Thomas Köhler
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chischen Sozial demokratie, bei dem es nichts mehr „zu fressen“ gab. Thomas Walter Köhler Wahlergebnisse der Partei Moldens unterstreichen dies markant. Das Gespenst ‚Habsburg ante portas‘ diente dem Andeuten einer neuen politischen Konstellation, Sozialdemokraten und Freiheitliche Partei als potenzielle Kleine Koalition. Seinen ersten, halb öffentlichen Auf- Ein Weltereignis tritt in Österreich absolvierte Habsburg über Paneuropa sprechend im Politik und Kultur in Wien um 1900 Milieu der katholischen Landsmannschaften. Der Chef des dama- aus historischer sowie tiefen- und höhen- ligen Heeresnachrichtendienstes saß in der Uniform eines Obersten der achten Dienstklasse des Bundesheeres in der ersten Reihe und psychologischer Sicht sprach den Redner in der abschließenden Diskussion formvollendet mit „Kaiserliche Hoheit“ an. Bruno Kreiskys Handschlag mit dem „Herrn Dr. Habsburg“ war das formelle Zeichen für das Ende des „Kannibalismus“, mit dem Einzug Otto Habsburgs für die bayerische „Wien ist [um 1900] einer der geistigen Mittelpunkte der Welt, Christlich-Soziale Union in das Europäische Parlament und dem und Wien hat keine Ahnung davon.“ Beitritt Österreichs zur Europäischen Union 1995 war die Konno- Otto Friedländer, Letzter Glanz der Märchenstadt1 tation Paneuropa und Nachklänge der Monarchie endgültig histori- siert. Die Bestattung des letzten Kronprinzen der Doppelmonarchie, „,Ach, Wien. Sie sorgen sich um dieses Welthindernis, vermutlich, der Körper des Verblichenen wurde in der Kapuzinergruft, das Herz weil Sie in dem morschen Imperium, dessen Haupt es ist, in der Gruft des ungarischen Erzstiftes Pannonhalma beigesetzt, kann die Mumie des Heiligen römischen Reiches als Symbol des Doppeladlers gelesen werden. Peter Marginters Vision deutscher Nation erkennen.‘“ in dessen 1973 publiziertem Roman ‚Königrufen‘, in dem der Doppel- Thomas Mann, Der Zauberberg2 adler bei einem nächtlichen Bankett einem Brathuhn gleich serviert und kaum angerührt dem Feuer übergeben wird, um als Phönix aus „Österreich müsste das am besten verstehen. Wien war die Hauptstadt der Asche aufzuerstehen, bleibt literarische Fiktion. des Habsburgerreiches, das wahrlich nicht schlecht funktioniert hat. Es war ein Wunder an Geisteskraft, mit einem liberalen Regime, eine Wiege der Weltzivilisation. Am Ende ist es versteinert, trotzdem ist sein Verschwinden eine der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts.“ Bernard-Henri Lévy, Kurz ist Macrons Gegenteil3 1 Friedländer 1969, 219. 2 Mann 1960 (1924), 483: ‚Ludovico Settembrini‘ an ‚Hans Castorp‘. 3 Lévy 2019, 3. 142 143 Prolog nerzahl, sondern verlor die Stadt gerade in den 1930er-Jahren auch qualitativ an intellektueller und kreativer Potenz. (S. Heer 2001, 370-405; vgl. Flügge 2018, 295-425) Der Zeitraum von Wien um 1900 gilt, wenn nicht als Schwerpunkt, Das änderte sich erst infolge des Systembruchs von 1989, als sich so doch als Brennpunkt der klassischen Moderne Europas im Über- Wien eine durch das Ende des Eisernen Vorhangs Schritt für Schritt gang vom 19. ins 20. Jahrhundert. (S. Köhler/Mertens 2016, 142-161; öffnende Mitte des Kontinents abermals erschloss und angesichts des vgl. Pelinka 2016, 27-42) Mit rund zwei Millionen Einwohnern (s. Fin de Siècle von 2000 seine Erinnerung als Metropole an die alte Faßmann 2010, 159-184; vgl. Rumpler 2014 [Hg.], 19-124) – einer klassische Moderne von 1900 neuerdings erwachte. 2020 schließlich Zahl, die es erst um 2020 wieder erreicht – war Wien nach London, gemahnt pro futuro – positiv wie negativ – vielleicht mehr an die Stadt Paris und Berlin die viertgrößte Stadt des Kontinents und nach New von damals (s. Köhler 2019a, 289-292), als das manchen Politikern5 York und Chicago die sechstgrößte der Welt. rechts oder links historisch adäquat respektive politisch korrekt er- Was die Metropole ausmachte, war nicht nur ihre politische scheint. (Vgl. Pelinka 2015, 44-55) Stellung als Hauptstadt eines Staates mit mehr als fünfzig Millionen Einwohnern, womit Österreich nach Russland an zweiter Stelle in Europa rangierte, sondern ihr komplementär zu den anderen Zen- I. Politisches (1): Der Rahmen tren des Kontinents ausgeprägter Charakter als Melange verschie- dener Kulturen nationaler, inter- und supranationaler Art. (S. Bled 1998, 7-10, sowie Magris 1999, 3-31; vgl. Casals 2003, 25-60, sowie „Die Sonne schien voll und stark. Als ich heimschritt, bemerkte ich Metzger 2006, 19-31) mit einem Mal vor mir meinen eigenen Schatten, so wie ich den Schat- Darauf basierend und in solcher Hinsicht – wenn überhaupt – am ten des anderen Krieges hinter dem jetzigen sah. Er ist durch all diese ehesten mit dem impressionistischen Paris zuvor (vgl. Platte 1967, 57- Zeit nicht von mir gewichen, jener Schatten, er überhing jeden meiner 91) und dem expressionistischen Berlin (vgl. Metzger 2006, 77-102) Gedanken bei Tag und bei Nacht.“ (Zweig 1989 [1942], 494f.) danach vergleichbar, erlebte das Wien des Jugendstils (s. Varnedoe 1987, 14-24; vgl. Rennhofer 1987, 7-26) im Herzen Europas eine 1. Die Allegorie wahre Blüte an Wissenschaften und Kunstschaffen (s. Clark 2013, 100-165)4, die meistens direkt oder indirekt miteinander verzahnt Wenn wir den Zeitraum dessen, was wir unter dem Wien an der Wen- waren. Nach 1919 verringerte sich quantitativ nicht nur die Einwoh- de vom 19. und 20. Jahrhundert begreifen, politisch6 nicht eng, son- 5 Alle allgemeinen Personenbezeichnen sind in der weiblichen wie in der männlichen 4 Clark spricht im Zeichen positiver Provokation von einem ‚Reich ohne Eigenschaften‘ Form zu verstehen. und nimmt Bezug auf den ‚Mann ohne Eigenschaften‘, worin Robert Musil im Gegen- 6 Zu differenzieren ist prinzipiell zwischen Politischem einer- und Politik anderseits. satz belegt, wie viele Eigenschaften im Staat als Menschen mit Talenten angelegt wa- Vgl. im Englischen den damit nicht deckungsgleichen Unterschied zwischen ‚politics‘ ren. und ‚policy‘. S. Marchart 2010, 32-58. 144 145 dern weit verstehen, so spricht vieles dafür, die Quellen und Wurzeln risches10 „Trauma“11 (Schorske 2016, 23) entstand. (Vgl. Flaig 2011, des kulturell7 um 1900 in voller Blüte stehenden Baumes (s. Schorske 670-680) 2016, 17-27; vgl. Le Rider 2016, 6-16) frühestens im Jahr 1848 und Was nach einer unsicheren Phase von zwanzig Jahren folgte, war ein dessen Absterben spätestens im Jahr 1938 anzusetzen: 1848 einer- weiterer Weltkrieg12, und eine mahnende Stimme wie vor dem Ersten seits, als sich Österreich von der Dürre des Vormärz befreite (vgl. Bled Weltkrieg jene Bertha von Suttners in deren Rolle als erster Friedens- 2002, 335f.), und 1938 anderseits, als seine nach wie vor treibenden nobelpreisträgerin oder anderer berühmter widerständiger österrei- Äste endgültig gekappt wurden und eine totalitäre Diktatur (s. Wink- chischer Frauen13 gab es vor dem Zweiten Weltkrieg dergleichen nicht ler 2011, 13) an die Stelle der autoritären (s. ibidem, 332-339) trat, mehr. Bei Zweig und vielen mehr von der Tyrannis be- und getroffenen die ihrerseits, weiter allegorisch, ab 1933 die ehemals sprießenden Emigranten (vgl. Lackner 2018, 103-177) war deswegen aus dem ge- Zweige bereits beschnitten und zum Welken gebracht hatte: ‚Finis genwärtigen Entsetzen über das Ende der Alten Welt eine existenzielle Austriae‘ notierte Sigmund Freud am 12. März des ‚Anschluss‘-Jahres Depression (s. Frankl 2011, 20-48, sowie ds. 1983, 75-80; vgl. Laplan- (Freud zit. nach Behling 2006, 246; vgl. Bled 2002, 134-139). che/Pontalis, 114-116) ohne Entsatz geworden. Keinen Sinn im Dasein Für Stefan Zweig – mit Thomas Mann der damals meistgelese- diesseits mehr suchend und findend, nahm er sich in einer Neuen Welt, ne deutschsprachige Autor weltweit – und andere politisch versierte welche er eben noch in den Himmel gelobt hatte, schließlich doch das Literaten wie Franz Werfel und Joseph Roth war das der „Sonnen- Leben. (S. Zweig 1990, 9-214) untergang“ (Zweig 1989, 373) einer Grundvertrauen bildenden ‚Welt von Gestern‘: „Dieses Gefühl der Sicherheit [kursiv durch den Verf.] 2. Die Basis war der […] Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal.“ (Zweig 1989, 15; vgl. Kluy 2019, 119) Dass ausgerechnet jenes Reich Dabei hatte – rund hundert Jahre vor Zweigs pessimistischer Wahl – unterging, worin es – die individuelle (vgl. Freud 2009, 39-104, sowie durchaus Optimismus bestanden: Mit den innerhalb weniger Monate Frankl 1983, 11-105) und kollektive (vgl. Adler 2006, 19-39, sowie stattfindenden bürgerlichen Revolutionen von 1848 waren in Öster- Jung 2012, 20-105) ‚Seele‘ von Menschen und Völkern so sehr beru- 8 higend – dagewesen war, kam nach dem Weltkrieg einem politischen 10 Historisch in doppelter Hinsicht: bedeutend und andauernd. ‚Schock‘9 (s. Fischer 2018, 7-17) gleich, aus dem seinerseits ein histo- 11 Das aus dem Griechischen stammende Wort ‚Trauma‘ bedeutet Wunde. Aus existenz- analytischer und logotherapeutischer Sicht bleiben solche entweder offen (wie im Österreich nach dem Ersten Weltkrieg) oder vernarben (wie im Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg). Nicht nur tiefen-, sondern auch höhenpsychologisch wichtig ist es, wie wir uns dazu ein- und aufstellen: Ob wir – individuell oder kollektiv – die Wunde als fremd am bzw. im Körper sehen oder sie uns, inneren Frieden stiftend, zu eigen 7 Im Zeichen des Verständnis von Kultur durch Freud (2010, s. v. a. 188-204). machen: am besten als ‚Blume‘ oder ‚Zierde‘. (S. Hadinger 2006, 160-185) 8 Einschneidend. 12 Weswegen manche Historiker betreffend den Zeitraum von 1914 bis 1945 von einem 9 Apostrophierte Wörter wie ‚Trauma‘ hier bzw. ‚Kompensation‘ oder ‚Sublimierung‘ zweiten