheitlichen Gründen. Möglicherweise Audenhain. Nach einem Abflauen derPEGIDA -Demonstrationen und der ist ihm aber auch noch rechtzeitig klar geworden, Nein-zum-Heim-Initiativen haben sich rechte Gruppierungen in welche Gesellschaft er sich sonst begeben hätte. zunehmend als Vereine eintragen lassen. In Nordsachsen gibt Neben einem CDU-Stadtrat aus Torgau und einem es mit dem SPEKTRUM AUFRECHTER DEMOKRATEN einen lokalen Mitglied von PRO ASYL, der jedoch nicht im Verein, der Deutschland „dauerhaft besser und souveräner Namen dieser Organisation spricht, ist der Rest des machen“ möchte. Podiums mit Vertreter_innen der AfD, der Pegida- Bewegung, des verschwörungsideologischen Maga- [1] Siehe de Artikel „Rechte In Audenhain, einem knapp 1000 Einwohner zäh- zins Compact[1] sowie Alexander Milyutin von der Hetze im Hochglanzformat“ lenden Dorf zwischen Eilenburg und Torgau, wird russischen Botschaft in Berlin durchaus prominent in diesem Heft S. 16. im Januar 2016 das Spektrum aufrechter Demo- besetzt. Letzterer glänzt u.a. mit der Behauptung, dass kraten e.V. – Verein für Meinungsfreiheit und es in Russland eine größere „Meinungsverschieden- [2] Vgl. Paul Simon: Wutbür- Demokratieförderung (SAD) gegründet. Vorsit- heit“ in den Medien gäbe als in Deutschland. ger unter Plastikpalmen, in: zender des Vereins mit dem wohlklingenden Namen Kreuzer 1/2016, S.14 ist Sandro Oschkinat. Der Mitte-Dreißigjährige ist Unter den Personen, die sich aus dem Saal äußern, auch Betreiber der Veranstaltungsstätte „Trailer Au- ist auch der damalige Legida-Vorsitzende Markus [3] Im Mai 2016 spricht denhain“ und Vorsitzender des Beach Pit e.V. – Johnke aus Wurzen.[2] Ein paar Tage später tritt Osch- Oschkinat doch ein zweites Verein für Kulturförderung und Freizeitge- kinat selbst als Redner bei Legida in Leipzig auf. Ge- Mal bei Legida. staltung. Seit 2014 sitzt er zudem für die Freien genüber der Torgauer Zeitung verkündet er anläss- Wähler im Gemeinderat von Mockrehna. lich der Vereinsgründung im Januar, er plane keinen [4] Torgauer Zeitung vom weiteren Auftritt beiLegida .[3] Trotzdem äußert er 16.01.2016. Welche Vorstellung von Demokratie und Meinungs- Respekt für deren Demonstrationen: „Ich finde es in freiheit das SAD gerne fördern möchte, wird seit Ende Ordnung, dass dort Protest geäußert wird. Aber ich 2015 in öffentlichen Veranstaltungen der Gruppe will Lösungen anbieten, das tut Legida nicht und ich deutlich. Im November 2015 lädt Oschkinat zum „1. persönlich finde es falsch, alles auf den Islam zu proji- Demokratischen Diskussionsforum“ in seinen Club. zieren.“ Zudem kritisiert Oschkinat, dass sich im Le- Der Einladung folgen immerhin 200 Besucher_innen. gida-Umfeld auch „extreme Rechte tummeln“.[4] Das vorgegebene Thema lautet nach dem Vorbild großer Fernseh-Talkshows: „Waffenhandel, Kriegs- Antiamerikanismus und DDR-Nostalgie terror, Massenflucht, Asylchaos – Verschweigen uns Regierung und Mainstream-Medien die wahren Ur- Der Verein gibt sich bei seiner Gründung ein aus 31 sachen und Auswirkungen?“ Auskunft auf diese rhe- Punkten bestehendes „Grundsatzprogramm“ mit dem torische Frage geben neben Oschkinat, der das Forum Titel „Der Weg zur Freiheit und Gerechtigkeit – Wie als Moderator mit einem halbstündigen Monolog er- wir Deutschland dauerhaft besser und souveräner öffnet, insgesamt sieben Gäste. Nach eigenen An- machen können“. Ohne es explizit auszusprechen gaben wurden im Vorfeld Vertreter_innen verschie- wird unterstellt, Deutschland sei zurzeit kein wirklich dener politischer Richtungen dafür angefragt. Das souveräner Staat. Stattdessen müsse „jede bevormun- von Plastikpalmen umsäumte Podium weist trotzdem dende Einflussnahme von Seiten fremder Staaten“ ab- eine recht(s) eindeutige Schlagseite auf. gewehrt werden. Gefordert wird der Austritt aus der NATO und der Abzug „aller amerikanischen Besat- Kommunale Querfront? zungstruppen“. Klare Überschneidungen zur Ideo- logie der „Reichsbürger“ werden erkennbar. Diese Quasi als Vertreter des „Establishments“ stellt sich extrem rechte Bewegung geht davon aus, dass an- der örtliche Bundestagsabgeordnete und CDU-Kreis- stelle der Bundesrepublik nach wie vor das Deutsche vorsitzende den Fragen Oschkinats Reich bestand habe, jedoch von den Siegermächten und des Publikums. Der Vize-Bürgermeister von des Zweiten Weltkriegs in seiner Souveränität unter- Mockrehna (Die Linke) hat kurzfristig abgesagt – of- drückt werde.

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Auf ihrer Homepage kündigen die „aufrechten De- das Oschkinat besonders am Herzen liegt: „Braucht [5] Vgl. Kathrin Kabelitz: WEG VON LINKS UND RECHTS, mokraten“ an, „an parlamentarischen Wahlen teil- Deutschland ein Bündnis mit Russland oder gehören Spektrum aufrechter De- nehmen und [ihr] Programm kompromisslos um- wir den USA?“ Anders als bei den gut besuchten Foren mokraten gegründet, online HIN ZUM VERSTAND? setzen“ zu wollen, sobald „eine ausreichende zu den Aufregerthemen „Asylchaos“ und „Asylkrise“ abrufbar unter:www.lvz.de/ Mitgliederzahl erreicht ist und es politisch zweck- sind diesmal jedoch viele Sitzplätze freigeblieben. Die Region/Eilenburg/Spektrum- Lokale Querfront-Bestrebungen in Nordsachsen mäßig erscheint“. An der Gründungsversammlung Veranstaltung wird live über den Youtube-Kanal von aufrechter-Demokraten-in- im Januar 2016 haben nach eigenen Angaben 26 Per- Legida gestreamt. Audenhain-gegruendet sonen teilgenommen, kurz danach sei die Mitglieder- zahl auf 32 gestiegen. Eines der Gründungsmitglieder Meinungsfreiheit und Demokratieförderung? [6] Torgauer Zeitung vom trägt auf einem Gruppenfoto stolz ein T-Shirt mit 16.01.2016. dem Wappen der DDR zur Schau.[5] Die Vereinsak- Aufschluss über die Ziele der „aufrechten Demo- tivitäten beschränken sich in den nächsten Monaten kraten“ gibt aber nicht nur die Zusammensetzung des [7] Erath, Roxana (2016): auf die Organisation weiterer „Diskussionsrunden“, Podiums. Auch ein Blick ins Publikum zeigt, welches Nicht links, nicht rechts, einen Ausflug zur russischen Botschaft in Berlin und politische Spektrum sich angesprochen fühlt. Ein sondern gegen die da oben, die Teilnahme an einem Triathlon in einheitlichen Publikumsgast klagt beim „4. Demokratischen Dis- http://www.amadeu-antonio- Vereinshemden. kussionsforum“ im September unwidersprochen in stiftung.de/aktuelles/2016/ antisemitischer Manier über den Einfluss einer na- nicht-links-nicht-rechts Jenseits von links und rechts? menslosen Macht aus den USA, die die Politik in Eu- ropa bestimmt und die „Neue Weltordnung“ (NWO) Ansprechen will der Verein vor allem Menschen, die anstrebt. Diese Gruppe würde die Globalisierung vo- „zur politischen Mitte gehören, aber unzufrieden mit rantreiben, habe zu diesem Zweck die EU gegründet der aktuellen politischen Lage sind.“ Gegen die Ein- und den Euro eingeführt. „Wir“ zahlen angeblich die stufung als Querfront-Gruppierung hat Oschkinat Hälfte des israelischen Staatshaushalts und die Kosten nichts einzuwenden: „Tatsächlich ist das Spektrum so für die „Besatzungsmächte“. Der Mann, der nach ei- etwas ähnliches wie eine Querfront, aber ungefähr- genen Angaben erst seit kurzem „im Widerstand“ lich. Im Mittelpunkt stehen der Dialog und die Ab- aktiv ist, geht wie selbstverständlich davon aus: „Wir lehnung von Gewalt. Wir wollen weg von links und sind besetzt, die meisten werden es wissen.“ rechts, hin zum Verstand.“[6] Ganz so harmlos ist die Sache jedoch nicht. Die Vorstellung, die politischen Auch wenn es schwer fällt, die wirren Gedanken- Kategorien links und rechts zu überwinden und statt- gebäude von Personen rund um das SAD ernst zu dessen eine „richtige“, nämlich „vernünftige“ Politik nehmen, ist eine kritische Distanz geboten. Ob das zu verfolgen, prägte schon antidemokratische Strö- SAD jemals wie angekündigt zu Wahlen antreten mungen in den 1920 Jahren: Damals organisierten und über die kommunale Ebene hinaus Wirkung ent- sich Vertreter_innen von NSDAP und Gewerk- falten wird, erscheint zweifelhaft. Mit seinen „Dis- schaften in der „Querfront“ zur Förderung der „deut- kussionsveranstaltungen“ trägt es aber zur Normali- schen Volksgemeinschaft“. sierung extrem rechter Akteure und deren Positionen unter dem Vorwand von „Meinungsfreiheit und De- Im Februar sitzt Legida-Chef Johnke wie selbstver- mokratieförderung“ bei. Das zugrundeliegende De- ständlich beim „2. Demokratischen Diskussions- mokratieverständnis fördert damit gerade nicht die forum“ auf dem Podium zum Thema: „Was können gleichberechtigte Teilhabe aller, sondern zielt auf eine wir alle tun, um die Gefahren, Ängste und Fehler homogene Volksgemeinschaft, aus der große Teile der Asylkrise zu beheben?“ Die AfD sowie das Com- über eine simple Gut-Böse-Einteilung ausgeschlossen pact-Magazin sind ebenfalls wieder vertreten. Für werden sollen. Jan Rathje, der sich als Referent der eine gewisse politische Ausgewogenheit soll ein Ge- Amadeu-Antonio-Stiftung mit Verschwörungs- meinderat der Partei Die Linken aus der Gemeinde theorien auseinandersetzt, warnt davor, dass Ak- Arzberg bei Torgau sorgen. Der angekündigte Vorsit- teur_innen, die vorgeben „eine ‚Volksbewegung‘ aus zende der SPD-Kreistagsfraktion sagt kurzfristig ab. Linken und Rechten zu bilden, eine Gefahr für eine Wegen Krankheit nicht dabei ist Rico Albrecht von demokratisch verfasste Gesellschaft darstellen. Eine der sogenannten Wissensmanufaktur. Dieses „unab- notwendige Kritik an den Gesellschaftsverhältnissen hängige Institut für Wirtschaftsforschung und Gesell- wird dabei auf bestimmte Feindbilder reduziert, die schaftspolitik“ hat sich besonders der Kritik des Zins- eng mit antisemitischen Stereotypen verbunden sind. und Geldsystems verschrieben – ein beliebtes Thema Die medialen Netzwerke der aktiven Personen finden unter Verschwörungstheoretiker_innen. eine immer größere Beliebtheit, womit sich ihre Pro- paganda von ‚Volksverrat’ und ‚Lügenpresse’ immer Im April widmet sich das „3. Demokratische Dis- weiter ausbreitet.“[7] Dessen sollten sich gerade die kussionsforum“ einem außenpolitischen Anliegen, Mitglieder demokratischer Parteien bewusst sein. n

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chronik.LE beobachtet neonazistische, rassistische und diskriminierende Aktivitäten in Leipzig und den umliegenden Landkreisen. Die von uns gesammelten Ereignisse machen deutlich, Diskriminierung und menschenfeindliche Einstellungen sind nicht beschränkt auf einen bestimmten sozialen Status oder ein- fach nur eine Frage der (fehlenden) Bildung. Auch in gesellschaftlich angesehenen Positionen und im Mi- lieu der „gesellschaftlichen Mitte“ finden sich alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Dies wollen wir mit den zwei folgenden Artikeln zu den Leipziger Persönlichkeiten Bettina Kudla und Thomas Rauscher exemplarisch aufzeigen, die sich aus machtvollen Positionen wiederholt rassistisch in der Öffent- lichkeit geäußert haben.

WORAUF BETTINA KUDLA ANSCHLÄGT CDU-Bundestagsabgeordnete twittert sich ins Abseits

von shadab halten. So hielt sie es „für höchst problematisch, wenn [1] Als im Februar dieses Jah- Bereits als die Leipziger Bundestagsabgeordnete Bettina man in ein Gebiet, das sich in den letzten Jahren als at- res ein Ferkelkadaver mit der Kudla (CDU) vor drei Jahren gegen den Moschee-Bau traktiver Wohnstandort mit einem starken Zuzug von Aufschrift „Mutti Merkel“ auf der Ahmadiyya-Gemeinde in ihrem Wahlkreis-Stadt- Familien mit Kindern entwickelt hat, ein Erstaufnah- dem Baugelände der Moschee teil Gohlis kämpfte, spielte für sie das Thema Flucht melager errichtet.“ Warum, muss nicht weiter ausge- gefunden wurde, ermittelte und Asyl eine maßgebliche Rolle. Jene Anhänger der führt werden. Das Ticket des Biedermeiers verweist auf der polizeiliche Staatsschutz muslimischen Minderheit, „die bisher [!] im Leipziger jene Aspekte der Alltagsreligion, welchen die Brand- nicht wegen einer islamfeind- Osten leben“, kämen überwiegend aus Pakistan, ließ sie stifter bereits öffentlich Geltung verschafft haben. Der lichen Straftat, sondern wegen wissen, wo es rund vier Millionen von ihnen gäbe. Weil Bürgerverein Gohlis sprach ihr jedenfalls ab, damit „Beleidigung der Kanzlerin. sie dort in der freien Ausübung ihrer Religion diskri- allgemein die Ansichten der Stadtteilbewohner zu ver- miniert werden, hatten unter anderem das Sächsische treten. [2] Wenige Monate zuvor Oberverwaltungsgericht und das Verwaltungsgericht hatte sie im gegen Gießen Anhänger der Ahmadiyya-Bewegung aus Paki- Doch sollen von der rassistischen Stimmungsmache den NPD-Verbotsantrag der stan den Asylstatus nach deutschem Recht zuerkannt. nicht die falschen profitieren. Schon beim Moschee- SPD gestimmt. Scharf kombiniert, erkannte Kudla sofort, dass damit Bau hatte Kudla befürchtet, dass „der Boden für Res- auch die restlichen vier Millionen Anhänger aus Paki- sentiments und Ängste bereitet wurde, woraus z.B. die [3] Siehe Artikel „Angriff auf stan bereits so gut wie auf dem Sprung nach Leipzig NPD ihren Nutzen zieht.“[2] Als im Januar 2016 zum Connewitz“ in diesem Heft sein könnten: „Hier sollte die Frage schon erlaubt sein, einjährigen Bestehen Legidas das parteiübergreifende auf S. 72 ohne dass man als ausländerfeindlich oder rechtsra- Bündnis Leipzig bleibt helle zum Gegenprotest in dikal gilt, warum Leipzig die Ausbreitung einer mus- Form einer Lichterkette aufrief, erklärte sie jedoch limischen Bewegung in Deutschland fördern will?“ ihre weitgehende Ablehnung zu den Zielen der Initia- Die Fluchtursache erfasst sie wohl, wendet sie jedoch toren, da die Lichterkette „die Bemühungen der Bun- gegen die Geflüchteten aufgrund unterstellter wesen- desregierung um eine Reduzierung und Eingrenzung hafter Unvereinbarkeit: „In Deutschland, das seiner der Asylbewerberzahlen“ – dem ebenfalls erklärten Gesellschaft per Grundgesetz die Grundrechte“ - also Ziel Legidas – „torpediert.“ Stattdessen verwies sie auf auch das der Religions- und Glaubensfreiheit - „garan- einen notwendigen Kampf gegen den „[Links-]Extre- tiert, herrschen eben ganz andere Lebensbedingungen, mismus im Leipziger Süden“ und forderte, dass sich nämlich freiheitliche, als zum Beispiel in Pakistan.“[1] „die Vertreter der Bundes- und Landesparlamente [...] Oder anders ausgedrückt: Für muslimische Minder- für weitere Gesetze zur Bewältigung der Asylthematik heiten gehören religiöse Diskriminierung und Verfol- einsetzen.“ Als dann zeitgleich zum Geburtstagsständ- gung in Pakistan so sehr zum Lebensalltag, dass ihnen chen des Frontsängers der rechten Hooligan-Band die freie Ausübung ihres Glaubens in Deutschland Kategorie C auf der Legida-Bühne rund 250 Neo- nicht zuzumuten wäre. nazi-Hooligans in einer koordinierten Aktion ziemlich wahllos zwanzig Geschäfte in Connewitz überfielen, Bereits ein Jahr darauf sah Kudla die „Attraktivität“ des Passanten traten und schlugen und Pyrotechnik auf die Stadtteils erneut bedroht, als Pläne bekannt wurden, umliegenden Wohnhäuser abfeuerten, übte sich Kudla das Interim-Erstaufnahmelager im südlichen Stadtteil im Feindstrafrecht.[3] Nachdem Bundesjustizminister Dölitz bis 2017 nach Gohlis zu verlegen. Wie beim Mo- Heiko Maas (SPD) die „rechte Randale“ „abscheulich“ schee-Bau die Nähe zur Grundschule, musste auch hier genannt und konsequente Ermittlungen und das Be- wieder das angeblich bedrohte Wohl der Kinder her- langen der Täter gefordert hatte, schrieb sie: „Bitte ob-

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LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 screenshots: twitter.com screenshots:

Tweets von Bettina Kudla 2016

jektiv sein! Es sind die Linksradikalen!“, und verwies Wo es an Tatverdächtigen mangelt, greift man schnell [4] Den Leipziger Ableger auf die Ausschreitungen Linksautonomer im Zusam- zu liebgewonnenen Feindbildern. So erhob Kudla ge- Legida findet Kudla denn menhang mit einer Neonazi-Demo im Jahr zuvor. „Na- genüber der Leipziger Volkszeitung die alte CDU- auch aus gänzlich anderen türlich waren es am 11.01. auch [sic!] Rechtsradikale“, Forderung nach der Beendigung einer „Subventio- Gründen, etwa „in Anbe- schob sie nach, doch „vorher haben es mehrfach die nierung der Szene“ und nannte unter Hinweis auf tracht von Forderungen, wie Linksradikalen getan. Darum geht‘s“. den sogenannten Verfassungsschutz als Beispiel das z.B. Austritt aus der NATO, zu Die Anhänger der Patriotischen Europäer gegen Conne Island. Nun wurde dieses, ohne dass hier die „sehr radikal“. die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) um- Sinnhaftigkeit dieser Argumentationsschiene beurteilt warb sie hingegen bereits zuvor damit, dass die CDU werden soll, zuletzt vor vier Jahren als „zentrale An- [5] Vielleicht diente als Anlass als „Volkspartei“ „seit langem auch die von Pegida laufstelle der autonomen Szene in Leipzig“ bezeichnet. für den Anschlag ja auch [...] angesprochenen Themen auf ihrer Agenda“ habe. In einer internen Lageeinschätzung relativierte der In- Kudlas wenige Tage zuvor via „Wer die Ausbreitung des Islam in Deutschland […] landsgeheimdienst jedoch wenig später seine Aus- Twitter verbreitete Meinung: beklagt“, schlussfolgerte sie, „sollte sich demnach zur sage, indem er als Grund der Nennung „einzelne ›Pro- „Auf dem Reichstag steht: CDU hinwenden.“[4] blemkader‹“ nannte, „die zu den Besuchern gehören ›Dem Deutschen Volke‹. Zwi- Zuletzt sorgte Bettina Kudla bundesweit für Aufsehen, könnten“. Folglich konnte Kulturbürgermeister Mi- schen Staatsbürgerschaft und als sie sich im Juni 2016 zum ideellen deutschen Ge- chael Faber Anfang des Jahres in seiner Antwort auf Zugehörigkeit zu einem Volk samtkapitalisten aufschwang und als einzige Abgeord- eine schriftliche Anfrage der CDU-Stadtratsfraktion besteht Unterschied!“ Am nete gegen die Bundestags-Resolution zum türkischen darauf verweisen, dass der Trägerverein des Conne Is- 3.10.2016, zum „Tag der deut- Völkermord an den Armeniern stimmte. Beweggründe lands Projekt Verein e.V. selbst kein Beobachtungs- schen Einheit“, wiederholten waren für sie die nicht kalkulierbaren „politischen, als objekt von Polizei und Inlandsgeheimdienst sei und sich die Sachbeschädigungen; auch finanziellen Folgen“. Einerseits befürchtete sie „wie alle anderen Trägervereine soziokultureller Zen- diesmal ohne Bekenner- aufgrund der darin eingestandenen deutschen Mit- tren auf dem Boden des Grundgesetzes“ arbeite. Doch schreiben. schuld das „Aufmachen von Wiedergutmachungsfor- was hilft selbst die staatstragendste Aufklärung gegen derungen seitens Armenien“, andererseits das Schei- Beißreflexe? tern des EU-Abschiebeabkommens mit der Türkei, das neben gravierenden humanitären Folgen auch „erheb- Nachdem Kudla zuletzt bundesweit öffentlich in die liche finanzielle Mehrbelastungen für Deutschland“ Kritik geriet, weil sie den staatskritischen türkischen bedeuten würde. Journalisten Can Dündar als „Dünnschiss“ beleidigt und im Nazi-Jargon von einer „Umvolkung Deutsch- Angesichts eines solch großen Einsatzes und Stellver- lands“ phantasiert hatte, schien sie für die Mehrheit der tretungsanspruchs für Volk und Vaterland war es ei- Leipziger CDU politisch nicht mehr tragbar. Allerdings gentlich nur eine Frage der Zeit, bis sie zum Ziel von demonstrierten die Stadträte Ansbert Maciejewski und Linksautonomen werden würde. Ende August kam es Achim Haas bereits vor Kudlas verlorener Wiederno- zu Sachbeschädigungen an ihrem Wahlkreisbüro. Un- minierung als Bundestagsdirektkandidatin, dass sich bekannte warfen die Scheiben ein und versprühten Bi- mithilfe von BILD auch bequem aus der zweiten Reihe tumen in den Räumen. Später wurde ein Bekenner- kleffen lässt. Was der einen politisches, das der anderen schreiben beim linken Informationsportal indymedia alltägliches Geschäft. n veröffentlicht, das Kudlas eben skizzierte Politik, aber auch die der CDU im Allgemeinen als Gründe für den Der Autor ist Redakteur beim Conne Island Newsflyer Anschlag nennt.[5] CEE IEH.

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DIE ANGST DES WEISSEN MANNES Professor Rauschers Twitter-Account erregte 2016 viel Aufmerksamkeit

von Kritische Jurist*innen Leipzig chen ganz nebenbei noch bestimmte Stereotypen zu- „Manche würden mich als konservativ beschreiben“ - so geschrieben werden, existieren und auch ausgelebt stellt sich Thomas Rauscher, Professor für Internationales werden können, nur bitte bloß nicht in dem eigenen Privatrecht, Rechtsvergleichung und Bürgerliches Recht an der Kulturkreis. Nur sollen sich diese Kulturen, die als ho- Universität Leipzig in der ersten Familienrechtsvorlesung des mogen angenommen werden („Kulturkreise“), nicht zweiten Semesters 2015 vor. In seinen Vorlesungen schimpft vermischen. So argumentiert Rauscher auch mit einer er über die Benachteiligung von Vätern und findet auch, dass Zerstörung der eigenen Kultur, die durch den Islam Männer keinen Nagellack tragen sollten. Was Rauscher als vertrieben werde („Es gibt keinen friedlichen Islam.“). bürgerlich-konservativ verkauft, ist nichts anderes als antife- Zeitgleich weist er, in ethnopluralistischer Tradition, ministischer Sexismus. Menschen aus anderen geographischen Räumen eben diese Räume zu. Damit hetzt Rauscher nicht nur gegen Während Rauschers Sexismus vor allem unter Jura- Geflüchtete, sondern auch gegen alle anderen Men- Studierenden schon lange ein Thema ist, traten seine völkisch-rassistischen Haltungen erst durch die Entde- screenshots: twitter.com ckung seines Twitter-Accounts klar ans Licht. Den hatte Rauscher einst angelegt, als er 2013 im Wahlkreis Rosenheim für die FDP für den Bundestag kandidierte. Aus der FDP ist er inzwischen ausgetreten, heute sym- pathisiert er in seinen Tweets mal mit der AfD, mal mit der CSU und auch immer wieder mit rechtspopulisti- schen Politiker*innen wie Viktor Orbán oder Donald Trump. Seinen Twitter-Account entdeckte Rauscher im Januar 2015, in der Zeit der größten Pegida-De- monstrationen, wieder. Massiv tweetet er seit Herbst 2015 und hat in den letzten Monaten eine große Zahl neuer Follower für sich gewinnen können.

Der Twitter-Account strotzt vor Aussagen wie „Je suis Pegida“ oder „die Angst des weißen Mannes sollte wehrhaft werden“. Hier zeigt sich eine Vielzahl von Diskriminierungsmustern. Zum einen baut sich Rau- scher eine starke ethnisch-kulturelle Identität auf, die maßgeblich auf seiner Hautfarbe basiert und dement- sprechend Andere als minderwertig betrachtet. Viel- mehr zeigt sich, dass Rauscher die Notwendigkeit einer weißen Kultur sieht, die sich gegen andere zur Wehr zu setzen hat. Liest man dann in einem anderen Tweet (11. Januar 2016), dass „Europa den Europäern, Afrika den Afrikanern [und] Arabien den Arabern“ zustehe, so ist außerdem ein Hang zum Ethnopluralismus er- kennbar. Nach Vorstellung von Ethnopluralist_innen ist es schön und gut, dass verschiedene Kulturen, wel-

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schen, die nicht in sein kulturelles Bild weißer Men- xueller weißer Mann über 50 in Deutschland als miss- [1] http://www.zeit. schen passen. Vorausgesetzt, diese kommen aus Eu- trauisch beäugte Spezies. Und in einer ähnlichen Rolle, de/2016/07/rechtspopulis- ropa. wie früher Farbige in den USA sie hatten“[1]. Er insze- mus-universitaet-professor- niert sich als Opfer der vermeintlich linken Medien, twitter-pegida Auch feministischen Einflüssen auf die Gesellschaft der „Spachpolizei“ von „Schwul-Gender-Multi-Kulti- erklärt er den Krieg. In vornehmlich neurechtem Deutschland“ (Tweet vom 12. Juni 2016). Sprech hetzt er gegen „Gender-Wahn“ und feministi- sche Strukturen. Präsentiert wird das aus einer Pers- Twitter ist nicht der einzige Kanal, auf dem Rauscher pektive, die sich erneut bürgerlich-konservativ geben sich derart äußert. Was er in Vorlesungen und Semi- will. Hinzu kommt ein starkes Misstrauen gegen „die naren sagt, ist allerdings subtiler, aber oft nicht we- Medien“, die vielfach seine rassistischen Einstellungen niger rassistisch und sexistisch. Er behauptet aber nicht teilen: „Das ist kein freier Journalismus, son- strickt, seine durch die Meinungsfreiheit geschützten dern reiner Meinungsterror“ tweetete er am 8. Januar Äußerungen auf Twitter und die dahinterstehende po- 2016 und hetzt gegen „Lügenpresse“ und vermeint- litische Einstellung würden sich nicht auf seine Lehre liche Sprechverbote. Seine Tweets sind voller Wider- auswirken. Nach dem Studierende auf Grund von se- sprüche. Wütet er im einen Moment noch über den xistischen Äußerungen schon 2014 angefangen hatten, Untergang des christlichen Abendlandes, schimpft er seine diskriminierenden Aussagen zu protokollieren, wenig später, die Kirche sei mit ihrer Beschwörung von äußert er sich im universitären öffentlichen Raum tat- Nächstenliebe quasi schuld an der „Flüchtlingskrise“. sächlich sehr viel vorsichtiger. So hetzte er jedoch im Zuge seines Miami-Seminars (2016) vor amerikani- Immer wieder rückt Rauscher sich selbst und „den schen Studierenden gegen Flüchtende, welche angeb- weißen Mann“ in eine Opferrolle. In einem Zeit-In- lich in Camps in Marokko geschult würden um in terview äußert er: „Ich fühle mich als nicht homose- Deutschland glaubhaft zu machen, sie seien aus Syrien, damit sie hier eine bessere Chance auf Asyl hätten. Noch dazu ist Rauscher seit 1994 Auslands- und Eras- musbeauftragter der Jurist_innenfakultät – also An- sprechpartner für ausländische Studierende in Leipzig (ohne jedoch demokratisch durch den Fakultätsrat ge- wählt worden zu sein). Der Fakultätsrat will das Amt jetzt neu und demokratischer gestalten, was wohl auch zu einer Neubesetzung führen würde. Rauscher hat aber bereits angekündigt, dagegen vorgehen zu wollen.

Rauschers Handeln zeigt, dass Rassismus nicht, wie oft dargestellt, mit Armut oder mangelnder Bildung zu tun hat, sondern auch in den etablierten bürgerlichen Institutionen fest verankert ist. n

Die Kritischen Jurist*innen sind eine Gruppe von Jurastudent*innen und Referendar*innen, die ihr Studium in einen gesellschaftlichen Rahmen stellen und ihre juristischen Fähigkeiten nutzen um politisch zu arbeiten.

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02 KAPITEL ALTE UND NEUE RECHTE

24 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016

photo: Tim Wagner photo: Tim

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Aufmarsch der NPD-Jugendorganisation JN in Leipzig

25 ALTE UND NEUE RECHTE

»OLDSCHOOL SOCIETY« Gescheiterte Nazi-Terroristen mit Schwerpunkt im Landkreis Leipzig

von Sebastian Lipp rungsriege der Gruppe koordinierte. Auch hier gelang Mitte Mai 2015 sollte das Mobile Einsatzkommando (MEK) der der Polizei die Überwachung eines großen Teils des Polizei die OLDSCHOOL SOCIETY (OSS) beobachten und zu- Chatverlaufes. schlagen, sobald die Neonazis von einem Treffen in der Klein- gartenanlage „Sommerfreude“ bei Borna losziehen, um einen „Präsident“ und Gründer der Gruppe ist der 57-jäh- geplanten Anschlag zu begehen. Doch dazu kam es nicht. rige Andreas Thomas H. aus Augsburg. Er war Bei- sitzer im Vorstand des örtlichen NPD-Verbandes. Zum [1] Ebenfalls Mitglied der Die Anti-Terror-Spezialeinheit riet von dem geplanten „Vizepräsidenten“ und „Chief of Security“ ernannte Kameradschaft Aachener Einsatz ab, weil nicht auszuschließen war, dass ein Zu- er Markus W. Auch der 40-jährige Markus W. war für Land war der Neonazi griff eine Schießerei auslösen könnte, in deren Verlauf die NPD tätig, für die er in seinem Geburtsort Düren Marcus E. Dieser erstach 2010 es einigen der Rechtsterroristen gelingen könnte, sich kandidierte. Darüber hinaus war er Mitglied der mi- am Leipziger Hauptbahnhof abzusetzen, um einen litanten, inzwischen verbo- Kamal K. Siehe Artikel zu geplanten Sprengstoff- tenen Kameradschaft Aa- rechten Morden in diesem anschlag auf eine Ge- chener Land (KAL)[1] und Heft, S. 76 flüchtetenunterkunft trat später „als Aktivist einer zu begehen. Statt- Gruppierung namens Kame- dessen griff die Po- radschaft und Loyalität lizei zwei Tage vorher (K. u. L.) in Erscheinung. zu. Vier Mitglieder Seine Lebensgefährtin Denise der Führungsebene Vanessa G. (24) führte die wurden in U-Haft ge- Gruppe als „Schriftführerin“. nommen und müssen Olaf O. (48) aus Bochum sitzt sich seit April 2016 ebenfalls auf der Anklage- wegen Bildung einer bank. Nach eigenen Angaben terroristischen Vereini- war er „Gauleiter NRW“ der gung am Oberlandesgericht in München verantworten. Vereinigte(n) Kameradschaft Deutschland Zwei der als Führungsebene Angeklagten und viele (VKD). Von Olaf O. soll die Idee gewesen sein, An- weiter Mitglieder stammten aus dem Landkreis Leipzig schläge zu begehen, „um das Ausländern und Salafisten und Sachsen. in die Schuhe zu schieben“, um Erregung in der Bevöl- kerung zu erzeugen. Diskutiert wurden Sprengstoffan- Die Struktur der OSS schläge auf den Kölner Dom und auf Einkaufszentren. Im „Geheimrat“ unterhielt man sich außerdem darüber, Bei Facebook unterhielten die Neonazis eine öffent- „Antifa-Häuser“ mit Molotow-Cocktails anzugreifen liche Seite mit über 3.000 Likes. Hier wurde offen oder Linke mit Baseballschlägern anzugehen. gegen Asylsuchende, Juden und Antifaschisten gehetzt. Auch die Gewalt-Affinität der Gruppe wurde nicht ver- Epizentrum: Neue Platekaer Straße schleiert: „Eine Kugel reicht nicht“, hieß es auf einem Logo der OSS. Wer Gefallen daran fand, konnte in eine Seit dem Zuzug von Denise Vanessa G. aus Chemnitz WhatsApp-Gruppe aufgenommen werden. Bald stieg unterhielt sie mit Markus W. eine gemeinsame Woh- die Gruppe auf das vermeintlich abhörsichere Telegram nung in der Neue Platekaer Straße in Borna im Land- um, um einem Zugriff durch staatliche Stellen zu ent- kreis Leipzig. W. soll für seinen zeitweisen Arbeitgeber gehen. Das BKA platzierte jedoch einen verdeckten Er- Markus D., der mit den Neonazi-Aktivitäten seines mittler „Rudi“ in der sogenannten „Hauptgruppe“. Da- Subunternehmers nichts zu tun gehabt haben will, den neben gab es den „OSS Geheimrat“, in dem sich die Sicherheitsdienst in einer Leipziger Asylsuchenden- zuletzt aus den vier heute Angeklagten bestehende Füh- unterkunft geleitet haben. Ebenfalls in der Neue Pla-

26 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: screenshot facebook

Blindtext

Terrorgruppe OSS: Diskutiert wurden Anschläge auf den Kölner Dom, auf Einkaufszentren, „Antifa-Häuser“ und Asylunterkünfte. tekaer Straße bei den Durchsuchungen gegen die OSS Sprengkraft im Ausland. Anschließend rief Markus W. angetroffen wurden Marco K. und sein Mitbewohner seinen „Präsidenten“ Andreas Thomas H. an und be- Martin Z. mit dessen Freundin Marlen S. aus Freital. sprach die Verwendung der illegal eingeführten Ware Angeblich kein Mitglied sei die ebenfalls in der Neue als Sprengsatz. Das Gespräch wurde abgehört: „… hier, Platekaer Straße wohnhafte frühere Freundin des „Vize- so ein Cobra 11, hier, weißt du, hier Dachpappenstifte präsidenten“ Doreen D. gewesen. Außerdem führt eine draufmachen mit Sekundenkleber ringsrum, drauf- Liste des BKA Alexandra O. (Chemnitz) und ihren Le- kleben und dann so ein Ding im Asyl … so ein Ding bensgefährten Daniel A. (Burgstädt), Falco U. (Werdau), im Asylcenter, im Asylheim so, weißt du, Fenster ein- Christian W. (Wurzen), Matthias T. (Wolfen), Christian geschmissen und dann das Ding hinterhergejagt.“ K. (Werdau), Mirko K. (Leipzig), Anna W. (Chemnitz) H. dazu: „Tät’ mir schon gefallen, wär’ schon so nach und Jeff F. (Aue) als Mitglieder aus Sachsen auf. meinem Geschmack.“ Denise Vanessa G. war während des Telefonats anwesend. Im Hintergrund erklärte sie, Anschlagspläne dass man aufgrund der Sprengkraft die Zündschnüre verlängern müsse. Etwa ein Dutzend der Mitglieder traf Mitte November Darauf wurden Durchsuchungsbeschlüsse erwirkt und 2014 erstmals in der Kleingartenanlage „Sommer- die Gruppe wenige Tage vor dem Treffen am 6. Mai freude“ nahe Wilms‘ Wohnort in Borna aufeinander. festgenommen, die vier Führungskader wurden in Un- Die Anklage geht davon aus, dass dort die inhalt- tersuchungshaft verbracht. Sichergestellt wurden Da- liche Ausrichtung der OSS thematisiert wurde: „Er- tenträger, Neonazi-Devotionalien, Nägel, Pyrotechnik örtert wurde der ›bewaffnete Kampf gegen Salafisten‹, und einige Waffen. Der Prozess gegen die mutmaßli- die Herstellung von Sprengstoff, ein ›gewaltsames Vor- chen OSS-Mitglieder vor dem OLG München ist zum gehen gegen Asylanten‹ und ›wer bereit wäre, auch in Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht abge- den Knast zu gehen für irgendwelche Taten‹.“ Nach schlossen. n einem Bericht des BKA waren möglicherweise schon damals Aktionen geplant, wofür Teile der Neonazi- Der Text erschien zuerst im Antifa Infoblatt #112 und Truppe aber zu besoffen gewesen sein dürften. Deshalb wurde für Leipziger Zustände angepasst und gekürzt. Der wurde ein zweites Treffen vom 8. bis 10. Mai verein- Autor arbeitet als freier Journalist schwerpunktmäßig zu neo- bart - diesmal ohne Alkohol, dafür dunkel gekleidet für nazistischen und anderen rechten Umtrieben im südlichen eine „Nachtwanderung“. Kurz zuvor besorgten Wilms Bayern. Er hat den Gerichtsprozess zur OSS kontinuierlich und Grüneberg am 1. Mai Pyrotechnik mit hoher beobachtet.

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NPD - JN - DIE RECHTE: NEONAZIPARTEIEN UND IHR NACHWUCHS Aktuelle Entwicklung der Neonaziparteien in Leipzig und Umgebung

von Simone Knuspert Körperverletzung, Verwendens von Kennzeichen ver- Der Neonazi-Hooligan Enrico Böhm, Schon vor der Leipziger Kommunalwahl am 25. Mai fassungswidriger Organisationen und Betrugs Mitte kurzzeitig Vorsitzender des Leipziger 2014 stand es nicht gut um den Leipziger NPD-Kreis- 2012 auf Bewährung aus der Haft entlassen. Seitdem NPD-Kreisverbands, bei einem NPD- [1] Stand in Schönefeld. Inzwischen hat verband. Zwei Drittel der rund 80 Mitglieder waren darf er laut §45 StGB fünf Jahre lang nicht bei öffentli- ihn die Partei ausgeschlossen. Rentner. Der seit Anfang 2014 amtierende kommissa- chen Wahlen antreten. Dass er dennoch antrat, machte rische Vorsitzende Steffen Lorenz mied die Öffentlich- eine Teilwiederholung der Kommunalwahl nötig, ver- keit. Einer der zwei damaligen Stadträte war im Jahr zögerte den Amtsantritt des gesamten Stadtrats und 2012 aus der Partei ausgetreten. kostete rund 40.000 Euro. Kurth verkündete im Juni [1] vgl. Leipziger Zustände Die Kampagnen Bürgerinitiative Gohlis sagt 2014, aus der NPD auszutreten, tat dies in Wirklich- Dezember 2014: NPD-Strate- Nein und Leipzig steht auf, mit denen die NPD keit jedoch erst im Oktober – und begann sogleich mit gie in Leipzig gescheitert. Zur gegen Religionsfreiheit, das Grundrecht auf Asyl und dem Wiederaufbau des im Jahr 2013 gegründeten und Entwicklung der Neonazi- „Minderheiten-Politik im Rathaus“ kämpfte, drohten kurz darauf zerfallenen Landesverbands der Partei Die Partei in den Jahren 2013/14, zu versanden. Ein für den 11. Mai 2014 geplanter Auf- Rechte. S.34f. marsch in Leipzig-Lindenau sorgte für Zwist mit dem Unterdessen stieg Böhm am 11. Juli 2014 zum Vorsit- Landesvorstand und musste schließlich eine Woche zenden des NPD-Kreisverbands auf. Zum Stellvertreter [2] vgl. https://www.inventati. später durch die Jugendorganisation Junge Natio- wurde Axel R. bestimmt, Schatzmeister wurde Rein- org/leipzig/?p=1670 naldemokraten (JN) durchgeführt werden. Deren hard K. Die weiteren Aktivitäten der Partei im Jahr Leipzig-Chef Alexander Kurth war seit Anfang 2013 2014 beschränkten sich auf Infostände im Rahmen des [3] vgl. https://www.chronikle. eine treibende Kraft in der Leipziger NPD und sparte letztendlich erfolglosen Landtagswahlkampfs. Dabei org/ereignis/npd-verteilt-cs- nicht an parteiinterner Kritik. verteilten Alexander Kurth, Enrico Böhm und Maik gas-passantinnen Scheffler auch CS-Gas an Frauen[3]. Generationswechsel und Wahldebakel in der NPD [4] vgl. den Artikel zum Abschied von Scheffler und Odermannstraße 8 Szene-Ausstieg von Maik Für den Stadtrat kandidierten 2014 auf den aussichts- Scheffler in diesem Heft S. 30 reichen Listenplätzen nun überwiegend jüngere Rechte Im September 2014 räumte die Partei ihre im No- – etwa Kai M. und Karsten B. ,die im Jahr 2008 mehr- vember 2008 eröffnete Kreisgeschäftsstelle in der [5] https://linksunten.indyme- fach vermeintlich linke Jugendliche überfallen hatten. Odermannstraße 8 (O8). Seitdem fanden einzelne un- dia.org/en/node/162983 Weiterhin Alexander Kurth, der Adolf Hitler bewun- politische Musikveranstaltungen in dem zeitweise als dert, über „Todeslisten“ für Journalisten fantasiert und „Odermanns Garten“ vermarkteten Gebäude statt. Ei- politische Gegner am liebsten im Steinbruch arbeiten gentümer blieb weiterhin Steven H., Sohn des 2011 lassen würde.[2] Außerdem der u.a. wegen Körperver- verstorbenen NPD-Landtagsabgeordneten Winfried letzung, Bedrohung, Diebstahls, Sachbeschädigung, Petzold. Mit der Schließung der „O8“ gingen auch die Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Or- Aktivitäten der JN in Leipzig und Umgebung zurück. ganisationen und Widerstands gegen Vollstreckungs- Der letzte große Auftritt war ein Aufmarsch derJN beamte mehrfach vorbestrafte Hooligan Enrico Böhm, Sachsen am 4. Oktober 2014 in Döbeln. der als einziger NPD-Kandidat ein Stadtratsmandat er- Am 31. Oktober 2014 trat der Delitzscher Maik rang. Scheffler als stellvertretender NPD-Landesvorsit- Die Kandidatur von Alexander Kurth, NPD-Mitglied zender zurück. Vor dem Hintergrund eines laufenden seit 1998, erwies sich als schlechte Idee. Der 36-Jährige Parteiausschlussverfahrens wegen Beleidigung von wurde nach mehrjährigen Haftstrafen wegen gemein- Mitgliedern des Landesvorstands trat Scheffler im -Fe schaftlich versuchten schweren Raubes, gefährlicher bruar 2015 aus der NPD aus. Nach eigener Aussage

28 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photos: visual.change

Neonazi Alexander Kurth (r.) im Gespräch mit David Köckert (l.) und Silvio Rösler (M.) Kurth als Redner bei einem Aufmarsch von DIE RECHTE, THÜGIDA und der OFFENSIVE FÜR DEUTSCHLAND am 6. Juni 2016 in Leipzig. wird Scheffler seit Herbst 2014 vom Aus- lände im Stadtteil Mockau zu blockieren. Teile der Gruppe um Kai M. firmieren steigerprogramm ad acta betreut. Obwohl Einen Monat später veröffentlichte die NPD seitdem als AG Saxonia. Die Facebook- Scheffler weiterhin „nationale Politik“ -ma Leipzig angeblich eingesandte Fotos von Seite der NPD Leipzig wurde in „Wir für chen will und sich selbst nicht als Aussteiger Ortsschildern, die mit Aufklebern „Refu- Leipzig“ umbenannt. Diese angebliche Bür- aus der Naziszene betrachtet, wird er von ei- gees not welcome“ versehen waren. gerinitiative entfaltet nur im Internet Wir- nigen Medien und zivilgesellschaftlichen In- kung, eine angebliche Teilnahme an einer itiativen als solcher wahrgenommen.[4] Enrico Böhm vor Gericht linken Demonstration gegen das Freihan- Auch der vom Jurastudenten und Kamerad- delsabkommen TTIP im September 2016 schaftsführer Manuel Tripp geleiteteNPD- Im gleichen Zeitraum geriet Enrico Böhm, entpuppte sich als Luftnummer. Kreisverband Landkreis Leipzig war der zu dieser Zeit bereits zusammen mit der Anfang 2015 eingeschlafen. Am 20. April ehemaligen Bürgerrechtlerin Angelika Ka- Renitente Hetzer auf Tour 2015, dem Geburtstag Adolf Hitlers, wurde nitz „Anti-Antifa“-Arbeit betrieb, erneut er von der NPD Leipzig geschluckt. Der in die Schlagzeilen. Im August 2015 hatte Alexander Kurth versuchte seit November neue NPD-Kreisverband Leipzig Stadt Böhm in Leipzig einen Radfahrer tätlich 2014 indes, den sächsischen Die Rechte- & Land wählte gleichzeitig den mutmaßli- angegriffen und wurde daraufhin zeitweise Landesverband, zu dessen Vorsitzenden er chen Versicherungsbetrüger Alexander N. in Untersuchungshaft genommen. Gegen im August 2015 gewählt wurde, neu aufzu- zum neuen Schatzmeister.[5] den NPD-Vorsitzenden lief zu dem Zeit- bauen. In Bautzen führte die neonazistische punkt bereits ein Gerichtsverfahren wegen Kleinstpartei dazu im Jahr 2015 drei Auf- Differenzen zwischen Böhm und Kurth einer ähnlichen Tat: märsche durch. In Leipzig hingegen konnte Kurth kaum Anhänger gewinnen. An Zur gleichen Zeit veröffentlichten Unbe- einem Aufmarsch von Die Rechte, Thü- kannte im Internet Inhalte des Mobiltele- gida und der Offensive für Deutsch- fons, das Alexander Kurth zuvor geraubt land des ehemaligen Legida-Vorsitzenden worden war. Darin spotteten Kurth und sein Silvio Rösler beteiligten sich am 12. De- Verbündeter Maik Scheffler über den NPD- zember 2015 nur 150 Neonazis, die unter Landesverband, die JN Sachsen sowie starkem Gegenprotest durch die Südvor- über Enrico Böhm. Gute Kontakte hatte Austritt und Ausschluss stadt zogen. Im gleichen Jahr schickte der Kurth auch zu einem sächsischen Bereit- mittlerweile eingeschlafene Die Rechte- schaftspolizisten und zum lokalen Pegida- Am 30. Dezember 2015 trat der Leipziger Landesverband Ausreiseaufforderungen an Ableger Legida, an dessen Aufmärschen NPD-Vizevorsitzende Axel R. aus der NPD jüdische Organisationen. Unverändert ist auch Böhm und JN-Mitglieder teilnahmen. aus. Anlass dürfte weniger eine Abkehr vom Kurths bundesweite Tätigkeit als Redner Zudem versuchte Kurth, NPD-Mitglieder Nationalsozialismus gewesen sein – R. stand auf neonazistischen Veranstaltungen. Mit für Die Rechte Sachsen abzuwerben. hinter der Webseite „Volksberichtshof“, die dem rassistischen Hetzer David Köckert Kreisverbandschef Enrico Böhm ver- mit Schlagzeilen wie „Holocaustleugnung aus Greiz und eigenem Lautsprecherwagen stärkte im gleichen Jahr die Zusammenar- ist Menschenrecht!“ auftrat –, sondern viel- tourt er zudem als Wir lieben Sachsen/ beit mit den örtlichen Jungen National- mehr ein Überfall auf seinen Laden in der Thügida durch Ostdeutschland. n demokraten. Gemeinsam initiierte man Georg-Schumann-Straße. die Kampagne „#unserLand“. Am 18. Ok- Im Februar 2016 wurde Enrico Böhm als tober 2015 versuchten etwa 30 Anhänger Kreisvorsitzender abgesetzt und aus der von NPD und JN die Ankunft eines Busses NPD ausgeschlossen. Die JN Leipzig trat mit Asylsuchenden am alten Flughafenge- daraufhin aus dem JN-Landesverband aus,

29 ALTE UND NEUE RECHTE

„NICHT ZU VIEL LOSPOLTERN, ALLES IM HINTERGRUND TUN, EIN FUNDAMENT SCHAFFEN“ Der angebliche Ausstieg des langjährigen Delitzscher Neonazis Maik Scheffler screenshot: LVZ Online vom 04.11.2016

Über Maik Scheffler wurde in denLEIPZIGER u.a. T-Shirts mit dem ZUSTÄNDEN bereits mehrfach berichtet. So zum Motiv „Anti Zionist Ac- Beispiel 2014 anlässlich der Wiederwahl als tion Group“[2] verkaufte stellvertretender NPD-Landesvorsitzender sowie sowie Kleidung mit der seiner Wahl in den Stadtrat von Delitzsch und in Aufschrift „In hoc signo den Kreistag von Nordsachsen.[1] Mittlerweile ist der vinces“ („In diesem Zei- langjährige Kameradschaftsführer und Neonazi-Ka- chen werden wir siegen“) der nach eigenen Angaben aus der Neonazi-Szene vor einem halben Haken- „ausgestiegen“. Mit dem Aussteigerprogramm AD kreuz, das über dem Ho- ACTA des Vereins PROJEKT 21 II aus Dresden tourt rizont aufgeht, wofür er Scheffler durch sächsische Schulen. So war er z.B. 2008 u.a. wegen Verwen- im November 2016 Gast in der nordsächsischen dens von Kennzeichen Oberschule Krostitz. Der Umgang mit Aussteiger_in- verfassungswidriger Orga- LVZ Online berichtet über die neue Tätigkeit Maik Schefflers: „Politische Bildung“. nen ist eine komplizierte Angelegenheit. Besonders nisationen zu einer Geld- im Fall von Maik Scheffler, der sich medienwirksam strafe verurteilt wurde. Nach seinem Wieder- Läuterung meines Verständnisses von De- als Aussteiger verkauft, muss die Frage gestellt eintritt in die NPD wurde Scheffler sogleich mokratie und Souveränität” aus. Hätte es werden, wie glaubhaft dieser Schritt ist. Interne als Direktkandidat für die Landtagswahl in der sächsischen NPD keinen Streit ge- Mitteilungen von Scheffler, über die im April 2016 2009 nominiert und mit der „Orgaleitung“ geben, so „würde der heutige Landesvorsit- auf dem Blog www.inventati.org/leipzig berichtet des Wahlkampfs betraut. In Delitzsch erwarb zende höchstwahrscheinlich Maik Scheffler wurde, lassen daran zumindest zweifeln. er 2009 ein Stadtratsmandat. Im selben Jahr heißen“. Vom „historischen Nationalsozia- wurde er zum Kreisvorsitzenden der NPD lismus“, Diktaturen und „Herrenrassen“ dis- Der 1974 geborene Maik Scheffler aus De- Nordsachsen gewählt, zwei Jahre später au- tanzierte sich Scheffler im Interview. litzsch war von 1997 bis 1999 und von 2008 ßerdem zum stellvertretenden NPD-Landes- Ähnlich wie Scheffler ist auch dessen lang- bis 2015 Mitglied der NPD. Ab der Jahrtau- vorsitzenden. Daneben war er bei der NPD- jähriger Gefolgsmann Alexander Kurth im sendwende war er Kopf der extrem gewaltbe- Fraktion im sächsischen Landtag angestellt. Jahr 2014 aus der NPD ausgetreten – sogar reiten Delitzscher Naziszene. Seine kriminelle Jahrelang fungierte er zudem als Anmelder, gleich zweimal: Im Juni vorgeblich, um wei- Karriere begann 1993 mit einer Verurteilung Organisator und Redner bei NPD-Aufmär- teren Imageschaden von der Partei abzu- wegen Körperverletzung und Diebstahl. Im schen. wenden, und im Oktober dann tatsächlich, Jahr 1998 wurde er wegen unerlaubten Be- um einen Landesverband der Neonazi-Partei sitzes einer Schusswaffe verurteilt, kurz da- Parteiaustritt und LVZ-Interview Die Rechte aufzubauen.[4] Scheffler und rauf wiederum wegen Körperverletzung und Kurth leiteten u.a. die Nazi-Tarnorganisa- u.a. Hausfriedensbruchs – Hintergrund war Zum 31. Oktober 2014 trat Scheffler vom tionen Leipzig steht auf und Bürgerin- ein „Hausbesuch“ bei einem Linken. stellvertretenden Landesvorsitz zurück und itiative Gohlis sagt Nein, auf deren Fa- Scheffler gehörte dem sächsischen Ableger aus dem Landesvorstand aus.[3] Am 27. Ja- cebook-Seiten noch im März 2015 Maik der selbsternannten Eliteorganisation Ham- nuar 2015, trat er aus der NPD aus. Damit Schefflers Fakeprofil „Jonas Thieme“ als Ad- merskins an, war im Kampfbund Deut- kam er einem Ausschluss zuvor, denn gegen ministrator eingetragen war. scher Sozialisten (KDS) aktiv und betrieb ihn lief ein vom Landesvorstand eingelei- Schefflers braunes Treiben zeigt sich auch eine Nazikneipe in Bad Düben. Zusammen tetes Ausschlussverfahren wegen parteischä- durch im Juni 2015 im Internet veröffent- mit dem KDS-Mitglied Thomas Gerlach digenden Verhaltens. Man warf ihm vor, lichtes Datenmaterial von Alexander Kurths baute er ab 2008 das Freie Netz auf, eine Mitglieder des Landesvorstands wiederholt Smartphone.[5] In mehreren Gesprächen militante Neonazistruktur in „Mitteldeutsch- beleidigt und verunglimpft zu haben. spotteten beide über die NPD. Dabei ging land“. Schon in dessen Vorläuferorganisa- Am 30. Januar 2015 rechnete Scheffler in es Scheffler und Kurth jedoch nicht um die tion Nationaler Beobachter Delitzsch einem Interview der Leipziger Volkszei- menschenfeindliche Politik dieser Partei, spielte er eine federführende Rolle. tung mit der extrem rechten Partei ab. Im sondern um persönliche Differenzen mit als Im Jahr 2007 betrieb Maik Scheffler den Interview betonte er, seine „patriotische Ein- inkompetent empfundenen Funktionären. Versandhandel Front-Versand, wo er stellung“ zu bewahren, und schließt „eine

30 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photoquelle: antifainfoblatt.de Foto: attenzione-photo.com screenshot: SRF

Maik Scheffler (links) und Thomas Gerlach (im Maik Scheffler als stellvertretender NPD-Landes- Maik Scheffler erklärt der Schweizer Tagesschau, Vordergrund) beim „European Hammerfest 2007“ vorsitzender bei einer Kundgebung 2012 in Baut- warum es wichtig ist, in Schulklassen gegen die in Mailand, dem Europatreffen der „Elite“-Neona- zen. NPD zu sensibilisieren. ziorganisation HAMMERSKINS.

Strategie bis zur Kommunalwahl 2019 immer bei mir gemeldet haben und alles gut destens Februar 2016 u.a. an Schulen hält. Anfang 2015 gab Scheffler an, aufgrund fanden, bloß sich nicht öffentlich zur NPD Dass Scheffler, wie im Februar 2016 -be seiner Vollzeittätigkeit bei „Medientarife“ bekennen konnten.“ Seine Devise: „Nicht zu hauptet, „vor eineinhalb Jahren den Ausstieg fortan keine Zeit für Rednertermine auf De- viel lospoltern, alles im Hintergrund tun, ein geschafft“ habe, ist schon rechnerisch eine monstrationen zu haben. Für geschlossene Fundament schaffen.“ Lüge. Bis man einen Ausstieg „schafft“, ver- Saalveranstaltungen bei „anständigen Ka- gehen Jahre. Vieles deutet darauf hin, dass meraden“ sei er aber zu haben – offenbar Bürgerbündnis Delitzsch als neue Maik Scheffler, genau wie er es Anfang 2015 geht es ihm nicht um den Zeitaufwand, son- politische Heimat geplant hatte, die Öffentlichkeit und das Aus- dern um sein Bild in der Öffentlichkeit. Am steigerprogramm ad acta, das ihn angeb- 28. Januar 2015 fragte Alexander Kurth, Seinen Plan setzte Scheffler noch 2015 um: lich seit Herbst 2014 betreut, hinters Licht ob Scheffler sich nach seinem Austritt aus Sein „Bürgerbündnis Delitzsch“ trat im Sep- führt. Beweise für einen Sinneswandel bleibt der NPD wieder ein normales Facebook- tember 2015 anlässlich eines Totschlags er schuldig. Es ist beschämend, dass Medien, Profil zulegen wolle. Scheffler entgegnete, in einer Asylunterkunft an die Öffentlich- Öffentlichkeit und Schefflers neue Mitstreiter wie er Geschäftspartner und die Öffentlich- keit. In der Selbstbeschreibung besteht es seinen Parteiaustritt mit einem Ausstieg aus keit zukünftig zu täuschen gedenkt: „Ich hab aus einem „NPD-Aussteiger […], Ausländer der Naziszene verwechseln. n erstmal eins für ausschließlich politikfreie, […], Linkem […] und unpolitischem Un- damit ich fürs Geschäft Freunde aus der Um- ternehmer […]“. Damit betrachtet sich die Der Text wurde in gekürzter und leicht veränderter gebung finde. Ansonsten hab ich [mein Fake- Gruppe als „die tatsächliche Mitte der Ge- Fassung übernommen von www.inventati.org/leipzig profil] Jonas fürs Politische.“ sellschaft“. Das „Bürgerbündnis“ stellte zwar fest, dass Gewalt in einer Massenunterkunft Nach dem LVZ-Interview sagte Scheffler zu kein „ausländerspezifisches Phänomen” ist. Kurth, er sei „ja kein Aussteiger“, sondern Gleichzeitig warf man anderen vor, „unter habe „einfach nur mit dieser Partei gebro- Zuhilfenahme der Meinungspolizei auf chen“. Auch schildert er seine Zukunftspläne jeden kritischen Aufschrei mit Verbalknüp- bis zur Kommunalwahl 2019: „Gerade in De- peln, wie ‚Pack‘, ‚Rassist‘, ‚Nazi‘ usw.“ einzu- litzsch bin ich ja so anerkannt als nationaler schlagen. [1] Vgl. Leipziger Zustände (Dezember 2014): Verluste für die Politiker. […] Deshalb überlege ich, dass ich NPD im Leipziger Umland, S.36 sowie Nordsächsische Zustände erstmal für mich kommunal eine Bürgerini- Für Scheffler bietet sein angeblicher Ausstieg (Dezember 2012): Neonazistrukturen in Nordsachsen, S. 9-11 tiative gründe […] das Ganze auf einer kon- nur Vorteile: Er hat mit der NPD, in der er [2] „Antizionistische [antijüdische] Aktionsgruppe“ servativen Ebene, in Vorbereitung alles auf mit seiner Strategie des Bindeglieds zwischen [3] Wenige Wochen zuvor hatte die NPD bei der Landtagswahl 2019. […] Und dann kann man 2019 mit Partei und „Freien Kräften“ gescheitert war, am 31. August 2014 den Wiedereinzug in das Parlament mit 4,9 richtig guter nationaler Politik auch wieder abgerechnet und kam einem Parteiausschluss Prozent knapp verpasst. angreifen.“ Woraus die breite personelle Basis nebst öffentlicher Schlammschlacht zuvor. [4] Vgl. Leipziger Zustände (Dezember 2014): NPD-Strategie in besteht, auf die er in seiner Bürgerinitiative Zudem hat er Ruhe vor antifaschistischen Leipzig gescheitert, S. 34 zurückgreifen möchte, verrät Scheffler auch: Aktionen und kritischer Presseberichter- [5] Die im Folgenden zitierten Screenshots und Sprachnachrich- „Ich hab eine Liste von vielen Leuten, die stattung und erhält möglicherweise Geld für ten von Scheffler an Kurth sind im Orginalartikel eingebunden sich auch während meiner ganzen NPD-Zeit seine „Aussteiger“-Vorträge, die er seit min- bzw. verlinkt.

31 ALTE UND NEUE RECHTE photo: chronik.LE

Anhänger der IDENTITÄREN BEWEGUNG MEHR SCHEIN ALS SEIN bei LEGIDA am 15. Juni 2016 Die IDENTITÄRE BEWEGUNG in Leipzig

von Kim Richter Leben. Neben einem Video-Blog strebt tige Neonazi Mario M. sowie mehrere Mit- Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie dem Gerber, einst Kader des Freien Netz Zwi- glieder der rechten -Leobener Bur- Posieren auf dem Brandenburger Tor am 27. ckau, eine Vernetzung der derzeit fünf schenschaft Germania. Die Gruppe August 2016 hat die IDENTITÄRE BEWEGUNG in „Ortsgruppen“ in Bautzen, Dresden, Leipzig, hat beste Kontakte zur Alternative für Deutschland eine Aufmerksamkeit erregt, die ihre Zwickau und dem Erzgebirge an. Die Iden- Deutschland und zum Netzwerk Ein wahre Bedeutung übertrifft. titäre Bewegung Sachsen organisiert Prozent um den Compact-Chefredak- Kampfsportschulungen und hängt Trans- teur Jürgen Elsässer, den rechten Burschen- Zwischen NPD und Burschenschaften parente an Brücken auf. Mit dem Verkleben schafter Philip Stein und den völkischen Pu- von Stickern in Leipzig trat das „identitäre blizisten Götz Kubitschek. Eine erste Identitäre Bewegung Leipzig Projekt“ Elsterfunken im November 2015 gründete sich im November 2013. Mitglieder an die Öffentlichkeit. Anfang 2016 folgte ein Von einer „Bewegung“ kann hierzulande bewarben die NPD-Kampagne BÜRGER- Video, in dem 20 maskierte Personen mit keine Rede sein, eher von einzelnen Ka- INITIATIVE GOHLIS SAGT NEIN und drei Transparenten und einer Fahne posieren dern, die unentwegt versuchen, durch die besuchten am 3. Februar 2014 die NPD- und u.a. „Stop Immigration“ fordern. Web- Kombination von rechter Ideologie und Kundgebung „Leipzig steht auf“ gegen seite und Video verschwanden kurz darauf pseudo-gebildetem Hipster-Habitus neue eine Asylunterkunft in Leipzig-Schöne- aus dem Internet. Anhänger*innen zu finden. n feld. Eine Woche später lud die Gruppe zu einer „Vorstellungsrunde“ mit der Leipziger Zwischen AfD und völkischem Publi- Burschenschaft Germania ein. An dem zismus HINTERGRUND Treffen nahm neben einigen Burschenschaf- Die Identitäre Bewegung kommt ur- tern auch der Neonazi Alexander Kurth teil. Die neueste Leipziger Identitären-Genera- sprünglich aus Frankreich und ist seit Nach der Teilnahme an einem Identitären- tion fokussiert sich ebenso stark auf digitale 2012 auch in Deutschland vertreten. Aufmarsch im Mai 2014 in Wien schwelgte Medien. So inszenierte sie im Sommer 2016 Ihre Ideologie begründet sich dabei im die Leipziger „Ortsgruppe“ in Allmachtsfan- das Aufhängen von Transparenten und das Ethnopluralismus. Diese kulturrassis- tasien („Europa wird identitär“), erreichte Verteilen von Wurfschnipseln, die eine „Re- tische Argumentation geht davon aus, selbst aber weder Zulauf noch öffentliche migration“ fordern – de facto also die Aus- dass es unterscheidbare und homoge- ne Kulturkreise gäbe, die durch Mig- Resonanz. Noch im selben Jahr verschwand reise aller Menschen mit Migrationshinter- ration bedroht seien. Die Identitäre die knapp zehn Personen starke Gruppe von grund. Einer ihrer Akteure produziert seit Bewegung tritt betont jugendlich und der Bildfläche. September 2016 einen Video-Podcast – zu- popkulturell auf, ihre rassistischen und sammen mit einem Kader der Kamerad- islamfeindlichen Positionen werden Zwischen Freies Netz und Kampfsport schaftKontrakultur Halle. dabei aktionistisch verpackt. Sie treten Zu Kontrakultur Halle, einem Identi- außerdem besonders im Internet in Er- Ebenfalls 2014 rief der Neonazi Tony Gerber tären-Ableger aus Halle/Saale, zählen auch scheinung. die Identitäre Bewegung Sachsen ins der Neonazikader Dorian S., der gewalttä-

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ZWISCHEN BÜRGERLICHEM KONSERVATIVISMUS UND VÖLKISCHEM NATIONALISMUS Die AfD im Spannungsverhältnis zwischen parlamentarischer Bürgernähe und außerparlamentarischer Nähe zur radikalen Rechten

von Sarah Ulrich Rassismus, bei denen Muslim_a als die ‚Anderen’ kon- [1] Pressemitteilung Die ALTERNATIVE FÜR DEUTSCHLAND (AfD) hat es geschafft. struiert werden. Doch auch wenn sich immer wieder AfD-Fraktion Leipzig vom Mit Ergebnissen zwischen 12,6% und 24,3% konnte sie 2016 menschenverachtende Muster im Programm der Leip- 25.08.2016 Wahlerfolge feiern, die den rasanten Aufschwung der letzten ziger AfD finden lassen, die Fraktion wirkt bürgerlich, Jahre seit ihrer Gründung 2013 noch überstiegen. Damit ist sie die Themen organisationspolitisch. [2] vgl. youtube-Kanal in zehn Landesparlamenten vertreten und nähert sich Ergeb- „Pegida in Dresden“ nissen an, die sonst nur die etablierten Volksparteien SPD und ...rechtspopulistisch auf der Straße. CDU erreichen. Auch bei den Wahlen in Sachsen 2014 erreichte [3] vgl. http://www.sz-online. sie 9,7% und ist damit viertstärkste Partei, in Leipzig immerhin Doch was im Rathaus nicht gesagt wird, findet im au- de/sachsen/bewegung-am- fünfstärkste mit 6,4%. Immer wieder wird diskutiert, ob die ßerparlamentarischen Kontext umso mehr Ausdruck. rechten-rand-3484754.html AfD das Auffangbecken für rechte „Wutbürger_innen“ sei, die Immer wieder erscheinen AfD-Mitglieder auf Veran- PEGIDA-Partei. Die neue Partei am rechten Rand also? Ganz so staltungen rechter Akteure. So zum Beispiel Cati Bun- [4] vgl. Text „Mehr Schein einfach ist es nicht, wie eine Analyse der Parteiaktivitäten in desmann aus Borna. Das Mitglied der Jugendorganisa- als Sein“ in diesem Heft, S. 32 Leipzig und Umland zeigt. tion der AfD (Junge Alternative) hielt Ende August bei einer Demonstration gegen die Absetzung eines Bürgerlich im Stadtrat... Pegida-nahen Friedensrichters vor dem Amtsgericht Pirna eine Rede, die von Pegida-Anhängern hochgelobt Vier Männer sollen die AfD in Leipzig repräsentieren. wurde. Hierin spricht sie davon, dass man „unsere il- Holger Hentschel, Christian Kriegel, Jörg Kühne und legalen Einwanderer“ mittlerweile als „Neuankömm- Tobias Keller. Sie geben sich bürgernah, die Themen, linge“ oder „Fachkräfte“ bezeichne[2]. Diese vermeint- die die Parteivertreter in den Stadtrat tragen, sind lo- liche Sprachkritik wird in rechten Kreisen immer kalpolitisch angepasst. Es geht um Verkehr, Sportfeste, wieder gerne als Anti-Einwanderungs-Argument an- Landwirtschaft oder Schulen. Immer wieder suchen geführt. Organisiert wurde die Demonstration von der sie dabei den „Bürgerdialog“. Nichtsdestotrotz bringen Heidenauer Wellenlänge[3], einer neuen Bewegung, sie auch bei harmlosen Themen immer wieder rassis- die stark an die Identitäre Bewegung erinnert[4]. tische Ressentiments als vermeintliche Argumentati- onsgrundlage an. So zum Beispiel, als die Fraktion eine Offiziell hat sich die AfD für eine strikte Abgrenzung Ausstellung im ehemaligen Stasi-Gefängnis und heu- gegenüber den Identitären ausgesprochen. Das ver- tigen Museum der Runden Ecke verhindern will. Diese mehrte Auftauchen des Lambdas, des Symbols der Wanderausstellung mit dem Namen „Muslime in Bewegung, auf AfD-Demonstrationen und die engen Deutschland“ passe nicht zu dem „historisch geprägten personellen Verbindungen insbesondere innerhalb Alleinstellungsmerkmal“ des „89er Symbols“[1]. Auf der des AfD-Netzwerkes Patriotische Plattform und Startseite der Fraktionshomepage ist dann auch folge- der Jungen Alternative sprechen jedoch eine an- richtig zu lesen „Bildung erhalten – Schulen sind keine dere Sprache. Julien Wiesemann aus dem sächsischen Asylheime“. Bekannte Muster des antimuslimischen Meißen, der Landesvorsitzende der JA und Schrift-

33 ALTE UND NEUE RECHTE photo: Tim Waner

Kundgebung der AfD am 18. November 2015 in Leipzig

[5] vgl. Text „Zwei Jahre Le- führer der AfD Sachsen beispielsweise, arbeitet Und auch der Leipziger Uwe Wurlitzer, sächsischer Ge- gida“ in diesem Heft auf S. 6 immer wieder mit den Identitären zusammen. Auch neralsekretär, parlamentarischer Geschäftsführer und Hans Thomas-Tillschneider, Vorsitzender derPatri - stellvertretender Fraktionsvorsitzender der AfD im [6] http://www.zeit.de/ otischen Plattform, bekannte sich offen zu ihnen. sächsischen Landtag, steht ganz im Zeichen der Ambi- politik/deutschland/2016-08/ Tillschneider, der für die AfD in Sachsen-Anhalt im valenz zwischen bürgerlichem Konservativismus und rechtsextremismus-identita- Landtag sitzt, sagte auch, er sehe sich als Berater der klassisch rechten Argumentationsmustern. Zum einen ere-bewegung-bundesamt- Leipziger Legida zu Fragen rund um den Islam[5]. lehnte er jegliche Zusammenarbeit mit Pegida ab, fuer-verfassungsschutz- da man Probleme mit den Organisatoren und Grün- geheimdienst Von guten Freunden und völkischem Nationalismus dern der neuen Pegida-Partei habe. Auf der anderen Seite stehen seine Aussagen denen Pegidas kaum nach. [7] http://www.derwesten. In diesem Spannungsfeld zwischen parlamentarischen So forderte Wurlitzer unter anderem, man müsse die de/politik/vier-anschlaege- und außerparlamentarischen Aktivitäten bewegt sich „linksversiffte Politik im Freistaat abschaffen“[7]. Erst auf-afd-politiker-in-leipzig- der AfD-Abgeordnete nicht alleine. Zahlreiche AfD- im August 2016 erklärte er, seine Fraktion fordere die in-einer-nacht-id12134624. Politiker pflegen enge Kontakte zu Burschenschaften „separate Kasernierung sämtlicher Asylbewerber mit html und Vordenkern der Neuen Rechten. So auch der Leip- unklarer Identität.“[8]. Geflüchtete ohne Pass sollen ziger Gesamtkoordinator Roman Topp, Landesspre- zur „Gefahrenabwehr und Aufrechterhaltung der öf- [8] http://jule.linxxnet.de/in- cher der Jungen Alternative und Burschenschaftler fentlichen Sicherheit und Ordnung“ in Lager gesteckt dex.php/2016/08/sonderlager- bei der pflichtschlagendenArminia . Diese verkehrt in werden. Eine Kriminalisierung von Menschen, wie sie fuer-gefluechtete-ohne-pass/ neurechten Kreisen, wie den Herausgebern der Zeit- im rassistischen Diskurs häufig geschieht. schriftBlaue Narzisse oder auch mit NPD-nahen Po- [9] vgl. Blogeintrag „Wir litikern wie Gerd F., der für die Partei mehrere Jahre im Eine Basis für solche Äußerungen bietet insbesondere sind identitär“, Patriotische Kreistag des Landkreises Leipzig saß. Auch Felix Ko- die Patriotische Plattform, die 2013 als eine Or- Plattform 19.06.2016 schkar, ehemals Vorstandsmitglied der Jungen Alter- ganisation des völkisch-nationalistischen AfD-Flügels native und häufig Teilnehmer bei Legida, ist Mitglied in Leipzig gegründet wurde. Bereits die Gründungser- der Burschenschaft Arminia und wohnt sogar im klärung richtet sich explizit gegen „massenhafte Ein- Leipziger Verbindungshaus. Mitglieder der Jungen wanderung“ und die „Herausbildung einer multikul- Alternative berichten von zahlreichen Werbeversu- turellen Gesellschaft“. Unverblümt bekennt man sich chen Koschkas für die Identitäre Bewegung[6]. zur Identitären Bewegung, bestätigt sogar perso- nelle Verbindungen zwischen dieser und der AfD. Die

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Mittel der Identitären seien „außerparlamentarisch, einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Identitären aber nicht weniger wirksam“[9]. Zu einem Großteil re- Bewegung ausgesprochen. Außerdem bezeichnete sie [10] http://www.fr-online. krutiert sich die Plattform aus sächsischen Mitglie- in einem Beschwerdebrief an die Fraktion im sächsi- de/kolumnen/afd-rechts- dern, wie dem Vorsitzenden Tillschneider oder auch schen Landtag die Tatsache, dass Hans-Thomas Till- --rechter---afd-eilen- Koschkar. Und auch in den sozialen Medien sind die schneider bei einer Pegida-Demonstration spricht, als burg,29976192,34464096.html rechten Kräfte der AfD aktiv. Auf der Facebook-Seite „bewussten Affront“[11]. der Ortsgruppe Eilenburg ist immer wieder von „Asyl- [11] https://twitter. betrügern“ oder der „Lügenpresse“ zu lesen. Dabei be- Die Alternative für Deutschland ist eine Partei, die auf- com/JustusBender/sta- dient sich Seiten-Administrator Thomas Illig fort- grund ihrer uneinheitlichen Struktur kaum eindeutig tus/731123818383691776/ während an Nazi-Jargons. So auch, wenn es heißt, die klassifiziert werden kann. Klar ist aber, dass sie bei photo/1?ref_src=twsrc%5Etfw Nation müsse ihr „DEUTSCH SEIN“ bewahren oder Weitem nicht lediglich die eurokritische, demokrati- dass „Millionen Deutscher Kinder können nicht in den sche Partei ist, als die sie sich gerne inszeniert. Als Me- Urlaub fahren, während wir Millionen Asylbetrüger lange aus konservativen bis rechtsradikalen Kräften in vom feinsten durchfüttern müssen!“[10]. verschiedenen Flügeln, forciert sie, ob parlamentarisch oder außerparlamentarisch, die Diskursverschiebung Einen Skandal lösten AfD-Mitglieder beim Schönauer nach rechts und bildet ein Sammelbecken für Ideolo- Parkfest in Grünau im August 2016 aus, als sie mit gien, die sich zwischen Konservativismus, Rechtspo- einem Wahlkampfauto vorfuhren, das das Kennzei- pulismus und Rassismus bewegen. n chen L-AH 1818 trug. Auch wenn sie sich nachträglich davon distanzieren, „AH“ sowie „18“ sind beides neo- Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Leipzig. Ihre Schwer- nazistische Szenecodes, die auf die Initialen Adolf Hit- punkte sind soziale Bewegungen, Rassismus und die radikale Rechte. lers verweisen.

Das bürgerliche Gesicht wahren

Für Parteichefin Frauke Petry sind die Liebäugeleien ihrer Parteikollegen mit der radikalen Rechten ein Dorn im Auge. Die Gründerin und ehemalige Ge- schäftsführerin der Leipziger Firma Purinvent ist screenshots: twitter.com Mitglied des Sächsichen Landtages und soll in der Leip- ziger Südvorstadt wohnen. Petry will das konservativ- bürgerliche Antlitz der Partei wahren und sich vor allem auf die parlamentarische Arbeit konzentrieren. Auf der AfD-Ländertelefonkonferenz hat sie sich für photo: screenshot facebook

Autos mit dem Logo der AfD und auffälligen Kennzeichen. L-AH 1818 (oben): „AH“ sowie „18“ sind neonazistische Szenecodes, die auf die Ini- tialen Adolf Hitlers verweisen. Von 1933 bis 1945 (vgl. rechts) mordeten die Nationalsozialisten in Deutschland und Europa. Und seit 2015 mar- schiert LEGIDA druch Leipzig.

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WER WÄHLT DIE AFD – RELOADED Soziale Merkmale und politische Einstellungen 2016

von Johannes Kiess dass sie Milieus ansprechen konnte, die zwar antide- In der vorigen Ausgabe der LEIPZIGER ZUSTÄNDE hat der Autor mokratisch und/oder menschenfeindlich eingestellt auf Basis der Erhebungen aus dem Frühjahr 2014 die damalige sind, die bisher aber demokratische Parteien wählten. Wähler_innenschaft der AfD beschrieben. Wie hat sich diese Für diese – sich selbst der „Mitte“ zurechnenden – Mi- seitdem entwickelt? lieus ist die NPD als offen rechtsextreme Partei nicht wählbar gewesen. Damit war also schon länger (und In der Vergangenheit konnten rechtsextreme und vor der „Flüchtlingskrise“) klar, dass die AfD vor allem rechtspopulistische Parteien – ob neu gegründet oder eine Konkurrenz für die „etablierten“ Parteien sein mit langjähriger Tradition – keine nennenswerten würde, weniger für die NPD. Dies lässt sich, neben Wahlerfolge auf der Bundesebene erzielen, obwohl das fehlenden „wählbaren“ Angeboten am rechten Rand, rechtsextreme Einstellungspotential, wie es die Leip- unter anderem mit der bisherigen Bindekraft der ziger „Mitte“-Studien seit Jahren ausweisen, kontinu- großen Parteien erklären. Sie konnten lange Zeit mit ierlich vorhanden war. Die Wählerinnen und Wähler anderen relevanten Themen (z.B. Wirtschaftskompe- mit rechtsextremer Einstellung waren stattdessen tenz) Legitimation gewinnen und – als große Parteien über Jahre vor allem an SPD und CDU gebunden. Auf – die autoritäre Orientierung durch Größe, Macht und Grundlage der Erhebung 2014 hatten wir AfD- und Konventionalismus bedienen. NPD-Anhängerinnen verglichen, um einerseits Un- terschiede zwischen den Parteien bzw. ihren jewei- Entlang der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen ligen Anhängerschaften herauszuarbeiten und ande- Einstellungs- und Handlungsebene in der Rechtsextre- rerseits die Erfolgsbedingungen der neuen Partei zu mismusforschung lässt sich feststellen, dass bisher viele analysieren.[1] Die Wahlerfolge der AfD, so das dama- Personen rechtsextrem eingestellt waren, aber nicht lige Ergebnis, sind auf eine ganze Reihe von Gründen entsprechend handelten. Das hat sich nun geändert. zurückzuführen: Auf der einen Seite konnte die AfD Im Folgenden stellt der Beitrag zunächst einige sozi- ein Angebot für bestimmte Wählende schaffen, indem odemografische Merkmale und dann einige Einstel- sie in relativ kurzer Zeit und auf die Eurokrise reagie- lungsmerkmale der potenziellen AfD-Wählenden vor. rend eine funktionierende Organisation aufbaute. In Die anderen Parteien und die Nichtwählenden dienen der Debatte um Geflüchtete fand sie ein neues Thema, dabei als Vergleichsgruppen. Der Beitrag beruht auf welches als Katalysator wirkte. Außerdem verfügt sie, unseren Auswertungen in der im Juni 2016 erschienen so die Einschätzung nach der Bundestagswahl 2013, Studie.[2] Grundlage der folgenden Darstellung ist die sowohl über fähiges Spitzenpersonal als auch finanz- „Sonntagsfrage“, die in der aktuellen Erhebung gestellt kräftige Geldgeber. worden ist: „Wenn am nächsten Sonntag Bundestags- Auf der anderen Seite liegt ihr Erfolg darin begründet, wahlen wären, würden Sie wählen gehen und wenn ja, welche Partei bekäme Ihre Stimme?“ Damit werden auch diejenigen erfasst, die unentschlossen sind, ob sie überhaupt wählen gehen („Wahlteilnahme unsicher“) und jene, die zwar wählen gehen wollen, aber noch nicht wissen, welche Partei („Parteiwahl unsicher“).

Die AfD eine Partei der Mitte?

Politisch steht die AfD weit rechts. Sie gibt sich aber, wie viele „moderne“ rechtspopulistische Parteien in Europa, einen „bürgerlichen“ Anstrich. Das heißt, sie versucht seriös aufzutreten, sieht sich auch deshalb Grafik 1: Anteil Abitur nach Parteipräferenz (in %) immer wieder gezwungen, sich von allzu extremen Po-

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sitionen in den eigenen Reihen zu distanzieren, und re- wissen, ob sie wählen gehen wollen, sind es mit 18% weit [1] Kiess, J., Brähler, E. & De- klamiert die Repräsentation zumindest eines Teils der weniger. Von den Nichtwählenden haben nicht einmal cker, O. (2015): Die Wählerin- Mitte der Gesellschaft für sich. Welche sozialen Milieus 10% das Abitur abgelegt – die Entscheidung, wählen zu nen und Wähler von AfD und vertritt die AfD aber tatsächlich? gehen, hängt offenbar stark vom Bildungsgrad ab. Und NPD – Gemeinsamkeiten und auch die AfD-Wählenden weisen einen deutlich unter- Unterschiede, in: O. Decker, Im Jahr 2014 lag der Anteil der AfD-Wählenden mit Ab- durchschnittlichen Bildungsgrad auf. J. Kiess & E. Brähler (Hrsg.): itur noch bei 21,2% und dieser ist 2016 auf 16,2% ge- Das Alter der Wählenden ist im Durchschnitt bei den Rechtsextremismus der Mitte sunken (vgl. Grafik 1). Den höchsten Anteil an Wäh- Unionsparteien am höchsten. Es folgen FDP, SPD und und sekundärer Autoritaris- lenden mit Abitur haben die Grünen (40,7%), gefolgt die Linke, während die Grünen die jüngste Anhänger- mus, Gießen: Psychosozial, S. von der Linken (35,9%) und der FDP (33,3%). Auch schaft haben (Grafik 2). Die AfD-Wählenden sowie 83–104. unter denen, die zwar zur Wahl gehen wollen, aber die Nichtwählenden sind ebenfalls relativ jung. Im noch unentschieden sind, haben 28,9% als Bildungsab- Vergleich zu 2014 beobachten wir nur bei den AfD- [2] Brähler, E., Kiess, J. & schluss mindestens das Abitur. Bei denen, die noch nicht Wählenden eine deutliche Veränderung: das Durch- Decker, O. (2016): Politische schnittsalter ist von 50,6 (2014) auf 46,9 Jahre Einstellungen und Parteiprä- (2016) auffällig gesunken. Auch beim Geschlecht ferenz: Die Wähler/innen, zeigen sich deutliche Unterschiede in Bezug auf Unentschiedene und Nicht- die Parteipräferenz (Grafik 3). Die AfD erfährt wähler 2016, in: O. Decker, von Männern deutlich höheren Zuspruch als J. Kiess & E. Brähler (Hrsg.):, von Frauen, 64,2% der potenziellen AfD-Wähler Die enthemmte Mitte. sind männlich (2014: 65,4%, vgl. Grafik 2). Bei Rechtsextreme Einstellungen den Grünen, den Nichtwählenden und den Un- in Deutschland 2016, Gießen: entschlossenen überwiegt jeweils der Frauen- Psychosozial, S. 67-94. On- anteil deutlich. Bei den übrigen Parteien ist das line unter https://www.kredo. Verhältnis relativ ausgewogen. Schließlich ge- uni-leipzig.de/die-leipziger- hören die AfD-Wählenden insgesamt eher nicht mitte-studien/

Grafik 2: Parteipräferenz und Durchschnittsalter zu den Besserverdienenden, 2014 wiesen sie Diagramm durchschnittlich noch ein höheres Einkommen [3] Bei einem minimalen auf. Summenwert von 18 und ei- männlich weiblich 100% nem maximalen Summenwert von 90 wurde der Cut-off- 80% 35,8 Die AfD-Wählenden sind nach rechts 48,9 49 52,8 54,9 60,8 Wert von ≥ 63 gewählt. 64 64,2 68,9 gerutscht 60% Wie sieht es nun auf der Einstellungsebene 40% 64,2 aus? Für Grafik 4 wurde der Wert der Zustim- 51,1 51 47,2 45,1 20% 39,2 36 35,8 31,1 mung über alle 18 Aussagen des in den Leip- ziger „Mitte“-Studien eingesetzten Fragebogens 0% AfD Linke FDP SPD CDU/ Nicht- Wahl- Partei- Grüne CSU wähler teilnahme wahl zu rechtsextremen Einstellungen zusammenge- unsicher unsicher fasst (pro Frage 1 bis 5, Maximalwert 90, Mini- malwert 18). Die Zustimmung über alle Aus- Grafik 3: Parteipräferenz nach Geschlecht (in %) sagen hinweg ist bei den AfD-Wählenden mit

CDU/ Nicht- Wahlteilnahme Unent- einem Wert von 52,2 mit Abstand am höchsten. SPD FDP Grüne Linke AfD CSU wähler unklar schlossen Durchgehend über alle Dimensionen (Be- 11,3 15,1 - 3,8 2,8 26,4 0,9 34,9 4,7 fürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antise- Tabelle 1: Was wählen Rechtsextreme? (Gesamtdeutschland, in %) (Grenzwert > 63 (N = 106)) mitismus, Sozialdarwinismus, Verharmlosung

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Seite 1 ALTE UND NEUE RECHTE

Nazideutschlands) und folglich auch in der Gesamt- skala der rechtsextremen Einstellung ist die Zustim- mung der AfD-Wählenden im Jahr 2016 höher als 2014. Für die Darstellung in Tabelle 1 wurde ermittelt, welche Partei die manifest rechtsextrem Eingestellten wählen würden. Manifest rechtsextrem eingestellt ist, wer durchschnittlich allen Aussagen im Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung zustimmt.[3] Konnten SPD und Unionsparteien 2014 zusammen noch knapp 50% der rechtsextrem Eingestellten an sich binden, sind es 2016 nur noch 26,4%. Auch die Linke verliert

Grafik 4: Rechtsextreme Einstellung und Parteipräferenz (Mittelwert) bei dieser Gruppe. Die rechtsextrem Eingestellten sind vor allem zur AfD gewandert: Gaben 2014 nur 6,3% der rechtsextrem Eingestellten an, diese Partei wählen zu wollen, so waren es 2016 34,9%.

Fragt man nach der Demokratie wie sie in der Verfas- sung festgeschrieben ist (vierstufige Skala, („eher zu- frieden“ und „sehr zufrieden“ zusammengefasst), liegt die Zustimmung bei den AfD-Wählerinnen mit 50% am niedrigsten, selbst die Nichtwählerinnen sind we- niger skeptisch (63,7%). Am zufriedensten mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland (eben- falls vierstufig) sind mit 70,2% die Anhängerinnen der Grafik 5: Gewaltakzeptanz und Parteipräferenz (in %) Union. Dagegen äußern sich weniger als die Hälfte der Linke-Wählenden, der bei der Parteiwahl noch Un- sicheren sowie der Nichtwählenden auf diese Frage zufrieden. Allerdings sind lediglich 11,1% der AfD- Wählenden mit der Ausgestaltung der Demokratie einverstanden – offenbar wird die Wahlentscheidung dieser Gruppe von großem Unmut über das demokra- tische System sowohl in seiner Verfasstheit als auch seinem tatsächlichen Funktionieren beeinflusst.

Seit 2014 nutzen die Leipziger „Mitte“-Studien wei- tere Items um die Verbreitung der Abwertung be- stimmter Gruppen zu erfassen. Bei den AfD-Wäh- Grafik 6: Gewaltbereitschaft und Parteipräferenz (in %) lenden fühlen sich „durch die vielen Muslime“ 85,9% „fremd im eigenen Land“. Dieses Gefühl haben bei den Grünen nur 24,7%, bei SPD und CDU/CSU aber im- merhin auch rund die Hälfte. Noch etwas deutlicher ist der Abstand zwischen der Anhängerschaft von AfD und den übrigen Parteien bei der Frage, ob die Zuwan- derung speziell für Muslime untersagt werden sollte. Das meistdiskutierte Thema der letzten Monate dürfte die Asylpolitik sein. Auch hier spielen Vorurteile eine wesentliche Rolle, nicht zuletzt auch für parteipo- litische Positionierungen. Nur bei den Grün-Wäh- lenden wird die Aussage „Die meisten Asylbewerber befürchten nicht wirklich, in ihrem Heimatland ver- Grafik 7: Verschwörungsmentalität und Parteifpräferenz (in %) folgt zu werden“ von einer Mehrheit abgelehnt, aber

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selbst unter ihnen stimmen 36,1% zu. Bei der AfD liegt stärkt das Angebot der AfD wahrnehmen. Ganz deut- dieser Wert mit 88,4% am höchsten. Bei den übrigen lich zeigt sich das auch im abnehmenden Anteil der Parteien stimmen durchgehend über 50% der Anhän- Rechtsextremen, die andere Parteien wählen würden. gerinnen zu. Außerdem sind die potenziellen AfD-Wählenden be- Um die Gewaltakzeptanz und Gewaltbereitschaft der sonders islamfeindlich, homophob, antiziganistisch Befragten je nach Parteipräferenz zu differenzieren, und feindlich gegenüber Geflüchteten eingestellt. Zwar wurden zwei Fragebögen verwendet. Wer durch- können die „Mitte“-Studien keine Wählerwanderung schnittlich allen Aussagen der jeweiligen Dimension nachzeichnen, also unmittelbar abbilden, welche Wäh- von Gewalt zustimmte, wird als Person aufgefasst, die lerschichten in welchem Umfang zwischen welchen entweder Gewaltanwendung anderer zur Durchset- Parteien „gewandert“ sind. Dennoch kann im Ver- zung von Interessen akzeptiert oder selbst gewaltbe- gleich der Auswertungen 2014 und 2016 ein zentrales reit ist. In beiden Dimensionen weisen die -Wählenden Ergebnis hinsichtlich der Wahlpräferenz rechtsextrem deutlich höhere Werte auf als alle anderen. 48,8% ak- Eingestellter festgehalten werden: Ein gestiegener An- zeptieren Gewalt als legitimes Mittel der Auseinander- teil von ihnen würde nun die AfD wählen. Mit der Ver- setzung und 47,4% sind selbst gewaltbereit (Grafiken schiebung des politischen Diskurses nach rechts wurde 5 und 6). Schließlich zeigt Grafik 7 die Zustimmung eine angebliche „Alternative“ wählbar – ein Möglich- zum Fragebogen „Verschwörungsmentalität“ nach Par- keitsfenster, das die AfD zu nutzen wusste. teipräferenz. Wer allen Aussagen im Fragebogen zur Schließlich ist auch die hohe Gewaltakzeptanz und Verschwörungsmentalität durchschnittlich zustimmt, Gewaltbereitschaft bei den AfD-Wählenden hervorzu- sieht zielgerichtetes und konspiratives Wirken nicht heben. Zieht man die niedrige Zustimmung zur Demo- erkennbarer Gruppen oder Mächte im Hintergrund kratie in ihrer verfassungsmäßigen und praktizierten des Weltgeschehens. Diese Sicht ist bei den AfD-Wäh- Form sowie die hohe Abwertung von Minderheiten lenden mit deutlichem Abstand am weitesten ver- hinzu, ergibt sich eine gefährliche Mischung an Ein- breitet: 65,3% von ihnen glauben an Verschwörungs- stellungen. Diese schon lange und fest in Deutschland theorien. Darauf folgen die Linke-Wählenden mit verankerten Einstellungen werden inzwischen auch in immerhin 44,6%; bei den übrigen Parteien ist es jeweils Handlungen übertragen: in Form von (beabsichtigten) etwa ein Viertel. Wahlentscheidungen für die AfD und, wie die Statis- tiken von Polizeibehörden und Opferberatungsstellen Fazit: Einstellungen gehen stärker mit beabsich- zeigen, auch in Gewalt. n tigten Wahlentscheidungen einher Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Die Klientel der AfD besteht weiterhin zu etwa zwei Siegen und Mitherausgeber der Leipziger „Mitte“-Studien (geleitet Dritteln aus Männern, doch hat sich ihre sonstige so- von Oliver Decker und Elmar Brähler). ziale Zusammensetzung deutlich geändert und ent- spricht jetzt stärker der für rechte Parteien üblichen: Die AfD-Wählenden sind im Jahr 2016 eher unter- durchschnittlich gebildet, haben ein eher unterdurch- schnittliches (wenn auch nicht durchgehend niedriges) Einkommen und sind jünger als der Durchschnitt. Zudem bekennen sich nur noch ein Drittel und damit 10% weniger als 2014 zu einer der beiden großen Kir- Weitere Literatur: chen. Die Wählerschaft der AfD hat sich also in sozi- aler Hinsicht deutlich gewandelt. Häusler, A. (2016): Die AfD als rechtspopulistischer Pro- fiteur der Flüchtlingsdebatte, in: O. Decker, J. Kiess & E. Bei den politischen Einstellungen zeigt sich im Ver- Brähler (Hrsg.): Die enthemmte Mitte. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016, Gießen: Psychoso- gleich zu 2014 eine Radikalisierung des AfD-Anhangs. zial, S. 167-178. In allen Dimensionen rechtsextremer Einstellung ist die Zustimmung der AfD-Wählenden im Jahr 2016 Niedermayer, O. (2015): Eine neue Konkurrentin im Par- höher als 2014. Zu vermuten ist, dass sie sich seit 2014 teiensystem? Die Alternative für Deutschland, in O. Nie- dermayer (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl radikalisiert haben, aber auch, dass bisher Nichtwäh- 2013, Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 175–207. lende und bei anderen Parteien Untergekommene ver-

39 In Leipziger Gemeinschaftsunterkünften wird vor dem Auszug der Bewohner_innen mittels eines Fragebo- gens eine sogenannte Sozialprognose erstellt. Mit drei verschiedenen Smileys werden unter anderem die Fähigkeit zur „Bereitschaft zur Kooperation und Kom- munikation bei Problemsituationen“, „Mülltrennung & Ordnungsgemäße Entsorgung“, der Deutschkurs- besuch oder individuelle Problemlagen (Sucht oder 03KAPITEL psychische Auffälligkeiten) bewertet. Gibt es negative Noten, werden Trainingsmaßnahmen eingeleitet – und im schlimmsten Fall dürfen die Betroffenen nicht aus- RASSISMUS ziehen.

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DAS WOHNEN IN WOHNUNGEN LERNEN? Die Stadt Leipzig und ihre Unterbringungspraxis für Geflüchtete

von Initiativkreis: Menschen.Würdig von Rassist*innen in einigen Ortsteilen beschlossen. Es [1] Vgl. Leipziger Zustände Oft wird Leipzig als Insel bezeichnet, als Insel in einem ultra- entstanden kleine Unterkünfte à maximal 50 Personen (Dezember 2014): Leipzigs konservativen Sachsen, in dem der schwelende Rassismus vor und die Quote der Wohnungsunterbringung bewegte sich (neue) Wutbürger. Rassistische allem im vergangenen Jahr 2015 allerorten durch Aufmärsche, in Richtung 70 Prozent. Mobilmachung gegen Asylun- Blockaden, Angriffe oder das Anzünden von Asylunterkünften Bereits ein Jahr später wurde jedoch nachjustiert und terkünfte, S.12ff zutage trat. die Mindestgröße auf 150 Personen pro Sammelunter- kunft heraufgesetzt. Seit 2013 wuchs die Zahl der nach Die regelmäßigen, meist zahlenmäßig überlegenen Leipzig zugewiesenen Geflüchteten von 658 auf 1.243 Proteste gegen den Leipziger Pegida-Ableger und (2014) und 4.230 Personen im Jahr 2015. Vor diesem anderen Aufmärsche, die vielfältigen antirassisti- Hintergrund wurden erste Notunterkünfte geschaffen, schen und Flüchtlingshilfe-Strukturen, aber auch so zum Beispiel in einer ehemaligen Grundschule in die Angebotspalette für städtisch geförderte integra- Leipzig-Schönefeld 2013/14. [1] tive Maßnahmen wie städtisch finanzierte Sprach- Mit Stadtratsbeschluss vom Februar 2015 wurde letzt- kurse, einen Übersetzer*innen-Pool, auf den die lich die Fortexistenz, die Sanierung und der Ausbau Sozialarbeiter*innen zugreifen können, einen sozi- der Torgauer Straße beschlossen – trotz des ursprüng- alen Betreuungsschlüssel von 1:50 und möglicherweise lichen Konzeptes und gegen zivilgesellschaftliche Wi- sogar demnächst das erste Gesundheitskartensystem derstände. Der Initiativkreis hatte im Vorfeld mit einer in Sachsen lassen auf den ersten Blick tatsächlich ver- Kampagne für selbstbestimmtes Wohnen – unter an- muten, dass Leipzig aus dem sächsischen Trend aus- derem mit einer Petition, die mehr als 3500 Menschen schert. unterschrieben, und einer gemeinsamen Pressekon- Doch die Umstände, in denen Geflüchtete in Leipzig ferenz mit Genossenschaften, Stadtteilinitiativen und wohnen müssen, und der reglementierte Weg von der sozialen Vereinen - dafür geworben den Ausbau der Massenunterkunft in eine eigene Wohnung trüben den bis dahin größten Massenunterkunft in Sachsen zu- schönen Eindruck. Dabei waren die Voraussetzungen gunsten von dezentralem Wohnen zu stoppen. noch vor kurzem sehr gut. 2. Gegenwart 1. Rückblick Insgesamt lebten im September 2016 in Leipzig mehr Im Jahr 2009 wurde auch durch zivilgesellschaftlichen als 10.000 Menschen mit Fluchthintergrund, knapp die Protest verhindert, dass am Leipziger Stadtrand eine Hälfte davon im Bezug des Asylbewerberleistungsge- neue Container-Massenunterkunft gebaut wird, eine setzes. Zirka 4000 Menschen leben derzeit in Gemein- entscheidende Rolle dürften jedoch auch die Kosten- schaftsunterkünften. Mittlerweile wurden im Stadt- erwägungen des potentiellen Betreibers gespielt haben. gebiet 15 kleine Unterkünfte bis 60 Plätze geschaffen, Damals gründete sich der Vorläufer des Initiativ- 16 sind größer und fassen zum Teil bis zu 500 Men- kreis: Menschen.Würdig. Die Sensibilisierung gegen schen. Leipzig ist zudem die erste Stadt in Sachsen, diese Form der Isolation von Geflüchteten führte zu die im vergangenen Jahr Zelte als Notunterkünfte er- einem Stadtratsbeschluss: Die Quote der Wohnungs- richtete. Die Quote der dezentralen Wohnungsunter- unterbringung soll weiter gesteigert werden, statt Mas- bringung hat sich umgekehrt und schwankt zwischen senunterkünften am Stadtrand gibt es künftig kleintei- 30 und 40 Prozent. Festzuhalten ist allerdings, dass die lige Gemeinschaftswohnformen im Stadtgebiet. Dafür Stadt Leipzig die Begrifflichkeit der dezentralen Unter- sollte die Sammelunterkunft in der Torgauer Straße bringung im engeren Sinne auf das Wohnen in einer ei- schließen. Diese Unterkunft wurde in einem ehema- genen „selbstgewählten“ Wohnung mit eigenem Miet- ligen Kasernengebäude eingerichtet, das sich in einem vertrag bezieht. überaus maroden Zustand befand und mitten im Ge- Der Begriff wurde jedoch in verschiedenen innerstäd- werbegebiet im Nordosten gelegen ist. tischen Kontexten bereits unterschiedlich benutzt. So Im Jahr 2012 wurde das Konzept gegen die Widerstände wurde sich bei einer Informationsveranstaltung zu

41 RASSISMUS

teilt. Die Kommunen haben Spielräume, die auch Woh- nungsunterbringung ermöglichen. Auch das Sächsische

photo: chronik.LE photo: Flüchtlingsaufnahmegesetz eröffnet Möglichkeiten, al- lerdings beschränkte das Sächsische Innenministeriums mit einem Erlass von 2001 diese wieder. Demnach dürfen „Asylbewerber und geduldete Ausländer“ nur im Ein- zelfall, wenn es gesundheitlich und zur Genesung erfor- derlich ist oder aus humanitären Gründen, aus der Un- terkunft in eine Wohnung ziehen. Ausziehen ist für die Betroffenen vor der Anerkennung als Flüchtlinge also nur auf Antrag bei den Sozialämtern der Kommunen möglich.

2.2. Die Leipziger Wohnfähigkeitsprüfung

Neben den im Erlass grob formulierten Kriterien kommt in der Stadt Leipzig zudem eine sogenannte Wohnfähig- keitsprüfung zum Zug. Sozialarbeiter*innen in der Ge-

Die Gemeinschaftsunterkunft in der Leipziger Liliensteinstraße meinschaftsunterkunft müssen vor dem Auszug mittels eines bereit gestellten Fragebogens eine sogenannte Sozial- [2] Alexander Klose / Doris einer neuen Unterkunft nur auf die örtliche Dimen- prognose erstellen. Mit drei verschiedenen Smileys (siehe Liebscher: Gutachten zur sion von „dezentral“ bezogen, aber nicht darauf, dass Abbildung S.40) werden unter anderem die Fähigkeit zur Rechtmäßigkeit der „Wohnfä- das Leben in den eigenen vier Wänden die Grundlage „Bereitschaft zur Kooperation und Kommunikation bei higkeitsprüfung“ für Flüchtlinge eines selbstbestimmten Lebens ist, das Privatsphäre Problemsituationen“, „Mülltrennung / Ordnungsgemäße in der Stadt Potsdam, Mai 2014, und Schutzraum bietet. In anderen Landkreisen und Entsorgung“, der Deutschkursbesuch oder individuelle http://www.antidiskriminie- Städten werden auch kommunal angemietete Woh- Problemlagen (Sucht oder psychische Auffälligkeiten) be- rungsberatung-brandenburg. nungen, die von Fall zu Fall willkürlich mit Menschen wertet. Gibt es negative Noten, werden Trainingsmaß- de/sites/default/files/attache- „bestückt“ werden, oder Sammelunterkünfte mit ab- nahmen eingeleitet – und im schlimmsten Fall dürfen die ments/Gutachten%20diskrimi- schließbaren Wohnbereichen als „dezentrale Unter- Betroffenen nicht ausziehen. nierende%20Wohnfaehigkeits- bringung“ bezeichnet. Das Instrument der Wohnfähigkeitsprüfung ist repressiv pruefungen_2014.pdf Vom Konzept aus dem Jahr 2012 ist im Grunde nicht und etabliert Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse – mehr viel übrig geblieben. Der immer virulentere nicht nur zwischen Geflüchteter*m und Sozialarbeiter*in, Mangel an bezahlbarem Wohnraum macht es vor allem es ist ganz grundsätzlich Ausdruck einer Sonderbehand- Geflüchteten schwer, eine eigene Wohnung zu finden. lung, nach der das Verhalten der Betroffenen belohnt oder Im September 2016 lebten in den Sammelunterkünften sanktioniert wird. Geflüchtete werden so einer diskrimi- 800 Personen, die mit ihrem positiven Bescheid über nierenden Prüfung unterworfen, die es für andere Men- den Asylantrag in eine eigene Wohnung hätten ziehen schen nicht gibt. Ein Rechtsgutachten im Auftrag des Ver- können. Das waren knapp 20 % des Personenkreises. eins Opferperspektive Brandenburg befand im Jahr 2014, dass die in Potsdam angewendete Wohnfähigkeits- 2.1. Antrag auf selbstbestimmtes Wohnen prüfung gegen das deutsche Grundgesetz und gegen euro- päische Richtlinien verstößt.[2] Alle Menschen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, müssen einen Antrag stellen, wenn sie aus der Unterkunft 2.3. Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt ausziehen wollen. und mit Vermieter*innen und Unterstützungs- Wenn der Aufenthalt gestattet wurde und damit das Asyl- möglichkeiten verfahren beendet ist, ist das Jobcenter zuständig. Dann müssen die Menschen aus den Unterkünften ausziehen, Die Anforderungen für eine Bewilligung zum Auszug sind müssen es aber trotzdem vorher beantragen. bei Sozialamt und Jobcenter unterschiedlich. In beiden Während das Asylverfahren läuft, legt das Bundesasylge- Fällen muss aber zuerst ein Wohnungsangebot vorliegen, setz die Regel-Sammelunterbringung fest. Die Menschen zu dem speziell eine Bewilligung beantragt wird. Hier- werden erst Bundesländern und dann Kommunen zuge- durch kommt es immer wieder zu so starken Verzöge-

42 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016

rungen, dass die Wohnung meist schon an andere Woh- Ein weiterer Faktor sind die Mietpreise der dezent- [3] http://www.kontaktstelle- nungsinteressierte vergeben wird. Aber auch abseits dieser ralen Wohnungen. Das Jobcenter bewilligt Wohnraum wohnen.de bürokratischen Hürden ist es für Menschen im Asylver- für „anerkannte Flüchtlinge“ nur nach den Sätzen der fahren und für jene, die es bereits abgeschlossen haben, „Kosten der Unterkunft“ (KdU). Wie bei allen Hartz-IV- [4] Sowohl die Kontaktstelle schwierig, passenden Wohnraum zu finden. Unterstüt- Empänger*innen werden pro Person und Quadratmeter Wohnen als auch das Antidis- zung hierbei finden Geflüchtete in Leipzig selten. durchschnittlich 4,60 Euro an Nettokaltmiete plus ein Be- kriminierungsbüro Sachsen e.V. Die Kontaktstelle Wohnen[3], die sich im Frühjahr trag für Nebenkosten gestattet. Das Sozialamt erlaubt für stehen in solchen Fällen bera- 2016 gegründet hat, ist bislang das einzige hauptamt- Asylbeweber*innen im Verfahren pro Einzelperson sogar tend und vermittelnd zur Seite. liche Projekt, das die Wohnraumsuchenden unterstützt. In nur rund 4 Euro an Nettokaltmiete. Das Antidiskriminierungsbüro erster Linie verbindet die Kontaktstelle die Wohnraumsu- Während die KdU-Sätze des Jobcenters für den Leipziger Sachsen e.V. bietet sachsenweite chenden mit Ehrenamtlichen, die direkt, unmittelbar und Wohnungsmarkt nicht gänzlich unrealistisch, wenn auch Beratung und Unterstützung kleinteilig bei der Kommunikation mit Vermieter*innen, sehr knapp bemessen sind, bewegen sich die durch das bei rassistischer Diskriminie- Wohnungsbesichtigungen und Anträgen auf Erstausstat- Sozialamt gestatteten Kosten außerhalb des Machbaren. rung an. Informationen unter: tung etc. unterstützen. Sie versorgt Geflüchtete und Eh- Diese Einschränkung erschwert den Zugang zu selbstbe- http://www.adb-sachsen.de/ renamtliche mit Hinweisen zum Wohnungsmarkt oder stimmtem dezentralen Wohnraum erheblich. rassistische-diskriminierung- neuen Informationen aus den Ämtern. wohnungsmarkt.html Auch in Leipzig sind rassistische Diskriminierungen für 3. Ende Geflüchtete auf dem Wohnungsmarkt Normalität. Be- [5] Die Wohnsitzauflage für reits der Anruf bei Vermieter oder Vermieterin mit Es lässt sich zusammenfassen, dass die Stadt Leipzig im anerkannte Flüchtlinge ist mit starkem Akzent oder ohne Deutschkenntnis führt re- Jahr 2012 eine politische Entscheidung mit Vorbildcha- dem so genannten Integrations- gelmäßig zu Absagen. Oftmals werden diese mit Vor- rakter getroffen hat, die ausbaufähig war, aber immerhin gesetz des Bundes im August behalten in der Nachbarschaft oder gar Verboten durch in Richtung selbstbestimmtes Wohnen einschlug. 2016 in Kraft getreten (vgl. § die Wohnraumeigentümer*innen begründet. Rassisti- Das Abdriften von diesem Kurs wurde von den entschei- 12a Aufenthaltsgesetz). Damit sche Haltungen werden teilweise auch durch Hausverwal- denden Stellen mit dem „summer of migration“ 2015 ge- werden Geflüchtete – auch tungen getragen und behindern das Zustandekommen rechtfertigt, als in kurzer Zeit Hunderttausende Menschen rückwirkend die, die seit dem 1. von Mietverträgen. Häufig sind es eindeutig kulturalisie- nach Europa flüchteten. Doch die neu errichteten und Januar 2016 eine Anerkennung rende und ethnisierende Aussagen von Vermieter*innen modernisierten Massenunterkünfte in Leipzig sind keine bekommen haben – gezwungen wie „Die Flüchtlinge sind immer so laut“ oder „es fällt den notbedingten Ausnahmen, sondern bleiben vielmehr die in das Bundesland zurückzu- Muslimen schwer, sich in unsere Kultur zu integrieren“. Regel. kehren, wo ihr Asylverfahren Auch die Annahme, dass die Wohnraumsuchenenden Auch das Festhalten an der diskriminierenden Wohnfä- geführt wurde. Bisher konnten Terrorist*innen sein könnten, wurde bereits geäußert.[4] higkeitsprüfung gibt Anlass, der sich selbst als weltoffen diese Menschen ihren Wohnsitz Diese rassistischen Diskriminierungen betreffen alle gerierenden Stadtverwaltung weiterhin sehr kritisch ge- frei wählen. Die Bundesländer nach Deutschland geflüchteten Wohnraumsuchenden. genüberzustehen. entscheiden derzeit auch über Hinzu kommen weitere benachteiligende Faktoren wie Und so muss der Kampf um selbstbestimmtes und be- die Einführung einer landes- mangelnde Kenntnis des Leipziger Wohnungsmarktes, zahlbares Wohnen für Geflüchtete in Leipzig weiter ge- internen Wohnsitzauflage. Der (sprachliche) Verständigungsschwierigkeiten oder feh- fochten und ganz praktisch unterstützt werden. Hinzu Freistaat Sachsen wird dies im lende Informationen über die Vergabepraxis von Woh- kommen zahlreiche Verschärfungen des Asyl- und Auf- November 2016 tun. Es steht nungen und bereits genannte bürokratische Hürden. enthaltsrechts, wie zum Beispiel die Wohnsitzauflage, die zu befürchten, dass die freie Geflüchtete im Asylverfahren sind nach Erfahrung der die Freizügigkeit von Geflüchteten erheblich beeinträch- Wohnsitzwahl auch innerhalb Kontaktstelle Wohnen auf dem Wohnungsmarkt tigen wird. [5] n Sachsens für einen gewissen noch vor Hartz-IV- oder Sozialhilfeempfänger*innen die Zeitraum reglementiert wird. am stärksten benachteiligte Gruppe. Für sie gelten oft sehr Der Initiativkreis Menschen.Würdig (IKMW) hat sich 2012 kurze Aufenthaltsgestattungen von 3 bis 6 Monaten. Nicht im Zuge der Debatte um das Unterbringungskonzept der Stadt viele Vermieter*innen lassen sich darauf ein, obwohl die Leipzig gegründet. Seine Vorläufer gehen ins Jahr 2009 zurück. Der Aufenthaltsgestattung immer wieder verlängert wird. Die IKMW kämpft für gleiche Rechte von Geflüchteten und engagiert Praxis, dass der Aufenthalt nicht durchgängig gestattet ist, sich besonders für selbstbestimmtes Wohnen. sondern immer neu vergeben wird, ist also nicht nur per- www.menschen-wuerdig.org sönlich psychologisch extrem belastend für die Asylsu- chenden, sie verhindert oft auch aktiv ein Ankommen in selbstbestimmtem Wohnraum.

43 photos: UKSSD

»LEIPZIG WURDE MEIN HASAKA« Ein Interview mit Aziz Al-Ayyoobi

Aziz Al-Ayyoobi musste 2011 aus Syrien fliehen, war der Organisator. Ich kam ins Gefängnis. mit der Finanzierung der UN zu tun. Des- nachdem die anfängliche Revolution gegen die Insgesamt dreißig Tage. Es hätten auch wegen sollten wir irgendwo in Europa oder autoritäre Herrschaft Baschar al-Assads in einen 30 Jahre sein können, wenn ich ihnen die den USA unsere Organisation anmelden. Bürgerkrieg umschlug. Er war als Student politisch Namen gegeben hätte. Aber ich habe keine Der zweite Grund: In Damaskus habe ich aktiv und hat die UNION KURDISCHER STUDIEREN- Antworten gegeben. Sie hatten keine Be- im Februar 2011 ein Mädchen aus Deutsch- DER (UKSS) mitbegründet. Für seine Aktivitäten weise gegen mich. Ich war in keiner Partei. land kennen gelernt. wurde er vom syrischen Geheimdienst verfolgt. Alle oppositionellen Parteien waren unter- Auch nach seiner Ankunft 2012 in Leipzig war wandert vom Geheimdienst. Wie war es für dich nach Deutschland zu es ihm äußerst wichtig, seine politische Arbeit kommen, obwohl du früher nicht hierher fortzusetzen. Wie war es für dich, als die Revolution in Sy- wolltest? rien losging? Als ich nach Deutschland kam, habe ich die chronik.LE: Warum musstest du Syrien Ich hatte die Revolution erwartet. Am Anfang ersten drei Tage geschlafen. Ich hatte wieder verlassen? war es ganz friedlich, bis es dann ausgenutzt das Gefühl von Sicherheit. Es gibt Sicher- Aziz: Mein Haus war in Damaskus. Ich hatte wurde und die Gewalt gekommen ist. heit in Deutschland. Es war für mich nicht Schwierigkeiten mit dem Geheimdienst. Ich wichtig, wo ich hinkomme. Was ich wollte, wurde 2004 bis 2011 überwacht. Als die Re- Wie bist du später nach Deutschland ge- war ein Leben. Ich habe mich schnell in volution und die Gewalt angefangen haben, kommen? Leipzig wohlgefühlt. Es ist wie meine Hei- wurde es schwieriger und gefährlicher für Ich wollte nicht nach Deutschland. Die matstadt in Syrien. Hasaka hat auch um die mich. Ich habe mich nicht mehr sicher ge- ganzen syrischen Freunde wollten nach 600.000 Einwohner_innen, ist sehr grün fühlt und habe bis Juni 2011 gewartet. Aber dem Gefängnis nicht mehr mit mir reden. und hat viele Seen. Leipzig wurde mein Ha- ich hatte immer das Gefühl, ich werde jede Sie hatten Angst, dass ich was gesagt habe saka. Ich habe vorher schon gewusst, was Sekunde festgenommen. Also habe ich Da- oder beobachtet werde. Meine Freunde zu Europa und Deutschland ist. Es ist nicht maskus Richtung Nordsyrien verlassen. diesem Zeitpunkt kamen aus Spanien, Ita- neu oder eine andere Kultur, das ist für Dort bin ich dann eine Weile geblieben, weil lien, USA… der ganzen Welt. Aber nicht aus mich Quatsch. Aber die Menschen, die ich die Situation nicht so angespannt war. Da- Deutschland. Damals wollte ich nicht nach in Leipzig und Deutschland kennengelernt nach bin ich in die Türkei gegangen. Deutschland. Auch als ich in der Türkei war habe, sind gut. Es gibt hier viele Optionen. wollte ich nicht nach Deutschland. Ich bin Warum wurdest du vom Geheimdienst aus zwei Gründen dennoch nach Deutsch- Hast du auch negative Erfahrungen in überwacht? land gekommen. Als wir 2012 unsere Ver- Deutschland gehabt? Wegen meines Aktivismus. Ich habe an Pro- netzung als UKSS größer gemacht haben, Ja, manchmal mit den Behörden. Sie inter- testen teilgenommen, habe in geheimen haben wir uns in Istanbul mit vielen Nicht- essieren sich nicht dafür, wer vor ihnen sitzt, Zeitungen geschrieben und studentische, Regierungsorganisationen getroffen. Wir wie diese Person denkt. Warum er oder sie sozialkritische Veranstaltungen organisiert. wollten mit der UN zusammenarbeiten, um nach Deutschland gekommen ist. Die Be- Im Jahr 2008 wurde ich festgenommen. Es Hilfe nach Syrien zu bringen. Aber wenn hörden sollten besser mit den Menschen, gab zuvor eine große Veranstaltung mit 300 man mit der UN zusammenarbeiten will, die vor ihnen sitzen, reden und Respekt Studierenden. Der Geheimdienst wollte die muss die Organisation in Europa oder den haben. Respekt ist gut für die Menschen. Namen der 300 Studierenden haben und ich USA offiziell registriert sein. Das hat was Im Grundgesetz dieses Landes steht: „Die

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Im Januar 2015 sendeten Flüchtlinge aus Lagern in Nordsyrien Fotos mit Botschaften an die rechten Bewegungen LEGIDA und PEGIDA in Deutschland. (Das Foto stellt nicht den interviewten Aziz Al-Ayyoobi dar.)

Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie zu vernetzen und unsere Arbeit in meiner Was sind eure Pläne für die Zukunft? sollten nicht vergessen, dass jeder Mensch neuen Heimat weiterzuführen. Anfang 2014 In Syrien versuchen wir weiterhin den Men- Würde hat, nicht nur Deutsche. haben wir unsere Gruppe als Verein ange- schen, die unsere Hilfe benötigen, diese zu- Aber auch im sozialen Verhalten gibt es meldet. In diesem Prozess haben wir den kommen zu lassen. Wir wollen auch eine neue manchmal Probleme, manche Deutsche Namen in Unabhängiges Komitee für Gesellschaft nach dem Krieg mit aufbauen. verhalten sich respektlos gegenüber an- soziale Entwicklung und selbstorga- Hier in Leipzig sind es kleinere Projekte. Wir deren, aber sie bemerken das nicht. Aber es nisierte Demokratie e.V. (UKSSD) ge- planen für nächstes Jahr kurdische Filmtage. gibt sehr viele Menschen, die sehr schnell ändert, um mehr Menschen mit einzu- unsere Lage verstehen und viel helfen. schließen. Momentan entstehen auch neue Abschließend noch eine Frage zu deinen Stellen in anderen Bundesländern, es sind persönlichen Wünschen, was hoffst du für Wie sah eure politische Arbeit in Syrien und nicht nur Kurd_innen und Syrer_innen, Syrien und auch hier für Deutschland? hier in Deutschland konkret aus? sondern auch Menschen aus Afghanistan, Für Deutschland wünsche ich mir, dass die Nachdem die Gewalt in Syrien zuge- dem Sudan und deutsche Studierende bei Leute die Geflüchteten als Bürger_innen nommen hat, gab es in Nordsyrien mehr uns. In Leipzig versuchen wir gerade, meh- sehen. Die Geflüchteten brauchen keine Raum und eine friedlichere Bewegung, um rere Projekte zu den Themenbereichen In- Hilfe. Sie brauchen keine Kleidung, keinen vor allem mit Jugendlichen die Gesellschaft klusion, Kultur, Frauenrechte und Jugend- PC, kein Smartphone, kein Klavier. In Sy- zu entwickeln. Aber es gab viele Waffen auf entwicklung anzugehen. Ziel ist es, ein rien hatten wir Autos, wir hatten Klaviere, der Straße, wenig Schulen und viele Kinder soziales Zentrum in Leipzig aufzubauen, wir hatten alles. Aber wir hatten keine spielten mit Waffen. Daher haben wir den also ganz ähnlich wie in Syrien. Würde. Die Revolution in Syrien war für UKSS im Dezember 2012 in Syrien ge- unsere Würde. Das ist in Syrien nicht pas- gründet. Wir haben uns mit anderen Stu- In Leipzig seid ihr vermutlich vor allem siert. Aber wir wollen auch unsere Würde in dierenden in Nordsyrien vernetzt und drei durch eure Plakataktion zu dem ersten Le- Deutschland nicht verlieren. Wir sind alle Zentren für Kinderschutz, Frauenrechte, gida-Aufmarsch bekannt geworden (siehe Bürger_innen, dabei geht es nicht um ein Selbstorganisation und autonome Bildung Foto). Wie kam es dazu? Stück Papier, sondern um Würde. gegründet. Viele Studierende konnten nicht Unsere Aktivist_innen in Syrien verfolgen die Für Syrien hoffe ich, dass der Frieden bald mehr in ihre Universität gehen und haben ganze Politik in Deutschland und der Welt. kommt. Viele Menschen hier aus Syrien dann angefangen, in den Zentren Unter- Sie haben auch durch die Geflüchteten, die wollen zurück. Sie fühlen sich hier nicht richt für Kinder zu geben. Alle Programme nach Deutschland kommen, erfahren dass gleich behandelt. Das ist schade. In Syrien sind unabhängig und selbstorganisiert. Im sich etwas in der deutschen Gesellschaft ver- ist es nicht mehr unser Kampf. Wir haben letzten Jahr haben wir eine große Veranstal- ändert. Für sie war es erst nicht begreifbar, keine Macht mehr in Syrien. Ich hoffe, dass tung zu dem Thema „Wir sind alle Bürger“ dass es eine rassistische Massenbewegung Syrien zu Ruhe kommt. Dann gehen wir zu- in drei Städten gemacht. Ziel war es die un- in einem demokratischen Land gibt. Wie rück. Ich auch. n terschiedlichen Menschen, die innerhalb können Menschen in einem demokratischen von Syrien aufgrund des Krieges nach Nord- Land solche Aktionen gegen andere Men- syrien geflohen sind, zusammen zu bringen schen machen. Das ist unmenschlich. Und sie und zu zeigen, dass alle gleich sind. wollten uns hier und die Gegenbewegungen In Deutschland war mein Ziel, sich auch hier gegen Legida und Pegida unterstützen.

45 RASSISMUS

»IM KRIEG SIEHST DU WIE ALLES ZUSAMMENBRICHT« Ein Interview mit Salah Massoud

Salah Massoud (Name geändert) kommt aus Damaskus. Als er Durch das Gefängnis bekam ich psychische Probleme. für die syrische Armee im Bürgerkrieg kämpfen sollte, floh er Ich kam ins Krankenhaus. Dort habe ich dann die 2014 nach Deutschland. Hier wartete er ein halbes Jahr auf die Ärzte gefragt, ob es nicht einen offiziellen Weg gäbe, Anerkennung seines Asylantrags. Jetzt wohnt er in Leipzig. aus der Armee raus zukommen. Und ich hatte Glück. Sie sagten: „Wir können eine Entscheidung treffen, chronik.LE: Wie war dein Leben in Syrien und warum dass du aufgrund deiner Probleme nicht mehr weiter bist du fortgegangen? Soldat sein kannst.“ Das hat geklappt. Ich war so glück- Salah: Vor dem Krieg bin ich nie außerhalb Syriens ge- lich, aber natürlich hat auch das Geld gekostet. wesen. Und wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, hätte ich darüber auch niemals nachgedacht. Syrien Wie hat sich die Situation für die Menschen in Syrien war ein schönes Land vor der Revolution und dem durch den Krieg verändert? Bürgerkrieg. Dann habe ich alles verloren. Wir haben Im Moment sind die Hälfte der Zivilbevölkerung unser Haus verloren, ich meinen Job. Ich hatte nichts Flüchtlinge. Fünf Millionen haben Syrien verlassen. In mehr zu tun. Ich komme aus einer armen Schicht dort. die Türkei, den Libanon, Jordanien. Dort leben sie in Fast alle Geflüchteten, die bis jetzt hierher kamen, schlechten Umständen. Es gibt viele Kinder, die nicht haben irgendwie Geld in Syrien gehabt und sind da- zur Schule gehen und ohne medizinische Versorgung durch hierhergekommen. Aber ich hatte kein Geld. Ich sind. 1,5 Millionen sind im Libanon. Das ist so ein hatte keine tausend Euro, um einfach aus Syrien aus- kleines Land. Ich weiß keine Zahlen über Deutschland, zureisen. So geht es vielen dort. Fast alle dortgeblie- Türkei oder Jordanien, doch überall sind Syrer. Vor der benen jungen Menschen sind nun Kämpfer auf irgend- Revolution hatte Syrien 23 Millionen Einwohner. Sechs einer der Seiten des Bürgerkriegs. Ob nun auf der Seite Millionen flüchteten innerhalb des Landes. Wie meine von Assad, des IS oder der Kurden. Diese benutzen die Familie. jungen Leute, weil sie keine Arbeit haben. Sie nutzen Es ist wirklich ein großer Unterschied, ob du Nach- sie für ihre Zwecke aus. Entweder du tötest oder du richten im Fernsehen siehst, im Radio hörst oder das wirst getötet. alles selbst erlebst. Im Krieg siehst du wie alles zusam- menbricht. Es gibt keine Zukunft. Die fortschreitende Du wolltest nicht kämpfen, aber du warst in der Armee. Zeit verwirrt dich. Du hast keine Vergangenheit mehr, Wie bist du zur Armee gekommen? keine Zukunft und deine Gegenwart ist unter einem Ja, also es ist normal, dass man in Syrien zur Armee Damoklesschwert. Ich habe bis heute Alpträume. Ich geht. Jeder junge Mann muss zur Armee, wenn er 21 glaube bis jetzt nicht, dass ich hier bin. Dass ich sicher ist. Also nach der Schule, dem Studium, musst du zur bin. Weil so etwas wie Sicherheit aus meinem Kopf ge- Armee. Auch ich war Soldat. Dort hatte ich nicht viele löscht ist. In Deutschland habe ich angefangen mich Möglichkeiten. Jede Wahl war eine blutige. Bleibe ich besser zu fühlen. Hier habe ich viele gute Menschen in der Armee oder verlasse ich sie. Wenn ich sie ver- getroffen. Ich hab nun gute Freunde. Viele von ihnen lasse, werde ich zu den Dschihadisten geraten. Und sehen mich nicht als Flüchtling und das ist mir wichtig. jeder weiß, dass das Faschisten sind. Es ist derselbe Sie sehen mich als Mensch. Mist. Ich will kein Faschist sein. Also blieb ich in der Armee. Ich wollte in der Armee bleiben, aber nicht Was war dein erster Eindruck als du nach Deutschland kämpfen. Einfach nur die Zeit abwarten, bis es vorbei kamst? ist. Ich habe drei Einsätze verweigert. Dadurch kam Also als ich in Deutschland ankam, kam ich zuerst mal ich ins Gefängnis. Ich habe ihnen erzählt, ich bin ein in ein Asylbewerberheim. Ich dachte über das Asylver- Feigling. Denn wenn ich ihnen erzählt hätte, dass ich fahren nach. Man hat die ganze Zeit diese Furcht, diese gegen die Diktatur von Assad bin, würde ich jetzt nicht Sorge. Vielleicht habe ich eine Chance, eine Anerken- hier sitzen und darüber erzählen. Jeden Tag kamen sie nung zu bekommen. Man denkt die ganze Zeit darüber vorbei und sagten: „Wenn du kämpfst, bist du frei!“ nach. Das Heim ist kein guter Ort. Die Menschen, die Aber ich wählte das Gefängnis. dort wohnen, haben alle diesen Druck und viele von

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ihnen schlimme und traurige Geschichten. Ich habe beitet. Ich habe sechs Monate gewartet, ein Bekannter dort Menschen aus Syrien, Afghanistan, Irak, Tune- neun und eine andere sogar zwölf. Und alle sind Syrer. sien, Algerien, Libyen, Ägypten und Jemen getroffen. Nach der Anerkennung kommen aber weitere Prob- Und wir haben unsere Erlebnisse und Geschichten leme. Dann musst du dich beim Jobcenter melden und ausgetauscht. Mein afghanischer Freund berichtete mir eine Wohnung suchen und einen Deutschkurs und Ar- über seinen Weg nach Deutschland. Das ist auch eine beit. Alle diese Dokumente sind auf Deutsch. Und die schlimme Route, auch mit dem Boot und den nächtli- Angestellten in den Büros sprechen nur Deutsch. In chen Grenzübertritten, eben wie bei mir. Und Freunde guten Fällen, wenn du Glück hast, spricht jemand mal aus Libyen erzählten vom Weg nach Italien, über das Englisch mit dir. Auch von den Jobcenter-Formularen Mittelmeer. Das ist jedes Mal so schrecklich zu hören. habe ich nichts verstanden. Denn für dieses Doku- Tausende ertrinken dort jedes Jahr. Aber weil die Zu- ment brauchst du einen Anwalt, um das zu verstehen. stände in ihren Ländern nicht gut sind, nehmen die Es gibt auch Deutsche, die Probleme mit den Doku- Menschen diese Gefahr auf sich und verlassen ihre menten vom Jobcenter haben, mit dieser bürokrati- Länder. schen Sprache. Das Heim, wirklich, das ist so fürchterlich. Und gleich- zeitig triffst du viele Leute und hörst viele Geschichten. Wie geht es für dich jetzt weiter? Und manchmal gibt es Probleme zwischen den Ge- Ich möchte mich in dieser Gesellschaft beweisen. Ich flüchteten in diesen Heimen. Es hängt auch mit den möchte arbeiten, ich möchte die Sprache lernen. Ich Nationalitäten zusammen. Das passiert jeden Tag. möchte mich selber besser fühlen. Ich möchte in dieser Weil die Leute wie im Gefängnis an einem Ort un- Gesellschaft handeln. Fast alle Flüchtlinge denken so, tergebracht sind. Viele sind voller Angst und Furcht, aber sie brauchen auch eine Chance. Ich kenne Flücht- sind arm und in Not. Als ich von diesen Demon- linge, die Ingenieure, Mediziner sind oder studieren. strationen in Dresden hörte, wirklich, ich hab mich Sie wollen arbeiten, Teil der Gesellschaft sein, aber sehr gefürchtet. Ich hatte wieder viele Alpträume. Ich haben diese Chance nicht. Darum hoffe ich, dass die träumte, dass ich immer noch in Syrien fest steckte. deutsche Gesellschaft offen für sie sein wird. Ich bin so glücklich, dass ich diese Chance habe, und dass ich in- Hast du hier Leute getroffen, die dir ablehnend gegen- zwischen deutsche Freunde habe. überstanden? Ja, aber nicht direkt, persönlich. Einige ignorieren mich Was sind deine Hoffnungen – für dich und auch für Sy- oder machen Witze über mich. Ich war mit Freunden rien? bei einem Konzert und da waren zwei Typen, die sich Also ich hoffe, dass der Bürgerkrieg endet. Für immer. über mich lustig machten. Fragten mich, ob ich schwul Und nicht nur in Syrien, sondern überall. Denn durch sei. Sie sprachen überhaupt kein Englisch. Sie kannten die Erfahrung dieses Krieges kenne ich nun die Be- nur diese Phrase, um sich über fremde Menschen lustig deutung von Krieg. Ich hoffe, mich als Teil dieser Ge- zu machen. Ich war so wütend und fühlte mich ver- sellschaft zu beweisen, dass ich die Chance habe, mich letzt. Aber auf der anderen Seite waren da eben meine selbst zu beweisen, meine Fähigkeiten zu beweisen. Freunde, meine deutschen Freunde, die mich da ver- Und ich hoffe für meine deutschen Freunde alles Beste. teidigten. Danach habe ich viel darüber nachgedacht. Denn diese haben mir sehr geholfen und ich schätze Nach diesem Vorfall dachte ich, hier gibt es schlimme das so sehr. Meine Message an Flüchtlinge und die Leute, mehr oder weniger, und es gibt viele gute. deutsche Gesellschaft: Seid offener miteinander. Ich hoffe, dass die Anhänger von Pegida und Legida Wie lange dauerte es, bis dein Asylantrag anerkannt nachdenken. Ich bin sicher, ihr seid Menschen wie ich. wurde? Ich jedenfalls bin ein Mensch wie ihr. n Ich habe sechs Monate gewartet. Ich kenne ein paar Freunde, die ihre Anerkennung in ein bis zwei Mo- naten erhalten haben. Jeder Fall wird verschieden bear-

47 RASSISMUS

»WIR WOLLTEN DIE ZUSTÄNDE NICHT HINNEHMEN« Ein Interview mit Sandra Münch von BON COURAGE

In Großstädten wie Leipzig gibt es meist eine Vielzahl von Unterstützung Asylsuchender dazugekommen. Wie Angeboten zur Unterstützungsarbeit für Asylsuchende sowie kam es dazu? für Betroffene von rassistischer und neonazistischer Diskrimi- Das kam tatsächlich eher zufällig zustande, als ein Ver- nierung. Im ländlichen Raum gibt es dagegen nicht nur wenige einsmitglied 2009 eine Familie aus der nahegelegenen solcher Angebote, sondern Engagierte sind auch besonderen Asylunterkunft kennengelernt hat. Am Anfang haben Widerständen ausgesetzt. chronik.LE hat mit Sandra Münch wir die Familie eher privat besucht. Wir haben dann vom Verein BON COURAGE über Erfolge und Schwierigkeiten gesehen, dass es hier echt krasse Zustände direkt vor ihrer Arbeit in Borna, einer Kleinstadt im Landkreis Leipzig, unseren Augen gibt. Wir haben das dann in den Verein gesprochen. getragen und den Verein als Plattform genutzt, um dieses Thema aufzugreifen, Projekte durchzuführen chronik.LE: Den Verein Bon Courage gibt es seit und Öffentlichkeitsarbeit zu machen. 2007. Was hat euch damals dazu bewogen den Verein Wir waren immer in den Heimen und viele Leute zu gründen? hatten Fragen zu Briefen und anderen Dingen. Aus Sandra: Die Zustände waren damals in Borna einfach dem starken Bedarf heraus ist dann 2013 die Bera- nicht mehr ertragbar. Rechte Gewalt und Stress mit tungsstelle für Geflüchtete entstanden. Damals gab es Neonazis überall, kein Gegenangebot und eine Stadtge- gar nichts: keine Flüchtlingssozialarbeit, keine Migra- sellschaft die sagt, ein Problem mit rechts gibt es nicht. tionsberatung, nichts dergleichen. Anfangs haben wir Wir haben gemerkt, dass selbst wenn wir erzählen, es das alles im Ehrenamt gemacht. Als es dann Flücht- niemanden gibt, der uns zuhört. Damals haben sich lingssozialarbeit gab, haben wir uns hauptsächlich auf zwei Gruppen von Jugendlichen zusammengetan und die Beratung bei Fragen und Problemen im Asyl- und den Verein gegründet. Ziel war es aufzuklären und ein- Aufenthaltsverfahren konzentriert. Dazu hatten wir fach etwas gegen rechts zu machen. Wir wollten die uns in den Jahren zuvor sehr viel Wissen angeeignet. Zustände nicht mehr so hinnehmen. 2016 haben wir schließlich eine Projektförderung be- Als Erstes haben wir dann drei Projekttage unter dem kommen, wo das Informieren und Aufklären von Ge- Titel „Faschismus gestern, heute, niemals wieder“ or- flüchteten ein wichtiger Bestandteil ist. Anfangs war ganisiert. Damals war uns wichtig, das Thema erst mal es nie so gedacht, dass wir eine so professionelle Be- zu setzen und in die Gesellschaft hinein zu tragen. Von ratungsstelle wie heute werden. Das hat sich im Pro- Anfang an gab es einen starken Fokus auf Bildungs- zess so ergeben. und Öffentlichkeitsarbeit. So organisieren wir von An- fang an jedes Jahr Gedenkstättenfahrten. Wie wurde die Arbeit von den Geflüchteten ange- nommen? Hat sich die Wahrnehmung der Menschen vor Ort Am Anfang kamen nur Leute zu uns, mit denen wir durch eure Arbeit verändert? private Kontakte und Freundschaften gepflegt haben. Ich würde nicht sagen, dass sich die Wahrnehmung nur Unser Angebot hat sich im Laufe der Zeit rumgespro- aufgrund von uns geändert hat. Aber wir haben schon chen. Heute kommen teilweise Leute aus anderen Prozesse angeregt, sich mit Problemen auseinanderzu- Landkreisen zu uns. Sie kommen zu uns, weil sie das setzen. In der Gründungszeit unseres Vereins bestand Gefühl haben, hier bekommen sie die Unterstützung ja auch noch die neonazistische „Gedächtnisstätte“ die sie brauchen. Uns ist dabei die Begegnung auf Au- des Collegium Humanum (CH) in Borna. Dagegen genhöhe wichtig. haben wir versucht, Protest zu organisieren, dass die wieder abhauen. So hat z.B. der damalige Oberbürger- Mit eurer Arbeit habt ihr euch ja nicht nur Freunde meister das Kreuz geschmiedet, welches das CH dort gemacht. Kannst du beschreiben, was dem Verein in aufstellen wollte. Ich glaube, das war ihm gar nicht be- seiner Geschichte alles entgegengeschlagen ist? wusst. Indem wir das skandalisiert haben, ist ihm klar Seitdem der Verein besteht, hatten wir Feinde. Wir geworden, was das überhaupt für Leute sind. waren bei einigen nie sehr beliebt in Borna. Von An- fang an gab es sehr viel Gegenwind von konservativen Im Laufe der Jahre hat sich die Arbeit des Vereins ge- Kräften und Parteien. Man hat versucht, uns lächerlich wandelt. Seit einiger Zeit ist das Thema Asyl und die zu machen und wir wurden kaum ernst genommen.

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LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photos: Bon Courage e.V. Courage Bon photos:

Mai 2016 in Borna: Anschlag auf Bon Courage e.V. Erst einen Monat zuvor war der Verein in die neuen Räume einge- zogen.

Wir hatten schnell den Stempel linksradikal zu sein, so virulent, aber die Ausdrucksformen der Ablehnung was immer das bedeuten mag. Das ging soweit, dass werden meines Erachtens gewalttätiger. Und im Alltag wir auf der Straße als Bombenleger bezeichnet wurden. ist es, insbesondere für Geflüchtete, deutlicher spürbar. Beim Thema Asyl waren die ersten Feinde, die wir uns gemacht haben, die Behörde selbst und die Heimlei- Wie nehmen Geflüchtete die Situation war? tungen. Wir haben natürlich kein Blatt vor den Mund Ich glaube, das lässt sich nicht pauschalisieren. Jede_r genommen haben und kritisieren was da schief läuft macht da andere Erfahrungen. Geflüchtete, die schon und jahrelang unter Verschluss gehalten wurde – vom länger, also mehrere Jahre, in Borna leben, haben mir Gutscheinsystem über Unterbringung in Baracken. berichtet, dass sie im letzten Jahr schon eine Änderung Wir waren damit eine der ersten, die dies im Land- der Situation wahrgenommen haben. Teilweise werden kreis angesprochen haben. Als das Thema im Sommer sie in der Öffentlichkeit angepöbelt und bespuckt. Da 2015 auf einmal die ganze Gesellschaft interessierte, sie schon länger da sind, verstehen die meisten auch wurden wir auf einmal ganz anders wahrgenommen, die dazugehörigen Beleidigungen. Aber viele dieser all- positiv wie negativ. Mittlerweile ist es keine Seltenheit täglichen negativen Erlebnisse werden uns schon gar mehr, dass fremde Leute in unser Büro kommen und nicht mehr berichtet, weil es für sie zur Normalität ge- uns erzählen wollen, was für rassistischen Quatsch sie worden ist. denken. Der Höhepunkt war der Anschlag auf unser Büro im Mai 2016. Damals wurden an unserem Büro, Was ist deine Zukunftsperspektive für den Verein? das wir erst seit einem Monat bezogen hatten, die Fens- Diese Frage diskutieren wir auch am Ende unserer terscheiben mit Pflastersteinen eingeworfen und But- neuen Broschüre. Bezüglich dieser Perspektive haben tersäure verkippt. wir lange überlegt und sie schließlich offen gelassen, weil wir weder wissen, was uns als einzelne Aktive in Nach dem Anschlag habt ihr einen Unterstützungs- Zukunft erwartet, noch welchen Bedarf es in Zukunft aufruf verfasst. Wie war da die Rückmeldung? geben wird. Toll wäre es, wenn wir eine Gesellschaft Wir haben unglaublich viel Unterstützung erfahren. hätten, in der es uns nicht braucht. Erst mal werden wir Mittlerweile würde ich sogar darüber streiten, ob uns natürlich weiter machen. n der Anschlag mehr geschadet oder mehr genutzt hat. Klar waren die Fenster kaputt und das Büro riecht immer noch, aber es haben sich so viele Leute mit uns solidarisiert, auch Leute, die sonst eher immer zurück- Broschüre „10 Jahre Bon Courage“ haltend waren. Die Kirchgemeinde Borna hat z.B. für uns eine Kollekte gesammelt. Auch einzelne Bornaer_ Der Verein Bon Courage wurde im Januar 2007 gegründet. Zum zehnjäh- innen sind vorbeigekommen und haben ihr Bedauern rigen Geburtstag wird der Verein eine Broschüre veröffentlichen. Im Vor- ausgedrückt oder gespendet. Am Ende hatten wir einen wort wird die Intention wie folgt beschrieben: vierstelligen Spendenbetrag mit dem wir die Scheiben ersetzen konnten. Die Aufmerksamkeit, die wir durch „Runde Geburtstage sind einerseits natürlich ein Grund zum Feiern, ande- den Anschlag bekommen haben, war enorm. rerseits aber auch eine passende Gelegenheit, die Ereignisse und vereinsin- ternen Entwicklungsprozesse der vergangenen 10 Jahre im Zusammenhang Wie würdest du die aktuelle Stimmung in Borna be- zu erfassen und intensiv zu reflektieren, um Erfolge, aber auch Rückschläge schreiben? sichtbar zu machen und die Ursachen zu analysieren. Diese Selbstreflexion ist Eigentlich würde ich die Stimmung als ruhig be- eng mit dem Wunsch verbunden, die gewonnenen Erkenntnisse nicht nur auf schreiben. In Borna leben ja auch schon länger Mig- die kontinuierliche Weiterentwicklung des eigenen Vereins zu beziehen, son- rant_innen und es ist nicht wie in anderen Dörfern, dern auch andere Akteur_innen an den Erfahrungen und den daraus gezo- wo die Leute zum ersten Mal eine Frau mit Kopftuch genen Konsequenzen teilhaben zu lassen.“ sehen. Aber wenn man dann zusammenträgt, was in Borna passiert, lässt sich schon eine starke Zunahme Die Broschüre kann voraussichtlich ab Januar 2017 kostenlos bei Bon vor allem an rassistisch motivierten Vorfällen beob- Courage e.V. bezogen werden. www.boncourage.de achten. Klar ist das Thema gesellschaftlich nicht mehr

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»DAS ALLES IST KEIN ZUSTAND« Ein Interview mit Isabel Schmidt, Sozialbetreuerin in einer Gemeinschaftsunterkunft

*Der Artikel ist mit Fotos aus chronik.LE: Isabel, stell Dich doch bitte kurz vor. Wer zählten, war das schwer auszuhalten. Ein sechsjähriges der Erstaufnahmeeinrichtung bist du und wie bist du Sozialbetreuerin in einer Unter- Kind malte ein Bild von einer Person mit gelben Augen für Geflüchtete in Leipzig kunft geworden? und fragte mich dann: „Weißt du was das bedeutet – Dölitz bebildert. Unsere Isabel: Ich habe zu Beginn dieses Jahres angefangen in gelbe Augen?“ Und ich sagte „Nein“. Es antwortete da- Interviewpartnerin arbeitete einer großen Gemeinschaftsunterkunft, die als Notun- rauf: „Ja, dann ist man tot, wie bei meinem Papa.“ Ihr jedoch nicht in dieser, son- terkunft galt, zu arbeiten*. Groß meint, dass zu vollen Vater wurde in Syrien durch eine Bombe getötet. dern einer anderen Leipziger Zeiten über dreihundert Bewohner_innen dort lebten. Einrichtung. In diesem Arbeitsbereich sind gerade viele Stellen frei Wie war das Leben für die Bewohner_innen der Unter- und es ist leicht reinzukommen. Ich brauchte dringend kunft? einen Job und da war er. Für manche Bewohner_innen war diese Unterkunft schon die siebte, in die sie innerhalb Sachsens ziehen Wie war dein Eindruck, als du angefangen hast zu ar- mussten. Viele von ihnen waren schon ein Jahr in beiten? Deutschland und hatten einfach die Hoffnung, jetzt in Es war sehr chaotisch. Die Unterkunft wurde zeit- eine bessere Unterkunft zu kommen. Dies war bei uns gleich mit meinem Arbeitsbeginn eröffnet. Das Team nicht der Fall. Ich empfand die Unterkunft, kurz ge- war nicht eingearbeitet und die Wenigsten hatten eine sagt, als menschenunwürdig. Es gab Leute die sich ge- sozialarbeiterische Ausbildung. Viele kamen aus Fach- weigert haben einzuziehen, als sie die Unterkunft ge- richtungen, die im entferntesten Sinne etwas mit Pä- sehen haben - allerdings blieb ihnen letztendlich keine dagogik zu tun haben, andere waren Naturwissen- andere Wahl. Das hinterließ bei allen Beteiligten ein schaftler_innen. Alle zusammen wurden wir einfach Ohnmachtsgefühl. Ich habe mich jedes einzelne Mal ins kalte Wasser geworfen. schlecht gefühlt, als ich Menschen bei ihrer Ankunft Es ging gleich am ersten Tag damit los, dass ankom- ihren „Raum“ zeigen musste. mende Bewohner_innen Nervenzusammenbrüche hatten, als sie die Unterkunft sahen. Es wirkte sehr pro- Wie war es denn mit der Privatsphäre und anderen Be- visorisch und die Überforderung des Teams war deut- dürfnissen in der Unterkunft? lich. Wir wurden auf nichts vorbereitet. Wir haben uns Ich glaube, dass es in dieser Unterkunft keine Chance alles erst im Laufe der Monate selbst erarbeitet. gab, Bedürfnisse wie Ruhe, Privatsphäre oder Sicher- heit ausreichend zu erfüllen. Wir reden hier davon, Wie habt ihr euch im Team ausgetauscht? Gab es Dinge dass dreihundert Menschen, darunter teilweise 80 wie Supervision, um auch Probleme nicht mit nach Kinder zusammen in einer Halle, nur getrennt durch Hause zu nehmen? Pressspahnplatten, leben sollten. Viele Bewohner_ Ja, es gab Teamsitzungen und Supervisionen. Letzteres innen beschwerten sich über den Lärm und darüber, gab es meiner Meinung nach zu wenig, da es eine emo- dass sie nachts nicht mehr schlafen konnten. Das tional sehr belastende Arbeit war. Insbesondere wenn Licht wurde reguliert. Es gab auf den Zimmern weder Menschen mir erzählten, warum sie fliehen mussten Lampen noch Steckdosen und statt Türen gab es Vor- und was auf der Flucht passiert war. Es war manchmal hänge. Über das Essen gab es massive Beschwerden. schwer, damit umzugehen. Wir hatten keine Zeit für Den Bewohner_innen wurde das Geld für das Essen richtige Fallberatungen, was an manchen Stellen aber abgezogen und wenn ihnen das Essen nicht schmeckte, hilfreich gewesen wäre. Es gab viele Schilderungen, gab es keine Möglichkeit dieses abzubestellen. Das alles die mir sehr nahe gegangen sind. Viele der Bewohner_ ist kein Zustand, in dem ich mich wohlfühlen würde. innen hatten Familienmitglieder und Freund_innen Es gab Geflüchtete, die schliefen nicht in der Unter- verloren oder selbst enorme Gewalt erlebt. Insbe- kunft, die haben Freund_innen oder Verwandte in sondere wenn mir Kinder von ihren Erfahrungen er- Leipzig - aber das Glück haben nun mal nicht alle.

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Gemeinschaftsraum in der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Leipzig Dölitz

Die Umstände der Unterbringung klingen ja alles andere in den allerwenigsten Fällen von Bewohnern ausging, als angenehm und können ja vielleicht auch Streit unter sondern von einzelnen Securitymitarbeitern. den Bewohner_innen auslösen. Gab es so was bei euch? Ich hatte das Gefühl, dass besonders bei jungen, ge- Ich finde, für die Bedingungen unter denen die Men- flüchteten Männern die Idee da war, „Hm – vielleicht schen dort leben mussten, gab es relativ wenig Kon- kann ich die noch ein bisschen besser kennenlernen“. flikte. Es gab einige wenige Schlägereien und sehr we- Klar, die Leute sind alleine und du als Sozialbetreuer_ nige Polizeieinsätze. Die Konflikte kamen auch daher, in bist immer da und ansprechbar und in den meisten dass die Leute ganz unterschiedliche Bedürfnisse Fällen freundlich. Aber das war kaum ein Problem, hatten, die sich eben teilweise widersprachen. Wenn bisher wurde jedes „Nein“ meinerseits auch akzeptiert. du Menschen hast, die alleine reisen, die wollen mög- licherweise nicht um 10 das Licht ausmachen und die Wie war das Verhältnis zum Wachschutz? Nachtruhe einhalten. Familien brauchen aber viel- Ich hatte von den meisten Mitarbeiter_innen des Si- leicht genau das. Wenn das dann alles de facto in einem cherheitsdienstes einen guten Eindruck. Klar waren Raum zusammenkommt ist es vorprogrammiert, dass es auch sehr unterschiedliche Menschen, die da ge- es da Streitigkeiten gibt. Meiner Beobachtung nach arbeitet haben. Einige von denen haben, ähnlich wie waren Konflikte oft an die Nationalität gebunden, aber bei den Sozialbetreuer_innen, den Beruf auch erst vor der Auslöser war zumeist Alltagsprobleme. kurzem angefangen, einfach weil der Bedarf gerade so hoch ist. Kaum Eine_r hatte vorher bereits in Unter- Der Leipziger Flüchtlingsrat hat bei Informationsver- künften gearbeitet. Hier und da entstand der Eindruck, anstaltungen zu geplanten Unterkünften erzählt, dass dass sie weniger Erfahrungen im Umgang mit Kon- es islamistische Anwerbeversuche in Unterkünften ge- flikten hatten. Insgesamt kann ich sagen, dass sie den geben habe. Hast du so was bei euch mitbekommen? Bewohner_innen gegenüber in den meisten Fällen fair Also Anwerbeversuche gab es bei uns nicht, zumin- handelten. Gerade habe ich über Facebook erfahren, dest haben wir diese nicht wahrgenommen. Es gab dass einer der Mitarbeiter mit Legida und ein zweiter aber Bewohner_innen, die zum Beispiel IS-verherrli- mit dem Pendant aus Halle sympathisieren. Die beiden chende Musik gehört haben. Auf soetwas wurde ent- sind dann auf jeden Fall fehl am Platz. sprechend reagiert. Alle meine Kolleg_innen waren für dieses Thema sensibel. Wobei dieser Vorfall wirklich Wie waren deine Kontakte zu Behörden? eine Ausnahme war. Für das Sozialamt sollten wir beispielsweise eine So- zialprognose für die Bewohner_innen erstellen. Diese War es für dich als Frau anders in der Unterkunft zu ar- dient zur Genehmigung eines möglichen Auszuges in beiten? eine Wohnung. Wir mussten einen Zettel ausfüllen, bei Ja, ich hatte tatsächlich einige Schwierigkeiten mit se- dem bei jeder Frage zwischen einem lachendem, einem xistischem Verhalten mir gegenüber, was allerdings neutralen und einem traurigen Smiley ausgewählt

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werden konnte. So sollte das Verhalten der Leute be- dementsprechend schwierig. Das kostet viel Zeit und wertet werden. In dem Bogen wird beispielsweise ge- wenn du nicht weißt, wie überhaupt deine nahe Zu- fragt, ob von der Person der Müll ordentlich getrennt kunft aussieht, ist das schwer umsetzbar. Es gab Leute, wurde. Das ist in einer Unterkunft, die ohne Mülltren- die gingen zurück in die Länder, aus denen sie geflohen nung funktioniert ja wohl ein Witz. Mir ist unerklär- waren. Die Gründe dafür waren sehr verschieden, bei- lich, was Mülltrennung damit zu tun hat, ob Menschen spielsweise, weil ein anderes Familienmitglied dort in einer Wohnung wohnen dürfen. entführt wurde und die Person sich verantwortlich ge- fühlt hat. Es sind aber auch Menschen aufgrund man- Haben sich die Bewohner_innen in der Stadt will- gelnder Perspektive zurückgegangen. Bei manchen war kommen gefühlt? der Frust so groß, da sie nach ihrer langen Flucht ein Was mir immer wieder erzählt wurde, war, dass es Jahr in Deutschland waren und immer noch in einer schwer ist, Deutsche kennenzulernen und dass das Massenunterkunft leben mussten. genau das ist was sich viele Leute wünschen. Ich wurde des Öfteren gefragt: „Hey, hast du nicht Freunde oder Wie ist deine Zukunftsperspektive auf die Arbeit? Freundinnen mit denen du mich in Kontakt bringen Ich denke, das ist kein Beruf den ich lange aushalten kannst?“. werde. Die Arbeit mit Menschen, die derartige Ge- Viele Bewohner_innen hatten Probleme mit den Leip- walt erlebt haben, und nun in unzumutbaren Zu- ziger Verkehrsbetrieben. Nach wenigen Tagen in ständen leben mussten, war schwer. Ich wusste nie, Leipzig muss nicht erwartet werden, dass alle Men- wie mein Arbeitstag werden würde. Es konnte ein su- schen wissen, wie der Ticketkauf funktioniert, so kam perschöner, entspannter Tag oder die absolute Katas- es immer wieder zu Missverständnissen und unzäh- trophe sein. Ich habe schon das Gefühl gehabt, Leute ligen, rigorosen Geldstrafen. unterstützen zu können, aber nicht in dem Maße, in Einige Bewohner_innen erlebten auch Anfeindungen dem ich es gerne gewollt hätte. Das war ein bisschen von Neonazis. Sie wurden bei ihrer Ankunft von diesen das Dilemma, in dem ich steckte. fotografiert oder in der Stadt verbal angegriffen. Ich fand es völlig unterstützenswert, wenn Bewohner_ innen sich gegen ihre schlechte Unterbringung Wie ist die Perspektive der Bewohner_innen? Wollen wehrten und gleichzeitig war ich machtlos und konnte die meisten bleiben oder haben sie andere Pläne? an den Zuständen nur sehr wenig ändern. Und dann Das war super unterschiedlich! Ich glaube es gab sehr kam auch schon das nächste, um was ich mich küm- viele, sehr verschiedene Zukunftsperspektiven. Es gab mern musste - für ein politisches Wirken auf die Be- Leute, die ganz klar in Deutschland bleiben wollten. Al- hörden oder die Stadt blieb da kaum Zeit. lerdings bekamen viele der Geflüchteten nur einen sub- Als irgendwann die fünfte Person zu mir kam und sidiären Schutz. Das heißt, es wurden weder „Flücht- sagte: „Ich kann nicht Schlafen. Mir geht es so schlecht lingsschutz“ noch die „Asylberechtigung“ gewährt. Die seit ich hier bin.“ und ich dastand und sagte: „Ja, das Aufenthaltserlaubnis wurde dann für ein Jahr erteilt sehe ich, aber ich kann daran nichts ändern.“, dann war und kann danach für zwei weitere Jahre zu verlängert das sehr frustrierend für mich. Es bringt nichts, wenn werden. Eine langfristige Perspektive z.B. im Bezug ich den Leuten sage, kauf dir Ohropax und eine Schlaf- auf das Beenden des Abiturs oder ein Studium war maske. Was soll ich den Leuten erzählen? Ich denke, unser Sozialbetreuer_innenteam war trotz der gegebenen Umstände eine wichtige Unterstützung für die Bewohner_innen. Viele ehemalige Bewohner_

photo: Tim Wagner Tim photo: innen kamen nach ihrem Auszug zu Besuch und ei- nige sagten, dass wir für sie wie eine zweite Familie ge- worden sind, andere vermissten uns.

Was würdest du dir wünschen? Sowohl was eure Arbeit, als auch das Leben der Menschen erleichtern würde? Wohnraum wäre wichtig. Die Menschen sollen in Wohnungen leben können und nicht in Massenunter- künften. Die medizinische Versorgung müsste drin- gend unbürokratischer laufen. Es muss möglich sein, mit einer Karte zum Arzt gehen zu können, ohne vorher von Behörde zu Behörde tingeln zu müssen, um sich Krankenscheine zu holen. Familiennachzüge müssten schneller ablaufen. Und ein Ende der Ab- Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Leipzig Dölitz schiebungen. n

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LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: David~ Flickr CC BY 2.0 - no changes no - 2.0 BY CC Flickr David~ photo: »MANCHMAL HABE ICH KEINE LUST

MEHR AUF LEIPZIG« Von Bernard Kololo

Betroffene von rassistischer Diskriminierung erleben diese nicht nur als offene Anpöbelung oder gar körperlichen Angriff durch Neonazis, sondern als subtile Ausgrenzungen oder Anfeindungen durch ihre Mitmenschen im Alltag. Gerade diese kleinen, alltäglichen Vorfälle stellen durch ihre Häufigkeit eine besondere Belastung dar – auch in einer vermeintlich weltoffenen und toleran- ten Stadt wie Leipzig. Im Folgenden dokumentieren wir den Erlebnisbericht von Bernard, der in Leipzig lebt und studiert.

Seitdem ich nach einem längeren tiert, schaute dann aber zu ihm hoch. Beleidigung für meine Augen!“ Sagt Auslandsaufenthalt wieder in Leipzig „Entschuldigung … Was willst du?“ es und geht breit grinsend davon. lebe, habe ich häufig mit starken Ver- „Was macht ihr da?“ Die Stimmung war im Eimer. Auch spannungen zu kämpfen, die teilweise „Ähm, das geht dich gar nichts an?“ die beruhigend gemeinten Worte so heftig sind, dass ich nicht richtig „Doch, ich bin vom Sicherheits- meines Gegenübers konnte nicht schlafen kann und wirklich unschöne dienst.“ helfen: „Mach dir nichts draus, ich Momente in meiner Gefühlswelt er- „Das mag ja sein, aber könntest du kenne das sehr gut. Die Wohnungs- lebe. „Tja, Stress!“, denk‘ ich mir. uns bitte einfach in Ruhe lassen!?“ suche in Leipzig war schrecklich. Bisher hatte ich den Auslöser dafür in „Naja, ich muss ja erstmal sicher- Ständig habe ich Absagen von Ver- meinem Studium sowie meinen Ne- gehen, dass ihr keine Bomben baut.“ mietern bekommen oder Menschen benjobs gesehen. Dass meine Rassis- Er lacht. wollten mich nicht in ihrer WG muserfahrungen auch nicht gerade „Ich find das nicht witzig. Kannst du haben; angeblich weil ich nicht richtig Entspannung bringen würden, hatte bitte einfach weitergehen?“ Deutsch spreche.“ ich nur vermutet. Gestern nun aber „Nein. Woher kommt ihr? Du bist Ich bat sie darum, mit mir Richtung wurde mir endgültig klar, dass Ras- doch aus Afrika, oder? Und die da, ist Volkmarsdorf zu laufen, wo wenigs- sismus keine Nebenrolle spielt, son- das deine Freundin?“ tens ein paar PoC in Kackzig wohnen. dern hauptsächlich dafür verantwort- „Ich bin dir keine Antwort schuldig. Schnell in ein sicheres Gebiet, schnell lich ist, wenn mein Stresslevel durch Das ist eine Freundin, sie schreibt mir nach Hause. Unsere Gespräche die Decke geht. eine Liste mit Bands auf und jetzt geh‘ nahmen eine drastische Wendung. Es fing eigentlich alles ganz schön an. und lass uns in Ruhe!“ Ab da ging es nur noch um Deutsch- Ich traf mich mit einer Frau, die ich „Nein! Ich gehe erst, wenn du mir land, Kulturen, Gefahren, Rassismus vor einiger Zeit in einer Bar kennen- sagst woher du kommst!“ — und den Wunsch nach Berlin zu lernte. Und ich freute mich darüber, Der Typ wird echt ungemütlich. Er ziehen. nach einem sehr arbeitsintensiven Se- nimmt eine drohende Haltung ein Ich mochte Victor Klemperers Satz mester mal wieder etwas für mich zu und kommt noch näher ran. Ich immer sehr gern: „Worte können sein machen, nämlich jemanden zu daten. bleibe trotzdem ruhig, verbiete mir wie winzige Arsendosen, sie werden Wir gingen in das Coffee Culture ge- mal wieder, in Leipzig auszurasten. unbemerkt verschluckt, sie scheinen genüber des neuen Seminargebäudes, Ich schaue ihn fest an. keine Wirkung zu tun, und nach ei- bestellten uns etwas zu trinken und „Ich bin Berliner. Und jetzt geh!“ niger Zeit ist die Giftwirkung doch setzten uns nach draußen, um etwas „Aber deine Eltern sind doch Aus- da.“ zu quatschen. länder!“ Das gestern war eine Überdosis. Ich Nach einem etwas holprigen Start re- „Nein, lass uns jetzt in Ruhe!“ lag gestern Nacht im Bett, mein Rü- deten wir über Gott und die Welt und Das Gespräch geht so noch eine Weile cken war steinhart, und ich ärgerte verstanden uns gut. Als sie mir gerade weiter. Ich möchte nicht alles wieder- mich über mich selbst, dass ich eine lange Liste mit mexikanischen holen, nur so viel: Es war sehr verlet- wieder einmal ruhig geblieben bin, Bands aufschrieb, stand plötzlich ein zend. Am Ende verabschiedet er sich wieder einmal geschluckt habe. junger Typ, vielleicht Anfang 20, viel mit einem Wasserfall an Beschimp- Manchmal habe ich keine Lust mehr zu dicht neben mir. Ich war erst irri- fungen, zuletzt: „Ihr beide seid eine auf Leipzig. n

Der Text ist zuerst im August 2015 im Blog trollbar.de erschienen, der seit mehreren Jahren über Alltagsrassismus in Leipzig und Deutschland berichtet. www.trollbar.de

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ANARBEITEN GEGEN EINE FALSCHE GEGENÜBERSTELLUNG Antimuslimischen Rassismus zu Antisemitismus in Beziehung setzen

von Nicola Eschen nigen gegen antimuslimischen Rassismus in Leipzig Jede gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verdient eine ordne ich in diese Verstrickung ein. eigene Betrachtung. Nach der Ermordung einer Muslimin im Dresdner Landesgericht 2009 habe ich das NETZWERK GEGEN Modernisierter Antisemitismus ISLAMFEINDLICHKEIT UND RASSISMUS (NIR) Leipzig mitbegrün- det und mich die nächsten Jahre über intensiv mit antimuslimi- Antijudaismus und Antisemitismus sind fest in der do- schem Rassismus (amR) befasst. Ich erinnere mich an meinen minanten (christlichen) Kulturgeschichte des heutigen Vorschlag zu Beginn der Arbeit, eine besondere Kooperation mit Deutschlands verankert. Allerdings hat das Ende der Gruppen, die gegen Antisemitismus arbeiten, anzustreben. nationalsozialistischen Herrschaft sich auf die Form ausgewirkt, die Antisemitismus heute annimmt. Der [1] Sprachwissenschaftlerin Zu der Zeit funktionierte das nicht. Merkwürdiger- Vorwurf des Antisemitismus wiegt nach allgemeinem und Geschäftsführerin des weise waren sich viele Aktive und Gruppen einig, dass Verständnis schwer. Wer sich heute dazu bekennt, Instituts für Medienver- ich mich entscheiden müsse zwischen der Kritik an Antisemit_in zu sein, muss sich zu Auschwitz ver- antwortung aus Erlangen. antimuslimischem Rassismus und der an Antisemi- halten. Darauf baut ein relativ breiter Konsens, nach tismus. Unser Kontakt mit Aktivist_innen gegen An- dem Antisemitismus schrecklich ist, allerdings oft so [2] Vgl. http://www.welt.de/ tisemitismus beschränkte sich auf deren Besuch bei unverstanden schrecklich, dass er die eigene Vorstel- kultur/article133303492/So- einer Veranstaltung mit Sabine Schiffer[1] – als diese an- lungskraft übersteigt und damit den Boden der unmit- schafft-man-den-Antisemitis- scheinend feststellten, dass es sich nicht um eine anti- telbaren modernen Realität zu verlassen droht. mus-juristisch-ab.html. semitische Veranstaltung handelte, gingen sie gelang- weilt. Ich gehe davon aus, dass sie andernfalls (zurecht) Die Kehrseite der häufig wirksamen Ächtung von An- die Veranstaltung gestört hätten. Aber warum sollte tisemitismus im öffentlichen Raum sind Verschie- eine Veranstaltung gegen antimuslimischen Rassismus bungen oder Ersatzhandlungen. Antisemitische Bilder überhaupt antisemitisch sein? Die Unmöglichkeit einer und Assoziationsketten funktionieren meistens ver- solidarischen Praxis der Arbeit gegen amR und der Ar- schlüsselt, ohne die Erwähnung von Jüdinnen_Juden. beit gegen Antisemitismus ist für mich eine schmerz- Während Antisemitismus in Deutschland als Bestand- volle und ärgerliche Erfahrung, über die ich viel nach- teil der NS-Herrschaft viel Raum zugestanden wird, gedacht habe. scheint es manchmal, mit dem Ende dieser Herr- schaft sei auch die Geschichte des Antisemitismus ab- Mittlerweile denke ich, nicht nur die Gegenüberstel- geschlossen. Jüngst urteilte gar ein Oberlandesgericht, lung ist falsch. Mehr noch: Es gibt Phänomene im eine judenfeindliche Äußerung sei erst dann antise- deutschen antimuslimischen Rassismus, die nur ver- mitisch zu nennen, wenn sie sich positiv auf „1993 bis ständlich werden, wenn man deren Beziehung zum ak- 1945“ bezöge.[2] Die Richterin bezeichnete Antisemi- tuellen Antisemitismus hinzuzieht. Diese Beziehung tismus als ein Totschlagargument. Eine solche Sicht- besteht nicht in einer zufälligen Gemeinsamkeit, son- weise tabuisiert nicht mehr Antisemitismus, sondern dern in einer besonderen historischen Wechselwir- den Vorwurf des Antisemitismus. kung. Noch genauer: ohne die industrielle Ermordung Wenige wollen antisemitisch sein – leichter ist es, europäischer Jüdinnen und Juden durch eine deut- dagegen zu kämpfen, als antisemitisch bezeichnet sche Regierung, getragen von einer deutschen Massen- zu werden. Die Schuld lässt sich nach außen verla- bewegung; ohne die komplexe und komplexbeladene gern, indem allein andere (Neonazis/Ostdeutsche/ Nicht-Aufarbeitung dessen in der darauffolgenden Zeit Muslim_innen) für Antisemitismus verantwortlich in beiden deutschen Staaten würde amR heute anders gemacht werden. Wer Rassismus nur noch in Israel aussehen und völlig andere Funktionen erfüllen. findet, lädt ihn auf Jüdinnen_Juden ab. Wer Jüdinnen_ Juden für die sogenannte Aufarbeitung, diese wie- Das frustrierende Neben- und manchmal Gegenei- derum für Antisemitismus verantwortlich macht, lädt nander der Arbeit gegen Antisemitismus und derje- selbst Antisemitismus auf Jüdinnen_Juden ab.

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In Bewegung gerät die Arbeit gegen Antisemitismus Aktive Diskussionen über die Frage geführt, ob Mus- [3] Vgl. http://sashamarianna- erst, wenn die Wahrnehmung von Antisemitismus aus limfeindlichkeit überhaupt die Bezeichnung Rassismus salzmann.com/mohammed. der – weggeschobenen – Ferne zurückgeholt wird. oder Diskriminierung verdiene. Nun mobilisierte No- Legida als erste große Demo in Leipzig gegen eine an- [4] Bei ihr: „Türken“. Auf der sicheren Seite stehen timuslimische Parole. Augenzeug_innen und einzelne Journalist_innen berichteten zwar über antisemitische Welche Reflexe finden in meiner direkten Umgebung Äußerungen und Plakate auf Legida/Pegida-Demos. statt? Welche Denkmuster erlebe ich an mir selbst? Ich Diese Beobachtung ging allerdings kaum in die allge- selbst?! Es ist schwierig und schmerzhaft, über eigenen meine Berichterstattung über Legida ein. Klingt „anti- Rassismus und Antisemitismus nachzudenken. Beide semitisch“ zu krass, um wahr zu sein? „Islamfeindlich“ haben Wissensbestände geprägt, sie bilden Alltagsver- dagegen wird als Selbst- wie als Fremdbezeichnung stand und Gewohnheit (und gesellschaftliche Macht- eingesetzt. verhältnisse) und müssen mühsam verlernt werden. Das ist schwierig, denn es stellt mich selbst unter Ver- Der Umgang mit Tabus scheint zu sagen: „Antimus- dacht. Schlimmer noch, ich kann davon ausgehen, limischen Rassismus gibt es nicht; muslimfeindliche antisemitische und rassistische Versatzstücke in mir Äußerungen garantieren den Erhalt der Meinungsfrei- zu finden: unter meinen eigenen Reflexen, Selbstver- heit. Antisemitismus lässt sich nicht leugnen, also ist er ständlichkeiten, Ängsten. überwunden, er ist Geschichte.“ Das Tabu dient ebenso wie Tabulosigkeit der Abwehr von Antisemitismus und Das verunsichert. Wie gehe ich damit um? Viele su- amR. Und enthemmte „Islamkritik“ genügt, um auch chen sich scheinbar sichere Haltepunkte. Ich nenne Antisemit_innen zu versammeln. einen dieser Haltepunkte: auf der sicheren Seite stehen. Es verspricht die ersehnte Klarheit, wenn ich in der Antisemitismus abladen unübersichtlichen Gemengelage eine große Alterna- tive festlege. Beliebt ist: Bist du gegen Antisemitismus Nun wird Antisemitismus auf einmal als Einwande- oder gegen antimuslimischen Rassismus? (Auch in der rungsproblem thematisiert, als muslimische Innova- Frage nach Israel- oder Palästina-Solidarität wird oft tion. Möglicherweise stellt die Entwicklungslinie eines diese Frage mitverhandelt.) Daraus spricht die Hoff- religiös begründeten Antijudaismus eine christlich- nung: da ich mich entschieden auf eine Seite schlage, muslimische Gemeinsamkeit dar. Einer solchen The- bin ich ganz sicher nicht antisemitisch, nicht rassis- matisierung bin ich allerdings bisher nicht begegnet. tisch. Diese Zuspitzung halte ich für eine der größten Daher gilt Marianna Salzmanns Replik[3]: Seit wann Gefahren in der Arbeit gegen Antisemitismus und brauchen die Deutschen die Muslim_innen[4], um an- gegen amR. tisemitisch zu sein? Nachdem Christ_innen sich über Jahrhunderte als nicht-jüdisch verstanden, wird das Tabuspiele christlich-jüdische Abendland erfunden und als nicht- muslimisch bestimmt. Das ist keine Aufarbeitung, das So unterschiedlich es um die Tabuisierung von Anti- ist Einverleibung. semitismus und antimuslimischem Rassismus steht, gemeinsam ist beiden die Abwehr. Antimuslimischer Wer sich aus Diskriminierung herausdefiniert, steht Rassismus ist nicht tabu, darum funktioniert er als Tür- auf der sicher falschen Seite. n öffner für andere Menschenfeindlichkeiten. Als sich Legida/Pegida gegen die „Islamisierung des Abend- Nicola Eschen ist Politikwissenschaftlerin, Aktivistin und Social Jus- lands“ versammelten, drückten sie damit eine unmiss- tice und Diversity Trainerin. verständliche Hassbotschaft aus, die weit mehr Men- schen als nur Muslim_innen betrifft. Jahrelang hatten

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04 KAPITEL RECHTE SUBKULTUR

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Antifaschistische Demonstration gegen das Imperium Fighting Championship, eine rechte Kampfsport-Veranstaltung, die im August 2016 zum vierten Mal in Leipzig stattgefunden hat.

57 photo: chronik.LE

RECHTE SUBKULTUR

NEONAZIS FEIERN – EIN DORF RESIGNIERT In Staupitz treffen sich fast monatlich Rechtsradikale aus ganz Deutschland. Die Bürgermeisterin schweigt, die Bewohner haben aufgegeben.

von Stefan Hantzschmann brüllen keine Parolen, und wenn man sie anspricht, be- Bereits 2012 berichtete chronik.LE in der Broschüre „Nordsächsi- kommt man anständige Antworten“, sagt der Rentner. Gasthof Staupitz: Sein Jahren ein sche Zustände“ über die Neonazi-Konzert-Location. Die Situation Konzertort für Neonazis aus Sachsen Staupitz ist in der rechten Szene bundesweit für seine und darüber hinaus. hat sich seitdem nicht wesentlich geändert. Neonazikonzerte bekannt. Bands wie Heiliger Krieg, Blitzkrieg und Tätervolk spielen hier. Ihre Lieder Es hat etwas Zeit gedauert, bis sie sich in Staupitz an heißen „Völkischer Sozialist“, „Aufruf“ oder „Wo rote die Neonazis gewöhnt haben, aber inzwischen hat man Fahnen im Winde wehen“. In den Texten geht es um sich arrangiert. Zehn Rechtsrockkonzerte finden in Soldatentum, Heimat und den „glimmenden Funken dem 250-Seelen-Dorf im Landkreis Nordsachsen jedes einstiger Macht“. Das Album „In brauner Uniform“ Jahr statt – so viele wie sonst nirgendwo in Sachsen. der Band Tätervolk landete auf dem Index. Kon- Seit 2008 geht das nun schon so. Während der vergan- zerte und der Austausch von CDs sind die ersten Be- genen acht Jahre war so mancher Journalist in dem rührungspunkte vieler Jugendlicher mit der rechtsex- Dorf bei Torgau, nicht alle hier wollen reden, und die, tremen Szene. die doch was sagen, nennen ihren Namen lieber nicht. In Staupitz spielen die Bands in einem ehemaligen „Das haben wir alles schon erlebt, wenn man auf die Gasthof, einer, wie es sie in vielen sächsischen Dör- schießt, schießen die zurück“, sagt eine Anwohnerin. fern gibt: schlichte, langgezogene Gebäude, meistens Mit „die“ meint sie den Besitzer des ehemaligen Gast- steht eine alte Linde vor dem Wirtshaus – so auch in hofes, wo die Konzerte stattfinden und die Hunderten Staupitz. Ein Anwohner erzählt, dass der Besitzer den Rechten, die aus der ganzen Republik dafür anreisen, Gasthof von seinem Vater übernommen hat. In den in das kleine Staupitz im Norden Sachsens, nahe der 80er- und 90er-Jahren fanden hier Discos statt. Dann brandenburgischen Grenze. Und sie meint all jene kamen die Nazis. Dorfbewohner, die es satt haben, über dieses Thema zu diskutieren. „Bis zu 2000 Leute hatten wir schon im Dorf. Das war damals die Anfangszeit, Sie glauben gar nicht, was hier „Sie werden hier keinen finden, der sich von denen los war“, erzählt ein stämmiger Mann in schmutzigen belästigt fühlt“, kündigt ein älterer Herr an. Es ist ein Trainingshosen aus der unmittelbaren Nachbarschaft. wolkenverhangener Sonntagnachmittag, hässliches Er lacht. In seiner Stimme liegt Bewunderung, wenn Wetter, immer mal wieder nieselt es vom Himmel, er erklärt, wie clever die Konzerte ablaufen – als Pri- kräftiger Wind bläst einem die eiskalten Tropfen ins vatveranstaltungen, ohne Plakate und Flyer, wie frech Gesicht. „Die verhalten sich wie anständige Bürger, das große Schild wirkt, das dann am Gasthof hängt und auf dem steht, dass Polizisten und Mitarbeitern des Ordnungsamts und des Staatsschutzes der Ein- Neonazistische Musikszene in Sachsen tritt nicht erlaubt ist. Ein anerkennendes Kopfschüt- teln auch, als er davon erzählt, wie der Besitzer es ge- 2014 fanden bundesweit mindestens 161 rechte Musikveranstaltungen statt, zehn schafft hat, den alten Gasthof zu retten. „Die haben davon in Staupitz. 2015 sank die Zahl auf mindestens 119 Veranstaltungen, zehn davon die Heizung erneuert, das komplette Dach neu einge- in Staupitz. deckt, alle Brandschutzauflagen erfüllt und eine Be- lüftungsanlage eingebaut. Bald will er das Gebäude In Sachsen waren 2015 insgesamt zwölf neonazistische Vertriebsunternehmen aktiv. frisch verputzen lassen. Das hätte er niemals alles al- Diese besitzen diverse Versände, Szeneläden und Labels. Die für die rechtsextreme lein bezahlen können“, ist sich der Mann sicher. Der Szene wichtigen Musikvertriebe und Labels PC-Records in Chemnitz und OPOS-Records in Dresden haben mehrere Tausend Kunden im In- und Ausland. Im Leipziger Raum sind Besitzer des Staupitzer Gasthofes veranstaltet die Kon- zerte nicht, sondern vermietet nur die Räume. Laut Po- Front Records aus Falkenhain und Hermannsland-Versand aus Leipzig zu nennen. lizei veranstalten die Konzerte „unterschiedliche Per-

58 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016

sonen der rechtsextremen Szene“. „Das weiß niemand Haaren will beobachtet haben, dass in letzter Zeit hier, wer die Konzerte tatsächlich organisiert“, erzählt immer mehr junge Frauen zu den Konzerten gehen. der Anwohner und schüttelt wieder lächelnd den Kopf. Auf 15, 16 Jahre schätzt er das Alter der Mädchen. „Von Es ärgert ihn, dass der Besitzer dieses Geheimnis nicht rechter Gesinnung merkt man da nichts!“ preisgibt. Denn über das Dorf und seine Bürger weiß der Mann bestens Bescheid, auch über die Aufregung, In Staupitz gibt es einen Raum für Jugendliche. Der die es damals im Ort gab, als das losging mit den Kon- Verein der Staupitzer Landfrauen kümmert sich zerten. „Einige waren dagegen, aber das ist vorbei.“ darum. Die Jugendlichen können jeden Tag dort hin- gehen, eine Betreuung gibt es aber nicht. „Es gibt nicht Eine, die damals dagegen war, will jetzt nichts mehr mehr viele Jugendliche bei uns. Die meisten haben sagen. „Ich will das alles nicht noch einmal erleben“, Arbeit im Westen gefunden“, erzählt ein Mitglied der sagt sie und schwenkt die Haustür vor sich. „Ich kann Landfrauen. Jugendliche aus dem Dorf, heißt es unter das nicht“, sagt sie mit leiser Stimme. Ihre Augen Anwohnern, gehen nicht zu den Rechtsrockkonzerten. werden feucht. Dann wünscht sie noch einen ange- Aber jedes Jahr an Silvester ist der ganze Ort im ehe- nehmen Sonntag und schließt die Tür. maligen Gasthof. Dann dürfen sie alle in den Saal, wie damals, als man in Staupitz noch zu Popmusik tanzte.n Die Stadt Torgau, zu der Staupitz gehört, will sich ge- genüber der Presse nicht zu dem Thema äußern. Die Der Text erschien zuerst in der Rhein-Zeitung vom 19. April 2016. Polizei habe das der Oberbürgermeisterin so emp- Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Rhein-Zeitung. fohlen, sagt ein Sprecher der Stadt. Auch die Polizei will möglichst wenig Wind um das Dorf und seine Bekanntgewordene Neonazikonzerte in Staupitz 2015 - 2016 Konzerten machen, man fürchtet Nachahmer. Denn Quelle: Quartalsweise Kl. Anfragen der Bundestagsfraktion DIE LINKE „Musikveranstaltungen extremen Rechten“ viele Handlungsmöglichkeiten haben die Beamten Datum Bands nicht. „Die rechtliche Situation gibt eine generelle Un- 07.02.2015 Kraft durch Froide, Skalinger, Thematik 25, Frontalkraft tersagung nicht her, und die erteilten Auflagen wurden und werden durch Objekteigentümer und Veranstalter 14.03.2015 Bronson, Carpe Diem, Exzess, Prora erfüllt“, erklärt die Polizeidirektion (PD) Leipzig auf 05.04.2015 DST, Thrima, Hausmannskost, H8Machine Anfrage. Straftaten wurden bislang nicht festgestellt. Rechtlich darf die Polizei während der Konzerte nur 02.05.2015 Blitzkrieg, Sista Bateljen, Verboten, Path of Resistance dann in den Saal, wenn Gefahr für Leib und Leben be- 08.08.2015 Frontalkraft, Kommando Skin, Sachsonia, Confident of Victory steht oder Straftaten begangen werden. Um die Kon- zerte zu unterbinden, reicht es auch nicht aus, „wenn 29.08.2015 Selbststeller, Mistreat, Abtrimo, Verboten man allgemein annimmt, im Objekt würde beispiels- 03.10.2015 Blutzeugen, DST, Legion of Thor, Fight Tonight, 2nd Class Citizen weise der Hitlergruß gezeigt“, erklärt ein Sprecher der PD Leipzig. 30.10.2015 Bound for Glory, Radikahl, Sista Bataljen Verbieten kann man die Konzerte also nicht, Gegen- 14.11.2015 Sleipnir, MPU, Sista Bataljen, Wafflor Waffen wind aus der Bevölkerung in oder um Staupitz gibt es Blitzkrieg, Frontalkraft, Division Germania, DST, auch nicht. Der sächsische Verfassungsschutz führt 05.12.2015 eine Liste mit den aufgetretenen Bands und den unge- Deathfeud/Murdersquad, Verszerödes fähren Besucherzahlen. Manchmal spielen internatio- 06.02.2016 Überzeugungstäter, Sniper, Sachsonia, Heiliges Reich nale Rechtsrockbands aus Großbritannien oder Italien Hate for breakfast, Green Arrows, Freicore, 20.02.2016 in dem kleinen sächsischen Ort. Meistens kommen Eternal Bleeding, Deathfeud zwischen 150 und 200 Fans rechtsextremer Musik in 26.03.2016 Endstufe, Kraft durch Froide, Punkfront den ehemaligen Gasthof nach Staupitz. 16.04.2016 Naked but armed, Frontalkraft, Bronson, Nemesis

„Wenn hier nichts gemacht wird, schläft alles ein“, sagt 15.05.2016 Aggroknuckle, Uwocaust und Helfershelfer, Faustrecht, Abtrimo der Mann in den Jogginghosen. Drüben, mit seinem Arm macht er eine winkende Bewegung zur Ortsmitte, 28.05.2016 Skalinger, Confident of Victory, PWA, Freicore sehe man das am ehemaligen Minimarkt ganz deutlich. 20.08.2016 IC1, Mistreat, Non Plus Ultra, W.U.T. Seit der leer steht, sei es nur eine Frage der Zeit, bis das Gebäude verfalle. Der ältere Herr mit den kurzen Stand: September 2016

59 photo: flickr.com/Timothy Misir/CC BY NC 2.0

RECHTE SUBKULTUR

DER »LETZTE AKT« Das Runes & Men-Festival im Eventpalast: Eine Bühne für den rechten Rand des Neofolk-Spektrums

von Juliane Nagel und taucht als vermeintliche Erwiderung auf Kritik Am 14./15. Oktober 2016 fand in Leipzig das fünfte und letzte immer wieder auf.[2] Equinoxe bietet mit ihren Ver- RUNES & MEN Festival statt. Jährlich werden im Rahmen anstaltungen seit Jahren Akteuren eine Bühne, die äs- dieses Festivals rechte und rechtsoffene Neofolk-Bands prä- thetische und inhaltliche Anleihen an den Faschismus sentiert. Zum „letzten Akt“, wie es die VeranstalterInnen selbst präsentieren, die nicht kritisch kontextuiert und kom- nennen, hat sich auf der Bühne des Eventpalast auf dem Alten mentiert werden und damit einen Anknüpfungspunkt Messegelände die Creme-de-la-Creme der Szene präsentiert: sowohl für Menschen mit romantisch-antimodernem BLOOD AXIS, FIRE & ICE und DEATH IN JUNE. Weltbild als auch für Neonazis bilden.

DEATH IN JUNE – hier 2013 bei einem Der eigentlich längst tot geglaubte Neofolk wird durch Die Bands Konzert in Russland. Im Hintergrund die Zuwendung von neurechten Bewegungen wie den ein SS-Totenkopf, den die Band als Symbol benutzt. Identitären wieder „hip“. Das kommt nicht von un- Es ist klar, dass wir es bei den in Rede stehenden Kunst- gefähr, denn der bewusst mit faschistischen und reak- projekten nicht mit klassischen Nazibands zu tun tionären Versatzstücken hantierende Teil der düster- haben. Darum lohnt sich eine feingliedrige Betrach- romantischen Kulturszene bietet für die neurechte tung der Akteure, ihrer Inszenierung und Äußerungen. Ideologie perfekte Anknüpfungsmöglichkeiten. Rechte Mit der britischen Band Death in June (DIJ) wird in Andockversuche in der Neofolk-Szene sind keine Neu- Leipzig eine der zentralen Bands der rechten Neofolk- heit. Glaubhafte Distanzierungen und Klarstellungen szene auftreten. Texte und Auftreten von DIJ sind von blieben seit jeher aber aus. einer faschistischen Ästhetik geprägt und sparen nicht mit Bezügen zum Nationalsozialismus. Sowohl in Büh- Das Festival nenshows als auch auf Veröffentlichungen kokettieren Death in June immer wieder mit NS-Symboliken wie [1] Vgl. Fabian Peltsch und Schon der Name des Festivals ist Programm: „Runes & dem SS-Totenkopf oder der Schwarzen Sonne. Im Song Ralf Niemczyk: „Der Sound Men“ ist der Titel eines der bekanntesten und belieb- „Rose Clouds of Holocaust“ wird der Holocaust, der der Neuen Rechten –Neofolk testen Songs von Death in June (DIJ), die wiederum industrielle Massenmord an 6 Millionen JüdInnen, als und die Identitäre Bewe- eine der zentralen rechten Neofolk-Bands ist. Im Ref- „bittere Lüge“ bezeichnet. Bereits der Namen der Band gung“, in: „Rolling Stone“, rain des Liedes heißt es u.a.: „I drink a German wine and ist eine Anleihe an den NS, konkret den Röhm-Putsch August 2016, https://www. drift in dreams of other lives and greater times“ („Ich im Juni 1934, in dessen Zuge die Führungsriege der rollingstone.de/der-sound- trinke einen deutschen Wein und schwelge in Träumen SA mit ihrem Anführer Ernst Röhm durch die SS er- der-neuen-rechten-1107335. von anderen Leben und besseren Zeiten.“). Bereits mordet wurde. DIJ-Frontmann Douglas Pearce scheint Nachgedruckt in: Die Welt, beim ersten „Runes & Men“-Festival im Dezember von dem SA-Führer Röhm fasziniert, adaptierte mehr- 06.08.2016, www.welt.de/ 2012 in Dresden gab sich die Band mit ihrem von „grö- fach dessen Namen und nutze sein Bild – umringt mit print/die_welt/politik/artic- ßeren, deutschen Zeiten“ träumenden Frontman Dou- SA-Männern – für ein Plattencover. Das im Jahr 1987 le157524895/Soundtrack- glas Pearce auch selbst die Ehre. Seitdem findet „Runes erschienene Album „Brown Book“, dessen Cover ein eines-rechten-Gefuehls.html. & Men“ in Leipzig statt, 2013 und 2014 in der inzwi- SS-Totenkopf ziert, wurde von der Bundesprüfstelle schen geschlossenen Theaterfabrik im Westen der für jugendgefährdende Medien wegen nationalsozi- [2] Zur Strategie der Positio- Stadt und 2015 im Hellraiser. alistischer Tendenzen indiziert wurde. Das Album nierung „jenseits von rechts Präsentiert wird die Veranstaltung, bei der Jahr für enthielt u.a. auch eine Vertonung des „Horst-Wessel- und links“ vgl. den Text „Weg Jahr eindeutig faschistische Bands aufspielten, von der Liedes“, der inoffiziellen Hymne des NS-Regimes. Vor- von links und rechts, hin Equinoxe Organization, die seit Jahren mit Kon- würfe der NS-Verharmlosung wurden von Death in zum Verstand?“ in diesem zerten rechter Neofolk-Bands Geld macht, zuletzt im June immer zurückgewiesen. Man spiele lediglich mit Heft S. 18 Juni 2016 das Festival „Fire and Sun“, bei dem Vertre- Versatzstücken faschistischer Symboliken und Bewe- terInnen der neurechten Ideenschule um Götz Kubit- gungen. Ihr vermeintliches Spiel wird jedoch an keiner schek und der ihm verbundenen Identitären Be- Stelle ihres künstlerischen Werkes gebrochen. Ihr Spiel wegung zugegen waren.[1] Auf ihrer Facebook-Seite mit dem Faschismus ist nicht allein „Kunst“, sondern stellt sich die Equinoxe-Agentur als „non-political eben faschistische Kunst.[3] platform for different ideas“ vor. Das Mantra des un- Ähnlich verhält es sich mit Blood Axis. Bereits im politisch-Seins und der Abgrenzung nach „rechts Jahr 2011 gab es in Leipzig eine Kontroverse aufgrund und links“ ist der faschistischen Neofolk-Szene eigen des Auftritts der Band, ebenfalls in derTheaterfa -

60 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: Von Lumu - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 Wikimedia brik. Die Band gehört neben DIJ zu den maßgeblichen schreiben zu ihrer Sinnstiftung: extrem rechten Bands des Dark Wave-Genres. Michael „Das Projekt Darkwood wurde Moynihan ,Sänger und Begründer von Blood Axis, aus der Notwende heraus geboren, gilt als Beförderer neuheidnischer und rechter Eso- der Liebe zu unserer Heimat Aus- terik sowie germanischer und keltischer Mythen. Die druck zu verleihen.“[6] Grenzen zur Verherrlichung nationalsozialistischer Ideologie wurden von Moynihan in seinem Wirken als Der Veranstaltungsort Verleger, Publizist und Musiker immer wieder über- schritten. Das faschistische Spektakel hat am Der EVENTPALAST in Leipzig 14. und 15. Oktober 2016 im Event- Seine Verehrung des SS-Brigadeführers Karl Maria Wi- palast stattgefunden. Dieser befindet sich auf dem ligut, seine positive Bezugnahme auf die Ästhetik von Alten Messegelände. Auf der Website des Location [3] Vgl. Pascal und David Leni Riefenstahl oder die Ideen des NS-Ideologen Karl wird das „Runes & Men“-Festival als „Unser Tipp“ ge- Begrich (Miteinander e.V.): Rosenberg kommen nicht von ungefähr. Bei Auftritten führt. In der Vergangenheit fand in der Location unter „L’art pour l’art oder faschisti- oder Veröffentlichungen spielt(e) Michael Moynihan/ anderem das von Neonazis ausgerichtete Freefight- sche Kunst“, Oktober 2011, Blood Axis in der Vergangenheit immer wieder mit Event Imperim Fighting Championship statt. [7] unter www.miteinander-ev.de NS-Symboliken. Berührungsängste zu Publikationsor- ganen der rechten Szene existieren nicht, so veröffent- Warum Kritik? [4] Vgl. Albert Schobert: liche Moynihan beispielsweise in der US-amerikani- „Heidentum, Musik und schen Neonazi-Zeitschrift Plexus, in dem britischen Mit klassischem Stiefel-Neonazitum und plumpen NS- Terror“, 1997, http://www. neurechten Magazin The Scorpion und in der deut- Bezügen hat der rechte Rand des Neofolk im Großen diss-duisburg.de/1997/08/ schen neurechten Zeitung Junge Freiheit. In einem und Ganzen nichts zu tun. Anschlussfähig ist die Szene heidentum-musik-und-terror. Interview mit No Longer A Fanzine leugnete er 1994 allerdings für VertreterInnen der neuen Rechten, den Holocaust.[4] EsoterikerInnen und allerlei anderen Rückwärtsge- [5] Siehe die Auseinander- Der Bandname Blood Axis selbst bezieht sich auf die wandten. Die gemeinsame Schnittmenge sind ein ver- setzung um den Auftritt von Achsenmächte (NS-Deutschland und seine Partner- klärter Antimodernismus, Patriotismus und und die Blood Axis im August 2011 in Innen im 2. Weltkrieg), als Bandsymbol wird das Krü- Sehnsucht nach klaren Hierarchien und Führungs- Leipzig: http://jule.linxxnet. ckenkreuz genutzt, das mindestens zweimal in seinen figuren. Die „Phalanx Europa“ dient sowohl Neofol- de/index.php/2011/06/de- gestalterischen Details verändert wurde (1996 entspre- kerInnen und Neuen Rechten als stilisiertes Bollwerk batte-um-die-neofolk-band- chend der Fahne des Austrofaschismus und 1998 ent- gegen den Untergang des Abendlandes, das gegen an- blood-axis. sprechend des völkisch-esoterischen Neutempler-Or- dere „Kulturen“, hier insbesondere gegen die islamisch dens).[5] geprägte Welt verteidigt werden müsse. Die Parallelen [6] http://www.last.fm/de/ zu rechten Straßenbewegungen wie Pegida und deren music/Darkwood, eingesehen Last but not least steht auch Fire & Ice für den fa- parlamentarischen Arm, der AfD, liegen auf der Hand. am 9.10.2016 schistischen Flügel der Neofolkszene. Ihr Frontmann Ian Read war lange Zeit an der einschlägig bekannten Faschistisch inspirierter Neofolk ist nicht wegen seiner [7] Vgl. der Text „Zwischen rechten Neofolk-Band und Death-in-June-Spaltpro- propagandistischen Massenwirkung ein Problem. Im Gauner und Imperium Fight dukt Sol Invictus beteiligt, die mit offensiv-antimo- Gegenteil ist er elitär und oft verklausuliert. Gerade in Night“ auf der folgenden Seite dernen Texten hantierte. Zeiten, in denen sich nationalistische und rassistische Kooperationen mit Douglas Pearce oder Blood Axis Umtriebe immer unverhohlener Raum nehmen, wird säumen seinen künstlerischen Weg. Bekannt ge- Neofolk jedoch zur idealen Begleitmusik von rechtem worden ist auch sein Kommentar zu seinem Verhältnis Terror auf der Straße. Death in June und Co. tragen nach faschistischen und rassistischen Ideen: „Keine in diesem Sinne dazu bei den Faschismus als alterna- Idee ist völlig wertlos. Die Deutschen hatten einen rie- tiven Gesellschaftsentwurf zu popularisieren. Dies sigen Komplex, der ihnen, ehrlich gesagt, von einer sollte gerade in Zeiten offener Pogrome gegen Geflüch- Nachkriegsgehirnwäsche eingeimpft worden war. […] tete und politischer Stimmungsmache à la Alterna- Deutsche Magier sollten sich wirklich von den Mei- tive für Deutschland und CSU nicht unwiderspro- nungen darüber was ‚korrekt‘ ist und was nicht […], chen bleiben. n die ihnen die Leute aufgedrängt haben, befreien.“ Vor zwei Jahren verhinderten AntifaschistInnen ein Kon- Der Text basiert auf den Auseinandersetzungen der Autorin mit zert mit Fire and Ice in einer Dorfkirche Branden- Runes and Men & Blood Axis aus den Jahren 2011 und 2013. In burgs mit Verweis auf die rechte Verortung der Band. den verlinkten Texten sind weitere Verweise zu finden. Juliane Nagel Auch bei den weiteren Bands kann ein politischer Im- ist Stadträtin in Leipzig und Landtagsabgeordnete für die Partei Die petus vermutet werden. Darkwood aus Leipzig z.B. Linke in Sachsen.

61 RECHTE SUBKULTUR

ZWISCHEN »GAUNER« UND IMPERIUM FIGHT NIGHT Rechte Aktivitäten der FANSZENE LOK LEIPZIG

Von chronik.LE glied der Gruppe Blue Side mit einer Pistole. Kurz da- [1] Da „Scenario“ eine Am 27. August 2016 fand im Leipziger Kohlrabizirkus die 5. rauf erschien ein Fanmagazin der verbliebenen Ultra- informelle Gruppe war, gab es „Imperium Fighting Championship” (IFC) statt. Kein harmloses bzw. Hooligangruppen unter dem Titel Fanszene Lok. auch keine Mitglieder wie bei Kampfkunst-Event, wie ein Blick hinter die Kulissen, auf die Man stellte sich als Einheitsbringer innerhalb der Fan- einem eingetragenen Verein. Teilnehmer und einige Sponsoren belegt. Schnell wird klar, szene dar. Als dann 2014 der Gruppe Scenario durch So hat H. eine Klage gegen dass hinter der unpolitisch daherkommenden Großveranstal- die neue Vereinsführung verboten wurde, ihre Sym- die Leipziger Internet- tung ein neonazistisches Netzwerk steht, dessen Verbindun- boliken im Stadion zu zeigen, stellte man sich einfach Zeitung gewonnen, die ihn gen ins Fußball- und Hooliganmilieu, und hier konkret, in die hinter das neue Label „Fanszene Lok“. Einzelne Mit- als „Mitglied“ von Scenario Fanszene des 1. FC Lokomotive Leipzig hineinreichen. glieder von Scenario haben seitdem Stadionverbot, bezeichnet hatte. andere, wie die Gruppierung Gauner, sind dem Label Mit der unverfänglichen Eigenbezeichnung Fanszene gegenüber offen oder haben sich derFanszene Lok [2] Siehe Artikel zum Angriff Lok ist der Hauptprotagonist schon genannt. Das ist gänzlich angeschlossen. Ganz sicher sind es nicht die- auf Connewitz in diesem der Name einer Fangruppierung, die bis heute als Auf- selben Personen hinter der „Fanszene“, die ursprüng- Heft, S. 74 fangbecken für einzelne Anhänger der verbotenen Na- lich hinter Scenario standen, doch personelle Kontinu- zihool-Gruppe Scenario Lok fungiert. Scenario itäten sind offensichtlich. Lok war eine neonazistisch dominierte Fangruppe. Sie wurde vom Sächsischen Verfassungsschutz als „rechts- Die Fanszene Lok ist „solidarisch“ mit denen, die Sta- extrem“ eingestuft. Bei Scenario immer wieder dabei dionverbote kassiert haben. Am 26.8.2016 spielte Lok waren die Organisatoren der IFC, Benjamin „The Hoo- in Potsdam gegen den Verein Babelsberg 03, dessen ligan“ Brinsa und auch Christopher „Joker“ H.[1] Wei- Fanszene als linksalternativ gilt. Die Begegnung galt als tere Personen waren oder sind tief im neonazistischen brisant, nachdem es 2013 bei der gleichen Konstella- Milieu verankert. Darunter der damalige Vorsänger tion zu massiven Naziprovokationen und einem ver- von Scenario, Markus W. Dieser war zeitweise auch suchten Blocksturm durch einen Teil der Lokfans in Mitglied der NPD-Jugendorganisation JN, und damit Richtung der Babelsberger kam. Die Vereinsführung regelmäßiger Gast im ehemaligen NPD-Stützpunkt in von Lok verhinderte mit einem Trick, dass die Nazis der Lindenauer Odermannstraße. Markus W. lief zur von damals, die – soweit erkannt – Stadionverbote in Fangruppierung „Gauner“ über, nachdem Scenario Leipzig-Probstheida erhalten hatten, wieder mit nach in Misskredit geriet und gab mindestens in der ver- Babelsberg fahren würden. Das führte zu einem Boy- gangenen Saison 2015/16 immer noch den Kapo. Dies kott der Auswärtsfahrt durch die Fanszene Lok. zeigt ein Saisonrückblicksvideo, welches auf der Face- Erster Kommentator auf der Facebookseite der „Fan- bookseite der Fanszene Lok veröffentlicht wurde. szene“ war Christopher „Joker“ H. Er befürwortete den Boykott, griff den Sicherheitsverantwortlichen von Das Label Fanszene Lok Lok persönlich an – und hatte eine Ersatzveranstaltung entstand noch während für den „allgemeinen Lokfan“: Die Imperium Fighting der Existenz der Nazi- Championship im Kohlrabizirkus, die er mitorgani-

screenshots: twitter.com screenshots: gruppierung Scenario siert hatte und bei der er als Kämpfer antrat. H. schrieb, Lok. 2012 hatte im Kohlrabizirkus erwarte den Lokfan ein „Heimspiel“ Scenario eine antirassis- statt „Schikane“ und es träten einige Lokisten im Ring tische Gruppierung bei an, die den Verein im Herzen trügen und nicht nur Lok Leipzig mit Gewalt als Logo auf der Brust. Seine Gruppierung, die Fan- aufgelöst: Bei einem so- szene Lok, hatte schon vor einigen Wochen im Bruno- Tweet der „Fanszene Lok Leipzig“ am 11. Januar 2016, wenige Stunden vor dem Naziangriff in Connewitz. 41 der 215 festgestellten Angreifer genannten Hausbesuch Plache-Stadion für die Kampfsportveranstaltung ge- konnten der Fanszene von Lok Leipzig zugeordnet werden. bedrohten sie ein Mit- worben. Auf einer Tapete stand geschrieben: „Support

62 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: chronik.LE

TEXT

Etwa 2000 Lok-Fans nahmen 2012 an einem Fanmarsch teil, der von der Nazigruppe ULTRAS LOK organisiert wurde.

your local Freefightteam“, mit dem Hinweis auf die IFC. und kulminierten am 11. Januar 2016 im Angriff auf [3] Quelle: Kleine Anfrage Doch die Fanszene Lok ist nicht die einzige Ver- Geschäfte und Kneipen in Connewitz.[2] Von 215 von Drs. Nr. Drs 6/3840, Gewalt- bindung zwischen Freefight, Fußball und Neonazis. der Polizei an diesem Abend festgesetzten Angreifern handlungen des rechten Spek- Neben den immer noch an der Ultrakultur ange- können mindestens 41 der Fanszene von Lok Leipzig trums in Leipzig-Connewitz lehnten Versuchen der jüngeren Generation von Lok- zugeordnet werden.[3] Nachdem die Vereinsspitze nach am 11. Januar 2016 fans unter dem Label Fanszene Lok gibt es eine ältere diesem gewissenhaft geplanten Anschlag zu Spenden Generation von Hooligans, die auch bei Freefightver- für die zerstörten Läden und Lokalitäten aufrief, brach [4] Zu den maßnahmen ge- anstaltungen auftaucht und immer mal wieder im Zu- ein wahrer Shitstorm gegen die Verantwortlichen los. hörte: Verfassen eines Ehren- sammenhang mit Lok Leipzig in Erscheinung tritt. Es liegt auf der Hand, dass der Verein trotz Strategie- kodex, der sich u.a. klar gegen Zwei Beispiele finden sich hier bei Versammlungen wechsel nach dem Babelsberg-Fiasko 2013[4] mit einem Rassismus und Diskriminie- der rassistischen Legida-Bewegung. Noch am Anfang erheblichen Naziproblem in der eigenen Fanschaft zu rung richtet, Einführung eines von Legida, ausgerechnet am 20. April 2015, sprach tun hat. Jedoch: Die Neonazis scheinen ihre Strategien Fanbeirats, Verlängerung des der damalige Legida-Anführer Silvio Rösler auf der angepasst zu haben. Sie treten im Stadion zurückhal- Auftrittsverbots von Scenario, Bühne von „Sportfreunden von Lok“, die den Legida- tender auf. Auf der anderen Seite ist eine Radikalisie- trotz massiver Bedrohungen, Aufmarsch beschützen würden. Fotos vom Aufmarsch rung festzustellen, die sich neben dem Angriff vom Ja- von Vorstandsmitgliedern zeigen, welche „Sportfreunde“ gemeint sind: eine Riege nuar 2016 in Connewitz und dem zeitweise offensiven sowie Beginn einer guten von Althools um den notorischen Neonazi Riccardo Auftreten bei Legida unter anderem am 26. September Kooperation mit dem Fuß- Sturm, der schon Anfang der 90er aktiv war und auch 2016 in Gera zeigte, wo 40 bewaffnete Lok-Hooligans ballfanprojekt schon als eine Art Betreuer von Benjamin Brinsa und von der Polizei festgesetzt wurden, die es offensichtlich als Security bei Freefightveranstaltungen auftrat. Da- auf Fans der dort auswärts spielenden BSG Chemie ab- neben der Security-Unternehmer Tobias B., dessen gesehen hatten. Nur eine Woche später kam es beim Firma Pro GSL Sponsor der IFC war; sowie der eben- Auswärtsspiel von Lok in Berlin zu Pöbeleien und Prü- falls seit den 90ern aktive Nazi und Legida-Dauergast geleien durch Nazilieder gröhlende Lok-Anhänger. Kevin D. Einen weiteren „Auftritt“ mit Fußballbezug legten Lok-Hooligans und Kameraden am 14. Sep- Die jahrzehntelang gewachsenen neonazistischen tember 2015 hin. An diesem Tage marschierten sie mit Strukturen rund um den Verein Lok Leipzig sind mit einem Transparent zu Legida. Aufschrift: „Wir sind Einzelmaßnahmen wie Stadionverboten scheinbar Leipzig, ihr Fotzen“. Den ersten „Auftritt“ hatte dieses kurzfristig nicht zu überwinden – im Zweifelsfall exis- Transparent bei einem Fanmarsch von Lok zum Zent- tieren sie außerhalb des Stadions weiter und suchen ralstadion im April 2015. sich ihre Aktionsfelder. Die Unterstützung alternativer Gruppen innerhalb der Fanszene durch das Fanprojekt Die Querverbindungen zwischen neonazistischer ist also zumindest vereinsintern langfristig sicherlich Fußballszene, immer noch vor allem rund um Lok die erfolgversprechendere Strategie. Das gesellschaft- Leipzig, und der Freefightszene sind mannigfaltig liche Problem bleibt. n

63 RECHTE SUBKULTUR

SPORT FREI VON MENSCHENFEINDLICHKEIT? Ergebnisse einer Studie im Breitensport in Sachsen

von Hannes Delto Syndrom – zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig Die Studien zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit verdeutlicht, dass es sich bei Vorurteilen um Abgren- im Sport“ der Universität Leipzig wurden in Zusammenarbeit zungen zwischen Gruppen handelt und nicht zwischen mit dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewalt- einzelnen Personen.[1] Vorurteile sind Übergeneralisie- forschung der Universität Bielefeld in den Bundesländern rungen, mit denen von Einzelnen auf alle geschlossen Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg durchgeführt. Sie wird. Demzufolge kann es sich bei Abwertung, Diskri- zeigen Ausprägungen und Zusammenhänge von abwertenden minierung oder Gewalt, die sich in erster Instanz gegen Einstellungen im organisierten Vereinssport. einzelne Individuen richtet, zugleich um Gruppenbe- zogene Menschenfeindlichkeit handeln. [1] vgl. Heitmeyer, W. (Hrsg.). „Es leben zu viele Zuwanderer in Deutschland.“ Dieser (2002–2012): Deutsche Zu- Ansicht sind rund 45 Prozent der Mitglieder in säch- Wir und die Anderen stände, Folge 1–10. Frankfurt sischen Sportvereinen. Knapp 30 Prozent der Sport- am Main: Suhrkamp. treibenden meinen, dass homosexuelle Menschen in Ethnische, soziale oder kulturelle Kategorisierungen ihrem Sportverein nicht willkommen sind. Und mehr (z.B. Nationalität, Geschlecht, sexuelle Identität, Re- [2] vgl. Küpper, B. & Zick, als die Hälfte der aktiven Sportlerinnen und Sportler ligion etc.) und ihre Verwendung sind an sich noch A. (2015): Gruppenbezoge- befürworten die rassistische Aussage, dass Schwarze keine Vorurteile. Diese entstehen erst dann, wenn Ka- ne Menschenfeindlichkeit. von Natur aus sportbegabt sind. tegorisierungen mit der Zuschreibung von bestimmten Bundeszentrale für politische Eigenschaften in Abhängigkeit der tatsächlichen oder Bildung. Vorurteile und Gruppenbezogene Menschen- vermeintlichen Gruppenzugehörigkeit einhergehen feindlichkeit (Stereotypisierung) und diese spezifischen Gruppenei- [3] Die begrenzte Erfassung genschaften negativ bewertet werden. Wenn Menschen bei der Abwertung von homo- Die Homosexuellen, die Schwarzen, die Muslime – aufgrund ihrer zugewiesenen Zugehörigkeit zu einer sexuellen Menschen ermög- wenn Menschen, ob innerhalb oder außerhalb des sozialen Gruppe als irgendwie anders, fremd oder un- licht keine Differenzierung Sports, aufgrund gemeinsamer Merkmale in be- normal markiert werden, dann wird aus ungleich sehr von Einstellungen gegenüber stimmte Gruppen eingeteilt und diese Menschen abge- leicht ungleichwertig. Das dient vor allem der Stär- schwulen und lesbischen wertet und ausgegrenzt werden, weil sie Mitglied jener kung des Wir-Gefühls, schafft Selbstwerterhaltung Personen, da allgemein nach Gruppe sind, sprechen wir von Gruppenbezogener und Selbstwertsteigerung oder legitimiert Hierarchien. homosexuellen Menschen Menschenfeindlichkeit (GMF). Mit GMF wird der ne- Damit ist Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gefragt wurde. gative menschenfeindliche Kern des Vorurteils – das auch ein Kernelement so genannter rechtsextremer Einstellungen, die sich dort u.a. in Fremdenfeindlich- keit, Rassismus und Antisemitismus, genauso wie in Sexismus und Homophobie ausdrücken.[2]

Zustände im sächsischen Vereinssport

Für die Studie in Sachsen wurden im Jahr 2012 insgesamt 1.502 aktive Sporttreibende in 147 Sportvereinen sport- artenübergreifend befragt, um die Ausprägungen und die wechselseitigen Bezüge von Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit, Homophobie[3], Rassismus, Antise- mitismus, die Abwertung von Menschen mit Behinde- rung und Sexismus aus einer integrierenden Perspektive erstmals in den Blick zu nehmen. Die Vorurteile wurden jeweils mit zwei bis vier Aussagen zuverlässig und va- lide erfasst. Da Sport den Umgang mit dem Körper und seine Veränderungen beinhaltet, rücken die physischen Eigenheiten von Menschen stärker in den Mittelpunkt von Interaktionen als in anderen sozialen Handlungsfel- Empirisch geprüftes Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit im organisierten Vereinssport in Sachsen dern. Körperliche Eigenheiten können dabei nicht nur

64 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 Grafiken: Hannes Delto

Neugier und Bewunderung, sondern auch negative Ge- fühle wie Angst, Ekel oder Abscheu hervorrufen und zu Abwertungen führen.[4] Die Studie zeigt, dass die Kör- perlichkeit – genauer die körperliche Fremdheit (vor allem bei Rassismus und Homophobie) – im Sport viel stärker als außerhalb des Sports in Erscheinung tritt und zur Aktivierung von Vorurteilen beiträgt.

Syndrom und Dimensionen in Sachsen

In diesem körperzentrierten Sozialsystem sind die un- Zustimmungswerte (1-4) zu den Vorurteilsdimensionen nach Gemeindegröße tersuchten Vorurteilsdimensionen eng miteinander verbunden. Komplexe statistische Modelle zeigen, Stadt und Land dass Sporttreibende in Sachsen, die einem Vorur- teil zustimmen, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Ab- Um menschenfeindliche Einstellungen in Abhängig- [4] vgl. Delto, H. & Tzschop- wertungen von anderen bestimmten Gruppen neigen. keit der Stadt- und Gemeindegröße in Sachsen zu be- pe, P. (2015). Wir und die Demnach lassen sich die untersuchten generalisierten trachten, haben wir die befragten Sportvereinsmit- Anderen – Gruppenbezogene Einstellungen unter einem Syndrom der Gruppenbe- glieder in Dörfer und kleinere Gemeinden bis zu 17.500 Menschenfeindlichkeit im zogenen Menschenfeindlichkeit zusammenfassen, das Einwohnerinnen und Einwohner sowie in Städte und Sport in Sachsen. Universität sich im Gesellschaftsbereich des organisierten Vereins- größere Gemeinden eingeteilt.[5] Sachsens Sporttrei- Leipzig. sports in Sachsen identifizieren lässt. Dabei sind ho- bende, die in Dörfern oder kleineren Gemeinden mophobe, islam- und fremdenfeindliche sowie rassisti- ihren Sport ausüben, neigen eher als Sportlerinnen [5] Für die Einteilung in sche Abwertungen die vorrangig handlungsrelevanten und Sportler in Städten und größeren Gemeinden des ländlich und städtisch haben Vorurteilsdimensionen. Aber womit lassen sich Vorur- Landes zu islamfeindlichen, homophoben und rassisti- wir uns für die Studie in teile bei Sportvereinsmitgliedern erklären? schen Einstellungen. Sachsen noch nicht an der Vorurteile hängen unter anderem mit autoritären Ein- differenzierteren Gliederungs- stellungen, Demokratiekritik und -feindlichkeit sowie Sport und seine Werte systematik der BIK-Regionen Nationalismus und Gewaltbilligung im Sport zu- (Pendlerstromanalysen) sammen und beeinflussen diese unterschiedlich stark. Eine Chance könnte in den im Sport propagierten orientiert, sondern lediglich So befürworten knapp 72 Prozent der befragten Sport- Werten wie Fairness, Toleranz, Solidarität und Res- an der Mindestgrenze von lerinnen und Sportler autoritäre Unterwürfigkeit und pekt liegen. Es lässt sich auch beobachten, dass dieje- 17.501 Einwohnerinnen Aggression. Rund 80 Prozent stimmen der unkriti- nigen Sporttreibenden deutlich weniger zu menschen- und Einwohnern. Ab dieser schen und bedingungslos positiven Bewertung der ei- feindlichen Einstellungen tendieren, die den Werten Anzahl kann eine Gemeinde genen Nation zu. Und zwei Drittel der Sporttreibenden im Sport eine größere Bedeutung zusprechen. Ob- den Status einer Großen meint, dass die Demokratie in Deutschland eher zu wohl Sportvereine und -organisationen einen gemein- Kreisstadt erhalten. faulen Kompromissen als zu sachgerechten Entschei- samen Wertekanon haben, der Vielfalt, Fairness, Tole- dungen führt. Auch Alter, Bildung und Geschlecht ranz, Chancengleichheit und Partizipation beinhaltet, spielen bei Abwertungen im Sport eine Rolle. Ältere lässt sich zusammenfassen, dass Ungleichwertigkeiten tendieren eher als jüngere Befragte zu islamfeindli- innerhalb des Sports deutlich messbar vorhanden sind. chen, homophoben und rassistischen Abwertungen Die Sportvereine betonen, wie wichtig ihnen die Ver- und werten häufiger Menschen mit Behinderung ab. mittlung von Werten als Vereinsziel und integraler Beim klassischen Sexismus, der Frauen auf die Rolle Bestandteil ihrer Vereinsphilosophie sei. Allerdings der Ehefrau, Hausfrau und Karrierehelferin fixiert, führen diese Werte nicht im Selbstlauf zu einer Sensi- zeigt sich ein umgekehrtes Verhältnis: Umso jünger die bilität gegenüber Vorurteilen und deren Folgen. Neben befragten Sporttreibenden sind, desto sexistischer sind der Formulierung von Wertevermittlung als Leitziel sie eingestellt. Der Bildungsgrad gibt weiter Aufschluss wären für die Sportorganisationen entsprechende Kon- über menschenfeindliche Einstellungen. Sportlerinnen zepte hilfreich, um deutlich und nachvollziehbar zu und Sportler mit einem geringeren Bildungsniveau machen, wie dieses Ziel sportarten- und organisations- werten im Durchschnitt eher Einwanderer, Muslime, übergreifend im vereinsorganisierten Sport in Sachsen Homosexuelle, Schwarze, Juden und Jüdinnen und erreicht werden soll. n Frauen ab. Ähnlich unterscheiden sich Männer von Download der Studie Frauen. Deutlich mehr Männer als Frauen stimmen is- Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Leipzig http://nbn-resolving. lamfeindlichen, homophoben, antisemitischen und se- und Leiter der durchgeführten Studien zur Gruppenbezogenen Men- de/urn:nbn:de:0168- xistischen Aussagen zu. schenfeindlichkeit im Sport. ssoar-425778

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05 KAPITEL RECHTE GEWALT

66 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: Tim Wagner

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Brandanschlag auf eine geplante Asylunterkunft am 26. August 2015 in Leipzig Stötteritz

67 RECHTE GEWALT

RASSISTISCHE MOBILISIERUNGEN UND RECHTE GEWALT IN DER REGION LEIPZIG

von Steven Hummel gida) folgten vier weitere. Die in Bürgerbewegung [1] vgl. Antifaschistisches Re- Sachsen ist in den letzten Jahren immer wieder negativ in den unser schönes Wurzen umbenannte Wugida- daktionskollektiv (Hrsg.): Wur- Schlagzeilen gewesen. Freital, Heidenau, Clausnitz und Baut- Gruppe führte 2015 noch zwei weitere Demonstrati- zen. Das Ende faschistischer zen sind nur einige, vermutlich aber die bekanntesten Beispie- onen durch. 2016 folgten nochmals zwei rassistische Zentren, wie wir sie kennen. le. Das gesellschaftliche Klima ist (nicht nur, aber besonders Demonstrationen sowie eine Demonstration der NPD/ Entwicklungen im Muldental- in Sachsen) rauer geworden. Mit vermehrten rassistischen JN zum 1. Mai. kreis 1991-1996, 1996. Mobilisierungen geht ein starker Anstieg rechter Gewalt einher. Auf Facebook hetzte erst die Seite „Wurzen wehrt sich Wie ist es um die Situation in der Region Leipzig bestellt? gegen Asylmissbrauch“, später eine neue Seite „Wurzen [2] Das polizeiliche Er- und Umland“ gegen Asylsuchende. Immer wieder ist fassungssystem „politisch Rassistische Mobilisierungen... die Rede von vermeintlichen Straftaten von Asylsu- motivierte Kriminalität“ chenden. Kommentare unter solchen Posts sind dabei (PMK) wurde 2001 eingeführt Ein wichtiger Ausgangspunkt rassistischer Mobilisie- häufig Drohungen. So wird im Juli 2015 einem Asyl- und enthält rungen, so wie sie uns heute begegnen, sind die Auf- suchenden aus Tunesien gedroht, ihm die Hände ab- u.a. folgenden Passus: „… märsche im erzgebirgischen Schneeberg Ende 2013/ zuhacken und ihn umzubringen. Die Seiten-Betreiber wenn die Umstände der Anfang 2014. Dort demonstrierten zum ersten Mal riefen dazu auf, sich in Bürgerwehren zu organi- Tat oder die Einstellung eine vierstellige Zahl Bürger_innen und Neonazis ge- sieren. Ausrüstung und Kleidung werde gestellt. In der des Täters darauf schließen meinsam und über einen langen Zeitraum. Berüh- Chronik des zivilgesellschaftlichen VereinsNetzwerk lassen, dass sie sich gegen eine rungsängste gab es nicht. Facebook wurde für die Or- für demokratische Kultur e.V. (NDK) aus Wurzen Person aufgrund ihrer ihrer ganisation und Mobilisierung der Demonstrationen lässt sich lesen: „Immer wieder berichteten Flücht- politischen Einstellung, Nati- sowie die Verbreitung von rassistischer Hetze wesent- linge aus Wurzen, dass sie rassistisch beleidigt werden, onalität, Volkszugehörigkeit, lich. Nahezu alle rassistischen Proteste organisieren ihnen sogar Gewalt angedroht wird. So wurde eine Fa- Rasse, Hautfarbe, Religion, sich seitdem mindestens teilweise über Facebook. milie in der Bahnhofstraße bereits mehrfach Opfer Weltanschauung, Herkunft von nächtlichem Lärm, Parolenrufen, Flaschenwürfen oder aufgrund ihres äußeren …. in und um Leipzig und lautstarkem Klopfen gegen die Fensterscheiben Erscheinungsbildes, ihrer ihrer Wohnung. Im Park des Alten Friedhofs wurden Behinderung, ihrer sexuellen Auch in der Leipziger Region gab und gibt es diverse mehrfach Flüchtlinge durch Jugendliche und Erwach- Orientierung oder ihres gesell- Initiativen und Zusammenschlüsse, welche gegen die sene bedroht, ebenso in Supermärkten, wie Kaufland schaftlichen Status“ richtet. Unterbringung von Asylsuchenden in der direkten und Lidl. [...] Flüchtlinge, welche die Berufsschule in Nachbarschaft hetzen und die Asylpolitik der Bundes- Wurzen besuchen, wurden in Höhe des Getränke- [3] In das polizeiliche Erfas- regierung kritisieren. Dabei nutzen sie sowohl Veran- marktes von einer Clique Neonazis bedroht und ras- sungssystem PMK-rechts fallen staltungen wie Demonstrationen und Kundgebungen, sistisch beleidigt.“ Wie an der Beschreibung deutlich z.B. auch Hakenkreuzschmie- die Verbreitung von Hassbotschaften über Facebook wird, ist rassistische Stimmungsmache ein Nährboden rereien (wegen der Verwen- und Petitionen als auch Agit-Prop-Aktionen wie Graf- für rassistisch motivierte Gewalt. dung von Kennzeichen verfas- fiti und selbstgedrehte Videos. Beispielhaft sei folgend sungswidriger Organisationen, die Situation in Wurzen beschrieben. Rechte Gewalt... §86a StGB) und Beleidigungen In Wurzen gibt es historisch begründet eine starke mit rassistischem Hintergrund. rechte Szene.[1] Diese organisierte maßgeblich die ras- In Deutschland ist die Polizei mit der Erfassung und Er- Diese Vorfälle werden in der sistische Mobilisierung vor Ort. Bereits Anfang 2015 mittlung von Straftaten betraut, worunter auch rechts- Statistik der Opferberatung gab es drei Demonstrationen gegen Asylsuchende. motivierte und rassistische Angriffe fallen. Im polizei- nicht berücksichtigt. Nach der Gründung eines Legida-Ablegers (Wu- lichen Terminus werden diese Straftaten als „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ (PMK-rechts)[2] er- fasst. Auch in der polizeilichen Statistik ist in Sachsen Rassistische Demonstrationen in und um Leipzig ein deutlicher Anstieg dieser Straftaten zu verzeichnen: Waren es 2014 noch 1740 Straftaten im Bereich PMK- In Leipzig gab es neben den diversen Demonstrationen von LEGIDA, seinen rechts (davon 86 Gewaltstraftaten) stieg die Zahl 2015 Ablegern und Abspaltungen zwischen Oktober 2015 und Oktober 2016 auf 2415 Straftaten im Bereich PMK-rechts (davon 213 keine weiteren rassistischen Demonstrationen. Im Leipziger Umland sieht die Gewaltstraftaten). Grundlegend für eine Einordnung Situation anders aus. Hier gab es in diesem Zeitraum ohne Berücksichtigung der Polizei ist eine Anzeige. Im Gegensatz dazu ar- von Demonstrationen von Parteien (NPD/JN, AfD) mindestens 29 rassistische beitet die unabhängige Beratungsstelle für Betroffene Demonstrationen. Schwerpunkte sind dabei Eilenburg (5), Grimma und Borna rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt des RAA (je 4) sowie Markranstädt, Delitzsch und Regis-Breitingen (je 3). Sachsen e.V. unabhängig von polizeilichen Anzeigen.

68 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016

Rechte und rassistische Gewalttaten in Sachsen Rechte und rassistische Gewalttaten in und um Leipzig Quelle f. beide Grafiken: Opferberatung des RAA Sachsen e.V.

Wichtig ist für die Berater_innen die subjektive Ein- körperlichen Schäden können u.a. auch finanzielle [4] Viele Vorfälle haben weiter- schätzung der Betroffenen. Rechte Gewalt wird wei- Belastungen und psychische Beeinträchtigungen ent- hin einen Bezug zum Thema terhin über die Einstellung der TäterIn/TäterInnen stehen. Für Betroffene ist es daher wichtig, dass ihnen Asyl. Darunter fallen z.B. auch (Kleidung, Symbole, Organisierung, etc.) sowie der Andere solidarisch zur Seite zu stehen und sich Hilfe Angriffe am Rande von Anti- Umstände der Tat (At der Tatbegehung, Auswahl nach ihren Bedürfnissen richtet. Subjektive Wahrneh- Asyl-Demonstrationen auf der Opfer, etc.) definiert. Aus diesen Gründen unter- mungen von rechter Gewalt sowie Einschränkungen politische Gegner_innen oder scheiden sich die Statistiken der RAA Sachsen von des alltäglichen Lebens sollten ernst genommen und Journalist_innen, welche aber denen der Polizei. Am ehesten vergleichbar mit den nicht klein geredet werden. n nicht rassistisch motiviert sind. Zahlen der Opferberatung sind die Gewaltstraftaten im polizeilichen Erfassungssystem PMK-rechts.[3] Es ist davon auszugehen, dass das enorm hohe Ni- Rassistische Initiativen in und um Leipzig veau 2016 gehalten oder gar überschritten wird. Nen- In und um Leipzig existieren eine Vielzahl von rassistischen Initiativen. Einige nenswert sind an dieser Stelle die 74 Angriffe auf Asy- existieren als reine Facebook-Phänomene, andere führen Veranstaltungen lunterkünfte in 2015, wovon 19 Brandstiftungen sind. und Demonstrationen durch. Einige existieren nur kurze Zeit, andere sind Deutlich sichtbar wird in der Statistik der unabhän- auf Dauer angelegt. Die folgende unvollständige Liste umfasst rassistische gigen Beratungsstelle, dass bei den meisten Angriffen Facebook-Initiativen in der Leipziger Region mit Stand November 2016. Alle das Tatmotiv Rassismus ist.[4] Für die Betroffenen Schreibweisen sind original beibehalten. Einige Seiten werden nicht mehr kommt die schon beschriebene ablehnende und teil- regelmäßig aktualisiert. weise feindliche Stimmung und alltägliche Diskrimi- nierung vor Ort dazu. • Bad Lausick sagt Nein zum Heim • Initiative – Unser Delitzsch • Bad Lausick wehrt sich • LEGIDA – Leipzig steht auf … in und um Leipzig • Bürgerbewegung Grimma • Lobstädt sagt Nein zum Heim • Bürgerinitiative „Böhlen wehrt sich“ • Markran‘ser kämpfen - mit Herz und Die Leipziger Region reiht sich bezüglich rechter • Bürgerinitiative „Rötha wehrt sich“ Verstand Gewalt gut in das gezeichnete Bild von Sachsen ein. • Bürgerinitiative „Wir sind Borna“ • Markranstädt wehrt sich Auch hier lässt sich ein starker Anstieg rechtsmoti- • Bürgerinitiative Gohlis sagt Nein • Meusdorf sagt NEIN zum Asylan- vierter und rassistischer Gewalt feststellen. • Borna wehrt sich gegen Asylmissbrauch tenheim • Colditz sagt Nein – aus Liebe zur • Nordsachsen schaut hin Was rechte Gewalt mit Betroffenen macht, ist für Au- Heimat und zum Schutz unserer • Regis-Breitingen weht sich ßenstehende oftmals schwer nachzuvollziehen. In Kinder • WIR für Böhlen manchen Fällen können solche Angriffe das Leben • Das Waldstraßenviertel sagt NEIN • Wir für Leipzig nachhaltig beeinflussen. Beispielhaft sei hier der zum Heim • WIR für Oschatz schon etwas länger zurückliegende Angriff auf eine • Espenhain sagt Nein zum Heim • Wir sind Großpösna Gruppe Konzertbesucher_innen in Delitzsch 2012 • Geithain wehrt sich • Wurzen und Umland genannt. Ein Musiker wurde dabei an einem Auge so • Initiative – Unser Eilenburg • Zwenkau steht auf schwer verletzt, dass er sein Augenlicht verlor. Neben

69 RECHTE GEWALT

DEM KRIEG ENTFLOHEN – IM KRIEG GELANDET Zur rassistischen Situation im Leipziger Umland, den Folgen für die Betroffenen und den Herausforderungen für die Unterstützer_innen

von Lena Nowak terscheiben werden eingeschmissen, Familien beim Ende August wird ein Migrant, der in Wurzen arbeitet, vor Verlassen der Wohnung mit Feuerwerkskörpern be- einer Pizzeria zunächst beleidigt und dann tätlich angegriffen. worfen. Neonazis versuchen direkt in Wohnbereiche Die TäterInnen sind stadtbekannte Neonazis. Als sich der einzudringen. Der Rassismus ist alltäglich und ent- Betroffene wehrt und ihm Geflüchtete zu Hilfe eilen, kommen hemmt. Die Betroffenen fühlen sich diesem schutzlos mutmaßliche Neonazis innerhalb kürzester Zeit mit Klein- ausgeliefert. Ein Umzug, die meist sinnvollste und ein- bussen und Autos dazu. Am nächsten Tag wird in der Zeitung zige Möglichkeit des Schutzes, wird inzwischen sogar stehen, Asylbewerber hätten eine Pizzeria überfallen und die bei akuten Gefährdungslagen von der zuständigen Be- Gäste bedroht. Es kommt in der Folge zu mehreren Hetzjagden, hörde nicht mehr bewilligt. Neben den körperlichen einer rassistischen Demo und nächtlichen Bedrohungen direkt Angriffen berichten die Betroffenen von einer Zu- vor der Haustür einiger Betroffener. Einige Wochen später wird nahme von Anfeindungen und Beschimpfungen im bei einer libyschen Familie unweit der Pizzeria ein Stein in die Bus oder beim Einkaufen. Manche Menschen erleben Fensterscheibe geworfen, der ein Familienmitglied nur knapp diese Form von Gewalt sogar als die schlimmere, da sie verfehlt. In derselben Nacht versuchen die Angreifer, in die sich sprachlich nicht adäquat wehren können und die Wohnung der geflüchteten Familie einzudringen… Situation damit eine große Ohnmacht erzeugt. Dies hat schwere psychische und soziale Folgen für die Betrof- [1] Zur Wohnauflage für Dies sind nur einige Beispiele von vielen aus den fenen. Sie fühlen sich massiv abgewertet, trauen sich Geflüchtete vgl. Artikel „Das letzten Monaten. Die rassistische Gewalt im Leipziger nicht mehr aus dem Haus oder schlafen nachts nicht Wohnen in Wohnungen ler- Umland nimmt zu. Dies ist bekannt. Die rassistische mehr, aus Angst, dass die Angreifer wiederkehren. nen? “ in diesem Heft S. 41 Hetze auf der Straße ist seit zwei Jahren so kontinuier- Der Opferberatung sind bereits mehrere Fälle bekannt, lich wie offensiv und zieht sich, wenn auch manchmal in denen Menschen wieder in ihre Herkunftsländer, im Stillen durch alle gesellschaftlichen Schichten und das heißt in Armut und Terror, zurück gereist sind, politischen Richtungen. Auch dies ist mittlerweile so weil sie hier ihr Leib und Leben und das ihrer Angehö- bekannt wie banal. Selbst in Unterstützernetzwerken rigen nicht geschützt sehen. Ein Betroffener beschrieb reicht zuweilen das Wohlwollen nur so weit, bis die es uns folgendermaßen: „Ich bin aus dem Krieg ge- Menschen schwierig werden, zu viel verlangen, zu un- flohen und in einem neuen gelandet.“ dankbar sind oder sich schlichtweg nicht unauffällig oder angepasst verhalten. Konsequenzen für die Unterstützungsarbeit Aus den Recherchen der RAA-Opferberatung ergibt sich eine Steigerung der Fallzahlen von 25 Gewaltvor- Wo bis vor wenigen Jahren vornehmlich die Folgen fällen im Jahr 2013 auf 67 im Jahr 2015 im ländlichen eines Übergriffs gemindert und bearbeitet werden Raum in Leipzig und den angrenzenden Landkreisen. mussten, geht es in unserer Beratung seit über zwei Aber was diese Zunahme tatsächlich bedeutet, wie die Jahren vor allem darum, sich vor erneuten Übergriffen Situation vor Ort ist und sich gerade im Alltag der Be- zu schützen und Strategien zu entwickeln, eine ge- troffenen zeigt, können die Zahlen nicht erzählen. fährliche und unberechenbare Situation durchhalten Neben einem erhöhten Fallaufkommen hat sich auch zu können. Wir stehen vor der Herausforderung, vor die Form der Gewalt verschoben. Während wir es als allem stabilisierend arbeiten zu müssen und gleich- Opferberatung früher häufig zeitig die Zustände nicht bagatellisieren zu wollen. Es mit einmaligen Vorfällen zu geht dabei zunehmend um Themen wie Selbstschutz, Spenden Sie der Opferberatung: tun hatten, handelt es sich in Notfallpläne, aber auch Kriseninterventionen auf- der Mehrzahl der Beratungs- grund der akuten Gefahr psychischer Erkrankungen. Spendenkonto: RAA Sachsen e.V. fälle inzwischen um wieder- Für einzelne Menschen können dabei hier und da in- Commerzbank AG holte Übergriffe, ist die Ge- offizielle Lösungen für akute Maßnahmen gefunden IBAN: DE33 8508 0200 0643 9986 00 walt- und Bedrohungssituation werden. Für ganze Familien haben auch wir oft keine BIC: DRESDEFF857 anhaltend und findet in der Lösungen. Diese verbleiben dann in Gewalt- und Be- Verwendungszweck: Opferfonds Regel im direkten Wohnum- drohungssituationen und müssen den häufig ent- feld der Betroffenen statt. Fens- täuschenden Weg über die Behörden gehen. Die Ge-

70 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: Tim Wagner

Recht und Sicherheit für Refugees, Mahnwache in Leipzig gegen rassistische Gewalt in Sachsen am 18. Januar 2015

setzesnovelle zur Wohnauflage auch für anerkannte Weitere Informationen zum Thema Geflüchtete ist vor diesem Hintergrund buchstäblich eine Katastrophe.[1] Hilfreich sind Kontakte zu den Betroffenen, zu den Menschen in den Unterkünften, aber auch in den Woh- nungen in den Kleinstädten und Dörfern. Die Isola- tion, das Gefühl allein der Gewalt ausgeliefert zu sein, beeinträchtigt die Betroffenen nachhaltig. Es braucht schnelle, unbürokratische Lösungen für Menschen in akuten Gefahrensituationen, ähnlich einem Krisen- haus oder Schutzwohnungen-Konzept. Auf behörd- licher Ebene muss nicht nur die Sensibilisierung für die unzumutbaren Zustände in manchen Regionen er- höht werden, es braucht flexible Handlungsstrategien, um den Schutz der Betroffenen zu gewährleisten oder wiederherzustellen. Verteilungsschlüssel oder amtliche Zuständigkeiten sind kein Argument bei der Gefahr körperlicher oder psychischer Versehrung aus rassisti- Amnesty International (Hrsg.): Leben Ezra (Hrsg.): Die haben uns nicht ernst schem Hass. n in Unsicherheit. Wie Deutschland die genommen. Eine Studie zu Erfah- Opfer rassistischer Gewalt im Stich rungen von Betroffenen rechter Ge- Die Autorin arbeitet bei der Leipziger Beratungsstelle für Betroffene lässt, 2016. Die Studie ist unter www. walt mit der Polizei, 2014. Die Studie amnesty.de kostenlos downloadbar. ist unter www.ezra.de kostenlos down- rechter und rassistischer Gewalt des RAA Sachsen e.V. loadbar.

71 photo: chronik.LE

RECHTE GEWALT

RECHTE ANFEINDUNGEN UND ANGRIFFE...... gegen demokratische Institutionen und ihre Vertreter_innen

von chronik.LE zu schützen. Dies gelang ihm nach eigenen Angaben Anschlagsschaden am LinXXnet in „Die da oben“, „Volksverräter“, „Lügner“ – der Ton gegen nicht, wegen des „enorme[n] Medienhype[s], der der Bornaischen Straße / Connewitz vom 03. Oktober 2016 demokratische Institutionen und ihre Vertreter_innen ist in den dann kam, aber auch die unterschätzte rechte Gewalt, letzten zwei Jahren zunehmend aggressiv geworden. Diese die dann viel stärker war. Es folgte Morddrohung auf Tendenz geht einher mit dem Erstarken von PEGIDA und der Morddrohung. Dadurch habe ich gemerkt, dass die ei- Aufstieg der ALTERNATIVE FÜR DEUTSCHLAND (AfD). Beide gentliche Gefahr größer geworden ist. Das hat unser agitieren in einem rechtspopulistischen Duktus gegen die ganzes Leben verändert. Aber deswegen zurückzuwei- „Etablierten“, welche den „Willen des Volkes“ nicht umsetzen chen, nur weil man sich nicht mehr traut, seine eigenen würden. Meinung zu sagen, das geht gar nicht.“[1] Tröglitz er- [1] http://www.mdr.de/ langte im April 2015 erneut überregional Aufmerk- sachsen-anhalt/troeglitz-ein- Durch die Tonverschärfung im politischen Dis- samkeit: die geplante Unterkunft für Geflüchtete wurde jahr-nach-ruecktritt-100.html kurs werden neben „klassisch“ rechten Feindbildern angezündet und zerstört. wie Asylsuchende und Linke zunehmend auch an- Im Oktober 2015 wurde die Kölner Lokalpolitikerin [2] http://www.spiegel.de/ dere Gruppen, z.B. Politiker_innen und Journalist_ und Oberbürgermeisterkandidatin von CDU, Grünen panorama/justiz/henriette- innen zum Ziel rechter Bedrohungen. Ironischer- und FDP, Henriette Reker, von einem Neonazi nieder- reker-taeter-frank-s-hat- weise nehmen die Täter_innen nicht selten den Artikel gestochen. Bei der Tat soll der Täter Frank S. „Ich tue rechtsextreme-vergangen- 20 Absatz 4 des Grundgesetzes für sich in Anspruch: es für eure Kinder“[2] gerufen haben. Er wollte damit heit-a-1058337.html „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu ein Zeichen gegen angebliche Fehler in der Asylpolitik beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Wi- setzen. Reker war als Sozialdezernentin für die Unter- [3] http://www.zeit.de/politik/ derstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Die bringung von Asylsuchenden in Köln zuständig. In der deutschland/2015-05/bedroh- Täter_innen sehen sich in einem „Abwehrkampf“ Vernehmung äußerte S., dass er Angst habe, dass bald te-politiker gegen eine als illegitim empfundene Politik, wobei die Scharia in Deutschland gelten werde. S. war in der der Fokus in der Regel auf dem Themenfeld Asyl liegt. 1995 verbotenen neonazistischen Freiheitlichen [4] http://www.dielinke-sach- In ihrer Wahrnehmung scheint es keine demokrati- Deutschen Arbeiterpartei (FAP) aktiv. sen.de/politik/detail/article/ schen Mittel politischer Einflussnahme mehr zu geben. attacken-auf-linke-abgeord- Rechte Angriffe werden damit als „Widerstand“ stili- ... quer durch das demokratische Spektrum. netenbueros-im-umfeld-des- siert. 3-oktobers/ Im Mai 2015 veröffentlichte die Zeit unter dem Titel Angriffe auf Einzelpersonen... „Wir werden bedroht“[3] ein Dossier, in welchem sich [5] http://www.lvz.de/ Politiker_innen äußern. Die (unvollständige) Liste ist Mitteldeutschland/News/ Diese Entwicklung drückt sich in Anfeindungen und lang: (SPD, ehemaliger Bundes- Uebergriffe-und-Drohungen- Angriffen gegenüber Einzelpersonen aus. Bundesweit tagspräsident), (Grüne, MdB), Cem Öz- gegen-Politiker-Leipzigs- beispielhaft seien dafür zwei Vorfälle genannt: demir (Parteivorsitzender der Grünen), Buergermeister-Jung-unter- Im März 2015 trat Markus Nierth, ehrenamtli- (Grüne, Bundestagsvizepräsidentin), Martin Dulig Polizeischutz cher Bürgermeister von Tröglitz, einer Ortschaft in (Wirtschaftsminister in Sachsen), Burkhard Jung Sachsen-Anhalt, von seinem Amt zurück. Dem vor- (Oberbürgermeister von Leipzig), [6] http://www.spiegel.de/ ausgegangen waren mehrfache Aufmärsche der neona- (Grüne, MdB), Juliane Nagel (Linke, MdL in Sachsen), politik/deutschland/leipzig- zistischen NPD, welche sich gegen die geplante Un- Lutz Trümper (seit Oktober 2015 parteilos, zuvor SPD, buergermeister-jung-wird- terbringung von 60 Geflüchteten im Ort richteten. Oberbürgermeister von Magdeburg), Reiner Haseloff bedroht-a-1058491.html Als ein Aufmarsch unmittelbar vor seinem Haus ge- (CDU, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt), Ro- nehmigt wurde, trat Nierth zurück um seine Familie land Dantz (Oberbürgermeister von Kamenz), Sebas-

72 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: Tim Wagner [7] Festerling ist Mitbe- gründerin der AfD, erstmals bundesweit bekannt wurde sie durch ihre positi- ven Äußerungen zu den Hooligan-Ausschreitungen im Oktober 2014 in Köln. Ihrem Ausschluss aus der AfD kam sie mit einem Austritt zuvor und schloss sich Pegida an. Sie kandidierte für Pegida als Oberbürgermeisterin und bekam auf Anhieb 9,6% der Stimmen. Im April 2016 kam es zum Zerwürfnis zwischen Die Leipziger NPD propagierte bereits 2014 Gewalt gegen angebliche Lutz Bachmann und Fes- „geistige Brandstifter“. Gemeint waren u.a. die Linke-Landtagsabgeord- nete Juliane Nagel, Leipzigs Polizeipräsident Bernd Merbitz (CDU), der terling, woraufhin diese nur Landesvorsitzende der Grünen, Jürgen Kasek, und Leipzigs Oberbür- noch bei Legida und „Festung germeister Burkhard Jung (SPD). Ihre Konterfeis wurden auf dem Trans- parent abgebildet. „Linke Täter haben Namen und Adressen“, drohte Europa“ auftrat. der damalige NPD-Landesvize Maik Scheffler. NPD-Stadtratskandidat Alexander Kurth (Bildmitte) sprach von „Krebsgeschwüren“. [8] http://www.tagesspiegel. de/politik/nach-mistgabel- tian Striegel (Grüne, MdL in Sachsen-Anhalt), Klaus Deutsche Journalistenverband (DJV) erstattete aufruf-journalistenverband- Brähmig (CDU, MdB Sachsen), (SPD, daraufhin Anzeige wegen Volksverhetzung gegen Fes- zeigt-pegida-anfuehrerin- MdB aus Halle). terling. Das Verfahren wurde im Mai 2016 eingestellt. an/12837678.html Auch in Sachsen ist diese zunehmende Aggression zu Anfang Juli 2016 wurde ein Legida-Ordner in seinem spüren. So berichtet Die Linke von vermehrten An- Wohnort überfallen und zusammengeschlagen. Le- [9] vgl. http://www.lvz. griffen auf ihre Abgeordnetenbüros: „Insgesamt zählte gida und die ehemalige NPD-Facebook-Seite „Wir de/Leipzig/Polizeiticker/ die sächsische LINKE seit Beginn dieses Jahres 40 [Ja- für Leipzig“ machten ohne jeglichen Anhaltspunkt Polizeiticker-Leipzig/Nach- nuar bis Anfang Oktober 2016, Anm. d. Red.] gemel- den Landesvorsitzenden der Grünen und NoLe- Ueberfall-auf-Legida-Ordner- dete Ereignisse wie Anschläge auf Büros, Übergriffe auf gida-Aktivisten Jürgen Kasek für die Tat verantwort- Gruenen-Politiker-Kasek- Wohnungen oder Infostände und Bedrohung von Mit- lich. Entsprechende Facebook-Einträge wurden inner- wird-massiv-bedroht gliedern.“[4] halb kürzester Zeit mehr als 2.000 Mal geteilt. Einzelne Kommentatoren riefen offen zu Gewalt gegen Kasek [10] vgl. http://www.lvz.de/ Die Bedrohungslage steigt auch in Leipzig... auf.[9] Gegenüber der LVZ äußerte sich Kasek wie Leipzig/Lokales/Vergleich- folgt: „Ich kam heute in mein Büro und hab schon ge- vor-Gericht-Legida-unterla- Die Situation in der Region Leipzig lässt sich an meh- sehen, dass da diese Behauptungen im Netz kursieren. esst-Anschuldigungen-gegen- reren Beispielen betrachten: Seitdem bekomme ich zahllose Mails und anonyme Kasek Im März 2015 äußert sich der Leipziger Oberbürger- Anrufe“. Die Verbreitung von Fotos und der Adresse meister Burkhard Jung gegenüber der LVZ zu den An- seiner Anwaltskanzlei seien „eine sehr harte Bedro- feindungen ihm gegenüber: „Ich habe in meiner Amts- hungslage und der Höhepunkt einer Kampagne“, die zeit ein, zwei Mal Drohungen erhalten. Und seit wir seit Wochen gegen ihn laufe. Kasek ging juristisch die Legida-Demonstrationen haben, zum ersten Mal gegen die Unterstellungen vor und stoppte diese.[10] eine gehäufte Bedrohungssituation bis hin zum Polizei- schutz.“ Bis März 2015 wurde Jung 30 mal bedroht.[5] ...und den umliegenden Landkreisen. Im Oktober 2015 schmierten Unbekannte auf einen Container in der Leipziger Innenstadt einen Galgen Im vergangenen Jahr kam es zu zahlreichen weiteren und die Worte „OB Jung wir kriegen Dich“. Auf einem Anfeindungen gegenüber Politiker_innen und An- weiteren Container war die Parole „No Asyl“ zu lesen.[6] schlägen auf Wahlkreis- und Abgeordnetenbüros aber Am 11. Januar 2016, als 250 Neonazis gezielt den Stadt- auch Privatwohnungen. Im Raum Leipzig ist beson- teil Connewitz überfielen, sprach Tatjana Festerling[7] ders die Partei Die Linke betroffen. chronik.LE sind auf der Bühne von Legida: „Wenn die Mehrheit der allein in 2016 sieben Angriffe auf Büros und Infostände Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie der Partei in Leipzig, Delitzsch und Naunhof bekannt zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, geworden. In einem besonders schweren Fall entstand volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus in Neukieritzsch bei einem nächtlichen Angriff auf den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pres- das Tagungsgebäude des Landesparteitags ein Sach- sehäusern prügeln.“[8] Die Äußerungen wurden von schaden von mehr als 250.000 Euro. n den Teilnehmenden der Kundgebung beklatscht. Der

73 RECHTE GEWALT

11. JANUAR 2016 - ANGRIFF AUF CONNEWITZ

Von Surina Kleinermann Baseballschläger, Holzlatten, Äxte und Hämmer mit. Während LEGIDA und PEGIDA gemeinsam durch das Leipziger Viele Angreifer trugen blau-gelbe Sturmhauben in den Zentrum marschieren, überfallen 250 Neonazis Geschäfte und Vereinsfarben des 1. FC Lokomotive Leipzig. Später Kneipen in Connewitz. fanden Anwohner u.a. Messer im Gebüsch. Für ihre nachlässige Beweissicherung wurde die Polizei später Von einem großen Polizeiaufgebot begleitet, beging kritisiert. Legida am 11. Januar 2016 ihr einjähriges Jubiläum. Das Dresdner Vorbild Pegida hatte an diesem Tag Im Oktober 2016 veröffentlichte die Leipziger Zeit- keine eigene Versammlung angemeldet, sondern nach schrift Kreuzer detaillierte Informationen über die Leipzig mobilisiert, wo ihre Führungspersonen Lutz vorläufig Festgenommenen. Demnach wohnen 172 der Bachmann und Siegfried Däbritz sich die Bühne u.a. Angreifer in Sachsen und 25 in Thürigen, die übrigen mit dem damaligen Legida-Kopf Markus Johnke und in Berlin, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Die dem Neonazi Hannes Ostendorf teilten. Ostendorf ist Sachsen kommen fast alle aus den Regionen Leipzig Sänger der Rechtsrockband Kategorie C und ein alter (126) und Dresden (45), darunter zahlreiche gewalt- Bekannter des Legida-Schatzmeisters und Rechtsan- tätige Neonazis und Fans der Fußballvereine Loko- walts Arndt Hohnstädter, welcher ihn 2011 vor Gericht motive Leipzig und Dynamo Dresden. 13 An- verteidigte. greifer werden der NPD zugeordnet, sechs der in der Fanszene Lok Leipzig aufgegangenen rechten Ult- Während rund 3.000 Anhänger der rassistischen Le- ragruppe Scenario Lok, weitere sechs der mutmaß- gida in der Innenstadt aufzogen, sammelten sich ge- lich kriminellen Vereinigung Faust des Ostens und waltbereite Neonazis in Seitenstraßen im links ge- fünf der Dynamo-Dresden-Fangruppe Dresden Ost. prägten Stadtteil Connewitz. Geschlossen und ruhig Personelle Überschneidungen bestehen mit den ver- zogen die rund 250 Personen zunächst zur Wolfgang- botenen Neonazi-KameradschaftenWeisse Wölfe Heinze-Straße, um dort wie auf Kommando Geschäfte Terrorcrew, Kameradschaft Tor Berlin und und Passant_innen anzugreifen. Der Mob verletzte Skinheads Sächsische Schweiz, der kriminellen drei Menschen, beschädigte 24 Geschäfte und verur- Vereinigung Hooligans Elbflorenz, der terrroris- sachte einen Sachschaden von mehreren zehntausend musverdächtigen Freitaler Bürgerwehr FTL/360 und Euro. Allein an einem Fastfood-Imbiss, der mutmaß- der Neonazipartei Die Rechte. lich aufgrund seines arabischen Namens zum Angriffs- ziel wurde, entstanden rund 30.000 Euro Schaden. Ein Bekannte Leipziger Neonazis beteiligt Sprengböller riss dort ein Loch in ein Metallwasch- becken und zerfetzte die Deckenverkleidung. Zudem Aus dem Raum Leipzig seien unter anderem die Neo- verursachte Leuchtspurmunition, die durch ein ge- nazikader David D. und Istvan R., die unter anderem öffnetes Fenster geschossen wurde, ein Feuer in einer im Freien Netz aktiv waren, unter den Randalierern Wohnung. Auch eine Buchhandlung geriet beinahe in gewesen. Mit Timo F., Markus K. und Christopher H. Brand. gehörten drei Mitglieder des von Benjamin Brinsa trai- nierten Imperium Fight Teams zu den Angreifern, Flucht in die Sackgasse weiterhin die langjährigen Hooligans Riccardo S. und Michael W. und die Nazischläger Ivo M. und Thomas Als nach wenigen Minuten die Polizei erschien, flüch- K. Auch Kevin D. sei unter den Festgesetzten gewesen. tete ein großer Teil der Nazis in die Auerbachstraße, Der Mittvierziger, der schon in den Neunziger Jahren wo sie von Polizisten eingekesselt, mit Kabelbindern als gewalttätiger Neonazi bekannt war, hatte am 19. gefesselt und in Gefangenentransportern zum Poli- Oktober 2015 am Leipziger Hauptbahnhof Antifa- zeirevier transportiert wurden. Die Gesetzeshüter er- schist_innen mit einem Messer angegriffen. fassten die Personalien von 215 Personen. Bei ihnen wurde neben einem offenbar zuvor in der Innenstadt Einige Täter kennen sich von früheren Neonazi-Akti- entwendeten Transparent der Legida-Gegendemonst- onen, was auf einen hohen Vernetzungsgrad der Szene ration „Leipzig bleibt helle“ auch Pyrotechnik sicherge- hindeutet. Zahlreiche Nazis taten noch am gleichen stellt. Augenzeugen zufolge führten die Neonazis auch Abend ihre Freude über den Angriff kund. „Conne-

74 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 photo: chronik.LE

Bewaffnete Neonazis aus ganz Ostdeutschland waren am Angriff auf Connewitzer Kneipen und Geschäfte beteiligt. Ein großer Teil der über 250 Angreifer konnte durch die Polizei festgesetzt werden. witz wird eben mit Kärcher gereinigt“ schrieb die NPD tierte Aktion geplant gewesen sei. Mit 40 bis 50 Neo- [1] vgl. Artikel zu Bettina Leipzig, die wenige Stunden zuvor noch ein tagesak- nazis aus Dresden, Leipzig und Halle habe man ei- Kudla in diesem Heft, S.60 tuelles internes Polizeidokument veröffentlicht hatte. gentlich mehrere Unterkünfte in Dresden angreifen „Frontstadt Leipzig in Nazihand“ twitterte ein NPD- wollen[2]. Auch im Umfeld von Legida fiel eine Per- [2] https://www.addn.me/ Anhänger. „Bitte objektiv bleiben! Es sind die Linksra- sonengruppe auf, die den gleichen Milieus entsprang nazis/bewaehrungsstrafen- dikalen!“ schrieb hingegen die CDU-Bundestagsabge- wie die Connewitz-Angreifer: Am 14. September 2015 fuer-rechte-schlaeger/ ordnete Bettina Kudla[1], die Nazigewalt relativierend. sammelten sich rund 150 Neonazis und rechte Hooli- Schon am Nachmittag hatten die Gruppierung Fan- gans in der Dessauer Straße, um von dort geschlossen [3] https://www.addn.me/ szene Lok Leipzig und die NPD-Kampagne „Bürger- und ohne nennenswerte Polizeibegleitung zum Le- nazis/statt-pegida-weih- initiative Gohlis sagt Nein“ bei Twitter gedroht, zwei gida-Startpunkt in der Innenstadt zu laufen. Eine nachtssingen-organisierter- antifaschistisch engagierte Politiker_innen und einen ähnliche Vorgehensweise wie in Connewitz erprobten naziangriff-in-der-neustadt/ NoLegida-Organisator vor ihren Haustüren zu über- Neonazis auch am 21. Dezember 2015 in Dresden. fallen. Während des Pegida-Aufmarschs in der Dresdner Neustadt sammelten sich rund 70 schwarz gekleidete, Höhepunkt organisierter Naziübergriffe vermummte und mit Schlagwerkzeugen bewaffnete Neonazis abseits des Aufzugs. Die meisten wurden Der Angriff auf Connewitz reiht sich ein in eine Serie frühzeitig von der Polizei gestellt, andere konnten in rechter Übergriffe zum Jahreswechsel in Leipzig. Im dem linksalternativen Stadtteil kurzzeitig ungestört November 2015 besprühten Vermummte die Wohn- agieren und dabei mindestens zwei Passant_innen ver- häuser von zwei vermeintlichen „Zecken“, in einem letzen.[3] Fall warfen sie Scheiben ein. Am 17. und 28. Dezember zündeten Unbekannte insgesamt 16 Wohnmobile und Ein Dreivierteljahr nach den Nazikrawallen in Con- Kleinbusse in den Stadtteilen Connewitz, Lindenau newitz sind die Angreifer nicht geläutert. Einige und Plagwitz an, deren Besitzer nach Polizeiangaben von ihnen gehörten am 25. September 2016 zu einer dem linken Spektrum zuzuordnen sind. Zu Silvester Gruppe rechter Lok-Leipzig-Hooligans, die in Gera hinterließen Nazis an mehreren Orten in Connewitz Fans des Lokalrivalen BSG Chemie Leipzig angreifen und der Südvorstadt Sprühereien: „Legida vs. Antifa. wollten. Die Thüringer Polizei setzte die Personen 100 gegen 100. Wann? Wo?“ Einen Tag vor dem Angriff an ihrem Zielort fest und stellte zahlreiche Teleskop- in Connewitz brannte schließlich in der Südvorstadt ein schlagstöcke und Messer sicher. Kampfsportstudio aus, das sich gegen Legida positio- niert hatte. Die Polizei geht von Brandstiftung aus. Gegen die Täter vom 11. Januar 2016 wird unterdessen Hinsichtlich der personellen Zusammensetzung und weiterhin wegen des Verdachts auf schweren Landfrie- des Vorgehens bestehen Parallelen zwischen dem An- densbruch ermittelt. Ob ihnen darüber hinaus kon- griff auf Connewitz und früheren Aktionen von Neo- krete Körperverletzungen und Sachbeschädigungen nazis, etwa dem Angriff auf eine Flüchtlingsunterkunft zugeordnet werden können, steht – auch angesichts in Dresden im August 2015. Gefasste Tatbeteiligte der nachlässigen Spurensicherung – in den Sternen. n sagten danach vor Gericht aus, dass die Tat als konzer-

75 RECHTE GEWALT alle photos: visual.change alle photos: DIE VERSCHWIEGENEN TOTEN Ein Beitrag zur Aufarbeitung rechter Gewalt im Landkreis Leipzig

Achmed Bachir LEIPZIG

von „Rassismus tötet!“-Leipzig & Initiativkreis Antirassismus Achmed Bachir wird nur 30 Jahre alt. Er In der Ausgabe Leipziger Zustände 2014 haben wir Rechercheergebnisse wird am 23. Oktober 1996 durch die zwei zu zehn Todesopfern rechter Gewalt in Leipzig vorgestellt. Klaus R., Horst K., Neonazis Daniel Z. und Norman E. vor Bernd Grigol, Achmed Bachir, Nuno Lourenço, Thomas K., Karl-Heinz Teich- einem Gemüsegeschäft auf der Karl-Lieb- mann und Kamal Kilade sowie Gerhard Sch. und Gerhard Helmut B. wurden knecht-Straße erstochen. ermordet, da sie nicht in das menschenverachtende Weltbild ihrer Täter Die beiden Neonazis fahren am Tattag stun- passten. Ihnen, aber auch jenen Todesopfern rechter Gewalt, die bisher unbe- denlang durch Leipzig und grölen dabei fa- kannt geblieben sind, vergessen und verschwiegenen werden, ist die Ausstel- schistische und rassistische Parolen. In der lung „Die verschwiegenen Toten – Opfer rechter Gewalt in Leipzig seit 1990“, Straßenbahn prahlen sie von ihrem Plan, gewidmet. Die Taten haben in allen Fällen homosexuellenfeindliche, sozialdar- einen „Moslem abzustechen“. Am Abend winistische oder rassistische Hintergründe bzw. richteten sie sich gegen Men- betreten sie das Gemüsegeschäft, in dem schen aufgrund ihres nicht-rechten Auftretens. Jedoch werden lediglich vier Achmed Bachir arbeitet. Sie bedrohen und der zehn Morde seitens der Bundesregierung in der Statistik rechtsmotivierter beleidigen die Verkäuferinnen auf rassis- Gewalttaten aufgeführt. Das verdeutlicht die Wichtigkeit und Notwendigkeit tische und sexistische Weise und drängen kritischer Intervention und Begleitung von rechtsmotivierten Straftaten. sie an die Wand. Achmed Bachir will seine Kolleginnen unterstützen und schafft es, Blick ins Dunkelfeld die Angreifer vor die Tür zu bewegen, als einer der beiden Neonazis auf Achmed Ba- Durch Fördermittel der Lokalen Partnerschaft für Demokratie im chir einsticht. Landkreis Leipzig konnte 2015 das Projekt „Blick ins Dunkelfeld. Beitrag Laut der Staatsanwaltschaft liegen „keine zur Aufarbeitung rechter Gewalt und Todesopfer rechter Gewalt im Land- Anhaltspunkte für einen fremdenfeindli- kreis Leipzig“ umgesetzt werden. Dieses ermöglichte Recherchen zu Todes- chen Hintergrund“ vor, vielmehr würde opfern rechter Gewalt im Landkreis Leipzig. Im Projekt wurden für den Land- es sich um eine „spontane Tat“ handeln. kreis Leipzig seit 1990 zwei Fälle von Todesopfern rechter Gewalt recherchiert, Auch Vertreter_innen der Stadt Leipzig Mario L. und Christel G. Letzterer der beiden Fälle ist als Verdachtsfall einzu- leugnen die rassistische Motivation der ordnen. So gibt es zwar Indizien, die eine rechte Tatmotivation nahelegen, die Täter. Der damalige Oberbürgermeister Belege für eine Einordnung als politisches Tötungsverbrechen reichen jedoch Hinrich Lehmann-Grube behauptet: „Ein nicht aus. rechtsextremes Potenzial ist mir hier nie Im Folgenden schildern wir die zwei im Landkreis Leipzig recherchierten begegnet“. Und Leipzigs Ausländerbeauf- Fälle. Zudem wurden in den Leipziger Zuständen 2014 versehentlich zwei tragter Stojan Gugutschow erklärt: „Es Texte nicht abgedruckt, was hiermit nachgeholt werden soll. Diese und alle an- hätte auch irgendeinen Deutschen treffen deren Fälle können nachgelesen werden auf der Projekt-Webseite können.“ Achmed Bachir wird seit Februar 2012 of- www.dieverschwiegenentoten.de fiziell als Todesopfer rechter Gewalt aner- kannt. n

76 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016

Nuno Lourenço LEIPZIG Mario L. GRIMMA Christel G. WURZEN

Nuno Lourenço wird nur 49 Jahre alt. Mario L. wird nur 15 Jahre alt. Am Abend In Bezug auf die rechte Tatmotivation Am 4. Juli 1998, seinem 49. Geburtstag, des 22. Dezember 1995 wird der Schüler handelt es sich um einen Verdachtsfall. wird er von acht Neonazis so stark miss- auf einem Schulhof in Grimma erstochen. handelt, dass er am 29. Dezember 1998 an Ronny K., der Mörder von Mario L., kauft Christel G. wird nur 64 Jahre alt. Sie wird den Folgen seiner schweren Verletzungen mit Freunden – alle werden nach Berichten am frühen Morgen des 30. Juni 2002 durch stirbt. der Lokalpresse der rechten Szene zuge- den Neonazi Patrick K. erstochen. Christel Nuno Lourenço hält sich in Gaschitz nahe ordnet – ein Messer, Pfefferspray und Bier. G. setzte sich für wohnungslose Menschen Markkleeberg auf, um als Zimmermann Nach einem Kneipenbesuch treffen sie auf ein. beim Bau des MDR-Geländes zu arbeiten. Mario L. sowie zwei seiner Freund_innen. Die 64-jährige Frau wird am Morgen des Nach einem verlorenen Spiel der Fußball- Sie folgen der Gruppe, um „mal auszupro- 30. Juni 2002 durch den Neonazis Pa- WM des deutschen gegen das kroatische bieren, wie das Reizgas wirkt.“ Auf einem trick K. erstochen. In der Lokalpresse kur- Team zieht eine Gruppe von acht Neonazis Schulhof greifen sie die Jugendlichen an. sierten zwei unterschiedliche Versionen mit Eisenketten bewaffnet los, um ihren Ronny K. sticht zweimal in das Bein von des Tathergangs, die eine Einordnung er- Frust über die „Niederlage“ an „Auslän- Mario L. Dieser will weglaufen, wird aber schwerten. Christel G. soll sich Patrick K. dern“ auszulassen. Als sie Nuno Lourenço von Ronny K. festgehalten und ins Herz in den Weg gestellt haben, als dieser ver- und seine Kollegen erblicken, greifen sie gestochen. Mario L. stirbt auf dem Weg ins suchte, einen jugendlichen Wohnungs- diese an und schreien: „Blöde Ausländer, Krankenhaus an seinen Verletzungen. Ein losen mit einer Axt anzugreifen. Patrick K. Scheiß-Ausländer, verpisst euch.“ Die Kol- Freund von Mario L. wird schwer verletzt gibt während der Vernehmung durch die legen von Nuno Lourenço können ent- ins Krankenhaus eingeliefert. Der dritte Ju- Polizei zu Protokoll, er habe aus „Wut“ ge- kommen, er wird jedoch so stark gewürgt, gendliche konnte unverletzt entkommen. handelt. Weitere Anhaltspunkte für ein dass er zu Boden geht. Dort liegend treten Bei diesem Mord deuten die Tatumstände menschenfeindliches Motiv liefern Taten, die Täter mehrmals mit Stahlkappen- auf eine rechte Tatmotivation hin. Dafür über die bereits im Vorfeld berichtet schuhen gegen seinen Kopf. greifen wir auf die Bezeichnung „Angst- wurde. So habe Patrick K. wenige Tage vor Das Landgericht Leipzig wertet die Tat le- zonen“ zurück, worunter Orte zu verstehen dem Mord die Wohnung eines Sozialhilfe- diglich als Körperverletzung mit Todes- sind, in denen – zu bestimmten Zeiten – empfängers zerstört. Kurz davor erpresste folge. Der Hauptangeklagte Andreas S., rechte Gruppen durch ihre Erscheinung, er von diesem Alkohol und zwang ihn, wird zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, ihr Auftreten und ihr Verhalten versu- den Bahnhofsvorplatz auf den Knien rut- die Mitangeklagten im Alter von 15 bis 20 chen, für andere Gruppen eine Zugangs- schend zu „reinigen“. Einen Monat zuvor Jahren erhalten Bewährungsstrafen. und Aufenthaltskontrolle zu praktizieren. beleidigte er mehrere Frauen auf rassisti- Der Vorsitzende Richter Norbert Göbel, Diese wird, wenn nötig, auch mit Gewalt sche Weise. Als eine der Frauen Patrick K. lässt die Witwe Noemia Lourenço auf den durchgesetzt. Mit dieser Demonstration zur Rede stellen will, greift er sie an und immensen Kosten der Nebenklage sitzen. von tatsächlicher oder vermeintlicher Ord- schlägt sie. Den Tätern hingegen werden die Prozess- nungskompetenz „auf der Straße“ wird der Der Oberstaatsanwalt Norbert Röger kosten nicht auferlegt und erst nach über- öffentliche Raum zeitweise oder dauerhaft schließt dennoch ein rechtes Tatmotiv aus. regionaler Berichterstattung erfolgt der in Zonen des Ausschlusses verwandelt. Im Mai 2003 verurteilt das Landgericht Haftantritt des Haupttäters, da der Richter Dadurch wird nicht allen Menschen ge- Leipzig Patrick K. zu einer Jugendstrafe „vergisst“, den Haftantrittstermin festzu- stattet, sich ungefährdet an solchen Orten von siebeneinhalb Jahren Haft wegen Tot- legen. zu bewegen. Der Begriff „Angstzone“ schlags an Christel G. und gefährlicher Nuno Lourenço wird erst zehn Jahre nach übernimmt die Perspektive derjenigen, die Körperverletzung an dem anderen Jugend- dem Mord offiziell als Todesopfer rechter mit unterschiedlichen, oftmals gewalttä- lichen. Ein politisches Tatmotiv themati- Gewalt anerkannt. n tigen Zugangsverweigerungen konfron- siert das Gericht nicht. n tiert sind. n

77 RECHTE GEWALT AUS DER EINE KURZE AUSWAHL AUS LEIPZIG & UMLAND CHRONIK 23. Oktober 2016 23. Juli 2016 24. Februar 2016 Unbekannte beschmierten mit einem Marker In einem Wurzener Supermarkt äußert sich Auf dem Baugelände der geplanten Moschee mehrere Straßenlaternen in der Dresdener eine Kundin zu der Kassiererin abwertend über der Ahmadiyya-Gemeinde in Leipzig-Gohlis Straße in Oschatz mit Hakenkreuzen und rech- drei ebenfalls anwesende Frauen mit Kopftuch. legen Unbekannte ein totes Ferkel mit der Auf- ten Sprüchen. Sie führt aus, dass es „immer mehr“ und „im- schrift „Mutti Merkel“ ab. mer schlimmer“ werden würde. Weiterhin 20. Oktober 2016 fordert sie eine Bombe einzusetzen, denn „da 13. Februar 2016 Mehrere Jugendliche werden auf dem Park- triffste immer die richtigen“. Die Kassiererin Eine Gedenktafel am ehemaligen Frauenkon- platz eines Supermarktes in Naunhof von einer stimmt mit einem Kopfnicken zu. zentrationslager in Leipzig-Schönau wird mit ihnen unbekannten Person belästigt. Der etwa Hakenkreuzen beschmiert. Zwanzigjährige beleidigte die Gruppe alter- 23. Juli 2016 nativer Jugendlicher zunächst rassistisch und Fünf Scheiben einer noch nicht bezugsfertigen 07. Februar 2016 schlägt dann einer Person ins Gesicht. Asylunterkunft in der Lindenthaler Straße in Die rassistische Initiative Unser Delitzsch Leipzig-Gohlis sind am Morgen des 23. Juli mit führt eine Demonstration mit 50 Personen 19. September 2016 Steinen eingeworfen worden. Der Schaden liegt durch. Zwei sich als Christen bekennende Men- Ein 27-Jähriger beleidigt ein Pärchen in der laut Polizei im unteren vierstelligen Bereich. schen, die sich mit deutlich sichtbaren Plakaten Leipziger Georg-Schumann-Straße. Dabei zeigt („Lasst euch nicht zum Hass verführen“, „Frie- er mehrmals den Hitlergruß und ruft neona- 14. Mai 2016 den beginnt mit Barmherzigkeit“) am Rande zistische Parolen. Dann greift er den Mann an, Vier Personen überfallen in Borna zwei Asyl- der Gruppe platzieren, werden von Neonazis stößt ihn zu Boden und würgte ihn, bis er blau suchende aus Pakistan. Einer der beiden wird bedrängt. Die anwesende Polizei muss die Situ- anläuft. Passanten kommen dem Angegriffe- durch Schläge und Tritte so stark verletzt, dass ation auflösen. nen zur Hilfe. Dieser erleidet Verletzungen im er ambulant in einer Klinik behandelt werden Gesicht und am Hals und muss ambulant be- muss. Zwei wenig später durch die Polizei aufge- 08. Januar 2016 handelt werden. griffene Angreifer sind bereits als politisch moti- Unbekannte bringen an der als temporäre Erst- vierte Straftäter aus der rechten Szene bekannt. aufnahmeeinrichtung genutzten Sporthalle 01. September 2016 der Ernst-Grube-Halle in Leipzig mehrere Eine Informationsveranstaltung zu einer ge- 09. April 2016 rassistische Graffiti an. Mit „Fuck Refugees! – planten Unterkunft für Asylsuchende im Leip- Ein 28-Jähriger beleidigt in der Nähe der Are- Verbrennt Sie!!!“ wird den in der Sporthalle un- ziger Stadtteil Meusdorf wird immer wieder na Leipzig Polizist_innen. Als diese versuch- tergebrachten Menschen der Tod gewünscht. durch hämisches Gelächter und Zwischenrufe ten seine Identität festzustellen, greift er die Weitere Parolen lauten „Scheiss Flüchtlinge“ von Zuhörer_innen unterbrochen. Mehrere Beamt_innen an und beißt einem Polizisten und „Verpisst euch“. Anwesende äußern sich in Redebeiträgen ras- in den Unterarm. Infolgedessen wird gegen sistisch, indem sie beispielsweise die „Unter- den Mann wegen Widerstands gegen Vollstre- 05. Januar 2016 werfung unter eine fremde Kultur“ und eine ckungsbeamte, Körperverletzung, Beleidigung Im Leipziger Studentenkeller (StuK) damit einhergehende „Entrechtung“ behaup- und Sachbeschädigung ermittelt. Er gibt jedoch hängt über der Bar ein Schild mit folgendem ten. Anwesende Antirassist_innen werden als an, die Strafbestände nicht anzuerkennen, da Angebot: „Für jede weiblich entblößte Brust „Kanacken“ beschimpft und es wird ihnen kör- er „Deutscher Reichsbürger“ und damit nicht spendiert das Team der Bar einen Schnaps gra- perliche Gewalt angedroht. Angehöriger der BRD sei, die er ebenso wenig tis!“ Besucher_innen machen das Barpersonal anerkenne. auf den sexistischen Inhalt des Schildes auf- 27. August 2016 merksam. Diese weisen die Kritik zunächst von Unbekannte zerstören in der Nacht von Freitag 03. März 2016 sich. Erst nachdem sich eine Vielzahl an Perso- zu Samstag mehrere Scheiben des Kultur- und Unbekannte verüben einen Anschlag auf ein nen in die Diskussion einmischt, entfernten sie Bürger_innenzentrums D5 in Wurzen. Dabei Deutsch-Arabisches Kultur- und Bildungszen- das Schild. werden Böller verwendet. Im D5 hat unter an- trum in Borna. Die Täter_innen schmeißen die derem ein Verein seinen Sitz, der sich für die Scheiben mit Steinen ein und werfen vermut- Stärkung demokratischer Kultur im Landkreis lich mit Blut oder einer blutähnlichen Flüssig- einsetzt. keit gefüllte Beutel in den Raum.

78 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016

08. November 2015 29. Juni 2015 ter eingeworfen. Einen Tag später beschmieren Unbekannte verüben einen Brandanschlag auf Bei einem Aufmarsch von Legida ziehen ca. Unbekannte zusätzlich die Fassade des Hauses eine geplante Unterkunft für Asylsuchende in 150 Personen durch Borna. Unter den De- großflächig mit rassistischen Parolen („Auslän- Beucha. Die Täter_innen zerstören eine Schei- monstranten sollen sich Augenzeug_innen zu- der raus!“) und einem seitenverkehrten Haken- be und werfen einen Brandsatz in das Gebäude folge auffällig viele Neonazis befunden haben. kreuz. in der Albert-Kuntz-Straße. Es entsteht jedoch 200 Gegendemonstrant_innen stellten sich nur ein Schwelbrand, der von selbst wieder er- dem rassistischen Protest entgegen. 02. März 2015 lischt. Nachdem ein Journalist einen Kommentar auf 22. Juni 2015 der Facebook-Seite von Legida hinterlassen 06. November 2015 Bei einem Aufmarsch von Legida sind ca. 60 hat, bekommt sein Arbeitgeber eine Droh- In Schkeuditz kommt es am Freitagabend zu Personen durch Eilenburg gezogen. Angemel- Email. In dieser wird er aufgefordert „seine einem Brand in einem leer stehenden Gebäu- det war der Aufzug ursprünglich für 400 Teil- linke Kommunisten-Dreckschnauze zu halten! de, welches als Unterkunft für Asylsuchende im nehmende. 100 Gegendemonstrant_innen be- Sonst braucht er selbst bald einen Rollstuhl!“ Gespräch ist. Obwohl die Feuerwehr den Brand gleiteten den rassistischen Aufmarsch. Zudem stehe er „auf der Liste der Vaterlands- rasch löschen kann, wird der Dachstuhl des verräter“. Gebäudes stark beschädigt. Die Polizei geht von 10. Mai 2015 Brandstiftung aus. Bei den Dreharbeiten zum Film „Der Schwarze 01. Februar 2015 Nazi“ werden Mitglieder der Filmgruppe Cine- Während des Gedenkspiels für den verstor- 18. Oktober 2015 ma Abstruso auf offener Straße von mehreren benen Marco Eckstein, einst Torwart des FC Im Leipziger Stadtteil Mockau soll mit einer Neonazis bedroht. Sachsen Leipzig, zwischen Chemie Leipzig „Zeltstadt“ eine weitere Flüchtlingsunterkunft und einer Auswahl ehemaliger FC-Sachsen- entstehen. Die ersten Geflüchteten sollen am 18. 02. Mai 2016 Teamkollegen Ecksteins, kommt es zum Ab- Oktober einziehen. Empfangen werden sie von Unbekannte überkleben die Stolpersteine, singen des antisemitischen, sogenannten „U- ca. 30 Neonazis aus dem Umfeld der NPD/JN, welche in Frohburg an Hugo Joseph sowie das Bahn-Liedes“. In diesem wird gefordert eine die versuchen, die Ankunft von Bussen mit Ge- Ehepaar Franz Hermann und Erna Johanna U-Bahn von Stadt XY ins Konzentrations- und flüchteten durch eine Sitzblockade zu behindern. Braunsberg erinnern sollen, mit Moosgummi. Vernichtungslager Auschwitz zu bauen. Die Steine wurden erst im März 2015 verlegt 16. September 2015 und seitdem bereits zweimal beschädigt. 11. Januar 2015 Bei einer Bürgerversammlung in Borsdorf kün- Eine größere Gruppe junger Männer beleidigt digt der Bürgermeister Ludwig Martin (CDU) 13. April 2015 und bedrängt in einem Nachtbus vier Frauen. an, dass bis zu 100 Geflüchtete in der Gemeinde LVZ-Online berichtet über das Leipziger Diese werden mit homosexuellenfeindlichen untergebracht werden sollen. Im Publikum be- Frauenfestival, welches in Leipzig stattfin- und sexistischen Beleidigungen wie „Lesben- finden sich zahlreiche Neonazis aus der Region, den soll. In der Kommentarspalte sammeln sich Fotzen“ konfrontiert. Nach einem Handge- die offenbar gezielt stören und die Stimmung schnell allerlei sexistische und frauenverachten- menge flüchtet einer der Angreifer. Die verblie- aufheizen wollen. Ein ehemaliger Borsdorfer de Kommentare, welche nicht nur die Idee des benen Männer drohen den Frauen: „Wenn ihr NPD-Stadtrat versucht am Ende der Veranstal- Festivals höchst unsachlich kritisieren, sondern aussteigt, dann kriegen wir euch, ihr Fotzen.“ tung ein rohes Ei auf Bürgermeister Martin zu auch Frauen insgesamt abwerten. Die Rede ist Nachdem sich weitere Personen, darunter der werfen. Er verfehlt diesen knapp und wird vom von „Schwachsinn“, „verklemmten Emanzen“ Fahrer, einmischen, verlässt die Männergruppe ebenfalls anwesenden Leipziger Polizeipräsi- oder absurde Anspielungen auf weibliche Kör- den Bus. denten Bernd Merbitz persönlich aus dem Saal perfunktionen. Keinen Platz in der Debatte fin- geführt. den tatsächliche strukturelle Benachteiligungen von Frauen, welche Anlass und Hintergrund 28. August 2015 der Idee des „Frauenfestivals“ sind. Vier in Wurzen untergebrachte Geflüchtete aus Albanien werden in ihrer Wohnung in der 20. März 2015 Goethestraße von Neonazis, welche ebenfalls Unbekannte verüben einen Anschlag auf die im Haus wohnen bzw. zu Besuch sind, einge- Geschäftsstelle derLeipziger Volkszeitung. sperrt, indem die Wohnungstür von außen Die Täter_innen beschmieren kurz nach Mit- Weitere und ausführlichere Ereignismeldungen: verschraubt wird. Die Eingeschlossenen be- ternacht die Fassade mit einer bräunlichen nachrichtigten die Polizei, die sie nach rund vier Flüssigkeit, werfen Scheiben mit fünf großen www.chronikLE.org Stunden befreit und eine Anzeigen aufnimmt. Steinen ein und hinterlassen an der Eingangs- tür sowie einem Fenster den Schriftzug „Lügen- Ereignisse melden! 11. Juli 2015 presse“. Sie haben einen Fall von Diskriminie- Unbekannte Täter_innen schießen in Böhlen rung, (Alltags-)Rassismus oder Neona- auf eine Unterkunft für Geflüchtete. Durch das 04. März 2015 zi-Aktivitäten beobachtet oder sind gar Geschoss wird eine Fensterscheibe zerstört und In Mügeln wird bei einer Wohnung, in welcher selbst betroffen? Dann wenden Sie sich die Fassade beschädigt, aber niemand verletzt. Asylsuchende leben, mit einem Stein ein Fens- vertrauensvoll an uns auf der Webseite: www.chronikle.org/ereignismelden

79 photo: Flickr dsa66503 CC BY-NC-SA 2.0

06 KAPITEL SERVICE

80 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016

EMPFEHLUNGEN

FILM – Der Schwarze Nazi photo:Cinema Abstruso

Der Protagonist der Groteske DER SCHWARZE NAZI ist der Kongolese Sikumoya, welcher in Sach- sen lebt. Vor Jahren kam er als politischer Flüchtling nach Deutschland und muss nun die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen, ansonsten droht ihm die Ausweisung.

Von Goethe, Schiller und anderen kulturellen Werken angetan, zeigt er sich aufge- schlossen für die Kultur, die ihn umgibt. Immer wieder sieht er sich jedoch mit Ras- sismus und Vorurteilen konfrontiert: Im Einbürgerungskurs, bei der Familie seiner deutschen Freundin, auf der Straße in seiner Nachbarschaft. Als Reaktion darauf be- ginnt er sich immer stärker an die geforderte „deutsche Kultur“ anzupassen. Er versucht durch Sprachtraining seinen Akzent loszuwerden oder deutsches Pils zu Volksmusik zu genießen. Allein, all seine Bemühungen helfen nichts gegen den Alltagsrassismus, der ihm weiterhin entgegen gebracht wird. Nach einem gewaltvollen Übergriff durch eine Nazikameradschaft landet Sikumoya schließlich im Krankenhaus und erwacht aus dem Koma als völlig neuer Mensch: Er ist nun der „perfekte Deutsche“. Fortan engagiert er sich bei der NPO (Nationale Patrioten Ost). Er kämpft gegen asiatische Bekleidung, amerikanische Handys, gegen den „undeutschen“ sächsischen Akzent. Schließlich wird er sogar für das Amt des Parteichefs vorgeschlagen, da er erfolgreich alle Nazis von rechts überholt. Dadurch und mit dem Ausschluss einzelner „Undeutscher“ macht er sich jedoch nicht bei allen in der Partei beliebt ... Die Produktion der Leipziger Filmgruppe Cinema Abstruso, die im April 2016 in die deutschen Kinos kam, wird zum Jahresende Auf zynische Weise greift der Film Rassismus und die Bilder des „Fremden“ bzw. 2016 als DVD erscheinen und kann in aus- „Deutschen“ auf. Gerade vor dem Kontext aktueller (ost-)deutscher Zustände gewinnt gewählten Läden und im Internet erworben er an Brisanz und fragt humorvoll danach, wie die vielbeschworene „Integration von werden unter: www.derschwarzenazi.de Geflüchteten“ denn nun eigentlich funktionieren soll. photo:Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen

BROSCHÜRE - Viele Kämpfe und vielleicht einige Siege.

Texte über Antiromaismus und historische Lokalrecherchen zu und von Rom_nja und Sint_ezze in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Tschechien.

Der Sammelband „Viele Kämpfe und vielleicht einige Siege“ versammelt Aufsätze von Autor_innen aus Aktivismus und Selbstorganisierung, Wissenschaftler_innen, poli- tische Bildner_innen, Künstler_innen, Community-Arbeiter_innen und politische Kämpfer_innen. Es ist ein Übersichtswerk, das ausgehend vom so gut wie nicht be- schriebenen weißen Papier der Geschichte der Rom_nja und Sint_ezze, deren Ver- folgung in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Tschechien (in deutscher Sprache) einen Lücke füllen möchte. Die Herausgeberinnen haben sich sich auf die Suche begeben und Autor_innen gewinnen können, die den Leser_innen in ihre wissenschaftliche Ar- beit, ihren Aktivismus oder ihre Lebensrealitäten Einblick geben. Die lokalen Beiträge wurden mit Stimmen überregionaler Autor_innen erweitert, um ein breiteres Bild von Rom_nja- und Sint_ezze-Aktivismus aufzuzeigen. Herausgegeben von Kathrin Krahl und Antje Meichsner im Projekt RomaRespekt Der Sammelband gliedert sich in folgende Kapitel: Einleitung – Aktivismus: Wut und von Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Organisation – Geschichte: Verfolgung und Kontinuität – Gegenwart: Gewalterfah- Sachsen. Einen Download des Sammel- rungen und Widerstand – Kunst: Musik und Arbeit – Bildung: Verstrickungen und bands gibt es unter: www.weiterdenken.de Anregungen.

81 SERVICE BERATUNG – BILDUNG – ENGAGEMENT ANLAUFSTELLEN FÜR LEIPZIG UND UMGEBUNG

RAA - Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt

Die Opferberatung des RAA berät und unterstützt Betroffene Kontakt: rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt und Diskriminierung, Opferberatung RAA Leipzig & RAA Sachsen deren Angehörige sowie Zeug_innen. Die Beratung richtet sich Peterssteinweg 3 nach den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen und ist 04107 Leipzig nicht an die Erstattung einer Anzeige geknüpft. Die Beratung ist vertraulich, kostenlos und auf Wunsch mehrsprachig. Sie kann in Web: www.raa-sachsen.de der Umgebung der Geschädigten stattfinden. Weiterhin möchten E-Mail: [email protected] wir für die Situation von Betroffenen rechtsmotivierter Gewalt eine Telefon: 0341 - 225 49 57 & 0341 - 261 86 47 Lobby schaffen und gesellschaftliche Zusammenhänge aufzeigen.

Antidiskriminierungsbüro Sachsen e.V.

Das ADB ist eine unabhängige Beratungs- und Informationsstel- Kontakt: le sowie ein Weiterbildungsträger für alle Fragen zum Themen- Antidiskriminierungsbüro Sachsen e.V. bereich Diskriminierung und Gleichbehandlung. Das ADB bietet Kochstraße 14 Beratung für Betroffene von Diskriminierung - diese ist vertraulich 04275 Leipzig und für Betroffene kostenlos. Außerdem Seminare und Workshops zu diskriminierungsrelevanten Themen und zum Allgemeinen Web: www.adb-sachsen.de Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sowie Informationen zum The- E-Mail: [email protected] menbereich Diskriminierung und Teilhabe und Diskussionsveran- Telefon: 0341- 30 39 492 staltungen, Filmreihen und Tagungen.

Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus und für Demokratie

Die Mobilen Beratungsteams des Kulturbüros Sachsen e.V. beraten Kontakt: Kommunen, Verwaltung, Kommunalpolitik, Kirchgemeinden, Ver- Mobile Beratung eine, Initiativen und andere Gruppen in der Auseinandersetzung Hedwigstraße 20 mit Rechtsextremismus. Ziel ist die Entwicklung einer menschen- 04315 Leipzig rechtsorientierten Demokratie, die von den Akteur_innen vor Ort getragen wird. Die Berater_innen des Kulturbüro Sachsen e.V. in Web: www.kulturbuero-sachsen.de den Regionalbüros verfügen über umfassende Regionalkenntnis E-Mail: [email protected] und langjährige Praxiserfahrung. Telefon: 0341- 25 66 8000

Fachstelle Asyl und Migration

Das Projekt Support für Initiative in der Fachstelle Asyl und Mi- Kontakt: gration des Kulturbüro Sachsen e.V. richtet sich sachsenweit an Fachstelle Asyl und Migration Menschen, die sich ehrenamtlich in ihrer Gemeinde oder Stadt Bautzner Straße 20 mit geflüchteten Menschen solidarisieren wollen und ihnen ihre 01099 Dresden Unterstützung anbieten wollen. In Kooperation mit Partner_innen wie beispielsweise Kirchen, demokratischen Initiativen und Verei- Web: www.kulturbuero-sachsen.de nen, Verwaltung und Politik bietet das Projekt vor Ort Unterstüt- E-Mail: [email protected] zung für ehrenamtlich Engagierte an. Telefon: 0351 - 810 696 81

Netzwerk Tolerantes Sachsen

Das Netzwerk Tolerantes Sachsen ist eine Plattform von etwa 100 Kontakt: sächsischen Initiativen, Vereinen und Organisationen, die sich seit Netzwerk Tolerantes Sachsen vielen Jahren für die Förderung demokratischer Kultur und gegen Domplatz 5 Einstellungen der Ungleichwertigkeit, Antisemitismus und Rassis- 04808 Wurzen mus einsetzen. Das Netzwerk vernetzt, informiert, unterstützt die Mitglieder durch Fortbildung, Beratung und regelmäßige Konfe- Web: www.tolerantes-sachsen.de renzen – regional und sachsenweit. Ihre Belange vertritt es gegen- E-Mail: [email protected] über Politik und Verwaltung. Telefon: 0178 - 54 45 807 82 LEIPZIGER ZUSTÄNDE 2016 RosaLinde Leipzig e.V.

Der RosaLinde Leipzig e.V. ist ein soziokulturelles Zentrum im Leip- Kontakt: ziger Osten. Der Verein setzt sich seit 1989 gegen Diskriminierun- RosaLinde Leizig e.V. gen wie Homo- und Transphobie, aber auch gegen Sexismus und Lange Str. 11 Rassismus ein, thematisiert die Probleme von z.B. Lesben, Schwu- 04103 Leipzig len, Bi-, Trans-, Inter- und Asexuellen und kämpft für ihre Rechte. RosaLinde bietet außerdem Begegnung, Bildung, Beratung und Web: www.rosalinde-leipzig.de Kultur für homo-, bi- und asexuelle sowie trans- und interge- E-Mail: [email protected] schlechtliche Menschen. Telefon: 0341 - 87 90 173

Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. (NDK)

Die Arbeit des NDK zielt seit 1999 auf eine Stärkung der demo- Kontakt: kratischen Kultur ab. Es bietet Unterstützung und Vernetzung im Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. Kampf gegen Neonazismus, Rassismus, Antisemitismus und Dis- Domplatz 5 kriminierung in Wurzen und Umgebung an und schafft mit dem 04808 Wurzen Kultur- und Bürger_innenzentrum D5 Platz für Veranstaltungen und Projekte. In naher Zukunft entsteht zudem ein Tagungshaus Web: www.ndk-wurzen.de mit Übernachtungsmöglichkeiten. Das NDK setzt sich für die Un- E-Mail: [email protected] terstützung von Asylsuchenden ein und bietet dazu Vernetzung Telefon: 03425 - 85 27 10 und individuelle Hilfe an.

Bon Courage e.V.

Bon Courage e.V. ist eine gemeinnützige, nicht-staatliche Organi- Kontakt: sation. Der Verein organisiert Projekte für Asylsuchende und hat Bon Courage e.V. seit 2013 eine Beratungsstelle. Die Beratung ist ein kostenloses Kirchstraße 20-24 Unterstützungsangebot für Geflüchtete bei Fragen zum Ablauf 04552 Borna des Dublin-/Asylverfahrens, Rechte/Pflichten, Perspektiven nach Asyl-Entscheidung und Familiennachzug. Er unterstützt im Um- Website: www.boncourage.de gang mit Behörden, vermittelt an Ärzt_innen, Anwält_innen und Email: [email protected] Beratungsstellen und bereitet auf Anhörungen beim BAMF vor. Telefon: 0157 - 75 176 855

Netzwerk für Demokratie und Courage (NDC)

Das Netzwerk für Demokratie und Courage in Sachsen bietet Pro- Kontakt: jekttage und Workshops für Jugendliche ab 14 Jahren und junge Courage-Werkstatt für demokratische Bil- Erwachsene an. Für Multiplikator_innen bieten wir Fortbildungen dungsarbeit e.V. an. Wir arbeiten zu den Themen Diskriminierung, menschenver- Rosa-Luxemburg-Straße 19/21 achtende Einstellungen und couragiertes Handeln dagegen. Die 04103 Leipzig Bildungsveranstaltungen können an Schulen, Jugendclubs oder in anderen Zusammenhängen bei uns gebucht werden und sind Web: www.netzwerk-courage.de kostenfrei. E-Mail: [email protected] Telefon: 0341 - 33 73 497 Medinetz Leipzig Kontakt: Medinetz Leipzig e.V. vermittelt kostenlos und anonym medizini- Medinetz Leipzig e.V. sche Beratung und Behandlung für Migrant_innen - unabhängig Peterssteinweg 3 von deren Aufenthaltsstatus. 04107 Leipzig Die Sprechstunde findet dienstags von 16.00 bis 18.00 Uhr statt, in den Räumlichkeiten des RAA Sachsen e.V., Peterssteinweg 3. In Web: www.medinetz-leipzig.de dringenden Fällen ist jederzeit das Diensthandy erreichbar. E-Mail: [email protected] Medinetz Leipzig e.V. setzt sich neben der Vermittlungsarbeit da- PGP-ID: D66B494D für ein, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben, gesund Telefon: 0341 - 12 59 841 zu bleiben oder es wieder zu werden. Mobil: 0176 - 61 72 75 01

83 ISSN 2191-3501

TEXT 2016 DEZ LEIPZIGER ZUSTÄNDE LEIPZIGER ZUSTÄNDE www.chronikLE.org