Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 17/196

Deutscher

Stenografischer Bericht

196. Sitzung

Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Inhalt:

Absetzung des Zusatztagesordnungspunk- Dr. (DIE LINKE) ...... 23666 A tes 10 ...... 23653 A Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23667 A Tagesordnungspunkt 41: Erwin Rüddel (CDU/CSU) ...... 23667 D a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. (SPD) ...... 23669 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Verbesserung der Rechte von (CDU/CSU) ...... 23671 A Patientinnen und Patienten (Drucksache 17/10488) ...... 23653 B Tagesordnungspunkt 42: b) Antrag der Abgeordneten , Dr. Martina Bunge, Katrin Kunert, weite- a) Erste Beratung des von der Fraktion der rer Abgeordneter und der Fraktion DIE SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Aufnahme von Kultur und LINKE: Mehr Rechte für Patientinnen und Patienten Sport in das Grundgesetz (Drucksache 17/6489) ...... 23653 B (Drucksache 17/10644) ...... 23672 C c) Antrag der Abgeordneten Maria Klein- b) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Schmeink, Ingrid Hönlinger, , Dr. , , weiterer weiterer Abgeordneter und der Fraktion Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Förderung des Sports ist BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte von Patientinnen und Patienten durch- Aufgabe des Staates setzen (Drucksache 17/6152) ...... 23672 C (Drucksache 17/6348) ...... 23653 C c) Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia , Bundesminister Jochimsen, Jan Korte, , wei- BMG ...... 23653 D terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kultur gut stärken – Staatsziel Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 23655 D Kultur im Grundgesetz verankern (Drucksache 17/10785 (neu)) ...... 23672 D Wolfgang Zöller (CDU/CSU) ...... 23657 A Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) ...... 23673 A (DIE LINKE) ...... 23658 D Dr. (CDU/CSU) ...... 23673 C Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23660 B Katrin Kunert (DIE LINKE) ...... 23674 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. (FDP) ...... 23675 D Bundesministerin BMJ ...... 23661 C Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) ...... 23676 A Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 23662 D (BÜNDNIS 90/ Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) ...... 23664 C DIE GRÜNEN) ...... 23676 D II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Dr. , Parl. Staatssekretär Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ BMI ...... 23677 D DIE GRÜNEN) ...... 23705 C Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) ...... 23678 C Norbert Schindler (CDU/CSU) ...... 23706 C Siegmund Ehrmann (SPD) ...... 23679 D Gabriele Groneberg (SPD) ...... 23708 A Reiner Deutschmann (FDP) ...... 23680 D Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) ...... 23681 C Tagesordnungspunkt 13: (BÜNDNIS 90/ a) Erste Beratung des von der Bundesregie- DIE GRÜNEN) ...... 23682 B rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- ten Gesetzes zur Änderung des Tier- (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 23683 B schutzgesetzes (SPD) ...... 23684 D (Drucksache 17/10572) ...... 23709 A Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 23686 A b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über den Stand der Entwick- Jens Petermann (DIE LINKE) ...... 23686 D lung des Tierschutzes 2011 (Tierschutz- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . 23687 B bericht 2011) (Drucksache 17/6826) ...... 23709 A c) Antrag der Abgeordneten Alexander Tagesordnungspunkt 43: Süßmair, Dr. , Dr. Dietmar Erste Beratung des von der Bundesregierung Bartsch, weiterer Abgeordneter und der eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fraktion DIE LINKE: Landwirtschaftli- Änderung des Zwölften Buches Sozialge- che Nutztierhaltung tierschutzgerecht, setzbuch sozial und ökologisch gestalten (Drucksache 17/10748) ...... 23689 C (Drucksache 17/10694) ...... 23709 A Dr. , Parl. Staatssekretär , Parl. Staatssekretär BMAS ...... 23689 C BMELV ...... 23709 B Bernd Scheelen (SPD) ...... 23690 D Heinz Paula (SPD) ...... 23710 D (FDP) ...... 23692 C Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 23712 B Katrin Kunert (DIE LINKE) ...... 23694 A Alexander Süßmair (DIE LINKE) ...... 23713 D

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23695 C DIE GRÜNEN) ...... 23714 C (CDU/CSU) ...... 23696 D (CDU/CSU) ...... 23715 C Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 23697 D (CDU/CSU) ...... 23699 A Tagesordnungspunkt 46: Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- DIE GRÜNEN) ...... 23699 D schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Tagesordnungspunkt 44: Joachim Hacker, , Antrag der Abgeordneten , Heinz Paula, weiterer Abgeordneter und Eva Bulling-Schröter, Dr. Kirsten Tackmann, der Fraktion der SPD: Flugzeugbesatzun- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE gen und Reisende vor kontaminierter LINKE: Teller statt Tank – EU-Importver- Kabinenluft schützen bot für Kraft- und Brennstoffe aus Bio- – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus masse Tressel, , , (Drucksache 17/10683) ...... 23700 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kontami- Niema Movassat (DIE LINKE) ...... 23701 A nierte Kabinenluft in Flugzeugen unter- (CDU/CSU) ...... 23701 D binden Dr. (SPD) ...... 23703 B (Drucksachen 17/7611, 17/7480, 17/9451) . . 23717 A Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) ...... 23704 B Peter Wichtel (CDU/CSU) ...... 23717 B Niema Movassat (DIE LINKE) ...... 23705 B Hans-Joachim Hacker (SPD) ...... 23718 B Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) ...... 23705 C Torsten Staffeldt (FDP) ...... 23720 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 III

Thomas Lutze (DIE LINKE) ...... 23722 A Anlage 2 (BÜNDNIS 90/ Antwort der Parl. Staatssekretärin Katherina DIE GRÜNEN) ...... 23722 D Reiche auf die Frage 14 des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Torsten Staffeldt (FDP) ...... 23723 C NEN): Zeitpunkt des Beginns der Energie- (CDU/CSU) ...... 23724 D wende und Festhalten am Ziel des Ausbaus der erneuerbaren Energien im Stromsektor bis 2020 auf 40 Prozent (194. Sitzung, Drucksa- Nächste Sitzung ...... 23726 C che 17/10736) ...... 23727 D

Anlage 1 Anlage 3 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 23727 A Amtliche Mitteilungen ...... 23728 A

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(A) (C)

196. Sitzung

Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria begrüße Sie herzlich. Ich freue mich über die erkennbar Klein-Schmeink, Ingrid Hönlinger, Fritz Kuhn, gute Laune. Sie könnte damit zusammenhängen, dass der weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- von der Fraktion Die Linke beantragte Zusatzpunkt 10, NIS 90/DIE GRÜNEN Aktuelle Stunde mit dem Titel „Konsequenzen aus dem Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts“, jeden- Rechte von Patientinnen und Patienten durch- falls für heute abgesetzt wird. setzen (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah! – – Drucksache 17/6348 – Oh! – Rainer Brüderle [FDP]: Das interessiert Überweisungsvorschlag: die doch gar nicht mehr!) Ausschuss für Gesundheit (f) (B) Rechtsausschuss (D) – Ich hoffe, dass die Protokollführer alle Ahs und Ohs Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und personengenau im Protokoll erfassen werden. – Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Da bitte ich drum!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dauer von 90 Minuten vorgesehen. – Jedenfalls stelle ich zu der Absetzung dieses Tagesord- Auch das ist offensichtlich einvernehmlich. Dann kön- nungspunktes ein ziemlich breites Einvernehmen fest. nen wir so verfahren. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 41 a bis 41 c Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- auf: nächst dem Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- serung der Rechte von Patientinnen und Pa- Daniel Bahr, Bundesminister für Gesundheit: tienten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das – Drucksache 17/10488 – deutsche Gesundheitswesen ist deshalb so leistungsfä- Überweisungsvorschlag: hig, weil sich die Patientinnen und Patienten auf ein be- Ausschuss für Gesundheit (f) sonderes Vertrauensverhältnis zum Arzt, zur Ärztin ihrer Rechtsausschuss Wahl verlassen können. Diese Bundesregierung will das Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis auch durch Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales dieses Patientenrechtegesetz weiter stärken. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin Der Arzt schuldet eine Behandlung nach den Regeln Vogler, Dr. Martina Bunge, Katrin Kunert, weite- der ärztlichen Kunst. Er muss sich fortbilden, um sein rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wissen auf dem neuesten Stand zu halten. Er muss auch seine Grenzen kennen. Das heißt, wenn er nicht weiter- Mehr Rechte für Patientinnen und Patienten weiß, muss der Arzt die Patienten zu einem Spezialisten – Drucksache 17/6489 – weiterverweisen. Dabei können täglich Fehler passieren, wenn Ärztinnen und Ärzte handeln. Bei Verdacht auf Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Krebs wird das Gewebe vielleicht nicht zu einer Unter- Rechtsausschuss suchung eingeschickt, ein Röntgenbild wird falsch ge- 23654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Bundesminister Daniel Bahr (A) deutet. Kann ein Verdacht auf eine Blinddarmentzün- Leistungsansprüchen nicht rechtzeitig entscheidet. Wenn (C) dung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, so ist also eine Krankenkasse nicht innerhalb einer Frist, die das Hinauszögern einer Operation ein Behandlungsfeh- ihr der Patient gesetzt hat, entschieden hat, dann kann ler. Oder: Das falsche Knie wird operiert, eine Klemme die Patientin oder der Patient diese Leistung auf dem wird bei einer Operation im Bauch vergessen, das Lö- Wege der Kostenerstattung in Anspruch nehmen. Das sungsmittel bei der Anästhesie wird verwechselt. All das heißt, hier stärken wir auch die Rechte der Patientinnen sind Fehler, die Ärztinnen und Ärzten schon passiert und Patienten gegenüber ihrer Krankenkasse. Denn häu- sind. Das Patientenrechtegesetz, das die Bundesregie- fig hören wir davon, dass Patientinnen und Patienten rung dem Deutschen Bundestag heute vorlegt, wird dazu verärgert sind, weil die Krankenkasse nicht rechtzeitig beitragen, Fehler im ärztlichen Verhalten künftig besser entschieden hat und sie hingehalten werden. Auch hier zu vermeiden. Das ist im Interesse der Patientinnen und müssen die Patientenrechte gestärkt werden, damit Pa- Patienten in Deutschland und im Interesse eines vertrau- tienten endlich die Leistungen bekommen, die sie für die ensvollen Verhältnisses von Arzt und Patient. Behandlung dringend brauchen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jahrelang wurde in Deutschland ein Patientenrechte- Unser Leitbild ist der mündige Patient, der seine gesetz diskutiert. Schon Vorgängerregierungen haben Rechte kennt, der dem Arzt kompetent gegenübertritt sich mit den Patientenrechten beschäftigt und diskutiert, und der mit dem Arzt über seine Behandlung spricht. ob ein Patientenrechtegesetz auf den Weg gebracht wer- Deswegen regelt das Patientenrechtegesetz auch, dass den soll. Die SPD-Justizministerin Frau Zypries, die der Patient künftig Einblick in die Patientenakte hat, um SPD-Gesundheitsministerin haben etwas beispielsweise bei Verdacht auf Fehler zu sehen, was der für die Patientenrechte in Deutschland getan: Sie haben Arzt gemacht hat. in den letzten Legislaturperioden eine Broschüre vorge- legt. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat jetzt schon Ansprüche ge- ( [FDP]: Was?) genüber dem Arzt!) Eine FDP-Justizministerin, ein FDP-Gesundheitsminis- Es soll darüber gesprochen werden, wie die Behand- ter in dieser schwarz-gelben Bundesregierung legen den lung aussieht, welche Risiken die Behandlung birgt und Patientinnen und Patienten in Deutschland nicht weiter welche Folgen die Behandlung hat. Zum Beispiel sehen nur Broschüren vor, wir bei individuellen Gesundheitsleistungen nun vor, dass der Arzt auch darauf hinweisen muss, dass Kosten (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: entstehen können. Er soll diese Kosten beziffern und (B) Richtig!) (D) auch darauf aufmerksam machen, dass die Kosten einer sondern sie legen ihnen ein Gesetz vor, damit den Pa- individuellen Gesundheitsleistung von der gesetzlichen tientinnen und Patienten endlich transparent gemacht Krankenkasse nicht ausreichend getragen werden, son- wird, dass sie Rechte und Pflichten haben. dern dass der Patient selbst Kosten tragen muss. Dies soll dazu dienen, dass der mündige Patient die Informa- (Petra Ernstberger [SPD]: Aber halbherzig!) tionen hat und selbst entscheiden kann, welche Leistung Dieses Gesetz bündelt die Rechte für die Patienten, da- er in Anspruch nimmt. mit sie den Ärzten auf Augenhöhe gegenübertreten kön- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen. Es wird über die Frage diskutiert, wie Patienten ihre (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rechte geltend machen können. Dieses Gesetz sieht erst- Dieses Gesetz stärkt die Patienten; denn erstmals wird mals vor, dass bei groben Behandlungsfehlern nicht der klar geregelt, dass Patienten bei Verdacht auf Fehler die Patient dem Arzt den Fehler nachweisen muss, sondern Hilfe ihrer Krankenversicherung in Anspruch nehmen der Arzt nachweisen muss, dass er alles richtig gemacht können. hat. Jetzt wird vonseiten der Opposition und von außen die Forderung gestellt, es müsse eine generelle Beweis- So kann die Krankenversicherung beispielsweise bei lastumkehr geben. der Beweiserleichterung helfen, indem ein Gutachten er- stellt wird, oder sie kann darauf hinweisen, wo Rechte (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE wie geltend gemacht werden können. Nach einer Um- GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht!) frage kennen sechs von zehn Patientinnen und Patienten – Die Forderung nach einer generellen Beweislastum- ihre Rechte nicht. Deswegen brauchen wir die Bünde- kehr steht doch in der Öffentlichkeit im Raum und ist lung der Rechte in diesem eigenen Patientenrechtege- auch aus Ihren Reihen gekommen. setz, damit sich die Patientinnen und Patienten nicht al- leine auf Gerichtsentscheidungen und Richtersprüche (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE berufen müssen, sondern ihre Rechte endlich transparent GRÜNEN]: Es stellt kein Einziger diese For- in einem Gesetz verankert vorfinden. Das Patientenrech- derung! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ tegesetz ist der Beitrag dazu. CSU]: Die Grünen sind völlig zufrieden!) Darüber hinaus können sie ihrer Krankenversiche- Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Dass der Arzt rung Fristen setzen, wenn die Krankenversicherung bei bei einem groben Behandlungsfehler beweisen muss, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23655

Bundesminister Daniel Bahr (A) dass er alles richtig gemacht hat, ist der richtige Weg, um Dafür brauchen wir auch ein Beschwerdemanage- (C) mit Augenmaß vorzugehen und das vertrauensvolle ment in den Krankenhäusern. Dafür brauchen wir in den Arzt-Patienten-Verhältnis zu schützen. Krankenhäusern eine Kultur, die eine Kultur des Ver- trauens und nicht eine Kultur des Misstrauens ist. Nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) durch immer mehr Regelungen, nicht durch immer mehr Weitere Beweislastumkehrungen, meine Damen und Dokumentationspflichten werden die Patienten gestärkt. Herren, oder sogar eine generelle Beweislastumkehr Sie werden gestärkt, wenn der Arzt die ausreichende würden in Deutschland zu amerikanischen Verhältnissen Zeit hat, sich um seine Patienten zu kümmern, und nicht führen, zum Bürokratieangestellten einer Krankenkassenverwal- tung wird. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles Quatsch!) Wir wollen, dass der Arzt genügend Zeit hat, sich im Gespräch mit dem Patienten auseinanderzusetzen, dass und ich will nicht, dass der Arzt als Erstes an das Risiko es ein Beschwerdemanagement gibt, wenn der Patient denkt, dieses vermeiden will und deswegen eine Defen- unzufrieden ist, dass dies dazu führt, dass Prozesse im sivmedizin in Deutschland stattfindet. Krankenhaus verbessert werden und dass sich Patienten (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der künftig informieren können, in welchem Krankenhaus CDU/CSU) sie am besten behandelt werden. Ich will nicht, dass er an seine Haftpflicht- oder Rechts- All das stärkt die Patienten in Deutschland. Heute ist schutzversicherung denkt. Vielmehr soll der Arzt in ein guter Tag für die Patienten in Deutschland, weil end- Deutschland das Bestmögliche tun und dabei auch Risi- lich eine Bundesregierung ein Patientenrechtegesetz vor- ken eingehen müssen, damit der Patient geheilt wird. legt, das die Rechte der Patientinnen und Patienten bün- Denn wir wollen in Deutschland eine Fehlervermei- delt, sie möglichst auf Augenhöhe mit dem Arzt stärkt dungskultur und nicht eine Risikovermeidungskultur. Es und ihnen die Möglichkeit gibt, in Deutschland die best- soll das Beste für den Patienten getan werden, mögliche Behandlung zu bekommen – mit einem ver- trauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnis. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie was dafür!) Vielen Dank. und das muss im Mittelpunkt des vertrauensvollen Arzt- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Patienten-Verhältnisses stehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: (B) Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin (D) Gleichzeitig wird darüber diskutiert, ob ein Entschä- Dr. Marlies Volkmer. digungsfonds eingeführt werden soll; auch das ist eine Forderung der Opposition und anderer. Ich kenne, meine (Beifall bei der SPD) Damen und Herren, bisher keinen konkreten umsetzba- ren Vorschlag für einen solchen Entschädigungsfonds. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Ich glaube, dass das in der Systematik unserer Recht- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor sprechung auch im Verhältnis zwischen Arzt und Patient zweieinhalb Jahren haben wir an dieser Stelle den An- der falsche Weg wäre; denn wenn ein Arzt einen Scha- trag der SPD für ein modernes Patientenrechtegesetz dis- den zu verantworten hat, dann muss er dafür haften. kutiert. Dann ist er dafür verantwortlich, und dann kann es nicht sein, dass die Solidargemeinschaft der Beitragszahler da- (Heinz Lanfermann [FDP]: Der liegt aber für herangezogen wird und das finanziert. heute nicht vor!) Wir wollen nicht, dass es für Ärztinnen und Ärzte ei- Ein solches Gesetz muss die Rechte zusammenfassen, nen Anreiz gibt, zu sagen: Es gibt ja den Entschädi- muss aber auch die Rechte der Patientinnen und Patien- gungsfonds, der zahlt dann schon im Schadensfalle. – ten weiterentwickeln und muss dafür sorgen, dass die Vielmehr muss derjenige, der einen Schaden verursacht Patienten diese Rechte wahrnehmen können; hat, zum Schadenersatz herangezogen werden, und nicht die Solidargemeinschaft soll dafür aufkommen müssen. (Zuruf von der FDP: Dann können Sie ja Ich meine, das Verursacherprinzip muss hier gewahrt zustimmen!) bleiben, meine Damen und Herren. denn sonst nützen die besten Formulierungen und die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) besten Paragrafen nichts. Insofern geben wir mit dem Patientenrechtegesetz (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten viele gute Antworten, die die Rechte der Patienten stär- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ken und die das besondere Vertrauensverhältnis zwi- Nun haben Sie sich sehr lange Zeit gelassen, ehe Sie schen Arzt und Patient weiter ausbauen. Wir gehen vom einen solchen Entwurf für ein Patientenrechtegesetz auf mündigen Patienten aus, wir gehen von dem Arzt aus, den Weg gebracht haben. der sich fortbildet, der an seinen Fehlern arbeitet und der dafür sorgt, dass das Bestmögliche für den Patienten ge- (Zuruf von der FDP: Sie haben zehn Jahre lang tan wird. gar nichts gemacht!) 23656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Dr. Marlies Volkmer (A) Wir alle kennen den Satz: Was lange währt, wird gut. Die Beweislast liegt zu 100 Prozent beim Patienten, (C) Trifft das für diesen Fall zu? Sie kennen wahrscheinlich während die Beweismittel … zu 100 Prozent auf schon unsere Antwort: Nein, natürlich nicht. Die Ziele Seiten des Arztes sind. dieses Gesetzentwurfes sind bis zur Unkenntlichkeit ver- wässert worden. Da, Herr Minister Bahr, nützt es auch Das sagt Susanne Mauersberg vom Verbraucherzentrale nichts, wenn Sie sich hier hinstellen und alles aufzählen, Bundesverband. Sie hat völlig recht. Daran ändert sich was in dem Gesetzentwurf steht. Das gibt es in der Tat mit diesem Gesetz nichts. alles schon. Sie haben jetzt tatsächlich nur den ersten (Beifall bei der SPD) Punkt erledigt und das geltende Recht zusammengefasst. Der Patient muss nach wie vor nachweisen, dass der (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!) Arzt den Fehler begangen hat und dass dadurch der Ge- Das reicht uns aber nicht. Von daher müssen Sie sich sundheitsschaden eingetreten ist. Er muss langwierige nicht wundern, wenn von vielen Seiten Kritik geäußert und teure Prozesse führen. In dieser Zeit hat er keine wird, von den Betroffenen, von Patientenverbänden, von finanzielle Unterstützung. In diesen Fällen würde ein den Anwälten für Medizinrecht und von den Kranken- Härtefallfonds, den wir vorschlagen und den viele Be- kassen. Nur die Ärztekammer ist zufrieden mit diesem troffene fordern, Unterstützung für die Patienteninnen Gesetz. Für die Ärzte gibt es keine höheren Anforderun- und Patienten bedeuten. gen. Dieses Gesetz ist ein Placebo, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN) und das war von Ihnen auf der Regierungsbank auch so Natürlich müssen sich die Haftpflichtversicherer an gewollt. der Finanzierung dieses Fonds beteiligen. Wir wollen Von daher ist dieses Gesetz in der Ausrichtung völlig mitnichten eine Beweislastumkehr, aber wir wollen Be- konsequent: Patientinnen und Patienten erhalten nicht weiserleichterungen in den Fällen, in denen mit hoher mehr Rechte. Das beginnt schon bei der Aufklärung. Es Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, gehört dazu, dass der Patient weiß, wie oft in einer be- dass der Schaden im Krankenhaus entstanden ist, zum stimmten Einrichtung ein Eingriff vorgenommen wird, Beispiel wenn in dem Krankenhaus hohe Infektionsraten wie hoch die Komplikationsrate ist, wie der normale vorkommen und der Patient eine solche Infektion hat. Behandlungsverlauf ist. Er muss auf Alternativen zur Entscheidend für Patienteninnen und Patienten, einen Diagnostik und Therapie hingewiesen werden, auch Behandlungsfehler nachweisen zu können, ist die voll- dann, wenn diese an der betreffenden Einrichtung nicht (B) ständige und richtige Dokumentation. Auch hier reicht (D) durchgeführt werden und der Patient eventuell in eine es nicht, was Sie im Gesetzentwurf vorgesehen haben. andere Einrichtung geht. Wir wollen gesetzlich geregelt haben, dass eine Software Ich bin Ärztin. Ich kann mir diese Informationen ho- vorgeschrieben wird, die die Fälschung elektronischer len, und das tue ich auch. Meine Kolleginnen und Kolle- Patientenakten verhindert. gen tun das auch. Aber was wir Ärzte für uns in An- (Beifall bei der SPD) spruch nehmen, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können, muss generell für alle Patienteninnen und Pa- Sie haben recht: Im Gesetz ist vorgesehen, dass Kran- tienten gelten. kenkassen ihre Versicherten unterstützen müssen, wenn sie glauben, dass ein Behandlungsfehler vorliegt. Aber (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem es fehlt die Regelung, wie die Mindestunterstützung aus- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sehen soll. Reicht vielleicht ein Faltblatt oder ein kurzes Diese selbstverständliche Information trifft in beson- Beratungsgespräch aus? Auch hier muss deutlich nach- derer Art und Weise auf die individuelle Gesundheits- gebessert werden. leistung, IGeL, zu. Hier nützt es nichts, wenn im Be- Jeder Behandlungsfehler, jeder Schaden durch ein handlungsvertrag steht, wie teuer eine Leistung ist. Der Medizinprodukt ist einer zu viel. Schadensregulierung Patient muss vielmehr wissen, warum eine Leistung, ist nur eine Hilfe und kann körperliche Beschwerden, zum Beispiel die Augendruckmessung, manchmal eine körperliche Schäden und menschliches Leid natürlich Leistung der Krankenkasse ist und manchmal nicht. Der nicht ausgleichen. Von daher ist die Frage der Patienten- Patient muss aufgeklärt werden, dass eine Therapie, die sicherheit eine ganz entscheidende. Hierbei geht es da- ihm angeboten wird und die er privat bezahlen soll, von rum, die Qualitätssicherung zu verbessern, die Zulas- der Krankenkasse nicht bezahlt wird, weil der Nachweis sungsregelungen für Medizinprodukte zu verbessern und der Wirksamkeit nicht gegeben ist. Produktkontrollen vorzunehmen. Wir haben mit unse- Sie haben völlig recht: Wo Menschen arbeiten, sind rem Antrag „Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten“, auch Fehler nicht ausgeschlossen. Aber Patienten, die ei- den wir im Juni eingebracht haben, den Weg aufgezeigt. nen Behandlungsfehler erlitten haben, sind in einer sehr Selbst wenn uns heute ein deutlich besseres Patienten- schwierigen Position. rechtegesetz vorliegen würde, dann muss das natürlich durch andere gesetzliche Regelungen ergänzt werden. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Auch solche liegen auf dem Tisch. Sie, liebe Kollegin- GRÜNEN]: Genau so ist es!) nen und Kollegen von der Union und von der FDP, sind Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. 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Dr. Marlies Volkmer (A) aufgefordert, diese Regelungen ernsthaft zu prüfen, mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) uns zu diskutieren und, wenn möglich, umzusetzen. Ich kenne keine Regierungszeit, in der so viele Ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten besserungen für die Patienten erreicht wurden wie in die- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE ser. Dank Umstellung der Finanzierung haben wir zum GRÜNEN) ersten Mal genügend Geld, sodass wir keine Leistungen kürzen müssen. Mit der Überleitung der Unabhängigen Präsident Dr. Norbert Lammert: Patientenberatung vom Modellvorhaben zu einer profes- Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller für sionellen Regelversorgung ist ein Vorteil für den Patien- die CDU/CSU-Fraktion. ten geschaffen worden. Das Krankenhaushygienegesetz schützt die Patienten besser vor Infektionen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittel- Wolfgang Zöller (CDU/CSU): marktes bestimmt der Zusatznutzen für die Patienten Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und künftig den Preis der Medikamente. Natürlich werden Kollegen! Frau Kollegin Volkmer, wenn Sie uns auffor- die Patientenvertreter in diese Beratungen einbezogen. dern, mit Ihnen zu diskutieren, möchte ich Sie auffor- Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz passen wir die dern, unseren Gesetzentwurf erst einmal zu lesen. Was Versorgungsplanung den Bedürfnissen der Versicherten Sie hier nämlich vorgetragen haben, hat mit diesem Ge- an und nicht umgekehrt. Auch das geschieht wiederum setzentwurf leider nichts zu tun. unter Einbindung der Patientenvertreter. Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz richten wir auch die (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Na, na, na!) Pflege verstärkt an den Bedürfnissen der Menschen aus, zum Beispiel durch die Unterstützung neuer Wohnfor- Wer von Ihnen weiß, wo und wie die Rechte auf Ein- men. sicht in Ihre Krankenakten geregelt sind? Es gibt den § 810 des Bürgerlichen Gesetzbuches, es gibt Landge- Mit dem Patientenrechtegesetz runden wir jetzt diese richtsurteile, zum Beispiel vom Landgericht Aachen aus Bemühungen ab. Wir wollen, dass ein vertrauensvolles dem Jahr 1985, und, und, und. Die Unübersichtlichkeit Miteinander in den Praxen zur Regel wird. Das Patien- führt dazu, dass ein Viertel aller Versicherten gar nichts tenrechtegesetz liefert hierfür ein modernes, tragfähiges von einem Recht auf Einsicht weiß und dass 63 Prozent Fundament. Denn nur wenn man sich als Partner ver- zu Unrecht meinen, bei einem Arztwechsel die Original- steht, können Therapien passgenau individuell abge- unterlagen verlangen zu können. stimmt werden, was, wie wissenschaftlich bewiesen ist, (B) Aber nicht nur die Versicherten sind verunsichert. die Erfolgsaussichten einer Krankheitsbewältigung (D) Viele Ärzte verneinen ihre Pflicht auf Erstellung einer enorm befördert. Kopie, und viele Krankenkassen schicken ihre Versi- Aus diesem Grund haben wir den Begriff „Patienten- cherten dann mit solchen Fragen zu uns. Dass Patienten schutzgesetz“ zunächst einmal in die Schublade gelegt verbriefte Rechte und Leistungen wie Bittsteller einkla- und alle Beteiligten zu einem Gespräch eingeladen, um gen müssen, ist nicht akzeptabel. Darüber hinaus benöti- den größtmöglichen Konsens vor dem Gesetzgebungs- gen auch die Ärzte und das medizinische Personal Klar- prozess auszuloten. In über 300 Gesprächen ist dies heit, welche Rechte und Pflichten sie treffen. gelungen. Seitens der Fachleute gibt es keine Extremfor- Ich mache keinem einen Vorwurf; auch wir von der derungen mehr. Die einen sagten: „Ein Patientenrechte- Politik tragen hier Verantwortung. Die Zersplitterung des gesetz brauchen wir nicht“, die anderen forderten eine Rechts, vom Grundgesetz über Sozialgesetzbuch, Bürger- totale Beweislastumkehr im Falle eines Behandlungsfeh- liches Gesetzbuch, Röntgenverordnung, Reichsversiche- lers. rungsordnung, Berufsrecht bis hin zu Gerichtsentschei- dungen, erschwert einen Überblick über bestehende Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist gelun- Rechte und fördert dadurch natürlich Vollzugsdefizite. gen, nach fast 20 Jahren Diskussion einen ausgewoge- Das Ergebnis kennen wir: Unwissenheit und Irrtümer nen Entwurf vorzulegen. über Patientenrechte zerstören nicht nur Vertrauensver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hältnisse, sie führen auch zu erheblichen sozialen und gesundheitlichen Nachteilen. Sicher, auch ich als Patientenbeauftragter habe noch den Das beenden wir heute. einen oder anderen Wunsch. Ich könnte mir zum Bei- spiel vorstellen, dass wir im parlamentarischen Verfah- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE ren darüber diskutieren, wie mit Mitbestimmungsrechten GRÜNEN]: Leider nicht!) in Verfahrensfragen im Gemeinsamen Bundesausschuss umgegangen wird. Mit der Bündelung und Weiterentwicklung der Patien- tenrechte in einem Patientenrechtegesetz setzen wir – im Der Entschädigungsfonds wurde angesprochen. Übrigen von vielen scheinbar noch gar nicht wahrge- nommen – eine Wende in der Gesundheitspolitik fort, (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Härtefallfonds! – nämlich die Wende dahin, dass der Patient im Mittel- Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE punkt unserer Bemühungen steht und nicht wie bisher GRÜNEN]: Härtefallfonds! Das ist nämlich die vorhandenen Strukturen. ein Unterschied!) 23658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Wolfgang Zöller (A) – Härtefallfonds. – Die Ärzteschaft war voll auf unserer freies medizinisches Gutachten zur Verfügung gestellt (C) Seite, nur die Versicherungswirtschaft hat ihn strikt ab- wird. Das ist ein großer Fortschritt. gelehnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Das glaube ich Schnellere Entscheidungen durch die Krankenkassen: auch! Das wissen wir!) Ich habe Briefe bekommen, in denen es hieß: Die Ge- Ich sage Ihnen klipp und klar: Mit mir gibt es keinen nehmigung meines Rollstuhls hat acht Monate gedauert. – Entschädigungsfonds; denn dann müssten die Versicher- Das ist eine Beschwerde, die ab dem kommenden Jahr ten dafür bezahlen, dass im Zweifelsfall ein Arztfehler nicht mehr vorkommen darf. Der Rollstuhl muss inner- ausgeglichen wird. Mit einer solchen Lösung können wir halb von drei Wochen genehmigt sein. Die Frist von drei nicht vor die Öffentlichkeit treten. Wochen wird die Verfahren wesentlich beschleunigen. Auch das ist ein Vorteil für die Versicherten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ( [CDU/CSU]: Genau!) An dieser Stelle darf ich mich beim Gesundheitsmi- nister, bei dir, lieber Daniel, und bei der Justizministerin Stärkung der Patientenrechte: Sie werden gelesen ha- recht herzlich bedanken. ben, dass die Patientenvertreter in die Bedarfsplanung stärker eingebunden werden, was für die medizinische (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Versorgung auf dem flachen Land entscheidend ist. DIE GRÜNEN: Oh!) Ein ganz wichtiger Punkt zum Schluss: umfassende – Ja. – In den vorhergehenden Jahren sind die Gespräche Information für Patientinnen und Patienten. Wir stellen immer gescheitert, weil sich die beiden Ministerien nicht immer wieder fest: Die wenigsten kennen ihre Rechte, einigen konnten. Man kann feststellen, dass die beiden und wer seine Rechte nicht kennt, kann sie nicht einfor- Häuser optimal zusammengearbeitet und einen sehr gu- dern. Wir werden durch ein verständliches Informations- ten Gesetzentwurf vorgelegt haben. system für mehr Transparenz sorgen, eine Aufgabe, die dem Patientenbeauftragten zukommt. Wir werden die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bürger also ordentlich informieren. Lassen Sie mich stichpunktartig darauf eingehen, was Meine sehr geehrten Damen und Herren, Moral und der Gesetzentwurf für die Patienten bedeutet: der Umgang miteinander können nicht gesetzlich gere- Die Aufnahme des Behandlungsvertrages in das Bür- gelt werden. Mit dem Patientenrechtegesetz schaffen wir gerliche Gesetzbuch: Es ist schon mehr als ein Zusammen- aber die Voraussetzungen für einen faireren Umgang in (B) fügen; denn jetzt wird es wirklich zum Gesetz erhoben. Pa- Partnerschaft. Das dient dem Ziel, wie alle Bemühungen (D) tienten und Ärzte können künftig in diesem Gesetz im Gesundheitswesen, einer optimalen medizinischen nachlesen, welche Rechte und Pflichten sie haben: Was Versorgung. muss die Aufklärung beinhalten? Bekomme ich das ge- Vielen Dank. wünschte Dokument, ja oder nein? Es ist geregelt, dass offengelegt werden muss, wenn die Kosten einer Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – handlung von der Krankenkasse nicht voll übernommen Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE werden. Es wird außerdem festgeschrieben, in welchen GRÜNEN]: Herr Zöller, Sie können mehr!) Fällen es bei einem Behandlungsfehler eine Beweislast- umkehr gibt. Auch das ist ein Vorteil für die Patienten. Präsident Dr. Norbert Lammert: Die effektive Qualitätssicherung durch Risikoma- Harald Weinberg ist der nächste Redner für die Frak- nagement- und Fehlermeldesysteme: Meldungen wie: tion Die Linke. „Falsches Bein amputiert, weil die Markierung auf dem (Beifall bei der LINKEN) Thrombosestrumpf war, der vor der OP ausgezogen wurde“, dürften künftig der Vergangenheit angehören. Harald Weinberg (DIE LINKE): Unser Ziel ist eine neue Fehlerkultur, um dadurch Be- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und handlungsfehler so weit wie möglich zu vermeiden. Ein Kollegen! Meine Damen und Herren! Wegen des Ent- wichtiger Faktor hierfür ist, aus Fehlern und vor allem wurfs des Patientenrechtegesetzes, über den wir heute auch aus Beinahefehlern zu lernen. In Deutschland gilt hier debattieren, klingelt seit Wochen mein Telefon, und nach wie vor, dass man sucht, wer den Fehler gemacht das Fax quillt über. hat, statt sich stärker damit zu beschäftigen, warum der Fehler begangen wurde, und die Ursachen abzustellen. (Zurufe von der FDP: Oh! – Heinz Durch das Risikomanagement- und Fehlermeldesystem Lanfermann [FDP]: Schaffen Sie sich E-Mail wird die richtige Struktur vorgegeben, um dies umsetzen an!) zu können. Es gibt auch noch einen finanziellen Anreiz für Krankenhäuser, die sich an diesem System beteili- Leider ist es nicht überschäumende Begeisterung über gen. diesen Gesetzentwurf, die eine Vielzahl überglücklicher Patientinnen und Patienten zum Telefonhörer greifen Mehr Unterstützung bei Behandlungsfehlern. Oft lässt, sondern die übergroße Enttäuschung über das, was wird verschwiegen, dass jetzt gesetzlich geregelt wird, Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP, nach dass den Patienten von den Krankenkassen ein kosten- jahrelanger stiller Beratung ausgeheckt haben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23659

Harald Weinberg (A) In Ihrem Koalitionsvertrag hatten Sie vor drei Jahren leidender wurde, der hat es ganz schwer. Er muss sich um (C) noch von einem Patientenschutzgesetz gesprochen. Es seine Genesung kümmern und gleichzeitig gegen ein pro- geht aber nicht nur um den Schutz der Patienten, sondern fessionelles Kartell von Ärzteschaft, Krankenhausver- auch darum, ihnen Rechte zu geben, und darum, ihnen waltung und Ärztehaftpflichtversicherung samt Anwäl- Möglichkeiten an die Hand zu geben, dass sie diese ten und Gutachtern ankämpfen, um die Schuld zu Rechte auch durchsetzen können. Die Überschrift des beweisen. Dazu muss der Patient aufzeigen – das ist be- Gesetzentwurfs zeigt, dass Sie unsere Nachhilfe ange- reits erwähnt worden –, dass erstens wirklich eine falsche nommen und dazugelernt haben: aus Patientenschutz- ist Behandlung vorliegt und zweitens die Schädigung ur- Patientenrechtegesetz geworden. sächlich auf die falsche Behandlung zurückzuführen ist. Diejenigen, die das zu begutachten haben, sind wiederum (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Ihre Ärzte und werden von Ärztekammern oder den Ärz- Nachhilfe brauchen wir nicht!) tehaftpflichtversicherungen bezahlt. Solche Gerichtsver- Bei den Inhalten haben Sie diese Einsicht leider nicht fahren dauern im Übrigen Jahre, oft auch Jahrzehnte. gezeigt. Wir hätten uns für die Patientinnen und Patien- Sehr häufig ist es so, dass die Geschädigten das Ende des ten gefreut, wenn Sie unsere Vorschläge oder, wenn Sie Gerichtsverfahrens nicht mehr erleben. unsere Vorschläge nicht nehmen wollten, die der Grünen oder die der SPD übernommen hätten. Wir hätten uns Leider wird den Geschädigten durch den jetzt vorge- gefreut, wenn Sie zum Beispiel die erleichterte Regelung legten Entwurf eines Patientenrechtegesetzes kaum ge- bei der Beweislast in den Gesetzentwurf hineingeschrie- holfen. Es soll keine generelle Erleichterung der Beweis- ben hätten. last eingeführt werden. So haben die Geschädigten weiterhin die Beweislast zu tragen, und die Ärzte haben (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE die Beweismittel in den Händen. Nur bei groben Behand- GRÜNEN]: Genau!) lungsfehlern wollen Sie eine Beweislastumkehr einfüh- Wir hätten uns auch gefreut, wenn Sie die Vorschläge ren. Das ist aber heute schon gängige Praxis vor Gericht. der Betroffenen, also der Patientinnen- bzw. Patienten- Doch was nun ein grober Fehler ist, wird wiederum durch verbände, in den Gesetzentwurf hineingeschrieben hät- einen Arzt entschieden. ten. Stattdessen haben Ihnen die Ärzte- und Kranken- Sie wollen auch keinen unabhängigen Gutachterpool hausverbände die Hand beim Schreiben geführt. einrichten. Die Geschädigten werden sich also weiterhin (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ein an Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionen Schwachsinn!) wenden müssen, die bei den Ärztekammern angesiedelt sind und zum größten Teil für die Ärzte und gegen die Da muss man sich nicht wundern, wenn zum Schluss (B) Patienten entscheiden. (D) wenig herauskommt, was den Patienten bei der Durch- setzung ihrer Rechte hilft. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Oh Gott!) ( [CDU/CSU]: Klassenkampf! Im- Es wird nach Ihren Plänen leider auch keinen Härte- mer nur Klassenkampf!) fall- oder Entschädigungsfonds geben, aus dem Geschä- digten schnell und unbürokratisch zumindest eine finan- Deshalb steht in dem Gesetzentwurf jetzt nur das, was zielle Entschädigung geleistet werden könnte. bislang auch durch Richterrecht schon geregelt und gül- tig war. Kommen wir zu den individuellen Gesundheitsleis- tungen – ein besonderes Ärgernis für viele Patientinnen (Jens Spahn [CDU/CSU]: Stimmt nicht! – und Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wiederum Patienten. Das sind Leistungen, die die Kasse nicht falsch! Lesen Sie es doch einmal, bevor Sie et- übernimmt und für die die Patientinnen und Patienten beim Arzt extra zahlen müssen: wenige sinnvoll, die was Falsches sagen!) meisten überflüssig, einige sogar schädlich! Auch hier Zum Teil bleiben Sie sogar hinter der bisherigen Recht- schreiben Sie nur die Verpflichtung zur Aufklärung über sprechung zurück. mögliche Kosten in den Gesetzentwurf. Das kann doch nicht alles sein. Dabei wissen auch Sie genau: Manche Gut, die Krankenkassen bekommen ein paar Zusatz- Ärztinnen und Ärzte nutzen IGeL-Leistungen, um ihren aufgaben, wenn es darum geht, Patientinnen und Patien- Umsatz zu erhöhen. Dafür gibt es sogar spezielle Ver- ten zu unterstützen. kaufstrainings, die bis vor kurzem noch vom Bundes- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aha!) wirtschaftsministerium gefördert worden sind. Das war es aber auch, und das ist aus unserer Sicht deut- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist das!) lich zu wenig. Die Linke fordert darum in ihrem Antrag, einen klaren (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten rechtlichen Rahmen zu schaffen, damit die Patientinnen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und Patienten nicht über den Tisch gezogen werden. Worum geht es im Kern eigentlich? Viele Patientinnen (Beifall bei der LINKEN) und Patienten haben die leidvolle Erfahrung gemacht, dass man als Patient nach einem Behandlungsfehler keine Dazu gehören eine angemessene Bedenkzeit, ausrei- guten Karten hat. Wer schon vor der Behandlung krank chende Informationen und unabhängige Beratung über war und aufgrund eines Ärztefehlers noch kränker und Sinn, Nutzen und Alternativen genauso wie Maßnahmen 23660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Harald Weinberg (A) der Qualitätssicherung. Nichts davon findet sich aller- Stellen in diesem Gesetzentwurf wider. Sie von der (C) dings in diesem Gesetzentwurf. CDU/CSU wissen das sehr genau. Nicht umsonst haben wir drei Jahre warten müssen, bis dieser sehr verküm- Auch bei den Rechten von Patientenorganisationen merte Gesetzentwurf vorgelegt wurde. Das ist ein ganz bleiben Sie sehr schmalbrüstig. Die Patientenorganisatio- klarer Nachweis dafür, dass es einen langen Prozess des nen werden im Gemeinsamen Bundesausschuss, dem Ringens gegeben hat, bis Sie überhaupt zu diesem Er- wichtigsten Gremium der Selbstverwaltung im Gesund- gebnis gekommen sind. heitswesen, weiterhin am Katzentisch sitzen müssen und erhalten noch nicht einmal in Verfahrensfragen ein (Heinz Lanfermann [FDP]: Wir haben sieben Stimmrecht. Dass diese darüber verbittert sind, darf Sie Jahre auf Ihre Vorschläge gewartet!) nicht wundern. Das ist eigentlich schade, wenn man sich anschaut, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) was Sie, Herr Zöller, in den letzten drei Jahren auf Grundlage zahlreicher Gespräche mit Patientenverbän- Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, den – dies ist durchaus anerkennenswert – vorgebracht ich weiß schon, dass einige von Ihnen sehr wohl zumin- und dest einen Teil unserer Kritik teilen und mit dem Gesetz- vorgeschlagen haben. Wir konnten zahlreiche Pres- seartikel darüber lesen. Genau das hat dazu geführt, dass entwurf recht unzufrieden sind. wir alle die Hoffnung hatten, wir kämen ein Stückchen (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann sagen weiter als nur bis zu dem, was jetzt vorliegt. Sie uns einen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Darum appelliere ich an Sie: Setzen Sie sich im weiteren Verfahren lautstark dafür ein, dass dieser Gesetzentwurf Betrachten wir einmal den Gesamtansatz. Natürlich noch entscheidende Änderungen erfährt, die im Interesse ist es richtig, einen eigenständigen Untertitel im Bürger- der Patientinnen und Patienten sind, und nicht so durch lichen Gesetzbuch zu schaffen, in dem der Behandlungs- das Parlament geht. vertrag geregelt wird. Aber bringt dies tatsächlich mehr Rechte? Wir haben eben schon gehört: Es gibt kein ein- Vielen Dank. ziges zusätzliches Recht, das insbesondere den Patien- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ten, die einen Behandlungsfehler erlitten haben, weiter- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN helfen würde. 20 Jahre nachdem erstmals Vorschläge auf den Tisch gelegt worden sind, 20 Jahre, in denen es und des Abg. Dr. Edgar Franke [SPD]) Hoffnungen gegeben hat, dass die Stellung von geschä- digten Patienten vor Gericht verbessert wird, ist das aus- Präsident Dr. Norbert Lammert: (B) gesprochen kümmerlich. (D) Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Kommen wir zu den anderen Bereichen, die mit Pati- Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- entenschutz zu tun haben. Sie haben ja im Koalitionsver- legen! Ich will hier nicht wiederholen – diese Punkte trag von einem Patientenschutzgesetz gesprochen. Das wurden schon genannt –, was in diesem Entwurf des Pa- weckte die Hoffnung, dass gerade der Aspekt der Patien- tientenrechtegesetzes sinnvoll ist. tensicherheit, der Fehlervermeidung konsequent ange- gangen wird. Nichts da! Was finden wir dazu in diesem (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Danke!) Gesetzentwurf? Es sind nur ganz wenige Regelungen im In diesem Patientenrechtegesetz sollen tatsächlich erst- SGB V vorgesehen, und fast alle haben eine eher freiwil- mals all die Rechte der Patienten gebündelt werden, die lige Grundlage. Es gibt keinen Ansatz, der dazu führt, in verschiedenen Gesetzeswerken, allerdings sehr ver- dass wir ein stringentes System der Fehlervermeidung, streut, verankert sind. Es ist natürlich eine große Erleich- des Fehlermonitorings, des Beschwerdemanagements terung und stellt einen Fortschritt dar, wenn diese Rechte und des Risikomanagements bekommen. Nirgendwo fin- tatsächlich transparent und gebündelt vorliegen. Das det man wirklich verbindliche Regelungen, dafür aber aber, meinen wir, ist zu wenig Anforderung an ein Pati- viele Aufgabenstellungen, die sich an den G-BA und die entenrechtegesetz. gemeinsame Selbstverwaltung richten. An keiner Stelle heißt es: Jede Einrichtung, jede Praxis, jedes Kranken- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haus hat genau dies zu tun und dabei bestimmte Quali- sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. tätsstandards einzuhalten. – Diese klare Verbindlichkeit Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]) finden wir in Ihrem Gesetzentwurf nicht. Wir meinen, Dieses Patientenrechtegesetz ist zwar von zwei FDP- das ist nicht ausreichend. Ministern auf den Weg gebracht worden, aber – das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss man doch sagen – diese beiden Minister mussten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) mehr zum Jagen getragen werden, als dass sie sich zu überzeugten Verfechtern einer wirklichen Patientenori- Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Einrichtung von entierung und einer Stärkung von Patientenrechten auf- Medizinprodukteregistern; die Debatte um Brustimplan- geschwungen hätten. Genau dies spiegelt sich an vielen tate haben wir ja geführt. Auch hier bleibt es dabei: Was Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23661

Maria Klein-Schmeink (A) die Wirtschaft betrifft, findet man nur freiwillige Selbst- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- (C) verpflichtungen. Es gibt keinen Ansatz, eine gesetzliche ministerin der Justiz: Regelung vorzunehmen. Sie sagen nicht etwa: Wir tref- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- fen im Hinblick auf Medizinprodukteregister eine ver- nen und Kollegen! Liebe Frau Klein-Schmeink, Sie ha- pflichtende Regelung und schaffen damit Instrumente, ben versucht, den vorliegenden Gesetzentwurf kleinzu- die für Qualitätssicherung, aber auch für Transparenz reden. Das ist Ihnen beim besten Willen nicht gelungen. sorgen. – Auch in diesem Punkt ist Ihr Gesetzentwurf ein großer Ausfall. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Rich- tig! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Er ist Zu den Gutachten. Sie sind stolz darauf, dass Sie in schon klein! Den muss man nicht kleinreden!) Ihrem Gesetzentwurf eine entsprechende Verpflichtung der Krankenkassen verankert haben. Vorher war das eine Denn Sie konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kannregelung. Es gab diese Möglichkeit also schon, und sieben Jahre Rot-Grün zu keinem einzigen Gesetzent- sie wurde gerade von den großen Kassen umfangreich wurf geführt haben. genutzt. Aber: Was tun Sie, um diese Gutachten tatsäch- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lich zu qualifizieren? Was tun Sie, um Mindeststandards festzulegen? Was tun Sie, um den Gutachtern Weiterbil- Wenn alle Regelungen schon lange in der Schublade ge- dungen zu ermöglichen? Nur so kann ja überhaupt eine legen hätten, längst klar wären und schon aufgeschrieben hohe Qualität der Gutachter gewährleistet werden. Zu worden wären, dann könnten wir heute über die Verbes- alldem findet sich in diesem Gesetzentwurf nichts, Fehl- serung eines vielleicht schon vorliegenden Patientenrech- anzeige. tegesetzes debattieren. Wir, diese Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen, legen heute allerdings erstmals (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in der Geschichte der Beratungen im Bundestag einen So, meinen wir, kann eine wirkliche Unterstützung von Gesetzentwurf zur Stellung der Patienten vor. Außerdem Patienten nicht aussehen. finden die Regelungen dieses Gesetzentwurfes ihren Nie- derschlag erstmals auch im Bürgerlichen Gesetzbuch; in (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie nörgeln ja dieses schaut man ja, wenn man rechtliche Regelungen selbst über Sonnenschein!) im Hinblick auf einen Behandlungsvertrag sucht. Allein Schauen wir weiter; es besteht auch noch folgendes das ist schon ein Mehrwert. Es ist jetzt ganz leicht in Er- Problem: Eine Beteiligung der Patientenorganisationen fahrung zu bringen, und zwar ohne googeln oder umfang- im Rahmen der Selbstverwaltung in den verschiedenen reiche Auskünfte einholen zu müssen, welche Rechte und Gremien ist mittlerweile zwar, auf Betreiben von Rot- welche Pflichten der Behandelnde und der Patient haben. (B) Grün, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Nicht bloß Rot- Der Mehrwert liegt auch darin, dass die Rechte jetzt Grün!) so festgelegt sind, dass der Patient dem Behandelnden seit Jahren vorgesehen. Aber was ist mit ihren Verfah- – das ist nicht nur der Arzt, sondern das sind auch alle rensrechten? Nicht einmal hier konnten Sie sich zu einer anderen, die medizinische Dienstleistungen erbringen – Regelung durchringen. auf Augenhöhe gegenübersteht. Der Patient ist nicht Bittsteller, und der Arzt bzw. der Behandelnde ist nicht Wir meinen, Sie sind an sehr vielen Stellen zu kurz ein Halbgott im weißen Kittel. Hier begegnen sich zwei gesprungen. Wir hoffen, dass wir die Kolleginnen und mit unterschiedlichen Anliegen: der Behandelnde, der Kollegen in den Reihen der CDU in Ihrem Bemühen um mit seinem Fachwissen dem Patienten helfen soll und ein besseres Patientenrechtegesetz noch ein bisschen be- muss und will, und der Patient, der ein Recht darauf hat, stärken können. Denn in Ihren Eckpunkten sind durch- alles zu erfahren und selbstbewusst entscheiden zu kön- aus einige Vorschläge enthalten, die auch die andere nen, in was er einwilligt und in was er nicht einwilligen Seite dieses Hauses für sinnvoll hält. Noch haben Sie die möchte. Dass das jetzt nachlesbar und transparent ist und Möglichkeit, ein wirkliches Patientenrechtegesetz auf dass es damit Rechtssicherheit gibt, ist ein wirklich gro- den Tisch zu legen. Ich bin noch nicht ganz ohne Hoff- ßer Fortschritt gegenüber der derzeitigen Situation, in nung. Aber wenn ich mir die anderen Gesetzgebungsver- der Fälle durch Rechtsprechung entschieden werden. fahren, die Sie noch vorhaben, ansehe – ich nenne nur das Betreuungsgeld –, dann bin ich etwas weniger opti- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mistisch, dass wir hier noch etwas erreichen. Die Verpflichtungen, die festgehalten worden sind, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind natürlich umfangreicher als die, die sich aus der sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- derzeitigen Rechtsprechung ergeben. Die Rechtspre- KEN) chung ist ja immer nur eine Entscheidung im Einzelfall. Daraus haben sich ein paar Grundsätze ergeben. Bei den Präsident Dr. Norbert Lammert: Informationspflichten gehen wir über das hinaus, was bisher durch Rechtsprechung niedergelegt ist – auch im Das Wort erhält nun die Bundesjustizministerin Frau Blick auf das, was sich entwickeln kann. Gerade in Be- Leutheusser-Schnarrenberger. zug auf die Verpflichtung zur Aufklärung machen wir in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den Folgebestimmungen Konsequenzen für die Haftung der CDU/CSU) deutlich. Es ergeben sich daraus Beweiserleichterungen 23662 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) und damit eine Stärkung der Patienten, gerade dann, (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Rich- (C) wenn zum Beispiel die Aufklärung unterblieben ist. tig!) Wenn in der Patientenakte einiges überhaupt nicht ent- In den einzelnen Paragrafen können wir doch nicht halten ist, vielleicht aber aufgeklärt wurde, dann gilt: aufzählen, was alles ein grober Behandlungsfehler ist. Das, worüber nichts ausgeführt worden ist, ist nicht er- Das kann man nie abschließend machen, sonst müsste folgt. Das wird in einer Auseinandersetzung dann zu- man ein Buch schreiben; das können wir nicht. Wir müs- gunsten des Patienten bewertet. sen objektive Kriterien erläutern; deshalb werden ent- Es handelt sich also um ein sehr gut ineinander grei- sprechende Beispiele in der Begründung des Gesetzes fendes Regelungswerk. Dies gilt für die Regelungen im aufgeführt. Das ist wichtig für die Anwendung, das ist Bürgerlichen Gesetzbuch, natürlich aber auch für das, wichtig für die Praxis. was in Bezug auf die Kassen und im Sozialgesetzbuch Dann macht nämlich eine neue Broschüre, die die geregelt wird. Bundesregierung nach Abschluss der Beratungen ge- Selbstverständlich schaut man gerade bei diesen Fra- meinsam herausgeben wird, auch Sinn. In diese werden gen – auch angesichts der Statistiken und bestimmt auch wir im Einzelnen das hineinschreiben, was wir jetzt im angesichts der Dunkelziffern im Hinblick auf Behand- Gesetzestext, aber insbesondere in der Begründung aus- lungsfehler, die wir nicht kennen – darauf, wie die Haf- führen. tung zwischen dem Patienten auf der einen Seite und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dem Behandelnden, dem Arzt, auf der anderen Seite aus- der CDU/CSU) tariert wird. Ausgangslage für uns war dabei zunächst einmal die Haftungsverteilung im Bürgerlichen Gesetz- Niemand, der nicht hier im Bundestag oder in der buch; daran orientieren wir uns. Dass jemand, der An- Bundesregierung Verantwortung trägt, hat bei diesem sprüche hat – die fixieren wir hier –, sie auch geltend Gesetzentwurf Hand geführt. machen muss, ist ein allgemeiner Grundsatz, der für alle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bereiche gilt. Aber natürlich reicht das in diesem Be- reich nicht aus. Wir können das untereinander sowieso viel besser. Dann haben wir aber auch intensiv verhandelt. Wir haben bei (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sehr diesem Gesetzentwurf sehr früh mit den Abgeordneten richtig!) der Koalitionsfraktionen überlegt: Wie machen wir das am besten? Wir haben uns ausgetauscht, gerade natürlich Ein Patient steht ja vielen technischen Geräten gegen- auch mit Ihnen, Herr Zöller, weil insbesondere an Sie über und hat keinen Einblick in das, was in entscheiden- – Sie haben ja täglich ein offenes Ohr für die Patienten – (B) (D) den Momenten passiert. Er ist, wie es so schön heißt, die Anliegen herangetragen werden. All das hat Eingang nicht so nah dran, wenn es an die Behandlung geht. Dass in den Gesetzentwurf gefunden. Darüber werden wir jetzt wir deshalb Änderungen an dieser grundsätzlichen Be- debattieren. weisregelung vornehmen, ist ein ganz wichtiger Schritt. Natürlich hat sich das über Jahrzehnte auch schon in der Wir haben ausreichend Zeit, zu debattieren, damit am Rechtsprechung immer wieder ein Stück weit entwi- Ende der Legislaturperiode aus diesem Entwurf ein Ge- ckelt, aber das hat doch eine total andere Qualität. setz wird, das im Bundesgesetzblatt steht. Deshalb brin- gen wir ihn jetzt ein. Ihm ging eine gründliche Vorarbeit Lesen Sie bitte auch einmal die Begründung im Ge- voraus. Die Zielrichtung dabei war einerseits, Patienten- setzentwurf, in der wir über zig Seiten deutlich machen, rechte zu stärken. Wir wollten mit diesem Gesetzentwurf was „grober Behandlungsfehler“ heißt. Wir entwickeln andererseits aber auch kein generelles Misstrauen gegen- dort Beispiele und sagen, was das voll beherrschbare Be- über dem Behandelnden hervorrufen; denn wir brauchen handlungsrisiko ist; denn auch in diesen Fällen – und doch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt bzw. Be- nicht nur bei einem groben Behandlungsfehler – gilt die handelndem und Patient. Auch das wird durch diesen Beweislastumkehr, Gesetzentwurf gestärkt. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Rich- Vielen Dank. tig!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) weil der Patient bei einem voll beherrschbaren Behand- lungsrisiko auf der Seite des Behandelnden im Kranken- Präsident Dr. Norbert Lammert: haus natürlich nur wenig vortragen und einbringen kann. Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPD- Fraktion. Diese Beweislastumkehr ist zum Beispiel ganz ent- scheidend beim Umgang mit der Gefahr von Infektio- (Beifall bei der SPD) nen. Hinsichtlich der hygienischen Standards in Kran- kenhäusern kann der Patient nichts ausrichten. Das ist Dr. Carola Reimann (SPD): ein beherrschbares Risiko derjenigen, die eine Leistung Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- erbringen. Wir erwähnen entsprechende Beispiele in un- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Januar 2010 serer Gesetzesbegründung ganz bewusst, damit man da- hat der Patientenbeauftragte bei seiner Vorstellung im ran ablesen kann, in welche Richtung wir mit den Geset- Gesundheitsausschuss angekündigt, dass er 2011 ein Pa- zesformulierungen gehen. tientenrechtegesetz verabschieden will. Jetzt endlich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23663

Dr. Carola Reimann (A) liegt der Gesetzentwurf vor. Es ist mittlerweile Septem- Dass sich die CSU und die FDP nicht immer ganz ei- (C) ber 2012! Über zwei Jahre hat sich die schwarz-gelbe nig sind, ist kein neues Phänomen. Koalition mit diesem wichtigen Thema Zeit gelassen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Was?) Wir waren auch geduldig gewesen; denn es ist ein kom- plexes Thema; das ist hier schon angeklungen. Ich sage nur: Betreuungsgeld. Auch mir ist wie der Kollegin Volkmer die schöne (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das ist Redensart eingefallen: Was lange währt, wird endlich doch ein Textbaustein, den Sie da haben!) gut. Leider bewahrheitet sie sich bei diesem Gesetzent- Dass aber die Meinung des Patientenbeauftragten ebenso wurf nicht. Wir mussten lange warten, aber das Warten wenig zählt, ist bitter. hat sich leider nicht gelohnt. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das (Jens Spahn [CDU/CSU]: Na!) stimmt!) Das sieht die Regierung erwartungsgemäß anders. Bei Kollege Zöller hatte sich als Patientenbeauftragter eben- der Präsentation des Kabinettsbeschlusses im Mai hätte falls frühzeitig für einen derartigen Fonds ausgespro- man den Eindruck bekommen können, einem epochalen chen. Ende des Jahres 2010 sagte er in der Frankfurter Ereignis beizuwohnen; so gut, so neu sei das Gesetz. Da Rundschau – ich zitiere –: wurden große Worte gewählt. Er sichert eine schnelle Hilfe für die Betroffenen Mit dem, was tatsächlich im Gesetzentwurf steht, hat und könnte auch dazu beitragen, jahrelange Ge- das allerdings herzlich wenig zu tun. Neues enthält der richtsprozesse mit unsicherem Ausgang zu vermei- Entwurf nämlich nicht. den. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das Das sehen wir auch so. Aber selbst wenn außer den Kol- stimmt doch gar nicht!) legen noch zahlreiche Patientenorganisationen, Medizin- Der Anspruch an ein neues Gesetz sollte aber sein, dass rechtler – das ist schon angeklungen –, Anwälte, Ver- es mehr bringt, als die bisher in verschiedenen Gesetzen braucherschutzorganisationen und die Bundesländer und Urteilen bereits bestehenden Patientenrechte zusam- diesen Fonds fordern, ist das für den Minister anschei- menzuführen. nend kein Grund, zu handeln. Das, finde ich, ist schade und vor allem schlecht für die Patientinnen und Patien- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Frau ten. Kollegin, Sie hätten mehr zuhören sollen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Entwurf dieses Patientenrechtegesetzes ist eine (B) der LINKEN) (D) schöne Fleißarbeit, aber nichts wirklich Neues. Der Patientenbeauftragte – Herr Zöller, Sie wissen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass ich eine hohe Meinung von Ihnen habe – der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wir haben es gelesen. Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wir (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber nicht ver- auch!) standen!) hat gerade angeführt, dass die Versicherungswirtschaft – Es sind ganze acht Seiten mit einer sehr umfangreichen dagegen war. Das ist leider ein beredtes Beispiel dafür, Begründung; das können wir schon bewältigen. – Große auf welcher Seite die Regierung wirklich steht. Worte, aber für die Patientinnen und Patienten wird dieses (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Gesetz keine spürbare Wirkung haben. Das Zusammen- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) führen bestehenden Rechts allein genügt nicht den Anfor- derungen an ein wirklich modernes Patientenrechtege- Ich dachte immer, Sie seien Patientenbeauftragter und setz. Dieser Gesetzentwurf ist ein politisches Placebo, das nicht Versicherungsbeauftragter. den Betroffenen keine wirklichen Verbesserungen brin- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) gen wird – leider! Der Gesetzentwurf, Kolleginnen und Kollegen, greift deshalb zu kurz. Patientenrechte müssen Wir von der SPD-Bundestagsfraktion fordern, dass in vielen Bereichen wirklich ernsthaft erweitert werden. ein Härtefallfonds nach dem Wiener Vorbild aufgelegt Der Bundestag ist aufgefordert, hier nachzubessern. wird. Dieser soll eintreten, wenn es keinen sicheren Nachweis der Schadensursache oder des Verschuldens Ein erstes Beispiel: Im Gesetzentwurf fehlt ein Härte- gibt, wenn eine seltene oder bislang unbekannte Kompli- fallfonds, mit dem Patientinnen und Patienten in Härte- kation auftritt, die den Versicherten stark schädigt, wenn fällen unbürokratische, schnelle Hilfe gewährt wird. die Durchsetzung des Schadensersatzanspruches unzu- Auch Kollege Singhammer hatte ihn im Februar 2012 mutbar lange dauern würde oder wenn eine finanzielle gefordert. Ich zitiere: „Ich halte die Einrichtung eines Hilfe aus sozialen Gründen oder anderen Gründen gebo- Entschädigungsfonds für notwendig.“ ten erscheint. Das wäre eine echte Verbesserung. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Genau!) Kolleginnen und Kollegen, auch die Medizinprodukte Das war in der Süddeutschen Zeitung im Februar dieses und die damit verbundenen Probleme werden im Gesetz- Jahres zu lesen. entwurf nicht angesprochen; das blendet die Regierung 23664 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Dr. Carola Reimann (A) völlig aus. Der Skandal um schadhafte Brustimplantate PKV-Versicherte keine Versicherten mit Patientenrech- (C) zu Beginn dieses Jahres hat aber gezeigt, dass wir im In- ten zweiter Klasse sind? teresse der Patientinnen und Patienten etwas tun müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es ist schließlich nicht so, als hätte es nicht bereits früher der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Probleme mit Metallhüftgelenken und Defibrillatoren GRÜNEN) gegeben. Die derzeitigen Regelungen reichen, wie wir wissen, nicht aus, die Sicherheit der Patientinnen und Es ist schlimm genug, dass sie ihre Versicherung nicht Patienten in vollem Umfang zu gewährleisten. wechseln dürfen wie gesetzlich versicherte Patientinnen und Patienten. Aber im Fall eines gesundheitlichen (Beifall bei der SPD) Schadens müssen sie, finde ich, die gleichen Rechte ha- Während aus den Reihen der Opposition schon ent- ben. sprechende Anträge erarbeitet und im Bundestag debat- (Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE tiert wurden und auch die EU-Kommission bereits einen LINKE]) Verordnungsvorschlag vorgelegt hat, ist immer noch un- klar, wie die Bundesregierung die Sicherheit von Medi- Auch da gibt es noch Nachbesserungsbedarf. zinprodukten verbessern will. Die Chance, dies im Pa- Vielen Dank. tientenrechtegesetz zu regeln, wurde bisher klar vertan. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir brauchen aber schärfere und unangemeldete Kon- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE trollen, eine europaweit einheitliche Zulassung für Me- GRÜNEN) dizinprodukte der höheren Klassen, eine Pflicht zum Ab- schluss einer Haftpflichtversicherung und die Errichtung eines Entschädigungsfonds sowie nicht zuletzt ein Im- Präsident Dr. Norbert Lammert: plantatregister zur Versorgungsforschung und ein Ver- Das Wort erhält nun der Kollege Jan-Marco Luczak zeichnis der Patienten zur Rückverfolgung und Informa- für die CDU/CSU-Fraktion. tion der Patientinnen und Patienten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kolleginnen und Kollegen, ich will noch einen letzten der FDP) Punkt ansprechen; denn auch über die Quelle größten Ärgernisses für Patientinnen und Patienten in der ambu- Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): lanten Behandlung, die IGeL-Leistungen, ist im Gesetz- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der entwurf nichts zu finden. Name ist Programm: Wir behandeln heute das Gesetz (B) zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Pa- (D) (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Steht tienten. Genau das ist das Ziel der christlich-liberalen doch drin!) Koalition. Trotz der vielen Unkenrufe, die wir vonseiten Die IGeL-Leistungen müssen gesetzlich Versicherte aus der Opposition hören, erreichen wir dieses Ziel mit dem ihrem privaten Geldbeutel zahlen. vorliegenden Gesetzentwurf. (Heinz Lanfermann [FDP]: Es gibt keinen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zwang!) Wir haben bereits heute ein gutes und leistungsfähi- Der medizinische Nutzen ist jedoch sehr oft zweifelhaft. ges Gesundheitssystem. Patienten können in aller Regel Wir fordern deshalb Maßnahmen zur Kontrolle, zum darauf vertrauen, dass sie, wenn sie zu einem Arzt ge- Beispiel ein Verbot, am selben Tag GKV-Leistungen und hen, dort eine qualitativ hochwertige medizinische Be- IGeL-Leistungen bei einem Patienten abzurechnen, so- handlung bekommen und dass ihnen durch Ärzte und an- wie einen verpflichtenden schriftlichen Behandlungsver- dere im Gesundheitswesen tätige Personen geholfen trag, eine schriftliche Rechnung und eine umfassende In- wird, wieder gesund zu werden. formationspflicht des Arztes, die nicht delegiert werden Aber – auch das gehört natürlich zur Wahrheit – im kann. Behandlungsalltag treten an der einen oder anderen Stelle Defizite auf. Da werden Behandlungswünsche von Kolleginnen und Kollegen, auch wenn mir vor allem Patienten nicht immer ausreichend respektiert, da erfolgt die gesetzlich Versicherten am Herzen liegen, will ich noch etwas zu den Privatversicherten sagen. Alles, was die notwendige Aufklärung nicht immer in hinreichen- dem Maße, und im schlimmsten Fall gibt es Behand- mit dem Patientenrechtegesetz im SGB V für die gesetz- lich Versicherten zusammengestellt wurde, muss eigent- lungsfehler mit gravierenden gesundheitlichen Folgen. lich auch für die privat versicherten Patientinnen und Der Patient ist hier in aller Regel schutzbedürftig, und Patienten gelten. Normalerweise werden deshalb die zwar nicht nur, weil er krank ist und sich deshalb in me- SGB-V-Regelungen im Versicherungsvertragsgesetz oder dizinischer Behandlung befindet, sondern vor allen Din- gegebenenfalls im Versicherungsaufsichtsgesetz nach- gen deswegen, weil er medizinischer Laie ist und ihm vollzogen, oder wie wir sagen, wirkungsgleich umge- die Sachkenntnis fehlt, Art und Weise sowie Erfolg oder setzt. Misserfolg einer Behandlung erkennen und einschätzen zu können. Ich wundere mich: Im Patientenrechtegesetz findet sich dazu nichts. Muss ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Vor diesem Hintergrund hat die Rechtsprechung in Kollegen vor allem von der FDP, wirklich sagen, dass den vergangenen Jahrzehnten eine sehr komplexe, sehr Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23665

Dr. Jan-Marco Luczak (A) ausdifferenzierte Judikatur zum Arzthaftungs- und zum Auch in vielen anderen Punkten werden die Rechte der (C) Behandlungsrecht entwickelt. Sie hat versucht, die In- Patienten gestärkt. teressengegensätze, die es zwischen Arzt und Patient na- turgemäß dann gibt, wenn bei einer medizinischen Be- Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sa- handlung einmal nicht alles glatt gelaufen ist, in ein gen, das sei ein politisches Placebo und ein verkümmer- ausgewogenes und sachgerechtes Verhältnis zu bringen. ter Gesetzentwurf. Es ist wirklich unangemessen, in die- ser Art und Weise mit den Rechten von Patienten Das Problem dabei ist, dass Patienten in aller Regel umzugehen. keine Juristen sind. Kein Patient kennt also den Umfang und auch die Grenzen der ihm zugesprochenen Rechte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was ist die Folge daraus? Die Folge ist eine Intranspa- Wir haben verschiedene Punkte aufgegriffen. Uns ist renz, aus der eine Unsicherheit der Patienten darüber re- die Einwilligung, die ein Patient zu seiner Behandlung sultiert, welche Rechte sie tatsächlich haben. Die Folge geben muss, sehr wichtig. Deshalb ist nach unserer Mei- davon wiederum ist, dass die Patienten den Ärzten nicht nung ein abgestuftes System aus Information und Auf- auf Augenhöhe begegnen können und deswegen auch klärung des Patienten für die Wirksamkeit der Einwilli- manchmal Probleme haben, ihre Rechte durchzusetzen. gung notwendig. Wir stärken die entsprechenden Rechte Das wollen wir mit unserem Gesetzentwurf ändern. des Patienten in diesem Punkt, weil wir der Meinung Wir wollen, dass Patienten selbstbewusst, selbstbe- sind, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten im stimmt und eigenverantwortlich über ihre Behandlung, Mittelpunkt stehen muss. Das erreichen wir mit diesem über ihre Therapie entscheiden können. Wir setzen hier- Gesetz. bei auf das Leitbild des mündigen Patienten, der umfas- Des Weiteren geht es um Fragen der Beweislastvertei- send über seine Rechte informiert ist und weiß, in wel- lung und der Haftung. In Haftungsprozessen ist es in der che Behandlung er einwilligt. Damit stärken wir das Regel entscheidend, wer was beweisen muss bzw. be- Vertrauensverhältnis zwischen Patient auf der einen weisen kann. Hier gibt es natürlich ein strukturelles Un- Seite und Arzt auf der anderen Seite. gleichgewicht im Verhältnis von Arzt zu Patient. Das Wie erreichen wir das? Wir glauben, dass es notwen- wollen und werden wir mit unserem Gesetz ausgleichen. dig ist, die relevanten Rechte und Pflichten, die es nach Wir schreiben die besondere Beweislastverteilung, die es der Rechtsprechung und in vielen Gesetzen schon jetzt schon im richterrechtlichen Bereich gibt, im BGB fest. gibt, klar, nachvollziehbar und transparent in einem Ge- Auf die verschiedenen Vermutungsregelungen muss ich setz zu regeln. Aus diesem Grunde bündeln wir diese nicht näher eingehen, weil sie schon dargelegt wurden. Rechte dort, wo sie für jeden auffindbar und nachlesbar Nur so viel: Wir sorgen dafür, dass die Patienten ihre (B) sind, nämlich in einem eigenen Abschnitt des Bürgerli- Rechte auch in der Rechtspraxis durchsetzen können. Es (D) chen Gesetzbuchs. Wir konstruieren dazu den eigenen stellt einen ganz wesentlichen Fortschritt dar, dass wir Vertragstypus des Behandlungsvertrags. Mit dieser um- das gesetzlich kodifiziert haben. fassenden Kodifizierung schaffen wir die notwendige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Ich muss langsam zum Schluss kommen. Wir wollen Unser Blick richtet sich dabei nicht alleine auf die Pa- auch kein überzogenes Haftungsregime haben. Wir wol- tienten, sondern es ist auch für die andere Seite – für die len ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Ärzte und die anderen im Gesundheitswesen tätigen Per- Wenn wir – wie zum Teil gefordert – die Vermutung ge- sonen – wichtig, ihren Pflichtenkanon zu kennen. Denn setzlich festgeschrieben hätten, dass auch einfache Be- nur dann können sie sich darauf einstellen und im Be- handlungsfehler immer als schuldhaft anzusehen sind, handlungsalltag die notwendigen Schritte unternehmen. kämen wir zu einer Defensivmedizin, die sich fort- Wir schaffen also Orientierung für die Patienten, aber schrittlichen Behandlungsmethoden nicht öffnen kann. eben auch für die Mediziner. Und das ist gut so. Das wollen wir nicht. Deswegen haben wir uns entspre- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chenden Forderungen verschlossen. neten der FDP) Was regeln wir nun im Einzelnen? Meine Redezeit ist Präsident Dr. Norbert Lammert: zu knapp bemessen, um alle Details darzustellen. Wir Herr Kollege, Sie müssen jetzt nicht langsam, son- orientieren uns im Wesentlichen an dem Wunsch nach dern zügig zum Schluss kommen. Verlässlichkeit und Kontinuität hinsichtlich der Rechte, (Heiterkeit) die es schon gibt. Allein mit dieser Kodifizierung schaf- fen wir schon einen Mehrwert, weil damit Transparenz herrscht. Jeder Patient kann ins Bürgerliche Gesetzbuch Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): schauen und weiß dann, was seine Rechte und Pflichten Ich komme zum Schluss. sind. Allein das ist ein bemerkenswerter Schritt. Ich stelle fest: Wir haben hier einen gesetzgeberi- Aber dabei bleiben wir nicht stehen – auch wenn das schen Drahtseilakt zwischen der Kodifizierung auf der von der Opposition hier zum Teil anders dargestellt wird. einen Seite und dem notwendigen Spielraum für die Ge- Natürlich gibt es bei den Informations- und Aufklä- richte auf der anderen Seite, um einzelfallbezogene, ge- rungsrechten der Patienten Fortschritte. Wir haben uns rechte Entscheidungen treffen zu können, bewältigt. Das sehr genau angeschaut, was wir da machen müssen. leistet dieser Gesetzentwurf. Ich finde, er ist gut gelun- 23666 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. 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Dr. Jan-Marco Luczak (A) gen. Nun gehen wir gestärkt in die parlamentarischen 2002 wird in Deutschland – anders als in den USA und (C) Beratungen. anderen europäischen Ländern – kaum zur Kenntnis ge- nommen. Ganz leise beginnt jetzt eine Diskussion. Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) worfen wird ein „Manifest für eine menschliche Medi- zin“. Das ist gut so. Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Die Linke hat nun Martina Bunge (Beifall bei der LINKEN) das Wort. Ich will zwei Punkte aus der Charta herausgreifen. Sie (Beifall bei der LINKEN) fordert, Interessenkonflikte beizulegen und allein den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen. Patientinnen und Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Patienten erwarten keine Unfehlbarkeit, Frau Ministerin, aber sie erwarten, dass allein ihr Wohl das therapeutische Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Handeln bestimmt und nicht persönliche Vorteile, gleich Auch ich schätze ein: Ihr Gesetzentwurf zu den Patien- ob Vergütungsvorteile oder Geschenke; denn diese kön- tenrechten, werte Kollegen von der Koalition, ist ein nen dazu führen, dass ein Arzt bewusst sein Handeln än- „wirkungsloses Feigenblatt“ und lässt die Geschädigten dert. Interessenkonflikte bei Therapeuten müssen offen im Regen stehen. Nach den großen Ankündigungen von benannt und erheblich verringert werden. Die Vorlage Ihrer Seite, verehrter Herr Kollege Zöller, als Patienten- der Bundesregierung reicht dazu bei weitem nicht aus. beauftragter sind die Patientinnen und Patienten maßlos Die von Ihnen vorangetriebene Vermarktlichung des Ge- enttäuscht. sundheitssystems bewirkt genau das Gegenteil. (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der LINKEN) GRÜNEN) Die Charta fordert Wahrhaftigkeit von einem Arzt. Warum müssen wir aber überhaupt so intensiv über Patienten erwarten keinen perfekten Arzt, aber sie er- die Patientenrechte diskutieren? Der Hauptgrund ist mei- warten zu Recht, dass ihr Arzt einen Fehler zugibt und nes Erachtens, dass das Vertrauen der Patientinnen und die Verantwortung übernimmt, statt die Fehler zu vertu- Patienten in die medizinische Versorgung – und hier vor schen. Aber dann steigt ihm die Haftpflichtversicherung allen Dingen in die ärztliche Versorgung – abnimmt. auf den Kopf. So kann keine Fehlerkultur entstehen, Dieser Vertrauensverlust ist ein Alarmsignal für das Ge- Herr Minister, in der man aus Fehlern lernt. Lernen muss sundheitssystem. Im Grunde ist die dringende Notwen- das ganze System. digkeit eines Patientenrechtegesetzes ein Armutszeugnis (B) (Heinz Lanfermann [FDP]: Wir wollen eine (D) für die vorherrschende Gesundheitspolitik. Fehlervermeidungskultur!) (Beifall bei der LINKEN) Wenn ein Fehler passiert, brauchen die Patientinnen und Das Vertrauen nimmt sicherlich auch ab, weil Patien- Patienten eine generelle Erleichterung bei der Beweis- tinnen und Patienten kritischer werden und sich orga- last, nicht nur in schweren Fällen. Dazu stehen wir. nisieren und weil ärztliche Fehler durch präsentere Me- dien viel stärker öffentlich werden. Aber das Vertrauen Das derzeitige Konstrukt der Haftpflichtversicherung nimmt besonders dadurch ab, dass vor allen Dingen Ärz- bei Gesundheitsberufen sorgt dafür, dass Fehler ver- tinnen und Ärzte zunehmend in einen Interessenkonflikt tuscht und die Existenz bestimmter exponierter Berufs- zwischen persönlichen Vorteilen und guter Behandlung gruppen und damit die Versorgung gefährdet werden. der Patientinnen und Patienten kommen. Die zuneh- Ganz offensichtlich ist, dass durch die aktuelle Situation mende Vermarktlichung unseres Gesundheitssystems, der freiberuflichen Hebammen das Wahlrecht der werden- die auch die Ärztinnen und Ärzte immer stärker erreicht, den Mütter hinsichtlich der Art der Entbindung mehr schwächt das Vertrauen in die Versorgung. Das Ver- und mehr eingeschränkt wird. Das darf nicht hingenom- trauen ist aber eine Grundvoraussetzung für eine gelin- men werden. gende medizinische Therapie. Daher gilt es, das Ver- (Beifall bei der LINKEN) trauen zu stärken. Daher fordert die Linke einen Haftungsfonds. Herr (Beifall bei der LINKEN) Zöller, wenn einer dafür und einer dagegen ist, dann Dies kann ein Gesetz allein nicht leisten. Aber es muss muss die Politik zum Wohle der Patientinnen und Patien- ein Beitrag dazu sein. ten entscheiden. Dazu sind wir hier. Für Vertrauen brauchen wir ein Gesundheitssystem, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. in dem der Patient wieder im Mittelpunkt steht, ein Ge- Dr. Marlies Volkmer [SPD]) sundheitssystem, das nicht Tummelplatz wirtschaftlicher Interessen ist. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN) Das wäre doch ein schöner Schlusssatz gewesen, Frau Kollegin. Wir brauchen wieder eine intensive Diskussion und einen modernen Konsens über die Ethik des Arztberufes. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Die Charta zur ärztlichen Berufsethik aus dem Jahre und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23667

(A) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): einfache Behandlungsfehler. Ich sage ausdrücklich „Be- (C) Das Profitdenken von Unternehmen erfordert einen weiserleichterung“ und nicht „Beweislastumkehr“. Da- starken Verbraucherschutz. Dem Profitstreben im Ge- mit meine ich: Wenn der Patient zur Überzeugung des sundheitssystem kann man mit einem Patientenrecht nur Gerichts darlegt, dass ein Behandlungsfehler vorliegt unzureichend begegnen. Ein Patientenrechtegesetz kann und dass ein Gesundheitsschaden eingetreten ist, muss das Gesundheitssystem nicht reparieren, aber es könnte der Arzt die Vermutung erschüttern, dass hier ein Kau- dafür sorgen, dass das System zumindest patienten- salzusammenhang besteht. Nur so kann ein effektiver freundlicher gemacht wird. Diese Gesetzesvorlage leis- Schutz von Patientinnen und Patienten erreicht werden. tet das nicht. Schade. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. und bei der LINKEN) Dr. Edgar Franke [SPD]) Ein weiterer wichtiger Faktor in Arzthaftungsprozes- sen ist die Frage, nach welchem Verfahren sachverstän- Präsident Dr. Norbert Lammert: dige Gutachter bestellt werden. In den allermeisten Fäl- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die len fehlt Juristinnen und Juristen der medizinische Kollegin Ingrid Hönlinger das Wort. Sachverstand. Das gilt für Anwälte/Anwältinnen ge- nauso wie für Richter/Richterinnen. Die Entscheidung Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): darüber, wer das medizinische Gutachten erstellt, ist so Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das in Wirklichkeit oft die vorweggenommene Entscheidung Patientenrechtegesetz wird durch folgende zentrale Be- darüber, wie der Prozess ausgeht. griffe gekennzeichnet und beschrieben: Beteiligungs- rechte, Aufklärungspflichten, Dokumentationsrechte und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor allem Transparenz und Rechtssicherheit. Schon an sowie bei Abgeordneten der SPD) dieser Begrifflichkeit lässt sich ablesen, dass es sich um Wir Grünen meinen deshalb: In die Entscheidungsfin- ein komplexes und besonders wichtiges Rechtsgebiet dung zu der Frage, welcher Gutachter bestellt wird, müs- handelt. Patientinnen und Patienten und auch Sie selbst, sen die Parteien viel stärker eingebunden werden als bis- meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, her. Wir brauchen klare und transparente Regeln für die haben, wie sich Ihren Worten entnehmen lässt, hohe An- Gutachtenvergabe. sprüche an dieses Gesetz. Diesen Ansprüchen wird das Patientenrechtegesetz in seiner jetzigen Form nicht ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) recht. Auch die Verfahrensabläufe bei den Schlichtungs- (B) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ und Gutachterkommissionen der Ärztekammern können (D) DIE GRÜNEN) wir noch verbessern. Wir sollten auch Möglichkeiten der Dass Sie uns nun endlich ein solches Gesetz vorlegen alternativen Streitbeilegung verstärkt nutzen. Mit dem und dass der Behandlungsvertrag damit als eigener Ver- Mediationsgesetz haben wir hier vor der Sommerpause trag im Bürgerlichen Gesetzbuch kodifiziert wird, begrü- überfraktionell, mit allen Fraktionen, eine sichere recht- ßen wir ausdrücklich. Sie erkennen damit an, dass zwi- liche Grundlage geschaffen. schen Patient und Arzt ein besonderes Rechtsverhältnis Diese und weitere Punkte wie ein Härtefallfonds, besteht. Die gesetzliche Regelung des Behandlungsver- meine Damen und Herren, müssen im Gesetzgebungs- trags war überfällig, ausreichend ist sie jedoch noch im- verfahren noch eingearbeitet werden; denn das oberste mer nicht. Sehr deutlich zeigt sich das bei der Festlegung Ziel dieses Gesetzes muss es sein, die Rechtsstellung der Beweislast. von Patientinnen und Patienten umfassend zu verbessern Hier kodifizieren Sie die ständige Rechtsprechung und diese im Behandlungsprozess von Betroffenen zu des BGH zur Beweislastumkehr bei groben Behand- Beteiligten zu machen. lungsfehlern. Demgemäß erkennen Sie nur hier an – Zi- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. tat von Seite 30 Ihres Gesetzentwurfs –: „… dass der Be- handelnde ‚näher dran‘ ist, das Beweisrisiko zu tragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Demgegenüber wird der Patient im Regelfall kaum et- bei der SPD und der LINKEN) was zur Klärung des Sachverhalts beitragen können …“. Aber schauen Sie doch genau hin! Das ist bei weniger Präsident Dr. Norbert Lammert: krassen Behandlungsfehlern nicht anders. Im Regelfall Das Wort hat nun der Kollege Erwin Rüddel für die ist es bei kleineren Fehlern sogar noch viel schwieriger CDU/CSU-Fraktion. für die Patientinnen und Patienten, den Behandlungsfeh- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ler nachzuweisen. neten der FDP) Das Besondere an einem Behandlungsvertrag ist doch gerade, dass ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen Erwin Rüddel (CDU/CSU): den Vertragsparteien besteht, meine Damen und Herren. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Die Beweislastumkehr im Ausnahmefall reicht deshalb ren! Meine Fraktion sieht in dem vorliegenden Gesetz- nicht aus. Wir brauchen eine zusätzliche Beweiserleich- entwurf der Bundesregierung eine deutliche Verbesse- terung in Form einer widerlegbaren Vermutung auch für rung der Patientensituation und eine hervorragende 23668 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Erwin Rüddel (A) Grundlage für die weitere parlamentarische Beratung. Den Krankenkassen wird bei der Genehmigung bean- (C) Mein Dank gilt neben den beteiligten Bundesministerien tragter Leistungen künftig eine Frist gesetzt. Entschei- vor allem unserem Kollegen Wolfgang Zöller, der sich den sie innerhalb dieses Zeitraumes nicht, gilt ein Antrag als Patientenbeauftragter der Bundesregierung seit vie- automatisch als genehmigt; der Patient bekommt also die len Monaten mit großem persönlichen Einsatz für dieses Kosten seiner Behandlung erstattet. wichtige Vorhaben engagiert hat. Insgesamt stellt der vorliegende Gesetzentwurf einen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meilenstein für unser Gesundheitswesen dar. Patientin- Mit dem Patientenrechtegesetz runden wir unsere er- nen und Patienten werden ihre Rechte besser kennen und folgreiche Gesundheitspolitik der letzten drei Jahre ab. besser durchsetzen können. Wir werden jetzt rasch in die Detailberatungen einsteigen und das Gesetz zügig verab- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE schieden, damit die Neuregelungen mit Beginn des kom- GRÜNEN]: Oh! – Johannes Singhammer menden Jahres in Kraft treten können. [CDU/CSU]: Genau! Sehr gut! – Maria Klein- Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Damen und Herren, ich plädiere dafür, im Schlechtes Vorzeichen!) Zuge der weiteren parlamentarischen Beratungen die Einrichtung einer Stiftung zu prüfen, die Betroffenen in Wir schaffen mehr Transparenz und mehr Rechte für Härtefällen schnell und unbürokratisch Hilfe zukommen Patientinnen und Patienten. Wir bündeln diese Rechte in lässt. Ich bitte, diesen Härtefallfonds nicht mit einem einem einheitlichen Gesetz. Wir machen sie für jeder- Entschädigungsfonds zu verwechseln. Ein solcher Fonds mann nachprüfbar. Wir verankern das Arzt-Patient-Ver- sollte auch Fälle mit einbeziehen, in denen Ärztefehler hältnis erstmals im Bürgerlichen Gesetzbuch. wahrscheinlich, jedoch letztendlich nicht gerichtsfest Die Krankenkassen werden ihre Mitglieder künftig nachzuweisen sind. bei Verdacht auf Behandlungsfehler unterstützen, um eventuelle Schadensersatzansprüche durchzusetzen. Der (Beifall des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜND- Gesetzentwurf richtet sich nicht gegen jemanden, son- NIS 90/DIE GRÜNEN]) dern sorgt für einen transparenten und fairen Ausgleich Die Hilfe würde zwar nicht auf einem Rechtsanspruch der Interessen. Er schützt das sensible Vertrauensverhält- beruhen, aber Betroffenen zugutekommen, die aufgrund nis zwischen Arzt und Patient. Bei Streitigkeiten ist die des gesundheitlichen Schadens in eine schwierige Le- Patientenakte das wichtigste Dokument. Wir stellen si- benslage geraten sind und rasche finanzielle Unterstüt- cher, dass Patienten in ihre Akte Einsicht nehmen kön- zung brauchen. nen. Beweiserleichterungen für die Patienten werden (B) (D) klar geregelt. Ferner müssen wir eine Lösung für den Fall finden, Bei groben Behandlungsfehlern muss der behan- dass ein Ärztefehler zwar nachgewiesen wurde, die Ver- delnde Arzt darlegen, dass er alles richtig gemacht hat, ursacherfrage aber nicht eindeutig geklärt werden kann. und nicht der Patient nachweisen, dass der Arzt einen Es kann nicht im Sinne der Betroffenen sein, dass es hier Fehler begangen hat. Diese Regelung greift die bisher lange Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Versi- entwickelte Rechtsprechung auf und sichert so das sen- cherungen gibt und die Patienten zwar im Prinzip recht, sible und ausgewogene System der Beweislastumkehr aber keine Entschädigung bekommen. im Prozess. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Patientinnen und Patienten erhalten auch mehr Rechte gegenüber Kliniken und Krankenkassen, und sie Deshalb sollten wir auch über einen Rückversiche- werden in unserem Gesundheitssystem zu Partnern auf rungsfonds nachdenken, der von den Versicherern zu fi- Augenhöhe. Dazu trägt nicht nur die vorgesehene Unter- nanzieren wäre. Dieser hätte zum Beispiel dann für die stützung seitens der Krankenkassen durch medizinische Schadensregulierung aufzukommen, wenn ein Arzt Gutachten beim Verdacht auf Behandlungsfehler bei, seine Versicherungsprämie nicht gezahlt hat. Ich sehe sondern auch die Verpflichtung für Ärzte und Kliniken, hier aber insbesondere die Ärztekammern und die Bun- sehr viel stärker als bisher Behandlungsfehler und Bei- desländer in der Pflicht, für die Kontrolle einer ausrei- nahefehler zu dokumentieren und auszuwerten. Wir stär- chenden und fortdauernden Berufshaftpflichtversiche- ken durch Einführung von Fehler- und Risikomanagement- rung der behandelnden Ärzte zu sorgen. systemen die Fehlervermeidungskultur. Außerdem wird ein Beschwerdemanagement in Krankenhäusern ver- Derzeit ist die Haftpflicht lediglich mit der Zulassung bindlich. gegenüber der Kammer nachzuweisen. Wenn sich aber der Tätigkeitsbereich verändert, wird bislang kein erneu- Zu den Rechten der Patienten wird in Zukunft neben ter Nachweis einer ausreichenden Berufshaftpflicht ge- der Einsicht in die Behandlungsunterlagen auch eine fordert. Nach meiner Einschätzung benötigen die Zulas- umfassende und rechtzeitige Aufklärung gehören. Damit sungsbehörden und Kammern Sanktionsmittel bis hin erhalten der Behandlungsvertrag sowie die Aufklärungs- zum Entzug der Approbation. und Dokumentationspflichten eine rechtliche Grundlage. Die von der Rechtsprechung entwickelten Beweiserleichte- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des rungen werden ausdrücklich zugunsten der Patienten ge- Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE setzlich geregelt. GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23669

Erwin Rüddel (A) Wünschenswert wäre eine bundeseinheitliche Rege- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C) lung. Ich halte es für unerlässlich, dass die Länder eine Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl! lückenlose Kontrolle sicherstellen. Eine sehr gute Rede!) (Beifall der Abg. Dr. Marlies Volkmer [SPD]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Meine Damen und Herren, in Sachen Mitbestim- Nun spricht der Kollege Edgar Franke für die SPD- mungsrechte bei der Bedarfsplanung geht der vorlie- Fraktion. gende Entwurf in die richtige Richtung. Im Sinne der Beteiligungsrechte der Patientinnen und Patienten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) scheint er mir aber noch ausbaufähig zu sein. (Beifall des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜND- Dr. Edgar Franke (SPD): NIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Beste an diesem Gesetz, Herr Rüddel, ist Deshalb sollten wir über eine Erweiterung der Mitbe- meiner Ansicht nach sein Name. Eine wirkliche Stär- stimmungsrechte der Patientenvertreter im Gemeinsa- kung der Patientenrechte sucht man vergebens; da kann men Bundesauschuss nachdenken, etwa in Verfahrens- ich meinen Kolleginnen und Kollegen nur Recht geben. fragen, die den Ablauf der Sitzungen beeinflussen können. In diesem Gesetzentwurf ist im Wesentlichen das be- stehende Richterrecht, Herr Zöller, nochmals aufge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des schrieben worden. Frau Ministerin, das Richterrecht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lediglich aufzuschreiben, kann sogar negative Auswir- – Sie sehen, wie gut die Grundlagen der Diskussion sind. kungen haben. Die Rechtsprechung hat die Patienten- rechte in den letzten Jahren dynamisch ausgeweitet. In Sachen Patientenakte sollte es auf Wunsch der Pa- Aber eine Normierung, wie Sie sie vornehmen, schreibt tienten künftig auch möglich sein, die Akte elektronisch den Status quo letztlich nur ein Stück weit fest. Damit zugänglich zu machen, wobei die subjektiven Eindrücke bremst sie sogar eine dynamische Weiterentwicklung, des Arztes auch weiterhin vertraulich bleiben müssen. eine Verbesserung der Rechte der Patienten. Insofern Schließlich ein Wort zu den sogenannten individuel- schadet dieses Gesetz mehr, als es nutzt. len Gesundheitsleistungen. Wir werden im zu verab- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schiedenden Gesetz zweifelsfrei sicherstellen, dass die LINKEN) Patientinnen und Patienten ihre Entscheidung für oder (B) gegen eine individuelle Gesundheitsleistung ohne jeden Patientenrechte sind immer aus der Patientenperspek- (D) Druck und Zwang treffen können und dass die Versi- tive zu sehen. Was heißt das? Das heißt, man muss die cherten wirkungsvoll vor möglichem Missbrauch und Frage beantworten: Was möchte der Patient? Er möchte vor unnötigen und überflüssigen Maßnahmen geschützt möglichst alle medizinischen Leistungen erhalten, er möch- werden. Der Vertragsarzt muss die Zustimmung des Ver- te keine vorenthalten bekommen. Außerdem möchte er sicherten einholen und ihn auf die Pflicht zur Über- nicht schlecht und vor allen Dingen nicht unnötig behan- nahme der Kosten hingewiesen haben. Er muss also mit delt werden. Wir kennen die vielen Fälle, ihn denen je- dem Patienten vor Beginn der Behandlung einen Be- mand ein künstliches Kniegelenk verpasst bekommen handlungsvertrag mit Angabe der voraussichtlichen hat, obwohl er es nicht gebraucht hat. Der Patient muss Kosten abgeschlossen haben. Eine Vergütung darf nur sozusagen den Durchblick dafür haben, dass nicht mone- gefordert werden, wenn der Versicherte vor Beginn der täre, sondern medizinische Gründe für eine Behandlung Behandlung ausdrücklich verlangt hat, auf eigenen Kos- ursächlich sind. ten behandelt zu werden, und dies schriftlich bestätigt. Nachdem verschiedene Punkte schon sehr detailliert Das alles, meine Damen und Herren, wird im Rahmen angesprochen worden sind, möchte ich für meine Frak- des künftigen Patientenrechtegesetzes verbindlich gere- tion jetzt ein paar Punkte zusammenfassen. gelt werden. Versuche aus den Reihen der Opposition, hier weiterhin Panikmache zu betreiben, sind deshalb Erstens. Das zentrale Problem im Haftungsrecht ist die wirklich überflüssig. Beweislastsituation; das hat auch Frau Hönlinger ange- sprochen. Auch hier, Frau Ministerin, bringt der Gesetz- (Beifall bei der CDU/CSU) entwurf nichts Neues. Der Patient muss auch zukünftig Seit über zehn Jahren wird über ein Patientenrechte- die volle Beweislast tragen. Beweislasterleichterungen gesetz diskutiert. Ich weiß, dass auch zu Zeiten der rot- sind bei normalen, einfachen Behandlungsfehlern nicht grünen Regierung über ein Patientenrechtegesetz ge- vorgesehen. Das wäre allerdings erforderlich gewesen, sprochen wurde, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Wir haben die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorarbeit geleistet!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) es aber bei Worten geblieben ist, da man nicht die Kraft entwickelt hatte, ein Gesetz auf den Weg zu bringen. Da- Natürlich gilt die Beweislastumkehr bei groben Behand- her bin ich dieser Regierungskoalition dankbar, dass sie lungsfehlern, aber dies entspricht der stetigen Rechtspre- nicht nur redet, sondern auch konkret handelt. chung und ist somit nichts Neues. 23670 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Dr. Edgar Franke (A) Zu kritisieren ist auch, dass Ärzte zukünftig erst auf Des Weiteren wäre die Einführung der Pflicht zum (C) direkte Nachfrage eine Bewertung als Behandlungsfeh- Abschluss einer Haftpflichtversicherung für die Herstel- ler mitliefern müssen. Dies hat aus unserer Sicht generell ler zwingend erforderlich. zu geschehen. Viertens. Der Härtefallfonds ist mehrfach angespro- Darüber hinaus brauchen wir in der Praxis ein neues chen worden. Wenn ich Herrn Rüddel richtig verstanden Fehler- und Beschwerdemanagement und eine Kultur, habe, ist auch er nicht ganz abgeneigt. Ein solcher Fonds Fehler zuzugeben. Wir haben im Gesetzentwurf ein straf- für soziale Härtefälle wäre sinnvoll. Dies wäre zum Bei- prozessuales Verwertungsverbot vorgesehen, sodass nie- spiel dann sinnvoll, wenn sich nicht genau ermitteln mand Angst davor haben muss, Fehler auch zuzugeben. ließe, wer schuld daran ist, dass sich ein Patient während Das, Frau Ministerin, ist positiv. eines Krankenhausaufenthalts mit einem Keim infiziert hat. Für den Fall, dass sich die Ursache oder das Ver- (Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ schulden nicht genau ermitteln lassen, sollte ein Härte- CSU]) fallfonds greifen. Zweitens. IGeL-Leistungen sind im Patientenrecht, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sehr geehrter Herr Zöller, so gut wie nicht geregelt. Wir der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE wissen, dass den Patienten in letzter Zeit von Ärzten oft- GRÜNEN) mals freiwillige bzw. medizinische Nicht-Kassenleistun- Fünftens. Auch ein Patientenbrief müsste verbindlich gen angedreht – so muss man ehrlicherweise formulie- sein. Sie werden gleich sagen, dass es zu viel Bürokratie ren – werden. Zum Teil zahlen Patienten viel Geld dafür. in der Pflege gebe und dass die Ärzte durch zu viel Bü- Diese Leistungen sind schädlich; darüber brauchen wir rokratie belastet seien; aber ein Patientenbrief würde uns nicht zu unterhalten. Darmspülungen sind das beste Vertrauen und Transparenz schaffen. Er wäre aus unserer Beispiel. Sicht sinnvoll. Denn wenn Vertrauen aufgebaut wird, ließe sich die eine oder andere Streitigkeit, Herr Zöller, Herr Zöller, da bei jedem Haustürgeschäft eine Ein- präventiv verhindern. Insofern wäre ein solcher Patien- willigungssperrfrist gilt, frage ich mich, warum eine sol- tenbrief sehr wichtig. che Einwilligungssperrfrist nicht auch bei diesen Leis- tungen gilt. Warum räumt man dem Patienten nicht eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frist von beispielsweise zwei Tagen ein, innerhalb deren Letzter Punkt. Patientenrechte haben auch vor dem er widerrufen kann? Hintergrund der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sehr eine besondere Bedeutung; ich erinnere an die Entschei- (B) praktikabel! Das ist ja unglaublich!) dung des Bundesgerichtshofs zur Korruption im Gesund- (D) heitswesen. Wie Sie wissen, können niedergelassene Wenn es eine solche Einwilligungssperrfrist schon bei Ärzte nunmehr ungestraft Zahlungen kassieren, zum Bei- Haustürgeschäften gibt, dann muss es sie erst recht bei spiel dafür, bestimmte Medikamente zu verschreiben, Gesundheitsleistungen geben, meine sehr verehrten Da- und kein Patient kann etwas dagegen tun. Es besteht men und Herren. keine rechtliche Möglichkeit, dies zu sanktionieren. Es besteht keine strafrechtliche Prävention. (Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Und bei Lakritz wegen des hohen Blut- Vertrauen, Herr Zöller, ist ein hohes Gut. Patienten drucks! Dann müsste man auch zwei Tage müssen sich immer sicher sein, dass bei einer ärztlichen warten, bis man Lakritz kaufen darf!) Entscheidung allein medizinische und nicht finanzielle Gründe eine Rolle spielen. Wir haben im Gesundheits- Außerdem glaube ich, dass auch ein schriftlicher Be- ausschuss gehört, dass es bei den Ärztekammern so gut handlungsvertrag vernünftig ist. wie keine Verfahren hierzu gibt. Es gibt deswegen keine Verfahren, weil es keine staatsanwaltschaftlichen Ermitt- Dritter Punkt. Die bestehenden Schwächen im Medi- lungen gibt. Die gibt es nicht, weil es keinen Straftatbe- zinproduktegesetz werden auch in diesem Gesetzentwurf stand gibt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in- nicht geheilt. Da hätten wir als Sozialdemokraten mehr sofern beißt sich hier die Katze in den Schwanz. erwartet. Gerade die Skandale bei Brust- und Hüftim- Wir müssen gegen Korruption vorgehen. Wenn wir plantaten führen aus unserer Sicht vor Augen, dass dort nicht dagegen vorgehen, riskieren wir nicht nur die Ge- Handlungsbedarf besteht. Die Hersteller jedenfalls ha- sundheit der Patienten, sondern auch den guten Ruf der ben nichts oder nur wenig zu befürchten, und gerade bei Ärzte; von den Versichertengeldern ganz zu schweigen. Serienfehlern müssten wir die Hersteller an den Kosten der Entfernung des Implantats beteiligen. Das wäre sinn- Das Patientenrechtegesetz verdient aus unserer Sicht voll und aus meiner Sicht auch sachgerecht. seinen guten Namen eigentlich nicht; denn wichtige Dinge sind nicht geregelt. Die Rechte von Patientinnen (Beifall bei der SPD) und Patienten werden jedenfalls aus meiner Sicht nicht gestärkt. Insofern muss man vielleicht bis 2013 warten, Wir bräuchten ein Implantatregister zur besseren bis die SPD wieder mit einem starken Kanzler an der Rückverfolgung der Fälle, in denen ein Implantat einen Regierung ist. Fehler aufweist. Auch das wäre notwendig und vernünf- tig. Danke schön. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23671

Dr. Edgar Franke (A) (Beifall bei der SPD – Dr. Jan-Marco Luczak Auch das Versorgungsstrukturgesetz war in diesem (C) [CDU/CSU]: Mit Steinbrück wird es bestimmt Sinne ein Patientenrechtegesetz, weil es den Zugang zur nicht klappen! – Zuruf von der FDP: Behandlung auch im ländlichen Raum sicherer macht. Steinbrück will keine linken Experimente!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Übrigens ist auch die Neufassung der Approbations- Nun hat der Kollege Rudolf Henke als letzter Redner ordnung, in der der Minister verordnet, dass in der Aus- zu diesem Tagesordnungspunkt für die CDU/CSU-Frak- bildung der Ärzte Palliativmedizin und Schmerztherapie tion das Wort. heute einen größeren Umfang einnehmen, zwar kein Pa- tientenrechtegesetz, aber eine Patientenrechteverord- (Beifall bei der CDU/CSU) nung gewesen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!) Rudolf Henke (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun zum vorliegenden Patientenrechtegesetz. Ich Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Franke, glaube, dass es richtig ist, dass die Rechte hoch entwi- Ihre Rede trägt zumindest dazu bei, dass die Öffentlich- ckelt sind und dass sie durch die Rechtsprechung in gro- keit weiß, worauf sie sich einstellen muss und womit sie ßem Umfang gesichert sind. Aber das Bestreben – das rechnen muss. Wenn Sie sagen: „Das zentrale Instru- haben wir von allen gehört –, die Informationslage zu ment, das Vertrauen herstellt, ist ein Patientenbrief, der verbessern und die bestehenden Rechte zu verdeutli- regelmäßig geschrieben wird“, wenn das also das zen- chen, hat auch durch die früheren Versuche, das Richter- trale Instrument ist, das Vertrauen herstellt, dann scha- recht transparenter werden zu lassen, nicht zu dem er- den Sie mit dieser Argumentation sogar der Glaubwür- hofften Erfolg geführt. Insofern wollen wir mit diesem digkeit des Textes eines Antrags von Ihnen, in dem Sie Gesetz mehr Transparenz schaffen für Patienten, Ärzte einmal festgehalten hatten, dass das Leistungsniveau und Behandler; denn dieses Gesetz weitet die Gültigkeit und übrigens auch das Arzthaftungsrecht in Deutschland des entwickelten Richterrechts von der Arzt-Patienten- im internationalen Vergleich – ich zitiere Ihren Antrag – Beziehung auf andere Behandlungssituationen aus. Es beispielhaft gut sei. Dem widerspricht es, wenn Sie dann beschränkt sich nicht nur auf die Beziehung zu den Ärz- sagen, das Vertrauen muss erst geschaffen werden. ten. Wodurch wird denn Vertrauen geschaffen? Ich Gute Ärztinnen und Ärzte achten das Selbstbestim- glaube, Patienten haben dann Vertrauen, wenn sie erle- mungsrecht ihrer Patienteninnen und Patienten, respek- (B) ben, dass sie Zugang zur Behandlung haben. Das ist et- tieren die Würde der Kranken und schützen deren Privat- (D) was, was Vertrauen schafft. sphäre. Was schafft Vertrauen? Wenn die Patienten erleben, Dazu gehört auch, dass wir unsere Patienten über die dass Behandelnde genügend Zeit haben, dass deren Diagnose- und Therapieschritte und über ihren gesund- Kraft – Minister Bahr hat darauf aufmerksam gemacht – heitlichen Zustand in einer so verständlichen Form infor- nicht durch unsinnige Belastungen gebunden wird. Bis mieren und aufklären, dass sie die Tragweite der Be- zum Beweis des Gegenteils behaupte ich, dass dieser handlung, die in Betracht kommenden alternativen von Ihnen geforderte Patientenbrief an alle eine unsin- Behandlungsoptionen und die damit verbundenen Risi- nige Belastung wäre, die die Behandelnden davon ab- ken erfassen können. Der Gesetzentwurf will die Be- hält, sich den Patienten mit genügend Zeit zu widmen. lange von Menschen mit Behinderungen übrigens auch dadurch berücksichtigen, dass er die Verwendung der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Leichten Sprache für Menschen mit sogenannten geisti- Vertrauen wird geschaffen, wenn wir ein solidarisches gen Behinderungen fördert. Gesundheitswesen haben, in dem keiner die Sorge haben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) muss, sich durch eine Behandlung zu ruinieren. Ver- trauen wird geschaffen, wenn man sich auch in schlech- Vor allem vor operativen Eingriffen muss dem Patien- ten Zeiten darauf verlassen kann, dass das Versprechen ten die notwendige Bedenkzeit zur Verfügung stehen, der Versicherungen eingelöst wird. Vertrauen wird ge- ohne dass deshalb Behandlungschancen verlorengehen. schaffen, wenn es ein Leitbild des therapeutischen Ar- Der Referentenentwurf sah vor, dass die Aufklärung beitsbündnisses von Arzt und Patient, von Behandler durch den Behandelnden erfolgen muss. Diese Regelung und Patient gibt. ist im Gesetzentwurf geändert worden. Dort steht, dass die Aufklärung entweder durch den Behandelnden oder In diesem Sinne, meine Kolleginnen und Kollegen, ist durch eine Person erfolgt, die über die zur Durchführung dies nicht das erste Patientenrechtegesetz in dieser Le- der Maßnahme notwendige Befähigung verfügt. Das gislaturperiode, es ist mindestens das dritte. Denn mit wird dem Arbeitsalltag, vor allem von Klinikärzten, bes- dem Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz von An- ser gerecht als die Fassung des Referentenentwurfs. fang 2010, vom Kabinett 2009 beschlossen, wurde ein Wolfgang Zöller hat in der ersten Debatte, die wir hier Ausgleich der aus Konjunkturgründen abgesenkten Bei- geführt haben, zugesagt, dass das Patientenrechtegesetz träge durch Steuermittel herbeigeführt. Damit haben wir im Dialog mit allen Betroffenen entwickelt wird. den materiellen Vertrauensanspruch der Patienten abge- sichert. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!) 23672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Rudolf Henke (A) Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Schilderungen Der letzte Vorschlag wird im Übrigen auch interfrak- (C) aus der Praxis auf die Formulierung des Entwurfes Ein- tionell gemacht, fluss genommen haben. Deswegen ist auch diese Zusage (Heiterkeit) eingehalten worden. nämlich die Drucksachen 17/10488, 17/6489 und 17/6348 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Es wäre ein großer Fehler, wenn jemand glauben überweisen. – Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Dann würde, keine Fehler zu haben. Überall da, wo Menschen sind die Überweisungen so beschlossen. arbeiten, passieren Fehler. Davon sind Ärztinnen und Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 42 a bis Ärzte nicht ausgenommen. Deswegen: Ja zu den Rege- 42 c auf: lungen zu CIRS. Im weiteren Beratungsprozess müssen wir aber noch einmal die Frage untersuchen: Was ist mit a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- der rechtlichen Verwertung der Kenntnis, wenn jemand gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auf- im Rahmen von CIRS einen Fehler dokumentiert? Auch nahme von Kultur und Sport in das Grundge- die Frage der Arzthaftung muss noch einmal im Gesetz- setz gebungsverfahren betrachtet werden; denn wenn ein Arzt – Drucksache 17/10644 – keine oder eine zu geringe Haftpflichtversicherung hat, Überweisungsvorschlag: dann müssen wir eine Befugnis schaffen, die es erlaubt, Innenausschuss (f) auf Länderebene zu entscheiden, ob die Approbation Sportausschuss ruht, wenn die Haftpflichtversicherung nicht ausreichend Rechtsausschuss

ist. Hierzu müsste der Bund noch eine entsprechende Re- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien gelung fassen. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Am 22. Oktober, wenn ich das Datum richtig im Kopf Kunert, Dr. Dietmar Bartsch, Jan Korte, weiterer habe Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Dr. Carola Reimann [SPD]: Das ist richtig!) Die Förderung des Sports ist Aufgabe des Staates – die Ausschussvorsitzende bestätigt das; ich bedanke mich –, werden wir eine große Anhörung im Ausschuss – Drucksache 17/6152 – haben. Dort werden wir natürlich weitere Fragen im Stil Überweisungsvorschlag: der bisherigen Diskussion behandeln müssen. Ich per- Sportausschuss (f) (B) Innenausschuss (D) sönlich glaube, dass in der Anhörung die Frage eine Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Rolle spielen wird: Wie passen § 630 c Bürgerliches Ge- Ausschuss für Gesundheit setzbuch mit den neuartigen Informationspflichten und § 630 e BGB mit den weiter fortbestehenden Aufklä- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten rungspflichten zusammen? Harmonisieren sie schon Dr. Lukrezia Jochimsen, Jan Korte, Agnes hundertprozentig? Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wir müssen auch die Frage der Selbstbezichtigungsge- Kultur gut stärken – Staatsziel Kultur im bote diskutieren – das bezieht sich nicht auf die Abwehr Grundgesetz verankern einer Gesundheitsgefahr, für die es nötig und zwingend ist –, die besagt, dass auf Nachfrage ein Behandlungsfeh- – Drucksache 17/10785 (neu) – ler zugegeben werden muss. Das muss man vergleichen Überweisungsvorschlag: mit dem Nemo-tenetur-Prinzip der Juristen: Man muss Innenausschuss (f) sich nicht selbst anklagen. Das sind Fragen, die von der Ausschuss für Kultur und Medien (f) Koalition – ich bin sicher, auch von den Gutwilligen in Federführung strittig der Opposition – genauso konstruktiv in der weiteren Die ersten Verbrüderungsszenen zwischen den jewei- Debatte um den Gesetzentwurf behandelt werden, wie es ligen Gruppen finden schon im Plenarsaal statt. Wolfgang Zöller, Minister Bahr und Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger bereits getan haben. Des- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: wegen freue ich mich auf die Fortsetzung dieser Diskus- Das ändert sich wahrscheinlich noch im Laufe sion. des Tages!) – Dem sehen wir mit Interesse entgegen. Ich bedanke mich zunächst einmal für Ihre Aufmerk- samkeit. Wir stimmen natürlich dafür, den Gesetzent- Jedenfalls ist für die Beratung dieser Vorlagen eine wurf in die Ausschüsse zu überweisen. Aussprachezeit von 90 Minuten vorgesehen. – Auch dazu gibt es offenkundig keinen Widerspruch. Dann ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Präsident Dr. Norbert Lammert: nächst dem Kollegen Dieter Wiefelspütz für die SPD- Ich schließe die Aussprache. Fraktion. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23673

(A) Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Wir schlagen eine sehr sparsame sprachliche Formu- (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und lierung vor. Die Verfassung, unser Grundgesetz, darf Herren! Verfassungsänderungen sind keine Kleinigkeit. nicht geschwätzig sein. Wir haben manchmal Verfas- Deswegen macht es Sinn, mit der gebotenen Ernsthaftig- sungsänderungen vorgenommen, die einen eher ge- keit über einen Vorschlag zu reden, der vonseiten der schwätzigen Charakter hatten: viel zu wortreich, viel zu SPD-Bundestagsfraktion heute vorgelegt wird, mit dem detailliert. Diesen Fehler, der in Deutschland immer wie- wir wichtige Staatsziele wie Kultur und Sport im Grund- der gemacht worden ist, haben wir hier unterlassen. Es gesetz verankern wollen. ist eine sehr sparsame Formulierung. Es geht um Schutz, Förderung und Pflege, und das wird hier zum Ausdruck Ich will freimütig sagen, dass das auch ein legitimer- gebracht. Es ist daher eine gute Grundlage für weitere weise umstrittenes Projekt sein kann. Es gibt nicht nur Diskussionen. Ich jedenfalls denke, dass beide Bereiche, Menschen, die davon begeistert sind; es gibt auch den ei- sowohl Kultur wie auch der Sport, von so überragender nen oder anderen Skeptiker in meiner eigenen Fraktion. Bedeutung sind, dass sie sinnvollerweise auch in unse- rem Grundgesetz verortet sein sollten. ( [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als Staatsziel Sport?) Herzlichen Dank fürs Zuhören. Gleichwohl gibt es, wie ich finde, sehr gute und über- (Beifall bei der SPD) zeugende Gründe für eine solche Ergänzung unseres Grundgesetzes. Ich denke, wir alle kennen die Ge- Präsident Dr. Norbert Lammert: schichte des Art. 20 a des Grundgesetzes. Wir haben vor Das Wort erhält nun der Kollege Franz Josef Jung für Jahren den Umweltschutz, den Schutz der natürlichen die CDU/CSU-Fraktion. Lebensgrundlagen, ins Grundgesetz eingefügt. Anschlie- ßend ist dieser Artikel um den Tierschutz ergänzt wor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den. Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU): Wir haben darüber nachgedacht, wo am ehesten eine Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen Ergänzung des Grundgesetzes in Sachen Kultur und und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Staats- Sport hineinpasst. Dabei sind wir auf den Art. 20 a ziele Sport und Kultur in unser Grundgesetz aufzuneh- gekommen. Heute schlagen wir Ihnen eine Verfassungs- men, stößt bei uns auf erhebliche verfassungsrechtliche ergänzung vor, die, wie sich das bei Verfassungsände- Bedenken. Herr Wiefelspütz, bei Ihrer Rede eben rungen eigentlich gehört – was wir als Verfassungsge- setzgeber aber leider nicht immer beherzigt haben –, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) (D) ausgesprochen minimalistisch ist. Sie umfasst nur we- NEN]: Ihrer feurigen Rede! – Heiterkeit – nige Wörter. Gisela Piltz [FDP]: Alles eine Frage der Rela- tion mit dem „feurig“!) ( [FDP]: Nicht immer hat Quantität etwas mit Qualität zu tun!) hatte ich das Gefühl, dass das bei Ihnen durchaus auch der Fall ist. Diese Wörter sollen zielbestimmend sein. Es ist unbestritten: Der Sport ist die größte Bürgerbe- Es kann sicherlich kein Streit darüber bestehen, dass wegung Deutschlands, Kultur und Sport überragende Erscheinungsformen in ( [CDU/CSU]: Genau!) unserer Gesellschaft sind. Die Bundesrepublik Deutsch- land ist ein Kulturland, wir sind eine Kulturnation. Von und unser Staat versteht sich auch als Kulturstaat. Aber ebenso überragender Bedeutung ist der Sport. Darüber unsere Verfassung ist kein Warenhauskatalog. Mit der wird heute im Laufe der Debatte sicherlich noch mehr- Aufnahme von Sport und Kultur ins Grundgesetz erwe- fach gesprochen werden. cken wir Hoffnungen, die wir nicht erfüllen werden. Wir geben den Bürgerinnen und Bürgern Steine statt Brot. Wenn man sich das Ganze im nationalen Vergleich Wir sind der Auffassung: Reine Symbolpolitik verwäs- anschaut, also einen Blick in die Verfassungen der Bun- sert unsere Verfassung, und deshalb sind der Gesetzent- desländer wirft, wird man den Sport und die Kultur in wurf und der vorliegende Antrag dazu abzulehnen. vielen Verfassungen verortet sehen. Betrachtet man das Ganze im internationalen Vergleich, wird man viele Län- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der finden, in deren Verfassungen Kultur und Sport als neten der FDP) Staatsziele verankert sind. In Deutschland fehlt das. Der von Ihnen dem Bundesverfassungsgericht vorge- schlagene Staatsrechtler Dieter Grimm spricht von „Ver- Diesem Mangel kann durch eine sinnvolle Ergänzung fassungsakrobatik“. Er hält Ihre Forderung nach verfas- abgeholfen werden. Dazu machen wir einen Vorschlag, sungsrechtlich garantierter Förderung von Sport und den wir intensiv beraten sollten. Die Wirkungsmächtig- Kultur für vermessen, so seine Formulierung. keit von Kultur und Sport ist so bedeutsam, so überra- gend wichtig, dass diese beiden Bereiche nach meiner Im Übrigen ist die Schutzfunktion, sowohl für die festen Überzeugung selbstverständlich in die Verfassung Kultur als auch für den Sport, bereits in unserer Verfas- unseres Landes gehören. Allein aus diesem Grunde sung geregelt. Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz besagt: Kunst schlagen wir diese Verfassungsänderung vor. und Wissenschaft sind frei. Hieraus ergibt sich die Ver- 23674 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Dr. Franz Josef Jung (A) pflichtung des Staates, ein freiheitliches Kunst- und Wis- Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch ein- (C) senschaftsleben zu erhalten. Das Bundesverfassungsge- mal Folgendes hervorheben: Aus unserer Sicht haben richt formuliert wörtlich: Hieraus ergibt sich die wir die Aufgabe, Kultur und Sport in unserem Verant- Schutzfunktion des modernen Staates als Kulturstaat. wortungsbereich zu fördern. Dies tun wir durch die Be- Für den Sport gelten Art. 2, die freie Entfaltung der Per- reitstellung finanzieller Mittel im Haushalt und nicht sönlichkeit, Art. 9, die Vereinigungsfreiheit – sie gilt so- durch eine Verfassungsänderung, wie Sie von Ihnen vor- wohl für die Verbände als auch für die Sportler –, und gesehen ist. Deshalb lehnen wir sowohl den Gesetzent- Art. 20, das Sozialstaatsprinzip, worunter selbstver- wurf als auch den Antrag der Linken dazu ab. ständlich auch der Sport zu subsumieren ist. Besten Dank. (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was sagt denn die Verfassung in Hessen dazu?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dem Sport und der Kultur, Herr Wiefelspütz, können keine Rechte zuwachsen, die das Grundgesetz nicht be- reits in seiner jetzigen Form vorsieht. Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Katrin (Beifall bei der CDU/CSU) Kunert nun das Wort. Die Begründung im Hinblick auf den Sport, die ich Ihnen gerade geliefert habe, stammt im Übrigen aus dem (Beifall bei der LINKEN) 9. Sportbericht der Bundesregierung, damals unterzeich- net von Bundesinnenminister Schily. Katrin Kunert (DIE LINKE): Die bisherige Zurückhaltung des Grundgesetzes ge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! genüber symbolischen Normen hat sich bewährt und Herr Jung, es ist bemerkenswert, dass Sie nicht einmal sollte deshalb aus unserer Sicht beibehalten werden. Ihre Redezeit ausgeschöpft haben. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Frage: Wie steht es eigentlich um die Förderung von Das ist kollegial!) Kultur und Sport in unserem demokratischen Staat? Sie Sie wollen das ablehnen, was die SPD hier vorschlägt, haben darauf hingewiesen: Die Kulturförderung liegt im was wir im Übrigen unterstützen. Mehr als Lyrik haben Verantwortungsbereich der Länder und der Kommunen. Sie hier aber leider nicht zu bieten. Der Bund fördert die Kultureinrichtungen von nationaler Bedeutung: Dies reicht von der Filmwirtschaft, Sympho- (B) ( [CDU/CSU]: Das stimmt (D) nieorchestern und Gedenkstätten bis hin zur Deutschen aber nicht!) Welle. Das Engagement für Kultur, das insbesondere durch den hier anwesenden Staatsminister Neumann Ich möchte mich auf einen Artikel beziehen, der ges- tern in der Süddeutschen Zeitung stand. Er hat die Über- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: schrift „Verfassungsakrobatik“. Der Autor sinniert da- Guter Mann!) rüber, ob es wirklich nötig ist, Kultur und Sport als vorgelebt wird, ist von dieser Bundesregierung in erheb- Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen und damit zu lichem Umfang ausgeweitet worden. Ich denke, dass wir adeln. Gestatten Sie mir bitte das Zitat: damit einen Beitrag zur Kulturförderung in Deutschland Dort, im Grundrechtsteil vor allem, steht das, was in besonderer Art und Weise leisten. für Bürger und Staat wichtig ist. Rechte, Pflichten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Ziele, die dort formuliert sind, haben außeror- neten der FDP) dentliche Bedeutung, und werden, wenn es sein muss, vom Verfassungsgericht durchgesetzt. Auch der Breitensport ist zunächst ein Thema der Länder und der Kommunen. Der Bund fördert den Spit- Genau darum geht es. Es geht darum, Ziele im Grund- zensport. Dabei geht es um die Bundesleistungszentren gesetz zu bestimmen und daraus Aufgaben abzuleiten. und die Spitzensportler. Ich habe selbst dafür gesorgt, Weil wir die Bedeutung des Sports anerkennen, müssen dass über 800 Sportlerinnen und Sportler vom Vertei- wir auch dementsprechend handeln. digungsministerium gefördert werden. Bei den Olym- pischen Spielen damals wurden übrigens von 11 Gold- (Beifall bei der LINKEN) medaillen 9 von Sportlerinnen und Sportlern der Deshalb wollen wir den Sport im Grundgesetz veran- Bundeswehr gewonnen. Das zeigt, wie ich finde, dass kern. Der Generaldirektor des Deutschen Olympischen diese Art der Sportförderung funktioniert. Das gilt auch Sportbundes hat gesagt: Wir würden uns freuen, wenn es für das Bundesinnenministerium und das Bundesfinanz- am Ende der Legislaturperiode eine Gemeinschaftsak- ministerium. Von daher sind die Anstrengungen, die der tion im Bundestag gäbe. Aus unserer Sicht geht es aber Bund auf diesem Gebiet erbringt, positiv zu bewerten. überhaupt nicht darum, ob Sportfunktionäre sich mit Deshalb ist ein zusätzlicher Beitrag durch eine verfas- dem Eintrag ins Grundgesetz auf die Schulter klopfen sungsrechtliche Festschreibung nicht nötig. können. Nein, es geht um die Würdigung der Aufgaben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir sagen: Wir wollen mehr als nur die Eintragung ins neten der FDP) Grundgesetz. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23675

Katrin Kunert (A) (Beifall bei der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: ändert leider auch das Bildungs- und Teilhabepaket (C) „Ins Grundgesetz eintragen“ ist eine interes- überhaupt nichts. sante Formulierung!) Der Schulsport wird zunehmend anderen Fächern ge- Die Linke sagt: Es fehlt ein Sportfördergesetz des opfert, obwohl es einen gültigen Beschluss der Kultus- Bundes, in dem der Sport als Ganzes gesehen und be- ministerkonferenz zur Einführung der dritten Sport- handelt wird. stunde gibt. Dabei ist nachgewiesen – mehrere Studien belegen dies –, dass mehr Schulsport die Lernbereit- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaft und die Ausgeglichenheit der Kinder fördert. NEN]: Kann man machen!) Nach wie vor können längst nicht alle Menschen mit ei- Alle, die wir hier sitzen, messen dem Sport eine große ner Behinderung alle Sportangebote nutzen. Barrieren in Bedeutung bei. Übrigens würde mich die Argumentation Sportstätten, in Ausbildungsinhalten und vor allen Din- der FDP interessieren. Sie drehen sich ja immer wie ein gen in den Köpfen hindern sie, ganz normal Sport zu Kreisel, wenn Sie aus der Opposition in die Regierung treiben. Dabei haben gerade die paralympischen Sportle- wechseln. rinnen und Sportler in London deutlich gemacht, dass sie mit spürbar weniger Mitteln hervorragende Leistungen (Gisela Piltz [FDP]: Aber ich würde nichts ins bringen können. Grundgesetz „eintragen“!) (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE Wir alle wissen um die Funktionen des Sports. Wir LINKE]) wissen auch: In einem Sportverein funktioniert Integra- In einem Sportfördergesetz möchten wir vieles festle- tion viel leichter. Kinder und Jugendliche, die in einem gen, Grauzonen bei Übergängen von Zuständigkeiten Verein Sport treiben, kommen nicht auf dumme Gedan- beseitigen und Planungssicherheit für den Sport schaf- ken, zerstechen zum Beispiel keine Reifen. Bewegung fen. Wie oft verwenden wir Zeit darauf, zu sagen, wofür von der Kita bis zur Volkssolidarität hält fit, kann zu wir alles nicht zuständig sind? Wir wollen, dass der einer gesunden Lebensweise beitragen und sichert kör- Sport in der Bundesrepublik von der einfachen Basisar- perliche Mobilität. Das Ablegen des Sportabzeichens beit im Verein bis hin zur Spitzensportförderung struktu- bringt Menschen zusammen und fördert soziale Kon- riert wird. Deshalb haben wir den Antrag, den Sport als takte. Staatsziel im Grundgesetz zu verankern und ein Sport- (Beifall bei der LINKEN) fördergesetz des Bundes aufzulegen, vorgelegt. Wir wissen aber auch, dass der Sport nur dann gut Herzlichen Dank. (B) funktionieren kann, wenn die gesellschaftlichen Bedin- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (D) gungen das zulassen. Damit komme ich auf den Verfas- Christoph Poland [CDU/CSU]) sungsrechtler zu sprechen, der meint, dass die Forderung, den Sport im Grundgesetz zu verankern, vermessen sei, weil der Sport der Kommerzialisierung ausgesetzt ist Vizepräsident Dr. h. c. : und Betrug und Korruption eine Rolle spielen. Aber wer Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP. hindert uns, bitte schön, daran, in einem Sportförderge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten setz genau diesen Tendenzen entgegenzuwirken? Wer der CDU/CSU) hindert uns daran? (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- Dr. Stefan Ruppert (FDP): Brömer [CDU/CSU]: Wir reden hier über das Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Grundgesetz!) ren! Es ist eine etwas geisterhafte Debatte, die Sie von den Linken eben aufgemacht haben. Sie wollten hier den Wir reden im Bundestag seit Jahren über die gleichen Eindruck erwecken, man könne nur dann Sport treiben Probleme im Sport. Ich will das an einigen Beispielen und Sportstätten würden nur dann gefördert, wenn dies deutlich machen. Die Bereitschaft, Verantwortung in der im Grundgesetz verankert ist, Sportabzeichen und Sport- Vereinslandschaft des Sports zu übernehmen, nimmt ab. stätten seien gefährdet, wenn sie nicht im Grundgesetz Es fehlen Übungsleiter. Die finanziellen Probleme der verankert sind. Ich glaube, wer sich in Deutschland mit Vereine werden immer größer, weil sie immer mehr Kos- wachen Augen umsieht, der sieht sofort, dass Sport über- ten übernehmen, die eigentlich die Kommunen zu tragen all eine Rolle spielt und dass viele Menschen in Deutsch- haben. Die Situation der Sportstätten ist mehr als ange- land sehr wohl sehr gute Bedingungen dafür haben spannt. Über 66 Prozent der Sportstätten sind in kommu- – Gleiches gilt für die Kultur –, und das, ohne dass es im naler Hand, aber die Kommunen haben kein Geld, um Grundgesetz steht. Investitionen zu tätigen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Vor allem, wo Sie der CDU/CSU) regieren!) Die Ernsthaftigkeit eines solchen Anliegens kann Was für den Bereich des Sports gilt, gilt auch für den man daran messen, wie es angegangen wird. Da spreche Bereich der Bildung: Der Geldbeutel der Eltern entschei- ich Sie, Herr Wiefelspütz, an. Wir haben ein anderes det über die Teilnahme an Sportangeboten, erst recht, Beispiel für eine Grundgesetzänderung in dieser Legisla- wenn es um weiterführende Sportschulen geht. Daran turperiode. Dabei ging es um den subjektiven Rechts- 23676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Dr. Stefan Ruppert (A) schutz. Wir hatten uns zusammengesetzt und überfrak- Präzision, dass man es an allen Ecken und Enden auf- (C) tionell darüber gesprochen, wie wir das machen können. bläht. Es gibt aber auch – das ist die herrschende Be- Wenn man so an ein Verfahren herangeht, kommt man schlusslage – durchaus eine hohe Sympathie für Kultur sicherlich weiter, als wenn man, so wie hier heute ge- und Sport als Staatsziele in der Verfassung. schehen, einen Schaufenstergesetzentwurf einbringt, die (Beifall bei Abgeordneten der FDP) anderen damit konfrontiert und sagt: Entweder ihr nehmt diese Grundgesetzänderung so an, wie sie ist, oder ihr Ich persönlich glaube, wir sollten diese Diskussion lasst es bleiben. Ich glaube, da mangelt es ein wenig an nicht so symbolisch führen, wir sollten nicht sagen, dass der Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens. es nur ein Entweder-oder gibt. Wir haben in Deutschland eine reiche Kulturförderung, und unter dieser Regierung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ist sie so gut wie noch nie. Genauso ist es beim Sport. der CDU/CSU) Deswegen, glaube ich, sollten wir diese Diskussion nicht symbolisch aufheizen, indem wir sagen: Das alles geht Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nur, wenn wir das Grundgesetz entsprechend anpassen. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des angesprochenen Kollegen Wiefelspütz? Lassen Sie mich noch zu der Frage kommen, was ei- gentlich die Begriffe „schützen“ und „fördern“ bedeuten. Was „fördern“ bedeutet, verstehe ich; das kann ich nach- Dr. Stefan Ruppert (FDP): vollziehen, auch inhaltlich. Aber „schützen“? Wie ver- Aber gerne. Ich diskutiere gerne mit Herrn hält es sich eigentlich mit dem Schutz von Sport und Wiefelspütz. Kultur im Verhältnis zu den jeweiligen Grundrechten? Was heißt eigentlich „Schutz von Kultur“ im Vergleich Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): zur Kunst- und Kulturfreiheit, die grundgesetzlich ge- Herr Ruppert, dass Sie gerne mit mir diskutieren, schützt ist? Darauf gibt Ihr Gesetzentwurf – das sage ich spricht eigentlich eher gegen Sie. Woraus schließen Sie, jetzt eher als dogmatisch interessierter Verfassungsjurist – Herr Ruppert, dass wir nicht bereit sind, über diese vor- nur relativ wenige Antworten. Auch darüber hätte man geschlagene Änderung des Grundgesetzes mit Ihnen und sich im Vorfeld sicherlich austauschen können. Das wäre mit allen anderen Fraktionen dieses Hauses zu reden? besser gewesen, als uns hier und heute eine, wie ich Woraus schließen Sie, dass wir nicht dazu bereit sind? finde, so verunglückte Formulierung vorzulegen. Ich weiß, dass dieses Thema den Kultur-, Kunst- und Dr. Stefan Ruppert (FDP): Sportpolitikern meiner Fraktion ein großes Anliegen ist. Ich habe Ihnen, Herr Wiefelspütz, eben gesagt, dass Deutschland ist eine Kulturnation, ob das im Grundge- (B) (D) wir bei anderen Verfahren, bei denen wir das Grundge- setz steht oder nicht. „Es schadet nicht“, sagen die setz geändert haben, eine andere Herangehensweise hat- Kunst- und Kulturpolitiker meiner Fraktion. Ich persön- ten. Wir haben erst einmal mit den Kollegen darüber ge- lich muss sagen: Die Qualität eines Staates zeichnet sich sprochen. Sie legen uns hier eine Fassung mit einem sehr dadurch aus, wie er es mit der Kultur hält. Deutschland konkreten Wortlaut vor. Ich kenne Sie als jemanden, der kann als Kulturnation auf vieles sehr stolz sein, auch in eine gewisse Ästhetik in der Gesetzgebung durchaus Anbetracht des starken Föderalismus. Ich glaube, dieser schätzt. Ich habe mir angesehen, wie Sie es regelungs- Gesetzentwurf trägt zur Kultur-, Kunst- und Sportförde- technisch angegangen sind. In Art. 20 a des Grundgeset- rung nur relativ wenig bei, ohne dass damit gesagt ist, zes steht, dass der Staat „die natürlichen Lebensgrundla- dass jede Staatszielbestimmung in diesem Bereich von gen und die Tiere“ schützt. Nun soll als eine Art Annex, vornherein sinnlos ist. als ein Anhängsel, ein weiterer Satz hinzugefügt werden: Vielen Dank. Er schützt und fördert ebenso (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – das klingt halb entschuldigend – die Kultur und den Sport. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich halte das unter sprachlichen und ästhetischen Ge- Das Wort hat nun Agnes Krumwiede für die Fraktion sichtspunkten für eine völlig misslungene Formulierung, Bündnis 90/Die Grünen. weil sie wie ein Anhängsel wirkt und nicht den Selbst- wert von Kultur und Sport in den Vordergrund stellt. Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diese Fassung legen Sie uns vor und sagen: Stimmt ent- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und weder zu, oder lasst es bleiben. Ich glaube, so kann man Kollegen! Die Forderungen im Gesetzentwurf der SPD miteinander nicht zu einer Grundgesetzänderung kom- sind nicht neu. Aber es bleibt spannend: Wie werden men. sich die anderen Fraktionen diesmal verhalten, vor allem die FDP, die ja 2009 mit „Kultur als Staatsziel“ den glei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten chen Vorstoß unternommen hat? Damals noch hat die der CDU/CSU) SPD mit Nein gestimmt. Ich glaube, wenn es der SPD In meiner Fraktion gibt es viele Kollegen – das will mit ihrem Anliegen aktuell wirklich ernst wäre, hätte sie ich nicht verhehlen –, die prinzipiell erst einmal skep- ein anderes politisches Verfahren gewählt. Anstatt heute tisch sind, wenn es um die Bestimmung von Staatszielen ein Schaulaufen altbekannter Argumente zu verursa- geht; denn das Grundgesetz gewinnt ja nicht dadurch an chen, hätten Sie sich mit den Fachpolitikern aller Frak- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. 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Agnes Krumwiede (A) tionen vorher abgesprochen und versucht, einen inter- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (C) fraktionellen Gesetzentwurf zu ermöglichen. Das ist DIE GRÜNEN und der LINKEN) nicht passiert. Es entsteht der Eindruck, dass es hier we- niger um die Sache als vielmehr um ein Säbelrasseln für Ein weiteres Alarmsignal für unsere Kulturnation ist den Bundestagswahlkampf geht. die sich kontinuierlich verschlechternde soziale und wirtschaftliche Lage von Künstlerinnen und Künstlern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Künstlerisch zu arbeiten, wird bei uns oft nicht als Leis- und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- tung angesehen, sondern als Hobby. In Zeiten knapper ten der FDP und der LINKEN) Kassen steht die Kultur immer wieder unter Rechtferti- gungszwang: Was nützt uns ein Theater? Was nützen uns Die Forderung nach einem Staatsziel Kultur wird zur die Kulturzentren? Kulisse für eine Politposse: Welche Fraktion setzt sich am leidenschaftlichsten für Kultur und Sport ein? Ich bin Kultur als Staatsziel wäre auf dem Papier ein Gegen- der Meinung, die Kultur- und Sportfreundlichkeit der gewicht zur einseitigen Dominanz ökonomischer Verfas- Fraktionen an der Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf sungsgüter. Veränderungen entstehen aber nicht durch oder seiner Ablehnung zu messen, greift zu kurz. Staatszielbestimmungen. Staatsziele brauchen einen Staat, der die Ziele auch politisch umsetzt. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!) 2002 wurde der Tierschutz als Staatsziel in unsere Für das Pro oder Kontra gibt es je nach Perspektive ernst Verfassung aufgenommen. Immenser Fleischkonsum, zu nehmende Gründe. Für mich als Kulturpolitikerin industrielle Massentierhaltung, Antibiotikaskandale: Mit geht es in erster Linie um eine Werteentscheidung. Aber dem Tierschutz ist es in Deutschland nicht weit her. ein Staatsziel Kultur ist nicht der Heilige Gral der Kul- Veränderung muss in den Köpfen stattfinden. Ein turpolitik und kein Allheilmittel für all die uns Kulturpo- Staatsziel Kultur wäre vielleicht ein erster Schritt. Viele litikern vertrauten Durchsetzungsprobleme. weitere müssten folgen. Wir brauchen einen Paradig- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: menwechsel gegen die einseitige Ökonomisierung unse- Leider!) rer Gesellschaft, gegen das kurzsichtige Kosten-Nutzen- Denken, gegen die Abwertung ideeller und künstleri- Die Befürworter glauben, Kultur als Staatsziel könnte scher Leistungen hin zu einer stärkeren Anerkennung eine entscheidende Argumentationsgrundlage für unsere der kulturellen, geistigen Dimension als notwendige Ba- Kolleginnen und Kollegen in den Kommunal- und Län- sis für unsere Demokratie. derparlamenten sein, wenn es wieder einmal heißt: Der Rotstift fällt als Erstes auf das Kulturzentrum oder das Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ich freue (B) (D) Theater. Fakt ist: Art. 167 des Vertrages von Lissabon mich grundsätzlich auf den rot-grünen Regierungswech- enthält eine Kulturklausel. Länder wie Spanien, Polen sel. und die Schweiz haben ein Staatsziel Kultur. In Schwe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – den wurde die kulturelle Wohlfahrt als ein primäres Ziel Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: der öffentlichen Tätigkeit in die bestehende Verfassung Aber nicht nach dieser Rede! Stephan Mayer mit aufgenommen. Schweden ist ein positives Beispiel. [Altötting] [CDU/CSU]: Begeisterung der Dort ist Kulturförderung mehr als Makulatur in der Ver- SPD!) fassung. Musische Fächer haben an den Schulen in Schweden einen höheren Stellenwert als bei uns. Auch Mit diesem Gesetzentwurf haben Sie den Ring der politi- was Stipendien für Künstler und die Musikförderung be- schen Bereitschaft ins Parlament geworfen und schüren trifft, ist Schweden wesentlich besser aufgestellt. bei Künstlerinnen, Künstlern und Kulturverbänden die Hoffnung, dass eine nächste Runde zum Staatsziel Kul- In der vergangenen Woche wurden auf dem Bundes- tur unter einer SPD-Regierung zum Erfolg führen wird. kongress Musikunterricht in Weimar eindringliche Ap- Wir werden sehen. pelle an die Politik gerichtet. Der Trend in unserem Bil- dungssystem geht dahin, Musik- und Kunstunterricht Vielen Dank. zusammenzulegen und zu kürzen. Bundesweit fehlen an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Schulen qualifizierte Musik- und Kunstlehrer. Dieses [CDU/CSU]: Wir haben schon Defizit liegt nicht etwa am Fehlen ausgebildeter Kräfte gesehen!) – sie befinden sich in der Selbstständigkeit oder in pre- kären Beschäftigungsverhältnissen –, sondern es man- gelt am politischen Willen, ausreichend qualifizierte Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Lehrer einzustellen. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Christoph Bergner. (Manuel Höferlin [FDP]: Sie haben die Lehrer- stellen in Rheinland-Pfalz und anderswo doch Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim gekürzt! Deswegen fehlen jetzt die Lehrer!) Bundesminister des Innern: Ich bin der Meinung, dies wäre ein geeigneter und pra- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der xistauglicher Punkt, an dem man ansetzen sollte. Das ist Lektüre des SPD-Antrags habe ich mich an die dringlicher, als Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz zu 31. Sportministerkonferenz im Jahre 2007 in Neubran- schreiben. denburg erinnert, auf deren Tagesordnung die Beratung 23678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner (A) der Verankerung eines Staatszieles Sport im Grundge- sehbar, dass hier keine Änderungen beabsichtigt oder (C) setz stand. In dieser Diskussion hat der damals für das realistischerweise umsetzbar sind, dürfte ein neues Land Berlin anwesende Senator Körting mit mich über- Staatsziel mittelfristig eher negative Wirkungen auf die zeugenden Argumenten, in denen er auch auf seine Er- Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Ver- fahrungen als Verfassungsrichter verwies, vor genau die- fassung haben. ser Entscheidung gewarnt, indem er darauf hingewiesen hat, dass er aufgrund seiner Erfahrung als Landesverfas- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sungsrichter weiß, wie problematisch es sein kann, wenn Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des durch plakative Zielvorgaben unerfüllbare Ziele gesetzt Kollegen Wiefelspütz? werden und der Staatsbürger hinsichtlich der Verbind- lichkeit dessen, was sonst in der Verfassung steht, dann geradezu in Zweifel gerät. Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Die Sportministerkonferenz hat sich dann dazu ent- Ja, gerne. schlossen, auf dieser Sitzung ein Papier zu verabschie- den, das die Situation des Sports zutreffend beschreibt. Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): 27 Millionen Bundesbürger treiben Sport, 100 000 Sport- Herr Kollege Bergner, warum sind Sie eigentlich so vereine, tragende Säule für die Gesellschaft, Replik auf ängstlich gegenüber Staatszielen? Warum sind Sie da so den großen Erfolg der Fußball-WM, Staat und Sport le- zurückhaltend? Ich meine, dass in einem Grundgesetz ben in einer Symbiose: Dies und vieles andere können wir – wir haben ein großartiges Grundgesetz, wie ich finde – darin finden. Das heißt, man war sich in der Wertschät- die zentralen Werte, zung des Sports einig. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Er hat doch Mit Blick auf die Zitierung von Herrn Körting ist mir eben den Körting zitiert!) eine grundsätzliche Feststellung in Bezug auf die De- batte dieses Antrages wichtig: Ich hoffe, die Antragstel- an denen sich unser Staat orientiert, stehen sollten. ler von der SPD wollen Herrn Körting nicht mangelndes Engagement für den Sport vorwerfen. Wir sollten die (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Debatte über das Staatsziel „Sport und Kultur“ im NEN]: Das sind die Grundrechte! Die stehen Grundgesetz auch nicht unter dem Gesichtspunkt führen, darin!) dass das eine Maßgabe dafür wäre, wie ernst die Betref- – Die Verfassung, Herr Montag, besteht nicht nur aus fenden die Förderung von Sport und Kultur nehmen. den überragend wichtigen Grundrechten, sondern darin Wenn das die Voraussetzung der Diskussion wäre, dann (B) stehen noch ein paar andere sehr wichtige Dinge. (D) könnten wir in der Sache schon sehr viel weiterkommen. Warum sind Sie da so ängstlich? Dass in Zusammen- Ich gebe zu – mindestens eine Kollegin ist noch hier, hang mit der Formulierung eines Staatsziels natürlich die sich an die Frühzeit der Landesverfassung in Sach- keine Versprechungen gemacht werden sollten, die dann sen-Anhalt erinnert –: Wir haben seinerzeit – ich war in hinterher nicht eingehalten werden können, ist völlig Sachsen-Anhalt beteiligt – eine Landesverfassung mit klar. Trotzdem macht es doch Sinn, dass sich ein Staat, einer klaren Gliederung in Grundrechte, Einrichtungsga- ein Verfassungsgesetzgeber zu den zentralen Werten be- rantien und Staatsziele beschlossen. Im umfänglichen kennt, die staatsleitend sind und die für unser Land prä- Kapitel „Staatsziele“ wird in einem Artikel mit fünf Ab- gend sind und die auch für Regierungen, für uns alle ver- sätzen, also nicht nur in einem kurzen Satz, versucht, pflichtend sind. Kultur und Sport zu beschreiben. Ich sage ausdrücklich: Ich habe das damals befürwor- Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim tet und mich dafür eingesetzt, dass das so geschieht. Bundesminister des Innern: Aber es ist eben, Herr Wiefelspütz, ein Unterschied, ob Herr Wiefelspütz, ich hoffe, ich muss Ihre Frage nicht man von vornherein im Rahmen einer Neukonzeption ei- so verstehen, dass das Grundgesetz in der Beschreibung ner Verfassung, eines Grundgesetzes auf Vollständigkeit der Wertfundamente unserer Gesellschaft gewisserma- achtet oder ob man gewissermaßen im Zuge nachträgli- ßen unzureichend ist. Ich hoffe, wir sind uns einig, dass cher Einzelentscheidungen neue Staatsziele ins Grund- das Grundgesetz einschließlich der entsprechenden gesetz aufnimmt; denn mit der Aufnahme werden bei Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hier den Bürgerinnen und Bürgern hohe Erwartungen ge- eine breite und verlässliche Basis gibt. weckt. Bewirkt die Nennung von Staatszielen nicht in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- überschaubaren Zeiträumen spürbare Veränderungen, neten der FDP) kann Enttäuschung zu einer Distanzierung von Verfas- sung und Staat führen. Das ist das Körting’sche Argu- Aber ich möchte in Beantwortung Ihrer Frage gerne ment. einen zweiten Punkt aufwerfen. Es ist so, dass ich mir in den letzten Jahren mehr als zuvor Gedanken darüber ma- Die erhoffte Wirkung neuer Staatsziele setzt daher vo- che, worin die Ursachen der Politikverdrossenheit zu su- raus, dass Einvernehmen darüber besteht, welche kon- chen sind. kreten Inhalte das Staatsziel hat und welche Änderungen bisheriger Politiken damit eintreten sollen. Dazu, Herr (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sicher in Ihrer Wiefelspütz, haben Sie überhaupt nichts gesagt. Ist ab- Politik! – Matthias W. Birkwald [DIE Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23679

Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner (A) LINKE]: Darin, dass zum Beispiel Verspre- mentarium zur Verfügung steht – ich zitiere aus einer der (C) chen gebrochen werden wie etwa bei der Ren- Antworten –, „um auf die Mittelbereitstellung für die tenanpassung Ost!) Sportförderung Einfluss zu nehmen. Die Förderrichtli- nien regeln detailliert die Voraussetzungen, Art und Um- Die Ursachen der Politikverdrossenheit sind nach meiner fang der Leistungssportförderung.“ Wir hatten in der Einschätzung in einem hohen Maße – ich beantworte jüngsten Sportausschusssitzung diesbezüglich gerade noch Ihre Frage, Herr Wiefelspütz, wenn das gestattet erst wieder eine Diskussion. ist – darin zu suchen, dass die Politik Erwartungen weckt, die sie dann selber nicht erfüllt. Wir würden aber ein anderes Risiko eingehen, was die Situation der Kompetenzverteilung zwischen Bund (Beifall bei der CDU/CSU) und Ländern betrifft. Das ist übrigens auch ein Punkt, Genau an diesem Punkt gemahne ich zur Vorsicht. der bei der Staatszielbestimmung eine Rolle spielt und Genau aus diesem Grunde würde ich, wie gesagt, in ei- der relevant und im Grunde auch problematisch wird, ner nachträglichen und nicht mit einer konkreten Politik- wenn wir uns auf ein Sportfördergesetz einlassen. veränderung verbundenen Änderung des Grundgesetzes Ich komme zusammenfassend zu dem Schluss: Nach eher ein problematisches Signal sehen und die Notwen- Maßgabe des vom Parlament beschlossenen Haushalts digkeit einer solchen Änderung nicht befürworten. – und im Rahmen der föderalen Kompetenzordnung unse- Vielen Dank, Herr Wiefelspütz. res Staates lässt sich diese Bundesregierung bei der För- Das Grundgesetz – das ist das nächste Argument – ist derung von Kultur – hierfür steht Staatsminister in erster Linie ein Rechtstext. In ihm werden mit den Neumann – und bei der Förderung von Sport – hierfür Grundrechten subjektive Rechte der Bürgerinnen und stehen das BMI, aber auch andere Ressorts – von nie- Bürger sowie Pflichten des Staates geregelt, anerkannte mandem überbieten. Verfassungsprinzipien – Republik, Rechtsstaat, Demo- (Beifall bei der CDU/CSU) kratie, Bundesstaat, Sozialstaat – verankert und Kompe- tenzen zwischen Bund und Ländern verteilt. Programm- Aus diesem Grunde erscheint eine Änderung des Grund- sätze, die weitgehend symbolischen Charakter haben, gesetzes überflüssig. sind deshalb für eine Verfassung problematisch. Herzlichen Dank. Die ganze Diskussion leidet unter dem unauflösbaren (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Kunert Widerspruch, auf den ich hingewiesen habe, nämlich [DIE LINKE]: Sehr gehaltvoll!) dass jeder Kultur- und Sportpolitiker sicherlich gerne die Anliegen von Kultur und Sport unterstützt, aber die (B) Frage beantworten muss, warum er zur Erfüllung dieser Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D) Aufgabe einen entsprechenden Verfassungsartikel Das Wort hat nun Siegmund Ehrmann für die SPD- braucht. Ich will den früheren Vorsitzenden des Sport- Fraktion. ausschusses, Herrn Kollegen Danckert, zitieren: (Beifall bei der SPD) Um es vorweg zu nehmen: verfassungsrechtlich zwingend notwendig ist eine Aufnahme ins Grund- Siegmund Ehrmann (SPD): gesetz nicht. Auch die rechtliche Wirkung der Auf- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In nahme eines Staatszieles Kultur und Sport ins diesem Jahr feiert die Deutsche Nationalbibliothek ihren Grundgesetz wäre begrenzt. Für das Tätigwerden 100. Geburtstag. Aus diesem Anlass wurden vor weni- auf ein bestimmtes Ziel hin bedarf es keines verfas- gen Tagen in im Rahmen eines Festaktes eine sungsrechtlichen Staatszieles. Es ist den gesetzge- Gedenkmünze und eine Sonderbriefmarke präsentiert. benden Körperschaften unbenommen, auch Ziele zu verwirklichen, die nicht als Staatsziele in das Aus einer der dort gehaltenen Reden ist mir ein plasti- sches Bild haften geblieben. Darin wurde die Deutsche Grundgesetz aufgenommen worden sind. Nationalbibliothek als Arche Noah unseres kulturellen So der Kollege Danckert im Jahr 2006 in der Zeitung des Erbes bezeichnet. Deutschen Kulturrates. Kultur und Sport nur deswegen Sie hat in der Tat den Auftrag, einen Teil der kulturel- ins Grundgesetz aufzunehmen, um dadurch den unbe- len Überlieferungen unserer Gesellschaft zu sammeln, stritten hohen Stellenwert in der Gesellschaft zu verdeut- zu bewahren und zugänglich zu machen. Am Beispiel lichen, ist ein Ansatz, der in der Sache eher überflüssig der Deutschen Nationalbibliothek lässt sich sehr gut die ist. besondere öffentliche Verantwortung des Staates für die Meine Damen und Herren, ich komme jetzt noch kurz Bewahrung des kulturellen Erbes, die kulturelle Infra- zu dem Antrag der Fraktion Die Linke, die sich zu dieser struktur und die Förderung der Künste darstellen. Staatszielbestimmung bekennt, ohne das im Einzelnen Wenn wir heute über die Staatsziele Kultur und Sport zu formulieren, und darüber hinaus ein Sportförderge- sprechen, geht es im Wesentlichen darum, dieser beson- setz vorschlägt. Ich mache aber darauf aufmerksam deren Verantwortung im Grundgesetz Ausdruck zu ver- – wir haben das in der Beantwortung Kleiner Anfragen leihen. und auch in der Diskussion im Sportausschuss mehrfach erörtert, Frau Kunert –, dass dem Gesetzgeber im Rah- Das Thema hat einen langen Vorlauf. Nicht wenige men der Haushaltsgesetzgebung ein umfassendes Instru- von Ihnen werden sich daran erinnern, dass dieses 23680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Siegmund Ehrmann (A) Thema in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch- achten, dass die kulturelle Freiheit nicht eingeschränkt (C) land“ sehr intensiv analysiert worden ist. Bereits Jahre wird. zuvor haben Bundesregierung und Bundestag sich mehr- fach mit der Frage beschäftigt, ob und welche Staatsziel- Es ist auch die Frage gestellt worden, ob es dieses Ap- bestimmungen Eingang in unsere Verfassung finden pells überhaupt bedarf: Geben nicht Art. 5 des Grundge- sollten: angefangen bei der Sachverständigenkommis- setzes – die Kunstfreiheit – und die Rechtsprechung ge- sion Anfang der 80er-Jahre über die Debatten des Eini- nug Sicherheit? Auch diesbezüglich lohnt ein Blick in gungsvertrages und die Gemeinsame Verfassungskom- die Analyse der Sachverständigenkommission. Sie ap- mission 1992 bis hin zu besagtem Zwischenbericht der pelliert an den Verfassungsgeber, in der Verfassung das Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Letztere zu benennen, was gemeint und gewollt ist. Zudem wird hat im Jahr 2005 einen einstimmigen Beschluss als das Grundgesetz dadurch um einen kulturellen Aspekt Handlungsempfehlung formuliert, das Grundgesetz um ergänzt, der neben den bereits enthaltenen materiellen eine Staatszielbestimmung der Kulturförderung zu er- Zielen der Verfassung ebenfalls Bedingung und Teil un- gänzen. seres Gemeinwesens ist. Das führt mich zu der Frage nach dem Zusammen- Die FDP ist in der letzten Legislaturperiode mit ei- hang zwischen Kultur und Sport, den wir mit unserem nem Gesetzentwurf an das Parlament herangetreten. Das Gesetzentwurf herstellen. Aus einer Fülle geistes- und hat uns als Sozialdemokraten – das will ich freimütig be- naturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen wissen wir kennen – ziemlich ins Schwitzen gebracht. Wir hätten um den prägenden Zusammenhang von Körper, Geist gerne zugestimmt, konnten das zu der Zeit aus Koali- und Seele für die Verfasstheit des Menschen. Was den tionsräson aber nicht. Wir haben den Antrag abgelehnt. einzelnen Menschen prägt, wirkt sich in der Addition na- (Zuruf der Abg. Gisela Piltz [FDP]) türlich auch auf unser Gemeinwesen aus. In der Tat sind wir möglicherweise in einer vergleichba- Insofern wiederhole ich: Das Grundgesetz beschreibt ren Situation. Gleichwohl waren wir uns damals über die eben nicht nur die rechtliche und materielle Verfasstheit Fraktionsgrenzen hinweg einig, uns mit diesem Thema unseres Gemeinwesens. Deshalb werbe ich für meine zu beschäftigen. Fraktion bei Ihnen, in eine Debatte einzutreten und zu ei- ner Lösung zu kommen. Ich habe Herrn Rupprecht so Die Verankerung der Kultur als Staatsziel im Grund- verstanden, dass es durchaus Alternativen gäbe, über die gesetz stärkt die kulturellen Anliegen auch auf der Bun- es sich zu sprechen lohnt. Wenn wir hinsichtlich der desebene. Eine solche Klarstellung ist beileibe keine Substanz dessen, was wir möglicherweise gemeinsam Verfassungsgirlande. Die bereits genannten Sachverstän- wollen, zusammenarbeiten, könnte es in dieser Legisla- (B) digenkommissionen haben zu Staatszielbestimmungen turperiode ja vielleicht doch gelingen, zu einem gemein- (D) festgestellt, es handele sich um „Verfassungsnormen mit samen Vorgehen zu kommen. rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Auf- Herzlichen Dank. gaben … vorschreiben.“ Zitat: (Beifall bei der SPD) Eine Staatszielbestimmung überlässt es der politi- schen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, in wel- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: cher Weise und zu welchem Zeitpunkt er die ihm Das Wort hat nun Reiner Deutschmann für die FDP- eingeschärfte Staatsaufgabe durch Gesetz erfüllt … Fraktion. Das Staatsziel „Kultur“ ordnet sich in die föderative (Beifall bei der FDP) Ordnung ein. In erster Linie sind natürlich die Länder und Kommunen zuständig. Es werden somit nicht origi- Reiner Deutschmann (FDP): näre Kompetenzen der verschiedenen staatlichen Ebenen ausgehebelt. Gleichwohl lässt sich von einem auch im Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Grundgesetz formulierten Staatsziel eine allgemeine Kolleginnen und Kollegen! Der Staat schützt und fördert Verpflichtung von Bund, Ländern und Kommunen ablei- die Kultur. So würde Art. 20 b des Grundgesetzes lauten, ten, in ihrer Zuständigkeit die Kultur zu schützen und zu wenn das einstimmige Votum der Enquete-Kommission fördern. „Kultur in Deutschland“ umgesetzt worden wäre. So würde Art. 20 b des Grundgesetzes auch lauten, wenn Das hat bei konkreten politischen Abwägungsent- der Spitzenverband der Kulturschaffenden, der Deutsche scheidungen, insbesondere bei der Haushaltssanierung Kulturrat, Gesetzgeber wäre. So würde Art. 20 b des sowie dem Rückbau und Umbau kultureller Infrastruktur Grundgesetzes lauten, wenn die FDP in der letzten Legis- erhebliche Bedeutung. Kultur wäre mit einem entspre- laturperiode mit ihrer Initiative zur Aufnahme des chenden Staatsziel nämlich nicht mehr nur eine bloß Staatsziels Kultur in das Grundgesetz erfolgreich gewe- freiwillige Aufgabe. sen wäre und die notwendige Zweidrittelmehrheit er- reicht hätte. Klar ist aber auch: Es werden keinerlei Rechtsansprü- che begründet. Auch ist dem Staat damit nicht die Be- Ich möchte heute an diejenigen unter Ihnen appellie- fugnis übertragen, zu bestimmen, was Kultur ist. Es ist ren, die noch Bedenken haben, der Aufnahme des Staats- ein Appell an den Staat, für die Kultur Sorge zu tragen, ziels Kultur zuzustimmen; denn es sprechen starke Ar- sie zu pflegen, zu fördern, zu schützen und darauf zu gumente für die Aufnahme der Kultur als Staatsziel in Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23681

Reiner Deutschmann (A) das Grundgesetz. Ich will wegen meiner begrenzten Re- ökonomische Dimension reduziert zu werden droht, (C) dezeit hier nur zwei nennen. Zum einen enthalten so- durchaus angebracht zu sein. wohl die EG-Verträge seit dem Vertrag von Maastricht Die UNESCO lebt es uns mit dem Schutz von Natur- als auch zahlreiche Verfassungen der Bundesländer eine und Kulturwelterbestätten vor. Auf beide sind wir in eigenständige Hervorhebung der Kultur. Dahinter sollte Deutschland besonders stolz. So sollten wir es auch im das Grundgesetz nicht zurückstehen. Grundgesetz halten. (Beifall bei der FDP, der SPD und der LINKEN) Die FDP hat immer deutlich gemacht, dass sie sich Zum anderen haben wir, die Mitglieder des Deut- für das Staatsziel Kultur im Grundgesetz einsetzt. Dazu schen Bundestages, mit der Aufnahme anderer Staats- bekennen wir Liberale uns weiterhin ausdrücklich. ziele selbst ein Ungleichgewicht in unserer Verfassung geschaffen. Dies müssen wir endlich korrigieren. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Dazu gibt es eine klare Beschlusslage des FDP-Bundes- CDU/CSU) parteitags aus dem Jahr 2007, der sich exemplarisch mit der Kultur befasst hat. Ich rufe die anderen Fraktionen Da das Staatsziel „Schutz der natürlichen Lebensgrund- auf, sich ebenfalls zum Staatsziel Kultur zu bekennen, lage“ in Art. 20 a des Grundgesetzes verankert ist, müs- damit wir es noch in dieser Legislaturperiode in das sen die kulturellen und geistigen Lebensgrundlagen an Grundgesetz aufnehmen können. Seien Sie mutig! gleicher Stelle geschützt werden, um eine verfassungs- rechtliche Schieflage zu verhindern. Es ist eigentlich Ich danke Ihnen. ganz einfach: Da man die Umwelt und den Tierschutz in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der die Verfassung aufgenommen hat, gehört auch die Kul- CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) tur in das Grundgesetz. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Und der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sport!) Das Wort hat nun Lukrezia Jochimsen für die Frak- tion Die Linke. Kultur wird dadurch nicht einklagbar. Wenn aber Verfas- sungsgüter miteinander im Wettstreit stehen, darf die (Beifall bei der LINKEN) Kultur nicht mit schwächeren Mitteln ausgestattet sein. Hierin liegt auch der Unterschied zu den zahlreichen an- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): deren Staatszielforderungen, die immer wieder genannt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit werden. Versuchen Sie einmal zu definieren, was Kultur (B) drei einfachen Sätzen lässt sich begründen, warum Kul- (D) eigentlich ist, und Sie werden feststellen, wie universell, tur in unser Grundgesetz festgeschrieben werden soll: wie wichtig sie für alle Bereiche unseres Lebens ist. Ja, sie ist der Mittelpunkt unseres Lebens. Damit gehört sie In Wahrheit geht es darum, dass Deutschland aus unserer Sicht ohne Wenn und Aber in das Grundge- eine Kulturnation ist. Wir sind stolz auf unsere setz. kulturelle Vielfalt. Eine Kulturnation sollte sich in ihrer eigenen Verfassung dazu beken- Kunst und Kultur sind so wichtig, weil hier das Krea- nen, dass sie es ist. tivpotenzial der Gesellschaft zutage tritt. Sie spiegeln den Zustand einer Gesellschaft wider. Sie gehen oft vo- (Beifall bei der LINKEN) ran. Sie sind ihr Motor. Kunst und Kultur sind deshalb so Drei einfache Sätze – hat sie am wertvoll, weil sie die Werte unserer Gesellschaft prägen. 19. Juni 2009 in diesem Haus ausgesprochen, am letzten Bei fast jedem offiziellen Auftritt zu Hause oder im Aus- Debattentag vor Aufbruch in den vorigen Wahlkampf. land verweisen wir mit Stolz auf unser kulturelles Erbe Die FDP hatte damals den Gesetzentwurf zur Aufnahme und bezeichnen uns als Kulturnation. Denken Sie dabei des Staatsziels Kultur in das Grundgesetz eingebracht auch an unsere 149 Goethe-Institute weltweit. und stand ziemlich allein auf weiter Flur. Nur die Links- Ich weiß, dass die Juristen unter Ihnen es immer et- fraktion stand an ihrer Seite und die unbeirrbare Kolle- was abstrakter wollen. Daher wird es Sie beruhigen, dass gin von den Grünen Undine Kurth. So war das. sich im Rahmen von Expertenanhörungen innerhalb der (Beifall bei der LINKEN) Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ die Mehrzahl namhafter Staatsrechtler für das Staatsziel Die FDP hatte den Vorschlag der Enquete-Kommis- Kultur ausgesprochen hat. Exemplarisch möchte ich hier sion aufgenommen, Kultur als Staatsziel in die Verfas- Prof. Dr. Bodo Pieroth nennen, der Ihnen gewiss ein Be- sung aufzunehmen. Nach sorgfältiger Beratung und An- griff ist. Er sagte damals in der Anhörung der Enquete- hörung der angesehensten Verfassungsrechtler war dies Kommission, Art. 20 a des Grundgesetzes decke die ma- ein einstimmiger Vorschlag aller Kulturpolitiker. Aber, teriellen Bedingungen menschlicher Existenz ab, also wie gesagt, 2009, kurz vor dem Wahlkampf, entschied den Unterbau. Weiter führte er aus – ich zitiere –: sich eine große Mehrheit des Parlaments aus unter- schiedlichen Gründen – man könnte auch sagen: unter Sollten uns nicht die geistigen, ideellen Dimensionen unterschiedlichen Vorwänden – dagegen. menschlichen Daseins … genauso viel wert sein? Hier einen rechtlichen Markierungspunkt zu setzen, Heute wird das Nein sagende Lager vielleicht nicht so scheint mir gerade in einer Zeit, in der alles auf die groß sein, aber mit dem Grundgesetzsatz „Der Staat 23682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Dr. Lukrezia Jochimsen (A) schützt und fördert die Kultur“ wird es wahrscheinlich werfen, die wir hier diskutieren und beantworten müs- (C) wieder nichts werden, und zwar einmal, weil es nun zu sen, nämlich ob sich aus der unbezweifelten Bedeutung einem Mix von Kultur und Sport kommen soll, dessen von Kultur und Sport für die Gesellschaft die Notwen- Sinnhaftigkeit schwer zu begreifen ist, zum anderen, digkeit ergibt, diese beiden Werte als Staatsziele in der weil CDU/CSU sich standhaft verweigern werden. Inso- Verfassung zu verankern. Wir sind in der Pflicht, diese fern ist es wieder, liebe Kollegen von der SPD, eine beiden Fragen getrennt voneinander zu diskutieren und mehr oder weniger vorgezogene Wahlkampfschau und zu beantworten, keine parlamentarische Auseinandersetzung mit Chance (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: auf politische Veränderung. Richtig!) Warum das so ist, ist schwer zu verstehen, auch und und dürfen diese beiden Ebenen nicht fortwährend ver- gerade was die verfassungsrechtlichen Bedenken angeht. mischen. Schauen wir uns unsere europäischen Nachbarländer an, die sich in den letzten Jahren neue Verfassungen gege- Die Bedeutung der Kultur und des Sports wird doch ben und in diese Verfassungen das Staatsziel Kultur in in Deutschland von niemandem ernsthaft bestritten. weitreichender Weise aufgenommen haben. Es sind so Deutschland gibt auf allen Ebenen sehr viel Geld für unterschiedliche Länder wie das Königreich Spanien, Kultur und für Sport aus, wenn auch nicht genug. die Republik Polen und die Schweizerische Eidgenos- Deutschland ist weltweit geachtet als Kulturnation und senschaft, alle drei Länder haben föderale Strukturen. Da auch als Sportnation. Aber ob sich daraus zwangsläufig geht es. Warum nicht endlich auch bei uns? ergibt, dass es Sinn macht, diese beiden wichtigen Werte in der Verfassung als Staatsziele zu verankern, muss ge- (Beifall bei der LINKEN) trennt davon diskutiert werden und richtet sich nach mei- Nun ja: Bürgerinnen und Bürger in diesen Ländern ner Meinung nach drei Aspekten: Erstens. Ist es denn haben dann Erwartungen. Sie wollen den zentralen Wert zwingend erforderlich, es hineinzuschreiben? Zweitens. Kultur politisch gepflegt wissen. Aber was ist daran Würde es der Kultur und dem Sport ganz konkret etwas falsch? Die Linke bekennt sich seit langem zum Staats- nützen, wenn man das hineinschreiben würde? ziel Kultur. Deswegen legen wir auch heute einen An- (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Ja! trag vor. Er geht vom Kulturbegriff der UNESCO aus, In anderen Ländern ist das so!) die Kultur als die Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Drittens. Wäre es nicht vielleicht konkret kontraproduk- Eigenschaften ansieht, die eine Gesellschaft kennzeich- tiv für Kultur und Sport, es zu tun? – Diese drei Fragen nen. Nach diesem Kulturverständnis gehört der Sport zur müssen wir beantworten. (B) Kultur einer Gesellschaft. (D) Ob dies zwingend erforderlich ist, ist, glaube ich, am (Beifall bei der LINKEN) schnellsten abzuhandeln. In Deutschland leiden die Kul- Das heißt, das Staatsziel Kultur schließt den Sport aus- tur und der Sport nicht daran, dass sie nicht in der Ver- drücklich ein, und es ist selbstverständlich Aufgabe des fassung stehen. Wenn die Kultur und der Sport an etwas Staates, den Sport zu fördern. leiden, dann leiden sie an mangelnder konkreter Unter- stützung und an mangelnden finanziellen Mitteln. Bei der Anhörung im Rechtsausschuss 2007 hat Pro- fessor Paul Raabe gesagt: Würde es etwas nützen? Das ist eine viel schwierigere Frage. Dazu hätte ich in dem Gesetzentwurf der SPD Zum Ansehen in der Welt sollte nunmehr die Kultur gern etwas an Begründung gelesen. Aber leider, liebe auch im Blick auf Europa – „Europa eine Seele ge- Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Sie beschäftigen ben“ – Verfassungsrang haben. Es ist an der Zeit, sich in der für eine Grundgesetzänderung sowieso schon dass der Kulturstaat im Grundgesetz definiert wird. kurzen Begründung fast ausschließlich mit der Darstel- lung der Bedeutung von Kultur und Sport – unbenom- In diesem Sinn sollten wir über das Staatsziel Kultur men. Aber der Frage, warum Sie das dann ins Grundge- verhandeln. Und wenn wir wieder scheitern – wir wer- setz schreiben wollen, widmen Sie bei der Kultur und den uns weiter für diese Grundrechtsforderung einsetzen beim Sport jeweils nur einen einzigen Satz. wie bisher. (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was überragend Vielen Dank. wichtig ist, gehört ins Grundgesetz!) (Beifall bei der LINKEN) Bei der Kultur schreiben Sie, dies würde die kulturel- len Belange in politischen und juristischen Auseinander- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: setzungen stärken. Glauben Sie das wirklich? Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ich glaube alles, was ich schreibe!) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Glauben Sie, dass ein Sportfördergesetzentwurf, von der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Linken, von Ihnen oder von wem auch immer hier einge- Kollegin Jochimsen und lieber Kollege Deutschmann, bracht, ein größeres Maß an Zustimmung bekäme, nur auf Ihre beiden Redebeiträge will ich zuallererst einge- weil der Sport im Grundgesetz stünde? Kommt es nicht hen, weil Sie meiner Meinung nach genau die Frage auf- darauf an, was in diesem Sportfördergesetzentwurf Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23683

Jerzy Montag (A) steht? Sie sind doch nicht gehindert, Frau Kollegin spielen in London denkt, kann man wirklich stolz auf die (C) Kunert, einen solchen Gesetzentwurf einzubringen; Sie Sportlerinnen und Sportler sein, die Deutschland vertre- müssen dazu den Sport nicht in der Verfassung haben. ten. Das bedeutet: Sportpolitik können Sie auch ohne diese (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Aufnahme ins Grundgesetz sehr gut vertreten und ver- der FDP) folgen. Ich denke aber, dass wir trotzdem behutsam mit unse- Zum Sport, liebe Kolleginnen und Kollegen von der rem Grundgesetz umgehen sollten. Wir sollten uns auch SPD, haben Sie in der Begründung lediglich dargelegt: vergegenwärtigen, welche Aufgabe eine Verfassung hat: Wenn man den in die Verfassung hineinschreiben würde, Eine Verfassung hat einen grundsätzlichen und funda- dann würde das „ein Heranziehen verfassungsrechtlicher mentalen Charakter. Man sollte sich deshalb davor hü- Hilfsbegründungen entbehrlich machen“. Aber das kann ten, alles, was man vielleicht aufgrund des Zeitgeistes doch nun wirklich kein Grund sein, so etwas in die Ver- gerade ganz nett und sympathisch findet, als Staatsziel fassung hineinzuschreiben. ins Grundgesetz zu schreiben. (Beifall des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/ (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Aber Kultur ist CSU]) nicht Zeitgeist!) Ich teile die vorsichtige, skeptische Grundhaltung, Das wäre aus meiner Sicht Verfassungslyrik oder, wie es dass wir damit Erwartungen wecken, die wir nicht erfül- Professor Grimm sagt, Verfassungsakrobatik. Ich stimme len können, die nicht erfüllt werden werden. Das beste Heribert Prantl ausdrücklich zu, der in seinem Kommen- Beispiel dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die tar in der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung Umkehrung Ihres Arguments. Sie sagen: Das steht doch schreibt, dass „eine Verfassung … kein Poesiealbum“ schon in den Landesverfassungen, und deswegen muss und „kein politisches Tagebuch“ ist, in die man nett hin- es auch in die Bundesverfassung hinein. – Ja, es steht in einschreibt, was man gerade sympathisch und angenehm den Landesverfassungen. Kultur und Sport sind im We- findet. sentlichen kommunale und Landesangelegenheit. Ob- wohl das schon seit Jahrzehnten in den Landesverfassun- Kultur und Sport kann man nicht normativ verordnen. gen ist, steht es in manchen Kommunen und in manchen Bei einer Aufnahme der beiden Staatsziele ins Grundge- Ländern schlecht um Sport und Kultur. setz besteht aus meiner Sicht die zusätzlich konkrete Ge- fahr, dass wir die Grenzen zwischen dem Verfassungs- Insofern sage ich Ihnen: Wir sind für eine Förderung recht und dem einfachen Recht verwischen. Es besteht des Sports, wir sind für eine Förderung der Kultur; aber des Weiteren die Gefahr, dass die Gestaltungsspielräume (B) wir werden keinen Euro mehr für diese Themen gewin- der Politik und des Gesetzgebers immer kleiner werden. (D) nen, nur weil wir sie vorher in die Verfassung geschrie- ben haben. Bei der schon zitierten Anhörung im Rechtsausschuss im Jahr 2007 hat Professor Heinrich Wolff von der Ge- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: fahr des Verfassungsvollzuges gesprochen, also von der Es kommt auf den Willen an!) Gefahr einer zunehmenden Verrechtlichung und Verre- Danke. gelung der Politik. Die Konsequenz einer Aufnahme die- ser beiden Staatsziele ins Grundgesetz wäre, dass wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier als Gesetzgeber in vielerlei Hinsicht, auch in Abwä- sowie bei Abgeordneten der SPD) gung mit anderen Staatszielen und Freiheitsrechten, im- mer weniger Gestaltungsspielräume hätten. In der Kon- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sequenz bestünde auch die Gefahr, dass damit letzten Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSU- Endes auch der Wähler entmachtet würde, weil er mit Fraktion. seiner Wahlentscheidung immer weniger politische Kursbestimmungen vornehmen kann, wenn immer mehr (Beifall bei der CDU/CSU) Staatsziele inflationär ins Grundgesetz aufgenommen werden. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Konkret zum Staatsziel Kultur. Deutschland ist eine Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! In steter Regelmäßigkeit be- Kulturnation. Ich lege aber auch Wert darauf, dass die schäftigen wir uns hier in diesem Hohen Haus mit der Kulturnation Deutschland von einem sehr vielfältigen, föderalen Charakter geprägt ist. Ich glaube, wir sind Frage, ob Kultur und/oder Sport als Staatsziele ins Grundgesetz aufgenommen werden sollen. auch deshalb eine so große Kulturnation, weil wir primär von Bundesländern geprägt sind, die ganz unterschiedli- Es ist doch vollkommen unbestritten, dass Deutsch- che kulturelle Traditionen und Brauchtümer haben. Des- land ein Kulturstaat ist. Es ist ebenso unbestritten, dass halb ist es richtig, dass die Länder grundsätzlich und pri- die Deutschen eine sportbegeisterte Nation sind. Sage oritär für die Kultur und die Kulturförderung zuständig und schreibe 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger trei- sind. Wenn die Kultur als Staatsziel in unsere nationale ben in Sportvereinen Sport. Wir sind auch eine sportlich Verfassung aufgenommen würde, sähe ich die Gefahr, erfolgreiche Nation. Insbesondere wenn man an das Ab- dass es im Hinblick auf die Kulturpolitik und unsere kul- schneiden unserer Olympiamannschaft sowohl bei den turelle Vielfalt zu einer zunehmenden Zentralisierung Olympischen als auch bei den Paralympischen Sommer- käme, die nicht wünschenswert oder gewollt sein kann. 23684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Stephan Mayer (Altötting) (A) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, derverfassungen in Deutschland der Sport als Staatsziel (C) Politik wird immer dann interessant, wenn es konkret festgeschrieben ist? Die Länder sind für die Schulpolitik wird. Es ist schon erwähnt worden: Nach der Aufnahme zuständig. Also, was hat die Verankerung in der Verfas- der Staatsziele ins Grundgesetz würde es darum gehen, sung ganz konkret gebracht? diese im gesetzgeberischen Handeln zu verwirklichen. Ich möchte an die Ausführungen des Kollegen Wie sah es denn zuletzt konkret aus? In den letzten sie- Montag anknüpfen. Wir sollten uns gerade bei diesem ben Jahren hatten wir durch die Bank einen Aufwuchs wichtigen Thema immer die Frage stellen: Wem nutzt es – im Kulturhaushalt des Bundes. Seit die CDU/CSU hier cui bono? Dazu muss man ganz deutlich sagen: In diesen in Berlin an der Regierung ist, ist der Kulturhaushalt von 15 Ländern hat es dem Sportunterricht überhaupt nichts Jahr zu Jahr angewachsen, gebracht, dass Sport als Staatsziel in den jeweiligen Lan- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) desverfassungen steht. von 1 Milliarde Euro im Jahr 2005 auf 1,2 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU) Euro in diesem Jahr. Mittlerweile machen die Kulturaus- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Pro- gaben des Bundes 13 Prozent aller Ausgaben aus, die in fessor Scholz hat in dieser Anhörung des Rechtsaus- unserem Staat insgesamt für Kultur getätigt werden. Da- schusses im Jahr 2007 noch einmal deutlich gemacht, mit machen sie nur einen relativ kleinen Anteil aus; denn dass das Grundgesetz einen ordnungspolitischen Rah- der Großteil wird richtigerweise von den Ländern er- men gibt. Ich glaube, wir sind gut beraten, uns vor einer bracht. Inflation von politisch-programmatischen Festlegungen Gleiches gilt für den Sport. Interessant ist auch der in unserer Verfassung durch eine Überfrachtung mit im- Aufwuchs der Sportförderung. Im Jahr 2005 hat der mer mehr Staatszielen zu hüten. Es besteht hier wirklich Bund 216 Millionen Euro für die Spitzensportförderung die Gefahr einer Verwässerung unseres Grundgesetzes. in Deutschland verwendet. In diesem Jahr sind es im- Deshalb sollten wir weiterhin zurückhaltend und puris- merhin 250 Millionen Euro. Ich glaube, darauf können tisch mit unserem Grundgesetz umgehen. Ich kann daher wir als Deutscher Bundestag insgesamt und damit als den Anträgen der Linksfraktion und dem Gesetzentwurf Haushaltsgesetzgeber stolz sein. Wir fördern den Sport der SPD-Fraktion nur eine klare Ablehnung entgegen- in Deutschland, wenn wir ihm mehr Geld zur Verfügung halten. Wie gesagt, es geht nicht darum, dass wir als stellen, wenn wir mehr Geld für unsere Spitzensportler, christlich-liberale Koalition nichts für die Förderung der für den Sportstättenbau, für die Dopingbekämpfung zur Kultur und des Sportes in Deutschland machen wollen. Verfügung stellen. Das und nicht die Aufnahme des Ich glaube, wir haben das mit ganz konkreten Gesetzge- Sports als Staatsziel ins Grundgesetz ist eine ganz kon- bungsmaßnahmen, mit einem deutlichen Aufwuchs in (B) krete Förderung des Sportes in Deutschland. beiden Haushalten deutlich unter Beweis gestellt. Alles (D) andere wäre eine bloße Symbolpolitik. (Beifall des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/ CSU]) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein weiteres Beispiel. Es ist oft gesagt worden: Na ja, wenn man den Sport als Staatsziel ins Grundgesetz auf- nimmt, dann hat dies vor Ort positive Auswirkungen, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zum Beispiel in der Abwägung, ob eine Kita, ob ein Das Wort hat nun Martin Gerster für die SPD-Frak- Bolzplatz, ob ein Kinderspielplatz gebaut werden darf tion. oder ob sich die Interessen derjenigen Anwohner durch- (Beifall bei der SPD) setzen, die sich gegen die jeweiligen Baumaßnahmen wenden. Wir haben als christlich-liberale Koalition § 22 Martin Gerster (SPD): des Bundes-Immissionsschutzgesetzes geändert. Darin steht jetzt, dass Kinderlärm – dort ist von „Geräuschein- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! wirkungen“ die Rede, was ich für sehr bedenklich halte; Der Kollege Stephan Mayer hat gerade gesagt, wir soll- eigentlich sind diese Geräusche Zukunftsmusik – von ten uns davor hüten, alles, was Zeitgeist ist, in unsere unter 14-Jährigen keine schädliche Umwelteinwirkung Verfassung aufzunehmen. Dem kann man zustimmen. ist, und das hat Auswirkungen für den Bau von Kitas Aber Kultur und Sport, das ist alles andere als Zeitgeist, und die Errichtung von Kinderspielplätzen oder von zumindest in meinen Augen und in den Augen der SPD- Bolzplätzen. Das ist eine ganz konkrete Unterstützung Fraktion. des Sportes, des Breitensportes, des Sportes von Jugend- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lichen und von Kindern vor Ort. Auch dies wird durch der LINKEN) die bloße Aufnahme des Sportes als Staatsziel ins Grundgesetz nicht erreicht. Deswegen haben wir uns ganz bewusst dafür ent- schieden, heute einen Vorschlag auf den Tisch zu legen, Liebe Frau Kollegin Kunert, Sie haben zu Recht be- über den wir mit Ihnen diskutieren wollen. Wir schlagen mängelt – ich bin da vollkommen bei Ihnen –, dass der vor, Kultur und Sport ins Grundgesetz aufzunehmen, Schulsport leider Gottes immer mehr an Bedeutung ver- weil wir explizit der Meinung sind, dass es beim Sport liert. Dass die Schulsportunterrichtsstunden die ersten nicht um bloße Körperertüchtigung geht, sondern dass sind, die ausfallen, das ist richtig. Nur, ich frage jetzt zu- Sport darüber hinaus eine große Bedeutung für unsere rück: Was hat es denn gebracht, dass in 15 von 16 Län- Gesellschaft hat. Das hat nicht erst die SPD-Fraktion er- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23685

Martin Gerster (A) kannt, sondern das ist letztendlich Allgemeingut. Das mit Ihnen zusammen zu diskutieren, wie wir Sport und (C) zeigt allein schon ein Vers, der dem Herrn Ringelnatz Kultur im Grundgesetz verankern können. zugeschrieben wird: Wir müssen den Sport schützen. Es gibt nämlich Ge- Sport stärkt Arme, Rumpf und Beine … und er fahren – das hören wir in unserer parlamentarischen Ar- schützt uns durch Vereine vor der Einsamkeit. beit immer wieder von Experten –, die den Sport kaputt- machen können. Ich nenne das Beispiel Doping. Ich Das bringt es eigentlich auf den Punkt, worum es hier nenne aber auch das Beispiel Wettmanipulation, und es im Bereich des Sports geht. Sport hat eine große Bedeu- gibt viele andere mehr. Der Sport ist in Gefahr. Uns tung für unsere Gesellschaft, und deswegen sind wir der wurde beispielsweise vom Bundesrechnungshof gesagt, Meinung, dass wir diese im Grundgesetz definieren soll- dass auf Bundesebene eine gesetzliche Grundlage fehle, ten. Ich will ein paar Punkte ansprechen, die wir auch im um insbesondere für den Spitzensport immense Summen Sportausschuss Woche für Woche diskutieren und die bereitzustellen. Deswegen wäre es gut, wenn wir als Ge- unserer Meinung nach für unsere Gesellschaft wichtig setzgeber nach Möglichkeiten suchen würden, wie wir sind. die gesetzlichen Grundlagen an dieser Stelle schaffen könnten. Ich glaube, eine Diskussion darüber ist überfäl- Wir wissen doch um die Kraft des Sports beispiels- lig. weise bei der Integration von Menschen mit Handicap, von Menschen unterschiedlichen Geschlechts, unter- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht aus- schiedlicher Generationen und unterschiedlicher Her- schließlich die SPD, die darüber diskutiert. Vielmehr kunft. Ich erwähne die vielen Migrantinnen und Migran- wissen wir ganz genau, dass die Diskussion auch in den ten, die durch den Sport in unsere Gesellschaft integriert anderen Fraktionen und Parteien geführt wird. Wir ha- werden. Wir wissen, dass der Sport – wie wahrscheinlich ben in der Vergangenheit mit Interesse wahrgenommen, nichts anderes in der Gesellschaft – Menschen zusam- dass zum Beispiel die FDP einen Parteitagsbeschluss ge- menbringen kann. Deswegen müssen wir darüber disku- troffen hat und dass sogar im Regierungsprogramm tieren – und deshalb sind wir auch dafür –, den Sport im steht, Sport und Kultur ins Grundgesetz aufzunehmen. Grundgesetz zu verankern Herr Westerwelle hat sich mehrfach entsprechend geäu- ßert. Auch der Kollege Lutz Knopek hat geschrieben, (Beifall bei der SPD) dass er dafür ist, Sport ins Grundgesetz aufzunehmen. Wir denken an den Bereich Prävention. Schließlich Insofern, meine sehr geehrten Damen und Herren, wissen wir aus der wissenschaftlichen Forschung: Sport möchte ich noch einmal dafür werben, dass wir in eine und Bewegung bringen einen großen Benefit für uns sachliche Diskussion darüber eintreten, wie wir es schaf- (B) alle, weil wir beispielsweise weniger Ausgaben für den fen können, Kultur und Sport ins Grundgesetz aufzuneh- (D) Gesundheitsbereich tätigen müssen. Sport und Bewe- men. Wir sind auch offen, wenn es darum geht, die eine gung bringen dem Einzelnen etwas, aber auch der ge- oder andere Formulierung zu ändern. samten Gesellschaft. Herr Ruppert, Sie hatten angesprochen, dass Ihnen Ich denke an das Thema Rehabilitation. Neulich ha- die Formulierung nicht so passt. Aber ich denke, es liegt ben wir im Sportausschuss über die Funktion und Be- jetzt ein Vorschlag auf dem Tisch, über den wir mit Ih- deutung des Sports bei der Überwindung von schweren nen, aber natürlich auch mit den Experten aus den Sport- Krankheiten gesprochen. Es ist wirklich unglaub- verbänden oder aus dem Kulturbereich, in den parlamen- lich – das muss man sich einmal vor Augen führen –, tarischen Beratungen im Hinblick darauf sprechen was Sport und Bewegung bewirken können. wollen, wie wir es schaffen können, Kultur und Sport ins Grundgesetz aufzunehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sport ist auch so- zialer Kitt in unserer Gesellschaft; auch das muss man Ich will noch einmal dafür werben, dass wir dies nicht immer wieder betonen und herausstellen. Über die Mil- emotional aufgeladen, sondern in einer Weise tun, in der lionen von Ehrenamtlichen, die sich im Sport engagie- wir miteinander umzugehen gewohnt sind, wenn es um ren, schaffen wir es doch, dass das Leben für viele le- solche übergeordneten Fragen geht. bens- und liebenswert wird. Auch wegen dieser Aspekte Deswegen, Herr Kollege Deutschmann, habe ich meinen wir, dass der Sport zusammen mit der Kultur ins mich über Ihren offenen Redebeitrag zu diesem Thema Grundgesetz aufgenommen gehört. sehr gefreut. Wir sind gespannt darauf, wie sich die Dis- Des Weiteren schafft es der Sport, Werte zu vermit- kussion zu diesem Thema in den nächsten Wochen und teln – Werte, die aus verschiedenen Gründen woanders, Monaten weiterentwickeln wird. beispielsweise in der Schule oder im Elternhaus, wo- Ganz herzlichen Dank. möglich nicht optimal vermittelt werden können. Ich denke an Werte wie Zusammenstehen, Teamgeist, den (Beifall bei der SPD) fairen Umgang mit anderen und an das Erlernen der Fä- higkeit, mit Niederlagen oder Siegen umzugehen. Sport Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: trägt dazu bei, insbesondere die Persönlichkeitsentwick- Das Wort hat nun Joachim Günther für die FDP-Frak- lung junger Leute positiv zu beeinflussen. Weil der Sport tion. so etwas wie einen Kompass für das weitere Leben dar- stellen kann, meinen wir, dass es durchaus berechtigt ist, (Beifall bei der FDP) 23686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

(A) Joachim Günther (Plauen) (FDP): wir haben auch gesagt: Deutschland ist bei der Medail- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Et- lenwertung nicht mehr im Spitzenbereich. was überrascht waren wir schon von dem Antrag der Angesichts dessen muss zumindest die Frage gestattet SPD un d auch von dem der Linken, sein: Wollen wir eine Stagnation, oder wollen wir weiter (Dr. [DIE LINKE]: Nicht vorankommen und den Spitzensport ausbauen? Ich kann wirklich! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ist mir vorstellen, wenn wir gemeinsam handeln, wenn wir überholt!) zum Beispiel im Bereich des Spitzensports jährlich 10 Millionen Euro zusätzlich mittelfristig einsetzen, dass den Sport und die Kultur ins Grundgesetz aufzunehmen, Deutschland in diesem Bereich wieder mit an die Spitze etwas überrascht deshalb, weil dieser Antrag plötzlich der Nationenwertung kommt. am letzten Tag in unsere Postfächer gelegt wurde, ob- wohl jeder weiß, dass bei Grundgesetzänderungen eine Bei dem Antrag der SPD-Fraktion können wir im breite Diskussion, auch im Vorfeld, erforderlich ist, Moment nicht erkennen, wo gemeinsam gehandelt wird wenn das Ganze von Erfolg gekrönt sein soll. und wie wir mit diesen Fragen umgehen. Deshalb kön- nen wir ihm in dieser Form nicht zustimmen. Wir jedenfalls von der FDP-Fraktion haben vorher keine Hinweise in diese Richtung erhalten. Deshalb Dem Antrag der Linken können wir unsere Zustim- frage ich Sie: Machen Sie es in diesem Fall so, wie Sie mung ebenfalls nicht geben. Viele Forderungen darin es in Ihrem Diskussionsbeitrag vorhin angedeutet haben, sind allgemein ausgerichtet. Kollegin Kunert, es ist eine etwas ein Jahr vor der Bundestagswahl erneut auf das Aufzählung von vielen Dingen, mit der Sie wahrschein- Tapet zu bringen? Das wird der Sache aus meiner Sicht lich mehr die eigene Klientel befriedigen wollen. Wir nicht gerecht. wollen aber insgesamt ein Ziel voranbringen. Führen wir eine gemeinsame Diskussion! Arbeiten wir etwas Ge- Wir als Bundestagsfraktion – das sage ich ja – stehen meinsames heraus, was der Bedeutung des Sports und diesem Ansinnen grundsätzlich positiv gegenüber, wir der Kultur gerecht wird und uns alle voranbringt! können dem etwas abgewinnen. Wir haben es selbst im eigenen Wahlprogramm 2009 geschrieben. Herzlichen Dank. (Beifall bei des Abg. Martin Gerster [SPD]) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir wollen uns auch für eine irgendwie geartete Auf- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nahme des Sports in das Grundgesetz aussprechen. Doch Das Wort hat nun Jens Petermann für die Fraktion Die bei Grundgesetzänderungen – das hat gerade die Diskus- Linke. (B) sion heute wieder gezeigt –, egal welcher Art sie sind, ist (D) einfach eine gewisse Vorsicht geboten. (Beifall bei der LINKEN) So hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter Professor Dr. Udo Steiner auf die Gefahren neuer Staats- Jens Petermann (DIE LINKE): zielbestimmungen hingewiesen. Er sagte, wer Verfas- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle- sungsrecht sät, gerade in der Form von Staatszielbestim- ginnen und Kollegen! Mit den heute auf der Tagesord- mungen, wird Verfassungsrechtsprechung ernten. Das nung stehenden Anträgen greifen wir eine längst überfäl- wollen wir eigentlich nicht. Wir wollen gestalten. Daher lige Debatte auf. Ziel ist es, den politischen Rahmen für ist vor der Aufnahme eines Staatszieles Sport in das die Lösung einer Reihe von Problemen, die wir im Sport Grundgesetz genau zu untersuchen, welche Ziele damit haben, zu verbessern. Ich denke, dass sich jenseits des verfolgt werden und welche Folgen das Staatsziel Sport akademischen Streites sowohl hier im Haus als auch in und Kultur im Grundgesetz haben kann. Es kann nicht der Gesellschaft eine Mehrheit für diese Anträge ab- Sinn der Sache sein, dass ausgehend von der guten Ab- zeichnet. Wenn man einmal die rosarote Brille absetzt sicht eine Flut von Prozessen ausgelöst wird, die weder – das ist hier verschiedentlich schon geschehen –, wird der Rechtssicherheit noch den Zielen selbst dient. man sehen, dass es eine ganze Reihe von Problemen gibt, die einer Lösung zugeführt werden müssen. Auch eine zusätzliche Belastung des Haushalts darf vor dem Hintergrund unserer Staatsschuldensituation Der Schulsport ist schon angesprochen worden. Wir nicht ohne Grenzen herbeigeführt werden. Wenn sich et- brauchen dringend die dritte Schulsportstunde. Die Län- was ändern soll, müssen wir die finanziellen Auswirkun- der haben sie auch irgendwie einmal auf dem Schirm ge- gen vorher ermitteln und müssen sie klar begrenzen. habt. Tatsächlich findet vielleicht gerade einmal die erste Stunde statt. Was spricht dagegen, dass der Bund ein Was wir nicht brauchen, ist mehr Verfassungsrecht- Programm auflegt, das es den Ländern ermöglicht, diese sprechung. Stattdessen sollten wir gemeinsam darange- dritte Sportstunde tatsächlich durchzuführen? Das wäre hen, die gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports ein Vorschlag, bei dem sich auch der Bund einbringen und seiner vielen positiven Wirkungen mit einfachen könnte. Gesetzen voranzubringen. Diese Gestaltungskraft haben wir ja. Stichwort Breitensport. Wie sieht es mit der Anerken- nung der ehrenamtlichen Tätigkeit aus? Eine ganze Wir haben gerade in dieser Woche in unserem Aus- Reihe von Vereinen leidet darunter, dass ihnen die Mit- schuss über die Olympischen Sommerspiele diskutiert, glieder abhanden kommen, vor allem aber auch darunter, Stephan Mayer hat gesagt: mit positiver Tendenz. Aber dass sie nicht genügend Personal für die Leitung haben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23687

Jens Petermann (A) Auch hier fehlt eine entsprechende Initiative des Bun- Frankreichs Kulturschaffende beklagen einen Wort- und (C) des. Tabubruch. Sie warnen die Bürger Europas zornig davor, links zu wählen. Recht haben sie! Wie sieht es beim Nachwuchssport aus? Wenn ich mir die Situation der Trainer bei den Nachwuchssportlern (Beifall bei der CDU/CSU) ansehe, dann merke ich, dass sie die 40-Stunden-Woche All das geschieht in einem Land, in dem die Kultur bis- nur vom Hörensagen kennen. Faktisch werden 60 Stun- her obersten Stellenwert hatte. Ähnlich rabiate Ein- den und mehr geleistet, wofür sie eine Vergütung von schnitte erfährt die Kultur jetzt auch in Spanien, Italien 1 200 Euro erhalten. Hier befinden wir uns schon im Be- und in vielen anderen europäischen Ländern, wo sie Ver- reich der prekären Beschäftigung. Das müssen wir drin- fassungsrang hat. Den bittersten Raubbau gibt es derzeit gend ändern. in Griechenland. (Beifall bei der LINKEN) Ich bin dort gewesen: Tausende Kulturdienstleistende Wie sieht es mit der Talentsichtung aus? Gerade aus haben ihren Arbeitsplatz verloren, Tausende bedeutende dem Bereich des organisierten Sports wird gefordert, Ausgrabungsstätten bleiben ungesichert. Museen, Thea- dass der Erfahrungsvorsprung des Ostens aufgegriffen ter, Konzertsäle wurden im Mutterland der abendländi- wird und bestimmte positive Dinge von dort in die ak- schen Kultur geschlossen. tuelle Talentsichtung aufgenommen werden. Das muss Was nutzt der Kultur der Schutz einer Verfassung, man natürlich aufgreifen. Warum eigentlich nicht? wenn die Finanzen nach dem Motto „Wo die Dukaten (Beifall bei der LINKEN) fehlen, hat der Kaiser sein Recht verloren“ verweigert werden? Ich begrüße es ausdrücklich, dass der Deutsche Wie sieht es mit der Transparenz aus? Wie sieht es Kulturrat eine Initiative zur Rettung der Kultur in Grie- mit der Verteilung der Mittel aus? Auch hier gibt es eine chenland starten will, und ich hoffe auf die Unterstüt- Reihe von Defiziten. Aktuell gibt es eine Diskussion zung aller Beteiligten. über Zielvereinbarungen. Das müssen wir auch angehen. Hier können wir gemeinsam vorankommen. (Beifall des Abg. Christoph Poland [CDU/ CSU]) (Beifall bei der LINKEN) Der Ruf nach einem Sicherungsstatus der Kultur im Die Entwicklung eines jungen Menschen zu einer Grundgesetz bleibt blanker Formalismus, wenn keine Persönlichkeit, die Verantwortung übernehmen kann, die Taten folgen. leistungsbereit ist, die soziale Kompetenz besitzt und das Leben erfolgreich meistert, ist eine umfassende Angele- (Beifall der Abg. Agnes Krumwiede [BÜND- (B) genheit. Sowohl der Sport als auch die Kultur haben NIS 90/DIE GRÜNEN] – Jerzy Montag (D) hierfür eine zentrale Bedeutung. Das gilt gerade in einer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) sehr schnelllebigen konsumorientierten Gesellschaft. Vergessen wir nicht: Als die Sozialdemokraten – der Das gerät aus dem Blickfeld. Diesen Blick wieder zu heutige Antragsteller – mit den Grünen in der Regie- öffnen, ist das Verdienst dieses Gesetzentwurfes der rungsverantwortung waren, haben sie den Kulturetat um SPD-Fraktion, den wir mit unseren Anträgen gern unter- 4 Prozent gekürzt. Mit dem Beginn der Regierungszeit stützen. Ich werbe noch einmal dafür, dass Sie diese An- von hingegen wurde der Kulturhaushalt träge wohlwollend begleiten. achtmal in Folge erhöht. Mit 1,3 Milliarden Euro wurde Vielen Dank. vonseiten des Bundes noch nie so viel Kulturförderung betrieben wie in diesem Jahr. (Beifall bei der LINKEN) Dieser Rekord trägt einen Namen: , der zuständige Staatsminister. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – erteile ich Kollegen Wolfgang Börnsen für die CDU/ Bernd Scheelen [SPD]: Den ihr damals nicht CSU-Fraktion das Wort. haben wolltet!) Vergessen wir nicht: Als Rot-Grün Regierungsverant- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wortung trug, wurden die Mittel für die Künstlersozial- kasse um 20 Prozent eingestrichen, wurde der Deutschen Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Welle massiv der Geldhahn zugedreht, wurden Goethe- Es ist unglaublich, was in diesen Tagen in Paris ge- Institute geschlossen. Mit dieser fatalen Entwicklung ha- schieht. ben wir vor acht Jahren Schluss gemacht. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU) Wenige Wochen nach der Regierungsübernahme fallen Frankreichs Sozialisten über den Kulturhaushalt her. Ri- Wir von der Union haben den Rückwärtsgang heraus- goros haben die Linken über 1 Milliarde Euro gekürzt. genommen und der Kultur in Deutschland wieder Per- spektiven gegeben. Museen, Musik- und Filmförderung (Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- profitieren mit über 200 Millionen Euro jährlich davon. NEN]: Weil ihnen ein maroder Haushalt hin- Die Kulturstiftung, die Gedenkstätten haben allein in terlassen wurde!) den letzten drei Jahren 150 Millionen Euro für Denkmä- 23688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) ler von nationaler Bedeutung erhalten. Davon profitieren fassungssicherheit – auf dem Papier. Wie sieht denn die (C) auch die 37 Weltkulturerbestätten unseres Landes. Be- Realität aus? Das Verfassungsgebot hindert elf Bundes- sonders Kinder und Jugendliche gewinnen im Rahmen länder derzeit nicht daran, aktuell und wiederholt zum der kulturellen Bildung durch zusätzliche Mittel von Teil erhebliche Kürzungen bei der Kultur vorzunehmen. 30 Millionen Euro jährlich. (Christoph Poland [CDU/CSU]: Das ist (Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schlimm!) NEN]: Ist ja gar nicht wahr!) Bei diesen Ländern wäre, sarkastisch bemerkt, ein Zu- Das ist eine Tat, die sich sehen lassen kann. satzartikel wünschenswert: Die Kultur muss vor dem (Beifall bei der CDU/CSU) Staat geschützt werden. Auch die Kultur- und Kreativwirtschaft hat von dieser Viertens. Wer Rechtssicherheit für die Kultur an- Politik des Handelns profitiert. Als wir vor gut fünf Jah- mahnt – und das ist richtig –, der sei an den Art. 35 des ren unter Führung von Dagmar Wöhrl konzeptionell Einigungsvertrages erinnert, in dem Deutschland klar, aktiv wurden, registrierte man in der Kreativwirtschaft konsequent und einklagbar als Kulturstaat bezeichnet ungefähr 190 000 Unternehmen mit 760 000 Erwerbstä- wird. Auf diesen Rechtshintergrund der Kultur kann tigen. Heute setzt die Branche mehr als 135 Milliarden man sich berufen. Euro um, kann mit 960 000 Arbeitsverhältnissen und Kultur hat nicht nur auf den genannten vier Ebenen 290 000 Unternehmen bei etwa 25 Prozent Selbstständi- Verbündete, sondern auch in den vielen Millionen Men- gen einen Bruttoertrag erwirtschaften, der bereits höher schen unseres Landes, die aktiv Kultur betreiben oder ist als der von der Automobilindustrie und von der Elek- genießen. Die Kultur bleibt eine der größten, großartigs- troindustrie. Das nenne ich Dynamik pur. ten Bürgerbewegungen unseres Landes. Das macht Mut. (Beifall bei der CDU/CSU) Doch unabhängig davon gibt es bei uns in der Union Der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim eine Reihe von Abgeordneten, die für das alleinige Otto, der hier engagiert tätig ist, bezeichnet die Kreativ- Staatsziel Kultur eintreten, so wie es die Enquete-Kom- wirtschaft zu Recht als einen herausragenden Jobmaker mission „Kultur in Deutschland“ angeregt hat. Ich ge- unseres Landes – und das alles ohne Verfassungsauftrag. höre dazu, auch der zuständige Staatsminister. Vergessen wir nicht: In der rot-grünen Epoche wurden (Beifall des Abg. Christoph Poland [CDU/ 44 Millionen Euro in der auswärtigen Kultur- und Bil- CSU]) (B) dungspolitik gestrichen. Heute können wir von einem (D) Plus in Höhe von 127 Millionen Euro ausgehen. Kein Wenn in unserer Verfassung der Schutz der natürlichen Staatsziel hat uns dazu aufgefordert. Nein – wir glauben Lebensgrundlagen und der Tiere garantiert wird, dann an die Sinnstiftung der Kultur. Sie macht Menschen muss es auch einen Platz geben für die geistig-ideellen stark, und unsere Demokratie braucht starke Bürger. Das Lebensgrundlagen der Menschen. ist unser Wille, Kultur zu fördern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- SPD und der FDP sowie der Abg. Agnes neten der FDP) Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die bürgerliche Koalition ist in dieser Frage einer Das ist der Kernpunkt bei der Überlegung, die Verfas- Auffassung. Das gilt auch für die auswärtige Kulturpoli- sung zu ändern. Hier weist das Grundgesetz mehr als ei- tik, für die Außenminister Guido Westerwelle und die nen Schönheitsfehler auf. Doch ich bleibe dabei: An den Staatsministerin Cornelia Pieper stehen. Konsequente Taten erkennt man die wahren Kulturförderer. Trotz Mittelerhöhung und gute Konzepte belegen unsere klammer Kasse wollen wir von der CDU/CSU auf ein Ernsthaftigkeit in diesem Politikbereich. Die Kultur- Mehr für die Kultur auch im achten Jahr nicht verzich- szene kann sich auf uns verlassen. Trotz mancher Fehler ten. machen wir doch vieles richtig. Völlig falsch ist der hier vermittelte Eindruck, die Kultur sei schutzlos und ohne Was die Sozialisten jetzt in Frankreich praktizieren, Rechte in unserem Land, im Gegenteil – Jerzy Montag müssen wir bei uns in Deutschland verhindern. hat bereits darauf aufmerksam gemacht –: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erstens. Unser Grundgesetz garantiert in Art. 5 die Auf jeden Fall gilt – nach diesem Applaus will ich das Freiheit von Kunst und Wissenschaft – einklagbar. noch einmal wiederholen –: Was die Sozialisten jetzt in Zweitens. Der Art. 167 des Vertrages über die Euro- Frankreich praktizieren, – päische Union unterstreicht die einzigartige Bedeutung der Kultur – das ist rechtsklar. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall des Abg. Christoph Poland [CDU/ Herr Kollege, Sie müssen trotzdem zum Ende kom- CSU]) men. Drittens. 15 unserer Bundesländer, bei denen die ei- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hören wir gentliche Kulturhoheit liegt, garantieren der Kultur Ver- doch so gerne!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23689

(A) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf: (C) – müssen wir bei uns verhindern. – Es kommt nicht Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- noch ein drittes Mal, Herr Präsident, zwei Mal genügen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wir wollen das noch einmal hören!) – Drucksache 17/10748 – Überweisungsvorschlag: Mit Schaufensteranträgen helfen wir weder dem Sport Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) noch der Kultur. Wir sollten uns ernsthaft mit dieser Innenausschuss Frage auseinandersetzen. Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Danke schön. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich schließe die Aussprache. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen- tarischen Staatssekretär Ralf Brauksiepe für die Bundes- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen regierung das Wort. auf den Drucksachen 17/10644 und 17/6152 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Die Vorlage auf Drucksache 17/10785 (neu) soll Bundesregierung legt dem Hohen Haus heute den Ent- ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- wurf eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches schüsse überwiesen werden. Die Federführung ist jedoch Sozialgesetzbuch vor. Der Titel klingt unauffällig, der strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, FDP und Bünd- Inhalt ist es aber nicht: Was wir Ihnen vorlegen, bedeutet nis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Innen- für die Kommunen im mittelfristigen Finanzplanungs- ausschuss, die Fraktionen der SPD und Die Linke wün- zeitraum, von 2013 bis 2016, eine Entlastung um 18,5 Milliarden Euro. Eine vergleichbare Entlastung hat schen Federführung beim Ausschuss für Kultur und es noch nie gegeben. Das ist christlich-liberale Regie- Medien. (B) rungsarbeit. (D) Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – vorschlag der Fraktionen der SPD und Die Linke, also Bernd Scheelen [SPD]: Warten Sie mal auf Federführung beim Kulturausschuss. Wer stimmt für meinen Redebeitrag!) diesen Überweisungsbeschluss? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Zur Einordnung macht es Sinn, einen Blick in die Ge- Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der Grü- schichte zu werfen: Die Grundsicherung im Alter ist im nen gegen die Stimmen von SPD und Linken abgelehnt. Zusammenhang mit einem Verzicht auf den sogenannten Unterhaltsrückgriff bei Menschen, die auf Unterstützung Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- im Alter angewiesen sind, eingeführt worden. Damals schlag der Fraktionen CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/ war klar, dass dies mit finanziellen Mehrbelastungen für Die Grünen, Federführung beim Innenausschuss. Wer die Kommunen verbunden sein würde. Die im Jahr 2001 stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer in Opposition befindliche CDU/CSU-Fraktion hat das stimmt dagegen? – Enthaltungen? sehr deutlich kritisiert. Es lohnt sich, gelegentlich in al- ten Protokollen zu lesen. Die Abgeordnete Lotz von der (Zuruf von der CDU/CSU: Frau Krumwiede SPD-Fraktion erklärte damals wörtlich: hat abweichend gestimmt!) Die den Kommunen dadurch entstehenden Kosten Ich werde gerade darauf hingewiesen, dass es bei den werden vom Bund getragen. Die Kommunen wer- Grünen in beiden Abstimmungen ein unterschiedliches den also nicht belastet, wie es die CDU/CSU Abstimmungsverhalten gegeben hat. fälschlicherweise in ihrem Entschließungsantrag behauptet. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Protokoll vermerkt: Beifall bei SPD und Grünen. NEN]: Wir waren für den Innenausschuss, nur Frau Krumwiede war für den Kulturaus- Was steckte damals dahinter? Die damalige Regie- schuss!) rung war der Meinung, dass die Kommunen eine Kom- pensation in Höhe von 600 Millionen D-Mark für den Eine Abgeordnete stimmte jeweils anders als die ande- grundsicherungsbedingten Mehraufwand erhalten soll- ren anwesenden Grünen. Der Überweisungsvorschlag ist ten. Im Vermittlungsausschuss ist es gelungen, diese im Übrigen mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie Summe auf 800 Millionen D-Mark, 409 Millionen Euro, zuvor angenommen. zu erhöhen. Mehr war damals gegen die rot-grüne Bun- 23690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe (A) desregierung nicht drin. Zum Vergleich nenne ich die delt worden ist. Über fachliche Änderungen, die auch (C) Gesamtkosten, die für die Grundsicherung im Alter und aus Sicht der Bundesregierung durchaus möglich sind, bei Erwerbsminderung entstehen. Die aktuellste Istzahl, wird gesprochen. Wir sind da sehr gesprächsbereit. Bei die uns vorliegt, stammt aus dem Jahr 2010. Damals wa- weitergehenden Forderungen, die über das unmittelbar ren es gut 4,1 Milliarden Euro. Für dieses Jahr rechnen Fachliche hinausgehen, will ich allerdings darauf hin- wir mit Gesamtkosten von 4,8 Milliarden Euro. Davon weisen, dass wir natürlich das Transparenzgebot beach- wollte Rot-Grün 307 Millionen Euro erstatten – am ten müssen. Das heißt, wenn der Bund vom übernächs- Ende waren es 409 Millionen Euro –, also weniger als ten Jahr an diese Leistung zu 100 Prozent finanziert, 10 Prozent. muss er auch die Möglichkeit haben, festzustellen, was als Grundlage für diese Leistung genommen werden Wir legen nun einen Gesetzentwurf vor, nach dem der soll. Dafür brauchen wir eine entsprechende Statistik. Bund die Kosten im nächsten Jahr zu 75 Prozent und Zudem muss die erforderliche Transparenz vorhanden vom übernächsten Jahr an zu 100 Prozent übernimmt. sein. Anders ist es, wenn Bundesgeld fließen soll, nicht Also weniger als 10 Prozent Übernahme der Kosten der möglich. Kommunen – das war Rot-Grün; 100 Prozent – das sind CDU/CSU und FDP, die christlich-liberale Koalition. Ich bin aber ganz sicher: Die Einsicht in diese Not- Das ist der Unterschied in Bezug auf die kommunalen wendigkeiten wird sich durchsetzen, und wir werden zu Finanzen. einem guten Ergebnis kommen. Dieses Ergebnis heißt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- zunächst einmal – das will ich als Sozialpolitiker beto- chen der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- nen –: Würdevolles Leben im Alter ist in Deutschland NIS 90/DIE GRÜNEN] – Bernd Scheelen mit der Grundsicherung im Alter als unterster Sicherung [SPD]: So ein Quatsch!) garantiert. Der inhaltliche Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist damit beschrieben. Es geht um die Erstattung der laufen- unter der Armutsgrenze!) den Nettoausgaben der Kommunen: vom Jahr 2013 an Darüber hinaus wollen wir Menschen, die lange Vollzeit zu 75 Prozent und vom Jahr 2014 an zu 100 Prozent. gearbeitet haben und wichtige familienpolitische Leis- Schon in diesem Jahr hat der Bund seine Zusage wahrge- tungen erbracht haben, besserstellen. Darüber diskutie- macht und 45 Prozent dieser Kosten übernommen. In der ren wir noch politisch. Aber diese Auffanglinie, die ein rot-grünen Zeit wäre dies, wie gesagt, ein einstelliger würdevolles Leben im Alter – natürlich nicht mit üppi- Prozentsatz gewesen. gen Mitteln, Die Länder können die Mittel, wenn dieser Gesetzent- (B) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (D) wurf in Kraft tritt, direkt aus dem Bundeshaushalt abru- GRÜNEN]: Würdevolles Leben gibt es nur fen. Das ist die verfassungsrechtlich vorgesehene Art der mit gerechten Löhnen!) Mittelzuteilung. Das heißt, der Bund hat die Länder als Ansprechpartner. Aber klar ist – das möchte ich aus- aber eben in Würde – ermöglicht, ist garantiert. drücklich für die Bundesregierung betonen –: Wir haben diesen Gesetzentwurf vorgelegt, um die Kommunen fi- Klar ist auch: Die christlich-liberale Koalition hält nanziell zu entlasten. Wort. Die christlich-liberale Koalition hat geliefert. Sie entlastet die Kommunen um 18,5 Milliarden Euro in die- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sen fünf Jahren. Sie übernimmt die Kosten der Grund- neten der FDP – Manfred Grund [CDU/CSU]: sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung komplett. Ganz wichtig!) Die christlich-liberale Koalition legt damit die größte Das heißt, es geht darum, dass diese Gelder von den Entlastung der Kommunen in ihrer Geschichte vor. Ländern an die Kommunen weitergeleitet werden. Das Ich bitte dafür um Zustimmung. ist unser ausdrücklicher politischer Wille. Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzentwurfs liegt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei der Weiterentwicklung der Grundsicherungsstatistik, die die Voraussetzung dafür ist, dass die laufenden Net- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: toausgaben überhaupt erstattet werden können. Ich habe Das Wort hat nun Bernd Scheelen für die SPD-Frak- darauf hingewiesen: Wir haben in diesem Jahr die Kos- tion. ten des Vorvorjahres zu 45 Prozent erstattet; das sind die aktuellsten Zahlen, die uns vorliegen. Für das letzte Jahr (Beifall bei der SPD) haben wir bisher nur eine Kostenschätzung. Wenn man die laufenden Ausgaben direkt erstatten will, braucht Bernd Scheelen (SPD): man eine solche Weiterentwicklung der Statistik. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Außerdem ist im Gesetzentwurf vorgesehen, dass die ren! Ich bin erkennbar nicht Gabi Hiller-Ohm; das nur Länder die Träger der Leistung, also der Grundsicherung zur Aufklärung. Wir haben getauscht. Ich hoffe, Sie ha- im Alter und bei Erwerbsminderung, bestimmen. ben nichts dagegen. Das sind die wesentlichen inhaltlichen Schwerpunkte (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ja, dieses Gesetzentwurfes, der bereits im Bundesrat behan- eben! Sie sehen so verändert aus!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23691

Bernd Scheelen (A) Ich bin froh, dass ich jetzt direkt auf die Ausführun- ( [CDU/CSU]: Das war ja Ihr (C) gen des Kollegen Brauksiepe antworten kann; denn das, Gesetz, Herr Scheelen!) was Sie hier vorgetragen haben, Herr Kollege Brauksiepe, Dann brauchten Sie dafür die Zustimmung der Länder. ist absolute Geschichtsklitterung. Das wissen Sie auch. Diesen Hebel haben die Länder genutzt, um Ihnen die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beteiligung an den Kosten der Grundsicherung aufs DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/ Auge zu drücken und die Entlastung der Kommunen vo- CSU]: Was?) ranzutreiben. Sie haben dem zugestimmt; das ist auch gut so. Aber das war das Ergebnis der Arbeit eines Ver- Ich kann Ihnen erzählen, was damals unter Rot-Grün mittlungsausschusses. Das war keine Initiative Ihrer- passiert ist. Wir haben ein Problem gelöst, das Sie in seits. 16 Jahren unter Helmut Kohl nicht gelöst haben. Sie ha- ben für die Kriegerwitwen – das war damals die Pro- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem blemgruppe – nichts getan. Diese Frauen waren durch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Erziehung von Kindern und andere Umstände über- Parallel dazu haben Sie damals eine Kommission ein- haupt nicht in der Lage, Rentenansprüche zu erwerben. gerichtet – das hatten Sie in Ihrem Koalitionsvertrag Sie haben sich meist nicht getraut, zum Sozialamt zu ge- festgelegt –, die sogenannte Gemeindefinanzkommis- hen – damals musste man noch zum Sozialamt gehen, sion. Ihr Auftrag war – das steht so in Ihrem Koalitions- um eine Art Grundsicherung zu bekommen –, weil bei vertrag –, Vorschläge zu erarbeiten, um die Gewerbe- der Sozialhilfe der Rückgriff auf die Kinder vorgesehen steuer zu ersetzen; das war ihr einziger Auftrag. Diese ist. Daher sind viele aus Scham nicht zum Sozialamt ge- Kommission hat getagt und festgestellt, dass man die gangen und mussten mit weniger als dem damaligen So- Gewerbesteuer nicht ersetzen kann. Damit war sie ei- zialhilfesatz auskommen. gentlich gescheitert. Sie war tot, sogar toter als tot. Nur: Dieses Problem sind wir gemeinsam mit den Grünen Sie hatten nicht den Mut, sie zu beerdigen. Es kam Ihnen angegangen, und wir haben es gelöst. Wir haben für eine zupass, dass zeitgleich im Vermittlungsausschuss auf identifizierte Gruppe von etwa 300 000 Personen, haupt- Druck der SPD-geführten Landesregierungen die Betei- sächlich Frauen, diese Regelung getroffen und haben ge- ligung des Bundes an den Kosten der Grundsicherung im nau für diese Gruppe das Geld geliefert. Das waren da- Alter vereinbart wurde. Da hatten Sie die Idee: Wir kön- mals 800 Millionen D-Mark; das war noch zu D-Mark- nen die Entscheidung darüber ja noch ganz schnell an Zeiten. Genauso war das, Herr Kollege Brauksiepe. Ich die Kommission weiterleiten. Dann kann sie dem zu- war dabei; ich bin einer von denen, die schon ein biss- stimmen, und das verkaufen wir als Riesenerfolg dieser chen länger in diesem Hause sind. Ich kann mich noch Kommission. – Genau das war der Versuch, den Sie un- sehr gut daran erinnern. ternommen haben. Er ist aber total gescheitert, Herr Kol- (B) lege Brauksiepe. Das, was ich gerade gesagt habe, ist die (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wahrheit. Das, was Sie gesagt haben, ist gelogen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das war damals eine Beteiligung an den Gesamtkos- DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU ten von erst 13 Prozent und später von 16 Prozent. Sie und der FDP: Na, na, na! – Vorsicht!) stellen sich jetzt hier hin und sagen: Seht mal, die Sozis haben damals nur 10 bis 13 Prozent gegeben, wir über- – Ich nehme das Wort „gelogen“ zurück und sage: Es nehmen jetzt 100 Prozent. – Dazu sollte man wissen, war die Unwahrheit. Das ist, glaube ich, parlamentarisch dass Sie das, was Sie hier vorlegen, gar nicht freiwillig besser ausgedrückt. machen. Das war doch gar nicht Ihre Idee. Ich nehme an, dass der vorliegende Gesetzentwurf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine Mehrheit bekommt; das ist auch gut so. „Heute ist DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der für die Kommunen ein guter Tag“ – mit diesem Satz LINKEN) wollte ich meine Rede eigentlich beginnen; Das ist auf Druck der sozialdemokratisch geführten Lan- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des desregierungen und auf Druck der linken Hälfte dieses BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hauses auf den Weg gebracht worden. Ohne uns könnten aber Sie haben mich gereizt, erst einmal klarzustellen, wir heute nicht hier stehen. Sie sind von sich aus nicht was in der Vergangenheit war. mit einer Initiative gekommen, die Grundsicherung zu übernehmen, ganz im Gegenteil. Das wurde aufgrund (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war der Verhandlungen zum Bildungs- und Teilhabepaket notwendig!) notwendig. Auch das Bildungs- und Teilhabepaket war nicht Ihre Idee. Vielmehr hat Sie ein Urteil des Bundes- Heute ist für die Kommunen, wie gesagt, ein guter Tag. verfassungsgerichts gezwungen, etwas für Kinder von (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Genau!) Hartz-IV-Empfängern zu tun, damit sie bessere Bil- dungschancen bekommen. Aber damit haben Sie eigentlich gar nichts zu tun. All das geschah nämlich auf Betreiben der linken Seite die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ses Hauses und des Bundesrates; DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Freiwillig haben Sie überhaupt nichts gemacht. ohne die wäre das nicht gegangen. 23692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Bernd Scheelen (A) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja, ja! Das Geld insbesondere bei der Eingliederungshilfe für Behinderte. (C) fällt ja auch vom Himmel!) Ich bin sehr gespannt, ob wir auch dann zu einer Eini- gung kommen. Im Interesse der Kommunen hoffe ich es In den Gesetzentwurf, den wir voriges Jahr auf den sehr. Weg gebracht haben und in dem es um die erste Stufe der Entlastung der Kommunen, nämlich die Entlastung Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. für dieses Jahr, ging, haben Sie einen Trick eingebaut, um dafür zu sorgen, dass die Belastung der Kommunen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ etwas höher ausfällt. Sie haben nämlich gesagt: Wir er- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katrin Kunert statten nur auf der Basis des Vorvorjahres. – Wenn man [DIE LINKE]) weiß, dass diese Leistung dynamisch steigt, und zwar um 5 Prozent pro Jahr, dann kann man sich leicht aus- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: rechnen, dass bei den Kommunen, wenn man auf Basis Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion. des Vorvorjahres erstattet, immer 10 Prozent der Belas- tung verbleiben. Diese Regelung widersprach der Ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) einbarung, die im Vermittlungsausschuss getroffen wurde. In ihr war nämlich von einer 100-prozentigen Er- Pascal Kober (FDP): stattung die Rede. Ihr Abrechnungsverfahren hingegen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit führte nur zu einer 90-prozentigen Erstattung. Das haben der Drucksache 17/8606 haben wir – es ist noch gar wir damals kritisiert; das können Sie in den Protokollen nicht so lange her – am 1. März dieses Jahres eine De- nachlesen. Wir haben dem Gesetzentwurf, der im vori- batte zum Antrag der Linken mit dem Titel „Bundesmit- gen Jahr auf den Weg gebracht wurde und in dem nur tel zur Finanzierung der Grundsicherung im Alter und Regelungen im Hinblick auf dieses Jahr getroffen wur- bei Erwerbsminderung 1:1 an Kommunen weiterrei- den, zugestimmt, allerdings verbunden mit der Auffor- chen“ geführt. derung: Regelt die Lücke, die da übrig bleibt! – Das ha- ben Sie von sich aus nicht gemacht. (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Richtig! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!) Im Sommer dieses Jahres haben Sie dem Kabinett ei- nen Referentenentwurf zugeleitet, in dem immer noch Obwohl ich mich gut daran erinnere, habe ich mir noch das alte Abrechnungsverfahren angewandt wurde – einmal die Protokolle der damaligen Debatte angesehen. In der Tat hat mich meine Erinnerung nicht getäuscht: In (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Debatte vom 1. März dieses Jahres haben alle Red- NEN]: Genau!) nerinnen und Redner der Opposition mal mehr, mal we- (B) (D) niger deutlich infrage gestellt, dass diese Regierungs- bis die Verhandlungen zum Fiskalpakt anstanden. koalition zu der im Vermittlungsverfahren zum Thema (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- „Leistungssätze im Sozialgesetzbuch II“ getätigten Zu- NEN]: Ja!) sage steht, die Kosten der Grundsicherung im Alter voll- ständig von den Kommunen zu übernehmen. Da haben Ihnen die SPD-geführten Landesregierungen und die linke Seite dieses Hauses wieder etwas aufs Ich zitiere beispielsweise die Kollegin Hiller-Ohm. Auge gedrückt. Weil Sie unsere Zustimmung zum Fis- Sie sagten damals: kalpakt brauchten, haben Sie unserer Forderung, das Ab- Sie rechnungsverfahren auf sofortige Erstattung umzustel- len, zugestimmt. Allerdings haben Sie sich ein letztes – die Kommunen – Hintertürchen offen gelassen, um ein bisschen Geld zu sparen: Die sofortige Erstattung soll so erfolgen, dass die können zwar mit der für dieses Jahr geplanten Ent- Länder in einem Dreimonatsrhythmus Geld abbuchen lastung von 1,2 Milliarden Euro rechnen, jedoch können. Ich würde uns empfehlen, im Zuge der Beratun- fehlt ihnen für die nachfolgenden Jahren schlicht gen dieses Gesetzentwurfes noch einmal auf diesen As- die Planungssicherheit. pekt zu sprechen zu kommen. Wir sollten überlegen, ob (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir vielleicht zu einer monatlichen Abrechnung überge- NEN]: War ja auch so!) hen. Das ist ein Verfahren, das sich beispielsweise beim Wohngeld sehr bewährt hat. Es funktioniert und führt Das war schon damals nicht richtig, und heute zeigen dazu, dass die Kommunen zu 100 Prozent entlastet wer- wir Ihnen, wie falsch Sie damals lagen. den. Wir haben den Kommunen die Zusage gemacht, und Durch die Maßnahmen, die wir heute beschließen, wir halten uns daran. Zusagen zu halten, ist ein Merkmal entlasten wir die Kommunen zukünftig in einer Größen- christlich-liberaler Politik. ordnung von über 5 Milliarden Euro pro Jahr; das ist gut (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- so. Aber damit ist das Ende der Fahnenstange noch nicht NEN]: Betreuungsgeld!) erreicht. Wir müssen auch über die weiteren Verabredun- gen, die im Rahmen des Fiskalpaktes getroffen worden Ihre unbegründete Panikmache hat die Kommunen ver- sind, sprechen. Für die nächste Legislaturperiode sind unsichert. Das Handeln der Regierung sorgt für Gewiss- weitere Entlastungen in genau diesem Bereich geplant, heit. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23693

Pascal Kober (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Erstattung gezahlt wird. Bisher war das so nicht vorgese- (C) der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE hen, sodass Grundlage weiterhin die Nettoausgaben des LINKE]: Was ist mit der Rentenangleichung?) Vorvorjahres gewesen wären. Es ist gut, dass diese Än- derung möglich war. So bekommen die Kommunen Wir haben 2011 angekündigt, dass der Bund bis zum schneller die tatsächlich entstandenen Kosten erstattet. Jahr 2014 seine Beteiligung an den Kosten der Grund- sicherung im Alter in drei Schritten bis hin zu einer voll- Unsere Politik bedeutet eine echte Entlastung der ständigen Erstattung erhöht. Dass wir dies umsetzen, Kommunen. stand, im Gegensatz zu dem, was Sie als Oppositionspar- teien uns unterstellt haben, nie infrage. (Lachen der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich habe Ihnen in der Debatte im März schon erläu- tert, weshalb mit dem ersten gesetzgeberischen Schritt, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ge- der Übernahme der Kosten, nicht die vollständige Über- fährden mit Ihrer Politik die finanzielle Basis der Kom- nahme geklärt werden konnte. Ich erkläre es Ihnen auch munen. Was wir derzeit allenthalben von Ihnen hören, heute gerne noch einmal: sind Forderungen nach Steuererhöhungen. Steuererhö- hungen schwächen aber in erster Linie die Wirtschaft, Mit der Kostenübernahme der Grundsicherung hängt die dadurch weniger Gewerbesteuer zahlen kann. die Einrichtung der Bundesauftragsverwaltung zusam- men. Sie tritt nach Art. 104 a Abs. 3 Satz 2 des Grundge- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ver- setzes dann ein, wenn der Bund einen mindestens hälfti- mögensteuer für die Länder!) gen Anteil an den Ausgaben erstattet. Die Einrichtung Mit Ihren Forderungen nach Steuererhöhungen schwä- der Bundesauftragsverwaltung bedarf einiger Regelun- chen Sie die finanzielle Basis der Kommunen. gen und Änderungen. Sie bedarf der Verankerung von Prüf- und Weisungsrechten des Bundes und der Einfüh- Darüber hinaus bedeutet eine schwache Wirtschaft rung und Umsetzung einer ganzen Reihe von Regelun- weniger Arbeitsplätze. Daraus folgen leider auch höhere gen. Das hat seine Zeit gebraucht, aber das haben wir Sozialkosten, die die Kommunen mittragen müssen. Ihre heute zum Abschluss gebracht. Steuererhöhungspläne haben wir, auch im Interesse der Kommunen, verhindert. Am 1. März 2012 habe ich Ihnen in der Debatte auch gesagt: (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Wir werden … in diesem Jahr die Voraussetzungen SES 90/DIE GRÜNEN) für die Kostenübernahme in den kommenden Jah- Wir zeigen heute, dass wir zu Vereinbarungen stehen, (B) ren schaffen. und werden die Kommunen dauerhaft um Milliarden (D) Heute können wir Ihnen das Ergebnis vorlegen. entlasten, auch wenn Sie uns das nicht geglaubt haben. Die Menschen wissen es zu schätzen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Noch eine kleine Bemerkung zu Ihnen, Herr Scheelen, weil Sie ja das Bildungs- und Teilhabepaket Mit diesem Gesetzentwurf – der Staatssekretär angesprochen haben. Zur Wahrheit in der Geschichte ge- Brauksiepe hat darauf schon hingewiesen – erhöhen wir, hört auch, dass Sie das Bildungs- und Teilhabepaket genau so wie gegenüber den Kommunen zugesagt, die durch Ihre Forderungen im Vermittlungsverfahren unnö- Bundesbeteiligung für das Jahr 2013 auf 75 Prozent und tig verkompliziert haben. ab dem Jahr 2014 auf 100 Prozent. Daraus ergibt sich in den Jahren bis 2016 eine Entlastung für die Kommunen (Bernd Scheelen [SPD]: Ganz im Gegenteil! in Höhe von 18,5 Milliarden Euro. Das ist eine gewal- Wir hätten das Geld aber lieber in die Institu- tige Leistung, die der Bund hier von den Kommunen tionen gegeben, ohne bürokratischen Auf- übernimmt, eine Leistung, die in der Geschichte ihres- wand!) gleichen sucht. Dies zeigt, dass sich die Kommunen auf Es war damals die Absicht der Bundesregierung, zusam- diese christlich-liberale Bundesregierung verlassen kön- men mit den Koalitionsfraktionen dieses Bildungs- und nen. Teilhabepaket mit einer einheitlichen Systematik bun- (Bernd Scheelen [SPD]: Ist ja ein Witz!) desweit den Menschen zur Verfügung zu stellen, die es brauchen. Sie haben gefordert, dass das Bildungs- und Diese Entlastung wird dauerhaft sein. Dies bedeutet, Teilhabepaket in die Hände der Kommunen gegeben dass die Kommunen dauerhaft und nachhaltig entlastet wird. werden. Durch den demografischen Wandel werden die Kosten der Grundsicherung im Alter künftig eher noch (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weiter steigen; das wissen wir alle. Durch unseren Ge- NEN]: Das geht doch wegen des Koopera- setzentwurf bleiben diese zusätzlichen Kosten in Zu- tionsverbotes gar nicht anders!) kunft aber nicht bei den Kommunen hängen, sondern Das hat dazu geführt, dass wir im Land jetzt ganz unter- werden vom Bund getragen. schiedliche Ansätze haben, wenn es um das Bildungs- Zudem haben wir im Gesetzentwurf vorgesehen, dass und Teilhabepaket geht. Das belastet wieder einmal die die Berechnungsgrundlage für die Erstattungszahlungen Kommunen. Es belastet vor allen Dingen die Leistungs- die Nettoausgaben des Jahres sein werden, in dem die berechtigten und ihre Kinder. Das war unter anderem Ihr 23694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Pascal Kober (A) Beitrag in dem Vermittlungsverfahren. Darauf hätten wir 2011 ging es erneut um das Hartz-IV-Paket. 2012 haben (C) gerne verzichten können. Sie die Länder dadurch zur Zustimmung zum Fiskalpakt bewegen können, dass Sie die komplette Übernahme der Vielen Dank. Kosten zugesichert haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie haben weder Plan A noch Plan B. Sie verhalten sich wie auf einem Basar. Ihnen geht es gar nicht um die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Entlastung der Kommunen, sondern Sie machen die Das Wort hat nun Katrin Kunert für die Fraktion Die Kommunalfinanzen immer zum Gegenstand von Ver- Linke. handlungen im Vermittlungsausschuss. Das ist einfach nicht hinnehmbar. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Katrin Kunert (DIE LINKE): BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn Rentnerinnen Ich will noch Folgendes sagen: Es ist nicht Inhalt die- und Rentner, egal ob sie eine Rente im Alter oder eine ses Gesetzes, aber wer ist für die Gegenfinanzierung der Rente wegen Erwerbsminderung bekommen, von ihrer Kostenentlastungen bei den Kommunen zuständig? Wer Rente nicht leben können, dann ist die Grundsicherung zahlt das? Das wird dann bei den Geldern für die Bun- fällig. Es ist ausdrücklich nicht Aufgabe der Kommunen, desagentur für Arbeit abgeschmolzen. Das wiederum be- die Grundsicherung zu zahlen, weil dies nämlich eine deutet, dass Erwerbslose diese Zeche zahlen, weil dann gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Sprich: Der Bund weniger Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt möglich hat hierfür geradezustehen. sind. Auch das ist für uns nicht hinnehmbar. Das kritisie- ren wir ausdrücklich. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Bernd Scheelen [SPD]) (Beifall bei der LINKEN) Deshalb begrüßen wir ausdrücklich die komplette Ich will etwas zum Gesetzentwurf sagen; denn er ist Kostenübernahme bei der Grundsicherung im Alter und an einigen Stellen in jedem Falle nachzubessern. Derzeit bei Erwerbsminderung; denn die Kommunen sind in den gibt es laut § 29 SGB XII die Möglichkeit, örtlich ab- letzten Jahren mit den Kosten alleingelassen worden. weichende Regelsätze zu zahlen. Das macht derzeit die Das sage ich aus dem Wissen heraus, das ich in über Stadt München. Da die Lebenshaltungskosten sehr hoch 20 Jahren in der Kommunalpolitik gesammelt habe. sind, zahlt die Stadt zusätzlich Geld. Derzeit sind das (B) dort für eine einzelne Person 393 Euro, also 19 Euro (D) Ich habe eine Bitte, Herr Brauksiepe. mehr als der bundesweit geltende Regelsatz. Allein in (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Stadt München sind das 15 466 Personen. Diese NEN]: Er liest gerade seine Akten!) Möglichkeit des örtlich abweichenden Regelsatzes wol- len Sie mit diesem Gesetzentwurf streichen. Das halten – Wahrscheinlich ist er so verliebt in seine Rede von vor- wir für ein Problem. Wir möchten gern, dass diese Mög- hin. – lichkeit beibehalten wird. (Bernd Scheelen [SPD]: So gut war die jetzt (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- auch wieder nicht!) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Ich habe eine Bitte: Tun Sie bitte nicht so, als wären Sie ten der SPD) von ganz allein auf die Idee gekommen, die Kommunen Es ist im Übrigen auch sehr interessant, dass Sie bei zu entlasten. Niemand in dieser Bundesregierung hat die den Regelsätzen sagen: Wir wollen keine differenzierte Absicht, die Kommunen wirklich nachhaltig zu entlas- Herangehensweise, sondern für alle die gleiche. Bei den ten. Kosten der Unterkunft allerdings lassen Sie die regional (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- unterschiedlichen Richtlinien gelten, weil Sie sehr wohl neten der SPD – [CDU/ wissen, dass die restriktiven Richtlinien der Kommunen CSU]: Das ist falsch! – Bettina Kudla [CDU/ zum Teil nicht immer im Sinne der Betroffenen sind. CSU]: Das ist eine böse Unterstellung!) Das muss man hier wirklich sehr kritisch hinterfragen. Was Sie hier heute präsentieren, ist das Resultat von Ver- (Beifall bei der LINKEN – Zustimmung des handlungen im Vermittlungsausschuss. Abg. Bernd Scheelen [SPD]) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen will: Sie ver- Genau so ist es!) sprechen den Kommunen eine tatsächliche Entlastung. 2008 ging es um die Absenkung der Kosten der Unter- Ich frage Sie aber, wie Sie das regeln wollen, wenn Sie kunft. Dabei hat man auch über die Kosten der Grund- bei der Weiterleitung der Gelder an die Länder nicht da- sicherung verhandelt. für sorgen – die Verantwortung dafür verneinen Sie aus- drücklich –, dass diese die Gelder an die Kommunen (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber weiterreichen. Hier gibt es keine bundesrechtliche Rege- was für ein Handel! Ein Kuhhandel!) lung. Diese fordern wir im Sinne der Kommunen ein. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23695

Katrin Kunert (A) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Jetzt braucht (C) Bernd Scheelen [SPD]) es nur noch jemanden, der das zahlt!) Zum anderen bleiben die Kommunen auf Kosten sit- Denn Menschen, die ihr ganzes Leben lang arbeiten, zen, nämlich auf Verwaltungs- und Personalkosten. Im müssen ihren Lebensabend würdevoll verbringen dür- Landkreis Märkisch-Oderland werden derzeit die Perso- fen. nal- und Verwaltungskosten auf 200 000 Euro beziffert. Herzlichen Dank. In Erwartung der Anzahl der Arbeitslosengeld-II-Bezie- henden, die dann in die Grundsicherung fallen, verdop- (Beifall bei der LINKEN) peln sich die Kosten für Personal und Verwaltung. Das haben Sie in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht gere- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gelt. Darüber sollten wir in jedem Fall noch einmal re- Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion den. Bündnis 90/Die Grünen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist mein Wahlkreis!) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen, im nächsten Jahr Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen betragen die Kosten für die Grundsicherung in der Bun- und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich desrepublik, so die Zahlen der Bundesregierung, fange erst einmal damit an, dass der Gesetzentwurf ein 3,1 Milliarden Euro. Im Jahre 2016 geht der Bund von positives Ergebnis für die Städte und Gemeinden ist. An- 5,46 Milliarden Euro aus. Hinter dieser Steigerung ver- gesichts der Tatsache, dass in den Kommunen jährlich bergen sich viele Menschen, die in ihrem Lebensalter 42 Milliarden Euro für soziale Aufgaben ausgegeben darauf angewiesen sein werden, Grundsicherung zu be- werden – diese Zahl ist in den letzten Jahren dramatisch ziehen. Das muss uns doch eigentlich alle alarmieren, gestiegen, nämlich von 26 Milliarden Euro auf 42 Mil- damit wir endlich die Grundlagen dafür schaffen, dass liarden Euro –, ist die Entlastung bei der Grundsicherung Menschen mit ihrer Hände Arbeit eine armutsfreie Rente im Alter, für die demnächst der Bund zu 100 Prozent die erarbeiten können. Kosten übernimmt, sehr positiv. Das begrüßen auch wir Grünen; denn es führt zu einer erheblichen Entlastung (Beifall bei der LINKEN) der Kommunen gerade bei den sozialen Kosten. Damit kommen wir automatisch zum gesetzlichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie einheitlichen Mindestlohn in der Bundesrepublik. Ich bei Abgeordneten der SPD) denke, das ist eine der Grundlagen, um Grundsiche- Das ist so, und das ist gut. (B) rungsnehmerinnen und -nehmer, wenn ich das so sagen (D) darf, zu vermeiden. Dennoch, Herr Brauksiepe, war Ihre Rede sehr pein- Ein weiterer Punkt ist, dass wir eine vernünftige Ren- lich. Hier so zu tun, als wäre Schwarz-Gelb auf die Idee tenversicherung auf den Weg bringen müssen, die solide, gekommen, dieses Ergebnis zu erzielen, ist völlig ver- kehrt. Sie wissen es besser. Ich habe mich beim Zuhören gerecht und solidarisch ausgestaltet ist. Hierzu sagt die Linke erstens ganz deutlich: Eine Rente muss zum Le- gefragt, was die Menschen aus den Ländern, Städten und ben reichen. Das heißt auch, dass das Rentenniveau wie- Gemeinden denken, wenn sie eine so peinliche Rede hö- der angehoben werden muss. ren, in der auch noch zehnmal gesagt wird: Gäbe es Schwarz-Gelb nicht, wäre das nicht passiert. (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unbedingt! Auf Jeder und jede, die sich mit der Materie beschäftigen, 53 Prozent!) weiß, dass das ein Ergebnis des Vermittlungsausschusses bzw. des Bundesrates, des Drucks der Städte und Ge- Alle Fraktionen nehmen in Kauf, dass sich dieses Niveau meinden und der Verhandlungen der rot-grünen Länder in den nächsten Jahren immer weiter verringert. Das mit der schwarz-gelben Bundesregierung war. Sonst produziert wiederum Armut im Alter, und das ist die Ur- wäre nichts dabei herausgekommen. sache für die späteren Kosten der Grundsicherung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zweitens fordert die Linke, alle Kürzungen aus der und bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ Rentenanpassungsformel zu streichen. CSU]: Dann wäre es bei eurem alten schlech- ten Gesetz geblieben!) Drittens fordern wir nach über 20 Jahren deutsche Einheit, dass die Renten in Ost und West endlich ange- – Herr Grund, ich weiß, dass es für Sie schrecklich ist, glichen werden. das zu ertragen. – Als letzten Punkt zur Rentenversicherung fordern wir, (Manfred Grund [CDU/CSU]: Es gibt wahr- dass die Rente mit 67 abgeschafft wird. Wir hoffen, dass scheinlich zwei Wahrheiten! Ihre ist nicht sich auch die SPD dazu durchringen kann. meine!) (Bernd Scheelen [SPD]: Bestimmt nicht!) Das Ergebnis der Gemeindefinanzkommission war: nichts. Sie konnten kein Ergebnis vorlegen. Wenn wir diese ganzen Maßnahmen im Voraus grei- fen lassen, dann können wir Grundsicherung im Alter Dann ist im Rahmen der Verhandlungen über das Bil- und bei Erwerbsminderung verhindern. dungs- und Teilhabepaket gesagt worden: Die Kommu- 23696 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Britta Haßelmann (A) nen müssen entlastet werden. Das ist auch richtig, und zahlen darf, weil keine regionale Festsetzung der Regel- (C) dabei erwarte ich von Ihnen ein bisschen Größe, Herr sätze mehr erfolgen darf. Das sollte in der Kompetenz Brauksiepe. Können Sie nicht einfach sagen: „Hier ha- der Länder bleiben; sie sollten sich diese Möglichkeit ben wir als Parteien und Fraktionen, Bund und Länder nicht vom Bund nehmen lassen. zusammen, etwas Gutes für die Kommunen gemacht“? Das bedeutet für die Betroffenen eine erhebliche Nein, er muss das Lied von der schwarz-gelben Erfolgs- Härte. Schauen Sie sich einmal das Gutachten in Bezug geschichte singen. Das ist so peinlich; das geht doch auf München an. Die regionale Festsetzung von Lebens- nicht. haltungskosten und Regelsätzen ist außerordentlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wichtig, weil die Lebenshaltungskosten in einer Stadt und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der wie München wahnsinnig hoch sind. Wenn Sie § 42 LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE SGB XII so belassen, dann wird damit § 29 SGB XII, GRÜNEN]: Sonst haben die ja keine Erfolge! der den Ländern den entsprechenden Spielraum gibt, au- Sonst haben die nichts!) ßer Kraft gesetzt. Sie wissen genau, dass es in der Gemeindefinanzkom- Das wäre für die Städte und Gemeinden und für die mission kein Ergebnis gab. Sie haben zwei Jahre dafür Betroffenen eine dramatische Benachteiligung, weil gebraucht, den Gesetzentwurf vorzulegen. Dass die Ent- etwa eine Stadt wie München 19 Euro weniger Regel- lastung kommt, allerdings in zwei Schritten, ist, wie ge- satz zu zahlen hätte. Das ist für die Betroffenen nicht sagt, positiv. verkraftbar; das ist unterhalb des Existenzminimums. Deshalb hoffe ich, dass wir in den Beratungen in den Nun zu Ihnen, Herr Kober: Sie haben, glaube ich, et- Ausschüssen noch zu einer gemeinsamen Änderung was verwechselt. Das Kooperationsverbot, das im Ge- kommen werden. gensatz zu uns Grünen von Ihnen mitbeschlossen wurde, verhindert, dass der Bund das Bildungs- und Teilhabepa- Vielen Dank. ket direkt mit den Kommunen beschließt. Das war doch immer unsere grüne Kritik. Jetzt haben Sie das Paket als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei ein Riesenmonster voller Bürokratie und mit hohen Ver- der SPD und der LINKEN) waltungskosten geschaffen, das nicht direkt bei den Kin- dern und Familien, die es brauchen, ankommt. Sie aber Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sagen jetzt: Rot-Grün wollte doch, dass das über die Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSU- Länder abgewickelt wird. Fraktion. Nichts davon wollten wir. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (D) (Pascal Kober [FDP]: Das kann man nachlesen!) Bettina Kudla (CDU/CSU): Das Kooperationsverbot spricht dagegen, dass der Bund Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen direkte Beziehungen zu den Kommunen aufnimmt. Das und Herren! Heute ist ein großer Tag für die Kommunen. ist Fakt, und ich hätte erwartet, dass Sie sich ein wenig fachkundig machen, wenn Sie in dieser Debatte reden. (Lachen der Abg. Katrin Kunert [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Ich kann Staatssekretär Brauksiepe nur beipflichten. Sie bei der SPD) tun sich mit seiner Rede nur deshalb so schwer, weil Sie die Fakten nicht vertragen können. Das Gleiche gilt für die Problematik der Steuersen- kungen. Nicht Steuererhöhungen, sondern Steuersen- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kungen belasten die Kommunen. Sie sollten einmal das NEN]: Es war nur so peinlich!) kleine Einmaleins durchgehen. Seit 2008 gab es viele Es ist nun einmal eine Tatsache, dass es sich bei die- steuerrechtliche Änderungen – das Wachstumsbeschleu- sem Gesetz um die größte Entlastung der Kommunen nigungsgesetz, das Bürgerentlastungsgesetz und diese seit Jahrzehnten handelt. Mövenpick-Hotelsteuer – und Funktionsverlagerungen. Das bedeutete Mindereinnahmen für die Kommunen in (Beifall bei der CDU/CSU – Bernd Scheelen Höhe von 5,6 Milliarden Euro. Da sagen Sie hier, Sie be- [SPD]: Das ist auch nicht strittig! Es geht um fürchten Mindereinnahmen durch Steuererhöhungen. die Vaterschaft!) (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Mathe Eins, Dieses Gesetz ist ein großer Wurf, kein Klein-Klein. Wir Rechnen Fünf!) entlasten die Kommunen spürbar und machen einen kommunalfeindlichen Akt der Schröder-Regierung durch Ich fasse es nicht, dass Sie nicht einmal das kleine Ein- unsere Bundesregierung rückgängig. maleins verstehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ich rate insbesondere der CSU und bitte die CDA- Bernd Scheelen [SPD]: Das ist leider Unsinn, Leute in der CDU/CSU-Fraktion, sich unbedingt § 42 Frau Kudla!) SGB XII noch einmal anzuschauen. Der ist problema- tisch, denn § 29 SGB XII wird damit außer Kraft gesetzt. Herr Scheelen, Sie werden doch – unabhängig davon, Das bedeutet – wie Frau Kunert gesagt hat – für eine wo die Ideen für dieses Gesetz herkamen – nicht bestrei- Stadt wie München, dass sie 19 Euro weniger Regelsatz ten können, dass Rot-Grün dieses Gesetz damals völlig Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23697

Bettina Kudla (A) unsystematisch gemacht hat. Es ist unsystematisch, die den die strukturschwachen Kommunen, die unter Finanz- (C) Grundsicherung, die eine Rente für diejenigen Men- problemen leiden. schen ist, die ihre Rente nicht selbst erwirtschaften kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen, den Kommunen aufzubürden. Im Grunde wird mit diesem Gesetz ein Paradigmen- (Bernd Scheelen [SPD]: Das ist keine Rente! wechsel im Bereich der Sozialausgaben für die Kommu- Vorher war es in der Sozialhilfe!) nen eingeleitet. Heute ist klar – ich bitte Sie, das zu be- Das Gesetz hat deswegen eine so große Bedeutung, achten –: Die Trendwende bei den Kommunalfinanzen weil die Kosten sich aufgrund der demografischen Ent- ist erreicht. wicklung beständig nach oben bewegen. Letztlich führte (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das die Politik der rot-grünen Regierung zu einem Tiefpunkt glauben Sie doch selbst nicht!) der Kommunalfinanzen. Schauen Sie sich einmal die Statistik an: Im Jahr 2003 hatten wir bei den Kommunal- Wir rechnen für das Jahr 2012 mit einem Haushaltsüber- finanzen ein Defizit von 8 Milliarden Euro. Die Kom- schuss in Höhe von 2,5 Milliarden Euro für die Städte munen waren also schon Jahre vor der Wirtschaftskrise und Gemeinden. Dieser Überschuss wird gemäß der Fi- 2008 chronisch unterfinanziert. nanzplanung des Bundes bis zum Jahre 2016 auf 5,5 Milliarden Euro ansteigen. Mit ausgeglichenen Haus- (Bernd Scheelen [SPD]: Das war das Erbe von halten bzw. mit einem Überschuss können die Kommu- Helmut Kohl! Es wurde ja deutlich besser un- nen wieder deutlich mehr in die Infrastruktur, auch in ter Rot-Grün!) Schulen, investieren. Die CDU/CSU hat dann in der Großen Koalition ver- (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wie sucht, dieser Entwicklung gegenzusteuern, indem sie die viele Kommunen mit ausgeglichenen Haushal- Bundesbeteiligung schrittweise erhöht hat. ten gibt es denn?) (Bernd Scheelen [SPD]: Auf 16 Prozent!) Noch etwas ist von Bedeutung. Das Gesetz zeigt, dass wir wieder systematisch vorgehen. Die Themen Rente Im Jahr 2009 wurde der Bundesanteil in jährlichen und Absicherung im Alter sind von zentraler Bedeutung Schritten bis zum Jahr 2012 von 13 auf 16 Prozent der für die Menschen. Nettoausgaben in der Grundsicherung angehoben. (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Was machen Sie (Bernd Scheelen [SPD]: Ein Riesenschritt!) dafür?) Heute liegt das wichtigste Ergebnis der von der (B) Für die Bundesregierung steht die Politik für die Men- (D) christlich-liberalen Koalition initiierten Gemeindefi- schen an vorderster Stelle. Die Menschen haben nun nanzkommission zur Beratung vor. Die Vorredner haben mehr Sicherheit, da die Grundsicherung nicht mehr von es bereits teilweise angesprochen: Wer plant denn nun der Finanzstärke einer Kommune abhängig ist. Der wirklich, die Kommunen zu entlasten? Ich erinnere in Bund steht jetzt dafür gerade. Es ist auch eine sachlogi- diesem Zusammenhang nur daran, dass in unserem Ko- sche Politik für die verschiedenen staatlichen Ebenen. alitionsvertrag festgeschrieben war, eine Gemeindefinanz- Kommunen und Länder brauchen eine adäquate Finanz- kommission einzusetzen. Diese hat sich dann intensiv ausstattung, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Übri- mit den Themen Kommunalsteuern und Kommunal- gens würden mit der Beschlussfassung zum Steuerab- finanzen auseinandergesetzt. kommen mit der Schweiz weitere Milliarden in die (Bernd Scheelen [SPD]: Nein! Die sollte sich nur Kassen der Länder und Kommunen gespült werden. mit der Gewerbesteuer beschäftigen!) Vielen Dank. Wir haben intensiv darüber diskutiert, ob eventuell ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ersatz der Gewerbesteuer für die Kommunen günstiger Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Tolle und attraktiver wäre. Nach Beratungen mit den Spitzen- Rede!) verbänden haben wir davon abgesehen, hier eine Ände- rung herbeizuführen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Bernd Scheelen [SPD]: Das habe ich Ihnen doch Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPD- vorher schon gesagt!) Fraktion. Wir haben dann im Vermittlungsausschuss das nun vor- (Beifall bei der SPD) liegende Ergebnis erzielt. Es ist schon verwunderlich, dass sich die Länder in ihrer Zustimmung zum Fiskal- Gabriele Hiller-Ohm (SPD): pakt davon haben beeinflussen lassen. Schließlich müss- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe ten auch sie an soliden Finanzen interessiert sein. Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist ein guter Tag für (Bernd Scheelen [SPD]: Genau das war ja der die Kommunen, aber man muss auch sehen: Die Kom- Grund!) munen mussten sehr lange auf diesen Tag warten. Jetzt endlich haben sie es schwarz auf weiß. Der Bund wird Die Entlastung in Höhe von 18,5 Milliarden Euro bis die Grundsicherung im Alter komplett übernehmen. Es zum Jahr 2016 ist großartig. Besonders profitieren wer- wurde schon gesagt: Es handelt sich dabei nicht um ein 23698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Gabriele Hiller-Ohm (A) schwarz-gelbes Geschenk, sondern um einen sozialde- des Vorvorjahres Berechnungsbasis, sondern die jeweils (C) mokratischen Verhandlungserfolg aus dem Vermitt- aktuellen Ausgaben des laufenden Jahres. Das ist auch lungsausschuss zur Reform der Hartz-IV-Regelsätze zu richtig so. Jahresbeginn 2011. Dort haben wir durchgesetzt, dass die Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Er- (Beifall bei der SPD) werbsminderung in drei Schritten vom Bund übernom- Natürlich haben sich auch die Länder mit dem vorlie- men werden. genden Gesetzentwurf befasst. Sie haben einige Kritik- (Beifall bei der SPD) punkte angebracht. Ich greife drei davon heraus. Bisher zahlten dies zum größten Teil die Städte und Erstens. Freiwillige regionale Zuschläge zur Grund- Gemeinden aus eigener Tasche. sicherung sollen ausgeschlossen werden. Diese Rege- lung ist nicht nachvollziehbar. Sie wird allein in Mün- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Ja eben!) chen 12 000 alte Menschen treffen, die dann mit 19 Euro Ende letzten Jahres wurde der erste Übernahmeschritt weniger im Monat auskommen müssen, weil die Stadt gesetzlich geregelt. Der Bund übernimmt 2012 45 Pro- ihnen nach dem neuen Gesetz keine höheren Regelsätze zent der Kosten. Nun werden auch die zwei weiteren aus eigener Tasche mehr zahlen darf. Entlastungsstufen umgesetzt. Im kommenden Jahr zahlt Zweitens. Das Geld darf nur alle drei Monate vom der Bund 75 Prozent und ab 2014 dann 100 Prozent der Bund abgerufen werden. Man sollte prüfen, ob dies nicht aktuellen Jahresausgaben für die Grundsicherung. Das monatlich erfolgen kann. Dadurch würden sich die Zwi- sind dann etwa 5 Milliarden Euro jährlich, die vom Bund schenfinanzierungskosten für die Städte und Gemeinden in die Kassen der Städte und Gemeinden gespült werden. verringern. Heruntergebrochen auf meine Wahlkreisstadt Lübeck mit etwa 210 000 Einwohnerinnen und Einwohnern be- Drittens. Die vorgesehenen Verwaltungs- und Statis- deutet das mindestens 15 Millionen Euro pro Jahr. Diese tikregelungen erscheinen recht umfangreich. Es sollte Finanzspritze ist gut und auch dringend nötig; denn Lü- überprüft werden, ob sie tatsächlich in dem Maß erfor- beck steht wie viele andere Städte in Deutschland auch, derlich sind. was die Finanzen anbelangt, mit dem Rücken an der Wand. Die Städte brauchen das Bundesgeld, und sie Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Grundsiche- brauchen Planungssicherheit. rung im Alter sind wir auch gleichzeitig mitten in der ak- tuellen Altersarmutsdiskussion. Immer mehr alte Men- Dies, sehr geehrter Herr Kollege Kober, war bisher schen sind auf staatliche Leistungen angewiesen. Frauen (B) nicht gegeben. Es gab keine Planungssicherheit. Man sind hier besonders betroffen. Eines ist klar: Nur wer Ar- (D) hätte das Gesetz komplett, in einem Rutsch, schon im beit hat und einen anständigen Lohn bekommt, wird letzten Jahr auf den Weg bringen können. auch eine vernünftige Rente haben, von der er leben kann. (Pascal Kober [FDP]: Ich habe doch erläutert, warum nicht!) Die Wirklichkeit in Deutschland ist aber: Jede und je- der fünfte Beschäftigte arbeitet inzwischen für einen Das haben wir erwartet, und das haben auch die über Niedriglohn. Das wollen Sie, meine Kolleginnen und 11 000 Städte und Gemeinden in Deutschland von Ihnen Kollegen von CDU/CSU und FDP, nicht ändern; im erwartet. Das haben Sie nicht geleistet, und das kritisie- Gegenteil: Sie setzen die Minijobgrenze gerade von ren wir. 400 Euro auf 450 Euro rauf und erhöhen dadurch das (Beifall bei der SPD) Armutsrisiko vor allem der Frauen. Wenn man sich das heute einmal anschaut, dann erlebt Diese Politik ist nicht nur schlecht für die Menschen; man geradezu das Déjà-vu des letzten Jahres. Wieder sie schwächt auch die Finanzen des Bundes. Denn eines sind Sie genauso spät dran, fast auf den Tag genau, und ist klar: Mehr Armut bedeutet mehr Grundsicherung im auch dieses Gesetz muss nun im Schweinsgalopp durchs Alter und damit höhere Ausgaben für den Bund. Parlament und durch die Länderkammer. Das kritisieren wir, das ist kein guter Stil. Richtig wäre, einen gesetzlichen Mindestlohn einzu- führen. Gut wäre es gewesen, wenn man sich auf einen fairen Abrechnungsmodus schon im letzten Jahr geeinigt hätte. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist In diesem Jahr wurde den Städten und Gemeinden durch es!) den unfairen Abrechnungsmodus etwa eine halbe Mil- Dagegen sträuben Sie sich. Sie sollten es aber tun. Es ist liarde Euro vorenthalten. Für meine Hansestadt Lübeck der richtige Weg. Es hilft den Menschen in unserem macht das immerhin etwa 2 Millionen Euro weniger aus. Land. Deshalb: Geben Sie sich einen Ruck und machen Als Berechnungsgrundlage wurden für 2012 die Vorvor- Sie das für unser Land! jahreszahlen genommen und die stetig anwachsenden Ausgaben für die Grundsicherung dabei einfach außer Danke. Acht gelassen. Das Abrechnungsverfahren wurde jetzt nur auf Druck der Länder bei den Fiskalpaktverhandlun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen geändert. Nun sind endlich nicht mehr die Zahlen DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23699

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C) Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die Bernd Scheelen [SPD]: Dann hättet ihr das in CDU/CSU-Fraktion. der Gemeindefinanzkommission machen kön- nen! Profis der Geschichtsklitterung!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist die Paul Lehrieder (CDU/CSU): größte Entlastung für die Kommunen in der Geschichte Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! der Bundesrepublik; man kann es gar nicht oft genug Liebe Kollegen! Frau Hiller-Ohm, um mit dem letzten wiederholen. Wir reden nicht nur über die Entlastung der Argument gleich anzufangen: Ein gesetzlicher Mindest- Kommunen; wir setzen diese auch in die Tat um. Mit lohn wird auch nach den Forderungen aller auf dem Markt dem vorliegenden Gesetzentwurf wird vollendet, was im befindlichen Gruppierungen nicht per se zu einer Besei- Vermittlungsverfahren zum Gesetz zur Ermittlung der tigung der Altersarmut führen können. Man bräuchte ei- Regelbedarfe vereinbart wurde. nen Mindestlohn von 12,50 Euro, um eine auskömmliche Frau Kollegin Haßelmann hat ausgeführt, § 42 SGB XII Rente in der Größenordnung, wie wir das derzeit disku- hindere in Zukunft die Kommunen, Zuschläge zu ge- tieren, zu erreichen. Also, lassen Sie, Frau Kunert, Frau währen. Dazu ist auf Folgendes hinzuweisen: Wer be- Hiller-Ohm, doch endlich ab von der Mär vom gesetzli- zahlt, schafft an. Das heißt, wenn der Bund die Kosten chen Mindestlohn, der die Altersarmut beseitigen kann! übernimmt, dann ist es für die Kommunen natürlich (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE leicht, einen Zuschlag zulasten des Bundes zu gewähren. GRÜNEN]: Mindestlohn hat auch viel mit Ge- Die Kommunen können jederzeit Zuschläge von 20 oder rechtigkeit zu tun!) 30 Euro gewähren, wenn sie der Meinung sind: Wir brauchen noch einen Zuschlag, weil wir ein Hochpreis- Wir müssen darauf achten, dass vernünftige Löhne ge- gebiet sind. – Allerdings ist der Bund nicht verpflichtet, zahlt werden. Wir als christlich-liberale Koalition haben diese Zuschläge zu bezahlen. zehn Mindestlöhne eingeführt, zum Teil mit Ihnen, zum Teil schon zu Zeiten von Helmut Kohl, bereits im Ar- Der Bund übernimmt die Nettoausgaben für die beitnehmer-Entsendegesetz. Das ist, glaube ich, besser. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bis 2014, wie bereits ausgeführt, in mehreren Schritten. Da- (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Nein!) mit knüpft dieses Vorhaben an das Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der Kommunen an, durch das im laufen- Meine Damen und Herren, heute ist ein guter Tag für den Jahr der Bundesanteil bereits von 16 auf 45 Prozent die Kommunen. Wer die Vorredner gehört hat, muss fest- aufgestockt wurde. stellen: Das jetzt in der Debatte befindliche Gesetz zur (D) (B) Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch muss Der vorliegende Gesetzentwurf – auch hierauf wurde ein prachtvoller Wonneproppen sein. Jeder erhebt An- bereits hingewiesen – sieht für das Jahr 2013 eine Erhö- spruch auf die Autorschaft. Lieber Kollege Scheelen, Sie hung auf 75 Prozent und ab 2014 auf 100 Prozent vor. haben gesagt: Wer hat das gemacht? Wir haben es ge- macht! Die Grünen haben gesagt: Wer hat es gemacht? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir haben es gemacht! Herr Lehrieder, möchten Sie die Zwischenfrage von (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Frau Haßelmann zulassen? GRÜNEN]: Wir haben es zusammen ge- macht!) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Selbstverständlich, von der Frau Haßelmann immer Mit Ausnahme der Linken waren wir alle beteiligt. gern. (Katrin Kunert [DIE LINKE]: Das stimmt nicht!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Seien wir doch einfach neidlos froh, dass die Kommu- Bitte schön. nen die Entlastung bekommen! Es wurde bei Einführung des SGB XII, lieber Kollege Scheelen, noch nicht alles Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): richtig gemacht. Die 400 Millionen Euro langen bei den Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank auch, Kommunen vorne und hinten nicht. Wir korrigieren es Herr Lehrieder, dass Sie die Frage zulassen. – Herr jetzt. Lehrieder, da Sie mich gerade angesprochen haben, will ich doch noch etwas fragen. Ich habe gesagt: Die Ände- Dass Sie in Ihrer Rede extra noch einmal auf das Bil- rung des § 42 Nr. 1 SGB XII verhindert die Anwendung dungs- und Teilhabepaket abgestellt haben, hat mich et- des § 29 SGB XII, und das ist das Problem. Es geht mir was erschüttert. Das wurde damals, 2004, von Ihnen nicht darum, dass wir vom Bund den Ländern mit ihren doch schlichtweg vergessen. Wir haben es nachgebes- Kompetenzen und Regelungen regionale Regelsätze vor- sert. Wir bessern jetzt die Entlastung der Kommunen schreiben, also zum Beispiel vorgeben, welche Regel- nach. Sie haben im Vermittlungsausschuss mitgewirkt satzhöhe in München gelten muss. – das will ich nicht verhehlen –, aber, um Gottes willen, das Gros hat die christlich-liberale Koalition, wie es der Sie müssten als CSU-Mitglied und Bayer wissen, dass Herr Staatssekretär völlig zu Recht ausgeführt hat, auf das insbesondere in München ein Riesenthema ist; dazu den Weg gebracht. sind Gutachten erstellt worden. Deshalb habe ich dezi- 23700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Britta Haßelmann (A) diert nach § 42 Nr. 1 SGB XII gefragt, der nämlich die Geld, das die Kommunen dringend brauchen, Geld, das (C) Anwendung des § 29 SGB XII verhindert. Dazu hat sich für Projekte bereitsteht und den Städtern entsprechende der Bundesrat schon eingelassen; er hat schon eine Idee finanzielle Spielräume verschafft, Geld, das bei den gehabt. Deshalb ist meine Frage an die Koalition, insbe- Kommunen dringlichst gebraucht wird. Man kann es gar sondere an die Abgeordneten von der CSU, die die Pro- nicht oft genug sagen: Damit helfen wir den Kommunen; blematik in München besonders gut kennen, ob Sie sich wenn Sie zustimmen, zugegebenermaßen mit Unterstüt- darauf einlassen werden, dass wir im Gesetzgebungsver- zung der Opposition, das wäre natürlich am besten. fahren versuchen, die Regelung nach § 29 SGB XII zu Meine Damen und Herren, gerade weil in der Öffent- halten, damit Länder wie Bayern und Städte wie Mün- lichkeit oft die Meinung vorherrscht, infolge der Haus- chen diese Regelung weiter anwenden können. haltskonsolidierung im Bund würden immer mehr Las- ten auf Städte und Gemeinden abgewälzt, finde ich es Paul Lehrieder (CDU/CSU): ausgesprochen wichtig, das erhebliche finanzielle Enga- Liebe Frau Kollegin Haßelmann! Ich danke für diesen gement des Bundes im Zusammenhang mit der geplan- konstruktiven Beitrag. Natürlich kenne ich das Schrei- ten Neuregelung zu unterstreichen. Mit der Übernahme ben meiner bayerischen Sozialministerin aus München. der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Er- Wir sind in der ersten Lesung dieses Gesetzes. Wir wer- werbsunfähigkeit macht der Gesetzgeber deutlich, dass den in der von Ihnen gewünschten Intensität auf die die Absicherung gegen Altersarmut eine – liebe Frau §§ 29 und 42 SGB XII schauen und werden das im Inte- Kunert, Ihre Worte – gesamtgesellschaftliche Aufgabe resse der Betroffenen prüfen. Das dürfen Sie unserer darstellt und damit folgerichtig in den Verantwortungs- christlich-liberalen Koalition zutrauen. bereich des Bundes gehört. Kein Oberbürgermeister, Meine Damen und Herren, die unionsgeführte Bun- kein Kämmerer kann etwas dafür, dass in seiner Kom- desregierung zeigt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, mune Menschen wohnen, die mit ihrer Rente nicht aus- dass sie die weiterhin prekäre Finanzsituation vieler kommen. Deswegen müssen wir die gesamtgesellschaft- Städte und Gemeinden ernst nimmt – das will ich aus- liche Aufgabe übernehmen. Das tun wir jetzt. drücklich hervorheben – und an konstruktiven und nach- Wir sind froh, denn heute ist ein guter Tag für die haltigen Lösungen arbeitet. Die so erreichte Entlastung Kommunen und auch für die Betroffenen. Ich bitte Sie der Kommunen ist beachtlich: Bis zum Jahr 2020 ergibt um konstruktive Mitarbeit. Liebe Frau Haßelmann, erste sich durch die zusätzliche Bundesbeteiligung aus heuti- Ansätze dafür gibt es bei den Grünen schon; aber das gilt ger Sicht ein Finanztransfer von über 40 Milliarden auch für die anderen Oppositionsparteien. Euro. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. (B) Angesichts dieser Größenordnung kann ich der Oppo- (D) sition den Vergleich mit der rot-grünen Regelung von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – 2003 leider nicht ganz ersparen: Damals glaubte man of- Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE fenbar, der Bund könne seiner Verantwortung bei der GRÜNEN]: Das machen wir!) Vorsorge gegen Altersarmut mit 400 Millionen Euro jährlich gerecht werden. Liebe Kolleginnen und Kolle- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gen der SPD und der Grünen, das sind nicht einmal Ich schließe die Aussprache. 10 Prozent der Summe, die die Kommunen tatsächlich benötigen und um die wir sie jetzt entlasten. Wie mehrfach angekündigt, wird der Gesetzentwurf überwiesen. Er steht auf Drucksache 17/10748 und soll Berücksichtigt man noch, dass die Aufwendungen an die Ausschüsse, die Sie in der Tagesordnung finden, aufgrund des demografischen Wandels mittel- und lang- überwiesen werden. – Damit sind Sie offensichtlich ein- fristig steigen werden – die Zahlen wurden bereits ge- verstanden. Dann ist das so beschlossen. nannt; die benötigte Summe steigt auf über 5 Milliarden Euro pro Jahr –, dann wird deutlich: Es war höchste Zeit, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 44 auf: dass die christlich-liberale Koalition eine nachhaltige Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema Regelung vorlegt, Movassat, Eva Bulling-Schröter, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – tion DIE LINKE Bernd Scheelen [SPD]: Richtig überzeugt hat dein Argument nicht!) Teller statt Tank – EU-Importverbot für Kraft- und Brennstoffe aus Biomasse die anders als der Ansatz von Rot-Grün die Finanzlage der Kommunen nicht weiter verschärft. – Drucksache 17/10683 – Wer sich von der Sinnhaftigkeit des vorliegenden Ge- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und setzentwurfes überzeugen will, dem rate ich zu einem Entwicklung (f) Gespräch mit dem Stadtkämmerer oder Sozialreferenten Ausschuss für Wirtschaft und Technologie aus seinem Wahlkreis; für meine Stadt Würzburg bei- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und spielsweise ergeben sich für das laufende Jahr bereits Verbraucherschutz

Minderausgaben in Höhe von 3,5 Millionen Euro, für Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2013 in der Größenordnung von 5,8 Millionen Euro und Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe für 2014 in Höhe von immerhin 7,8 Millionen Euro; Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23701

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie- den Agrotreibstoff E 10 ist mit schuld daran. Agrokraft- (C) ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann stoffe schaffen also Hunger. Angesichts 1 Milliarde ist das so beschlossen. Hungernder muss aber das Menschenrecht auf Nahrung absoluten Vorrang genießen. Deshalb fordern wir ein so- Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen fortiges EU-Importverbot für Agrarrohstoffe zur Ener- Niema Movassat für die Fraktion Die Linke das Wort. giegewinnung. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)

Niema Movassat (DIE LINKE): Wer übrigens denkt, Agrokraftstoffe der heutigen Ge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Tau- neration senkten den CO2-Ausstoß, der irrt. In Indone- sende Menschen auf der Welt sterben jeden Tag, weil sie sien und Brasilien werden Tausende Hektar Regenwald nicht genug zu essen haben. Gleichzeitig werden mas- gerodet, um Energiepflanzen anzubauen. Das lässt CO2- senweise Nahrungsmittel verbrannt. „Irrsinnig“, wird Werte ansteigen und ist deshalb umweltpolitisch Wahn- man sagen, aber genau das passiert tagtäglich: Nah- sinn. Da helfen auch keine Zertifikate über nachhaltigen rungsmittel werden in großem Stil in Form von soge- Anbau von Energiepflanzen. Das Beispiel Brasilien ver- nanntem Biosprit – in Deutschland unter anderem E 10 – deutlicht dies. Dort drängt der Anbau von Zuckerrohr in unsere Autotanks gefüllt. Wir als Linke sagen in unse- und Soja zur Energiegewinnung die Weideflächen für rem heutigen Antrag: Mais, Getreide, Zucker gehören das Vieh immer tiefer in die Urwälder ab. Kleinbauern nicht in den Tank, sondern auf den Tisch. werden vertrieben. Diese indirekte Vertreibung lässt sich mit keinem Zertifizierungssystem verhindern. (Beifall bei der LINKEN) Wenn wir unseren CO2-Ausstoß wirklich senken wol- Der Begriff Biosprit, der uns ständig verkauft wird, len, müssen wir zum Beispiel strikte CO2-Grenzwerte ist übrigens ein Etikettenschwindel. Mit „Bio“ hat das für Neuwagen festlegen. Die Bundesregierung aber gar nichts zu tun. Besser passt das Wort „Agrokraft- spielt den Handlanger der Autolobby, die keine Ver- stoffe“. Die EU und die Bundesregierung setzen im Rah- schärfung will. Beenden Sie Ihre Blockadehaltung in der men des Ausbaus erneuerbarer Energien auf Agrokraft- EU endlich und setzen Sie sich für eine Senkung der stoffe. Deshalb haben sie verbindliche Quoten CO2-Autogrenzwerte ein! Das wäre ein echter Beitrag festgelegt, wie viele Agrokraftstoffe dem Markt beige- im Kampf gegen den Klimawandel. mischt werden sollen. Es gibt aber gar nicht genug An- bauflächen in Europa, um unseren Agrospritbedarf zu (Beifall bei der LINKEN) decken. Also importieren wir Pflanzen aus Brasilien, In- Trotz all der genannten Kritikpunkte am Agrosprit (B) donesien und vielen anderen Ländern. Bis zu 50 Prozent will die EU-Kommission die Beimischung von Bioetha- (D) der Rohstoffe für den Agrokraftstoffbedarf kommen aus nol weiter drastisch anheben. Die Linke hat heute als Drittstaaten, Staaten, in denen häufig Armut und Hunger erste Fraktion einen Antrag vorgelegt, diesen Irrsinn zu herrschen. Genau da liegt das Problem. beenden. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung, damit wir (Beifall bei der LINKEN) das Getreide nicht mehr im Tank verbrennen, sondern die Bäcker damit das Brot für die Welt backen. Es kann nämlich passieren, dass, während in einem Dorf Menschen hungern, auf einem Feld nebenan Danke. gleichzeitig Mais für die europäische Beimischquote (Beifall bei der LINKEN) wächst. Das ist menschenverachtend. In Sierra Leone und vielen anderen Ländern zwingt unsere Agrokraft- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: stoffpolitik Kleinbäuerinnen dazu, ihr Land an global agierende Agrarunternehmen abzugeben. Agrarkonzerne Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege eignen sich immer größere Landflächen an und degra- Helmut Heiderich. dieren Kleinbäuerinnen und -bauern zu mies bezahlten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Saisonarbeitskräften auf ihrem ehemals eigenen Land. Was da geschieht, ist Landraub, und das muss gestoppt Helmut Heiderich (CDU/CSU): werden. Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Jahre- (Beifall bei der LINKEN) lang war es ruhig um das Thema Biosprit. Jetzt steht es plötzlich wieder auf der Tagesordnung, und so ist es Für die Produktion von 50 Liter Bioethanol, das wir auch kein Wunder, dass es dazu einen Antrag der Linken für E 10 brauchen, sind 232 Kilo Mais nötig. Davon gibt. kann sich ein Mensch ein Jahr lang ernähren. Und es wird verheizt in einer einzigen Tankfüllung. Die stei- (Niema Movassat [DIE LINKE]: Gut, nicht?) gende Nachfrage nach Agrokraft stoffen treibt zudem die Die Zuspitzung auf „Teller statt Tank“ ist natürlich Preise für Grundnahrungsmittel wie Mais, Soja und sehr geeignet, sofort öffentliche Entrüstung hervorzuru- Speiseöl immer weiter in die Höhe. Nahrungsmittel sind fen, und der Kollege hat eben auch alles getan, um dies heute schon so teuer wie nie in der Geschichte der noch weiter zuzuspitzen. Menschheit. Immer mehr Menschen in den armen und ärmsten Ländern der Welt können sich Lebensmittel (Zuruf von der LINKEN: Das ist schließlich schlichtweg nicht mehr leisten. Die Beimischquote für wahr!) 23702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Helmut Heiderich (A) Nur, dieser Antrag ist zwar sehr umfangreich, aber in Suche nach Nahrung. Das – nicht die vorgeführte Dis- (C) sich selbst widersprüchlich. Ihre Überschrift ist schlicht kussion um Biosprit – ist das wahre Problem. Denn das eine Mogelpackung. zeigt doch: Hunger gab es vor Biosprit, Hunger gibt es zu Zeiten Biosprits, und Hunger wird es leider – das be- (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Na, na, na!) fürchte ich – auch nach Biosprit geben. – Ja, ich erläutere es Ihnen gerade. – Schauen Sie sich (Niema Movassat [DIE LINKE]: Natürlich, einmal Punkt 8 Ihres Antrags an. Dort formulieren Sie, das ist nicht die einzige Ursache!) die in Deutschland zur Verfügung stehenden Flächen sollen zur Einspeisung von Biogas ins Erdgasnetz geför- Warum ist es so? Weil wir in den letzten 15 Jahren die dert werden. Förderung der Agrarpolitik und der Landwirtschaft in diesen Ländern finanziell auf die Hälfte zurückgefahren Das heißt, Sie selber wollen nicht, dass die Agrarflä- haben. Damit sich die Sozialdemokraten auch erinnern chen für den Anbau von Lebensmitteln, sondern für An- können: Unter Wieczorek-Zeul ist dieser Bereich aus bau von Energiepflanzen – und damit Biogas – genutzt dem Budget des Bundes fast völlig herausgestrichen werden sollen. worden. – Das sind die Realitäten, vor denen wir stehen. (Niema Movassat [DIE LINKE]: Es geht um (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Importe! Das haben Sie falsch gelesen!) Meine Kolleginnen und Kollegen, trotz G-8-Be- Das heißt, Ihr Antrag müsste nicht „Teller statt Tank“, schluss in L’Aquilla 2009, wo man sich verpflichtet sondern in Wahrheit „Biogas statt Biosprit“ heißen, hatte, 22 Milliarden Dollar für die Förderung der Ernäh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rungssicherung weltweit bereitzustellen, sind wir immer noch kaum weiter. Deutschland hat seinen Part geleistet, aber dem werden wir so nicht zustimmen können. nämlich 2,1 Milliarden Dollar gezahlt. Aber von den an- (Niema Movassat [DIE LINKE]: Schauen Sie deren Zusagen sind bisher erst knapp 50 Prozent einge- sich die Überschrift an! Das ist etwas ande- löst worden. Auch da liegen wir weit hinter dem Ziel zu- res!) rück. Meine sehr verehrten Kollegen, zunächst einmal die Eine andere Frage möchte ich noch kurz ansprechen: Frage: Wie sind wir eigentlich in die heutige Situation Wozu brauchen wir überhaupt Biosprit? Das Argument gekommen? Dazu möchte ich Ihnen gerne zwei Zitate dafür heißt CO2-Minderung. Aber auch hier muss man vorlesen. Im Jahre 2005 sagte der damalige Bundes- genau hinschauen. Bei der Verwendung von Ethanol aus minister für Umwelt auf dem Internationalen Fachkon- Zuckerrohr und Zuckerrüben kann man eine CO2-Min- (B) gress für Biokraftstoffe wörtlich: derung eindeutig nachweisen, und auf diesem Feld sind (D) wir auch wesentlich vorangekommen. Der Acker wird zum Bohrloch des 21. Jahrhun- derts, der Landwirt wird zum Energiewirt. Sie sprachen gerade von Brasilien. Ich habe jetzt nicht die Zeit, um ins Detail zu gehen. Dort gibt es sehr posi- Seine Kollegin aus dem Agrarministerium hat wörtlich tive Entwicklungen. Schauen Sie sich einmal an, wie ein ergänzt: Land wie Schweden seine CO2-Neutralität erreichen Wir wollen Landwirten den Weg für den Einsatz will. Es hat massiv Importverträge mit Brasilien ge- von Biokraftstoffen ebnen und deren Markteinfüh- schlossen, um Ethanol aus Brasilien nach Schweden zu rung beschleunigen. transportieren. Auf diese Weise will Schweden seine CO2-Neutralität erreichen. Sie sehen: Die Welt ist eine Heute wollen diese beiden Spitzengrünen bei ihrer andere als die, die Sie eben dargestellt haben. Kandidatentour durchs Land nichts mehr davon wissen. Heute heißt es bei Frau Künast – wörtlich –: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- ruf von der LINKEN: Und wovon leben dann Wir waren immer gegen E 10. die Brasilianer, wenn sie alles exportieren?) (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Etwas anderes – das sage ich auch – ist die Situation Ja, das ist auch richtig so!) in den USA, wo heute 40 Prozent der Maisernte in die Und Herr Trittin möchte jetzt gerne Blumen statt Mais. Ethanolfabriken verbracht werden. Dorthin wird der Mais allerdings nicht wegen der CO -Minderung ge- Meine sehr verehrten Damen und Herren, so viel zu den 2 Spitzenkandidaten der Grünen zum Thema Biosprit. bracht, sondern weil man einmal unter George Bush be- schlossen hat, von Ölzulieferungen autark zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich glaube, dahin hätten Sie Ihren Antrag orientieren sol- neten der FDP) len. Man kann durchaus darüber nachdenken, ob diese Entwicklung sinnvoll ist. Da müssten unsere Außenpoli- Damit es auch ganz klar ist: Für uns geht Nahrung tiker vielleicht einmal vorstellig werden, um das Thema eindeutig vor. Ich sage ganz deutlich: Es ist für uns, für zu diskutieren. mich ein Armutszeugnis für die Industriegesellschaften und für die gesamte Entwicklungspolitik, dass wir dem Nur sage ich auch: Präsident Obama hat gerade in Millenniumsziel 2000, nämlich die Bekämpfung des diesem Sommer wieder eine halbe Milliarde Dollar För- Hungers, bis heute keinen Schritt nähergekommen sind. dermittel zusätzlich in diesen Bereich hineingegeben. Noch immer ist 1 Milliarde Menschen pro Tag auf der Also, auch dort haben wir eine völlig andere Situation. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23703

Helmut Heiderich (A) Man muss schon genauer hinschauen und darf nicht so der letzten Legislaturperiode, schon vor drei, vier Jahren (C) platt darüber hinweggehen. – meine Kollegin Gabi Groneberg hat das damals mit mir veranstaltet – mit Umweltverbänden und entwick- Meine Kolleginnen und Kollegen, was wir brauchen, lungspolitischen NGOs zusammengesetzt haben und ist vor allen Dingen eine Verbesserung der Agrarpolitik sehr früh gesagt haben, der Anbau von Biokraftstoffen in den Entwicklungsländern. Wir müssen mit unserem bietet Chancen, birgt aber auch Risiken. Deswegen ha- Einsatz dafür sorgen, dass dort Kleinbauern zu Kleinun- ben wir immer gesagt, er darf auf keinen Fall zulasten ternehmern werden können. Wir müssen dafür sorgen, der Ernährungssicherheit gehen und er darf auch nicht zu dass sich die Smallholders, die Kleinfarmer, aus eigener ökologischen Schäden führen, sprich zur Verdrängung Kraft ernähren können. Das ist die wesentliche Aufgabe, von Regenwäldern. und darüber müssen wir hier diskutieren. Darin sind wir uns nach wie vor einig. Deswegen leh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen wir eine feste Quote wie bei E 10 ab, weil auch wir Unsere Koalition – das lassen Sie mich am Ende sa- mit großer Sorge beobachten, dass der Beimischungs- gen – hat dazu in dieser Legislaturperiode eine Menge an zwang die Probleme nochmals verschärft, wenn auf- Fortschritten gemacht. Wir haben im Ministerium einen grund von Dürren oder anderer Einflüsse ohnehin eine neuen Schwerpunkt Agrarpolitik gebildet. Wir haben Nahrungsmittelknappheit besteht. eine neue Taskforce Agrarpolitik eingerichtet. Wir haben Was wir aber nicht fordern, ist ein genereller Stopp die Zusammenarbeit der beteiligten Ministerien vor Ort des Anbaus von Biokraftstoffen oder für alle Zeiten ein deutlich verbessert. Importverbot, egal wie die Rahmenbedingungen sind, Wir haben in diesem Sommer eine neue Initiative ge- weil der Anbau von Biokraftstoffen, wenn er gut ge- gründet, die DIAE heißt, Deutsche Initiative für Agrar- macht ist, sowohl dem Klimaschutz als auch den Ent- wirtschaft und Ernährung. Ich durfte in der letzten Wo- wicklungsländern und damit der Ernährungssicherheit che vor Ort in Kenia sein. Ich muss sagen, diese dienen kann. Denn es gibt nun einmal Flächen, auch in Initiative ist bereits voll wirksam. Es wird schon Ende Afrika, die degeneriert sind, auf denen niemand investie- Oktober eine große Konferenz in Sambia unter der ren würde, um Getreide anzubauen, weil das dort nicht neuen Überschrift German-African Food Initiative ge- funktioniert. Wenn auf diesen Flächen Energiepflanzen ben. Dort sitzen die Bundesregierung, die privaten Un- angebaut und – das ist natürlich eine ganz wichtige Vo- ternehmen aus Deutschland und die beteiligten Organi- raussetzung – die Erlöse daraus zum Beispiel für die öf- sationen aus Afrika an einem Tisch. Wir sind damit am fentliche Daseinsvorsorge, für den Aufbau sozialer Si- Start in eine gute Zukunft. So müssen wir die Zukunft cherungssysteme verwendet würden, kann das natürlich auch eine Chance sein. Ich nenne einmal das Beispiel (B) gestalten. Wir sollten nicht das Thema, das Sie vorge- (D) bracht haben, scheinheilig diskutieren. Das hilft uns Brasilien: Auf dem brasilianischen Markt setzte der Bio- nicht weiter. Das lenkt nur von dem eigentlichen Thema masseanbau in der Vergangenheit durchaus positive Im- ab. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. pulse: 60 bis 70 Prozent der Autoflotte Brasiliens fährt mit Bioethanol. Dies bot gleichzeitig Einkommenschan- Schönen Dank. cen für die dortigen Bauern. Deswegen darf man das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nicht schwarz-weiß sehen. Niema Movassat [DIE LINKE]: Dann ist Herr Der Kollege Heiderich hat eine Aussage von Herrn Niebel auch scheinheilig! Herr Niebel hat die aus der Zeit zitiert, als er Umweltminis- Aussetzung gefordert!) ter war. Natürlich war die Aussage richtig. In einer – Das müssen Sie mit Herrn Niebel klären, nicht mit mir. Phase, in der die EU Agrarüberschüsse produzierte, in der wir mit unseren Dumpingexporten die Märkte in den Entwicklungsländern gestört haben, in der wir Butter- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: berge hatten etc., war es vernünftig, zu sagen: Anstatt Das Wort hat der Kollege Sascha Raabe für die SPD- weiter Flächen stillzulegen, bauen wir auf diesen Flä- Fraktion. chen Energiepflanzen an, um unsere Klimaschutzziele (Beifall bei der SPD) zu erreichen. Hier sehe ich keinen Widerspruch. Man muss sich aber jetzt fragen, wie man verhindern Dr. Sascha Raabe (SPD): kann, dass in den Entwicklungsländern, in denen der Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Hauptanteil der zukünftigen Biokraftstoffe produziert und Kollegen! Ich glaube, wir müssen über das Thema werden wird, eine Konkurrenz zur Ernährungssicherheit des Anbaus von Biokraftstoffen und dessen Auswirkun- und zu ökologischen Parametern entsteht. Mit vielem, gen auf Umwelt und Ernährungssicherheit sehr differen- was im Antrag der Linken steht, sind wir einer Meinung. ziert reden. Das fällt heute manchmal schwer, weil man, Wir teilen aber nicht die pauschale Äußerung: Import- wenn man manchen Schlagzeilen glauben könnte, den verbot und alle Biokraftstoffe sind schlecht. Eindruck gewinnt, wenn wir E 10 stoppen würden, wäre Ich komme zu dem zurück, was ich am Anfang gesagt der Hunger auf der Welt vorbei. Das ist leider nicht so. Wenn es so einfach wäre, würden wir uns alle freuen. habe. Es ist mir wichtig, in einer solchen Debatte darauf hinzuweisen, dass es nicht nur einen Faktor gibt, warum Ich sage aber auch gleich zu Anfang, dass wir als So- die Menschen zurzeit hungern und die Nahrungsmittel- zialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns schon in preise hoch sind. Da ist zum Beispiel auch das Thema 23704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Dr. Sascha Raabe (A) Nahrungsmittelspekulation zu nennen. Diese trägt auch sern und schaffen damit unseren Landwirten eine zusätz- (C) dazu bei, dass die Preise für Nahrungsmittel steigen. Von liche Einnahmequelle. Minister Niebel hätte ich mir gewünscht, dass er auch dazu einige Worte sagt, statt immer nur zu sagen, E-10- Was jedoch so positiv klingt, hat eine enorme Schat- Kraftstoff muss verschwinden. Alle Anträge von uns tenseite. Ob wir durch die Nutzung von Biokraftstoffen zum Thema Nahrungsmittelspekulation, in denen wir unsere Ökobilanz tatsächlich verbessern, ist umstritten. versucht haben, dieses Problem zu regulieren, hat er ab- Neueste Studien sprechen sogar davon, dass Biokraft- gelehnt. An dieser Stelle erwarten wir vom Minister stoffe dem Klima und der Umwelt mehr schaden als nut- mehr, als er bisher getan hat. zen. Zudem lässt die steigende Nachfrage nach Agrar- rohstoffen die Nahrungsmittelpreise weltweit steigen. (Beifall bei der SPD) Die Konkurrenz um landwirtschaftliche Flächen wird größer. In einigen Regionen ist sie sogar existenzbedro- Abschließend möchte ich nur sagen – ich kann das in hend. den paar Minuten meiner Redezeit nicht weiter ausfüh- ren –: Das Thema ist zu komplex, um es auf die Alterna- Die Nahrungsmittelpreise haben sich durch die dies- tive „Tank oder Teller“ zu reduzieren. Herr Movassat, jährige Dürre dramatisch entwickelt und werden Exper- ich weiß nicht, wie Sie sich ernähren. Sie sollten sich tenaussagen zufolge weiter steigen. Die Vorräte an Ge- einmal überlegen, ob das Thema nicht auch heißen treide sind laut Weltgetreiderat in den vergangenen könnte: Teller oder Trog. Der größte Anteil des Sojage- Jahren stark geschrumpft: von 175 Millionen Tonnen im treides und des Maises geht ja als Futtermittel in die Jahr 2010 auf aktuell nur noch etwa 100 Millionen Ton- Fleischproduktion. Wir sollten uns alle an die eigene nen. Weltweit aber werden inzwischen 150 Millionen Nase fassen und weniger Fleisch essen. Die Fleischpro- Tonnen Getreide zur Produktion von Ethanol genutzt. duktion hat einen viel größeren Einfluss auf die Zerstö- Ohne die Ethanolerzeugung wären also die Getreidela- rung der Regenwälder in Brasilien, – ger gut gefüllt. Derzeit hungert weltweit über 1 Milliarde Menschen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dass wir als Nettoimporteure von Weizen auf wertvollen Herr Kollege. Ackerflächen Pflanzen anbauen, aus denen Biosprit oder Biogas hergestellt wird, ist schwerlich vertretbar, noch Dr. Sascha Raabe (SPD): ist es nachhaltig. – weil dort der Großteil des angebauten Sojas in die Fleischindustrie und in Indonesien leider immer noch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der größte Teil der Palmölproduktion in die Kosmetik- der CDU/CSU und der LINKEN) (B) industrie geht. Wir müssen also auch andere Dinge be- Die Ernährung der Menschen steht für uns Liberale im- (D) denken. mer noch an erster Stelle. Ich bin daher dem Minister Niebel sehr dankbar, dass er die Diskussion zu diesem Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Thema angestoßen und auf europäischer Ebene dazu bei- Herr Kollege. getragen hat, dass ein Umdenkungsprozess stattfindet. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dr. Sascha Raabe (SPD): Verdrehte Tatsachen!) Ich bin mit meiner Redezeit am Ende. Aber lassen Sie uns bitte alles bedenken und in allen Bereichen gemein- Die Europäische Kommission reduziert die vorge- sam vorgehen. schriebene Menge an klassischem Biokraftstoff bei Fahrzeugen in einem hohen Maße und erhöht zusätzlich Danke schön. die Anforderungen an den Anbau von Biomasse. Doch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir müssen noch weitergehen und intelligentere Lösun- der CDU/CSU) gen finden. Langfristig wird Bioenergie nur eine Chance haben, wenn sie nicht auf den Agrarrohstoffen basiert, die in Konkurrenz zu Nahrungsmitteln von Menschen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und Tieren stehen. Derartige Abfallprodukte von Agrar- Die Kollegin Christiane Ratjen-Damerau hat das Wort rohstoffen, auch als Biokraftstoffe der zweiten Genera- für die FDP-Fraktion. tion bezeichnet, werden bislang erst in Pilotanlagen zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ethanol verarbeitet. Bis zu ihrem flächendeckenden Ein- satz werden noch Zeit und weitere Forschungen nötig sein. Dies wollen wir von unserer Seite unterstützen. Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Bis dahin müssen wir gemeinsam mit der Europäi- Der Anbau von Energiepflanzen stellt in Entwicklungs- sche Union – denn dieses Thema ist national nicht lös- ländern eine Chance für die dortige Bevölkerung dar. In bar – umdenken. Wir brauchen zeitgemäße und globale ländlichen Räumen, die lange ungenutzt und bisher ver- Umdenkungsprozesse, bei denen die Subventionspolitik nachlässigt waren, wird investiert. Das verschafft der lo- und die Beimischungsquoten diskutiert werden. Brasi- kalen Bevölkerung Einkommen und gibt wirtschaftliche lien könnte hier ein Vorbild sein. Dort wird Ethanol aus Impulse. Wir in der westlichen Welt können durch die Zucker nur hergestellt, wenn dieser im Überfluss vor- Nutzung von Biokraftstoffen unsere Ökobilanz verbes- handen ist, quasi als Reste- bzw. Überschussverwertung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23705

Dr. Christiane Ratjen-Damerau (A) Die Politik ist auch gefordert, den betroffenen Land- Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): (C) wirten und Unternehmen bei ihren Entscheidungen Pla- Selbstverständlich habe ich die Studie gelesen. Auch nungssicherheit zu gewähren. Das bedeutet für uns als wenn Sie sagen, es werde noch – ich weiß nicht mehr verantwortungsvolle Politiker, dass wir Entscheidungen genau, von wie vielen Jahren Sie gesprochen haben – nicht kurzfristig über Bord schmeißen. Wir müssen den 10 oder 20 Jahre dauern, bis die Agrokraftstoffe markt- Menschen die Möglichkeiten und die Zeit für Neuorien- tauglich sind, ist das kein Argument, sich nicht für neue tierungen geben; diese Zeit sollten auch wir nutzen, um Technologien einzusetzen und neue Entwicklungen vo- unsere Beschlüsse auf ihre Auswirkungen hin genau zu ranzutreiben. analysieren. Es war in unserem Leben immer so, dass wir Dinge (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) neu überdenken mussten, und deshalb müssen wir neue Dies ist auch der Grund, warum wir als FDP den Antrag Entwicklungen vorantreiben. Das machen wir auch in der Linken ablehnen. Die von Ihnen geforderten politi- diesem Fall. schen Maßnahmen helfen weder Deutschland noch Eu- ropa noch den Entwicklungsländern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir benötigen in Deutschland und Europa eine inno- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: vative Kehrtwende in der Bioenergie. Die neuen Techno- logien bedeuten für uns und insbesondere für die Ent- Der Kollege Thilo Hoppe hat jetzt das Wort für Bünd- wicklungsländer neue Chancen, die wir gemeinsam nutzen nis 90/Die Grünen. wollen. Die anfänglich erwähnten 150 Millionen Tonnen Getreide, die vermisst werden, stehen dann wieder zur Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verfügung. Dies ist ein großer Beitrag zur Bekämpfung des Hungers weltweit und eine ethische Verpflichtung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gegenüber der Welt. Was haben und die Linke gemeinsam? Sie neigen bei komplexen Themen – zumindest manchmal – Vielen herzlichen Dank. zu sehr einfachen Antworten, die der Herausforderung nicht gerecht werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: So ist es auch bei der Konkurrenz zwischen Tank und Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Teller, die es durchaus gibt, die sich aber nicht einfach (B) (D) Kollegen Movassat. durch ein Verbot von Agrotreibstoffen lösen lässt.

Niema Movassat (DIE LINKE): Ich will hier aber auch gleich zu Beginn meiner Rede Frau Kollegin Ratjen-Damerau, ich stelle fest: In der selbstkritisch in Bezug auf uns Grüne sein. Es mag sein, Analyse haben wir viele gemeinsame Punkte, anders als dass wir in der Vergangenheit die Chancen der Agro- Sie anscheinend mit Ihrem Koalitionspartner. Offen- treibstoffe überschätzt und die Risiken und Nebenwir- sichtlich müssen Sie sich in der Koalition erst einmal in kungen unterschätzt haben. Denn vieles von dem, was in der Frage der Analyse verständigen. dem Antrag der Linken an negativen Folgen aufgelistet wird, entspricht durchaus der Wahrheit. Es ist alarmie- Am Ende Ihrer Rede haben Sie dann aber etwas ge- rend, dass gerade bei den Großinvestitionen in Land sagt, das ich verwirrend fand. Sie haben gesagt: Wir – man kann in diesem Zusammenhang auch von Land müssen die neuen Technologien fortentwickeln. Da Grabbing sprechen – der Anbau von Energiepflanzen stimme ich Ihnen völlig zu. Aber möglicherweise haben eine sehr große Rolle spielt. 40 bis 70 Prozent dieser Sie auch die aktuelle Studie, die von Shell in Auftrag ge- Land-Grabbing-Flächen werden für die Produktion von geben worden ist, gelesen bzw. das Wichtigste aus der Agrosprit genutzt; diese Flächen gehen also für den An- Presse entnommen. Laut dieser Studie sind noch Investi- bau von Grundnahrungsmitteln verloren. tionen in Milliardenhöhe nötig. Das heißt, der Weg, bis diese zweite Generation von Agrokraftstoffen wirklich Wenn ich jetzt eine andere Relation aufzeige, dann markttauglich ist, ist noch sehr lang. Das kann noch eine keineswegs, um die Konkurrenz zwischen Tank und Tel- ganze Weile dauern, vielleicht 10 bis 15 Jahre. ler zu bagatellisieren, wohl aber, um eine andere, sehr viel größere Herausforderung in den Blick zu nehmen. Da stellt sich die Frage: Was machen wir bis dahin? Auch wenn die Tendenz steigend ist, so liegt der Anteil Wollen wir weiter zusehen, wie Menschen hungern müs- der Energiepflanzen auf den genutzten Agrarflächen sen, während wir das Bioethanol in unsere Tanks füllen? weltweit zurzeit bei etwa 3 bis 4 Prozent. Das Zehn- Was ist Ihre Lösung konkret zu diesem Problem? Hierzu fache, mehr als 30 Prozent, wird für den Anbau von Fut- hätte ich gerne eine Antwort. termitteln, überwiegend für die Fleischproduktion, auch bei uns in Europa, genutzt. Die immer stärker werdende (Beifall bei der LINKEN) Nachfrage nach Fleisch in Schwellenländern wie China verstärkt den Druck auf die Anbauflächen in Entwick- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: lungsländern – auch in solchen, in denen Hunger Zur Antwort, bitte schön. herrscht. 23706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Thilo Hoppe (A) Ja, es gibt eine besorgniserregende Konkurrenz zwi- gesetzt? Das führt dann zwangsläufig zum Prinzip des (C) schen Tank und Teller, aber noch eine viel größere zwi- selektiven Marktzugangs. Ich weiß, das ist umstritten, schen Tank und Trog. und wir sind von einer Umsetzung noch weit entfernt, aber wenn man tatsächlich das Prinzip „Food First“ ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN folgen will, dann führt daran kein Weg vorbei. „Food sowie bei Abgeordneten der SPD) First“, also Ernährung zuerst: Demzufolge müssen wir Wenn man der Logik der Einfuhr- oder Verkaufsverbote über andere Handelszugänge debattieren und entschei- folgen würde: Vor diesem Hintergrund frage ich Herrn den. Niebel oder auch die Linken, ob sie auch für ein Import- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verbot für Futtermittel oder für ein Verkaufsverbot von sowie des Abg. Alexander Süßmair [DIE Fleisch aus Massentierhaltung stehen. LINKE]) (Niema Movassat [DIE LINKE]: Das ist doch Dazu wird unsere Fraktion umfangreiche Vorschläge auf etwas völlig anderes!) den Tisch legen. Ein einfaches Verbot wird der bestehen- den Herausforderung nicht gerecht. Ich will nicht in Abrede stellen, dass E 10 auf den Prüfstand gehört. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Kommen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie! Sie haben es vorbereitet!) Norbert Schindler hat das Wort für die CDU/CSU- – Herr Heiderich, diese Bundesregierung hat die Einfüh- Fraktion. rung von E 10 beschlossen, diese schwarz-gelbe Koali- (Beifall bei der CDU/CSU) tion. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Ja, ja!) Norbert Schindler (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf den Tribünen! Wir haben andere Wege bevorzugt. Wir waren für die Meine Damen und Herren im Plenarsaal! Ich bin ange- Nutzung von reinen Pflanzenölen, aber nicht für die Bei- nehm überrascht, dass relativ viele die Debatte zu die- mischungsquoten, durch die zum Beispiel die heimi- sem Thema mitverfolgen, obwohl wir alle wichtige Ter- schen Ölmühlen aus dem Geschäft gejagt wurden. Es mine haben und es eilig haben, nach Hause zu kommen. handelte sich um andere Konzepte. Doch aus der Per- spektive der Vertriebenen, der Kleinbauern, der Hun- Der Antrag der Linken provoziert natürlich. gernden und der Viehhirten betrachtet, ist es egal, ob auf (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Deshalb (B) dem Land, dass sie verloren haben, jetzt Soja für Futter- sind Sie doch da!) (D) mittel oder Energiepflanzen für Agrosprit oder Schnitt- blumen angebaut werden. – Ja, ihr seid ja immer gegen alles. Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige von Ihnen er- ( [DIE LINKE]: Wir sind für innern sich noch an die große Anhörung aus der letzten Mindestlohn! Wir sind gegen Dummheit!) Wahlperiode, die wir zum Thema Agrotreibstoffe und Und den Grünen rufe ich zu: Die Biokraftstoffquote Hunger mit vielen Sachverständigen veranstaltet haben. wurde beschlossen. Und für Sie, Herr Kollege Raabe, Drei Ausschüsse waren beteiligt – das war ein Mammut- Lob und Anerkennung. Es war die Automobilwirtschaft unternehmen –: Agrarausschuss, Umweltausschuss und Deutschlands, die Probleme hatte, beim CO2-Ausstoß in Entwicklungsausschuss. Ein Kollege von der CSU – ich der Premiumklasse auf unter 130 Gramm pro Kilometer sehe ihn gerade nicht – hat zum Schluss das Ergebnis zu kommen. Darum ging es bei der Bilanz 2008, zur Zeit sehr schön zusammengefasst. Er hat gesagt: Eigentlich von Bundesumweltminister Gabriel. Die Automobilin- brauchen wir für alle Agrarimporte aus Entwicklungs- dustrie hat gedrückt wie die Bulldozer, und die Politik ländern strenge Nachhaltigkeits- und Menschenrechts- hatte die Sache dann alleine nach Hause zu fahren. Des- kriterien. wegen wurde die Quote für E 10 früher erhöht, als die europäischen Ziele es vorsahen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Alexander Im letzten Winter bzw. Frühjahr kam es dann zur Um- Süßmair [DIE LINKE] – Alexander Süßmair stellung von E 5, das wir alle selbstverständlich tanken, [DIE LINKE]: Ja! Da hat er recht!) auf E 10. Die Debatte kennen wir. Alle Dieselfahrer tan- ken E 7. Keiner hat sich darüber aufgeregt. Dann wurde – Ja. – Die Zertifizierung einzelner Plantagen reicht dieses Thema im Sommerloch unnötigerweise besetzt. nicht aus, weil dadurch die Ausweicheffekte, die indi- rekten Landnutzungskonkurrenzen auf anderen Gebieten (Beifall des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/ nicht abgedeckt sind. DIE GRÜNEN] – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: So ist es!) Wir brauchen also strenge Nachhaltigkeits- und Men- Die vermeldeten Fakten stimmen aber nicht. Tatsache schenrechtskriterien, die die Gesamtpolitik eines Landes ist, dass wir mit dem System REDcert alle Nachhaltig- unter die Lupe nehmen, die der Frage nachgehen: keitskriterien der EU hinsichtlich Biokraftstoffquote er- Kommt es zum Verlust von wertvollen Regenwäldern? füllen. Das ist belegt. Gehen wichtige Flächen für den Anbau von Grundnah- rungsmitteln verloren? Wird das Recht auf Nahrung um- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23707

Norbert Schindler (A) Wir sind damals bei der Debatte davon ausgegangen, ropäischen Kommission in den nächsten drei, vier Wo- (C) dass stillgelegte Flächen zur Energieproduktion genutzt chen beschlossen werden soll, zu akzeptieren. werden sollten. 8 bis 10 Prozent der Flächen in der Euro- Das Thema Zuckerrohr aus Brasilien – auf die Ein- päischen Gemeinschaft waren stillgelegt. Deshalb war es führungsquote hat Kollege Helmut Heiderich hingewie- logisch und richtig, dieses Potenzial zu nutzen. Natürlich sen – bietet Potenziale. Das gilt auch für die Zuckerrü- bleibt Nahrungsmittelerzeugung, worauf über 90 Pro- benproduktion in Deutschland. Wenn wir in Europa zent des Getreideanbaus sowohl in Deutschland als auch diese Potenziale nicht nutzen, dann werden China, In- in Europa entfallen, das oberste Ziel. dien und die anderen Schwellenstaaten den Produzenten Grundsätzlich ist aber festzuhalten – das sagt jeder, diese Erzeugnisse aus den Händen reißen. Dort fragt der sich auf dem Markt ein bisschen auskennt –: Ein gu- man nicht nach der Gutmenschenpolitik in Europa. ter Preis mobilisiert die Produktion. Dieses Jahr haben Die CO -Bilanz von Ethanol ist mehr als gut: mehr wir wieder Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse 2 als 50 Prozent Einsparung. Die CO2-Bilanz von Raps – Stimmungspreis ist immer das Getreide – wie vor liegt derzeit bei Verwendung in Mineralöl nur bei 35 bis 30 Jahren. Das Preisniveau von vor 30 Jahren haben wir 40 Prozent. In diesem Bereich kam es in den letzten drei, jetzt wieder erreicht – Gott sei Dank. Wenn der Preis vier Jahren aber zu Verbesserungen; bei den Biokraft- stimmt, animiert das jeden Landwirt weltweit. Wenn der stoffen der ersten Generation haben wir nicht nur bezo- Preis stimmt, dann produziert er. gen auf die industrielle Produktion, sondern auch bezo- Im Ausland erleben wir Land Grabbing. Staatssekre- gen auf den Vertrieb täglich Verbesserungen. Wir tär Peter Bleser war vor einem Jahr in Äthiopien, wo es müssen in der ganzen Debatte auch nüchtern sehen, was Land Grabbing gibt. Dort wird von Investoren Land in wir in den nächsten Jahren nur mit Kraftstoffen der ers- einer Größenordnung gekauft, die mindestens der Hälfte ten Generation bedienen können, weil die zweite noch der Fläche von Rheinland-Pfalz entspricht. Den Men- nicht reif ist. schen dort wird das Land unter der Hütte weggenom- men. Das sind Auswüchse, die aufgrund der Nachhaltig- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: keitskriterien in Europa absolut ausgeschlossen sind. Herr Kollege. Von daher ist aber darüber zu diskutieren, was in Zu- kunft importiert wird. Dabei geht es um die Frage, wie Norbert Schindler (CDU/CSU): wir weltweit auf vernünftige Weise zu den Einsparungen Vor diesem Hintergrund lobe ich die heutige Debatte. beim CO2-Ausstoß kommen, die wir unbedingt brau- Der Grundton dieser Debatte war sehr abwägend. Es gibt chen. Dabei geht es auch um Verpflichtungen der großen ja in der Tat viele Facetten, die zu beachten sind. (B) Mineralölkonzerne, die über die Einführung von E 10 (D) weiß Gott nicht glücklich waren. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es bringt nichts, mit den Kraftstoffen der zweiten Ge- Herr Kollege. neration abzulenken. Das berühmte Elektroauto war 2008/2009 noch in aller Munde; aktuell fördert Toyota Norbert Schindler (CDU/CSU): die Entwicklung dieses Elektroautos aber nicht mehr so Ich komme zum Schluss. – Die letzte Facette: In un- stark, weil der Entwicklungsprozess insgesamt noch seren Mittelgebirgsregionen, liebe Freunde, – 10 bis 20 Jahre dauert. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gehört Herr Niebel eigentlich der Regierung Herr Kollege. noch an?) Norbert Schindler (CDU/CSU): Zu den Nachhaltigkeitskriterien, die von der Europäi- schen Gemeinschaft jetzt bezüglich der Kraftstoffe der – wird Raps als Hackfrucht angebaut. Wenn sich die zweiten Generation vorgeschlagen werden – man sagt: EU durchsetzt, ist der Rapsanbau unter anderem in die- Ersatzstoffe bekommen die vierfache Berechnungs- sen Regionen Deutschlands tot. quote –: Da wird ein Trugschluss aus der Humusbilanz gezogen. Unsere Felder brauchen den Humus unbedingt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich kann nicht das ganze Stroh und alle Blätter abräumen Herr Kollege. und die Wurzelreste aus dem Wald räumen; denn das führt auf den Feldern und in den Wäldern zu einer Verar- Norbert Schindler (CDU/CSU): mung der Böden. Eine solche Verarmung hat in den letz- Wir haben mit Rapskuchen Ersatzfutterstoffe, – ten Jahrhunderten zu Hungersnöten geführt, weil die Bö- den nicht mehr fruchtbar waren. Die Wissenschaft, insbesondere die Chemie, hat unsere Böden wieder ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sund gemacht. Dabei halfen Düngemittelzusätze, aber Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit abgelaufen. auch Humus in Form von Mist. In dieser Debatte den Fokus nur auf Kraftstoffe der zweiten Generation zu len- Norbert Schindler (CDU/CSU): ken, ist nicht richtig. Das ist nicht im Sinne der Sache. – die viel Proteine und Eiweiß enthalten. Jeder Hektar Deswegen habe ich große Probleme, das, was in der Eu- hierfür ist eine Fläche für Biokraftstoff. 23708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Wo?) (C) Herr Kollege, Ihre Redezeit ist jetzt mehr als weit ab- Ich weiß durchaus, wovon ich da rede. Ich kenne das gelaufen. nämlich aus meiner Region. Die buchstäbliche Vermai- sung ganzer Regionen, Herr Kollege Holzenkamp, ist Norbert Schindler (CDU/CSU): ein nicht zu übersehender Hinweis darauf. Ich gebe an Bedenket alle diese Argumente. dieser Stelle auch zu: Offensichtlich greift die Nachhal- tigkeitsverordnung nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ebenfalls ist darüber nachzudenken, wie in Zukunft finanzielle Anreize zur Förderung von erneuerbaren Energien so gestaltet werden, dass wir nicht einen per- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: manenten Reparaturbetrieb für die negativen Auswir- Die Kollegin Gabriele Groneberg hat jetzt das Wort kungen an anderer Stelle organisieren müssen. Im Übri- für die SPD-Fraktion. gen entscheidet auch der Markt über den Anbau. Das, für (Beifall bei der SPD) das gut gezahlt wird, wird viel lieber angebaut. Machen wir uns da doch nichts vor!

Gabriele Groneberg (SPD): (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Sicherlich werden wir auch darüber nachdenken müs- und Kollegen! Teller oder Tank – auf diesen Ausspruch sen, ob die zurzeit gültigen Beimischungsquoten so bei- reagiere ich ganz ehrlich, bei aller Liebe, mittlerweile behalten werden sollten, allein schon deshalb, weil die allergisch. Ich kann es bald nicht mehr hören. Dadurch Akzeptanz der Biokraftstoffe in der Bevölkerung erheb- wird die Problematik unzureichend auf ein einziges lich zu wünschen übrig lässt. Die Biomasse aber zu ver- Schlagwort verkürzt. In der Sache liegt man völlig dane- teufeln, wäre geradezu fatal; denn sie bietet eine große ben, wenn man es darauf reduziert. Dann könnte ich in Chance für die ländliche Entwicklung, ob bei uns oder in der Tat – genauso wie der Kollege Sascha Raabe – sa- den Entwicklungs- und Schwellenländern. gen: Tank oder Trog. Auch Thilo Hoppe hat darauf hin- gewiesen. Ich habe allerdings andere Zahlen, Thilo, die Die Verwendung natürlicher Reststoffe wie zum Bei- weit höher liegen als die Zahlen, die du genannt hast: spiel Pflanzen- und Holzreste und durchaus auch eine Annähernd 70 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche Verwertung von Gülle in einem begrenzten Rahmen ist werden zur Erzeugung von Futtermitteln benötigt. sinnvoll; aber wir sollten eben auch darauf achten, dass Erzeugung und Vermarktung vor Ort erfolgen können. (B) Das ist in dem Fall auch gut so, wenn es sich so ver- Unsere Bauern profitieren davon. Das ermöglicht ihnen (D) hält, dass wir in Deutschland weniger Fleisch essen, ein oft dringend benötigtes Zusatzeinkommen. Das gilt während sich in Entwicklungs- und Schwellenländern im Übrigen nicht nur für unsere Landwirtschaft; Kollege deswegen, weil das Existenzminimum steigt, die Men- Raabe hat das eben deutlich gesagt. schen mehr Fleisch leisten können. Das ist zumindest in diesem Punkt eine gute Nachricht. Denn: Wer sich Wir brauchen die Biomasse als Teil einer Strategie Fleisch leisten kann, hat mehr Geld zur Verfügung. Wir mit erneuerbaren Energien, um unabhängig von Atom- müssen im Zusammenhang mit unserem Fleischkonsum kraftwerken und weitgehend auch von fossiler Energie aber auch darauf achten, welche Preise den Bauern ge- zu werden. Ebenso brauchen wir sie im Rahmen der Be- zahlt werden; das ist ja teilweise gar nicht auskömmlich. mühungen zum Schutz des Klimas und der Umwelt. Fleisch scheint oftmals viel zu günstig verkauft zu wer- Hier besteht Handlungsbedarf. Was passiert aber? den. Nichts, einfach nichts. Ganz ehrlich, Herr Heiderich, diese Bundesregierung hat keine schlüssigen Konzepte (Beifall bei der SPD) zur Umsetzung der gesetzten Ziele, und sie hat ebenso wenig eine Strategie, um die negativen Auswirkungen Ungefähr 70 Prozent der in Bearbeitung stehenden durch die Erzeugung von Biomasse einzuschränken und Flächen werden also für den Anbau von Futtermitteln die positiven Aspekte zu unterstützen. genutzt, aber nur 3 Prozent für den Anbau von Biomasse zur Verwendung als Kraftstoff. Ich finde, alleine diese (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ Zahl zeigt, welches Missverhältnis da besteht und dass CSU) die Diskussion „Teller oder Tank“ nicht gerechtfertigt Das fehlt, und das ist in der Tat zu kritisieren. ist, da die Dimension eine ganz andere ist. Ich will das Problem ja nicht verniedlichen – darum geht es nicht –, Aber das, was wir im vorliegenden Antrag vorfinden, aber ich will eine differenzierte Betrachtung der Ursa- ist in meinen Augen eine einseitige Negativkampagne. chen. Dafür sind diese polemischen Schlagwörter über- Ich hätte mir gewünscht, in Ihrem Antrag eine sachliche haupt nicht geeignet. Auseinandersetzung mit den Fakten vorzufinden. Ganz ehrlich, Herr Kollege: Der Akzeptanz erneuerbarer In der Tat: Wir müssen neu darüber nachdenken, wie Energien leisten Sie mit diesem Antrag einen Bären- wir die zunehmende Umwandlung natürlicher Ökosys- dienst. teme in Anbauflächen verhindern. Auch bei uns in Deutschland gibt es, wenn auch regional begrenzt, nega- (Beifall bei der SPD – Niema Movassat [DIE tive Auswirkungen durch die Erzeugung von Biomasse. LINKE]: Es geht um das Problem Hunger!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23709

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ausgleich zwischen Tierschutz und Forschungsfreiheit (C) Ich schließe die Aussprache. schaffen. Das war unser Ziel. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Drucksache 17/10683 an die Ausschüsse vorgeschla- neten der FDP) gen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Da ich schon länger Mitglied des Deutschen Bundes- alle einverstanden. Dann verfahren wir so. tages bin, weiß ich natürlich, dass wir in den 90er-Jahren Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c viel intensiver über das Thema Tierversuche diskutiert auf: haben. Ich behaupte einmal, dass unsere Bemühungen, Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu entwickeln, zu hö- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- herer Akzeptanz geführt haben. Dennoch dürfen wir gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur nicht verschweigen, dass jährlich annähernd 3 Millionen Änderung des Tierschutzgesetzes Tiere in Tierversuchen verbraucht werden, auch verur- – Drucksache 17/10572 – sacht durch die REACH-Verordnung der Europäischen Union. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Meine Damen und Herren, neben der Umsetzung die- Verbraucherschutz (f) Rechtsausschuss ser Richtlinie sieht der Gesetzentwurf, den wir heute ein- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit bringen, weitere Maßnahmen im Bereich des Tierschut- zes vor. Dazu gehört unter anderem das Verbot der b) Unterrichtung durch die Bundesregierung betäubungslosen Ferkelkastration ab 2017. Wir sind der Bericht über den Stand der Entwicklung des Meinung, dass mit der Ebermast, der Immunokastration Tierschutzes 2011 (Tierschutzbericht 2011) oder der Durchführung des Eingriffs unter Narkose Al- ternativen vorhanden sind, die die Belastung der Tiere – Drucksache 17/6826 – reduzieren. Bis 2017 sind es noch vier Jahre. Ob es dann Überweisungsvorschlag: zu Beginn oder zum Ende des Jahres so weit ist, wird si- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und cher hier im Bundestag noch zu entscheiden sein. Aber

Verbraucherschutz (f) wir rechnen damit, dass bis dahin auch von der Wirt- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit schaft entsprechende Methoden angeboten werden, die c) Beratung des Antrags der Abgeordneten auf einfache und praktikable Weise eine Kastration unter Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann, Betäubung möglich machen. Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und Wir haben darüber hinaus in erheblichem Umfang (B) der Fraktion DIE LINKE (D) Mittel bereitgestellt, um in der Zucht aufgrund geneti- Landwirtschaftliche Nutztierhaltung tier- scher Erkenntnisse die sogenannten Stinker am Schlacht- schutzgerecht, sozial und ökologisch gestalten band ausmerzen zu können, damit bei anderen eine Kas- tration erst gar nicht notwendig wird. Ich sage Ihnen: – Drucksache 17/10694 – Kein Landwirt führt gerne eine Kastration bei jungen Fer- Überweisungsvorschlag: keln durch; das ist eine mühsame Arbeit, die unangenehm Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) ist. Wir hoffen sehr, dass unsere Bemühungen bis zu die- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sem Zeitpunkt zu einer Veränderung führen. Hierzu ist verabredet, ebenfalls eine halbe Stunde zu Wir werden im Tierschutzgesetz auch die Eigenkon- debattieren. trolle definieren. Das bedeutet nichts anderes, als dass die objektive Einschätzung des Befindens der Tiere Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär durch den Betriebsleiter stattzufinden hat und dass eine Peter Bleser. vorausschauende Planung durchgeführt und erforderli- che Maßnahmen getroffen werden müssen, wenn Pro- Peter Bleser, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- bleme auftreten. Das sind allerdings für jeden Tierhalter ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- pure Selbstverständlichkeiten. Diese Regelungen belas- cherschutz: ten keinen Tierhalter zusätzlich, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- (Beifall des Abg. Franz-Josef Holzenkamp raten heute in erster Lesung den Entwurf eines Dritten [CDU/CSU]) Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes. Dieser Gesetzentwurf dient natürlich in erster Linie der Umset- schaffen allerdings die Möglichkeit, dort, wo es Miss- zung der EU-Versuchstierrichtlinie. Diese Richtlinie hat stände gibt – diese gibt es ja ab und an in jedem Berufs- das Ziel, den Tierschutz im Hinblick auf Versuchstiere stand –, gesetzlich hart durchzugreifen. zu verbessern und EU-weit gleiche Rahmenbedingungen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) für Industrie und Forschung zu schaffen. In Deutschland galten schon bisher strenge Regelungen zum Schutz von Meine Damen und Herren, die Qualzucht soll, wie Versuchstieren. Diese werden auch in Zukunft beibehal- bisher, verboten bleiben. Wir haben aber eine Umformu- ten. Durch die Richtlinie kommen nun weitere Anforde- lierung vorgenommen, nach der ein Ausstellungsverbot rungen hinzu. Wo die Richtlinie Spielräume lässt, sieht für solche qualgezüchteten Tiere vorgesehen ist. Hierzu der Gesetzentwurf Regelungen vor, die einen guten gab es im Vorfeld der Formulierung des Gesetzentwurfs 23710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Parl. Staatssekretär Peter Bleser (A) erhebliche Diskussionen draußen. Diejenigen, die be- die Betroffenen wissen: Wir wollen die Zoos in Deutsch- (C) fürchten, dass ihre Zucht nicht mehr möglich sein könnte land erhalten. Wir sehen, dass dort sehr verantwortungs- – insbesondere im Heimtierbereich –, sollten wissen, voll und sehr tierfreundlich mit den Tieren umgegangen dass es immer um das individuelle Tier und nie um be- wird. stimmte Rassen oder bestimmte Zuchtbereiche geht. Ich denke, wir werden hier mit einer entsprechenden Auf- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: klärung dazu beitragen, dass insbesondere im Heimtier- Herr Kollege. bereich die Bedingungen, die wir haben, nicht einge- schränkt werden. Allerdings: Da, wo es Auswüchse gibt, muss der Gesetzgeber jetzt handeln, und das haben wir Peter Bleser, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- auch wirklich vor. Ich glaube, das ist auch Konsens. ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz: Bezüglich der Zirkustiere wollen wir eine Verord- Die Präsidentin piepst schon. nungsermächtigung auf den Weg bringen, damit dort, wo Missstände auftreten, die Länder auch handeln können; Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: denn sie sind für die Umsetzung und den Vollzug des Nein, ich piepse nicht. Ich habe Ihnen ein Zeichen ge- Tierschutzgesetzes zuständig. Die Länder, die wild le- geben, dass Sie eine Minute über der Zeit sind. bende Tiere im Zirkus nicht mehr haben wollen, werden die Verantwortung übernehmen müssen, wenn sie ent- (Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff sprechende Verbote aussprechen. Wir glauben jedenfalls, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dass hier eine Bundesregelung nicht notwendig ist. Für die frei lebenden Katzen wollen wir den Ländern Peter Bleser, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ein Instrumentarium an die Hand geben, um bei unkon- ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- trollierter Vermehrung dem Tierwohl entsprechend ein- cherschutz: greifen zu können. Die Unterscheidung zwischen frei le- Ich will nur noch anfügen, dass die Bundesregierung benden und frei laufenden Katzen ist hier notwendig. darüber hinaus – es ist mir wichtig, das noch zu sagen – Die frei laufenden Katzen haben einen Eigentümer und ein Forschungs- und Demonstrationsprogramm mit dem sind davon nicht betroffen. Ziel aufgelegt hat, die tierschutzfreundlichste und mo- dernste Nutztierhaltung in Europa zu erreichen. Dafür Ich glaube, ein weiterer Punkt, der im Gesetzentwurf stellen wir bis zum Jahre 2016 21 Millionen Euro zur enthalten ist, wird in diesem Haus noch zu Debatten füh- Verfügung. Wir hoffen, dass wir damit mehr als mit Ver- ren. Es geht um das Verbot des zusätzlichen Schenkel- boten erreichen können. (B) brandes beim Pferd. Wir haben hierzu einen Entwurf (D) vorgelegt. Herzlichen Dank. (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Den werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir auch von unserer Seite unterstützen, Herr Kollege!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Heinz Paula hat das Wort für die SPD-Fraktion. Nach dem Struck‘schen Gesetz wird letztlich hier im Plenum entschieden werden, ob dieser Passus Rechts- kraft erhält. Heinz Paula (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat zu die- Wir wissen, dass die Bundesregierung sehr selten gelobt sem Gesetzentwurf in sehr ausführlicher Weise Stellung wird – zu Recht. genommen. Wir haben einige Punkte übernommen, die wir für richtig ansehen. Dazu gehören eine Erlaubnis- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir lo- pflicht für die Einfuhr von Wirbeltieren – außer Nutztie- ben und preisen sie jeden Tag!) ren –, die an andere gegen Entgelt abgegeben werden Ihre Arbeit zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dass sollen, eine Erlaubnispflicht für die gewerbliche Ausbil- man zerstritten und planlos ist und sich permanenten dung von Hunden und ein Verbot der Auslobung von Richtungswechseln aussetzt. Frau Ministerin Aigner ist Tieren als Preise bei Wettbewerben. Ich glaube, das sind hier weiß Gott keine Ausnahme. Im Gegenteil! Es ist in- gute Vorschläge. Deswegen haben wir sie auch in unse- zwischen fast legendär: Mittlerweile hat sie den Titel ren Gesetzentwurf übernommen. Ankündigungsministerin. Andere Forderungen – insgesamt waren es an die 50 – (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Stimmt!) haben wir nicht übernommen, weil wir hier unsere Zu- ständigkeit nicht gesehen haben und auch nicht die Not- Vor einem Jahr erschien der Tierschutzbericht der wendigkeit einer Regelung erkannt haben. Bundesregierung. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Damals kam bei mir eine gewisse Hoffnung auf, dass Neben den Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf gibt sich hier endlich einmal etwas bewegt, dass sich diese es noch weitere Maßnahmen, die die Bundesregierung Bundesregierung und diese Regierungskoalition endlich durchführt. Zum Beispiel sind eine Haltungsverordnung einmal gegen die immer gleich jammernden Lobbyisten für Kaninchen und die Überarbeitung des Säugetiergut- durchzusetzen vermögen. Denn es steht auf 62 Seiten achtens, insbesondere für Zoos, vorgesehen. Hier sollten schwarz auf weiß wirklich alles, was die Situation unse- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23711

Heinz Paula (A) rer Tiere anbelangt. Dazu kann ich nur sagen: Kompli- wird. – Ja, wo leben wir denn hier eigentlich, wenn sich (C) ment an die Mitarbeiter, die das Ganze erarbeitet haben. die Regierung derartig selbst zerlegt? Ich kann nur sa- gen: Kompliment, Herr Schenkelbrandbeauftragter Bei mir war, wie gesagt, eine gewisse Hoffnung da, Stier! dass sich jetzt endlich etwas bewegt. Dann allerdings kam die sogenannte Novelle des Tierschutzgesetzes. Da- (Dieter Stier [CDU/CSU]: Gute Bezeichnung! mit wird man sehr schnell, sehr brutal auf den Boden der Vielen Dank!) Realität zurückgeholt. Von all den guten Ansätzen im Tierschutzbericht findet sich in der Novelle das Allerwe- Mir scheint, Sie haben gute Arbeit geleistet. Aber ich nigste wieder. Nach den Ausführungen des Staatssekre- sage Ihnen ganz ehrlich: Auch da sind Sie absolut auf tärs Peter Bleser muss ich feststellen: Das Ganze kommt dem Holzweg. sogar noch schlimmer; darauf werde ich später eingehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen. Beim des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu- Thema Tierversuche finde ich es zunächst einmal posi- rufe von der CDU/CSU) tiv, dass die EU-Tierversuchsrichtlinie entsprechend Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen. umgesetzt werden soll und hier die ersten Ansätze Es ist zunächst einmal richtig, dass der Tierschutzbericht vorhanden sind, zum Beispiel bei der Umsetzung des der Bundesregierung alle Probleme im Bereich der ge- 3-R-Prinzips – Sie kennen das –: vermeiden, vermin- samten Produktionskette der landwirtschaftlichen Nutz- dern, verbessern. Gut so! Aber wieso wird dann kein kla- tiere anspricht. Zu lange Transportwege sollen vermie- rer gesetzlicher Auftrag zur Förderung und Verbreitung den werden – das können Sie auf Seite 16 des Berichts von 3-R-Methoden und von tierversuchsfreier For- nachlesen –, die Schlachtung soll tierschutzgerechter er- schung direkt im Tierschutzgesetz als Vorrangziel veran- folgen. Jetzt stellt sich wieder die spannende Frage: Was kert? Meine Sorge ist: Im Verlauf des Verfahrens wird macht die Bundesregierung? In diesem Bereich wie üb- das Ganze auf dem Verordnungsweg sehr schnell ver- lich nichts! Es gibt faktisch keine Begrenzung der abso- schüttgehen, und damit wäre eine Riesenchance vertan. luten Tiertransportdauer. Wir hören immer wieder von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frau Ministerin Aigner, dass Deutschland Vorbild im Bereich des Tierschutzes wäre. Ich frage mich: Wo sind Da wir gerade beim Tierelend sind: Die Bundesregie- wir denn angesichts dieser unsäglichen, miserablen Ar- rung benennt im Tierschutzbericht in der Tat alle Pro- beitsbedingungen im Bereich der Schlachtbetriebe Vor- bleme, die wir haben, etwa die betäubungslose Kastra- bild? tion und das Kupieren von Schwänzen bei Ferkeln. Sie verweist auf die Diskussion über die Käfighaltung von (B) (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Ein Skan- (D) Legehennen. Auch der völlig überflüssige und schmerz- dal!) hafte Pferdeschenkelbrand soll verboten werden. Die Bundesregierung, Herr Staatssekretär, scheint alle Pro- Das Ausland betreibt im Grund genommen einen bleme wirklich zu kennen. Aber was macht sie konkret Schlachttourismus nach Deutschland. Wir kennen doch daraus? Schlicht und ergreifend nichts! Das ist leider die die Situation in den Schlachthöfen: Akkordarbeit und brutale Wahrheit. Hungerlöhne. Bei über 59 Millionen getöteten Schwei- nen im Jahr ist die Fehlerquote in den Schlachtanlagen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bei der Betäubung derartig hoch, dass man im Grunde der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE nur von einem Skandal sprechen kann. GRÜNEN) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt Ferkel sollen doch tatsächlich erst in Zukunft nicht nicht, Herr Paula! Sie wissen auch, dass das mehr betäubungslos kastriert werden. Man stelle sich nicht stimmt!) vor: Millionen von Ferkeln werden bis 2017 sinnlos traktiert, obwohl es – Herr Staatssekretär hat darauf hin- Kurz gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der gewiesen – eine Fülle von Ersatzmethoden gibt, die um CDU/CSU und FDP: Sie verweigern die Chancen, die ein Vielfaches tiergerechter wären. Schweine, Geflügel, Sie hätten, komplett. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich Rinder werden für die Haltung entsprechend „zurechtge- bin etwas überrascht. Wann öffnen Sie endlich die Au- stutzt“, und zwar mit dem Segen der Bundesregierung gen? Ihre eigenen Minister in den Landesregierungen und der schwarz-gelben Koalition. Es wird weiterhin haben über 50 Änderungsvorschläge im Bundesrat ein- ignoriert, dass die Tiere in Deutschland völlig unnötig gebracht. Einige wenige werden angenommen. Das ist Angst und Schmerzen ausgesetzt sind. auch gut so; das lobe ich ausdrücklich. Aber das Gros fällt komplett unter den Tisch, nämlich wenn es darum Einzig beim Schenkelbrand schien doch tatsächlich geht, konkrete Verbesserungen durchzuführen, zum Bei- die Vernunft Einzug zu halten und hier ein entsprechen- spiel bei tierschutzwidrigen Amputationen und Manipu- des Verbot auszusprechen. Aber, Kolleginnen und Kolle- lationen wie Schnabelkürzen. gen, ich muss einmal ganz ehrlich sagen: Hier ist ein Vertreter der Bundesregierung anwesend. Seine Ministe- Wie Sie wissen, richtet sich der Verbraucher inzwi- rin schlägt vor, den Schenkelbrand zu verbieten. Dann schen komplett anders aus. Das zeigen auch Umfragen aber wird vom zuständigen Staatssekretär die Gültigkeit Ihres eigenen Ministeriums. Die Handelskette Rewe des Struck’schen Gesetzes betont: Schauen wir einmal, zum Beispiel setzt sehr stark auf die Verantwortung ge- ob das Ganze in dieser Form irgendwann rechtskräftig genüber den Tieren. Selbst Wiesenhof geht mit der Pri- 23712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Heinz Paula (A) vathofhaltung neue Wege, die wir nur unterstützen kön- Ich will damit nicht sagen, dass wir in all den Punk- (C) nen. ten, die den einen oder anderen bewegen, gleich die Wei- chen in die Richtung stellen, was langfristig sicherlich (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ein Augs- nötig ist. Aber lassen Sie uns erst einmal in die Arbeit burger als Werder-Fan!) einsteigen, Herr Paula. Lassen Sie uns erst einmal die Das sind Ansatzpunkte, durch die sich etwas in die parlamentarische Beratung vollziehen. Dann machen wir richtige Richtung bewegen kann. Aber dazu ist es auch eine Anhörung, in der wir uns von Fachleuten sagen las- notwendig, dass die Bundesregierung endlich in der sen, was bei den einzelnen Paragrafen zu verbessern ist. Wirklichkeit ankommt und die Themen, die in der Öf- Dann versuchen wir, das hinzubekommen, was wir ges- fentlichkeit breit diskutiert werden – bewusste Ernäh- tern Abend im Plenum erlebt haben – bei Bussen im rung, tierschonende und nachhaltige Landwirtschaft –, Fernverkehr scheint das leichter zu sein –: eine gemein- entsprechend Einzug finden. same Lösung des Parlaments. Denn es macht keinen Sinn, dass wir im Deutschen Bundestag einen Gesetzent- Allerdings kommen einem manchmal Zweifel, wenn wurf verabschieden, der dann in den Ländern auf andere man sieht, was von der Regierungskoalition vorgelegt Mehrheiten trifft oder auf kommunaler Ebene auf Ableh- wird. Ich habe hier zum Beispiel ein Papier zur Position nung stößt. der CDU/CSU gegenüber der Landwirtschaft mitge- bracht. Die sieben Seiten sprechen Bände. Deswegen schlage ich vor, einmal zurückzublicken: Wir haben damals den Grundgedanken des Tierschutzes (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Gut, gell?) ins Grundgesetz eingebracht, und nun gehen wir daran, das umzusetzen. Jetzt geht es um die Frage: Was ist Tier- Noch dünner geht es wohl nicht. Darin steht, dass der wohl? Ich meine, dass der Gedanke der Eigenkontrolle, Tierschutz einzig und allein – wie heißt es so schön? – der im Gesetzentwurf verankert worden ist, richtig ist. mehr Werbung bedarf. Die Agrarforschung wird zwar Bauern wissen, was ihren Tieren guttut. Daran kann kein auch erwähnt, aber die Öffentlichkeitsarbeit scheint Ih- Zweifel bestehen. nen einer der wichtigsten Punkte zu sein. Ansonsten kann ich im Sinne von Tierschutz nicht viel aus diesem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Papier herauslesen. Kein Bauer ist sozusagen so blöd, nicht das Wohl seines Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Men- Tieres im Blick zu haben. Er weiß, dass er sonst als Tier- schen in unserem Land kennen die wirklichen Probleme halter nicht erfolgreich ist. Das ist eine Grundkenntnis. im Bereich des Tierschutzes. Im Gegensatz zur Bundes- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) regierung und zu der sie tragenden Regierungskoalition (B) werden die Wählerinnen und Wähler die Konsequenzen Reden wir über ethische Grenzen. Damit bin ich so- (D) daraus ziehen: Steinbrück wählen. fort einverstanden. Wir können auch über Qualzucht re- den, aber qualifiziert. Was bisher in § 11 b des Gesetz- Ich bedanke mich sehr herzlich. entwurfs steht, ist nicht der Weisheit letzter Schluss. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Unterscheidung zwischen „wenn damit gerechnet Der Kollege Hans-Michael Goldmann hat jetzt das werden muss“ und „wenn züchterische Erkenntnisse Wort für die FDP-Fraktion. vorliegen“ wird auch vom Wissenschaftlichen Dienst (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sehr kritisch beurteilt. Ich bin strikt dagegen, die Qual- zuchtverantwortung nur im Hinblick auf die züchteri- schen Überlegungen der Rassegeflügelhalter aufzuneh- Hans-Michael Goldmann (FDP): men; das kann nicht sein. Aber wir dürfen sie auch nicht Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! außen vor lassen. Ich glaube, da sind wir uns einig. Gestern Morgen beim Frühstück des Deutschen Tier- schutzbundes sagte Herr Schröder, der neue Präsident Wir sollten da herangehen und schauen, wie die Ös- des Tierschutzbundes: Tiere haben keinen Preis; Tiere terreicher Qualzucht definieren. haben einen Wert. (Heinz Paula [SPD]: Genau! Das ist ein An- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten satz!) der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- Da können wir vielleicht von anderen lernen, und dann SES 90/DIE GRÜNEN – Eva Bulling- machen wir ein richtig gutes Gesetz. Schröter [DIE LINKE]: Genau! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir müssen aber auch fair sein und zur Kenntnis neh- Da hat er recht!) men, dass alle anderen Länder in Europa – außer viel- leicht die Niederlande oder Österreich – die betäubungs- Das ist die Botschaft, die wir mit der Novelle des Tier- lose Kastration erst 2018 oder noch später verbieten schutzgesetzes untermauern. wollen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das macht der CDU/CSU) es aber leider nicht besser!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23713

Hans-Michael Goldmann (A) Wir sind Vorreiter in diesem Punkt. cher Höhe für die Forschung in diesen Bereichen zur (C) Verfügung gestellt werden. Wir sind auch Vorreiter bei den Haltungssystemen – auch wenn das dem einen oder anderen nicht gefällt. In (Heinz Paula [SPD]: Gut!) Deutschland dürfen weniger Tiere auf einem Quadrat- Lassen Sie uns das gemeinsam ausbauen und die For- meter gehalten werden als in Italien, Spanien oder den schung vertiefen. Denn wir wissen alle, dass die For- Niederlanden. In Deutschland dürfen weniger Kilo- schungsgrundlagen für die Entscheidungen, die wir im gramm auf einem Quadratmeter gezüchtet werden als in Tierschutzbereich treffen, verschwindend gering sind. anderen Ländern. Wir wissen in vielen Bereichen nicht, wie sich das aus- Wenn wir zu schnell voranschreiten, werden massiv wirkt, wenn wir zum Beispiel auf das Kupieren von Eier aus den Ländern importiert werden, in denen die Schwänzen verzichten. Wir wissen nicht, ob die Schäden Tiere nicht so gehalten werden wie bei uns. dann nicht möglicherweise sogar größer sind, weil die Tiere nicht mehr so miteinander umgehen, wie wir es (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- uns wünschen. NEN]: Herr Minister fördert das doch!) Deswegen bin ich bei der ersten Beratung dieses Ge- Dann sagen unsere Geflügelhalter: Was ist denn da los? setzes ganz gelassen. Wir werden ein gutes Gesetz Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass die Märkte ka- – nach Möglichkeit gemeinsam – auf den Weg bringen, puttgemacht werden! – Das muss man alles vernünftig und wir wollen ein Gesetz, was auf Dauerhaftigkeit an- gegeneinander abwägen. gelegt ist. Denn es hat keinen Sinn, jetzt ein Gesetz zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) machen, das schon in allernächster Zeit korrigiert wer- den muss. In diesem Sinne wünsche ich uns eine gute Wir unterhalten uns auch über Entwicklungen im Beratung. Kleintier- und Haustierbereich. Zum Beispiel ist die Si- Herzlichen Dank. tuation von Katzen in bestimmten Bereichen nicht in Ordnung. Darum kümmern wir uns und finden gemein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) same Lösungen: chippen und registrieren. Aber wir müs- sen auch gemeinsam Mittel bereitstellen, damit die Re- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gistrierungen wirklich erfolgen können. Nur so können Alexander Süßmair hat das Wort für die Fraktion Die wir den Tierheimen helfen. Linke. Außerdem unterhalten wir uns über Schenkelbrand. (Beifall bei der LINKEN) (B) Wenn es tierschutzrechtlich nicht möglich ist, den (D) Schenkelbrand weiter zu setzen, weil ein Chip das er- Alexander Süßmair (DIE LINKE): füllt, was wir vom Schenkelbrand erwarten, dann dürfen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten wir nicht mehr brennen. Das ist ganz einfach. Damen und Herren! Zum einen debattieren wir heute (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der rung des Tierschutzgesetzes, zum anderen über einen LINKEN – Heinz Paula [SPD]: Genau so ist Antrag der Linken zur landwirtschaftlichen Nutztierhal- es!) tung. Eine solche Änderung ist dringend nötig, weil das deutsche Tierschutzrecht im Hinblick auf Tierversuche Nebenbei: Wenn wir das nicht hier im Parlament ent- bis Ende November dieses Jahres an strengere EU-Stan- scheiden, dann entscheidet es ein Gericht. dards angepasst werden muss. Die Regierung hat sich da (Heinz Paula [SPD]: Ja!) leider sehr viel Zeit gelassen. Das, denke ich, wollen wir aber nicht. Deswegen müssen Tierschutz hat in der letzten Zeit stark an Bedeutung wir das fachlich sauber abarbeiten. in der Öffentlichkeit gewonnen – und das ist auch richtig so –: zum einen durch Debatten über die Notwendigkeit Jetzt will ich noch etwas zu den Versuchstieren sagen. von Tierversuchen und Diskussionen über Wildtiere im Liebe Freunde, an diesem Thema arbeite ich schon ei- Zirkus, Delfinarien oder Brandzeichen bei Pferden, zum nige Jahrzehnte. Ich hatte auch eine Tierarztausbildung, anderen wegen Missständen bei der Nutztierhaltung in und wir wissen ja, Wilhelm Priesmeier, was wir damals der Landwirtschaft. mit den Ratten bei den Versuchen gemacht haben. Es will doch keiner den Tierversuch um des Tierversuchs Immer mehr Menschen lehnen die Art und Weise ab, willen, sondern wir wollen Tierversuche nur an be- wie heute Tiere für die Produktion von Lebensmitteln stimmten Stellen, aber wir wollen auch die Alternativen. gehalten werden. In einer Emnid-Umfrage vom Mai die- Wir wollen, dass der Wissenschaftler sich immer dann ses Jahres gaben 85 Prozent der Befragten an, dass sie für die Alternative entscheidet, wenn sie für das Ver- den verantwortungsvollen Umgang mit Tieren in der suchsergebnis, das Zuchtergebnis oder das Forschungs- Landwirtschaft für wichtig erachten. ergebnis sinnvoll ist. (Beifall bei der LINKEN) Dafür müssen wir Geld bereitstellen. Herr Paula, man Allerdings war nur ein Drittel der Befragten davon über- muss doch auch einmal anerkennen, dass mit diesem zeugt, dass Landwirtinnen und Landwirte tatsächlich Haushalt zum ersten Mal überhaupt Mittel in beachtli- verantwortungsvoll mit den Tieren umgehen. 23714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Alexander Süßmair (A) Gerade die Nutztierhaltung wurde in den vergangenen Für mich und meine Partei ist klar: Eine humanisti- (C) Jahren stark industrialisiert. Bäuerinnen und Bauern sind sche Gesellschaft wird auch daran gemessen, wie sie mit einem gnadenlosen Kostendruck ausgesetzt worden: den Tieren umgeht. In diesem Sinne werden wir uns in durch Arbeitsteilung, immer stärkere Intensivierung und die Beratungen konstruktiv einbringen. Konzentration der Nutztierhaltung auf immer engerem Vielen Dank. Raum sowie Dumpingpreisschlachten der Lebensmittel- industrie. Dabei ist das Wohl der Tiere häufig auf der (Beifall bei der LINKEN) Strecke geblieben. Die Tiere sind zur Ware verkommen, und Tierschutz ist für viele Erzeuger zum existenzbedro- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: henden Kostenfaktor geworden. Genau hier müssen wir Friedrich Ostendorff hat jetzt das Wort für Bünd- ansetzen, wenn wir ernsthaft etwas für mehr Tierschutz nis 90/Die Grünen. tun wollen. (Beifall bei der LINKEN) Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Tierschutz darf nämlich nicht Profitinteressen unter- geordnet werden, und Tierhalter, die höhere Tierschutz- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und standards einführen und das Tierwohl verbessern, dürfen Herren! Die Amtszeit von Ministerin Aigner neigt sich mit den Kosten nicht alleine gelassen oder im Wettbe- dem Ende zu. Sie sitzt auf gepackten Koffern und ist werb benachteiligt werden. Hier, Kollege Goldmann, ist quasi schon in Richtung Bayern unterwegs. Nur eine der Gesetzgeber – genauso wie bei den Käfighennen – derartig schwache, bedeutungslose Ministerin kann ei- gefordert. Es kann nicht sein, dass zum Beispiel Länder, nen derart bedeutungslosen Gesetzentwurf zu einem so die die von uns vereinbarten höheren Standards nicht er- bedeutsamen Thema wie dem Tierschutz vorlegen. füllen, Eier nach Deutschland exportieren. Da sind wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wi- d’accord: Das darf es nicht geben. Das müssen wir ver- derspruch bei der CDU/CSU und der FDP) bieten. Wie kann es sein, dass nach Jahren voller Ankündi- (Beifall bei der LINKEN) gungen und Eigenlob beim Tierschutz ein so schwacher Für uns von der Linken sind folgende zehn Punkte be- Gesetzentwurf herauskommt, Frau Aigner? Wie kann es sonders wichtig: erstens dass die Tiere nicht länger an sein, dass wir Sie erst darüber aufklären müssen, wo die Haltungssysteme angepasst werden, sondern die Hal- überall auf der Welt Ihr Kollege Rösler bei uns verbo- tungssysteme an die Tiere, also kein Schwänzekneifen tene Hühnerkäfige mit Hermesbürgschaften, also mit mehr bei Schweinen, kein Schnäbelstutzen mehr bei Steuergeld, fördert? Herr Rösler gibt sich damit der Lä- (B) (D) Hühnern; cherlichkeit preis. Wie kann es sein, dass die Geflügel- wirtschaft schon jetzt diese Koalition auffordern muss, (Beifall bei der LINKEN) endlich gesetzgeberisch tätig zu werden, um den Anti- biotikamissbrauch einzudämmen? zweitens dass Tiere nicht mehr aufgrund ihres Ge- schlechts getötet werden, wie zum Beispiel bei Legehen- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt nen; drittens dass unverzüglich die betäubungslose Fer- nicht, was Sie sagen!) kelkastration verboten wird; Wie kann es sein, dass am vergangenen Mittwoch sogar (Beifall bei der LINKEN) die Geflügelbarone hier im Bundestag die Kennzeich- nung von Verarbeitungseiern fordern und zeitgleich viertens dass zum Wohl der Tiere und der Beschäftigten Staatssekretär Bleser hier im Parlament erklärt: „Kenn- Akkordarbeit in Schlachthöfen und Dumpinglöhne ver- zeichnung geht überhaupt nicht, machen wir nicht“? Wie boten werden; kann es sein, dass Ihnen nach jahrelanger Diskussion (Beifall bei der LINKEN) zum Tierschutz nichts weiter einfällt als eine 5-Millio- nen-Euro-Nebelkerzenkampagne für die heutige Form fünftens dass der Schenkelbrand bei Pferden – hier der Tierhaltung? Das, was Sie heute als Gesetzentwurf herrscht große Einigkeit, abgesehen von der Union – vorlegen, ist wie immer: zu wenig, zu spät, zu schwach. verboten wird; sechstens dass die Haltung von Wildtie- ren in Zirkussen untersagt wird; siebtens dass es klare (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Regelungen zum Verbot von Qualzucht – das wurde be- sowie bei Abgeordneten der SPD) reits angesprochen – gibt; achtens dass ein Verbandskla- Dieses Gesetz schützt die 800 Millionen Nutztiere nicht. gerecht für Tierschutzverbände und -stiftungen – denn Das Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration ab Tiere können ihre Interessen nicht selbst vertreten – ein- 2017 kommt viel zu spät. Weitere 100 Millionen Ferkel geführt wird; werden der schmerzhaften Kastration ohne Betäubung (Beifall bei der LINKEN) ausgesetzt. Das Ausstellungsverbot für Qualzuchten ist richtig, aber viel zu wenig. Qualzuchten gehören schlicht neuntens dass der Bund und die Länder sich an den Kos- verboten. ten der kommunalen Tierheime beteiligen müssen und zehntens dass Tiertransporte grundsätzlich auf vier Stun- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sind sie!) den begrenzt werden. Tiere dürfen nicht so gezüchtet werden, dass sie am (Beifall bei der LINKEN) Ende ihrer Mast nicht mehr stehen können. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23715

Friedrich Ostendorff (A) Auch was Sie beim Thema Tierversuche und Zirkus- sich Zeit zur Beratung. Nehmen Sie sich ein Herz, und (C) tiere vorlegen, ist einfach zu wenig. Die einzig wirkliche stimmen Sie für unser grünes Tierschutzgesetz; denn es Verbesserung, die im Gesetzentwurf steht, ist das Verbot ist ein Gesetz für echten Tierschutz in Deutschland. des Schenkelbrands bei Pferden. Leider wissen Sie so gut wie ich, dass es unter Ihren Agrarrambos längst be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schlossene Sache ist, dass dieses Verbot gekippt wird, damit zur Steigerung des Verkaufspreises dieser Tiere Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: weiterhin der „Hannoveraner Mercedesstern“ einge- Dieter Stier hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. brannt werden kann, was zu Verbrennungen dritten Gra- des führt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich bitte um Dieter Stier (CDU/CSU): Abgeordnetenschutz!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch an allen anderen tagtäglichen Verstümmelungen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorlie- wird Ihr Gesetz nichts ändern. Das Schleifen der Zähne gende Entwurf der dritten Novelle des Tierschutzgeset- von Ferkeln, das Kürzen ihrer Ringelschwänze oder das zes soll mit einer Vielzahl von neuen Regelungen zu Kupieren der Schnäbel von Geflügel wird weitergehen einer weiteren Erhöhung der nationalen Tierschutzstan- wie gehabt, auch wenn es längst verboten ist. Aber diese dards beitragen. Ich habe es an dieser Stelle bereits Amputationen und Manipulationen an den Tieren müs- mehrfach gesagt, und ich beginne auch heute damit: sen beendet werden. Deutschland nimmt bereits jetzt in Sachen Tierschutz eine Führungsrolle in Europa ein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Alexander Süßmair [DIE LINKE]) Die Nutztierhalter in Deutschland haben in den ver- Als große Fans der Massentierhaltung verfolgen Sie gangenen Jahren klaglos die Weiterentwicklung der von der Koalition nach wie vor einen grundsätzlich fal- Tierhaltung finanziell gestemmt. Sie stehen aber mittler- schen Ansatz. Ihr Maßstab ist die Anpassung der Tiere weile in einem immer größer werdenden Konflikt zwi- an arbeitsarme Haltungssysteme, unser Maßstab hinge- schen Wettbewerbsdruck und stärkeren Tierschutzmaß- gen ist der Anspruch der Tiere auf Wohlbefinden in einer nahmen. Bisher werden die Landwirte hier einseitig zur artgerechten Haltung. Kasse gebeten, eine Überwälzung von Zusatzkosten für höhere Tierschutzstandards auf den Verbraucher ist bis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) her nicht möglich. Die Verbraucher sind nach meiner (B) (D) Der Bundesrat hat sehr gute Vorschläge gemacht. Sie Beurteilung auch nicht bereit, für vermeintlich besseren lehnen diese mit hanebüchenen Erklärungen ab. Angeb- Tierschutz tiefer in die Tasche zu greifen. lich hatten Sie keine Zeit, sich damit zu beschäftigen. Es Eine einseitige Erhöhung der Tierschutzvorgaben wäre der Sache äußerst dienlich, wenn Sie endlich Ihren ohne Kompensation für die Nutztierhalter in unserem Privatkrieg gegen den Bundesrat beenden würden. Land lehne ich ab. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) doch überhaupt nicht!) Wir alle sollten uns die Frage stellen, wie viel Tierschutz Das müssen Sie aber nicht unbedingt, wenn Ihnen das wir uns in Deutschland leisten können, wollen und wer so schwer fällt; denn wir helfen Ihnen. Wir haben Ihnen das alles bezahlen soll. die Arbeit abgenommen und ein Tierschutzgesetz einge- bracht, in dem es tatsächlich um Tierschutz geht. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So genau nicht! Das kann nicht (Dieter Stier [CDU/CSU]: Tierhaltungsverhin- der Maßstab sein!) derungsgesetz!) Ich stelle hier die Frage, Herr Ostendorff: Können Unser Tierschutzgesetz hilft den Tieren jetzt und nicht und wollen wir ständige Verschärfungen dem Geldbeutel erst in zehn Jahren und nimmt keine falsche Rücksicht des Verbrauchers und dem Steuerzahler zumuten? auf Schenkelbrenner, Qualzüchter und Massentierhalter. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt NEN]: Ja! – Friedrich Ostendorff [BÜND- überhaupt nicht, was Sie sagen!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Grundgesetz ist hier der Maßstab! – Gegenruf des Abg. Hans- Unser Tierschutzgesetz ist allein und kompromisslos Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt doch dem Tierschutz verpflichtet. Der Wert und nicht der nicht!) Preis der Tiere steht für uns Grüne und viele Tierschüt- zer im Fokus. Können und wollen wir den tierhaltenden Betrieben be- denkenlos immer weitere zusätzliche Auflagen zumu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werbe dafür: ten? Nehmen Sie endlich Ihre Verantwortung gegenüber dem Mitgeschöpf Tier wahr. Nehmen Sie auch Ihre Verant- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE wortung gegenüber dem Grundgesetz wahr. Nehmen Sie GRÜNEN]: Ein Tier ist keine Sache!) 23716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Dieter Stier (A) Sollten wir uns nicht vielmehr die Frage stellen, wie viel GRÜNEN]: Wer hätte das gedacht? Ach du (C) an Tierschutz überhaupt notwendig ist? liebe Zeit!) (Heinz Paula [SPD]: Oh Gott! Steinzeit!) Hierdurch würde ein tierzüchterisches Kulturgut zer- stört, welches für die deutsche Pferdezucht bisher ein Ich meine, dass einzelne Forderungen von Unkennt- Aushängeschild war und weiterhin eine sichere und auch nis der jeweils Rufenden zeugen. Wir Unionspolitiker preiswerte Kennzeichnung gewährleistet. befürworten einen wissenschaftlich basierten Tierschutz. Wir treffen unsere Entscheidungen auf der Grundlage (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: von Forschungsergebnissen zu Tierschutzfragen und auf Preiswert!) der Grundlage von beruflichem Sachverstand. Deshalb setzen wir uns im Schulterschluss mit den Tier- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zuchtverbänden für den Erhalt dieser Form der Tier- Ideologien und populistische Emotionalität gehören kennzeichnung im laufenden Verfahren ein. nicht in diese Debatte. (Beifall der Abg. Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]) (Widerspruch bei der SPD) Wildtiere im Zirkus. Über das Ziel hinaus schießt Mit der Energiewende der Bundesregierung und dem auch eine Verordnungsermächtigung, die das Zurschau- vorgezogenen Atomausstieg haben Sie, liebe Kollegin- stellen bestimmter Wildtiere in Zirkusbetrieben verbie- nen und Kollegen von Bündnis 90/Grüne, wohl Ihr ten soll. Auch hier setzen wir auf wissenschaftliche wichtigstes Wahlkampfthema verloren. Erkenntnisse. Sollte sich in solchen Gutachten heraus- stellen, dass die Haltung und der Transport bestimmter (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Tiere nicht den tierschutzrechtlichen Anforderungen ge- GRÜNEN]: Oh Gott! Wir haben doch gewon- recht werden, dann werden wir in letzter Konsequenz nen!) auch Verbote bestimmter Wildtiere in Zirkusbetrieben Es hat für mich den Anschein, dass Sie krampfhaft nach mittragen. Ohne wissenschaftlich basierte Ergebnisse einem Ersatzthema, auch nach einer neuen Daseinsbe- und nur aufgrund von Emotionen gibt es für uns jedoch rechtigung suchen und dabei auf das Tierschutzthema kein Handlungserfordernis. gekommen sind. Ich frage Sie: Gehen Ihnen denn die Wir wollen keine Qualzucht. Deshalb prüfen wir hier, Themen aus? ob die bestehende Rechtslage ausreicht. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Wir akzeptieren das Einschreiten gegenüber der un- GRÜNEN]: Nein, leider nicht!) (B) kontrollierten Vermehrung von streunenden Katzen in (D) Haben Sie denn keine anderen Botschaften für die Men- bestimmten Regionen Deutschlands. Die Landesregie- schen in unserem Land? rungen sollen durch die Tierschutznovelle die Möglich- keit erhalten, Verordnungen zu erlassen, die den freien ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auslauf von unkastrierten Hauskatzen verbieten. Wie Jede Menge!) sich hier die Kontrolle darstellen soll, ist mir persönlich Sie benutzen Emotionen und auch teilweise Unwissen- jedoch noch nicht klar. heit der Menschen, um Stimmung gegen die Tierhalter Wir akzeptieren im Grundsatz auch die Abschaffung und den ländlichen Raum zu machen und damit Wähler- der betäubungslosen Ferkelkastration, wobei für mich stimmen zu gewinnen. ebenfalls noch nicht ganz einsichtig ist, warum Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) land mit dem um ein Jahr vorgezogenen Datum auf EU- Ebene mal wieder der Klassenstreber sein muss, Sie debattieren auf dem Rücken der fleißig arbeitenden Landwirte und Tierhalter. Ich finde das unanständig. (Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Vorbildwirkung!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- womit unseren Bauern Wettbewerbsnachteile drohen. NEN]: Peinlich!) Ich hätte mich gefreut, wenn die Schweinehalter erst ab 2018 – das wäre die Eins-zu-eins-Umsetzung – zur Meine Damen und Herren, notwendig ist diese Tier- Kasse gebeten werden würden. schutznovelle, da die EU-Tierversuchsrichtlinie in natio- nales Recht umzusetzen ist. Die Bundesregierung hat ei- Wir begrüßen zudem die vorgesehenen betrieblichen nen Entwurf vorgelegt, welcher diese Zielsetzung zum Eigenkontrollen für den Umgang mit Nutztieren; eine großen Teil erfüllt, in einigen Bereichen jedoch auch Verordnungsermächtigung dazu lehnen wir jedoch ab. deutlich überzogen ist. Auch darf diese Maßnahme nicht zu überbordender Bü- rokratie führen. (Heinz Paula [SPD]: Oh!) Über das Ziel hinaus schießt aus meiner Sicht defini- Wir unterstützen auch den verbesserten Schutz der tiv das Verbot des Schenkelbrands beim Pferd. Versuchstiere, insbesondere die Regelungen für die Ver- wendung von Affen. Vergessen, meine Damen und Her- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ren, dürfen wir jedoch nicht: Tierversuche dienen der Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Grundlagenforschung und der Forschung im Hinblick Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23717

Dieter Stier (A) auf die menschliche Gesundheit, und ich glaube, die die Bundesregierung ihrer Verantwortung im Bereich (C) wollen wir alle. des Luftverkehrs nachkommt und die Bürger unabhän- gig davon, ob sie als Passagiere an Bord sind oder zur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Flugzeugbesatzung gehören, mit einer überaus verant- ruf von der CDU/CSU: Da geht es um Men- wortungsbewussten Luftverkehrspolitik begleitet. Die schenleben!) Sicherheit des Luftverkehrs und der Ausschluss gesund- Meine Damen und Herren, wir werden eine Anhörung heitlicher Gefährdungen genießen vor allen anderen Be- zu diesem Gesetzentwurf durchführen. Ich freue mich langen die mit Abstand höchste Priorität. auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit Ihnen in Sa- chen Tierschutz. Vielleicht bekommen wir in diesem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herbst auch eine Antwort auf die Frage, ob 30 000 Bio- neten der FDP) hähnchen unter den Begriff „Massentierhaltung“ fallen Die beiden vorliegenden Anträge zur Thematik der oder nicht. Geruchsbelästigung und der Kontamination der Kabi- Vielen Dank. nenluft in Flugzeugen unter anderem durch Ölrück- stände stellen das Sicherheitsbewusstsein der Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) regierung allerdings infrage. Es wird behauptet, dass derartige Zwischenfälle allgemein gefährlich seien und Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- darüber hinaus in der jüngsten Vergangenheit vermehrt NEN): aufgetreten seien. Ich schließe die Aussprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will an dieser Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen Stelle zunächst verdeutlichen, dass es in der Vergangen- auf den Drucksachen 17/10572, 17/6826 und 17/10694 heit unterschiedliche Gründe für Geruchsbelästigungen an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesord- in den Flugzeugkabinen gab und nicht alle Geruchsbe- nung stehen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so lästigungen auf Öldämpfe zurückzuführen waren. Es gab beschlossen. immer wieder andere Ursachen: Küchendämpfe, defekte Kaffeemaschinen, verschmorte Kabel und Kunststoff- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 46 auf: verkleidungen waren für diese Gerüche verantwortlich. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Dementsprechend haben die zuständigen Behörden auf richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und nationaler und internationaler Ebene keinen Handlungs- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) bedarf gesehen. (B) – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Die weltweit für die Sicherheit zuständige Luftfahrt- (D) Joachim Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz organisation ICAO hat sich im Oktober 2010 mit der Paula, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Thematik beschäftigt und keinen Anlass gesehen, sich der SPD weiter damit zu beschäftigen; sie hat die bestehenden Flugzeugbesatzungen und Reisende vor Verfahren für in Ordnung befunden. Dasselbe gilt für die kontaminierter Kabinenluft schützen europäische Organisation, die EASA, die nach umfas- senden Konsultationen zur Kabinenluft keine konkreten – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Hinweise auf eine Gesundheitsgefährdung von Passagie- Tressel, Cornelia Behm, Harald Ebner, weite- ren oder Besatzungsmitgliedern gefunden hat. Auch die rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Erkenntnisse des Luftfahrt-Bundesamtes und der Bun- NIS 90/DIE GRÜNEN desstelle für Flugunfalluntersuchung gaben keinen An- Kontaminierte Kabinenluft in Flugzeugen lass, die Einschätzung zu ändern. unterbinden Wichtig ist, dass es in Form der EU-Verordnung – Drucksachen 17/7611, 17/7480, 17/9451 – Nr. 996/2010 ein gesetzlich verankertes, sicheres Melde- verfahren gibt; die Betroffenen sind verpflichtet, den zu- Berichterstattung: ständigen staatlichen Stellen schwere Störungen zu mel- Abgeordneter Torsten Staffeldt den. Die Meldepflichten und die Verfahren im Falle Eine halbe Stunde Aussprache ist vorgesehen. – Da- einer Störung sind also in Ordnung. Die Meldepflichten mit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so. müssen natürlich von den Luftverkehrsunternehmen und den Besatzungen wahrgenommen werden. Sollten die Ich gebe das Wort dem Kollegen Peter Wichtel für die Unternehmen hingegen die Meldepflicht vernachlässi- CDU/CSU-Fraktion. gen und ihr nicht zur Genüge nachkommen, muss dies (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Konsequenzen nach sich ziehen. Auch hier war die Bundesregierung überaus aktiv. Peter Wichtel (CDU/CSU): Das in Deutschland zuständige Luftfahrt-Bundesamt hat Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vor zwei Jahren bei Inkrafttreten der besagten Verord- Nach der ersten Beratung im vergangenen Jahr kommen nung bewusst den Kontakt zu den Luftfahrtunternehmen wir heute zur abschließenden Behandlung der Anträge aufgenommen und auf die Einhaltung der Meldepflich- der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Lassen ten hingewiesen. Zudem wurde das Leitungspersonal der Sie mich, wie letztes Jahr auch, vorab klar sagen, dass Unternehmen durch Informationsveranstaltungen seitens 23718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Peter Wichtel (A) des LBA weiter sensibilisiert und so auf eine Verbesse- Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, und (C) rung des Meldeverfahrens auch im Hinblick auf konta- ich frage auch Sie, Herr Mücke, als Vertreter der Bun- minierte Kabinenluft hingewiesen. desregierung: Warum tun Sie eigentlich nichts? ( [SPD]: Ja, wenn man keine Herr Wichtel, wenn hier heute über Begleitmusik ge- CDU-Reden dahin überträgt, ist es ja nicht so sprochen wird, dann finde ich das ignorant. Das ist men- schlimm!) schenverachtend. Nach den Berichten waren wahr- scheinlich Menschen in einer Gefahrensituation. Eine Es gilt, noch einmal deutlich zu betonen, dass es sei- solche Gefahrensituation existierte nicht nur bei diesem tens der zuständigen Behörden ein intaktes, funktionie- Flug, sondern auch bei anderen Flügen. Ich finde es un- rendes Meldeverfahren gibt. Missstände und Fehlstände, erhört, dass Sie hier von Begleitmusik sprechen. die mitgeteilt werden, können also bearbeitet werden. In- wiefern nun beispielsweise der Flug von Germanwings (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem im Dezember 2010 – seit dem Frühstücksfernsehen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Wichtel heute dürfen wir ja diese Begleitmusik zu den beiden [CDU/CSU]: Das war im Frühstücksfernse- vorliegenden Anträgen erleben – hen! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Geht ( [CDU/CSU]: es noch eine Stufe härter?) Unglaublich!) Was ist denn seit dem 21. September 2011 geschehen? tatsächlich zu dem führte, was wir heute diskutieren, Wir haben eine klare Bewertungslage. Die Experten ha- bleibt der Untersuchung durch die Bundesstelle für Flug- ben in ihren Bewertungen zur Situation weitestgehend unfalluntersuchung vorbehalten; wir müssen die Be- einheitlich votiert. Selbst die Vertreter der Flugzeugin- richte abwarten. dustrie haben gesagt: Wir haben hier unstreitig ein Pro- blem – auch wenn es unterschiedlich beleuchtet wurde – Ich denke, wir sollten dementsprechend handeln, für Gesundheit und Leben von Besatzungsmitgliedern wenn wir tatsächlich feststellen sollten, dass bestimmte und Passagieren. Dinge nicht gemeldet worden sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Captain nicht selbst noch an Bord Es wurde nichts getan. Die Koalition hat das ausge- die Flugunfallmeldung vorgenommen und dementspre- sessen. Wir haben Anträge gestellt, die wir hätten präzi- chende Hinweise gegeben hat. Dennoch kann ich schon sieren können. Wir haben da auch keine hundertprozen- heute sagen, dass es sicher unakzeptabel wäre, wenn von tige Übereinstimmung mit dem Antrag der Grünen. Das der Firma und den Betroffenen keine Meldung gemacht hätte man alles harmonisieren können. Sie haben aber worden wäre. nichts gemacht; das ist der Vorwurf. Die Bundesregie- (B) rung hat auch nichts gemacht, Herr Mücke; das ist der (D) Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen. Die Vorwurf. Sie verhalten sich hier wie die drei bekannten Kabinenluft und das aktuelle Thema sind in guten Hän- Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. den. Die Meldepflichten und die Meldewege sind in Ordnung. Ich denke, dass die Anträge der SPD und der ( [FDP]: Hallo? Geht es?) Grünen, die Messverfahren und alle möglichen Dinge Worauf warten Sie eigentlich? Warten Sie darauf, beinhalten, hinfällig sind und nicht gebraucht werden. dass die Industrie dieses Problem allein löst, ohne politi- Deswegen werden wir sie ablehnen. sche Begleitung, zu der wir verpflichtet wären? Ich will Vielen Dank. Ihnen nicht unterstellen, Herr Mücke, dass Sie möchten, dass wir alle durch einen Vorfall aufgeschreckt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Den wünschen wir uns alle nicht, und den mag sich heute auch keiner vorstellen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Hans-Joachim Hacker hat jetzt das Wort Deswegen sage ich: Sie können das Problem im Mo- für die SPD-Fraktion. ment nicht lösen, aber Sie können einen Weg für die Lö- sung des Problems eröffnen, und diesen Weg zeigen die (Beifall bei der SPD) beiden Anträge der Bundestagsfraktionen Bündnis 90/ Die Grünen und SPD auf. Sie sagen, es bestehe kein Lö- Hans-Joachim Hacker (SPD): sungsbedarf, es sei Begleitmusik. Herr Wichtel, das ist Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen unerhört. und Kollegen! Herr Wichtel, es ist erschütternd: Sie sin- (Peter Wichtel [CDU/CSU]: Aber die Tat- ken ja heute unter das Niveau der ersten Beratung, sache!) (Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerhört ist es auch, Herr Staffeldt, wenn Sie von der Das muss man erst mal schaffen!) FDP davon sprechen, bei der die Kollegin Schäfer eingeräumt hat: Wir haben (Torsten Staffeldt [FDP]: Ich habe doch noch hier ein Problem. – Ich komme nachher auf ihre Rede gar nichts gesagt! – Weitere Zurufe von der noch zu sprechen. Sie hat das eingeräumt. Eingeräumt FDP) haben das auch alle Experten in der Anhörung des Tou- rismusausschusses am 21. September 2011. Unbestritten es werde – ich zitiere aus Ihrer Rede in der ersten Bera- erfordert es dieses Thema, dass wir handeln. Ich frage tung; wir befinden uns in der Beschlussfassung – Hyste- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23719

Hans-Joachim Hacker (A) rie verbreitet. Wer verbreitet hier Hysterie, und wer will Sie beziehen sich immer auf Untersuchungen von eu- (C) abwiegeln? ropäischen und internationalen Stellen. (Torsten Staffeldt [FDP]: Das Gleiche machen (Torsten Staffeldt [FDP]: Sie beziehen sich lie- Sie jetzt wieder!) ber auf WDR-Journalisten! – Peter Wichtel [CDU/CSU]: Frühstücksfernsehen!) – Wir verbreiten keine Hysterie. Wir beziehen uns auf ganz klare Erkenntnisse der Experten und darauf, was Ich sage Ihnen: Sie sind ignorant, wenn Sie die Unter- die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung monatlich suchungsergebnisse der Bundesstelle für Flugunfallun- präsentiert. Lesen Sie doch einmal die Berichte der Bun- tersuchung nicht ernst nehmen. Ich könnte Ihnen jetzt desstelle. Monat für Monat die Beispiele aufzeigen. (Torsten Staffeldt [FDP]: Haben Sie die denn (Zuruf von der CDU/CSU: Ach, Sie haben gelesen?) doch Schräglage!) Dann werden Sie klüger. Sie brauchen nicht unbedingt Die Ergebnisse müssten Sie doch haben. Die müssten Ih- die Zeitungartikel zum Beispiel aus der Welt von gestern nen doch vorliegen. zu lesen, wobei das die Spitze der Unerträglichkeit war. Es gibt zum Beispiel eine Meldung vom 6. März 2012. Dabei geht es um einen Vorgang in Miami: starker Sie haben gesagt, Sie bräuchten keine Auswertung Ölgeruch im Cockpit, Kopfschmerzen, Herzrasen, Be- der Sachverständigenanhörung. Das sei Hysterie. Ich be- nommenheit bei den Piloten. Das ist ein Vor fall . ziehe mich auf die Aussagen von Cockpit, ich beziehe mich auf die Aussagen der Expertin Frau Dr. Michaelis, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Und was ha- die feststellte, ben Sie gemacht? Haben Sie eine Aktuelle Stunde beantragt? Haben Sie eine Frage an die (Torsten Staffeldt [FDP]: Atmen Sie einmal Bundesregierung gestellt? Was haben Sie ge- tief durch! Dann geht es wieder!) macht?) dass es eine wachsende Anzahl von Berichten der Bun- Ein zweiter Vorgang: Es war wieder eine Störung. Es desstelle für Flugunfalluntersuchung und anderer Stellen kam auch zu einer Rauchwarnung im Cockpit und im gibt, die deutlich zeigen, dass die Belastung mit konta- Bereich der Kabine. Das war am 12. März. minierter Kabinenluft eine Gefahr für die Sicherheit dar- stellt. Wer wollte das hier eigentlich infrage stellen? Das Am 16. März meldet die Bundesstelle für Flugunfall- kann doch keiner ernsthaft infrage stellen. untersuchung – dies ist eine deutsche Dienststelle, Herr Staffeldt; das war nicht in irgendeinem Land der Dritten (B) (D) Die Kollegin Anita Schäfer – ich komme noch einmal Welt – einen weiteren Vorfall: stark fauliger Geruch, auf die erste Beratung zurück – hat eingeräumt, dass es starke Kopfschmerzen, Unwohlsein in einer Boeing. ein Problem mit kontaminierter Kabinenluft gibt. Wenn man die Rede von Frau Schäfer noch einmal nachliest, (Torsten Staffeldt [FDP]: Ich kriege Kopf- dann spürt man in jeder Zeile das schlechte Gewissen, schmerzen von Ihrer Rede, Herr Hacker!) das Frau Schäfer hatte, als sie ihre Rede hielt. Sie räumte Dann gibt es einen Bericht vom 26. April. Ich will es zwar das Problem ein, war aber nicht bereit, einem Lö- nicht näher beschreiben. Start war in Moskau, und es sungsweg zuzustimmen, der in den beiden Anträgen auf- kam zu den gleichen Erscheinungsformen. Es gab einen gezeigt wird. Vorfall am 3. Juni und eine schwere Störung – zum Glück ohne Verletzte – (Otto Fricke [FDP]: Geht es noch eine Num- mer kleiner?) (Torsten Staffeldt [FDP]: Ich habe keine schwere Störung, aber Sie offensichtlich!) Selbst das hätten Sie nicht machen müssen. Denn Sie hätten einen Antrag mit einem ähnlichen Inhalt, mit ei- am 5. Mai 2012 in Palma de Mallorca. Bei den beiden nem Lösungsvorschlag einbringen und die Bundesregie- Piloten kam es zu heftiger Müdigkeit. In der Folge rung zum Handeln auffordern können. Das haben Sie wurde eine automatische Landung durchgeführt. nicht getan. Sie haben vertuscht. Ich frage Sie: Wie gehen Sie eigentlich mit dem (Torsten Staffeldt [FDP]: Was haben wir ver- Thema Sicherheit um? Wie gehen Sie mit dem Thema tuscht? – Peter Wichtel [CDU/CSU]: Das ist „Gesundheit und Leben von Passagieren und Besat- eine bodenlose Unverschämtheit!) zungsmitgliedern“ um? Sie haben das Problem herunterspielen wollen. Zum (Torsten Staffeldt [FDP]: Differenziert und Thema Kabinenluft sagt die FDP – Herr Staffeldt, hören sachlich! Anders als Sie, Herr Hacker!) Sie einmal zu –, Sie zeigen hier eine bodenlose Ignoranz. Das Nichthan- (Torsten Staffeldt [FDP]: Dann hören Sie auf, deln der Bundesregierung ist unerträglich. so dummes Zeug zu reden!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) bezogen auf die Sicherheit gebe es keinen Vorfall, der eine sofortige oder generelle Vorschriftenänderung Herr Mücke, zu dem jüngst vermeldeten Vorgang rechtfertige. – ich beziehe mich auf die Welt vom gestrigen Tage – hat 23720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Hans-Joachim Hacker (A) Ihr Haus mitgeteilt, man wisse von dem Vorfall nichts, (Beifall bei der SPD – Peter Wichtel [CDU/ (C) eine Abstimmung zwischen dem Bundesverkehrsminis- CSU]: Reine Panikmache!) terium und der BFU über die Veröffentlichung oder das Einleiten von Untersuchungen finde nicht statt. Hier Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wurde vorhin von Herrn Wichtel erzählt, da gebe es so Herr Kollege. eine tolle Kontaktreihe zwischen dem Bundesministe- rium und der BFU. Asche! Nichts ist da. Keine Kon- takte! Hans-Joachim Hacker (SPD): Ich hoffe, dass Sie aus der heutigen Debatte klüger (Peter Wichtel [CDU/CSU]: Ich habe gesagt, werden und endlich Aktivitäten zeigen. wer zuständig ist, wer was macht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schlafen der Bundesregierung! Tiefschlaf im Sommer DIE GRÜNEN – Peter Wichtel [CDU/CSU]: ist dort zu verzeichnen. Wahlkampf und Panikmache, mehr ist das (Peter Wichtel [CDU/CSU]: Es ist ein Pro- nicht! Typisch Hacker!) blem, wenn man nicht zuhören kann!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es wurde dann gefragt, ob das Ministerium das Thema kontaminierte Kabinenluft überhaupt verfolgen Der Kollege Torsten Staffeldt hat jetzt das Wort für würde. die FDP-Fraktion. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) breitet ihr denn für eine schlechte Luft?) Torsten Staffeldt (FDP): Da erklärt die Vertreterin des Bundesverkehrsministe- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! riums, das Thema kontaminierte Kabinenluft – ich zi- Meine Damen und Herren! Wenn wir hier über Kontami- tiere sinngemäß – würde nicht in ihrem Hause, sondern nation reden, kann man dem Kollegen Hacker nur zu- in den zuständigen europäischen und internationalen stimmen: Offensichtlich ist er kontaminiert und hat be- Gremien behandelt. reits den Tunnelblick. Gut, das können Sie auch machen. Aber nehmen Sie (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie erkennen doch erst einmal die Berichte der deutschen Stelle zur das Problem scheinbar gar nicht! – Florian Hand. Es ist unbestritten, dass wir hier eine extreme Ri- Pronold [SPD]: Herr Staffeldt, das ist dem sikosituation haben. Wenn Sie schon der Meinung sind, (B) Thema wirklich nicht angemessen! Da muss (D) Sie können den beiden Anträgen der Opposition nicht jetzt eine Entschuldigung fällig sein! Was sind zustimmen, dann nehmen Sie das Problem selbst in die denn Sie für ein Schwachmat da vorne? – Ge- Hand. Es ist ein Problem, das seit Jahren bekannt ist, und genruf des Abg. Hans-Michael Goldmann Sie schwitzen jahrelang, ohne dass irgendetwas dabei [FDP]: Das war doch flegelhaft, was Ihr Kol- herauskommt. lege vorgetragen hat!) (Reinhold Sendker [CDU/CSU]: Dann schla- Meine Damen und Herren, ich möchte versuchen, von gen Sie uns doch mal eine Lösung vor!) der reinen Polemik, die wir eben gehört haben, ein wenig Ich spreche dabei, Herr Mücke, auch ganz konkret den wegzukommen und zu dem eigentlichen Thema zurück- Bundesverkehrsminister an. zukommen. Wir haben zwei unterschiedliche Themen. Zum einen haben wir seit gestern den Bericht der Bun- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: desstelle für Flugunfalluntersuchung vorliegen, seltsa- merweise erst seit gestern. Herr Kollege. (Hans-Michael Goldmann [FDP], an den Abg. Hans-Joachim Hacker (SPD): Florian Pronold [SPD] gewandt: Da brauchen Bundesverkehrsminister Dr. Ramsauer ist der Haupt- Sie auch nicht zu grinsen!) verantwortliche für Sicherheitsfragen im Luftverkehr. Er Dort wird über eine Problematik berichtet – den Bericht ist nicht nur zuständig – habe ich im Übrigen gelesen, lieber Kollege Hacker –, die nach all dem, was ich gelesen habe, mit dem, was Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: in Ihrem Antrag angesprochen haben, überhaupt nichts Herr Kollege. zu tun hat. Dort geht es nicht um eine Kontamination – in diesem Fall nicht der Kabinenluft, sondern der Cockpitluft – durch Ölrückstände von den Turbinen, Hans-Joachim Hacker (SPD): sondern es geht um die Problematik, dass offenbar Ent- – ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin – für eisungsflüssigkeit in den Luftkreislauf gelangt ist und Kfz-Ortskennzeichen und ähnliche Späße, sondern er ist diese Enteisungsflüssigkeit ausschließlich bei der Cock- der Verantwortliche für Luftverkehrssicherheit. Das, was pitbesatzung zu Problemen geführt hat. Sie in den letzten Jahren geliefert haben, ist ein schwerer Verstoß gegen die Wahrnehmung von Pflichten der Bun- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist doch desregierung in diesem Bereich. eine Schutzbehauptung!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23721

Torsten Staffeldt (A) Ich habe noch vorhin mit Airbus und anderen telefo- brauchen, können wir am ehesten lösen, indem wir die (C) niert, um mich dazu ein bisschen schlauzumachen. Es Luft dort anzapfen, wo die Zuverlässigkeit mindestens gibt die Vermutung, dass diese Enteisungsflüssigkeit so- genauso hoch ist, nämlich bei der Turbine. zusagen in Pfützen liegen geblieben ist und ausschließ- Sie haben sich offensichtlich über die Luftmengen lich in den Cockpitbereich gelangt ist, was zu den be- keine Gedanken gemacht. Dort wird – das steht im Pro- kannten Problemen geführt hat. Übrigens hat sich tokoll des Tourismusausschusses – etwa 1 Kubikmeter Germanwings dazu auch erklärt. Luft pro Sekunde – das muss man sich einmal überlegen (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie verniedli- – durch die Kabine gejagt. Das heißt, wenn es dort – was chen schon wieder!) leider vorkommt – zu sogenannten Fume Events kommt, das heißt, wenn gelegentlich eine Dichtung defekt ist Die Aufklärung über das Thema, das heißt der ganze oder bei einem Lastwechsel etwas Öl mitgerissen wird, Prozess, ist völlig transparent. Dass man gerade jetzt dann kommt es zu einer extrem starken Verdünnung. Zu versucht, das Ganze wieder aufzuhängen, diesem Thema möchte ich Professor Dr. Jürgen Bünger (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Eineinhalb aus dem Protokoll des Ausschusses zitieren. Er sagt: Bei Jahre ist der Vorgang alt!) all diesen Konzentrationen muss man aus toxikologisch- medizinischer Sicht sagen: Dies ist sicher nicht die Ursa- zeigt eigentlich nur, wie gut sich die Opposition mit eini- che für die Gesundheitsbeschwerden. – Das sagt ein Pro- gen speziellen Medien, die auf diesem Gebiet einen fessor. Kreuzzug betreiben – so möchte ich fast sagen –, ausei- nandersetzt und wie kampagnenfähig sie ist. In diesem (Markus Tressel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fall muss ich anerkennend sagen: Da machen Sie eine NEN]: Es gibt auch andere Meinungen!) gute Kampagne. Aber in der Sache ist das leider völlig Herr Kollege Hacker, Sie haben darauf hingewiesen, daneben. dass alle Experten gesagt hätten, dass es ein Problem Der Vorfall bei Germanwings im Zusammenhang mit gibt. Hier haben wir aber den ersten Experten, der sagt, der Enteisungsflüssigkeit hat mit dem, was in den Anträ- dass das nicht das Problem sei. gen steht, nichts zu tun. Deswegen sollten Sie diesen (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Warum ist denn Vorfall auch nicht als Aufhänger nutzen. der Pilot ein halbes Jahr krankgeschrieben (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Enteisung ist worden?) doch gar nicht belegt!) Kommen wir zu dem, was wir im Moment in den Me- Die grundsätzliche Problematik, wenn man sich damit dien erleben. Dort zeigt sich Alarmismus und Hysterie. (B) einmal beschäftigt, liegt darin, dass wir bei den Ver- Insofern gilt das, was ich in meiner ersten Rede gesagt (D) kehrsflugzeugen ein Drucksystem, eine Druckkabine ha- habe, auch in diesem Fall. Ich erinnere an den BFU-Be- ben. Sie erinnern sich, ich bin auch Pilot, ich kenne mich richt von gestern und die heutige Berichterstattung. Die also auch von der fachlichen Seite ein bisschen aus. Ge- Opposition betätigt sich wieder einmal als Brandstifter rade bei den großen Verkehrsflugzeugen haben wir in (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Unglaublich!) den entsprechenden Höhen einen Außendruck, der ein Überleben gar nicht zulassen würde. Aus diesem Grund und versucht, die Bundesregierung und den Staatssekre- brauchen wir ein Überdrucksystem. tär Mücke völlig unzulässigerweise anzugreifen. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Keine neue Er- Der Kollege Wichtel hat dazu alles Notwendige ge- kenntnis!) sagt, nämlich dass wir über die EASA, über die FAA und über die ICAO die entsprechende Mechanismen haben. Da dieses Überdrucksystem zuverlässig sein muss, wird Natürlich ist es so, lieber Kollege Hacker – das gilt auch die Luft als sogenannte Zapfluft aus den Turbinen gene- für alle anderen –, dass es bei technischen Systemen im- riert. Denn wenn es in der Druckkabine keine Luft gäbe, mer Restrisiken gibt. Das wissen wir. Das ist der Preis, würden die Menschen dort sterben. In diesen Höhen be- den wir für Fortschritt und Wohlstand zu zahlen haben. steht ein Außendruck von 200 Millibar, das würde kein Mensch überleben. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Steht in unse- rem Antrag!) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist alles unstreitig!) Die Anzahl der Problematiken, die wir haben, ist so gering und auch die Kontamination ist so gering, dass – Das ist unstreitig, danke. Das freut mich. man davon ausgehen kann, dass es keine größeren Pro- Es ist sicherlich auch unstreitig – hier geben Sie mir bleme gibt. Die Anzahl der Vorfälle liegt unterhalb der sicherlich auch recht –, Wahrnehmungsgrenze. Da wir schon beim Thema Wahr- nehmung sind: Wahrnehmungsprobleme haben offen- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie reden an sichtlich auch Sie und versuchen, daraus ein Problem zu der Sache vorbei!) generieren, das in dieser Form gar nicht vorhanden ist. Aus diesem Grunde werden wir Ihrem Antrag auch nicht dass diese Zuverlässigkeit extrem wichtig ist. Die Zuver- stattgeben. Das können Sie sich denken. lässigkeit bei einer Turbine ist mindestens genauso hoch. Die Sicherheitsproblematik im Hinblick auf die Zapfluft Ich möchte nichtsdestotrotz darauf hinweisen, dass oder die Außenluft, auf die Luft, die wir in der Kabine die Luftfahrtindustrie natürlich daran arbeiten muss, an- 23722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Torsten Staffeldt (A) dere Systeme zu entwickeln. Wenn es dort ein Restrisiko Alternativen gibt es heute zwei Flugzeugmotorentypen, (C) gibt, sollte man generell überlegen, ob man es nicht aus- entwickelt von den Firmen Rolls Royce und General schalten und mit anderen Systemen arbeiten kann. Ich Electric. Das von Boeing hergestellte Flugzeug B787, bin mir sicher, dass die Luftfahrtindustrie daran intensiv auch Dreamliner genannt, ist der weltweit einzige Flug- arbeitet. zeugtyp in dieser Größenordnung, der mit alternativen Triebwerken ausgestattet ist. Hierbei wird auf das Zapf- Ein Abschlusssatz, liebe Frau Präsidentin, weil meine luftsystem verzichtet und die Kabinenluft separat ange- Redezeit abgelaufen ist: Wer glaubt, dass beim Fliegen saugt. jedes Unwohlsein aufgrund der Kabinenluft entsteht, der glaubt auch, dass das Problem verschwindet, wenn man Interessant daran ist, dass dieser Motor ursprünglich beim Flug das Fenster öffnet. für den Airbus A350 entwickelt wurde. Dieser Flug- zeughersteller – der zweitgrößte weltweit – verfolgte Vielen Dank. diese Entwicklung aber nicht weiter und verlor das Inte- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- resse daran. Stattdessen fliegt Airbus weiterhin mit den rufe von der SPD und der LINKEN: Oje!) umstrittenen Turboprop-Maschinen, also mit Motoren, bei denen für die Klimaanlage Zapfluft verwendet wird. Hier können, wie bereits geschildert, giftige Öldämpfe in Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die Kabine gelangen. Herr Kollege Staffeldt, ich will Sie gerne darauf hin- weisen, dass ich der Überzeugung bin, dass der Vorwurf Fest steht, dass die aufgetretenen Gesundheitsgefähr- an einen Kollegen, dass er wohl kontaminiert sei, jen- dungen von Passagieren, Flugbegleitern und Piloten seits der sachlichen Auseinandersetzung zu sein scheint. durch das Einatmen giftiger Gase offenbar auch aus Gründen der Kostenersparnis billigend in Kauf genom- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was ist mit men wird. dem Zuruf: „Schwachmat!“?) Spätestens seit der besagten Expertenanhörung und Ich gebe das Wort dem Kollegen für den beiden Anträgen von Grünen und SPD hat die Bun- die Fraktion Die Linke. desregierung nun Kenntnis davon. Es liegt an ihr und an (Beifall bei der LINKEN) den beiden Koalitionsfraktionen, der weiteren Gefähr- dung der Gesundheit und der Flugsicherheit entgegenzu- wirken. Thomas Lutze (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ (B) Wir diskutieren heute ein Problem, das weltweit fast je- DIE GRÜNEN) (D) den Tag Millionen Menschen betrifft. Es ist ein Problem sowohl der Sicherheit als auch des Verbraucherschutzes. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, darauf hinzuwirken, dass die Flugzeugindustrie für alle zukünf- Vor einem Jahr – das ist bereits gesagt worden – hat tig zu entwickelnden Flugzeugtypen alternative und un- sich der Tourismusausschuss in einer öffentlichen Ex- bedenkliche Technologien verwendet. Bis dieser Prozess pertenanhörung mit dem Thema kontaminierter, also abgeschlossen – das wird Jahrzehnte dauern – und Reali- verunreinigter, Kabinenluft auseinandergesetzt, und tät am Luftfahrthimmel ist, müssen schnellstmöglich ge- zwar sehr umfangreich. Seitdem hat es wieder mindes- eignete Filteranlagen entwickelt und eingebaut werden. tens ein Dutzend bekannte Störfälle mit kontaminierter Flugsicherheit und Gesundheit dürfen keine Kostenfrage Kabinenluft gegeben. Damit verbunden waren Krank- sein. heitsfälle von Piloten und Passagieren. Ich sage ganz deutlich: Glücklicherweise ist dieses Thema in den letz- Herr Hacker, Herr Tressel, wir werden Ihren Anträgen ten Tagen wieder von den Medien aufgegriffen worden. zustimmen. Dass sich eines der betroffenen Ministerien mit dieser Vielen Dank. Thematik auseinandergesetzt hat, mit Experten gespro- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. chen oder Forschungsaufträge vergeben hat, war bisher Hans-Joachim Hacker [SPD] und Markus nicht bekannt. Die Regierung arbeitet offensichtlich Tressel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nach dem Prinzip: abwarten und aussitzen. Solange Sie von dritter Seite nicht zum Handeln gezwungen werden, passiert offenbar nichts. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Markus Tressel hat das Wort für Bünd- Das aerotoxische Syndrom, verursacht durch das nis 90/Die Grünen. hochgefährliche Nervengift TCP im Motoröl und die Ansaugung der Kabinenluft über die Motoren, ist seit Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Anfang der 50er-Jahre bekannt. Das gefährliche Zapf- luftsystem ist beim Flugzeugturbinenbau weit verbreitet. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen Hintergrund war und ist die möglichst hohe Kostener- von der Union und von der FDP, was haben Sie eigent- sparnis beim Flugzeugbau. lich gegen mehr Gesundheitsschutz und gegen mehr Arbeitsschutz für die Beschäftigten unserer Fluggesell- Dabei standen von Anfang an Alternativen zur Verfü- schaften? Warum machen Sie sich hier über die Be- gung. Auch daran hat sich bis heute nichts geändert. Als troffenen lustig? Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23723

Markus Tressel (A) In meinem Büro sind in den letzten Wochen und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) Monaten Hunderte von Anrufen eingegangen. Ich weiß Herr Tressel? – das haben Sie in der ersten Lesung auch schon gemacht –, dass Sie den Leuten vorgeworfen haben, sie seien psy- Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chisch irgendwie beeinträchtigt, aber nicht aufgrund kontaminierter Kabinenluft erkrankt. Ja, bitte?

Wir haben gestern den Bericht von der BFU bekom- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: men. Das ist kein Bericht, den die Grünen oder die SPD Die Zwischenfrage von Herrn Staffeldt möchten Sie verfasst haben, sondern der kommt von der Bundesstelle zulassen? – Bitte schön. für Flugunfalluntersuchungen. Wenn Sie uns einen gro- ßen Einfluss auf diese Stelle zubilligen, dann freue ich mich darüber, aber das ist doch nicht realistisch. Torsten Staffeldt (FDP): Liebe Kollegin Mortler, ich will jetzt nicht darauf ein- Herr Staffeldt, Sie haben sich hier explizit über die gehen – – Betroffenen lustig gemacht.

(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht, was Sie hier sagen!) Die Kollegin Mortler sitzt da drüben, ich bin der Kol- – Natürlich hat er sich lustig gemacht. Das ist doch der lege Tressel. Sache überhaupt nicht zuträglich. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Kontaminiert!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Torsten Staffeldt (FDP): KEN – Torsten Staffeldt [FDP]: Unverschämt- Entschuldigung, Herr Tressel. – Ich will jetzt nicht heit, was Sie da machen!) darauf eingehen, was Sie in Bezug auf „lustig machen“ Es gibt einen Fall, bei dem ein Kopilot flugdienstun- gesagt haben. Ich möchte auf das eigentliche Thema ein- tauglich wurde. gehen. (Torsten Staffeldt [FDP]: Über den habe ich mich Sowohl der Antrag der Grünen als auch der Antrag lustig gemacht?) der SPD beziehen sich auf Ölrückstände. Sie haben den BFU-Bericht zitiert. Ich möchte Sie darauf hinweisen, Wenn Sie sich den Bericht des Kapitäns anschauen, dann dass das BFU zu dem Ergebnis gekommen ist, dass das (B) sehen Sie, dass sogar der Kapitän selbst gesagt hat, er Ölproblem nichts damit zu tun hat. Im Bericht des BFU (D) halte es für unwahrscheinlich, dass dies auf das Entei- steht: sungsmittel zurückzuführen sei. Nach der Landung wurde das Flugzeug von der (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Richtig!) Technik des Luftfahrtunternehmens überprüft. Das hat doch nichts mit verbrannten Brötchen zu tun, Nach Angaben der Techniker war der außerge- Herr Wichtel, sondern das hat mit von vielen Organisa- wöhnliche Geruch noch 15 Minuten nach dem Ab- tionen festgestellten Beeinträchtigungen zu tun. Das nor- stellen des Flugzeuges und bei geöffneten Cockpit- wegische Staatsinstitut für Arbeitsumwelt hat festge- Fenstern deutlich wahrnehmbar. Er wurde als mit stellt, dass damit auch im Normalbetrieb neurotoxische hoher Wahrscheinlichkeit von Enteisungsflüssigkeit Stoffe in die Kabinenluft gelangen können. Dieses Insti- stammend befunden, Öl-, Treibstoff- oder elektri- tut ist doch keine Organisation der Grünen. Es gibt eine scher Geruch wurde von den Technikern definitiv Gesundheitsgefahr für Crew und Passagiere. Deshalb ausgeschlossen. gibt es auch ein ernstzunehmendes Risiko für die Flugsi- Lieber Kollege Tressel – jetzt habe ich mir Ihren Namen cherheit. Das haben wir bei diesem Fall explizit gesehen. auch gemerkt –, wie stehen Sie dazu? Was hat das mit Wir haben auch gesehen: Es ist beileibe kein Einzel- Ihrem Antrag zu tun? fall, über den wir hier sprechen. Alleine 67 Fälle im Zu- sammenhang mit Öldämpfen sind in den vergangenen Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): drei Jahren amtlich erfasst worden. Davon wurden 9 als Ich habe das vorhin bereits ausgeführt, lieber Herr schwere Störungen klassifiziert, bei denen Crewmitglie- Kollege Staffeldt. Der Kapitän dieses Fluges hat in sei- der ausgefallen sind oder Piloten Sauerstoffmasken zie- nem Bericht, der diesem Bericht zugrunde liegt und der hen mussten. Das sind nur die amtlich erfassten Fälle. mir auch vorliegt, ausdrücklich gesagt, er schließt Entei- Die Vereinigung Cockpit – auch nicht im Verdacht, den sungsmittel als Ursache dafür aus. Warten wir einmal ab, Grünen besonders nahe zu stehen – was letztendlich im Bericht stehen wird. (Thomas Lutze [DIE LINKE]: Uns auch Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen – offenbar nicht!) haben Sie unseren Antrag nicht richtig gelesen –: Wir beziehen uns eben nicht nur auf Öldämpfe, sondern auch hat auf einer Fachtagung des Umweltbundesamtes im auf andere Stoffe. Mai von 360 registrierten Fume Events alleine bei einer Airline gesprochen. (Otto Fricke [FDP]: Also gab es da jetzt Öl?) 23724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Markus Tressel (A) Der Tagesordnungspunkt heißt „Kontaminierte Kabinen- Sicht nichts dagegen, diesen Weg konsequent zu be- (C) luft in Flugzeugen unterbinden“, und Kontamination schreiten. kann schließlich auch durch andere Gefahrenstoffe ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen. Wir werden sehen, was die BFU letztendlich her- und bei der LINKEN sowie des Abg. Hans- ausfindet. Ich kann es nur nochmals sagen: Der Kapitän Joachim Hacker [SPD]) dieses Flugzeuges, ein erfahrener Kapitän, auch auf die- sem Flugzeugmuster, hat ausgeschlossen, dass es sich Wir brauchen einen klaren Rechtsrahmen und durch- um Enteisungsmittel handeln kann. Zudem stellt sich setzungsfähige Behörden, die dafür sorgen, dass die Re- auch die Frage, wieso das Enteisungsmittel bei ausge- geln eingehalten werden. Dass dies bisher offenbar nicht schalteter Klimaanlage – wie Sie dem Bericht auch ent- der Fall war, zeigt, dass bisher noch kein Bußgeld ver- nehmen können – erst am Ende des Fluges in das Flug- hängt wurde, dass die Behörden bei den Airlines anrufen zeug gelangt ist und nicht bereits beim Start des mussten, um herauszufinden, ob es einen Zwischenfall Flugzeuges. gab. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ich sage Ihnen: Sie nehmen die Sorgen und Nöte der bei der SPD und der LINKEN) Betroffenen nicht ernst, und Sie nehmen auch die be- gründete Besorgnis bezüglich der Sicherheit des Luft- Ich habe es vorhin bereits gesagt: Die Vereinigung verkehrs nicht ernst. Ich hoffe, dass Sie noch zur Besin- Cockpit hat auf einer Fachtagung des Umweltbundesam- nung kommen und unserem Antrag zustimmen werden, tes im Mai von 360 registrierten Fume Events allein bei damit wir endlich einen ordentlichen Weg beschreiten einer Airline gesprochen. Bei einer anderen Airline gab können, um dieses Problem zu lösen. es 60 Vorfälle. Vielen Dank. Herr Wichtel, Sie sind vorhin auf die Meldepflicht eingegangen. Ich habe eine parlamentarische Anfrage an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Bundesregierung gestellt. In der Antwort wurde mir und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten bestätigt, dass ein Vorfall zum Beispiel erst auf Nach- der SPD) frage der Behörde gemeldet wurde. Wo kommen wir denn da hin, wenn Behörden jetzt schon nachfragen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: müssen, ob es in den Flugunternehmen einen Vorfall Jetzt hat Marlene Mortler das Wort für die Fraktion gab? Das ist ein etwas seltsames Verständnis. der CDU/CSU. Die FAA – die Bundesluftfahrtbehörde der USA – hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) eingeräumt, dass die Belastung mit Öldämpfen die (D) Cockpitbesatzung und die Flugsicherheit beeinträchtigen Marlene Mortler (CDU/CSU): und somit zu einer unsicheren Betriebslage führen kann, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und während das Luftfahrt-Bundesamt und die EASA so tun, Kollegen! Wer den Kollegen von der Opposition auf- als ginge sie das alles nichts an. Das sage ich in aller merksam zugehört hat – das habe ich –, könnte glauben, Deutlichkeit. Es ist jetzt an der Zeit, endlich zu handeln. dass man das Fliegen sofort einstellen muss bzw. wenn, dann nur noch mit dem Dreamliner fliegen sollte. Wir haben in unserem Antrag einen praktikablen Vor- schlag gemacht, der niemanden überfordert. Wir be- (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schreiben darin einen Weg, wie wir uns diesem Problem DIE GRÜNEN: Oh!) verantwortlich nähern können. Es geht doch nicht da- Ich will die Sache nicht verharmlosen, sondern ganz klar rum, die Airlines in irgendeiner Weise an den Pranger zu sagen: Gesundheit und Sicherheit im Bereich Flugver- stellen, kehr sind uns allen wichtig, ebenso wichtig wie den Da- (Peter Wichtel [CDU/CSU]: Das hat man im men und Herren von der Opposition. Frühstücksfernsehen heute Morgen gemerkt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wie immer behauptet wird, sondern es geht um den neten der FDP) Schutz der Reisenden, um die Flugsicherheit und damit Wer als Unbedarfter die Schlagzeilen heute Morgen auch um die Geschäftsgrundlage der Airlines. gelesen hat – Germanwings vertuschte Beinahe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN absturz –, war zunächst erschrocken. Ich auch. Ich sowie bei Abgeordneten der SPD – Peter dachte: Ein neuer Fall. Dieser „neue“ Fall – ich sage das Wichtel [CDU/CSU]: Rufmord, was Sie da ge- in Anführungszeichen –, über den wir hier reden, geht macht haben!) auf das Jahr 2010 zurück. Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal klarstellen. Wir brauchen endlich neurotoxisch unbedenkliche (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Umso Jet-Öle. Ich weiß nicht, was aus Ihrer Sicht dagegen schlimmer!) spricht, das so zu machen. Wir brauchen effektive Warn- anlagen. Ich verstehe nicht, was dagegen spricht, diese Über diesen Fall ist in unserer Anhörung am 21. Septem- einzubauen. Wir brauchen effektive Zapfluftfiltersys- ber 2010 diskutiert worden, Kollege Hacker. Das wurde teme, damit die schlimmsten Stoffe gar nicht erst in die protokolliert. Ich zitiere: Ein Airbus der Germanwings Kabine gelangen können. Auch hier spricht aus meiner entging knapp einer Katastrophe während der Landung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23725

Marlene Mortler (A) in Köln/Bonn, nachdem Öldämpfe in das Cockpit ein- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) drangen. – Das heißt: Das ist nichts Neues. Frau Kollegin, Herr Tressel möchte Ihnen eine Zwi- schenfrage stellen oder eine Zwischenbemerkung ma- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen. NEN]: Aber es ist auch nicht harmlos!) Nun fragt man sich natürlich: Ist es reiner Zufall, dass Marlene Mortler (CDU/CSU): das Ganze ausgerechnet heute, mit dieser Debatte hoch- Jetzt nicht mehr. Wir wollen ja alle fertig werden. gezogen wird? (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Nein! Wir wollen (Markus Tressel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hier diskutieren!) NEN]: BFU fragen! – Gegenruf des Abg. Peter Wichtel [CDU/CSU]: Das ist Klamauk! – Ge- Das würde ja auch keine neuen Erkenntnisse bringen. genruf des Abg. Markus Tressel [BÜND- Ich sage es noch einmal: Wir brauchen eine seriöse NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Kla- und objektive Aufklärung und keine Panikmache. mauk!) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wir brauchen Ich sage es noch einmal: An Sicherheit und Gesundheit eine informierte Bundesregierung!) am Boden und in der Luft wollen wir nicht rütteln. Auch der Verkehrsausschuss, der diesbezüglich feder- Herr Kollege Tressel, Sie haben einen Punkt heraus- führend ist, hat sich mit dem Thema beschäftigt. Ich gegriffen und gesagt: Ich bin dafür, dass es neue, bessere habe unsere Anhörung zu diesem Thema erwähnt. Ich Jet-Öle gibt. denke auch an die Anfragen, die an die Bundesregierung gestellt worden sind, und die Antworten darauf. Auch (Markus Tressel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hier erkennt man einen roten Faden: Ja!) (Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich erinnere mich an die Frage, die ich in der Anhörung Man macht nichts! Genau!) gestellt habe. Sie haben nämlich im Vorfeld für ein Öl geworben, das weder untersucht noch zertifiziert ist. Da- Man nimmt das Thema ernst, aber man kann nicht auf mit haben Sie einfach einmal einen Versuchsballon stei- Basis von Spekulationen antworten. gen lassen. Ich glaube, jetzt ist nahezu alles gesagt. Daher darf ich deshalb abschließend an die Verantwortlichen appel- (Abg. Markus Tressel [BÜNDNIS 90/DIE lieren – das sage ich ganz ernsthaft –: (B) GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- (D) frage) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: An die Bundesre- gierung appellieren! Herr Mücke!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wenn es Fälle gibt – wir haben vom Kollegen Wichtel Möchten Sie die Zwischenfrage zulassen? gehört, dass es ein gesetzlich verankertes Meldeverfah- ren gibt –, dann müssen diese nicht nur gemeldet wer- den, sondern auch anstandslos verfolgt werden. Marlene Mortler (CDU/CSU): Ich finde, wir müssen bei diesem Thema ernst blei- Noch eines, weil hier immer wieder die Vereinigung ben. Cockpit zitiert wird, die ich für ihre Arbeit sehr schätze: Auch ich bin Vielflieger. Ich habe mit unzähligen Ste- (Markus Tressel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wardessen, mit Flugbegleitpersonal, aber auch mit Pilo- Unmöglich!) ten gesprochen, auch in meiner Verwandtschaft, und die haben mir von ähnlichen Fällen nicht berichtet. Ich Wir müssen die wenigen Fälle, die es gibt, weiterhin denke, man muss die Kirche im Dorf lassen. Wir haben ernst nehmen, aber wir dürfen nicht so tun, als ob Luft- es in Deutschland – ich kenne die genaue Zahl nicht – fahrt-Bundesamt, die Bundesstelle für Flugunfallunter- mit Millionen von Flugbewegungen zu tun. Trotzdem suchungen und die internationalen Behörden am Punkt glaube ich, ist die Branche selber – sie ist für mich eine null stünden. Zukunftsbranche – gefordert, alles zu tun, um ihre Ma- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Die Bundesregie- schinen mithilfe der Produzenten nach neuester Technik rung steht am Punkt null!) und nach neuesten Möglichkeiten auszustatten, um zu- kunftsfähig zu bleiben. Ich glaube, so viel können wir sagen: Die Behörden ar- In diesem Sinne bedanke ich mich ganz herzlich. Sehr beiten, egal auf welcher Ebene sie angesiedelt sind. Der geehrte Frau Präsidentin, ich habe meine Redezeit heute Zwischenbericht der BFU von heute ist wichtig für un- etwas besser eingehalten als sonst. sere weitere Arbeit. Dies ist aber nur ein Zwischenbe- richt. Ich denke, wir müssen fair sein und den Ab- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie wollten mit schlussbericht abwarten. Diesen müssen wir dann uns ja nicht diskutieren!) auswerten. Ich bin für den heutigen Tag die letzte Rednerin. Ich darf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wunderschö- 23726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

Marlene Mortler (A) nes Wochenende wünschen. Das nächste Mal streiten Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- (C) wir uns dann wieder. lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen auf Drucksache 17/7480 mit dem Titel „Kontami- Danke. nierte Kabinenluft in Flugzeugen unterbinden“. Wer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- Joachim Hacker [SPD]: Guten Flug!) men? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfeh- lung bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen ange- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nommen. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben Ich schließe die Aussprache. dagegen gestimmt. Die Fraktion der SPD hat sich enthal- ten. Ich lege Wert darauf, dass wir noch über die Be- schlussempfehlungen des Ausschusses für Verkehr, Bau Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord- und Stadtentwicklung abstimmen. nung. Ich empfehle Ihnen, den restlichen Tag, das Wo- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner chenende sowie die gewonnenen Einsichten zu genie- Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9451, den An- ßen. trag der SPD auf Drucksache 17/7611 mit dem Titel Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- „Flugzeugbesatzungen und Reisende vor kontaminierter destages auf Mittwoch, den 17. Oktober 2012, 13 Uhr, Kabinenluft schützen“ abzulehnen. Wer stimmt für die ein. Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit bei Zu- Die Sitzung ist geschlossen. stimmung der Koalitionsfraktionen und Ablehnung der Oppositionsfraktionen angenommen. (Schluss: 15.17 Uhr)

(B) (D) Anlagen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23727

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Aigner, Ilse CDU/CSU 28.09.2012 Schmidt (Eisleben), SPD 28.09.2012 Silvia Alpers, Agnes DIE LINKE 28.09.2012 Seif, Detlef CDU/CSU 28.09.2012 Bär, Dorothee CDU/CSU 28.09.2012 Simmling, Werner FDP 28.09.2012 Behrens, Herbert DIE LINKE 28.09.2012 Dr. Stinner, Rainer FDP 28.09.2012 Burchardt, Ulla SPD 28.09.2012 Vogler, Kathrin DIE LINKE 28.09.2012 Burkert, Martin SPD 28.09.2012 Walter-Rosenheimer, BÜNDNIS 90/ 28.09.2012 Drobinski-Weiß, Elvira SPD 28.09.2012 Beate DIE GRÜNEN

Funk, Alexander CDU/CSU 28.09.2012 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 28.09.2012

Gabriel, Sigmar SPD 28.09.2012 Dr. Westerwelle, Guido FDP 28.09.2012

Götz, Peter CDU/CSU 28.09.2012 Dr. Zimmer, Matthias CDU/CSU 28.09.2012 Granold, Ute CDU/CSU 28.09.2012 Anlage 2 (B) Kolbe, Daniela SPD 28.09.2012 (D) Antwort Korte, Jan DIE LINKE 28.09.2012 der Parl. Staatssekretärin auf die Frage Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ 28.09.2012 des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN GRÜNEN) (Drucksache 17/10736, Frage 14): Wann begann aus Sicht der Bundesregierung die Energie- Kumpf, Ute SPD 28.09.2012 wende – mit der Bitte um Nennung eines Datums oder einer politischen Entscheidung –, und hält die Bundesregierung an Kurth (Quedlinburg), BÜNDNIS 90/ 28.09.2012 der Größenordnung ihrer Zielvorstellung, den Anteil der erneu- Undine DIE GRÜNEN erbaren Energien im Stromsektor bis 2020 auf 40 Prozent aus- zubauen, fest, welche von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel Dr. Lauterbach, Karl SPD 28.09.2012 in einem Interview mit der Zeit vom 12. Mai 2011 (vergleiche www.bundesregierung.de/Content/DE/Interview/2011/05/ 2011-05-12-merkel-zeit.html) genannt und in der Antwort auf Mast, Katja SPD 28.09.2012 meine schriftliche Frage 79 auf Bundestagsdrucksache 17/5990 von der Bundesregierung bestätigt wurde? Dr. Murmann, Philipp CDU/CSU 28.09.2012 Im Herbst 2010 hat die Bundesregierung mit ihrem Nink, Manfred SPD 28.09.2012 Energiekonzept ein langfristiges, auf vier Jahrzehnte an- gelegtes Gesamtkonzept für die neue Art der Energiever- Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/ 28.09.2012 sorgung vorgelegt. Zentrale Elemente der Energiepolitik DIE GRÜNEN der Bundesregierung sind der dynamische Ausbau der erneuerbaren Energien und die ambitionierte Steigerung Ploetz, Yvonne DIE LINKE 28.09.2012 der Energieeffizienz. Mit den Beschlüssen vom Sommer 2011 hat die Bundesregierung die Grundlagen geschaf- Remmers, Ingrid DIE LINKE 28.09.2012 fen, um die schon zuvor auf den Weg gebrachte Energie- wende beschleunigt umzusetzen. Schaaf, Anton SPD 28.09.2012 Ziele für die künftigen Anteile erneuerbarer Energien Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 28.09.2012 an der Stromversorgung in Deutschland sind im Energie- DIE GRÜNEN konzept der Bundesregierung dargelegt. Die genannte Zahl für das Jahr 2020 entspricht damals wie heute der Schlecht, Michael DIE LINKE 28.09.2012 Größenordnung des dort beschriebenen Ziels. 23728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

(A) Anlage 3 Die Offenlegung des Rabatts hierzulande wird vo- (C) raussichtlich durch Preisreferenzierung zu einer Amtliche Mitteilungen Preiserosion in anderen Ländern führen. Dies Der Bundesrat hat in seiner 900. Sitzung am 21. Sep- könnte nicht beabsichtigte, wirtschaftlich nachtei- tember 2012 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen lige Effekte für pharmazeutische Unternehmer in zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- den Referenzpreisländern zur Folge haben und für satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: Patientinnen und Patienten hierzulande bedeuten, dass sie wichtige Innovationen nicht erhalten. – Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittelrecht- licher und anderer Vorschriften Im Sinne eines lernenden Systems sollte die Ent- wicklung beobachtet und evaluiert werden, um Der Bundesrat hat ferner folgende Entschließungen gegebenenfalls die Regelungen über die Verein- gefasst: barungen zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und pharmazeutischen Unter- 1. Der Bundesrat befürchtet, dass die Offenlegung nehmern über Erstattungsbeträge für Arzneimittel von Rabatten auf den Abgabepreis des pharmazeu- nachbessern zu können. tischen Unternehmers hierzulande zu einer Preis- erosion in anderen Ländern, die im Rahmen ihrer 2. Der Bundesrat befürchtet, dass die Umsetzung der Preisbildung auf den offiziellen deutschen Arznei- Richtlinie 2011/62/EU durch Artikel 1 Nummer 57 mittelpreis referenzieren, führen könnte. Ein nied- (§ 72a Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und 2, Absatz 1a riger veröffentlichter Erstattungsbetrag könnte so- Nummer 4, 6, 7 und 8 AMG) in Verbindung mit mit finanzielle Belastungen der Pharmaindustrie Artikel 15 Absatz 5 (Inkrafttreten) des Zweiten im Ausland zur Folge haben und damit auch die Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und Preisverhandlungen in Deutschland belasten. anderer Vorschriften ab dem 2. Juli 2013 dazu Pharmaunternehmen könnten sich zudem gezwun- führt, dass pharmazeutische Wirkstoffe aus Län- gen sehen, auf eine Ausbietung im deutschen dern außerhalb der EU nicht mehr eingeführt wer- Markt zu verzichten, um negative wirtschaftliche den können, weil die nach der Neufassung des § Auswirkungen auf das Auslandsgeschäft zu ver- 72a AMG erforderlichen Bestätigungen der zu- meiden, so dass Patientinnen und Patienten unter ständigen Behörden der Drittländer nicht bei der Umständen bestimmte Therapieoptionen nicht zur Einfuhr vorgelegt werden können. Verfügung stehen werden. Ein erstes Beispiel für Deshalb fordert der Bundesrat die Bundesregie- ein derartiges Verhalten ist bereits in der Indikation rung auf, unmittelbar nach Verkündung des Zwei- Epilepsie bekannt geworden. ten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtli- (B) Deshalb bittet der Bundesrat die Bundesregie- cher und anderer Vorschriften an die Kommission (D) rung, 24 Monate nach Inkrafttreten des Zweiten heranzutreten und sich dringlich dafür einzuset- Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher zen, dass die in Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a und anderer Vorschriften über die Erfahrungen der Richtlinie 2011/62/EU genannte Überlei- tungsfrist zunächst um mindestens ein Jahr, das mit der Preisbildung und Erstattung von Arznei- heißt auf den 2. Juli 2014, verlängert wird. mitteln mit neuen Wirkstoffen zu berichten. Begründung: Begründung: Das Zweite Gesetz zur Änderung arzneimittelrecht- Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittel- licher und anderer Vorschriften sieht in Umsetzung markts in der gesetzlichen Krankenversicherung der genannten EU-Richtlinie vor, dass ab dem 2. (AMNOG) sieht eine Nutzenbewertung durch Juli 2013 pharmazeutische Wirkstoffe nur noch den Gemeinsamen Bundesausschuss mit an- dann eingeführt werden können, wenn eine von den schließender Preisverhandlung zwischen pharma- Behörden des Ursprungslands ausgestellte Bestäti- zeutischem Unternehmer und GKV-Spitzenver- gung vorliegt, wonach die im wirkstoffherstellen- band für neue Arzneimittel mit Zusatznutzen vor. den Betrieb angewendeten Good Manufactoring Das Ergebnis der Preisverhandlung ist ein Rabatt Practice (GMP)-Standards denen der EU zumindest auf den Abgabepreis des pharmazeutischen Un- gleichwertig sind, der Betrieb regelmäßigen Kont- ternehmers (ApU), der vom pharmazeutischen rollen und Maßnahmen, einschließlich wiederhol- Unternehmer ursprünglich festgelegt wurde. ter und unangekündigter Inspektion, unterliegt und § 130b Absatz 1 SGB V sieht vor, dass der Rabatt festgestellte Verstöße vom Drittstaat unverzüglich vom pharmazeutischen Unternehmer über den an die EU weitergeleitet werden. pharmazeutischen Großhandel und die Apothe- Es ist jedoch deutlich abzusehen, dass von einem ken an die gesetzlichen Krankenkassen und die überwiegenden Teil der Länder außerhalb der EU Privatversicherten durchgereicht wird, während die Bestätigungen mit dem vorgesehenen Inhalt der Listenpreis, der ApU, ausweislich der Geset- nicht beziehungsweise nicht rechtzeitig zum 2. Juli zesbegründung zu § 130b SGB V in der Fassung 2013 ausgestellt werden. Schon angesichts der des Arzneimittelneuordnungsgesetzes, unverän- Vielzahl von wirkstoffherstellenden Unternehmen dert bleibt. Der Rabatt wird zu diesem Zweck in und der Vielzahl von Herstellungsländern außer- den entsprechenden Arzneimitteldatenbanken der halb der EU ist vielmehr davon auszugehen, dass Ärzte und Apotheker ausgewiesen und wird so- allenfalls für einen geringen Anteil von Unterneh- mit öffentlich. men die Bestätigung ausgestellt sein wird. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012 23729

(A) Es wird daher eine Einfuhr von pharmazeutischen – Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richt- (C) Wirkstoffen in die EU in bisherigem Umfang nicht linie 2012/…/EU über den Zugang zur Tätigkeit mehr möglich sein. Eine Versorgung der in der EU von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von ansässigen Arzneimittelindustrien mit pharmazeu- Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur tischen Wirkstoffen kann nicht mehr ausreichend Anpassung des Aufsichtsrechts an die Verord- gewährleistet werden, denn etwa 80 Prozent der nung (EU) Nr. …/2012 über die Aufsichtsanforde- benötigten Wirkstoffe stammen aus EU-Drittlän- rungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen dern, nur etwa 20 Prozent werden in der EU selbst (CRD IV-Umsetzungsgesetz) produziert. Dies deckt den Bedarf der Arzneimit- telhersteller nicht, gefährdet die Marktversorgung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit Arzneimitteln und läuft damit dem Interesse mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 der Patientinnen und Patienten zuwider. Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung Daher ist eine verlängerte Umsetzungsfrist sei- zu den nachstehenden Vorlagen absieht: tens der EU erforderlich, damit sich Behörden und Unternehmen in den Ländern außerhalb der Auswärtiger Ausschuss EU auf die neuen Anforderungen hinreichend vorbereiten können, und danach eine entspre- – Unterrichtung durch die Bundesregierung chende Anpassung durch künftige erneute Ände- Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des Eu- rung des Arzneimittelgesetzes vornehmen. roparats im Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2011 – Drucksachen 17/9890, 17/10195 Nr.1 –

– Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversiche- – Unterrichtung durch die Bundesregierung rung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz – PNG) Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des Eu- roparats im Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Dezember 2011 – Gesetz zur Reform des Kapitalanleger-Muster- verfahrensgesetzes und zur Änderung anderer – Drucksachen 17/9891, 17/10195 Nr.2 – Vorschriften Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Gesetz zur Stärkung der Täterverantwortung – Gesetz zur Änderung des Geodatenzugangsgesetzes – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des – Drittes Gesetz zur Änderung wohnungsrecht- 10-Punkte-Sofortprogramms zum Energiekonzept licher Vorschriften – Drucksache 17/9262 – (B) (D) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 9. Dezember – Unterrichtung durch die Bundesregierung 2011 über den Internationalen Suchdienst Tätigkeitsbericht 2008 bis 2009 der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und – Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats Eisenbahnen vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Men- und schenhandels Stellungnahme der Bundesregierung – Drucksache 17/9400, 17/9802 Nr. 1.6 – – Gesetz zu dem Abkommen vom 7. Dezember 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nordirland zur Vermeidung der Doppelbelastung – Unterrichtung durch die Bundesregierung bei der Bankenabgabe Verkehrsinvestitionsbericht für das Berichtsjahr 2010 – Gesetz zu dem Abkommen vom 7. Oktober 2011 – Drucksachen 17/8700, 17/10024 Nr. 1 – zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Mauritius zur Vermeidung der Dop- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und pelbelastung und der Steuerverkürzung auf dem Reaktorsicherheit Gebiet der Steuern vom Einkommen – Unterrichtung durch die Bundesregierung – Gesetz zu dem Abkommen vom 19. und 28. Dezem- Bericht der Bundesregierung zu den abfallwirtschaft- ber 2011 zwischen dem Deutschen Institut in Taipeh lichen Auswirkungen der §§ 9 bis 13 des Elektro- und und der Taipeh Vertretung in der Bundesrepublik Elektronikgerätegesetzes Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteue- – Drucksachen 17/4517, 17/4742 Nr. 1.5 – rung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung hinsichtlich der Steuern vom Einkommen und – Unterrichtung durch die Bundesregierung vom Vermögen Sondergutachten des Sachverständigenrates für Um- weltfragen Wege zur 100% erneuerbaren Stromversorgung – Drucksachen 17/4890, 17/5820 Nr. 1.3 – Der Bundesrat hat in seiner 900. Sitzung am 21. Sep- tember 2012 beschlossen, zu dem am 31. August 2012 – Unterrichtung durch die Bundesregierung zugeleiteten nachstehenden Gesetzentwurf gemäß Arti- Erfahrungsbericht 2011 zum Erneuerbare-Energien- kel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes eine Verlängerung Gesetz (EEG-Erfahrungsbericht 2011) der Frist zur Stellungnahme zu verlangen. – Drucksachen 17/6085, 17/6392 Nr. 1.6 – 23730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2012

(A) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (C) Verbraucherschutz Hauptgutachten 2011 des Wissenschaftlichen Beirats

der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Drucksache 17/10208 Nr. A.13

Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Ratsdokument 10420/12

Transformation Drucksache 17/10208 Nr. A.14 Ratsdokument 10575/12 – Drucksachen 17/7331, 17/7702 Nr. 1.2 – Drucksache 17/10208 Nr. A.15 Ratsdokument 10700/12 Drucksache 17/10208 Nr. A.16 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Ratsdokument 10702/12 mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Drucksache 17/10208 Nr. A.17 Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- Ratsdokument 10705/12 ner Beratung abgesehen hat.

Ausschuss für Arbeit und Soziales Auswärtiger Ausschuss Drucksache 17/10208 Nr. A.18 Ratsdokument 10505/12 Drucksache 17/9797 Nr. A.2 EP P7_TA-PROV(2012)0142 Drucksache 17/9797 Nr. A.3 Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ratsdokument 9288/12 Drucksache 17/10028 Nr. A.7 Ratsdokument 10035/12 Rechtsausschuss Drucksache 17/8426 Nr. A.12 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Ratsdokument 17968/11 Reaktorsicherheit Drucksache 17/9647 Nr. A.6 Drucksache 17/3955 Nr. A.17 Ratsdokument 8905/12 Ratsdokument 16036/10 Drucksache 17/10208 Nr. A.8 Drucksache 17/4116 Nr. A.7 Ratsdokument 8853/1/12 REV 1 Ratsdokument 15770/10 Drucksache 17/4116 Nr. A.8 Ratsdokument 16046/10 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 17/4598 Nr. A.19 Ratsdokument 18249/10

Drucksache 17/10208 Nr. A.9 Drucksache 17/4598 Nr. A.20

Ratsdokument 10266/12 Ratsdokument 18257/10

Drucksache 17/10208 Nr. A.10 Drucksache 17/4927 Nr. A.27

Ratsdokument 10785/12 Ratsdokument 5965/11 (B) (D) Drucksache 17/10208 Nr. A.11 Drucksache 17/6010 Nr. A.18

Ratsdokument 10786/12 Ratsdokument 9896/11 Drucksache 17/10710 Nr. A.39 Ratsdokument 11125/12

Drucksache 17/10710 Nr. A.40 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und

Ratsdokument 11145/12 Entwicklung Drucksache 17/10710 Nr. A.41

Ratsdokument 11868/12 Drucksache 17/10028 Nr. A.9

Drucksache 17/10710 Nr. A.42 Ratsdokument 9793/12

Ratsdokument 12093/12 Drucksache 17/10028 Nr. A.10 Drucksache 17/10710 Nr. A.43 Ratsdokument 9947/12 Ratsdokument 12407/12 Drucksache 17/10710 Nr. A.44 Ratsdokument 12825/12 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 17/10710 Nr. A.45 Drucksache 17/8227 Nr. A.52 Ratsdokument 13050/12 Ratsdokument 17575/11 Drucksache 17/10710 Nr. A.46 Drucksache 17/10028 Nr. A.12 Ratsdokument 13186/12 Ratsdokument 9500/12

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