Ausgabe 1/2007 | 9. Jahrgang | 6,50 Euro | ISSN:1861-2687 Rückumschlag – Werbeseite LIT

Whistleblower und Journalisten – Zur Spruchpraxis des Deutschen Presserats • Aufgaben, Ansätze und Arbeitsfelder der Medienethik • Schule im Gender Mainstream Ausgabe 1/2007 | 9. Jahrgang | 6,50 Euro Ausgabe 1/2007 | 9. Jahrgang Zeitschrift für Kommunikationsökologie und Medienethik für Kommunikationsökologie Zeitschrift Europäische Medienethiken Schwerpunkt: Europäische Medienethiken Europäische Schwerpunkt: Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Prof. Dr. Roger Blum ist Institutsdirektor an der Universität Bern am Institut für Kommuni- kations- und Medienwissenschaft.

Dr. Carsten Brosda ist Leiter des Referates Reden, Texte im Stab des Ministerbüros beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin.

Christina Elia arbeitet an der European Journalism Observatory, Università della Svizzera Italiana in Lugano.

Pinar Erdemir ist Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Jugend – Medien – Bildung der Pädagogischen Hochschule Ludwigburg.

Lisa Glagow-Schicha ist Sprecherin der IKÖ-Fachgruppe Frauen und Technik und arbeitet als abgeordnete Lehrerin an Münsters Experimentier Labor Physik (MexLab) an der Universität Münster.

Ina von Holly ist Leiterin der Public Communications bei AM | Corporate & Creative und Lehrbeauftragte am Institut für Kommunikationswissenschaften an der TU Dresden.

Prof. Dr. Rüdiger Funiok SJ ist Hochschullehrer an der Hochschule für Philosophie in München am Institut für Kommunikationswissenschaft und Erwachsenenpädagogik.

Prof. DDr. Matthias Karmasin ist Ordinarius und Vorstand des Instituts für Medien- und Kommunika- tionswissenschaft an der Universität Klagenfurt.

Dr. Marcus S. Kleiner vertritt eine Professur für Medienwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund im Fachbereich Design.

Thomas Langkau M.A. ist Schatzmeister im Vorstand des IKÖ und wissenschaftlicher Mitar- beiter im Fach Technologie und Didaktik der Technik an der Universität Duisburg-Essen.

Enrico Morresi ist Präsident der Stiftung Schweizer Presserat in Lugano.

Dr. Jörg-Uwe Nieland ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum an der Fakultät Sozialwissenschaft (Politikwissenschaft II).

Prof. Dr. Horst Pöttker ist Hochschullehrer im Fach Journalistik an der Universität Dortmund.

Dr. Marlies Prinzing ist Journalistin und Projektleiterin an der European Journalism Obser- vatory, Università della Svizzera Italiana in Lugano.

Prof. Dr. Matthias Rath ist Hochschullehrer für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigburg und Leiter der Forschungsstelle Jugend – Medien – Bildung.

Dr. Wilfried Scharf arbeitet in der Abteilung Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Göttingen. Inhalt

Editorial 2

Schwerpunkt Perspektiven

Vinzenz Wyss Christian Schicha Der Schweizer Presserat im Urteil der Journalisten 6 Alles wird Knut? Die Initiative Nachrichtenaufklärung Marlis Prinzing stellt seit 10 Jahren die Top 10 der vernachlässigten Harte Grenzen. Warum gegenwärtig mit einer Th emen und Nachrichten vor. 107 europäischen Professionsethik im Journalismus Lisa Glagow-Schicha nicht zu rechnen ist 14 Schule im Gender Mainstream 119 Birgit Stark & Ina von Holly Horst Pöttker Medien-Selbstkontrolle im Spannungsfeld von Whistleblower und Journalisten – gesell schaft licher Verantwortung: Corporate Social Zur Spruchpraxis des Deutschen Presserats 127 Responsibility-Strategien in deutschen Christian Schicha Medienverlagen 21 Aufgaben, Ansätze Alexander Schmitt und Arbeitsfelder der Medienethik 133 Normen für Deutschland, Europa und die ganze Welt? Prinzipiengeleitete Überlegungen zum gegen- wärtigen Stand transnationaler interner Unter- Tagungen nehmenskommunikation. 30 Karsten Weber Ingrid Stapf Plädoyer für unlimitierte Meinungsfreiheit 50 Jahre Deutscher Presserat – als Grundlage einer europäischen Medienethik 35 hat sich die Medienselbstkontrolle bewährt? 147 Wilfried Scharf Christian Schicha Warum die Religionsfreiheit das erste Whistleblower – Menschenrecht ist – und warum die Alarm schlagen im öff entlichen Interesse 150 Meinungsfreiheit Demokratie konstituiert 40 Marcus S. Kleiner & Jörg-Uwe Nieland Medienopfer Kasachstan – Rezensionen eine medienethische Bewertung des Films 45 Rüdiger Funiok Buchtipps : Neuerscheinungen Entwicklung der Medienethik Alexander Filipoci im deutschen Sprachraum 54 Öff entliche Kommunikation in der Wissensgesellschaft: Matthias Rath & Pinar Erdemir Sozialethische Analysen. »Denn sieh’, das Fremde liegt so nah!« Christian Schicha Der Einbruch kultureller Heterogenität Legitimes Th eater? Inszenierte Politikvermittlung in die nationale Medienethik 62 für die Medienöff entlichkeit am Beispiel der Wolfgang Wunden »Zuwanderungs debatte«. 153 »Gemeinschaft und Fortschritt« Das vatikanische Petra Missomelius: Digitale Medienkultur. Grundlagendokument – Beitrag zu einer Wahrnehmung, Konfi guration, Transformation. 154 europäischen Medienethik 69 Roger Blum Ein europäisches Modell für die Struktur der Ethikinstitutionen? 76 Matthias Karmasin & Franzisca Weder Medienethik in Österreich. Defi zite in Ausbildung, Beruf und institutioneller Regulierung 83 Enrico Morresi Journalistische Ethik in Italien 92 Cristina Elia Vierzig Jahre Presseombudsmann. Wer sind die Leserschaftsanwälte und wie kommunizieren sie? 100 Inhalt Editorial Schwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Editorial:

Eine zentrale Demokratie stabilisierende Aufgabe der Medien besteht darin, Öff ent- lichkeit herzustellen, Probleme und Missstände aufzuzeigen und die Mächtigen zu kon- trollieren. Doch wo liegen hier die moralischen Grenzen? Was ist angemessen und wo beginnt das fragwürdige Spektakel? Anfang Juni wurde auf dem niederländischen Sender BNN eine sogenannte Nieren- Show ausgestrahlt, bei der drei auf eine Spenderniere angewiesene kranke Menschen sich um eine Niere ›bewarben‹, die von der angeblich unheilbar-kranken Spenderin Lisa zur Verfügung gestellt werden sollte. Das Ganze wurde dann im Rahmen einer typischen Spielshow inszeniert. Die ›Todkranke‹ wurden unter johlendem Applaus des Publikums begrüßt und die potenziellen Empfänger kämpften nach Kräften um die Sympathie der ›Spenderin‹ und des Fernsehpublikums, das sich per SMS an der ›Ab- stimmung‹ beteiligen konnte. Das Ganze war ein großer Bluff . Kurz bevor die Wahl des ›Gewinners‹ der Niere ver- kündet werden sollte, klärte der Moderator die Zuschauer darüber auf, dass es sich bei der angeblich todkranken Person um eine gesunde Schauspielerin handelte und dass die tatsächlich kranken Kandidaten darüber im Vorfeld der Sendung bereits aufgeklärt wor- den seien. Das Ziel – so die Macher der Show – bestand darin, auf die Problematik der geringen Organspendenbereitschaft in der Bevölkerung aufmerksam zu machen. Produ- ziert wurde der Fake von Endemol. Das Unternehmen von John de Mol hatte bereits 1999 das umstrittene Big Brother-Format auf den Markt gebracht und dadurch zumin- dest bei den ersten Staff eln erhebliche Gewinne einfahren können. Vordergründig war die Show ein Erfolg. Noch während der Sendung haben mehrere Tausend Niederländer einen Organspendeausweis beantragt und es ist natürlich zu hoff en, dass die Spendebe- reitschaft der Bevölkerung nicht nur in den Niederlanden sukzessive ansteigt. Dennoch stellt sich die Frage, ob hier der Zweck die Mittel heiligt. Ist es moralisch angemessen, durch eine derartig spektakuläre Inszenierung die Aufmerksamkeit auf einen Missstand zu lenken? Oder ist bei einem derart sensiblen Th ema nur ein hoher Grad an Seriosität in der medialen Präsentation geboten? Was macht unter den Bedingungen moderner, un- terhaltungszentrierter Medien eine gute Vermittlung aus? Stimmen die journalistischen und moralischen Standards, die zur Empörung über das niederländische Beispiel geführt haben? Oder erzwingt eine Ökonomie der Aufmerksamkeit bisweilen den kontrollierten Tabubruch, um Gutes zu bewirken? Die Meinungen waren nach der Ausstrahlung der Sendung geteilt – quer durch alle Lager. Die Debatte wäre lohnenswert.

Von größerem öff entlichem Interesse sollte auch die wichtige Arbeit von Whistle blowern sein, die Missstände in Betrieben, Dienststellen sowie Organisationen publik machen und dadurch einen wesentlichen Beitrag leisten, um Fehlentwicklungen aktiv entgegen- zusteuern (vgl. den Tagungsbericht zum Th ema in dieser Ausgabe).

Auch beim Blick auf den ›Fall‹ von Madeleine McCann stellt sich die Frage nach dem Umgang mit der Öff entlichkeit. Das vierjährige Mädchen war während eines Portugalurlaubes aus einem Hotelzimmer verschwunden und ist bis heute nicht mehr aufgetaucht. Die Eltern haben eine noch nie da gewesene Medienkampagne g estartet,

2 | um Hinweise über den Verbleib ihrer Tochter zu erhalten. Sie haben einen eigenen Medienberater engagiert und Weblinks geschaltet (www.fi ndmadeleine.com bzw. www.bringmadeleine.com) und bekamen eine Audienz beim Papst. Zahlreiche Promi- nente wie Prinz Charles, Tony Blair, David Beckham, und Joanne K. Rowling unterstützen in öff entlichen Aufrufen und fi nanziell die Bemühungen der Eltern, ihre Tochter wiederzufi nden. Derzeit reisen Kate und Gerry McCann durch Europa, um von anderen Portugalurlaubern Zeugenaussagen zum Verschwinden ihrer Tochter zu er- halten. Natürlich ist dieses off ensive Vorgehen aus der Perspektive der betroff enen Eltern menschlich verständlich und nachvollziehbar. Ob es tatsächlich hilfreich ist, um die ver- schwundene Madeleine wiederzufi nden, bleibt auch unter Experten umstritten.

Wie leicht die mediale Inszenierung den eigentlichen Inhalt eines Ereignisses verzerren kann, zeigte auch die Berichterstattung zum G8-Gipfel in Heiligendamm. Die sach- thematische Auseinandersetzung drohte zwischen einer dirigistisch verschlankten Perso- nality-Show und einem medienwirksam inszenierten Gewaltausbruch aus dem Bild der Öff entlichkeit zu verschwinden. Die Entwicklung einer gesamteuropäischen Medien- ethik könnte mit dazu beitragen, den Fallen einer vom Bild dominierten, inszenierten Schein-Öff entlichkeit zu entgehen.

Die vorliegende Ausgabe der ZfKM dokumentiert die Ergebnisse der diesjährigen Jahrestagung des Netzwerk Medienethik mit der DGPuK-Fachgruppe Kommunikations- und Medienethik zum Th ema »Europäische Medienethiken«. Wir möchten uns bei der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft dafür bedanken, das Sie uns die Finanzierung dieser Ausgabe durch einen Druckkostenzuschuss ermög- licht hat. Bereits jetzt möchten wir sie auf die kommende Jahrestagung des Netzwerkes und der Fachgruppe hinweisen. Zusammen mit der DGPuK-Fachgruppe Kommunikation und P olitik werden wir im kommenden Jahr am 14. – 15. Februar wie gewohnt an der Hoch- schule für Philosophie in München eine Tagung zum Th ema Ethik der Politikberichter- stattung durchführen. Nähere Infos fi nden sich unter: www.netzwerk-medienethik.de

Im Namen der gesamten Redaktion wünschen wir Ihnen einen schönen und produktiven Sommer

Carsten Brosda & Th omas Langkau & Christian Schicha

| 3 Verlagsseite für Lit Europäische Medienethiken Gemeinsame Jahrestagung der DGPuK-Fachgruppe Kommunikations- und Medienethik sowie des Netzwerks Medienethik 2007 Do. 22. und Fr. 23. Februar 2007 in München Aula der Hochschule für Philosophie,

Programm Donnerstag, 22. Februar 2007 11.00 – 12.30 Jahressitzung des Vereins zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle e.V. • Vinzenz Wyss: Das Bild des Presserates bei Medienschaffenden. 13.00 – 15.30 Plenum, Eröffnung: Rüdiger Funiok, Barbara Thomaß Vergleichende Perspektiven zu ethischen Dimensionen der Kommunikations- und Medienpraxis (Moderation: Barbara Thomaß) • Marlies Prinzing: Harte Grenzen: Warum gegenwärtig mit einer europäischen Professionsethik im Journalismus nicht zu rechnen ist. • Cristina Elia: Reader’s representatives – A comparative analysis. • Birgit Stark/Ina von Holly: Medien-Selbstkontrolle im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Verantwortung – Corporate Social Responsibility Strategien in deutschen Medienverlagen. • Alexander Schmitt: Normen für Deutschland, Europa und die ganze Welt – Prinzipiengeleitete Überlegungen zum gegenwärtigen Stand transnationaler Unternehmenskommunikation. 15.30 – 16.00 Pause 16.00 – 18.30 Panel 1: Fallstudien (Moderation: Christian Schicha) • Karsten Weber: Globalisierte Meinungsfreiheit oder Kampf der Kulturen? • Bernhard Debatin: Der Karikaturenstreit und die Medienethik: Ein internationaler Vergleich der Reaktionen von Presseräten und Öffentlichkeiten. • Wilfried Scharf: Mohammed-Karikaturen, Papst-Vorlesung, ›Idomeneo‹-Absetzung: wie viel Meinungsfreiheit ist möglich? • Marcus S. Kleiner / Jörg-Uwe Nieland: Medienopfer Kasachstan – eine medienethische Bewertung des Films Borat.

Panel 2: Fundierungen (Moderation: Matthias Rath) • Rüdiger Funiok: Die deutschsprachige Medienethik 1970 – 2007: eine Erfolgsgeschichte? Sind die anfangs gestellten Forderungen heute eingelöst? • Matthias Rath / Pinar Erdemir: »Denn sieh’, das Fremde liegt so nah!« Der Einbruch kultureller Heterogenität in die nationale Medienethik. • Wolfgang Wunden: »Gemeinschaft und Fortschritt« (Rom 1971) – Was taugt das Grundlagendokument einer christlichen Medienethik für die ›internationale Angleichung der Medienethik‹ in Europa?

19.00 – 20.30 Treffen der DGPuK-Fachgruppe Kommunikations- und Medienethik

Freitag, 23. Februar 2007 9.00 – 10.00 Hauptvortrag • Roger Blum: Ein europäisches Modell für die Struktur von Ethikinstitutionen? 10.00 – 10.30 Pause 10.30 – 13.00 Länderprofi le (Moderation: Horst Pöttker) • Matthias Karmasin/Franzisca Weder: Medienethik in Österreich: Defi zite in Ausbildung, Beruf und institutioneller Regulierung. • Enrico Morresi: Journalistische Ethik in Italien. • Peter Studer: Zur Begründung von Normen im Journalistenkodex.

www.netzwerk-medienethik.de Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Vinzenz Wyss Der Schweizer Presserat im Urteil der Journalisten

1 Einleitung 2. Ausgangslage und Fragestellung

Presseräte müssen sich bei Journalisten und Medienorga- Presseräte nehmen für sich in Anspruch, wesentliche In- nisationen ihre Legitimation permanent erkämpfen; dies stanzen der publizistischen Selbstkontrolle zu sein. Sie ohne juristische Weisungsbefugnis oder Sanktionsgewalt. wurden vorwiegend in den 1970er Jahren gegründet, als So auch in der Schweiz, in der zur Zeit kontrovers da- sich Journalistenorganisationen in westlichen Demokra- rüber debattiert wird, ob die Verleger in die Trägerschaft tien in Form von Pfl ichtenheften und Ehrenkodices be- der Selbstkontrollinstanz aufgenommen werden sollen rufsethische Grundsätze gegeben haben. Die Entwick- oder nicht. Doch nicht erst die aktuelle Diskussion über lung und Festschreibung von berufsethischen Regeln hat den Beitritt der Verleger hat in der Schweiz die Diskus- sich damals in dem Dilemma des Journalismus vollzogen, sion über die Akzeptanz und Wirksamkeit des Presse- zum einen gesetzliche Restriktionen abzuwehren und rates wieder aufl eben lassen. Schon oft hat sich auch der zum anderen Leitplanken im Sinne positiver Orientie- Presserat in der Schweiz einer (selbst-)kritischen Dis- rungsregeln für die sich erst herausbildende Profession kussion über die Bedeutung der Selbstkontrollinstanz bereit zu halten (vgl. Thomass 2004: 6). Dem Ruf po- gestellt. Die Akzeptanz des Presserates hängt generell litischer Akteure nach schärferen Gesetzen wollte die davon ab, wie das auch schon als »zahloser Tiger« oder Presse damals mit Selbstkontrolle begegnen. Der dro- »Verlegenheitsausschuss« bezeichnete Gremium mit der henden Verrechtlichung sollten Pressekodizes als ele- Spannung umgeht, einerseits beratender Partner zu sein mentarer Bestandteil einer professionellen Selbstregu- und andererseits über eine Sanktionsmacht mit Wirkung lierung gegenüber gestellt werden (vgl. Blum 1997: 41). verfügen zu wollen. Pressekodices enthalten Regeln zum adäquaten journa- Der Präsident des Schweizer Presserates Peter listischen Handeln in ethisch heiklen Entscheiddungssi- S tuder hat viel für die Bekanntheit und die Akzeptanz tuationen. Die »Erklärung der Pfl ichten und Rechte der des Selbstkontrollorgans getan. Just zur bevorstehenden Journalistinnen und Journalisten«, die in der Schweiz Amtsübergabe des Präsidiums an den Westschweizer verabschiedet wurde, benennt nicht nur Pfl ichten son- Kollegen Dominique von Burg liegt nun eine reprä- dern auch Rechte (vgl. www.presserat.ch/code.htm). sentative Journalistenbefragung vor, in der der Frage nach Mit der Herausbildung von Pressekodizes sind auch der Akzeptanz bei den Schweizer Journalisten nachge- entsprechende Institutionen zur Wahrung und Durch- gangen wird. Die Stiftung Schweizer Presserat hat das In- setzung dieser Normen geschaff en worden: die Presseräte. stitut für Angewandte Medienwissenschaft der Zürcher Diese sind in verschiedenen Ländern unterschiedlich zu- Hochschule Winterthur (www.iam.zhwin.ch) beauftragt, sammengesetzt (vgl. Blum 1997: 39ff ). Einige bestehen in einer schriftlichen Online-Befragung (N= 1329) bei ausschliesslich aus Journalisten, andere sind paritätisch Schweizer Journalisten aus allen Sprachregionen ab- mit Verlegern und Journalisten besetzt und andere neh- zuklären, inwiefern diese die Arbeit des Presserates als men auch Publikumsvertreter oder Vertreter der Öff ent- Selbstkontrollinstanz kennen und bewerten. Ein Befund lichkeit auf. vorweg: Man kennt den Presserat in der Schweizer Me- dienlandschaft. Der Journalistenkodex wird von mehr Der Schweizer Presserat als der Hälfte der befragten Journalisten im Berufsalltag Der seit 1977 amtierende Schweizer Presserat steht mindestens einmal pro Jahr konsultiert – vor allem von laut Reglement »dem Publikum und den Medien- Lokaljournalisten und von redaktionellen Führungskräf- schaff enden als Beschwerdeinstanz zur Verfügung« ten. Die Befragten erachten das Regelwerk aber kaum (Studer/Mayr von Baldegg 2006: 12). Die Selbst- als einfl ussreich und beobachten kaum, dass der Kodex kontrollinstanz wacht über die Einhaltung ethischer oder die Stellungnahmen des Presserates den Dialog und professioneller Standards, die im so genannten unter Berufskollegen stimulieren. Die gewonnenen Be- »Journalistenkodex« sowie in den konkretisierenden funde sollen es dem Presserat ermöglichen, seine Bezie- Richtlinien verschriftlicht sind. Der Presserat gibt hung gegenüber Journalisten und Medienorganisationen jedoch nicht nur Verhaltensempfehlungen ab, er zu verbessern. sanktioniert auch Fehlverhalten durch Aussprache von Ausführliche Studie siehe: Rügen (vgl. Stapf 2005: 27; Blum 2000b: 338f ). »Der www.iam.zhwin.ch/ forschung. Presserat soll Verletzung des Journalistenkodex fest- 6 | stellen und in Stellungnahmen beurteilen« (ebenda: 266). Heute besteht der Schweizer Presserat aus einem Medienbranche als beratender Partner w ahrgenommen 21-köpfi gen Gremium, zu dem auch sechs Publikums- werden und andererseits über eine Sanktionsmacht mit vertreter zählen. Nach anfänglich nur kleiner Beach- Wirkung verfügen will. So kritisieren Beobachter, dass tung hat der Presserat zunehmend an Beachtung zu- »trotz hoher Beachtung, die dem Presserat in Fachkreisen gelegt und wird in den letzten Jahren deutlich mehr gezollt wird«, nicht zu übersehen sei, »dass seine U rteile angerufen als noch in den Anfangszeiten (vgl. ebenda: in der Praxis von den Medienschaff enden konstant miss- 12ff ). 2003 gingen erstmals mehr als 100 Fälle ein, von achtet« würden (Zulauf 2000: 90). Auch Roger Blum denen 62 mit einer Stellungnahme beantwortet wur- – ehemaliger Präsident des Schweizer Presserates, will den (www.presserat.ch). beobachten, dass dessen Beachtung bei Fachleuten und Verbänden gestiegen sei. Andererseits beklagt er aber eine In der Schweiz sieht eine provisorische Einigung vor, dass »weitgehende Ignoranz« bei den Journalisten: »Mittler- der Verband Schweizer Presse zusammen mit den vier weile ist der Presserat in der ganzen Medienbranche als Journalistenverbänden (Impressum, comedia, Syndikat die für journalistische Ethik zuständige Instanz aner- Schweizer Medienschaff ender und Konferenz der Chef- kannt, aber seine Entscheide sind den Medienschaff en- redaktor/innen) ab dem 1. Januar 2008 die Trägerschaft den zu wenig bekannt« (Blum 2000a: 33). Blum macht der Stiftung Schweizer Presserat bilden. Bisher wurde der vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen Vorschläge, Presserat allein von den Journalistenverbänden getragen. wie die Selbstkontrolle durch den Presserat eff ektiver Vom Beitritt der Verleger kann erwartet werden, dass werden könnte (Blum 2000b: 341ff .): Er schlägt vor, dass sich dies positiv auf die Publikation von Stellungnahmen in Presseräten auch Publikumsvertreter zu sitzen hätten, des Presserates auswirkt. um die Akzeptanz zu erhöhen und um nicht nur die Sichtweisen des journalistischen Milieus widerzuspie- Legitimationsprobleme geln. Presseräte sollten auf der relativen Formlosigkeit Die Selbstkontrollinstanz Presserat muss sich ihre Le- ihrer Verfahren beharren, heikle Fälle selber aufgreifen gitimation permanent erkämpfen; dies ohne juristische und diese ins Grundsätzliche wenden. Darüber hinaus Weisungsbefugnis oder Sanktionsgewalt. Nicht erst sollten sich Presseräte durch eine konsequente Spruch- die aktuelle Diskussion über den Beitritt der Verleger praxis Autorität verschaff en, Öff entlichkeitsarbeit betrei- hat in der Schweiz die Diskussion über die Akzeptanz ben und mit Ombudsstellen zusammenwirken. Schliess- und Wirksamkeit des Presserates wieder aufl eben lassen. lich meint Blum auch, dass die Arbeit des Presserates Schon oft hat sich der Presserat einer (selbst-)kritischen nur Früchte tragen könne, wenn seine Erwägungen von Diskussion über die Bedeutung der Selbstkontrollin- Ausbildungsverantwortlichen, Medienjournalisten und stanz gestellt. So wurde er denn auch schon als »Verle- Chefredakteuren aufgegriff en, diskutiert und umgesetzt genheitsausschuss« bezeichnet (vgl. Studer/Mayr von würden (Blum 2000a: 33). Baldegg 2006: 12). In der öff entlichen Diskussion um Einige dieser Vorschläge wurden in der Zwischenzeit die Wirksamkeit und die Akzeptanz der Presseräte tau- unter dem neuen Präsidium von Peter Studer konse- chen immer wieder ähnliche Kritikpunkte auf. So wird quent weiter verfolgt. So hat sich Studer auch für den die Selbstkontrollinstanz etwa als »zahnloser Tiger« nun erwartbaren Beitritt der Verleger zur Trägerschaft (Wiedemann 1994, zit. nach Blum 2000b: 335) bezeich- eingesetzt, durch zahllose Medienauftritte wesentlich net. Studer und Mayr von Baldegg entgegnen 2006: zur Bekanntheit der Instanz in der Öff entlichkeit bei- »Der Presserat ist in der Branche anerkannt, aber den getragen und unermüdlich an allen möglichen journali- Medienschaff enden selbst noch zu wenig bekannt«. Sie stischen Aus- und Weiterbildungsstätten für die Anlie- kritisieren: »Der Journalistenkodex ist in den Arbeits- gen des Presserates Verständnis geschaff en. verträgen der Medienhäuser sowie in der Ausbildung ungenügend verankert« (Studer/Mayr von Baldegg Zielsetzung und Fragestellungen der Studie 2006: 13). Es stellt sich auch die Frage, ob der Presserat Peter Studer wird auf Ende 2007 sein Amt als Prä- bei Journalisten unterschiedlicher Medientypen gleich sident des Schweizer Presserates an den Westschweizer stark Beachtung und Akzeptanz fi ndet. Dominique von Burg übergeben. Zeit also Bilanz zu Ein Grundproblem liegt sicherlich in der Spannung, ziehen. Die Stiftung Schweizer Presserat tut dies mit ei- dass auch der Schweizer Presserat einerseits von der ner Studie zur Wahrnehmung der Selbstkontrollinstanz | 7 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

bei der Schweizer Journalisten. Die Stiftung hat das In- S prachregion etc.) vorgenommen. Mit diesem Verfah- stitut für Angewandte Medienwissenschaft der Zürcher ren wurden insgesamt 208 Redaktionen aus allen vier Hochschule Winterthur beauftragt, in einer schrift- Sprachregionen der Schweiz bestimmt und angeschrie- lichen Online-Befragung abzuklären, inwiefern Schwei- ben. Bei den ausgewählten Redaktionen wurde jeweils zer Journalisten die Arbeit des Presserates als Selbstkon- die Chefredaktion briefl ich, dann telefonisch und trollinstanz kennen und bewerten. Die nun vorliegende schliesslich per Mail kontaktiert, um letztlich den Link Studie zeigt auf, inwiefern Journalisten aus ausgewählten mit der Umfrage-Auff orderung allen redaktionellen Redaktionen die »Erklärung der Pfl ichten und Rechte Mitarbeitern zukommen zu lassen. Die genaue Rück- der Journalistinnen und Journalisten« kennen, in ihrem laufquote bezüglich der Gesamtpopulation kann nicht Berufsalltag anwenden und wie sie diese bewerten. Die eruiert werden, da die Auff orderung zur Beteiligung über Studie kann ein repräsentatives Bild zur Wahrnehmung die Chefredaktionen lief und dem Forschungsteam nicht der Institution Presserat nachzeichnen. Die gewonnenen bekannt ist, an wie viele Journalisten inkl. freie Mitarbei- Daten und Befunde sollten es dem Presserat ermöglichen, ter letztlich der Link zur Umfrage (intern) weitergeleitet seine Beziehung gegenüber Journalisten und Medienor- wurde. Es kann jedoch festgehalten werden, dass von 208 ganisationen zu verbessern (vgl. Forschungsfragen). tatsächlich kontaktierten Redaktionen 152 (73) minde- In der Studie wurde insbesondere abgeklärt, ob sich ein- stens ein gültiges Antwort-File geliefert haben. zelne Gruppen der befragten Journalisten in ihrem Urteil Insgesamt besteht das Sample aus (N= )1329 Antwor- unterscheiden. Unterschieden wurde nach Sprachregion, tenden. Der Vergleich des Samples mit den Daten der Medientyp, Grösse der Redaktion bzw. Reichweite, hie- letzten repräsentativen Journalisten-Enquête von 1998 rarchischer Position, Alter und Geschlecht. verdeutlich nahezu Strukturgleichheit (vgl. dazu die Schweizer Journalistenstudie von Marr et al. 2001: 55), Forschungsfragen der Studie weshalb hier auch von einer repräsentativen Befragung 1. Wissen / Bekanntheit des Presserates: gesprochen werden kann (vgl. Tab. 1). Wie gut kennen die Journalisten die Institution Presserat und dessen Instrumente (»Journalisten- kodex«, Richtlinien, Stellungnahmen, Webseite)? Tabelle 1: Das befragte Sample (in ) Auf welchem Weg erfahren sie von den Urteilen bzw. Stellungnahmen des Presserates? 2. Einsatz und Anwendung Sample N= 1329 in % des Kodex / der Richtlinien Inwiefern wird auf die Richtlinien / den Kodex im Sprachregion Deutsche Schweiz 73 redaktionellen Alltag Bezug genommen? Wird in internen Diskussionen auf das Regelwerk Französische Schweiz 17 Bezug genommen und gibt es redaktionsinterne Regeln dazu? Italienische Schweiz 8 3. Akzeptanz und Leistungsbewertung / Nützlichkeitserwägungen: Romanische Schweiz 2 Werden die Richtlinien als tauglich und prakti kabel beurteilt? Medientyp Print 58 Wie werden der Nutzen und die Wirksamkeit des Presserates beurteilt? Radio /TV öffentlich 18

Radio/TV privat 14 3. Anlage der Untersuchung – das Sample sonstiges 10 Die Studie wurde im Frühjahr 2007 als quantitative Untersuchung in Form einer Befragung mittels eines Hierarchische in Führungsposition 43 Online-Fragebogens via E-Mail durchgeführt. Dem Position Vielfaltspostulat folgend wurden verschiedene Medien- organisationen aus dem Print- und aus dem elektro- Geschlecht Frauen 34 nischen Bereich (Radio, TV; öff entlich, privat) bestimmt. Die Stichprobenbestimmung wurde bewusst gestal- Bildung mit Hochschulabschluss 63 tet und gemäss vordefi niertem Kategorienraster (u. a. 8 | nach Medientyp, Periodizität, Aufl age / Reichweite, Alter durchschnittliches Alter 39,4 Der Schweizer Presserat im Urteil der Journalisten

4. Resultate

4.1 Bekanntheit des Presserates und seiner Instrumente werden; mit Sicherheit spielt aber die intervenierend e Man kennt den Presserat in der Schweizer Medienland- Variable »Ausbildung« hier eine Rolle: in den latei- schaft. In allen Sprachregionen haben neun von zehn nischen Sprachregionen sind die Journalisten in der Re- Journalisten Kenntnis davon, dass der Presserat dem gel besser – auch berufsspezifi sch – ausgebildet als in der Publikum und den Journalisten als Beschwerdeinstanz Deutschschweiz. Wiederum zeigt sich nämlich, dass bei für medienethische Fragen zur Verfügung steht. Den den Journalisten ohne berufsspezifi sche Ausbildung klar Namen des Präsidenten Peter Studer kennen in der weniger (81) den Kodex kennen. Die meisten Befragten Deutschschweiz 65, während jedoch in der franzö- kennen den Kodex denn auch aus der externen Aus- und sischsprachigen Region nur gerade 24 den Namen des Weiterbildung etwa an einer Journalistenschule oder aus Deutschschweizers gehört haben wollen. Weitere Mit- dem Journalistik-Studium (vgl. Tab. 2). Ansonsten wird glieder des Gremiums sind eher unbekannt – ausser in am häufi gsten der Berufsverband als Quelle angegeben, der Westschweiz, wo 64 der Befragten angeben, auch was bereits erahnen lässt, dass Nichtmitglieder weit we- andere Mitglieder zu kennen. niger Kenntnis vom Kodex haben. Kaum eine Rolle spie- Werden bei der Analyse der Befunde zur Bekanntheit len schliesslich interne Leitlinien als erste Instanz, bei des Presserates einzelne Gruppen unterschieden so zeigt der man mit dem Kodex konfrontiert würde. sich, dass Frauen den Presserat etwas weniger gut kennen als Männer (87). Dies kann aber mit dem Anstellungs- grad erklärt werden: Journalisten in Teilzeitpensen ken- Tabelle 2: Woher kennt man den Kodex? nen die Selbstkontrollinstanz generell schlechter als ihre Kollegen mit 100-Pensum. Erfreulich bewertet werden kann, dass Journalisten mit einer berufsspezifi schen Aus- weiss nicht 8,6 % bildung ( Journalistik-Lehrgang an Hochschule oder bei Branchenausbildner) den Presserat überdurchschnittlich interne Weiterbildung 13,6 % gut kennen, wobei nur 81 der Journalisten ohne berufs- spezifi sche Ausbildung davon Kenntnis haben. vom Vorgesetzten 15,3 % Unterschiede lassen sich auch feststellen, wenn berufs- verbandlich organisierte Journalisten denjenigen gegen- anderswo 18,3 % übergestellt werden, die nicht entsprechend organisiert sind. Bei den letzteren geben 17 an, keine Kenntnis interne red. Leitlinien 25,2 % vom Presserat zu haben. Zieht man bei der Analyse der Befragungsdaten den Medientyp heran, so zeigt sich, Berufsverband 32,2 % dass Journalisten bei Printmedien (91) sowie bei der öff entlichrechtlichen SRG SSR idée suisse (91) den externe Aus-/Weiterbildung 41,8 % Presserat weit besser kennen als deren Kollegen bei den privaten elektronischen Medien (79). Der Presserat hat also nicht generell bei den elektronischen Medien ein Bekanntheit der Stellungnahmen Bekanntheitsproblem, sondern höchstens bei den pri- Der Presserat veröff entlicht zu jedem behandelten Fall vaten Sendern. eine Stellungnahme. Gut drei von vier Journalisten haben auch Kenntnis davon, dass es solche Stellung- Bekanntheit des Journalistenkodex, nahmen gibt (77). Mit Abstand am häufi gsten wer- Der Journalistenkodex über die Rechte und Pfl ichten der den diese als Kurzmeldungen in Printmedien beachtet. Medienschaff enden ist bei insgesamt 89 der Befragten Etwas mehr als die Hälfte der Journalisten nimmt die bekannt. 72 Prozent der Befragten geben zudem an, dass Stellungnahmen auch als Agenturmeldung zur Kennt- Sie auch die den Kodex konkretisierenden Richtlinien nis. 33 erfahren davon via Branchennewsletter und 28 kennen würden. Bei der Bekanntheit des Kodex gibt es geben an hausintern darauf hingewiesen zu werden. Nur keine geschlechts- oder altersspezifi schen Unterschiede. 22  besuchen dafür die Webseite www.presserat.ch des Wie zu erwarten kennen aber Journalisten mit Führungs- Presse rates und auch Fachzeitschriften spielen in diesem verantwortung das Regelwerk besser als die Mitarbeiter Zusammenhang kaum eine Rolle. Das Resultat verdeut- ohne Führungsverantwortung. Interessant dürfte sein, licht die Notwendigkeit, dass Medien die Stellungnah- dass die Romands (97) und Tessiner (96) den Kodex men des Presserates auch veröff entlichen. Ohne deren deutlich besser kennen als ihre Deutschschweizer Kol- Mitarbeit werden diese von der Berufskultur kaum zu legen (87). Dies kann hier nicht abschliessend erklärt Kenntnis genommen. | 9 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Auch hier zeigt sich, dass Männer (83), Chefs (81), 4.3 Stellenwert der Stellungnahmen Hochschulabgänger (84), Verbandsangehörige (83) Nur 10 der befragten Journalisten geben an, dass sie die die Stellungnahmen deutlich besser zu Kenntnis neh- veröff entlichten Stellungnahmen des Presserates immer men als ihre Berufskollegen. Jedoch geben nur gerade zu Kenntnis nehmen bzw. lesen (vgl. Tab. 4). Weitere 40 69 der Journalisten beim privaten Radio / TV an, diese  geben an, dass sie dies zumindest »oft« tun würden. Er- zu kennen. Grosse Unterschiede zeigen sich schliesslich nüchternd ist allerdings, dass die Stellungnahmen off en- zwischen den Sprachregionen: In der Westschweiz sind bar kaum intern in den Redaktionen diskutiert werden; die Stellungnahmen jedem Vierten unbekannt und im sie scheinen also als Anstoss zur Selbstrefl exion und zum Tessin weiss bereits jeder Dritte nichts davon. Diskurs über Berufsregeln kaum Bedeutung zu haben.

4.2 Rückgriff auf den Journalistenkodex Tabelle 4: Umgang mit Stellungnahmen (N= 993) Von den 89 der Journalisten, die den Kodex kennen, greift fast die Hälfte (47) weniger als 1-jährlich auf den Kodex zurück. Demgegenüber benutzt jeder Fünfte den immer oft selten nie Kodex mindestens einmal pro Monat (20). 38 benut- zen den Kodex mindestens halbjährlich (vgl. Tab. 3). Stellungnahmen 1105336 werden intern dis- Tabelle 3: kutiert Wie häufi g wird auf den Kodex zurückgegriff en? (N= 963) Stellungnahmen 4233836 zu anderen Medien Wöchentlich 6,2 % werden veröffent- licht Mehr als einmal im Monat 5,7 % uns betreffende 27 20 26 27 Einmal im Monat 8,3 % Stellungnahmen werden veröffent- Halbjährlich 18,0 % licht

Einmal im Jahr 14,5 % ich lese die Stel- 10 40 35 15 lungnahmen Weniger als einmal im Jahr 21,9 % Ebenfalls ernüchternd ist die Feststellung, dass Stel- Nie 25,3 % lungnahmen von den Redaktionen eher nicht publiziert werden. Sogar wenn das eigene Medium davon betroff en Im Folgenden werden einige gruppenspezifi schen Un- ist, meinen nur gerade 47 der befragten Journalisten, terschiede im Umgang mit dem Kodex ausgeführt: Jour- dass entsprechende Stellungsnahmen von der Redaktion nalisten die im Lokalbereich arbeiten, ziehen den Kodex mindestens »oft« veröff entlicht würden. Stellungnahmen am häufi gsten heran. Sie werden öfter als Journalisten zu anderen Medien werden äusserst zurückhaltend pu- anderer Ressorts direkt mit den Betroff enen der Bericht- bliziert. Dieser Befund ist auch deshalb brisant weil ja erstattung konfrontiert und greifen darum auch öfters in der Studie auch deutlich geworden ist, dass Medien- zum Kodex, um sich und ihr Vorgehen abzusichern und schaff ende fast ausschliesslich über die Publikation von zu legitimieren. Wie zu erwarten machen auch Vorge- Medien von den Stellungnahmen erfahren. Printmedien setzte (mindestens halbjährlich: 56) signifi kant häufi ger sind am ehesten bereit (mindestens »oft«: 56), Stellung- vom Kodex Gebrauch als Journalisten ohne Führungs- nahmen des Presserates zu publizieren. Im öff entlichen verantwortung (mind. halbjährlich: 34). Rundfunk wird schon deutlich weniger und bei privaten Die fl eissigsten Nutzer des Kodex’ sind die Tessiner TV- und Radiostationen nur noch marginal berichtet Journalisten, von denen 67 Journalisten mindestens (mindestens »oft«: 19), – insbesondere dann, wenn die einmal pro Halbjahr auf den Kodex zurückgreifen, wäh- Stellungnahmen andere Medien betreff en, schreckt man rend in den anderen Sprachregionen dies nur bis zu 36 vor der »Kollegenschelte« zurück. so häufi g tun. Dies ist wohl mit dem hohen prozentualen 4.4. Nützlichkeit des Kodex’ und der Stellungnahmen Anteil der Journalisten der öff entlichen SRG SSR idée Geht es im redaktionellen Alltag darum, in berufs ethisch suisse zu erklären, welche die Instrumente des P resserates heiklen Situationen Entscheide zu fällen, so könnten 10 | generell überdurchschnittlich nutzen. Kodex und Richtlinien möglicherweise helfen. Die Der Schweizer Presserat im Urteil der Journalisten

Nutzung dieser Instrumente stellt jedoch nur eine Mög- Redaktionelle Führungskräfte greifen in ethisch h eiklen lichkeit unter vielen dar. Die Befragung der Journalisten Entscheidungssituationen deutlich öfters auf den K odex, macht deutlich, dass in solchen Situationen nur in Aus- die Richtlinien oder die Stellungnahmen zurück als ihre nahmefällen auf den Kodex bzw. auf die öff entlich zu- Kollegen ohne Führungsverantwortung. Nur jeder fünfte gänglichen Stellungnahmen zurückgegriff en wird. Am Journalist ohne Führungsaufgaben oder mit Teilleitungs- ehesten greifen Journalisten auf ihre Redaktionskollegen aufgaben greift auf die Instrumente zurück (»immer« oder zurück, die schnell mal um Rat gefragt werden können »oft«) – bei den Chefs ist es bereits jeder Dritte. Intern (vgl. Tab. 5). Ebenfalls nahe liegend ist der Weg über am ehesten institutionalisiert hat sich die Konsultation die Vorgesetzten oder aber die Journalisten vertrauen des Kodex’, der Richtlinien sowie der Stellungnahmen schlicht auf ihre eigene Berufserfahrung. Je älter Journa- beim öff entlichen Rundfunk. listen sind, desto mehr trauen sie sich zu, in solchen Fäl- len auf die eigene Erfahrung zurückgreifen zu können. Der Kodex in der Kritik Der Umkehrschluss, dass jüngere Journalisten deswegen Trotz der zurückhaltenden Nutzung wird der Kodex als aber signifi kant häufi ger auf den Kodex zurückgreifen, verständlich, nützlich und praxisnah bezeichnet. Die Be- um die fehlende Erfahrung zu kompensieren, triff t je- fragten sind auch der Meinung, dass der Kodex der Ori- doch nicht zu. entierung dient und dass er für berufsethische Debatten unverzichtbar ist. Sie halten ihn aber nicht für einfl uss- reich und beobachten auch kaum, dass das Regelwerk den Dialog unter Berufskollegen stimuliert (vgl. Tab. 6).

Tabelle 5: Was tun bei ethischen Entscheidungen? Tabelle 6: Die Inhalte des Kodes sind ... (N= 852)

immer oft selten nie trifft trifft trifft gar weiss sehr eher weni- nicht nicht Presserat pers. 0 1 13 85 zu zu ger zu zu anfragen einfl ussreich 319441519 Berufsverb./Ge- 1 4 27 68 werksch. konsult. stimulieren 921341917 den Dialog un- Externe Sachex- 4184236 ter Kollegen perten befragen auf das 436269 26 Journalistenkodex/ 4184533 Notwendige Stellungn. beschränkt

Sachliteratur 4244132 helfen Ent- 11 42 23 7 16 konsultieren scheide zu treffen Interne Sachex- 12 33 32 23 perten befragen praxisnah 950212 18

Vorgesetzten 37 47 13 3 für berufs- 37 28 15 5 15 konsultieren ethische Debatten Auf eigene Berufs- 32 58 8 1 unverzichtbar erfahrung vertrauen nützlich 19 53 11 1 16 Redaktionskollegen 37 53 9 1 konsultieren dienen der 24 48 10 4 14 Orientierung

verständlich 22 53 9 1 16 | 11 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Insgesamt wird ein Muster deutlich: Je abstrakter die bekannt; gelesen werden diese aber eher selten. Der Nützlichkeit des Kodex und der Richtlinien formu- Journalistenkodex wird von mehr als der Hälfte der be- liert wird, desto grösser ist die Zustimmung; konkrete fragten Journalisten im Berufsalltag mindestens einmal H ilfeleistungen für den Alltag werden aber von dem pro Jahr konsultiert. Redaktionelle Führungskräfte grei- Regelwerk nicht erwartet. Dieses Muster zeigt sich auch, fen in ethisch heiklen Entscheidungssituationen weit wenn die Arbeit des Presserates generell beurteilt wird: häufi ger darauf zurück als Mitarbeitende, die eher mal das Gremium gilt als fachlich kompetent, praxisnah ihre Redaktionskollegen konsultieren oder auf die eige- und aktiv; man meint aber auch, dass der Presserat seine ne Berufserfahrung vertrauen. Auch besser gebildete und öff entliche Präsenz noch verbessern sollte. Auch stimmen vor allem berufsspezifi sch ausgebildete, sowie in einem die meisten Befragten der Aussage zu, dass der Presserat B erufsverband organisierte Journalisten wenden den »in der Praxis hoch angesehen« sei. Insgesamt geniesst Kodex und die Richtlinien bewusster an als ihre Kolle- der Presserat ein grosses Vertrauen. Man attestiert ihm – gen. In der Regel wurden die Befragten denn auch in der wenn auch noch zurückhaltend – die Medienfreiheit zu externen Aus-/ Weiterbildung oder über den Berufsver- verteidigen, als neutrale Beschwerdeinstanz die Glaub- band erstmals mit dem Regelwerk konfrontiert. würdigkeit der Medien zu stärken, Verständnis für me- Die Untersuchung macht deutlich, wie wichtig es ist, dienethische Fragen zu wecken und /oder der Verrecht- dass die Stellungnahmen des Presserates von den Medi- lichung entgegenzuwirken. Zustimmung erhält auch die en publiziert werden. 69  der Befragten geben nämlich Praxis, dass er – etwa im Unterschied zum Deutschen an, auf diesem Weg – oder aber über Agenturmeldungen Presserat – von sich aus Fälle aufgreift. Der Presserat (53) – von den Stellungnahmen des Presserates Kennt- wird aber dennoch nicht als einfl ussreich wahrgenom- nis zu nehmen. Die Studie macht aber auch deutlich, men. Eher weniger Zustimmung erhält die Aussage, dass dass nur eine Minderheit der Journalisten davon ausgeht, der Presserat mit seinen Stellungnahmen im Alltag hilft dass ihre Redaktion solche Stellungnahmen auch selbst oder dass er den Dialog unter Berufskollegen stimulieren publiziert – vor allem dann, wenn diese andere Medi- könne. Trotz der Zurückhaltung im konkreten Bereich, en betreff en. Für die privaten elektronischen Medien ist ist im Abstrakten die Zustimmung zum generellen Nut- die Publikation gar kein Th ema. Ernüchternd ist auch zen des Presserates also unbestritten. festzustellen, dass die Stellungnahmen des Presserates in Ein positives Zeugnis ausgestellt wird dem Presserat den Redaktionsräumen kaum diskutiert werden. schliesslich damit, dass von ihm noch mehr Aktivität Trotz der zurückhaltenden Nutzung wird der Kodex gefordert wird: So wird der Aussage stark zugestimmt, als verständlich, nützlich und praxisnah bezeichnet. Die dass der Presserat noch mehr als bisher in der (internen Befragten sind auch der Meinung, dass der Kodex der oder externen) Weiterbildung aktuelle Fälle zur Diskus- Orien tierung dient und dass er für berufsethische De- sion stellen solle. 68 der Befragten wünschten sich eine batten unverzichtbar ist. Sie halten ihn aber nicht für Telefon hotline oder ein Email-Beratungsdienst zum einfl ussreich und beobachten auch kaum, dass das Re- Presserat (was selbstverständlich heute die Kapazitäten gelwerk den Dialog unter Berufskollegen stimuliert. Die des Gremiums sprengen würde). Eine klare Zustimmung Arbeit des Presserates wird generell wohlwollend beur- erntet auch die Aussage, »der Presserat soll mehr Fälle teilt. Er gilt als fachlich kompetent, praxisnah, aktiv und von sich aus aufgreifen« (70). Für eine Mehrheit der »in der Praxis hoch angesehen«. Der Presserat wird aber befragten Journalisten wäre es auch recht, wenn sich der dennoch nicht als einfl ussreich wahrgenommen. Nur Presserat mehr Durchsetzungsmacht verschaff en könnte wenig Zustimmung erhält die Aussage, dass der Presse- – freilich ohne entsprechend konkrete Massnahmen zu rat mit seinen Stellungnahmen im Alltag hilft oder dass benennen. Eher abgelehnt wird jedoch die Vorstellung, er den Dialog unter Berufskollegen stimulieren könne. dass der Presserat noch mehr Publikumsvertreter in das Ein Hauptbefund wird in der Studie ganz deutlich: Gremium aufnehmen solle. Journalisten, die in Redaktionen mit gut ausgebautem Qualitätssicherungssystem arbeiten, beurteilen die Rele- vanz und die Nützlichkeit des Presserates und seiner In- 5. Zusammenfassung und Ausblick strumente generell besser als Journalisten aus Redaktion mit weniger etablierten Strukturen der Qualitätssiche- In allen Sprachregionen haben neun von zehn Journa- rung. Es kann nachgewiesen werden, dass ein wahrge- listen Kenntnis davon, dass der Presserat dem Publikum nommenes redaktionelles Qualitätsmanagementsystem und den Journalisten als Beschwerdeinstanz für medien- (vgl. Wyss 2002) – etwa die Anwendung von redaktio- ethische Fragen zur Verfügung steht. 90 kennen auch nellen Leitbildern, Redaktionsstatuten, etablierten Feed- den Journalistenkodex und 72 wissen, dass es konkre- backsystemen oder Abnahme- und Gegenleseprozesse – tisierende Richtlinien dazu gibt. Die Stellungnahmen einen direkten Einfl uss auf Kenntnis und Bewertung 12 | des Presserates sind 77 der Schweizer Journalisten des Presserats hat. In Redaktionen mit ausgeprägtem Der Schweizer Presserat im Urteil der Journalisten

Qualitätsmanagement wird off enbar auch stärker refl ek- tiert und über berufsethische Entscheidungen disku- tiert; was sich auch auf die Akzeptanz und Bewertung der A rbeit des Presserates niederzuschlagen scheint. Die S tudie stellt dem Schweizer Presserat insgesamt ein gutes Zeugnis aus. Aber auch seine Grenzen werden deutlich. Wenn der Presserat mehr erreichen will, so muss er auf die Etablierung von Strukturen des redaktionellen Qua- litätsmanagements hinwirken.

6 Literaturangaben

Blum, Roger (1997): Wächter nach innen und nach aus- Wiedemann, Verena A. (1994): Die 10 Todsünden der sen? Probleme der journalistischen Selbstkontrolle am Bei- freiwilligen Presse-Selbstkontrolle. In: Rundfunk und spiel des schweizerischen Presserates. In: Medienrecht und Fernsehen 42, H. 1, S. 82 – 94. Medienethik – Hilfen oder Hürden? Sammelband, aus Wyss, Vinzenz (2002): Redaktionelles Qualitätsma- dem schweizerisch-slowakischen Medienforum. Hrsg: nagement. Ziele, Normen, Ressourcen. Forschungsfeld Universität Bern, Institut für Medienwissenschaften / Kommunikation. Band 15. UVK Konstanz. Universität Komensky Bratislava, Philosophische Fa- Zulauf, Rena (2000): Informationsqualität. Ein Bei- kultät, Lehrstuhl für Journalistik. S. 39 – 49. trag zur journalistischen Qualitätsdebatte aus der Sicht Blum, Roger (2000a): Der Beitrag des Presserates zur des Informationsrechts. Zürich Qualitätssicherung im Journalismus. In: Medienwissen- schaft Schweiz, H. 1, S. 33 – 34. Blum, Roger (2000b): Eff ektivierung von Selbstkon- trollorganen. In: Held, Barbara & Russ-Mohl, Stephan (Hg.): Qualität durch Kommunikation sichern. Vom Qualitätsmanagement zur Qualitätskultur. Erfah- rungsberichte aus Industrie, Dienstleistung und Medien- wirtschaft. /M., S. 335 – 345. Marr, Mirko & Wyss, Vinzenz & Blum, Roger & Bonfadelli, Heinz (2001): Journalisten in der Schweiz: Eigenschaften, Einstellungen, Einfl üsse. In der Reihe: Forschungsfeld Kommunikation. UVK Verlags- gesellschaft, Konstanz. Stapf, Ingrid (2005): Medienselbstkontrolle – Eine Ein- führung. In: Baum, Achim & Langenbucher, Wolf- gang R. & Pöttker, Horst & Schicha, Christian (Hrsg.): Handbuch Medienselbstkontrolle. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. S. 17 – 36. Studer, Peter & Mayr von Baldegg, Rudolf (2006): Medienrecht für die Praxis. Vom Recherchieren bis zum Prozessieren: Rechtliche und ethische Normen für Medienschaff ende. Consuprint AG, 3. aktualisierte Auf- lage, Zürich. Suhr, Oliver (1998): Europäische Presse-Selbstkontrol- le. Schriften des Europainstituts der Universität des Saar- landes. 1.Aufl age, Nomos Verlagsgesellschaft. Baden - Baden. Thomass, Barbara (2004): Journalistische Ethik. Texte zum Selbstlernmodul SYCOM | Learning System for an Introduction to Communication and Media Stu- dies. Online-Selbstlernmodul am IPMZ – der Univer- sität Zürich | 13 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Marlis Prinzing

Harte Grenzen Warum gegenwärtig mit einer europäischen Professionsethik im Journalismus nicht zu rechnen ist

Europa wächst zusammen, die Welt wird zum globalen 1. Die Spurenaufnahme: Mediensysteme, journalis- Dorf. Daraus könnte man schliessen, dass sich geradezu tische Kultur und Professionsethik zwangsläufi g die Art der medialen Übermittlung zu ei- ner europäischen Journalismuskultur und in Folge zu ei- Der Kapitalismus hat sich fast in allen Ländern durch- ner europäischen, ja globalen Journalismusethik vereinen gesetzt, der Austausch von Waren kennt kaum noch müsste. Ist das so? Grenzen. Auch in der Medienbranche wächst Europa Wäre ein europäisches Ethos, vielleicht gar ein Wel- zusammen. Die RTL-Gruppe zum Beispiel entwickelte tethos des Journalismus möglich, ein gegenseitiges sich durch Fusionen zu einem führenden europäischen Verständnis förderndes Pendant zum Weltethos der Unterhaltungssender, betrieb 2006 insgesamt 38 Fern- Religionen, wie es der Th eologe Hans Küng als frie- sehkanäle und 29 Radiostationen, produzierte 10.000 densstiftendes Modell entwickelte? 1 Küng setzt an Stunden Programm in über 22 Ländern – Serien, Shows, bei der Besinnung auf das schon jetzt Gemeinsame im Dokumentationen etc. – und erreichte weltweit 250 Ethos: auf einen Grundkonsens bezüglich bestehender Millionen Zuschauer. Das Unternehmen mit Haupt- verbindender Werte, unverrückbarer Massstäbe und per- sitz in Luxemburg hat Sender in Deutschland, Frank- sönlicher Grundhaltungen. Auf den Journalismus über- reich, den Benelux -Ländern, Grossbritannien, Spanien, tragen, bedeutete dies die Verständigung auf eine gemein- Ungarn, Kroatien und Russland. 3 Selbst hier prägt die same Professionsethik – mit unverrückbaren Massstäben Nation: Eine Auftragsuntersuchung des Europäischen für die Berichterstattung, einem übereinstimmenden Parlaments (Th e European Institute for the Media 2004) berufl ichen Selbstverständnis und korrespondierenden erbrachte, dass in den Mitgliedsstaaten der EU Medien- persönlichen Haltungen. konzentrationen auf sehr verschiedene Weise kontrol- Auf der normativen Ebene ist das ein plausibles An- liert werden. In Österreich, Deutschland, Irland und liegen; der Vergleich mit den Medien passt auch, weil Grossbritannien enthält das Wettbewerbsrecht spezi- – insbesondere die elektronischen – Medien gelegentlich elle Regeln für solche Fusionen, in manchen Ländern als Religionsersatz in der säkularisierten Welt darge- gibt es verschiedene Stufen der Kooperation zwischen stellt werden (Reichertz 2000; Thomas, 2000): Vor Sendern und Wettbewerbsbehörden. In Belgien, Lett- allem das Fernsehen biete Sinngebung, Identitätsstif- land, Luxemburg, Litauen, Portugal und Schweden und tung und Orientierungsleistung an und könne religiös- Spanien gibt es keine Beschränkungen für Cross-M- äquivalenten Charakter annehmen (Hoover / Lundby edia- Besitz; in Italien und Frankreich begrenzen Markt- 1997). »Web 2.0 - Droge, Religionsersatz oder Zukunfts- anteile den Medienbesitz. Die Studie kommt zu dem technologie?« überschrieb die NZZ jetzt einen Bericht Ergebnis, dass die Systeme sich entlang und teilweise in über das, was durch das ›neue Web‹, das vor allen Dingen Reak tion auf die nationalen Märkte entwickelten, die in eine interaktive Plattform ist, auf uns zukommen könnte jedem Land spezielle Charakteristika haben. Mit einer (nzz, 13.1.2007). 2 Harmonisierung dieser Regeln sei nicht zu rechnen, aber Die Spurenaufnahme erfolgt an drei empirischen die bisherige Annäherung reiche vergleichsweise weit. Schauplätzen – bei den Mediensystemen, bei den jour- Ist zu erwarten, dass sich Mediensysteme und politische nalistischen Kulturen und bei ihren jeweiligen Profes- Kulturen in vergleichbarer Weise angleichen? sionsethiken. Was prägt, was charakterisiert, was wiegt Die Mediensystemforschung erfolgte lange vor allem aus besonders schwer? Gibt es Bewegung hin zu einer sich westlichem Blickwinkel. James Curran und Myung- stärker vereinheitlichenden journalistischen Professions- Jin Park (2000) legten als eine der Ersten diese Brille ab. ethik, beispielsweise angetrieben durch grenzübergrei- Und sie widersetzten sich bewusst dem Diktum, die Zeit fend agierende Medien, durch die EU-Korrespondenten des Nationalstaats sei vorbei. Im Gegenteil, der Natio- oder durch grenzübergreifend angelegte Formen von nalstaat sei von zentraler Bedeutung, folgern sie aus ihrer Journalismus? Beobachtung von Medien und Medienschaff enden: Das Zur Analyse werden aktuelle Studien sekundärana- Kommunikationssystem sei trotz Globalisierung in wei- 14 | lytisch herangezogen und Praxisbeispiele erörtert. ten Teilen national geblieben, nationale Regierungen beeinfl ussen die Charakteristik des Mediensystems, Na- Die Kulturgebundenheit des berufl ichen Selbstver- tionalität bewirke vielfältige Unterschiede – verschiedene ständnisses ist ein off enbar globales Phänomen. Jacob Sprachen, politische Systeme, Kulturen – und forme so Shamir (1998) vergleicht israelische Journalisten mit das journalistische Selbstverständnis. Daniel C. Hal- amerikanischen: Israeli stellen professionelle Werte ge- lin und Paolo Mancini (2004) sowie Roger Blum genüber nationalen Interessen zurück, ihnen ist die nati- (2005) sortieren Länder anhand bestimmter Merkmale onale Moral und das Ansehen ihres Landes in den Augen in Modelle und stellen fest, dass jene Länder, die ver- der Weltöff entlichkeit wichtiger. Dieses Bild diff erenziert schiedenen Systemmodellen angehören, auch dann noch sich für die USA spätestens nach den Terroranschlägen stark unterschiedliche Journalismuskulturen behielten, vom 11. September 2001: Ereignisse grosser Tragweite wenn sie im politischen Kontext der Europäischen befördern auch in ansonsten liberal strukturierten Nati- U nion längstens verbunden worden waren. onen patriotische Neigungen im Journalismus. (Klein- Hallin und Mancini führten als Unterscheidungs- steuber 2002, Klüver 2001, Leyendecker, 2001, merkmal unter anderem die Professionalisierung an. Hier L iebert 2001). setzte Stephan Russ-Mohl bereits 1994 an. Der Fak- Die Professionsethik ist Herzstück der journalistischen tor Ausbildung wirke vereinheitlichend – hin zu einem Berufskultur. In fast allen Ländern gibt es berufsethische Europäischen Journalismus. Das ist zumindest derzeit Kodizes (http://www.ijnet.org/Director.aspx?P=Ethics, unwahrscheinlich. Ein Beispiel: Ausbildung sollte zum [20.1.2007]), nationale journalistische Verbände formu- Beispiel auf dem Balkan eine Schlüsselrolle spielen für lieren Positionspapiere. Der Karikaturenstreit 2006 zeigt einen den neuen Staaten angemessenen, demokratisier- exemplarisch, welch’ unterschiedliches Vorgehen für den ten Journalismus. Doch die Mission der überwiegend Umgang mit solchen Th emen die Kodizes allein in den aus dem Westen stammenden Ausbilder blieb ohne EU-Staaten empfehlen: 4 grosse Wirkung: Das Erlernte wurde im Redaktions- In einigen Kodizes bleibt die Entscheidung ausdrück- alltag oft schlicht nicht umgesetzt (Robison 2005). Ein lich dem einzelnen Journalisten überlassen (Belgien, Dä- weiteres Beispiel: Im Trainingszentrum von Al Jazeera nemark). Manche Kodizes verbieten nur Diskriminie- (Miles 2005) in Doha wird gelehrt, Nachrichten nach rung beziehungsweise Beleidigung oder üble Nachrede amerikanischem Muster aufzubauen und das Wichtigste (Frankreich, Italien, Portugal, Polen, Österreich, Finnland, an den Anfang zu setzen. Doch was bedeutet das? Die Ungarn, Schweden, Großbritannien); andere Kodizes Formen journalistischer Gefässe mögen sich angleichen, verbieten Publikationen, die Hass, Diskriminierung oder vielleicht gar vereinheitlichen lassen; das erleichtert die Gewalt fördern (Bulgarien, Polen, Irland, Niederlande, Verständigung, doch es bedeutet nicht, dass die Inhalte Spanien, Tschechien, Malta, Großbritannien). Einige nach gleicher Rezeptur gebraut werden. In diese mischt Kodizes weisen auf religiöse Gefühle bzw. deren Unver- jeder Journalist unbewusst und ganz selbstverständlich letzbarkeit hin (Griechenland, Polen, Spanien, Lettland, Ingredienzien seiner Kultur und Sozialisation: Ein gläu- Litauen, Slowakei, Slowenien, Deutschland). biger Muslim schreibt manches einfach nicht; da gibt es Barbara Thomass (1998) verglich die Praxis. Sie stell- für ihn nichts zu lernen. te Professionsethiken in Deutschland, Frankreich und Empirisch belegt ist, dass historische Unterschiede das Grossbritannien gegenüber, indem sie Journalistenorga- Rollenverständnis eines Journalisten prägen und seine nisationen und Ausbildungsinstitutionen ansah. Ergeb- Art mit Informationen umzugehen. Sie sind Wurzelwerk nis: Die Unterschiede sind gross, die nationale Prägung verschiedenartiger journalistischer Kulturen. (D onsbach off enbar stärker als dies oft angenommen wird. Dick 1982; Köcher 1986; Weaver & Wilhoit 1996). Das van Eijk (2005) bestätigte dies am Beispiel von investi- reicht ins Mark: Journalisten in Grossbritannien, den gativ arbeitenden Journalisten, die bei der Zusammenar- Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland und Ita- beit mit Kollegen in anderen Ländern überraschend an lien beispielsweise sehen sich der Objektivität verpfl ich- Grenzen stiessen, oft schlicht, weil andere Fragen bei der tet; doch in jeder dieser journalistischen Kulturen wird Recherche zählten. Die Neigung, fast automatisch davon Objektivität ein wenig anders interpretiert (Donsbach auszugehen, anderswo laufe Journalismus wie im eigenen & Klett 1993). Land, ist trügerisch. Ein Beispiel: In Deutschland wird | 15 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

der Informantenschutz hoch gewertet, in Frankreich ist kleinen Marktes und der niedrigen Aufl agen sind sie er eingeschränkt; Medienschaff ende, die Regeln verlet- besonders abhängig von wirtschaftlichen Interessen. Sie zen, können mit Gefängnisstrafen belegt werden. a rbeiten oft Hand in Hand mit Politikern, üben wenig Übereinstimmungen sind am ehesten dort festzustellen, und selten Kritik und betreiben eigentlich PR, um über- wo sich politische Kulturen ähneln. Weder Europäisie- haupt auf ihre Kosten zu kommen. Korrespondierend rung noch Globalisierung bilden gegenwärtig ein dem sehen Medien-Besitzer ihre Produkte weniger als Infor- Nationalstaat vergleichbares politisches Gegengewicht mations- und Unterhaltungsleistung, denn als Lobbying- oder erzeugten ein System mit einer gemeinsamen poli- Werkzeuge. tischen Kultur. Die EU z. B. erhält faktisch immer mehr Kompetenzen, doch kann von einer europäischen Öff ent- lichkeit nicht die Rede sein. Die Bürger Europas sehen 2. Ist mit mehr Vereinheitlichung zur rechnen? sich nicht als Europäer, sondern als Deutsche, Franzosen, Polen … – die politische Kultur des Nationalstaats formt Vor allem aus drei Bereichen könnte ein Sog oder zu- auch das Gesicht des journalistischen Berufsverständ- mindest eine Entwicklung hin zu einer einheitlicheren nisses. Professionsethik bewirkt werden: Durch grenzübergrei- Die Unterschiede sind riesig; ein paar Beispiele: 5 Fran- fend agierende Medien, durch prinzipiell für das gesamte zösische Journalisten sehen sich als Teil des politischen Staatenbündnis ›zuständige‹ EU-Korrespondenten sowie Systems, ihre Haltung zu Th emen, die Frankreich be- durch spezielle Journalismusformen. Bringen sie tatsäch- treff en, ist affi rmativ; die meisten deutschen Journalisten lich einiges in Bewegung? hingegen halten sich für Faktenvermittler; schwedische Impulse durch grenzübergreifend agierende Medien? Journalisten legen besonders viel Wert auf Integrität, ein Die Financial Times wird in 140 Ländern gelesen; sie Recht zur Gegendarstellung gibt es nicht und der Re- ist in Grossbritannien und Amerika verbreitet sowie in dakteur haftet für das, was er publiziert. Kontinentaleuropa und Asien - in vier Ausgaben sowie in Interessant ist auch, wie verschieden sich das Selbst- Online-Produkten. Ex-Chefredakteur Gowers (2006) 6 verständnis von Journalisten in den ehemaligen Ost- behauptet, die Bedürfnisse der Leserschaft bei Wirt- blockländern nach dem Ende des Kalten Krieges und schaftsnachrichten werden sich – global gesehen – im- der Transformation zu demokratischen Systemen entwi- mer ähnlicher: Ein amerikanischer Manager wolle über ckelte. Bis 1989 war dem Medienschaff en der für kom- die gleichen Th emen Bescheid wissen wie seine Kollegen munistische Staaten typische, restriktive Rahmen gesetzt, in Europa. Gowers schildert die Strategie, nach der das die Situation war in all diesen Ländern im Prinzip ähn- Blatt die Internationalisierung betrieb: In allen Kultur- lich. Ein Blick in einige der Staaten darunter, die 2004 kreisen gelten die gleichen journalistischen Standards, EU-Mitglied wurden: Polnische Journalisten wollen die Argumentationslinie der Kommentare bleibt unver- aktiv das Geschehen beeinfl ussen und fühlen sich ver- ändert und es wird das gleiche Th emenspektrum angebo- antwortlich für den Aufbau der demokratischen Gesell- ten – aber mit unterschiedlicher Gewichtung, um regio- schaft und die Meinungsfreiheit; viele Verlage scheuen nale Akzente zu setzen. Ein Indiz für einen Trend hin zu nicht, Konfl ikte mit Politikern oder anderen Akteuren einer Art Weltjournalismus ist dieses Konzept nicht. 7 vor Gericht auszufechten. Ungarische Journalisten nei- Transnationale Sender wie Arte, Euronews, MTV, gen zu tiefem Misstrauen, Politikern, aber auch Kollegen BBC, CNN, Al Jazeera etc. agieren abhängig davon, ob gegenüber. Sie sind gespalten in parteipolitische Blöcke sie ihre Mission als politische oder als kommerzielle und defi nieren sich über sie. Hintergrund ist z. B. dass sehen. Im Mittelpunkt steht nicht, ob sie eine Art Medien hier unter dem Einfl uss des Geheimdienstes Weltinformations auftrag erfüllen, sondern wie sie in eine wichtige Rolle spielten beim politischen Wechsel in ihrem Sendegebiet ankommen (Chalaby 2002, 2005). den Jahren 1988 – 90; Politiker sehen in ihnen bis heute CNN (Whittemore 1990), 1980 gegründet, war das Werkzeuge, die unter Kontrolle zu halten sind. erste neuartige Netzwerk, das sich das ›globale Dorf‹ Slowenische Journalisten defi nieren sich ebenfalls als Zielgruppe vornahm, rückte aber – spätestens nach über Parteiaffi nität. Im kommunistischen System waren 9 / 11 – den amerikanischen Blick auch im internationa- Medien Werkzeuge der Partei, viele Politiker sehen das len Programm, in den Vordergrund. France 24 verfolgte immer noch so. Der Einfl uss des Staates erfolgt direkt gleich vom Start an das Ziel, der Welt die französische innerhalb staatlicher Medien sowie indirekt z. B. durch Perspektive zu liefern (Kohl 2006). Die BBC, die gros- Lizenzvergabe oder auch durch die öff entlich erhobene sen Wert auf ihren globalen Blick legt, berichtet über Er- Forderung, einen missliebig gewordenen Chef eines eignisse von nationaler Bedeutung für Grossbritannien – Medienunternehmens abzusetzen. Slowakische Journa- über Terroranschläge der IRA beispielsweise, sowie über listen empfi nden die Grenzen zwischen ökonomischen den Irakkrieg – tendenziell patriotisch (Carruthers 16 | und journalistischen Werten als fl iessend; aufgrund des 2000). Harte Grenzen

Transnationale Formate verändern das M ediensystem im Verbreitungs- oder Sendegebiet, was nutzt sie ihnen? (im Falle von Al-Jazeera sind staatliche Informationsmo- Allen ist gemeinsam, dass sie die europäische Einigung nopole, die bis dahin den Journalismus in den Staaten befürworten – aber eben jeder in anderer Weise. Das be- der Arabischen Welt prägten, nicht mehr alleingül- wirkte letztlich das Debakel vor der Unterzeichnung der tig), erschüttern das System jedoch keineswegs in den EU-Verfassung im Frühjahr 2005, als die Franzosen und Grundfesten. Jeder Nachrichtensender operiert aus sei- die Niederländer dagegen stimmten – und belegt, es gibt nen Kulturkontexten und damit aus den Kulturkontex- bislang keinen Journalismus, der sich aus einer gemein- ten seiner Publika. Allenfalls aus diesem Zusammenhang samen europäischen Kultur generiert. heraus lässt sich der in allen Journalismuskulturen der Welt hochgehaltene Wertebegriff der Objektivität in der Bewegung durch interaktiven Journalismus Berichterstattung überhaupt fassen (Hafez 2002). Ein (Blogosphere, web 2.0)? Beispiel: Westliche Medien nannten die US-Invasion Revolutionäre Entwicklungen durch Satellitentechnik im Irak 2003 häufi g Befreiungskrieg, arabische Besat- und Internet verändern die Medienmärkte und öff nen zungskrieg (Hahn 2004). Was ist objektiv richtig? Meist Wege für den klassischen Journalismus sowie für neue kommt es auf den Kontext an – in diesem Beispiel hin- und veränderte Formen von Journalismus. Nicht jeder gegen ist von der Sachebene her beides zugleich richtig: Blogger ist Journalist, aber Blogging kann Journalismus Der Irak wurde besetzt und befreit. sein (Armborst 2006). Wie auf diese Weise ein globaler Wert der journali- Bewegung durch EU-Korrespondenten? stischen Profession, die Medienfreiheit, befördert wer- Journalismuskultur hat auf EU-Ebene einen gemein- den kann, liefert das Beispiel des ägyptischen Bloggers samen Nenner, über alle nationalen Grenzen hinweg: Alaa Seif (Richter 2006). Er wurde verhaftet, weil Sie ist geprägt durch das Verhältnis zwischen Journa- er die Reformbewegung unterstützt, die das Ende der listen auf der einen Seite, sowie PR-Fachleuchten und Herrschaft Mubaraks einklagen will. Seine Freunde Spindoktoren auf der anderen Seite in Brüssel. Den liefen den Polizeiwagen nach, das Handy am Ohr und 1000 Journalisten sitzen 12 000 bis 14 000 Lobbyisten am anderen Ende der Verbindung Freunde, die sofort gegenüber (Bastin 2003). Fast jeder zweite Bericht über die Information in den Computer tippten und über die EU basiert auf PR-Aktivitäten (Neidhardt 2004). die Satelliten-Sender verbreiteten – bis zur für sie erlö- Ob beeinfl usst oder nicht, die Tendenz, die EU einfach senden Botschaft: »Alaa bloggt aus seiner Zelle«. In den positiv darzustellen, überwiegt (Tillack 2006); generell klassischen Medien in Ägypten hätte Seif aufgrund der allerdings, so neuere Daten (Medien Tenor 2007), haben staatlichen Zensur niemals ein Forum erhalten. es EU-Th emen schwierig, bei Journalisten Aufmerksam- Die Pressefreiheit könnte der Schlüssel sein, die »con- keit zu erreichen. ditio sine qua non«, das Rückgrat einer europäischen, gar Die akkreditierten Journalisten in Brüssel bilden keine globalen Professionsethik, die Basis für ein Weltethos homogene Gruppe (Bastin 2003): Es gibt »Highprofes- des Journalismus. Hier entsteht off enbar auch Bewegung: sionals«, die ihre Zeit in Brüssel nutzen, um Netzwerke Reporter ohne Grenzen (2006) stellte für EU-›Neuland‹ für ihre weitere Karriere zu knüpfen, eine kleine Gruppe Rumänien fest, dass es von Platz 70 auf 58 vorgerückt ist, von investigativ arbeitenden Journalisten, und eine weit weil vorbereitend auf den Beitritt seit Juni 2006 »Ver- grössere Gruppe von Korrespondenten, die ihr Einkom- leumdung« nicht mehr strafrechtlich verfolgt wird. men oftmals auf beiden Seiten des Schreibtisches erwirt- Doch die Pressefreiheit ist kontext- und kulturkreis- schaftet: aus journalistischer Arbeit und aus PR- Arbeit. abhängig. Der Karikaturenstreit im Januar 2006 zeigte Ausschlaggebend für Th emensetzung und Umfang der auch, wie Pressefreiheit sich aus kulturellen Gründen – meisten Korrespondentenberichte ist die Haltung des in diesem Falle aus Unwissen und aus der Überzeugung verantwortlichen Redakteurs im Stammhaus; diese einer kulturellen Überlegenheit – instrumentalisieren orientiert sich in der Regel an einer im Land üblichen lässt. Dann wirkt sie trennend, statt verbindend. Haltung gegenüber der EU. Deshalb würde es letztlich Die Journalisten von Jyllands-Posten, die die Karika- wenig bewirken, sollten sich Europakorrespondenten turen ins Blatt hoben, kamen schon deshalb nicht auf die verschiedener Länder in ihren Stilen angleichen. Der Idee, das könnte sensibel sein, weil sie gar nicht wussten, heimische Filter ist zu stark; und er steht einer Mischung dass es im Islam ein Bilderverbot gibt: Ein gläubiger von Journalismuskulturen entgegen. Muslim macht sich kein Bild von Mohammed. Manche Die Journalisten in den Heimatredaktionen orientieren westliche Zeitung druckte die Karikaturen nach, darun- sich nicht an irgendeinem Europabild, sondern an den ter die Welt. Deren damaliger Chefredakteur Roger Bedürfnissen ihrer eigenen, nationalen Bevölkerung 8 Köppel argumentierte, dieser Akt bilde eine Speerspitze und fragen nach dem Bezug eines Th emas zu ihrer Re- im Kampf für die Pressefreiheit. Tatsächlich bewirkten gion: Was kostet eine EU-Entscheidung die Menschen er und andere letztlich möglicherweise einen Angriff | 17 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

auf die Pressefreiheit. Jedenfalls sind die Bedingungen daher auch der Vergleich der Kodizes von westlicher für regimekritische Journalisten in arabischen Ländern und arabischer Welt. Die Entwicklung hin zu zuneh- seither eher noch schwieriger geworden (Der Journalist, mend global auftretenden Medien schlug sich auch 3/2006; Assheuer 2006; Walther 2006) nieder in einer Debatte über die formalen Prinzipien journalistischer Ethik, wie sie in Kodizes festgeschrie- ben sind. Das Recht auf freie Meinungsäusserung ist 3. Fazit immer genannt, doch in Wirklichkeit existiert es im arabischen Raum dann oft gar nicht, weil es anderen Eine gemeinsame journalistische Professionsethik ist fundamentalen Rechten nachgeordnet ist, etwa dem nicht in Sicht. Zurzeit. Weder im europäischen noch Recht auf die Privatsphäre. Dennoch: Trotz aller Ver- im globalen Rahmen. Journalisten handeln in der Regel schiedenheiten ist auf formeller Ebene eine wachsende kontextgeprägt, bezogen auf ihr Mediensystem, auf ihr Vereinheitlichung der journalistischen Ethiken festzu- Land. stellen (Hafez 2002). Diese Grenzen sind hart. Härter als wir gemeinhin an- 5 Die Länderstudien, die verschiedene Institutionen im nehmen. Sie sind nicht unüberwindbar. Satellitenfern- Internet publizieren, spiegeln die jeweils verschiedenen sehen und Internet halfen über technische Hürden. Ein Facetten des journalistischen Selbstverständnisses: Schlüssel, um kulturelle Barrieren zu überwinden, ist der www.freemedia.at; www.freepress.org.pl; www.ifj - Dialog. In dem Masse, in dem die Handelnden, in die- europe.org; www.kas.de; www.reporter-ohne-grenzen. sem Fall die Journalisten, sich dem Dialog öff nen und de; www.uta.fi /ethicnet. Für Deutschland vgl. auch Hinhören, öff nen sie auch ihre Publika ... – es gibt einige Weischenberg, Malik & Scholl (2006); speziell für Wege hin zum globalen Dorf. Manche sind gerade erst Südeuropa Spassov (2004) und für alle zudem Kelly, begonnen, manche sind bereits gut ausgebaut; für alle gilt Mazzoleni & Mc Quail (2004). ein Satz von Franz Kafka: »Wege entstehen dadurch, 6 Gowers verliess die Financial Times im November dass wir sie gehen.« 2005, weil es in der Führungsriege unterschiedliche Auff assungen zu weiteren Strategien für das Blatt gab. 7 Hier spielt wiederum auch die Tradition eine Rolle: Anmerkungen In Frankreich beispielsweise zählt Wirtschaft nicht zu den klassischen Ressorts einer Tageszeitung. Le Monde 1 Basierend auf der 1990 von Hans Küng vorgelegten hat keinen Wirtschaftsteil; es gibt erfolgreiche Wirt- Programmschrift verabschiedete das Parlament der schaftszeitungen wie Les Echos und La Tribune. Weltreligionen in Chicago 1993 eine »Erklärung zum 8 Interview von Marlis Prinzing mit Sandra Fiene, Weltethos«. www.weltethos.org//03-deklaration.htm 22.11.2005: Die Journalistin, die bis Ende 2003 für das [16.2.2007]. ZDF in Brüssel war, erklärt das am Beispiel des Mara- 2 Im Text wird Kevin Kelly zitiert, amerikanischer thons des Europaparlaments zum »Reach«-Paket, wo Zukunftsforscher und Mitbegründer des Internet- und es um die Kennzeichnung von Chemikalien geht. Sie Technologiemagazins Wired. Für ihn ist Web 2.0 ein habe ihrer Redaktion lange zuvor, bereits vor drei Jah- weiterer Schritt zur Erlösung. Das Web werde zum Be- ren eine Geschichte zu diesem Th ema angeboten, aber triebssystem eines Megacomputers, »der das Internet keinen habe das interessiert. umfasst, alle seine Dienste und peripheren Prozessoren und die damit verbundenen Geräte vom Scanner zum Satelliten, Milliarden von menschlichen Gehirnen in diesem globalen Netzwerk; … Kelly schreibe ›Ma- schine‹ im Englischen mit grossem ›M‹, um ihre Gött- lichkeit anzudeuten.« 3 http://www.rtlgroup.com/PressRelease3949.htm [30.3.2007]. Die RTL Gruppe entstand im Jahr 2000 aus der Fusion von Marktführer CLT-UFA in Luxem- burg (sie gehörte damals der Bertelsmann AG und der belgisch-kanadischen Gruppe Groupe Bruxelles Lam- bert (GBL)) mit der Produktionsgesellschaft aus dem britischen Pearson TV-Konzern. 2001 wurde Bertels- mann Mehrheitsaktionär und übernahm die Pearson- Aktien. 18 | 4 Das Phänomen ist globaler Natur. Aufschlussreich ist Harte Grenzen

Literatur

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Medien-Selbstkontrolle im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Verantwortung: Corporate Social Responsibility-Strategien in deutschen Medienverlagen

1 Problemstellung

Als einen der Schlüsseltrends für das Jahr 2007 diagnos- er folgen können. Dabei wird vorgeschlagen, mögliche tizierte Matthias Horx die Th ematisierung von mo- Maßnahmen in ein umfassendes unternehmerisches ralischen und ethischen Issues, die er plakativ unter dem Konzept, nämlich CSR, einzubetten. Label »Neuer Moralismus« subsumiert (vgl. Schreier Vor diesem Hintergrund sind wir der Frage nachgegan- 2007). Obwohl der Trend bereits einen Vorläufertrend gen, wie Medien ihre gesamtgesellschaftliche Verantwor- (»Neue Ehrlichkeit«) besitzt und damit nicht wirklich tung defi nieren und in welchem Umfang sie überhaupt neu ist, ändern sich die Parameter in der Moral debatte gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Die ex- gravierend: Wirtschaftseliten sehen sich zunehmend plorative Studie betrachtet als Ausgangspunkt das CSR- Kritik ausgesetzt. Prominente Einzelfälle wie Mannes- Engagement deutscher Medienverlage, versucht aber mann / Vodafone, Siemens oder die Deutsche fügen gleichzeitig herauszufi nden, ob sich Entwicklungsmög- sich wie Mosaiksteine zu einem negativen Gesamtbild lichkeiten für weitergehende Konzepte wie das Media zusammen, das sich die Öff entlichkeit inzwischen von Governance-Modell ergeben. 1 Da beide Konzepte sehr der Wirtschaft und ihren Entscheidungsträgern ge- vielschichtig sind und in unterschiedlichen Kontexten macht hat. Der Vorwurf, dass Unternehmen nicht i hrer verwendet werden, sollen sie zunächst näher bestimmt gesellschaftlichen Verantwortung nachkämen, steht al- werden. Anschließend werden die Ergebnisse der Studie lerdings im krassen Gegensatz zu den ausdrücklichen präsentiert. Im Fazit lässt sich abschließend bewerten, Bekenntnissen zu so genannten Corporate Social Re- wie Medienverlage aktuell mit der Frage gesellschaft- sponsibility-Strategien (CSR-Strategien). Gemeint sind licher Verantwortung umgehen. damit Maßnahmen, auf die Unternehmen zurückgreifen können, um der wachsenden sozialen und ökologischen Verantwortung gerecht zu werden. Weltweit wächst die 2 Corporate Social Responsibility – das Konzept Zahl der Unternehmen, die sich der unternehmerischen Verantwortung verschrieben haben. In der Diskussion um gesellschaftliche Verantwortung Medienunternehmen stehen in dieser Frage prinzipiell von Unternehmen werden sehr unterschiedliche Begriff - vor denselben Herausforderungen wie andere Unter- lichkeiten verwendet. Corporate Sustainability, Corporate nehmen, jedoch spielen sie in mancherlei Hinsicht eine Citizenship oder auch Corporate Volunteering sind nur ei- besondere Rolle. Zum einen prägen die Medien den öf- nige, die in der Literatur zu fi nden sind. Angesichts der fentlichen Diskurs über das Th ema und erhöhen dadurch vielfältigen Bezeichnungen des Konzepts verwundert es den Legitimationsdruck auf Unternehmen, zum anderen nicht, dass bei Unternehmen oder in der Politik eine ge- haben sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Funktion eine wisse Unsicherheit festzustellen ist, welche Ansprüche besonders sensible Position und damit auch besonders sich dahinter verbergen und welche Forderungen explizit große Verantwortung. Darüber hinaus sieht sich die Me- berücksichtigt werden sollten. dienbranche starken strukturellen Veränderungen aus- Freiwilliges bürgerschaftliches bzw. zivilgesell- gesetzt, die das Risikopotential erhöhen. Insbesondere schaftliches Engagement ist in den USA stär- mediale Konzentrationsprozesse führen zu wachsender ker verankert als in Deutschland, so dass – wenig Medienmacht und zu verstärkter Kommerzialisierung überraschend – die Wurzeln der Diskussion um ge- der Medienproduktion. Begriff e wie Media Governance sellschaftliche Verantwortung von Unternehmen im oder Media Responsibility in der medienpolitischen Dis- angelsächsischen Sprachraum liegen. »Unternehmen kussion greifen diese veränderten Ausgangsbedingungen werden dort viel stärker als korporative Akteure und auf und diskutieren die Sonderstellung der Medien. Ein gleichzeitig in ihrer Rolle als guter Bürger« wahrge- wesentlicher Bestandteil von Media Governance ist da- nommen (Meffert / Backhaus / Becker 2005, 4). bei, dass Regelungen nicht ausschließlich von staatli- Im europäischen Kontext dagegen hat der Begriff erst in cher Seite, sondern auch in Form von Selbstkontrolle den vergangenen fünf Jahren – insbesondere durch die | 21 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Aktivitäten der Europäischen Kommission – an Kontur Ziel durch die Schaff ung eines off enen Europäischen gewonnen. Die erste grundlegende Publikation zum Bündnisses für CSR, das neue oder bereits bestehende Th ema entstand im Jahr 2001 mit dem Grünbuch Corpo- CSR-Initiativen von Großunternehmen, kleinen und rate Social Responsibility, in dem CSR defi niert wird als mittleren Unternehmen und ihren Stakeholdern verei- »ein Konzept, das den Unternehmen als Grundlage dient, nigt. Innerhalb des Bündnisses wird vor allem den Groß- auf freiwilliger Basis soziale und ökologische Belange in unternehmen eine Vorreiterrolle zugedacht. Gerade sie ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbezie- sollten die Ergebnisse ihrer CSR-Strategien und -Initia- hungen mit den Stakeholdern zu integrieren«. Als Stake- tiven in einer für die Öff entlichkeit leicht verständlichen holder gelten dort nicht nur Anteilseigner, Mitarbeiter Weise präsentieren. und Kunden, sondern auch Bürger, Politiker und NGOs. Angeregt durch die Diskussion auf europäischer Ebene, CSR sieht somit vor, dass Unternehmen ihre Wertschöp- steht das Th ema inzwischen auch auf der Agenda deut- fungskette nicht ausschließlich nach ökonomischen Kri- scher Konzerne. Während auf politischer Ebene das Po- terien, sondern auch nach sozialen und ökologischen tential als Initiator bzw. Vermittler von Aktivitäten noch Prinzipien organisieren (vgl. Abbildung 1). Dabei hebt lange nicht ausgeschöpft ist, 3 gibt es auf Unternehmens- die EU-Kommission sowohl das Freiwilligkeitsprinzip seite einige erfolgreiche Beispiele bei der Ausgestaltung als auch den Dialog mit den relevanten Anspruchsgrup- und Umsetzung des Konzeptes. 4 Fortschritte gibt es vor pen hervor. 2

Abbildung 1: CSR-Handlungsfelder und zugehörige Th emenbeispiele

Corporate Social Responsibility

Handlungsfelder Handlungsfelder weitere Handlungsfelder ökologische Verantwortung soziale Verantwortung

Betrieblicher Umweltschutz Interessen der Mitarbeiter Corporate Citizenship - Klimaschutz - Entlohnung Spenden - Energiemanagement - Arbeitszeitmodelle Unternehmensstiftungen - Wasser und Abwasser- - Aus- und Weiterbildung Corporate Volunteering management - Arbeitnehmerrechte Sponsoring - Abfallmanagement - Vielfalt u. Chancengleichheit Umweltschutz in der Supply Chain - Gleichstellung von Mann und Frau Verantwortung im Umfeld Ökologische Produktverantwortung / Arbeitsbedingungen und Menschen- regionale Verantwortung als Integrierte Produktpolitik rechte in der Supply Chain Auftraggeber u. Auftragnehmer Verbraucherschutz, Steuern und Subventionen Kundeninformation Antikorruption Beitrag zur Politik / zum Ordnungsrahmen Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Loew / Braun 2006, S. 44 – 45.

Wichtige Etappen in diesem Prozess markierten in den allem beim Reporting. Immer stärker setzt sich in die- folgenden Jahren die Mitteilung der Kommission zur sem Bereich eine Standardisierung durch, um auf diesem sozialen Verantwortung der Unternehmen (vgl. KOM Wege ein gemeinsames Begriff sverständnis von CSR zu 2002), die Einrichtung eines EU-Stakeholder-Forums fördern. Der bedeutendste Akteur auf diesem Gebiet ist zu CSR sowie die diesjährige Mitteilung an das Europä- die so genannte Global Reporting Initiative (GRI). Sie ische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirt- veröff entlicht Richtlinien für die strukturelle und inhalt- schafts- und Sozialausschuss mit dem Aufruf »Europa liche Ausgestaltung von Nachhaltigkeitsberichten, die soll auf dem Gebiet der sozialen Verantwortung f ührend sich an den drei Nachhaltigkeitsdimensionen Ökologie, 22 | werden« (vgl. KOM 2006). Erreicht werden soll dieses Soziales und Ökonomie orientieren. Berichtsstandards, Medien-Selbstkontrolle im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Verantwortung

wie sie die GRI vorlegt, erhöhen nach Aussagen von schaff t – in erster Linie umgesetzt durch eine Art Risi- Experten die Transparenz für CSR-Maßnahmen und kodialog, der Missbrauchspotential erfasst, evaluiert und schaff en damit die Voraussetzung für mehr Glaubwür- ergriff ene Maßnahmen dagegen off en legt. Mit diesem digkeit (vgl. Habisch 2006). Allerdings ist es aufgrund MonitoringSystem könnten führende Medienunterneh- der zum Teil sehr widersprüchlichen Entwicklungen bis- men »ihre Gesellschafts und Demokratieverträglichkeit« lang nicht gelungen, CSR von seinem negativen Image, quasi unter Beweis stellen (Meier 2006, 205ff ). 7 In- nämlich lediglich im Sinne eines Image Managements wieweit die Unternehmen zu einem solchen Schritt bereit zu fungieren, zu befreien. 5 sind, ist aber noch weitgehend off en und soll im Rahmen der vorliegenden Studie erstmals abgefragt werden.

3 Gesellschaftliche Verantwortung in Medienunternehmen 4 Untersuchungsdesign

Wie eingangs erwähnt, hat sich die Notwendigkeit von Die vorliegende empirische Analyse skizziert aktuelle Media Governance aus den Fehlentwicklungen, die ins- Entwicklungen und unterschiedliche Ausgestaltungs- besondere die zunehmende Medienkonzentration und möglichkeiten von CSR in deutschen Medienunterneh- wachsende Medienmacht mit sich bringen, ergeben. Als men. Dabei wurden Antworten auf folgende zentrale Ausgangspunkt stellt sich demnach die Frage, wie publi- Fragen recherchiert: Verfügt das Unternehmen über ein zistische Leistungsfähigkeit unter den momentan herr- CSR-Konzept mit einer langfristigen CSR-Strategie? schenden Marktstrukturen sichergestellt werden kann. Welche CSR-Aktivitäten gibt es in welchen Bereichen? Vor diesem Hintergrund thematisieren einige Autoren Welche Motivation wird als Grund für CSR-Aktivitäten Media Governance als Ausdruck medienunternehme- angeführt? Welche Stakeholder-Gruppen stehen im rischer Verantwortung und interpretieren diese als eine Fokus der CSR-Kommunikation? Wie werden die Ziel- Art Rechenschaftspfl icht der Medien gegenüber der Ge- gruppen angesprochen? Gibt es Entwicklungspotential sellschaft (vgl. McQuail 2003, Bardoel / d’Haenens für weitergehende Konzepte wie das beschriebene Me- 2004, van Liedekerke 2004). Nach Trappel et al. dia Governance Konzept? Sind die Verlage bereit zu (2002, 132) zielt das Modell »auf eine Verpfl ichtung von einem Risikodiskurs, wie ihn Trappel und Meier vor- Medienunternehmen …, ihr unternehmerisches und pu- schlagen? 8 blizistisches Handeln öff entlich zu rechtfertigen und auf Ausgewählt wurden die Axel Springer AG, der Bertels- diese Weise Akzeptanz für ihre unternehmerischen Ent- mann-Konzern, Hubert Burda Media und der Verlag scheidungen zu erreichen«. Ob sie der gewachsenen Ver- Gruner + Jahr. Der Bauer Verlag wurde aus der Unter- antwortung nachkommen, können Medienunternehmen suchung ausgeklammert, da er trotz einiger Aktivitäten beispielsweise mittels neuer Leitbilder, gesellschaftlicher im sozialen und Umweltbereich das Th ema CSR bisher Umweltbilanzen oder medienethischer Kodizes darlegen weder strategisch noch kommunikativ explizit besetzt. (auch regulierte Selbstevaluierung bzw. -organisation ge- Der Bertelsmann-Konzern wurde bewusst mit in die em- nannt). 6 Vorgeschlagen wird beispielsweise eine Stellung- pirische Analyse aufgenommen, zum einem, um einen nahme zu folgenden Fragen (vgl. Trappel et al. 2002, 135): Benchmark zwischen dem größten deutschen Medien- Welche Maßnahmen triff t der Medienkonzern, um die konzern und den größten deutschen Medienverlagen journalistische Unabhängigkeit der einzelnen Redakti- durchzuführen und zum anderen, um die Verknüpfung onen zu wahren? Auf welchem Wege wird versucht den der CSR-Strategien von Mutter und Tochter am Bei- Einfl uss von Werbekunden auf publizistische Inhalte zu spiel Bertelsmann und Gruner + Jahr zu untersuchen. Die minimieren? Wie unterstützt der Medienkonzern die empirische Umsetzung beinhaltete eine umfassende Do- publizistische Vielfalt im Lokalraum? kumentenanalyse beispielsweise der Unternehmensleit- Selbst- bzw. Co-Regulierung im Bereich der Massen- linien, der Geschäftsberichte und der Internetauftritte medien ist kein neues Phänomen, wird aber unter den ver- sowie Experteninterviews in den Verlagen. Im Folgenden änderten Rahmenbedingungen und im Hinblick auf das werden zentrale Befunde der Studie vorgestellt, insbe- Verhältnis von staatlicher und Selbstregulierung verstärkt sondere das Engagement der ausgewählten Verlage, ihre aufgegriff en und neu interpretiert (vgl. z. B. Donges 2004 Kommunikationsstrategien und praktizierte Standards. u. 2007). Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Durch- Die Ausprägungen von CSR in den verschiedenen setzung staatlich angeordneter Regulierung als schwie- Medienunternehmen sind so unterschiedlich wie de- rig erweist. Insgesamt kann das Konzept damit auch als ren Unternehmensphilosophien und -grundsätze. Die Auff orderung an die Medienunternehmen verstanden Studie legt aber eine Systematik zu Grunde, die einen werden, eine Wertedebatte zu beginnen, die über das Vergleich der CSR-Ansätze und -Aktivitäten ermöglicht. Streben nach Profi t hinausgeht und mehr Transparenz T abelle 1 gibt einen Überblick über die wesentlichen | 23 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Ergebnisse der Studie. Es konnten jedoch nicht alle wird bei der Bertelsmann AG mit dem Oberbegriff CR wichtigen Parameter umfassend erhoben werden (bei- (Corporate Responsibility), also mit der unternehme- spielsweise die Einbindung der Mitarbeiter und die Er- rischen Verantwortung, gearbeitet. Hubert Burda Media folgskontrolle der Projekte), da der Zugang zu diesen spricht von Corporate Culture und Gruner + Jahr von Informationen noch nicht bei allen betrachteten Unter- Corporate Social Responsibility. Hinter den Begriffl ich- nehmen der Studie möglich ist. keiten verstehen die Medienunternehmen und Verlage einen bunten Mix aus Projekten und Maßnahmen, die teilweise auch außerhalb der eigenen Schwerpunktset- 5 Philosophie und Konzept zung liegen. der unternehmerischen Verantwortung Ein ganzheitliches CSR-Konzept liegt in keinem Me- dienunternehmen vor, ist aber nach eigenen Angaben bei Die Wahrnehmung der unternehmerischen Verantwor- allen geplant bzw. in Arbeit. Hier wird ein großes Defi zit tung begründen alle vier Medienhäuser mit dem Verweis deutlich: Ohne ein auf den Unternehmenszweck abge- auf ihre Tradition und ihr Selbstverständnis. So leitet stimmtes CSR-Gesamtkonzept ist auch kein einheit- sich diese bei der Axel Springer AG von der Unterneh- licher und transparenter Auftritt von CSR nach außen mensverfassung ab. Sie wurde vom Verlagsgründer selbst möglich, wie ihn die Europäische Kommission aktuell bereits 1967 im Wesentlichen formuliert und verfolgt die mit ihrem Aufruf »Europa soll auf dem Gebiet der sozi- klare politische Ausrichtung auf ein »freiheitliches Welt- alen Verantwortung führend werden« fordert. bild« in fünf Leitlinien. Der Bertelsmann-Konzern verfügt über Essentials, die die Grundwerte »Partnerschaft, Un- ternehmergeist, Kreativität und gesellschaftliche Verant- 6 Zuständigkeit und Umsetzung wortung« beinhalten. Sie defi nieren verbindliche Ziele von CSR im Unternehmen des Unternehmens, werden laufend fortgeschrieben und setzen einen verbindlichen Rahmen für soziale Aktivi- Einhergehend mit dem vielfältig gewachsenen Engage- täten. Die heutigen Grundwerte haben ihre Wurzeln in ment der Medienhäuser sind auch die Zuständigkeiten den Ideen und Überzeugungen von Reinhard Mohn, für CSR in den Unternehmen ganz verschieden geregelt. der sich in der Tradition seines Ur-Ur-Großvaters Carl Bei der Axel Springer AG ist der CSR-Verantwortliche Bertelsmann schon vor Jahrzehnten verpfl ichtet hat- im Einkauf als »Leiter Referat Nachhaltigkeit« ange- te, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. siedelt, bei der Bertelsmann AG in einer Stabsstelle als Bezogen auf CSR ist für Bertelsmann die »Dezentralisie- Vice President Corporate Communications, bei Hubert rung der Schlüssel zum Erfolg«. Grundsätzlich initiieren Burda Media in der Abteilung Marketing & Communi- die Unternehmensbereiche ihre CSR-Aktivitäten selbst. cations als Coordinator Corporate Aff airs. Bei Gruner + So agiert der Verlag Gruner + Jahr, an dem Bertelsmann Jahr gibt es in der Abteilung Öff entlichkeitsarbeit und eine Mehrheitsbeteiligung von 74,9  hält, komplett un- Unternehmenskommunikation eine Umweltbeauftragte abhängig. Seine unternehmerische Verantwortung leitet und eine Beauftragte für Soziales Engagement. sich aus den Unternehmensgrundsätzen ab, die schon In Abhängigkeit von der Organisationsform, der Un- in den 1960er Jahren mit Henri Nannens Einsatz für ternehmensphilosophie und dem CSR-Anliegen der Menschen in Notsituationen im Stern ihren Ausgangs- Medienunternehmen gestaltet sich die grundsätzliche punkt nahmen. Auch beim Familienunternehmen Hubert Struktur der CSR-Organisation und die Umsetzung der Burda Media hat ein breites gesellschaftliches Engage- vielfältigen Initiativen unterschiedlich. Der Bertelsmann- ment Tradition. Einen schriftlich ausgearbeiteten Wer- Konzern favorisiert das Prinzip »Dezentralität«, wenn tekanon gibt es jedoch nicht. Das seit Jahrzehnten ge- zugleich ein Austausch über gemeinsame Tools und Koo- wachsene Engagement spiegelt nach eigenen Angaben perationen erfolgt. Zum Beispiel agiert die Bertelsmann- insbesondere das im Familienunternehmen verwurzelte Stiftung der Familie Mohn autonom vom Konzern, auch Verantwortungsbewusstsein wider. wenn in der öff entlichen Wahrnehmung von Politik und Prinzipiell versteht jedes Medienhaus etwas anderes anderen Stakeholdern zwischen Stiftung und Konzern unter CSR. Allen gemeinsam ist ein gesellschaftlich ge- oft nicht unterschieden wird. Die Verlage Axel Sprin- wachsenes Engagement, das von den Verlagseignern, den ger und Gruner + Jahr setzen CSR einerseits zentral auf Blättern oder auch aus anderen Zusammenhängen heraus Unternehmensebene und andererseits auf der Ebene der initiiert wurde. Daraus leiten sich die aktuellen Schwer- einzelnen Zeitungen und Zeitschriften um. Die Hubert punkte im CSR-Engagement ab, so dass die vielfältigen Burda Media dagegen bündelt seit 1999 mehrheitlich alle CSR-Initiativen mehr nebeneinander und ohne eine sozialen, kulturellen und w issenschaftlichen A ktivitäten Zusammenführung agieren. Während die Axel Springer unter dem Dach der Hubert Burda Stiftung, die sich in- 24 | AG beim Th ema CSR vor allem auf N achhaltigkeit setzt, zwischen in fünf Einzelstiftungen untergliedert. Medien-Selbstkontrolle im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Verantwortung

Tabelle 1: CSR in der Unternehmensstrategie Konzern Axel Springer Verlag Bertelsmann Gruner + Jahr Burda Begründung un- Unternehmensver- Essentials Unternehmensgrund- In der Tradition des ternehmerischer fassung 5 zentrale sätze Familienunterneh- Verantwortung Leitlinien mens Konzeptverständnis Nachhaltigkeit Corporate Corporate Social Corporate Culture Responsibility Responsibility Struktur Unternehmensebene Dezentral: Unterneh- Unternehmensebene Unternehmensebene und auf der Ebene mensbereiche ar- und auf der Ebene und auf der Ebene einzelner Blätter beiten eigenständig, einzelner Blätter einzelner Blätter aber Austausch über gemeinsame Tools u. Kooperationen Organisation Stabsstelle »Referat Stabsstelle Abt. Öffentlichkeits- Abteilung Marketing Nachhaltigkeit« arbeit u. Unterneh- & Communications menskommunikation Zielgruppen Alle Stakeholder Alle Stakeholder Alle Stakeholder Alle Stakeholder Kommunikation/ Nachhaltigkeits- CR-Report Jahresbericht Geschäftsbericht Reportingsystem bericht (Umweltreport) (Umweltbericht) (auf Basis der Global Reporting Initiative- Standards)

Die Nähe des CSR-Verantwortlichen zum Vorstand sich in diesem Bereich seit 15 Jahren mit einer Umwelt- bzw. zur Führungsebene und seine Verankerung im Un- beauftragten und zahlreichen Projekten wie dem GEO- ternehmen lässt auch auf den Stellenwert von CSR im Tag der Artenvielfalt und dem Projekt »Lebendige Elbe«. gesamten Unternehmen schließen. Die Chance, CSR Burda konzentriert seine Aktivitäten auf den Bereich genauso wie das Th ema Marke als strategisches Unter- Zulieferer, Logistik und Energieeffi zienz. nehmensthema beim Vorstand anzusiedeln, haben die Innerhalb des Handlungsfeldes »soziale Verantwortung« Medienkonzerne bisher noch zu wenig erkannt. kann eine interne (Mitarbeiter) und externe Dimension (Gesellschaft) unterschieden werden. Gerade die gesell- schaftlichen Projekte zeigen die politischen und sozi- 7 Handlungsfelder und CSR-Aktivitäten alen Intentionen der Verlage auf: von der Bild-Charity- Aktion »Ein Herz für Kinder« und Projekten zur Aus- Das Spektrum und die Erfolge der CSR-Initiativen der söhnung zwischen und Deutschland von Sprin- drei Medienverlage sind beeindruckend. Tabelle 2 kann ger über die Stern-Start-Up-Initiative und dem Projekt das nur zum Teil veranschaulichen, da aufgrund der »Mut gegen rechte Gewalt« von Gruner + Jahr bis hin zur Vielzahl der Projekte nicht alle aufgenommen werden Shoah Foundation und der Felix-Burda Stiftung mit ih- konnten. Bei näherer Beschäftigung wird deutlich, dass rem Kampf gegen Darmkrebs. Bürgerschaftliches Enga- diese Projekte größtenteils aus dem »gewachsenen En- gement dagegen unterteilt sich in Corporate Voluntee- gagement« hervorgegangen sind. Drei zentrale Hand- ring sowie kulturelle und wissenschaftliche Aktivitäten. lungsfelder leiten sich daraus ab: ökologische und soziale In diesem Bereich gibt es bisher die wenigsten Projekte Verantwortung sowie bürgerschaftliches Engagement. und diese wenigen werden, bezogen auf Corporate Vo- Im Bereich Ökologie bzw. Nachhaltigkeit nimmt vor lunteering, 9 zudem kaum kommuniziert. Hervorzuhe- allem der Axel Springer Verlag eine Vorreiterrolle ein, ben ist dabei besonders das breite Kulturengagement der seit Jahren die ökologische mit der ökonomischen von Burda, unter das auch zahlreiche Awards subsumiert und sozialen Säule verknüpft. So bedeutet eine Opti- werden. mierung der Supply Chain Integrity durch die Initiative Die Mehrzahl der vielfältigen CSR-Aktivitäten ist der »Korruptionsfreies Holz« zum Beispiel, dass dadurch ei- breiten Öff entlichkeit nicht bekannt, da es sich zum ei- nerseits die Abholzung auf einem kontrollierten Gebiet nen um spezielle bzw. lokale Zielgruppen wie M itarbeiter, erfolgt (ökologischer Aspekt) und andererseits eine Lieferanten, Kulturschaff ende oder Hilfsbedürftige han- k orruptionsfreie Gesellschaft in Russland unterstützt delt. Zum anderen werden bestimmte Aktivitäten auch wird (sozialer Aspekt). Auch Gruner + Jahr engagiert sehr zurückhaltend bzw. gar nicht kommuniziert. | 25 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Tabelle 2: Handlungsfelder und CSR-Aktivitäten der untersuchten Medienhäuser*

Handlungs- Bereiche Springer Gruner + Jahr Burda felder (Projektbeispiele) Technik u. Logistik, Papier, Ressourcenscho- Logistik, Abwasser, Umweltcontrolling, EG nung, Energieeffi zienz, Papier, Gebäudema- Öko-Audit, Energie, Abfallvermeidung, nagement, Papier, Betrieblicher Schmutzwasser, Emis- Recycling, Druckfarben, Energieversorgung, Ökologie/ Umweltschutz und sionen, Abfälle, Papier, Emissionen; Umwelt- Abluftreinigung, Trans- Nachhaltigkeit Umweltschutz in Druckfarben, Transport konzept im Pressehaus; port, Rohstofftransport, der Supply Chain Initiative »Korruptions- Projekt: ›Lebendige Recycling freies Holz« Elbe‹; GEO-Tag der Ar- tenvielfalt; GEO schützt den Regenwald Der AK Chancengleich- Eltern-Kind Zimmer; Burda Academy z. B.: heit; Mentoring; Frauen Kindertagesstätte Burda Leadership Club, Interne Dimension stärken; Frauen im Company: Basic-Management (Mitarbeiter) Management; Das Se- Projekt Eltern-Paten Programm; Burda Direct kretärinnen-Netzwerk; Academy; Burda Eltern Eldercare;The Girls Day (Kindertages stätte) Soziale Die Aussöhnung Leseclub Kölibri; Start- Shoah Foundation; Verantwortung zwischen Juden und Up-Initiative; Stiftung Engagement für Afrika; Deutschen; Lichtblick – Menschen Tribute to Bambi (Stars Externe Dimension Die Aktion Restgeld; helfen Menschen in Not; und Medien helfen); (Gesellschaft) Ein Herz für Kinder: Bild, Mut gegen rechte Kampf gegen Darm- Von Mensch zu Mensch: Gewalt; Zeitschriften für krebs; Projekt P90: das Hamburger Abend- Blinde und Sehbehin- Kampf gegen Überge- blatt derte wicht von Kindern Corporate Mithilfe in einer Ham- Weihnachtsbasar Volunteering burger Grundschule z. B. Neubau der Ham- Kunstführungen u. Aus- burger Kunsthalle stellungsreihen; Burda Kultursponsoring/ Bürgerschaft- Ausstellungsaktivitäten: Arthothek; Iconic Turn; -engagement/ liches Engage- Galerie 11 Akademie 3000; Center Wissenschaft ment of Innovative Communi- cations Axel-Springer Stiftung Stiftung Stern – Hilfe für Hubert-Burda Stiftung Stiftungen Menschen e.V. (gegliedert in 5 Einzel- stiftungen) Leitlinien der journali- Qualitätsjournalismus stischen Unabhängig- Chefredakteursprinzip Leitlinien keit, International Social Policy Aus- und Journalistenschule Axel Henri-Nannen Schule Burda Journalisten- Freiwillige Weiterbildung Springer schule Selbst- regulierung / Axel Springer Preis für Henri-Nannen Preis Awards (Bambi, New -kontrolle junge Journalisten Brigitte-Romanpreis Faces, Goldene Henne, Jugend forscht Neo); Förderpreise Preise (Focus, Schülerwettbe- werb, Zukunftspreis, Gründerpreis) 26 | Hermann-Lenz-Preis Medien-Selbstkontrolle im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Verantwortung

8 Kommunikation und Reporting diese Leitlinien Vorgaben bezüglich der Trennung von des gesellschaftlichen Engagements Werbung und redaktionellem Inhalt sowie zum Schutz vor dem Einfl uss privater oder geschäftlicher Interessen Über ihr gesellschaftliches Engagement berichten alle Dritter in der Berichterstattung. Ergänzt werden diese vier Medienhäuser in jährlich aktualisierten Berichten: Regeln durch Vorgaben über den Umgang mit Einla- Bei Axel Springer ist es der Nachhaltigkeitsbericht, bei dungen und Geschenken sowie zur Sorgfaltspfl icht der Bertelsmann der CR-Report, bei Burda der Geschäftsbe- Journalisten im Umgang mit Quellen. Verantwortlich für richt mit Umweltbericht und bei Gruner + Jahr der Jah- die Einhaltung der Leitlinien und ihrer Implementierung resbericht mit Umweltreport. Darüber hinaus sind die im Tagesgeschäft sind die Chefredakteure. Allerdings CSR-Aktivitäten der Medienhäuser größtenteils in ih- gibt es keine umfassende Transparenz über Implemen- ren Internetauftritten und anhand der Pressearbeit nach- tierung und Sanktionierung der Leitlinien. Erfolgsfak- zuvollziehen. Von allen vier Medienunternehmen ist die toren für eine Selbstorganisation wie sie beispielsweise Axel Springer AG die einzige, die sich freiwillig an den Puppis (vgl. Puppis et al. 2004, 295ff .) nennt, lassen sich Global Reporting Initiative Standards messen lässt. Diese deswegen nicht nachweisen. Dazu gehören u. a. klar fest- Standards gewährleisten maximale Vergleichbarkeit und gelegte Arbeitsweisen und Ziele, die Akzeptanz durch damit eine gute Transparenz der CSR-Maßnahmen. 10 die Redaktion und die Unternehmensleitung oder noch Im Allgemeinen haben alle Medienhäuser ›Leucht- viel wichtiger, die wirksame Sanktionierung bei Regel- turmprojekte‹ wie Springers Bild-Aktion »Ein Herz für verstößen. Kinder«, Gruner + Jahrs »Henri-Nannen-Schule« und Bertelsmann bezieht sich in seinem Corporate Respon- Burdas »Felix Burda Stiftung«, die sich bundesweit sibility Bericht sehr allgemein auf das Vielfaltsprinzip einer positiven Medienresonanz und hoher gesellschaft- (»Vielfalt von Einstellungen und Meinungen«), das im licher Akzeptanz erfreuen. In der Regel werden die mei- Konzern einerseits durch Pluralismus nach innen und sten CSR-Aktivitäten über die eigenen Zeitungen und andererseits durch kritische und eigenverantwortliche Zeitschriften kommuniziert und so in der Öff entlichkeit Professionalität nach außen garantiert werden soll. Als losgelöst von dem Muttermedienhaus und Unterneh- Beispiel für die praktische Umsetzung wird im Bericht menszweck wahrgenommen. u. a. konkret auf Gruner + Jahr verwiesen. Bei Gruner + Bedingt durch die fehlende zentrale Steuerung (ba- Jahr wird der Begriff ›Media Governance‹ (obwohl er be- sierend auf einem ganzheitlichen CSR-Konzept) man- kannt ist) zwar nicht verwendet, aber trotzdem laufen ver- gelt es an der entsprechenden Darstellung nach außen. gleichbare Maßnahmen, die in erster Linie dem publizis- Eine Folge ist, dass der tatsächliche Image-Gewinn aus tischen Qualitätsmanagement dienen. Sie werden unter CSR-Aktivitäten hinter dem potentiellen zurückbleibt. den Schlagworten »Qualitätsjournalismus« und »Chef- Notwendig wäre dafür auch der Ausbau der internen redakteursprinzip« subsumiert. Letztgenanntes bedeutet, Kommunikation, um Mitarbeiter in die Aktivitäten des dass die Chefredakteure und damit die Redaktionen ge- eigenen Hauses einzubinden und sie als Multiplikatoren genüber dem Verlag autonom sind. Explizit genannt wird nach außen zu nutzen. Die Bekanntheit der CSR-Akti- in den Unternehmenszielen zudem die journalistische vitäten in der Bevölkerung lässt sich zudem nur durch Unabhängigkeit. Als eine Art »ungeschriebenes Gesetz« Kontinuität der Maßnahmen und eine intensive Öff ent- gelten diese Prinzipien, die jedoch nicht in einem Statut lichkeitsarbeit steigern. verankert sind. Eine gute Ausbildung wird als Vorausset- zung für Qualität und Unabhängigkeit gesehen. Um sie 9 Media Governance zu fördern, initiiert der Verlag Veranstaltungsreihen und als Ausdruck journalistischer Verantwortung verleiht den Henri-Nannen-Preis. Auch der Einfl uss von Werbekunden auf publizistische Inhalte wird mit meh- Konzepte, die den eingangs erwähnten Gedanken der reren Maßnahmen zu minimieren versucht. Insgesamt Media Governance aufgreifen, gibt es konkret nur bei also eine Vielzahl an Aktivitäten, die im weitesten Sinne Axel Springer und bei Gruner + Jahr. Axel Springer b ezieht als Komponenten eines Media-Governance Konzeptes sich beispielsweise auf die Regeln des Pressekodex und aufgefasst werden können, deren Inhalte oder konkrete konkretisiert sie in den 2003 veröff entlichten Leit linien Ziele jedoch nicht in Grundsätzen oder Leitlinien ver- zur Sicherung der journalistischen Unabhängigkeit. In- ankert sind und somit relativ vage bleiben. terpretiert als freiwillige Selbstkontrolle beinhalten

* Diese Aufl istung versteht sich als beispielhafte Aufzählung wichtiger Maßnahmen in unterschiedlichen Handlungsfeldern, erhebt aber nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Der Mutterkonzern Bertelsmann wurde aufgrund des Organisations- prinzips (Dezentralität) hier nicht gesondert aufgeführt. | 27 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

10 Auf dem Weg zu einer neuen Verantwortungskultur?

Alles in allem zeigt die Betrachtung der Fallbeispiele, man allerdings das Verständnis eines Media Governance dass CSR zum einen noch nicht von allen großen Verla- Konzeptes und subsumiert auch Maßnahmen darunter, gen aufgegriff en wird und zum anderen von den prakti- die die publizistische Leistungsfähigkeit verbessern sol- zierenden Unternehmen keine ganzheitliche Philosophie len, zeigt sich bei allen ausgewählten V erlagen ein breites vorliegt. So ist zwar eine Vielfalt an Aktivitäten vorhan- Spektrum an Aktivitäten. In der Tradition der Medien- den, jedoch fehlt ein integrierendes Konzept, das CSR unternehmen stark verwurzelt, fi ndet sich ein besonderes als Teil der Unternehmenskultur bzw. -strategie versteht. Verantwortungsbewusstsein für die Ausbildung des jour- Das »gewachsene Engagement«, das die meisten explizit nalistischen Nachwuchses. betonen, scheint eine stärkere Koordination der Maß- Die explorativ angelegte Studie kann keine abschlie- nahmen unabdingbar zu machen. Wegen der fehlenden ßende Betrachtung leisten, gleichwohl hat sie deutlich strukturellen Implementierung im Unternehmen, die gemacht, wie unterschiedlich Medienunternehmen neben klar festgelegten Zielen als Voraussetzung für eine gesellschaftliche Verantwortung interpretieren. Dabei erfolgreiche Umsetzung gilt, wird das mögliche Potential scheinen die Konzerne nicht nur auf den öff entlichen von CSR nicht komplett ausgeschöpft. Legitimationsdruck zu reagieren, sondern blicken in den In der Ausgestaltung zeigt sich, dass neben Einzelpro- meisten Fällen auf eine lange Tradition zurück. Auch die jekten eigene Stiftungen die wesentlichen Träger des ge- Notwendigkeit, CSR in eine Gesamtkonzeption einzu- sellschaftlichen Engagements sind. Burda beispielsweise binden und dies als Teil der Unternehmenskultur zu ver- bündelt den Hauptteil seiner Aktivitäten in Stiftungen. ankern, wurde erkannt. Entsprechende Zukunftspläne Ein weiterer Schwerpunkt ist neben dem breit gefächer- liegen in den Unternehmen vor. ten gesellschaftlichen Engagement vor allem die Mitar- Diskrepanzen zwischen moralischem Anspruch und beiterorientierung. Ökologisches Engagement scheint tatsächlich getroff enen wirtschaftlichen Entscheidungen für alle Unternehmen selbstverständlich zu sein und hat besetzen das Th ema allerdings oft mit einer negativen sich größtenteils unter dem Schlagwort »Nachhaltig- Konnotation. Sie führen zwangsläufi g zum Vorwurf keit« etabliert. Es wird aber im Gesamtarrangement der der Scheinheiligkeit und intensivieren die Debatte um Aktivitäten unterschiedlich stark gewichtet. Wenig über- Ethik in der Wirtschaft in Deutschland. Davon sind raschend spielen hier die Bereiche Energiemanagement, auch Deutschlands führende Medienhäuser nicht ausge- Papier und Druck und der Umweltschutz in der Supply nommen, obwohl sie die gesellschaftliche und unterneh- Chain die größte Rolle. In der externen Kommunikation merische Relevanz von Corporate Social Responsibility schlagen die Medienverlage sehr unterschiedliche Wege bereits erkannt haben – den höheren Anforderungen an ein. Springer mit seinem standardisierten Reporting ver- Medienunternehmen werden sie allerdings nicht gerecht. hält sich ansonsten sehr zurückhaltend und möchte of- Aufgrund ihrer langjährigen Tradition in unterschied- fenkundig keine Eigen-PR machen, während Gruner + lichsten Bereichen haben sie jedoch die besten Voraus- Jahr viele Aktivitäten thematisch in den verlagseigenen setzungen, um künftig eine Vorreiterrolle einzunehmen. Zeitschriften behandelt und Burda mit diversen Wohl- Gleichwohl muss es gelingen, die »klassische Figur des tätigkeitsveranstaltungen bei Sponsoring-Aktivitäten be- sozial verantwortlichen Unternehmers« (Ramge 2006, wusst Aufmerksamkeit sucht. 90) zu ersetzen, um so die Wahrnehmung von Verantwor- Weiterreichende Konzepte im Sinne einer Media Go- tung in geeignete Prozesse und Strukturen zu übertragen. vernance sind nur ansatzweise verankert. Die Medien- Jarren (2007, 283ff .) spricht in diesem Zusammenhang häuser verweisen in diesem Zusammenhang oft auf ihre von der Schaff ung einer »Verantwortungskultur« im Me- ungeschriebenen Gesetze. Es fehlen jedoch konkrete dienbereich, die er als neues medienpolitisches Kernziel Grundsätze oder Leitlinien. Einzige Ausnahme ist Sprin- sieht. Dabei gilt es nicht nur verschiedene Formen der ger, aber auch dort gibt es kein Gremium, das die Er- Selbstverpfl ichtung in den Unternehmen zu etablieren, folgskontrolle übernimmt. Von dem von Trappel gefor- sondern auch politische Akteure mit einzubeziehen oder derten möglichen Maßnahmenkatalog (vgl. T rappel et auch neue zivilgesellschaftliche Akteure zu beteiligen. al. 2002, 135) sind die untersuchten Verlage noch weit ent- fernt. Darüber hinaus wurde in den E xpertengesprächen auch wenig Bereitschaft signalisiert, diese Art der frei- 28 | willigen Selbstkontrolle zu übernehmen. E rweitert Medien-Selbstkontrolle im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Verantwortung

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Alexander Schmitt Normen für Deutschland, Europa und die ganze Welt? Prinzipiengeleitete Überlegungen zum gegenwärtigen Stand transnationaler interner Unternehmenskommunikation.

Fragestellungen der Unternehmenskommunikation er- Notwendigkeit kann wohl als erwiesen angesehen wer- freuen sich innerhalb der Fragestellungen der Unter- den. 2 Wenn also innerhalb der Unternehmensethik die nehmensethik eines wachsenden Interesses. So haben interne Kommunikation die Zufriedenheit der einzelnen in jüngster Zeit eine ganze Reihe von Studien unter- Person im Blick hat, so soll im Folgenden zunächst nach nehmens interne Kodizes, ihre Normierungs-, Implemen- der Gleichheit, bzw. Diff erenz kulturellen Strebens und tierungs- und auch Kommunikationsstrategien unter- damit auch nach Diff erenzen kultureller Normen gefragt sucht. Dadurch gewinnt die ethische Dimension interner werden (1.). Danach werden diverse Instrumente für eine Kommunikation im Unternehmen und ihre Erforschung gelingende interne Unternehmenskommunikation und zunehmend an Bedeutung. Dabei tauchen z. B. folgende Unternehmenskultur vorgestellt (2.), um mit konkreten Fragestellungen auf: Wann sollten die Mitarbeiter über Vorschlägen für Kodizes in der internen Unternehmens- welche Maßnahmen auf welchem Wege informiert wer- kommunikation (3.) und einer Bewertung der derzeitigen den? Welche Zielsetzungen verfolgt das Unternehmen Unternehmenspraxis (4.) zu schließen. mit seiner Kommunikationsstrategie? Sind die Maß- nahmen nur zur ökonomischen Optimierung gedacht 1. oder stellt auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter einen Nicht zuletzt der christliche Schriftsteller und Litera- wesentlichen Faktor dar (der sich freilich wieder positiv turprofessor C. S. Lewis hat in seinen Schriften ver- auf die ökonomische Unternehmensleistung auswirken sucht, bestimmte kulturübergreifende Prinzipien zu kann)? Und wenn letzteres der Fall wäre und der Zufrie- identifi zieren. Zunächst räumt er ein, dass eine solche denheit, also letztlich dem Glück der einzelnen Person Vorstellung befremdlich sei: »Ich weiß, vielen Menschen im Unternehmen eine originäre Rolle zukäme, so ist zu scheint die Vorstellung eines natürlichen Gesetzes oder fragen: Wann ist ein Mitarbeiter eigentlich zufrieden eines allen gemeinsamen moralischen Bewusstseins irrig und wie kann dies mit Instrumenten der internen Kom- zu sein, weil verschiedene Kulturen und verschiedene munikation erreicht werden? Von psychologischer bzw. Zeitalter ganz verschiedene Grundbegriff e der Sittlich- betriebswirtschaftlicher Seite sind hierzu zahlreiche, keit besessen hätten. Aber das stimmt nicht. Wohl hat teilweise auch ethisch bedenkliche, praktische Vorschlä- es Unterschiede zwischen einzelnen Begriff en der Sitt- ge unterbreitet worden. 1 Aus der hier vertretenen phi- lichkeit gegeben, aber niemals so, dass sie einander ge- losophischen Perspektive kann es aber nicht (nur) um radezu entgegengesetzt waren.« 3 Lewis geht davon aus, praktische, methodische oder didaktische Fragen der in- dass es völlig gegensätzliche moralische Auff assungen ternen Kommunikation gehen. Vielmehr stehen die Me- überhaupt nicht geben könnte: »Ich möchte den Leser thoden und Instrumente im Bezug auf ihren moralischen bitten, sich zu überlegen, was völlig andere sittliche Auf- Gehalt im Vordergrund der Überlegungen. Zudem tre- fassungen bedeuten würden. Man stelle sich ein Land ten, so der Bezug zum Th ema der dokumentierten Ta- vor, in dem Fahnenfl üchtige bewundert werden oder wo gung, kulturelle Diff erenzen, also die Fragen nach den jemand stolz darauf wäre seine besten Freunde zu betrü- jeweiligen ›Sitten und Gebräuchen‹ einer Kultur hinzu. gen.« 4 Wem gegenüber man sich uneigennützig zeigen Braucht jedes Land seine eigenen Normen? Muss jedes sollte und wie das genau auszusehen habe, war natürlich transnationale Unternehmen für die Kommunikation immer eine Frage, aber z. B. Selbstsucht nie ein Grund landesspezifi sche Regeln fi nden? Oder gibt es nicht doch zur Bewunderung. Lewis weist im weiteren Verlauf da- übergreifende Gemeinsamkeiten, von denen sich Men- rauf hin, dass selbst Diebe die Geltung von Recht und schen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa, Unrecht heranziehen, wenn sie selbst bestohlen werden. ja sogar weltweit leiten lassen? Demnach erscheinen zumindest bestimmte Prinzipien Das Verhältnis von Ökonomie und Ethik kann an dieser der Ethik kulturübergreifend zu sein, während einzelne Stelle nicht diskutiert und letztlich geklärt werden. Zwar normative Ausgestaltungen von Kultur zu Kultur diff e- gehen die konkreten Meinungen zwischen Ethikern und rieren. Somit ist eine erste Unterscheidung getroff en, die Ökonomen über die Ausgestaltung einer Unterneh- sowohl für eine Ethik der internen Kommunikation, als 30 | mensethik weiterhin auseinander, aber ihre generelle auch für eine Unternehmensethik, eigentlich für jede Bereichsethik entscheidend ist: Die Unterscheidung von Der Grundgedanke vom Ineinanderwirken materialer Prinzip und Norm. Während Prinzip Grund, Grundsatz und formaler, teleologischer und deontologischer Ele- und Ursprung meint ist die Norm eine Regel. Und es mente fi ndet sich bereits bei Thomas von Aquin. Die gibt keine Regel ohne Ausnahme. 5 eigentümlichen Trennungen der Ethik gehen denn auch Aber weder Prinzipien noch Normen sind jedoch erst auf die Metaethik der Moderne zurück. Thomas Handlungsanleitungen, die in einer konkreten Handlung verbindet in seiner Naturrechtslehre noch Prinzipien, umgesetzt werden, wenn sich auch freilich Normen als Normen und Haltungen, ebenso wie in seiner Gewis- Handlungsregeln auf konkrete Handlungen beziehen, senslehre von synderesis und conscientia. 14 Damit ist kei- während Prinzipien vor allem bestimmte Handlungen nesfalls Deduktion von Normen aus obersten Prinzipien (z. B. Erzwingung von Beischlaf) unter allen Umstän- gemeint. 15 Wohl aber, dass die konkrete Norm (und auch den verbieten. Zur konkreten Umsetzung durch die die Handlung), einer Prüfung auf den Verstoß gegen all- jeweilige Person bedarf es immer noch dessen, was die gemeine Prinzipien standhalten müssen. 16 Vor diesem Tugendethik mit dem Begriff »Haltung« (Habitus) be- Hintergrund also wirklich eine seltsame Vorstellung, zeichnet. Es ist deshalb sinnlos, Menschen im Unter- dass beispielsweise Mitarbeiter in Frankreich oder Spa- nehmen einen Kodex vorzulegen und dadurch, dass z. B. nien sich zu anderen moralischen Handlungen verpfl ich- jeder Mitarbeiter diesen unterschreibt, auf seine Ein- tet sehen würden, als Deutsche oder Österreicher. haltung zu hoff en. Die sich in jüngster Zeit häufenden Skandale in der deutschen Wirtschaft, u. a. bei Siemens oder VW, verdeutlichen dies schmerzlich. Denn beide 2. Unternehmen haben und hatten vorbildliche Kodizes. 6 Für die konkrete Unternehmenskommunikation hat dies Die Tradition der katholischen Moraltheologie und auch mehrere Auswirkungen. Zunächst ist nichts gegen ver- der christlichen Philosophie 7 trägt dem Phänomen der nünftig gestaltete Kodizes eines transnationalen Unter- Haltung Rechnung, indem z unehmend wieder »Glück nehmens zu sagen, die den Mitarbeitern Handlungsregeln und Wohlwollen« 8 die zentralen Begriff e ethischer Ent- für die tägliche Vorzugsentscheidung an die Hand geben. scheidungs- und Handlungstheorie werden. »Schon Diese können ohne Bedenken konzernübergreifend gül- immer wusste die theologische Ethik daher darum, tig sein. Jedoch müssen sie durch eine Vielzahl zusätz- dass unser tägliches Entscheiden, Wählen und Han- licher Instrumente ergänzt werden, die das generieren, deln zumeist eine Vorzugswahl unter konkurrierenden was man gemeinhin die Kultur eines Unternehmens zu Gütern erfordert. Damit dieses notwendige Abwägen nennen pfl egt, weil in ihr, wie in der Kultur Deutschlands, nicht willkürlich erfolgt, entwickelte sie eine Reihe von Frankreichs oder Europas 17 bestimmte Normen einen Vorzugsregeln, die dem Anliegen einer bestmöglichen hohen Grad an Gültigkeit beanspruchen können und Verwirklichung des Liebesgebots dienen sollen.« 9 Also sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens stützen. eine zunächst klassisch teleologische Ethik, die zudem Die Unternehmenskommunikation hat dabei die Auf- unter bestimmten deontologischen Prinzipien steht. So gabe systematisch und langfristig die Kommunikation wurde es von jesuitischer Seite z. B. mit der Biophilie- eines Unternehmens mit seinen wichtigen internen und maxime bei Rupert Lay aufgenommen. Lays philo- externen Bezugsgruppen sicherzustellen. Ziel ist es da- sophischer Ansatz ist systemtheoretisch und daher dem bei weiter: »das Unternehmen bei diesen Bezugsgruppen hier kurz skizzierten thomanischen Ansatz fremd. 10 bekannt zu machen und das starke und einzigartige Vor- Jedoch kommt er in der Sache zum gleichen Ergebnis. stellungsbild (image) der Unternehmenspersönlichkeit Sowohl eine rein formale (deontologische) Ethik bleibt aufzubauen und kontinuierlich zu entwickeln.« 18 Dieses undenkbar, als auch eine rein materiale (teleologische) image kann nur auf Grundlage einer entsprechenden Ethik, z. B. der Utilitarismus. Es muss eine Ethik entste- Unternehmenskultur entstehen, die selbst wiederum nur hen, »die für sich in Anspruch nimmt, in ihren formalen kommunikativ vermittelt werden kann. Es sind drei Ebe- Aussagen zeit- und gesellschaftsinvariant zu sein und in nen zu unterscheiden: 19 Die sichtbare Ebene, d. h. Füh- ihren materialen den Individualismus des Emotivismus rungsstil, Arbeitsplatzgestaltung, Kommunikationsstil, zu überwinden versucht.« 11 Dabei fordert Ethik auch usw. Die bewusste Ebene, die alle Werte, Normen und immer die Selbstverpfl ichtung des Handelnden ein. Da- Standards eines Unternehmens umfasst. Die unbewusste raus folgt das Biophilie-Postulat: »Handle stets so, dass Ebene, auf der alle kulturellen Grundannahmen unhin- du das personale Leben in deiner Person als auch in der terfragt und selbstverständlich gegeben sind. Person eines jeden anderen Menschen eher mehrst denn Aufgabe der Unternehmenskommunikation ist es da- minderst.« 12 Deutlicher steht es schon bei Augustinus: her, um ihres eigenen Gelingens willen und zur Schaf- dilige et quod vis fac. Meist wiedergegeben als »Liebe und fung einer als image sichtbaren Unternehmenskultur, di- tu, was du willst« (eigentlich Schätze hoch und was du ese unbewusste Ebene ins Bewusstsein der Mitarbeiter/ dann tun willst, das tue). 13 innen zu rücken. Eine ›Einübung‹ der entsprechenden | 31 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Unternehmenskultur kann dabei nur auf der Grundlage 3. des Gedankens von Geschichten und Vorbildern mög- Würde ein Unternehmen diese Instrumente nutzen, lich sein. Schon Thomas geht davon aus, dass nie ein wäre es in besserer Weise möglich, den Mitarbeitern Mensch den anderen lehren könne, sondern dass wir uns den Nutzen einer gelingenden internen Kommunikation in unserer moralischen Einstellung an Vorbildern und zu verdeutlichen und die gestiegene Zufriedenheit der Geschichten orientieren. »Verantwortliches Verhalten: Mitarbeiter könnte dazu führen, gar keine Kodizes für damit werden Prinzipien-Refl exion und Normen- Dis- die (interne) Unternehmenskommunikation mehr zu be- put auf Gesinnung und Haltung hin überstiegen. Das nötigen. Dennoch ist das Durchdenken von konkreten spricht die vermissten Tugenden an. Sie werden eher Fallsituationen nicht rundheraus abzulehnen. »Das ist durch Modell-Geschichten […] nahegebracht als durch das Feld konkreter Ethik – samt ›Unter-Ethiken‹ […]. Begründung. Hält man dem entgegen solche ›Predigt‹ Hier können Fälle durchrefl ektiert werden, damit man stoße oft ins Leere, so lässt sich erwidern [auch] nor- nicht erst in der konkreten Situation wie der Ochs vorm mative Ethik stoße rasch an ihre Grenzen.« 20 Nur vor Berg steht.« 22 Vorschläge im Anschluss an solche kon- dem Hintergrund dieser Grundannahmen erscheint also krete Refl exion haben von jesuitischer Seite vor allem die normative Ausgestaltung von Unternehmenskodizes Autoren wie Rupert Lay, Albert Ziegler oder als sinnvoll. Diskursive Prozesse sind hierbei im Übrigen Willi L ambert vorgelegt. In ihren Publikationen wer- nur bedingt, z. B. in der Form von handlungsorientierten den konkrete »Normierungen« für die Kommunikation Verantwortungsdiskursen anwendbar. 21 Konkret kann entwickelt. 23 Aber auch Hermann J. Zoche, Owen meines Erachtens eine Unternehmenskultur nur im Zu- Hargie, Dennis Tourish und andere haben Vorschlä- sammenspiel diverser kommunikativer Instrumente ent- ge für solche Normen der Unternehmenskommunika- stehen (die Aufzählung ließe sich fortsetzten): tion beigetragen. 24 Die jesuitischen Beiträge werden im Ethische Normierung / Leitlinien (Kodizes): Formu- Folgenden kurz skizziert. Rupert Lay gibt in Führen lierung der ethischen Ausrichtung des Unternehmens durch das Wort eine ganze Reihe von Beispielen, Hin- (Leitwerte, Verhaltensrichtlinien und Leitsätze, die die weisen und Regeln für gelingende Kommunikation. Aus unternehmerische Selbstverpfl ichtung, Ziele und Ver- den Grundregeln der Dialektik ergeben sich für ihn die antwortlichkeiten gegenüber den einzelnen Stakehol- folgenden praktischen Forderungen: dern festlegen). Die Forderung, richtig zuzuhören Ethik-Kommission für die Behandlung strittiger Ein- Die Forderung, richtig darzustellen zelfälle: Einrichtung einer Kommission (eines Komi- Die Forderung, sich optimal auf den Anderen einzu- tees oder Beirats mit externen Ethik-Experten) zur stellen Überwachung der Geschäftspolitik unter ethischen Die Forderung, richtig zu fragen Willi Lambert stellt in Gesichtspunkten und zur Unterstützung bei der Lö- seiner »Kunst der Kommunikation« gleich sieben Re- sung insbesondere branchenspezifi scher ethischer Kon- geln für die gelingende Kommunikation mit anderen fl ikte und Dilemmata. auf, die in dieser Form auch auf unternehmen übertra- Ethik-Hotline für den Austausch von Informationen: gen werden können: Einrichtung einer internen oder externen Hotline als Regel 1: Die Kostbarkeit des Gesprächs sehen lernen Anlaufstelle für ethisch relevante Fragen der Unterneh- Regel 2: Langsam, bedächtig und liebevoll kommu- mensmitglieder. Die Beratung sollte anonym möglich nizieren sein. Regel 3: ›Hören‹ und ruhige Aufmerksamkeit auf Ethisch-moralische Weiterbildung: Seminare und den ganzen Menschen richten Workshops auf der Basis ethischer Fallstudien und Di- Regel 4: Vorurteilsfreiheit lemmadiskussionen, die als fester Bestandteil der Per- Regel 5: Keine Autoritätsargumente sonalentwicklung zur moralischen Sensibilisierung der Regel 6: Bescheidene Deutlichkeit Unternehmensmitglieder und Stärkung ihrer ethischen Regel 7: Sich Zeit nehmen Entscheidungskompetenz beitragen sollen. Durch- Albert Ziegler rät in Verantwortung für das Wort: führung von fi rmeninternen Gesprächskreisen oder 1. Die Kommunikation mit sich selbst muss stimmen; 2. Roundtable-Diskussionen mit externen Experten, Ver- Vertrauen, Ehrlichkeit; 3. Raten, moderieren und beglei- tretern von Interessengruppen etc. über aktuelle oder ten und 4. Maßvolle Kommunikation. unternehmensspezifi sche ethische Fragen. Solche Normen können dazu beitragen eine wohlwol- lende Kommunikation im Unternehmen zu fördern und somit die Zufriedenheit nachhaltig zu verbessern. Aber wie ist es um die Unternehmenspraxis bestellt? Welche Regeln haben große transnationale Unternehmen zu ih- 32 | rer Kommunikation vorzuweisen? Normen für Deutschland, Europa und die ganze Welt?

4. Abschließend sollen also noch einige konkrete Beispiele T-Spirit Die sechs neuen aus der Unternehmenspraxis gegeben werden, um zu Unternehmenswerte zeigen, wie Kodizes und Normierungen der (internen) Neue Ideen. Neue Wege. Unternehmenskommunikation momentan umgesetzt werden: Im Rahmen meines Dissertationsprojektes bei Steigerung des Prof. Funiok wurden die DAX 30 Unternehmen zu den Konzernwertes Richtlinien ihrer internen Kommunikation befragt und Wir steigern den Wert der Deutschen Telekom nachhaltig. ethisch relevante Werte und Normen herausgearbeitet. Partner für Die Leitbilder gelten konzernweit und sind somit für den Kunden die Kommunikation des Unternehmens in ganz Europa Wir begeistern unsere Kunden durch exzellente Produkte gültig: und Services. Innovation 25 1. Telekom: Die Telekom hat die Unternehmenskom- Wir schaffen ein Klima für Innovation und Spaß an Leistung. munikation unter dem Leitwert der Integrität zusam- mengefasst: Integrität: Wir kommunizieren off en und Respekt Wir nutzen unsere kulturelle Vielfalt, respektieren und ehrlich und halten, was wir versprechen. unterstützen uns. 2. Siemens: 26 Siemens fasst die interne Kommunikation im Leitwert Mitarbeiter zusammen: Wir fördern un- Integrität Wir kommunizieren offen und ehrlich und halten, was wir sere MITARBEITER – und motivieren zu Spitzenlei- versprechen. stungen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind die Top Exzellenz Quelle unseres Erfolgs. Wir arbeiten in einem weltwei- Wir denken und handeln entschlossen, wollen mit den ten Netzwerk des Wissens und des Lernens zusammen. richtigen Menschen am richtigen Platz ständig effizienter werden, belohnen Leistung und sanktionieren Unsere Unternehmenskultur ist geprägt von der Vielfalt Fehlverhalten konsequent. der Menschen und Kulturen, von off enem Dialog, ge- genseitigem Respekt, klaren Zielen und entschlossener Führung.

Fazit

Vereinbarungen wie der Deutsche Corporate Gover- nance Kodex oder das Netzwerk CSR-Europe sind erste Schritte für Vereinbarungen, die nicht mehr vom ein- zelnen Unternehmen, sondern vernetzt für alle (teil- nehmenden) Unternehmen Gültigkeit beanspruchen. Wichtiger als solche Vereinbarungen ist die konkrete methodische Umsetzung im Unternehmen, da die prin- zipielle Ebene sowieso mehr Gemeinsamkeiten aufweist, als zunächst vielleicht vermutet. Für die detaillierten He- rausforderungen zeitgemäßer Unternehmenskommu- nikation sind diese Kodizes schon deshalb bisher nicht ausreichend, da der Konsens mit zunehmendem Grad der Normierung sinkt. Im Moment verfügen die Unter- nehmen weder über einheitliche ethische Standards der U nternehmenskommunikation, noch über einheitliche Werte- Defi nitionen. Normierungen wie auch ihre Um- setzung sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die Frage der Einbindung unterschiedlicher Kulturen ist nicht ge- klärt, stellt sich aber meines Erachtens in europäischen Unternehmen für den Bereich der Ethik nicht, bzw. nur bedingt. Dabei ist immer darauf zu achten, dass Kodizes nicht zu einem plakativen Slogan nach dem Motto »Tue Gutes und rede darüber« verkommen. | 33 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Anmerkungen

1 Birkenbihl, Vera F.: Kommunikationsstrategie. und conscientia sind mit dem gleichzusetzen, was Landsberg am Lech 2000. Birker, Klaus: Betriebliche N ewman später »sense of duty« und »moral sense« Kommunikation. Berlin 2000. nennen wird. 2 Zwar verwendet Göbel 2006 fast 30 Seiten für die 15 Ricken, Friedo: Allgemeine Ethik. Stuttgart 2003. Analyse des Verhältnisses von Ethik und Ökonomik, S. 21. Schärfer noch in der dritten Aufl age, S. 17. aber schon Steinmann / Löhr konstatierten 1998, 16 Siehe: Lauth, Reinhard: Ethik. In ihrer Grundlage dass es keiner besonderen Erläuterung mehr bedürfe, aus Prinzipien entfaltet. Stuttgart 1969. dass Ethik im Rahmen der Unternehmensführung eine 17 Wenn man denn von einer ›europäischen‹ Kultur spre- bedeutende Rolle spiele. chen kann. 3 Lewis, Clive Staples: Christentum schlechthin. Basel, 18 Herst, Dieter: Praxishandbuch Unternehmenskom- Freiburg, Wien 1959. S. 19 munikation. Berlin 2003. S. 24 4 Lewis, Clive Staples: Christentum schlechthin. Basel, 19 Vgl.: Jost, Hans Rudolf: Unternehmenskultur – Freiburg, Wien 1959. S. 19 Wie weiche Faktoren zu harten Fakten werden. Zürich 5 Siehe: Splett, Jörg: Was soll ich, was darf ich? - Why to 2003. be moral?, in: Keller, Markus & Maloney P atrick: 20 Splett, Jörg: Gott-ergriff en. Grundkapitel einer Re- Glaube und Business – Konturen einer christlichen Öko- ligionsanthropologie. Köln 2004. nomik. Münster 2005. S. 3 21 Vgl.: Löwisch, Dieter Jürgen: Einführung in die 6 Siehe den Siemens Code of Ethics bzw. die VW Sozial- pädagogische Ethik – Eine handlungsorientierte An- charta und den VW Nachhaltigkeitsbericht. leitung für die Durchführung von Verantwortungsdis- 7 Siehe zum Terminus die ausführliche von Coreth, kursen. Darmstadt 1995. Emerich, u. a. herausgegebene dreibändige Untersu- 22 Splett: Was soll ich, S. 16. chung Christliche Philosophie im katholischen Denken 23 Lay, Rupert: Kommunikation für Manager. Düssel- des 19. und 20. Jahrhunderts. dorf, Wien, New York 1990. Ders.: Führen durch das 8 Spaemann, Robert: Glück und Wohlwollen – Versuch Wort. München 1999. Ziegler, Albert: Verantwor- über Ethik. Stuttgart 41998. tung für das Wort – Kommunikation und Ethik. Frau- 9 Ausführlich entwickelt in Schockenhoff, E.: Grund- enfeld, Stuttgart, Wien 2000. Lambert, Willi: Die legung der Ethik – Ein theologischer Entwurf. Freiburg Kunst der Kommunikation – Entdeckungen mit Ignati- 2007. Hier: S. 373. us von Loyola. Freiburg i.Br. 1999. 10 Siehe: Lay, Rupert: Philosophie für Manager. Düs- 24 Zoche, Hermann-Josef: Wir müssen mal mitei- seldorf, Wien, New York 1988. S. 164ff . Nebenbei ist nander reden – Sprache üben, Gespräche führen, Kon- bei der Rede vom »gerechten Subjekt« schon hier die fl ikte lösen. Stockheim 1999. Tourish, Dennis & Fairness-Konzeption angelegt, es handelt sich also D ickson, David & Hargie, Owen (Ed.): Commu- nicht um einen späteren Bruch innerhalb des Ge- nication Skills for Eff ective Management. Hampshire, samtwerkes. New York 2004. 11 Lay, Rupert: Ethik für Manager. Düsseldorf 1989. 25 Aus dem Code of Conduct der Deutschen Telekom AG, S. 57. März 2006. 12 Lay, Rubert: Philosophie für Manager, S. 60. 26 Leitbild der Siemens AG, Englisch-Deutsch. 2004. 13 Splett, Jörg: Was soll ich, was darf ich? - Why to be moral? , in: Keller, Markus & Maloney Patrick (Hrsg.): Glaube und Business – Konturen einer christ- lichen Ökonomik. Münster 2005. S. 20. 14 Siehe: de veritate, quaestio XVI. Dazu auch: Splett, Jörg: Denken vor Gott. Philosophie als Wahrheits- 34 | Liebe. Frankfurt am Main 1996. S. 175 ff . S ynderesis Karsten Weber

Plädoyer für unlimitierte Meinungsfreiheit als Grundlage einer europäischen Medienethik Europäische Medienethiken? Europäische Medienethik!

Die Rede von »europäischen Medienethiken« wirft eine ein unlimitiertes Recht auf freie Meinungsäußerung Reihe von durchaus ernsten Fragen auf, so beispiels weise plädiert werden. Das heißt, dass der vorliegende Text danach, welche Länder denn nun zu Europa gehören auf der Voraussetzung beruht, dass es nicht europäische (sollen). Durch diese Frage wird gleich die nächste provo- Medienethiken gibt (nicht geben kann), sondern eine ziert, denn nun müsste zunächst geklärt werden, wodurch europäische Medienethik im Sinne eines grundlegenden dieses Europa defi niert und begrenzt wird. Eine geogra- Normen- und Wertekatalogs. Es wird eine thin theory phische Bestimmung wird kaum befriedigen können; ein sein, die auf Prinzipien aufbaut und nicht auf materi- Rekurs auf gemeinsam geteilte Normen und Werte je- alen Bestimmungen. Dies ist deshalb notwendig, weil die doch führte den Plural der europäischen Medien ethiken kulturelle Vielfalt in Europa – hier ist es übrigens völlig aber ad absurdum – wie kann man gleichzeitig gemein- egal, wie man dieses defi niert – zu groß ist, als dass eine same Normen und Werte haben bzw. vertreten und doch bestimmte materiale Festlegung allgemein konsensfähig unterschiedlichen Medienethiken folgen? Der gram- sein könnte. matikalische Plural macht schließlich nur Sinn, wenn es einen ethischen Pluralismus gibt, der aber wiederum gemeinsame Normen und Werte mehr als infrage stellt. Freie Meinungsäußerung: Wer wird angesprochen? Wollte man also sprachanalytisch spitzfi ndig sein – oder einfach nur präzise –, müsste man bereits die Kombina- Natürlich kann man sofort fragen, ob diese Herange- tion der Worte »europäische Medienethiken« problema- hensweise nicht den Adressaten verfehlt, da das Th ema tisieren. Will man dies jedoch vermeiden, müsste man doch ein verfassungsrechtliches sei und damit in die Zu- sich als Defi nitionsmerkmal von »europäisch« auf die ständigkeit der Gesetzgebung der jeweiligen Staaten fällt. Geographie oder auf die Mitgliedschaft in der EU beru- Diesem Einwand kann jedoch entgegengesetzt werden, fen, auf bloße Fakten also. Doch selbst die geographische dass auch eine Verfassung auf moralischen Urteilen auf- Grenzziehung ist möglicherweise nicht frei von Wertur- baut – man bedenke hierzu nur die heftigen Kontrover- teilen, die Zugehörigkeit zur EU impliziert diese ohne sen um die bis jetzt gescheiterte EU-Verfassung. Daher Zweifel: Wer hier dazugehören will, muss einem gewal- bleibt es eben auch eine Frage der Werte und damit ein tigen Normenkatalog entsprechen, der wiederum mo- moralisches Problem, wie wir mit dem Recht auf freie ralische Standards impliziert, zumindest Minimalstan- Meinungsäußerung umgehen wollen. Zudem kann man dards. Wo aber Minimalstandards existieren, kann von dem genannten Einwand mit Rekurs auf eine, wie es einer prinzipiellen Pluralität nicht mehr ohne Probleme in der englischsprachigen Debatte heißt, rightsbased- gesprochen werden. Aus diesen Vorüberlegungen heraus theory entgegnen, dass Menschen eben bestimmte un- wird im folgenden Text auch nicht darüber nachgedacht, veräußerliche Rechte besäßen, die es in einem Rechts- wie das Verhältnis unterschiedlicher Medienethiken zu staat unter allen Umständen zu schützen gelte. Dies ist gestalten wäre. Ebenso wird auch nicht versucht, diese eine Perspektive der politischen Philosophie und sie hat zu beschreiben und in ihren Unterschieden zu verdeut- ebenfalls mit Meinungsfreiheit und Medienethik zu tun lichen. Stattdessen soll versucht werden, über jenen Mi- (vgl. Weber 2003). Genau diese Sichtweise soll die Basis nimalstandard etwas mehr Klarheit herzustellen. Um ge- der folgenden Überlegungen sein. nauer zu sein: Auf der Basis einer radikal liberalen oder, Ein weiteres Argument gegen eine solche Behandlung eigentlich besser, einer libertären Position * soll hier für des Problems der Meinungsfreiheit kann nun darin be- stehen, dass die Th ese vertreten wird, dass Medienethik * In der englischsprachigen Diskussion würde die hier ein- in letzter Konsequenz im Sinne einer Menge von Regeln genommene Position als »civil rights libertarianism« be- zu verstehen sei, die es jenen Personen, die im Medi- zeichnet werden, um damit eine Abgrenzung zu libertären enbetrieb arbeiten, erlaubt, ihre Handlungen aus den Strömungen zu kennzeichnen, die in erster Linie für radi- jeweils existierenden Alternativen auszuwählen und so kale marktliberale Ideen eintreten. moralisch zu agieren. Medienethik so verstanden ist | 35 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

also etwas, dass zum Zeitpunkt kontroverser Debatten der wahrscheinlich bekannteste. Es könnte weiterhin auf aktualisiert wird und wesentlich eine Frage individueller die Reaktionen der polnischen Regierung bzw. des pol- Entscheidungen oder vielleicht auch Tugenden ist. Die- nischen Staatspräsidenten und des Ministerpräsidenten sem Einwand muss jedoch vehement widersprochen wer- auf einen Artikel in der taz verwiesen werden. Hier war den, denn in ihm manifestiert sich ein extrem verkürztes eine mehr oder minder gut gemachte Satire Anlass für Verständnis von Medienethik, vielleicht sogar von Ethik (zusätzliche) zwischenstaatliche Verstimmung. Andere in einem umfassenden Sinne. Natürlich soll eine Medie- Beispiele wiederum sind weniger harmlos: Die erneuten, nethik – wie jede andere angewandte Ethik auch – im weltweiten Proteste von Muslimen, diesmal in Reaktion Sinne einer Professions- bzw. Berufsethik verstanden auf die Rede Papst Benedikts XVI. an der Regens- werden, die es den Angehörigen der jeweiligen Professi- burger Universität, die katholischen Forderungen nach on bzw. Berufsgruppe erlaubt, das je eigene Handeln an einem Verbot von Popetown auf dem Sender MTV, die moralischen Normen und Werten und dabei gleichzeitig Ermordung des Journalisten Hrant Dink in der Türkei, den professionellen Anforderungen im Rahmen der eige- Anna Politkowskajas in Russland oder Theo van nen Tätigkeit auszurichten. Aber jene Normen und Werte Goghs in den Niederlanden. All diese Beispiele zei- müssen selbst begründet werden, denn alles andere » (…) gen, dass freie Meinungsäußerung weltweit unter Druck führt letztlich nur zu einem nebeneinander von mehr steht, zuweilen so sehr, dass Menschen um ihr Leben oder weniger effi zienten Binnenmoralen, schlimmsten- fürchten müssen bzw. tatsächlich ihr Leben verlieren, falls von mehr oder weniger mafi otischen Ehrenkodizes« weil sie sich nicht einschüchtern lassen wollen. Da fällt (Wiegerling, Capurro 1999: 253). Steht beispielsweise es gar nicht mehr auf, dass Reporters sans frontiers regel- die Chefredakteurin oder der Herausgeber einer Zeitung mäßig darüber berichten, wie massiv Journalisten in ihrer vor der Frage, ob ein bestimmter Artikel oder auch eine Arbeit behindert, bedroht und wie oft eben auch verletzt bestimmte Karikatur gedruckt werden soll, sollte – nein: oder gar getötet werden.* Der öff entliche und politische muss – die getroff ene Entscheidung moralisch gut be- Aufruhr hielt und hält sich nach solchen Ereignissen gründet sein; alles andere bedeutete, dass die entschei- doch sehr in Grenzen. Anders sieht es jedoch aus, wenn dende Person weder die Betroff enen noch das Publikum Boulevardblätter gezielt dazu genutzt werden, den poli- noch die eigene Profession wirklich ernst nimmt. Grund tischen Gegner zu diskreditieren: Als BILD im Frühjahr einer Nichtveröff entlichung könnte beispielsweise sein, 2007 während des Machkampfes um die Nachfolge des dass den religiösen Empfi ndungen jener Personen, die bayrischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden durch einen Artikel oder eine Karikatur verletzt werden Edmund Stoiber über die Liebesaff äre von Horst könnten, Priorität gegenüber dem Recht auf freie Mei- Seehofer berichtete, war der Aufschrei groß. Einerseits nungsäußerung eingeräumt wird. Da ein solches mora- wurden hier Massenmedien instrumentalisiert, anderer- lisches Urteil jedoch impliziert, dass in, mutatis mutandis, seits wurde ihnen vorgeworfen, das Spiel willig mitzu- gleich gelagerten Fällen wieder (was bedeutet: immer) spielen. Gleich bleibt jedoch die grundsätzliche Haltung auf die gleiche Weise gehandelt werden muss, hätte eine gegenüber Medien: Meinungsfreiheit, so scheint es, wird entsprechende Entscheidung die Konsequenz, dass re- hochgehalten, solange sie nicht den (politischen) Betrieb ligiöse Empfi ndungen grundsätzlich Priorität vor freier stört. Kaum aber erzeugt die Nutzung der Meinungs- Meinungsäußerung haben. Genau dies ist es aber, was freiheit politische oder gesellschaftliche Probleme und im folgenden Text strikt verneint wird. Zudem ist in ei- Verwerfungen, wird sehr schnell nach Grenzen dieser ner moralisch pluralen Welt kaum Verlass auf Tugenden; Freiheit gerufen, nach Selbstkontrolle und Selbstbe- sie zu haben ist kein Schaden, sich auf gesellschaftlicher schränkung. Ebene auf sie zu verlassen ist jedoch unklug.

Ausgangspunkte

Es ist mehr als off ensichtlich, dass in dem gerade ge- nannten Beispiel auf die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands Posten angespielt wur- de bzw. auf die gesamte Ereigniskette der Proteste in islamischen Ländern bzw. von Muslimen, des erneuten Abdrucks in anderen Zeitungen, der politischen Inter- ventionen und so fort. Doch ist dies (leider) nicht der * Siehe hierzu bspw. den Bericht der Organisation von 2006, einzige Fall, der zur Illustration der hier zu diskutie- http://www.rsf.org/IMG/pdf/report.pdf, zuletzt besucht 36 | renden Frage herangezogen werden kann, wenn auch am 19.03.2006. Plädoyer für unlimitierte Meinungsfreiheit als Grundlage einer europäischen Medienethik

Kollision zweier Standpunkte

Lässt man einmal alle Polemik beiseite, lassen sich zwei Autonomie verwiesen, die sich in der freien Rede mani- grundsätzliche und sich widerstreitend gegenüberste- festiere (siehe Brison 1998). Es ist kaum überraschend, hende Positionen in Bezug auf das Recht auf freie Mei- dass sich die Vertreter einer uneingeschränkten freien nungsäußerung identifi zieren: Einmal fi nden wir jene, Rede vor allem in den USA fi nden, denn die amerika- die der freien Meinungsäußerung keine Grenzen set- nische Verfassung stellt die freie Meinungsäußerung zen wollen; andererseits die, dass Äußerungen mit be- gleich an den Anfang der Amendments – sie besitzt also stimmten Inhalten nicht mehr durch das Recht auf freie eine herausragende Bedeutung. (Kritiker dieser Position Meinungsäußerungen gedeckt sein sollen (siehe zu dieser nennen das »free speech absolutism«, siehe hierzu bspw. Auseinandersetzung bspw. Greenawalt 1989; Jeffery Abel (1994). Zur Geschichte des First Amendment im 1986; Rabban 1992; Richards 1988; Stein 2004). Dass Zusammenhang mit politischem Extremismus siehe in der Bundesrepublik Deutschland von politischer Seite bspw. Levin (2001). meist für die zweite Position eingetreten wird, ist ver- Beide Haltungen sind jedoch mit erheblichen Proble- gleichsweise leicht zu verstehen: Die deutsche Vergan- men verbunden, die sich jeweils aus den Argumenten genheit des Terrors im Dritten Reich wirft ihre langen für die entgegenstehende Position ablesen lassen. Gäbe und dunklen Schatten; angesichts der menschenveracht- es Richtlinien dafür, was unter die freie Rede noch fällt enden Ideologie des Rassenhasses, der nationalsozia- und was nicht, könnten zwar Äußerungen entweder prä- listischen Schreckensherrschaft und der grauenhaften ventiv verhindert oder nachträglich bestraft werden. Jede Verbrechen dieser Zeit ist eine Limitierung der Mei- solche Festsetzung einer Grenze hat jedoch den grund- nungsfreiheit in Bezug auf Ereignisse und Zusammen- sätzlichen Nachteil, dass es eine Instanz geben muss, die hänge zumindest nachvollziehbar – es soll beispielsweise anhand von letztlich kontingenten Kriterien entscheidet, verhindert werden, dass die Opfer des Terrors durch die ob eine Äußerung die gesetzte Grenze überschreitet Leugnung des Holocaust erneut verhöhnt werden. All- oder nicht. Es erscheint jedoch unmöglich, im Detail gemeiner formuliert heißt dies, dass Meinungsfreiheit und kontextfrei zu formulieren, was gerade noch erlaubt mit dem Argument limitiert werden soll, dass entspre- und was bereits verboten sein soll – dies kann zurzeit am chende Verbote dazu beitragen können, die Verbreitung Streit um die Nutzung von Nazisymbolen durch einen rassistischer Ideen und andere Formen des hate speech Nazigegner verdeutlicht werden. Daher aber müssten (siehe bspw. Downing 1999; Israel 1999) gegen ein- entsprechende Regelungen sehr allgemein gehalten sein, zelne Personen oder Personengruppen, bspw. gegen re- was einen großen interpretatorischen Spielraum eröff net, ligiöse oder ethnische Minderheiten, zu reduzieren oder der im besten Fall nur Entscheidungen schwierig macht gar ganz zu verhindern. Das bedeutet, dass in diesem Fall und im schlechtesten Fall einer willkürlichen und auch das Recht auf freie Meinungsäußerung zurückstehen soll opportunistischen Auslegung Tür und Tor öff net – wie- gegenüber anderen Rechten, die in der Bundesrepublik derum lassen die Mohammed-Karikaturen grüßen, denn Deutschland meist aus der Menschenwürde des Artikels es kann gefragt werden: Wie müssten diese Karikaturen 1 GG abgeleitet werden. In den USA wird diese Position denn aussehen, um eben noch akzeptabel zu sein? Was ebenfalls meist im Zusammenhang mit dem Schutz eth- dürften sie, was dürften sie nicht zeigen? Es müsste aber nischer oder auch religiöser Minderheiten vertreten.* auch geklärt werden: Wer darf eigentlich ein Verbot for- Auf der anderen Seite fi nden wir Autoren, Thomas dern? Wer soll darüber entscheiden? In welchen Zeiträu- Nagel (1996; für andere Autoren siehe bspw. Brison men? Auf welchen Druck hin? Schon im nationalen 1998: 313) wäre hier ein Beispiel, die dafür plädieren, dass Kontext ist es mehr als schwierig bis unmöglich, auf die- das Recht auf freie Meinungsäußerung keiner Grenzset- se Fragen allgemein überzeugende Antworten zu geben; zung unterworfen sein sollte. Es ist klar, dass hierbei an im internationalen Kontext mit ganz unterschiedlichen liberale Ideen, wie sie von John Stuart Mill geäu- Rechtssystemen, moralischen und politischen Tradi- ßert wurden, angeknüpft wird. Entweder wird Mill fol- tionen, mit sehr verschiedenen Religionen mit ganz ver- gend argumentiert, dass die freie Rede zum Nutzen der schiedener gesellschaftlicher und individueller Relevanz, Gesellschaft beitrüge oder es wird auf die i ndividuelle kurz: mit sehr verschiedenen kulturellen Kontexten, wird eine verbindliche Antwort praktisch unmöglich. Aber selbst wenn es gelingen sollte, eine Antwort zu geben, * Herbold (1994) beschreibt Fälle des so genannten »campus hätte diese beinahe unweigerlich zur Folge, dass bei jeder hate speech« – hier wird also die Frage diskutiert, ob im Meinungsäußerung die davon Betroff enen Einwände akademischen Bereich eine Eingrenzung der Meinungs- erheben könnten, die zum Verbot der Äußerung füh- freiheit legitim sein kann. Olivas (1992) bietet eine Liste ren müssten. Daher wäre erneut eine Abwägung bspw. von 49 Texten zum Th ema. zwischen dem Interesse der Ö ff entlichkeit und der | 37 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

B etroff enen notwendig – es wäre also wenig gewonnen. Thomas Nagel bemerkt in seinem Essay Menschen- Als Ausweg bietet sich deshalb an, auf jede Begrenzung rechte und Öff entlichkeit (1996), dass alle Mitglieder ei- der freien Rede zu verzichten. Doch kann mit guten ner Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit beschränkt Gründen gefragt werden, ob wir wirklich wollen können, würde, dadurch an Freiheit verlören, da die Freiheit des dass in aller Öff entlichkeit mit dem Hinweis »Das muss ›Sprechens‹ als auch des ›Zuhörens‹ und damit jene des doch auch mal gesagt werden dürfen!« über Juden, Mus- ›Abwägens‹ limitiert würde. Daher kann von einer li- lime oder Gläubige jeder beliebigen Religion, über Far- beralen – und noch mehr von einer libertären – Warte bige, Behinderte, Frauen, Liberale, Homosexuelle und so aus, die die Freiheit und Autonomie des Individuums weiter und so fort gegeifert wird. Können wir wirklich betont, die Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht wollen, dass es in Europa bzw. in der EU beispielswei- hingenommen werden. Allen Bürgern muss zugemutet se Radiosender wie in den USA gibt, die tagein tagaus werden (können), Äußerungen jeder Art hinzunehmen, den jeweiligen politischen Gegner jenseits jeden guten auch wenn dies zuweilen unglaublich schwer fällt, denn Geschmacks durch den Kakao ziehen, in denen gegen Einschränkungen der freien Meinungsäußerung ge- Schwule und Lesben agitiert wird, die gegen Juden het- hen an die Substanz der Freiheit auch des Gedankens. zen oder gegen jeden Menschen, der nicht katholisch Sie verhindern nicht nur die Äußerung selbst, sondern ist? Sollen Holocaust-Leugner ihre Lügen ungestraft auch die Kenntnisnahme anderer Positionen. Daher ist verbreiten dürfen? * Viele Menschen würden dies mit größte Skepsis geboten, wenn zur Rechtfertigung von nachvollziehbaren Gründen verneinen; insbesondere Einschränkungen der Meinungsfreiheit das Argument das Argument, dass nicht nur physische Akte Menschen angeführt wird, dass man doch gut unterscheiden könne verletzen und schädigen können, sondern eben auch zwischen den zwar kontroversen, aber noch wichtigen Worte (vgl. McGregor 1997), wird an dieser Stelle häu- und den für den Bestand unseres Gemeinwesens schon fi g genannt: Sprachakte stellten Handlungen dar, die die gefährlichen und deshalb zu verbietenden Meinungen, Rechte anderer Menschen verletzen können und daher selbst wenn es – wie im Fall nazistischer Propaganda müssten ihnen ebenso Grenzen gesetzt sein, wie dies für oder fundamentalistischer Hasspredigten – manchmal alle anderen Arten von Handlungen auch gilt. so off ensichtlich ist, wie falsch, wie menschenverachtend und wie ablehnenswert die jeweils verkündete Meinung ist. Ein bleibendes Dilemma Wenn hier für uneingeschränkte Meinungsfreiheit ein- getreten wird, heißt dies nicht, dass damit die Affi rma- Schon diese sehr grobe Skizze der Debatte macht deut- tion menschenverachtender Positionen einherginge, im lich, dass es keine allgemein zufriedenstellende Lösung Gegenteil: Reden ist eines, Schlagen und Verletzen und des Konfl ikts um die freie Meinungsäußerung geben Töten etwas ganz anderes – etwas nämlich, das mit den kann, obwohl es entsprechende Versuche gibt: Meyers existierenden Gesetzen konsequent geahndet werden (1997) bspw. diskutiert, dass den Betroff enen diskrimi- kann und muss. Gerade das Recht auf uneingeschränkte nierender Meinungsäußerungen eine materielle Kom- Meinungsäußerung müssen wir dazu nutzen, vehement pensation zugesprochen werden könnte. Die Liste der gegen menschenverachtende Haltungen einzutreten. Es Fragen, die hiermit aufgeworfen werden, ist jedoch sehr ist viel zu einfach, wenn nach Staat und Politik gerufen lang, bspw.: Wer soll bezahlen? Wer soll etwas in welcher und gesagt wird, dass beide in der Pfl icht stünden, ge- Höhe bekommen? Wie kann dieser Vorschlag vor Miss- gen jene Verführer etwas zu unternehmen, sprich, sie zu brauch geschützt werden? verbieten. In der Bundesrepublik Deutschland existieren Trotzdem ist der Titel des vorliegenden Textes ein- entsprechende Verbote – ob sie Wirkung gezeigt haben, deutig in seiner Aussage: Hier wird für die unlimitierte kann man mit dem Hinweis auf die Vielzahl rechtsextre- Redefreiheit als Grundlage einer europäischen Medien- mistischer Straftaten jedoch ernstlich bezweifeln. Statt ethik im Sinne eines Minimalstandards argumentiert. also den Zwangsapparat von Polizei und Justiz zu mo- bilisieren, müssen wir uns alle selbst bewegen. Es reicht nicht, ab und an das eigene Bedauern über nazistische, rassistische oder diskriminierende Parolen kundzutun oder alle Jubeljahre wieder eine Lichterkette zu bilden. * Nun, tatsächlich gibt es das alles bereits heute schon, so dass Wenn von jenen Menschen, die solchen Attacken ausge- im Grunde nicht mehr zur Diskussion steht, ob wir dies setzt sind, erwartet wird, dies zumindest auf der verbalen neu zulassen wollen – es steht nur zur Debatte, ob wir es Ebene hinzunehmen, so dürfen wir sie nicht alleine da- EU-weit verbieten wollen. Denn nationale Verbote sind bei lassen. Wir alle müssen uns aktiv gegen Intoleranz bei Massenmedien oft genug sinnlos, weil diese grenzüber- und Hass wenden und dürfen nicht nur auf den Staat 38 | schreitend verbreitet werden. verweisen. Plädoyer für unlimitierte Meinungsfreiheit als Grundlage einer europäischen Medienethik

Für die Frage, wie die Rede von den »europäischen Medienethiken« verstanden werden sollte, muss daher die Antwort lauten, dass die real existierende Vielheit unterschiedlicher ethischer Positionen in Europa durch einen Mindeststandard verbunden sein sollte – eine eu- ropäische Verfassung, wenn sie denn jemals allgemein akzeptiert werden wird, muss ein unlimitiertes Recht auf freie Rede sichern. Die Bürger der einzelnen Staaten können ihren eigenen moralischen Traditionen und ihrer jeweiligen historisch gewachsenen Verantwortung viel besser dadurch gerecht werden, dass sie selbst das Recht auf freie Rede dazu nutzen, gegen Hass und Intoleranz ein Zeichen zu setzen. Sich hierbei auf den Staat zu ver- lassen bedeutet in einer Welt der faktischen Grenzenlo- sigkeit der Kommunikationsmöglichkeiten und der be- grenzten Reichweite nationalstaatlicher Gesetzgebung nichts anderes, als das Problem zu verschieben – gelöst wird es ganz gewiss nicht. Gerade die Pluralität der Me- dienethiken wird den Zusammenstoß unterschiedlicher Kulturen mit befeuern, denn die Asymmetrie, die sich bisher bei der Ausgestaltung der Meinungsfreiheit zeigt, befördert den Missbrauch durch Waff enungleichheit.

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Wilfried Scharf

Warum die Religionsfreiheit das erste Menschenrecht ist – und warum die Meinungsfreiheit Demokratie konstituiert

1. Wenn 2006 in Europa eine Mozart-Oper nicht mehr der Wissenschaftsfreiheit. Letztlich sind diese funda- aufgeführt werden darf, müssen die Umstände prekär mentalen Menschenrechte abgeleitet von der Meinungs- und die Gründe für die Absetzung schwerwiegend sein. freiheit, wonach jeder Mensch überall seine Meinung Diesen Zustand hatten wir in Deutschland erreicht, als frei sagen darf. Diese Grundrechte sind aufgeschrieben die Intendantin der Deutschen Oper Berlin, Kirsten in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von Harms, die Idomeneo-Inszenierung 2003 im September 1948 und in der Europäischen Menschenrechtskonven- 2006 vom Spielplan absetzte. Idomeneo ist die zweite von tion von 1950. Mozarts sieben Opern und ein typisches Produkt der europäischen Klassik In ihr befi nden wir uns in der Zeit 2. nach dem Trojanischen Krieg. Nach Errettung aus See- Am 30.9.2005 hatte die dänische Tageszeitung Jyllands not hat sich der kretische König Idomeneo durch einen Posten zwölf Mohammed-Karikaturen publiziert, um Schwur in die tragische Lage gebracht, seinen Sohn Ida- damit eine Auseinandersetzung mit dem Islam in Eur- mantes töten (opfern) zu müssen. Er ist dazu bereit. Dies opa in Gang zu setzen. Darüber waren zunächst wenige erinnert uns direkt an Abrahams im ersten Buch Mose, Intellektuelle empört, darunter auch islamische in Dä- 22. Kapitel, Vers 1 – 19, verkündete Bereitschaft, seinen nemark. Sie trugen ihre Empörung weiter. Schließlich Sohn Isaak zu opfern. Letztlich kommt es in beiden Fäl- wurde eine internationale Kampagne hauptsächlich in len zur Opferung nicht. Die beiden Geschichten stam- islamischen Statten organisiert, die am »Internationalen men aus den wichtigsten Quellen europäischer Kultur, Tag des Zorns«, dem 3.2.2006, unter dem Motto »Mas- 1. Ilias und Odyssee und 2. der Bibel. sakriert alle, die den Islam beleidigen« zu organisierter Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Wolfgang Wut und Gewalt führte, zu Stürmen auf die dänische Amadeus Mozart (1756 – 1791) als Hauptvertreter Botschaften, dem Verbrennen von dänischen und euro- der europäischen Klassik neben Joseph Haydn und päischen Flaggen und zu Toten. L udwig van Beethoven diesem Geist verpfl ichtet ist. Wie nicht anders zu erwarten, kam es daraufhin in Wir europäischen Zeitgenossen von 2007 sind es glei- der europäischen Politik zu großen »Appeasement«- chermaßen. Zu Mozarts Zeit bedeutete der Stoff von Anstrengungen. Der bayerische Ministerpräsident Idomeneo eine Hommage an die Aufklärung, an Men- E dmund Stoiber verlangte einen »verantwortungs- schenrechte und Idealismus. Denn es wird das Glück vollen Umgang mit der Pressefreiheit«. »Der Respekt vor Idamantes verteidigt gegen die Zwänge des Staates und anderen Religionen verlangt manchmal auch ein Stück seiner Raison. Ilia, die Tochter des ›feindlichen‹ troja- Zurückhaltung.« 1 Der Papst dekretierte: »Muslime dür- nischen Königs Priamos, liebt Idamantes nämlich und ist fen nicht in ihren religiösen Gefühlen verletzt und zum bereit, sich für ihn zu opfern. Dadurch wird der zustän- Objekt von Provokationen werden.« 2 Der an dieser Stel- dige Meeresgott Poseidon beeindruckt und besänftigt. le unvermeidliche Psychoanalytiker Horst-Eberhard Idamantes darf am Leben bleiben und Ilia heiraten. Richte r empfahl: »Der Westen sollte alle Provokati- Worum es bei der Absetzung der Oper geht, ist klar. onen unterlassen, die Gefühle von Erniedrigung und De- Auf der einen Seite steht die Kunstfreiheit und auf der mütigung hervorrufen, wir sollten die kulturelle Identität anderen Seite die Religionsfreiheit, weil sich durch die der islamischen Länder mehr achten … Für die Muslime Inszenierung von 2003 Muslime in ihren religiösen Ge- ist es wichtig, als ebenbürtig anerkannt und gewürdigt fühlen verletzt hätten fühlen können (tatsächlich hatte zu werden« 3 Aber auch der Präsident des Zentralrats der sich niemand beschwert), da in der Inszenierung von Juden in Deutschland, Paul Spiegel, meinte: »Solche Hans Neuenfels am Ende die abgeschlagenen Köpfe Karikaturen dürfen nicht gedruckt werden.« 4 von Poseidon, Jesus, Buddha, Mohammed von Idome- Den Vogel abgeschossen als Vertreter der politischen neo auf die Bühne getragen werden. Womit uns der Re- Linken hatte aber zweifellos Oskar Lafontaine. Er gisseur in seiner schlichten Art wohl sagen will, dass uns sagte: »Der Islam setzt auf die Gemeinschaft, damit steht die Religionen auf dieser Welt nicht helfen können. Aber er im Widerspruch zum übersteigerten Individualismus, darauf kommt es gar nicht an. Die Kunstfreiheit ist in dessen Konzeption im Westen zu scheitern droht. Der 40 | einem Atemzug zu nennen mit der Pressefreiheit und zweite Berührungspunkt ist, dass der gläubige Muslim verpfl ichtet ist, zu teilen. Die Linke will ebenso, dass der Zwölf Intellektuelle (unter ihnen Ayaan Hirsi Ali Stärkere dem schwächeren hilft. Zum Dritten: Im Islam und Salman Rushdie) sprachen sich in einem Mani- spielt das Zinsverbot noch eine Rolle, wie früher auch fest gegen die Anwendung der Formel vom »Kampf der im Christentum. In einer Zeit, in der ganze Volkswirt- Kulturen« auf den Karikaturenstreit aus. Es handle sich schaften in die Krise stürzen, weil die Renditevorstel- nicht »um eine Aufeinanderprallen der Kulturen oder ei- lungen völlig absurd geworden sind, gibt es Grund für nen Gegensatz von Okzident und Orient, sondern einen einen von der Linken zu führenden Dialog mit der is- weltweiten Kampf der Demokraten gegen die Th eokra- lamisch geprägten Welt. … Wir müssen uns immer fra- tie.« 9 Sie schlossen sich damit einer Perspektive an, die gen, mit welchen Augen die Muslime uns sehen. … Die typischerweise 1945 Karl Raimund Popper mit sei- Menschen in den muslimischen Ländern haben viele nem weltberühmten Buch Die off ene Gesellschaft und ihre Demütigungen erfahren – eine der letzten ist der Irak- Feinde eröff net hatte. Darin rechnete er mit den »falschen Krieg. Es geht um Rohstoff -Imperialismus.« 5 Propheten« Platon, Hegel und Marx ab. Die Welt- Aber das Appeasement beschränkte sich nicht auf die geschichte habe keinen Sinn. Wohl aber könnten wir Politik, wo wir es nicht anders gewohnt sind, sondern trat Menschen der Geschichte einen Sinn verleihen. Dieser sehr bald sogar in der Wissenschaft auf. Da ist von »ge- Sinn allerdings könne verändert werden. Im Sinne der zielter Provokation« die Rede. Es handle sich bei J yllands Menschen sei dies dann der Fall, wenn darüber von Fall Posten um ein »rechtskonservatives« Blatt. Es habe eine zu Fall demokratisch abgestimmt werde. Popper sah auf »verletzende Absicht« bestanden. Wir müssten »Miss- dem Feld der Politik allein in der Demokratie eine le- verständnisse vermeiden«. Die von Flemming Rose, gitime Herrschaftsform. Damit war er automatisch der dem zuständigen Redakteur, »hochgelobte Verteidigung weltanschauliche Lieblingsfeind der realen Sozialisten der Pressefreiheit sieht jedenfalls mehr nach inszenierter und anderer totalitärer Ideologen. Meines Erachtens ist Farce denn nach Abwehrkampf gegen die äußere oder seine Perspektive auch heute geeignet, die Konfl ikte zwi- selbstverordnete Einschränkung der Pressefreiheit aus.« 6 schen Religionen und Staaten zu begreifen. Es sei ein »übles Spiel getrieben« worden. »Den Abdruck Zweifellos haben wir es ja in der Gegenwart mit ei- im Namen der Pressefreiheit zu verfügen, verkennt eine ner Resurgenz des Islam zu tun. »Re- Islamisierung … wesentliche Dimension dieses hohen Gutes. Die Ausü- bietet zuerst und vor allem die Möglichkeit einer neuen bung der Pressefreiheit ist immer auch mit Verantwor- Identitätsstiftung in einer Welt, die ihren Sinn verloren tung verbunden.« 7 Witze über Tabus zu machen, setze hat …« 10 Andreas Platthaus schrieb: »Der Islam hat den Urheber moralisch ins Unrecht. Der Nachdruck sei den Anspruch, eine Rechtsreligion zu sein: Die Welt »provinziell und verantwortungslos«. soll nach theologischen Gesichtspunkten regiert werden. In einer Analyse der publizistischen Kontroverse um Diesen Anspruch hat das Christentum … jahrhunderte- die Mohammed-Karikaturen haben wir zwischen dem lang gleichfalls erhoben. Erst mit der politischen Säku- 30.9.05 und dem 15.5.06 1.219 Beiträge in den Meinungs- larisierung ist dieser Einfl uss gebrochen worden, kam es führermedien Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), zu einer Selbstreform der Religion.« 11 Andrea Seibel Süddeutsche Zeitung (SZ), Die Welt (W), Frankfurter geht noch weiter: »Hierzulande baut man Moscheen, Rundschau (FR), Die Tageszeitung (taz), Der Spiegel praktiziert Religionsfreiheit und lässt sich doch wegen und Die Zeit untersucht. Ganz überwiegend fand dieser lächerlicher Mohammed-Karikaturen erpressen. In is- Diskurs in den Begriff en von Samuel Huntingtons lamischen Ländern werden Andersgläubige schikaniert, »Kampf der Kulturen« 8 statt. Nach dem Ende der bipo- Konvertiten, wenn nicht hingereichtet, dann ins Gefäng- laren Welt gäbe es keine politisch-ideologischen Käm- nis geworfen oder gemeuchelt. Wie im Brennglas zeigt pfe mehr, sondern nur noch kulturelle. Es stünden sieben sich die Kluft zwischen Moderne und Mittelalter.« 12 oder acht Kulturkreise miteinander in Konkurrenz (der sinesische, japanische, hinduistische, islamische, west- 3. liche, lateinamerikanische, afrikanische). Es gäbe einen Am 12.9.2006 hielt Papst Benedikt XVI. in seiner Kampf zwischen dem Universalismus (der Menschen- Heimat-Universität Regensburg eine Vorlesung mit dem rechte) und dem Kulturrelativismus. Titel Glaube, Vernunft und Universität. Darin wandte | 41 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

er sich gegen Gewalt unter den Religionen. Das Haupt- 5. augenmerk legte er auf die Vereinbarkeit von Glauben Beim Abwägen der Pressefreiheit, der Wissenschafts- und Vernunft und nahm dabei eine typisch katholische freiheit und der Kunstfreiheit auf der einen Seite gegen Position ein. »Nicht vernunftgemäß handeln ist dem We- die Religionsfreiheit auf der anderen soll nicht vergessen sen Gottes zuwider.« 13 Benedikt sah die Chance zum werden, dass die Religionsfreiheit im Grunde das erste viel geforderten Dialog der Religionen hauptsächlich in Menschenrecht ist. Dies wird uns klar, wenn wir uns der Vernunft. »Eine Vernunft, die dem Göttlichen ge- fragen, woher die Menschenrechte eigentlich stammen. genüber taub ist und Religion in den bereich der Subkul- Für uns Europäer ist es meistens gut zu wissen, dass sie turen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen.« 14 aus Amerika kommen. Denn die Gründungsväter der In seiner Vorlesung setzte er sich tatsächlich im Wesent- Vereinigten Staaten von Amerika waren weithin Men- lichen auseinander mit Duns Scotus (1266 – 1308), den schen, die ihren Glauben im 16. und 17. Jahrhundert in Reformatoren und der »liberalen Th eologie« eines Adolf Großbritannien nicht mehr voll ausüben konnten und von Harnack (1851 – 1930), hauptsächlich aber mit der deswegen nach Amerika auswanderten. Sie orientierten Philosophie Immanuel Kants (1724 – 1804). Dieser sich an der Persönlichkeit, dem Individualismus, der hatte in seiner Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft Autonomie der Gemeinden und ihrer Selbstverwaltung, (1781) Gottesglauben und Weltwissen u nterschieden und schließlich am freiheitlich-demokratischen Staat. Mit voneinander getrennt und dabei betont, dass von dem ei- der Unabhängigkeitserklärung der 13 Staaten von 1776 nen für das andere nichts gewonnen werden könne. Eine wurden zugleich die Menschenrechte verkündet. Sie bil- Auff assung, die heute wohl das vorherrschende Wissen- deten die Grundlage der ersten amerikanischen Verfas- schaftsverständnis charakterisiert. Der Papst kritisierte sung von 1789. In diesem Jahr wurden bekanntlich die dies und betonte: »In der westlichen Welt herrscht weit- Menschenrechte auch von der Französischen Revolu- hin die Meinung, allein die positivistische Vernunft und tion proklamiert. 18 Die Meinungsfreiheit und die von ihr die ihr zugehörigen Formen der Philosophie seien uni- abgeleiteten Freiheiten sind so wichtig, weil keiner die versal.« 15 Benedikt XVI. kritisierte also den Westen. Wahrheit kennt. Kein Zentralkomitee, keine Glaubens- Dies alles ging unter in der islamischen Rezeption, die kongregation, nicht der amerikanische Präsident und sich an einem Papst-Zitat des byzantinischen Kaisers auch nicht der türkische Religionsminister. Deswegen Manuel II. Palaeogulos (1391) störte, das dieser in hat das Bundesverfassungsgericht herausgestellt: »Das einem Disput mit einem gebildeten Türken oder Per- Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmit- ser gesagt haben soll: »Zeig mir doch, was Mohammed telbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte Inhumanes fi nden wie dies, das er vorgeschrieben hat, überhaupt. Für eine freiheitlich-demokratische ist es den Glauben, den er predigt, durch das Schwert zu ver- schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die breiten.« 16 Der Leiter der türkischen Religionsbehörde, ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Ali Bardakoglu, fand daraufhin die Vorlesung »ein- Meinungen, die ihr Lebenselixier ist. Es ist in gewissem seitig, voreingenommen, feindselig und provozierend«. Sinne die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.« 19 Aber dies war noch eine gemäßigte islamische Reaktion. Grundsätzlich ist die Meinungsfreiheit weit zu verste- Von einer Dialogbereitschaft von dieser Seite war anson- hen. Sie umfasst Werbung. Sogar unwahre Tatsachenbe- sten wenig zu spüren. hauptungen sind teilweise geschützt. Sie deckt im Zwei- fel einen Boykottaufruf. Dies gilt insbesondere für die 4. Presse. Aber natürlich sind erfundene Interviews unzu- Von der »Idomeneo-Absetzung« war schon die Rede. lässig. Zitate müssen stimmen. Die genannten Freiheiten Wir sollten uns vor Augen halten, dass nicht mit Gewalt gelten gerade dann, wenn es sich um einen Beitrag zum gedroht worden war. Es genügte, dass wir uns vorstel- geistigen Meinungskampf in einer die Öff entlichkeit len konnten, sie könne drohen. Dies war der vorläufi ge wesentlich berührenden Frage handelt. Dies war sowohl Höhepunkt der Appeasement- Politik. Ja, das Vorgehen bei den Mohammed-Karikaturen als auch bei der Papst- trug Züge der Kapitulation. Insofern können wir uns nur Vorlesung und der »Idomeneo-Absetzung« gegeben. Herfried Münkler anschließen, wo er sagt: »Was mit Das führt uns zu dem Schluss: »Diese Konfl ikte müs- dem Streit über die dänischen Mohammed- Karikaturen sen ausgetragen und ertragen werden. Auch die schlech- begann, sich mit der Erregung über die Regensburger te Karikatur bleibt also rechtlich geschützt, zugleich Vorlesung des Papstes fortsetzte und nun in der Abset- darf sie aber kritisiert, gescholten und auch moralisch zung von ›Idomeneo‹ gipfelt, ist eine einzige Einladung verdammt werden.« 20 Alice Schwarzer meinte sogar: an die Islamisten und deren politische Hintermänner »Die einzige Antwort auf den Terror wäre gewesen, dass zu neuen Forderungen und zur Erhöhung der Preise für alle Zeitungen im Westen – und nicht nur die wenigen 42 | i hren Gewaltverzicht.« 17 tapferen – diese harmlosen Karikaturen n achdrucken.« 21 Warum die Religionsfreiheit das erste Menschenrecht ist – und warum die Meinungsfreiheit Demokratie konstituiert

Flemming Rose, der zuständige Ressortleiter von Überreaktion eines Teils – leider des lauteren Teils – der J yllands Posten gab als seine Überlegung an: »Nahöst- muslimischen Welt vereinen können. … ganz gewiss liche Diktaturen und radikale Imame haben den Jargon können wir uns doch vereinen, um die Rede- und Presse- der europäischen Linken übernommen, bezeichnen die freiheit zu unterstützen. … Mit ›wir‹ meine ich hier das Karikaturen als rassistisch und islamophob. Wenn wir Weiße Haus, den Vatikan, die Grünen in Deutschland, ihren Mangel an Bürgerrechten und die Unterdrückung das französische Außenministerium, die Nato, Green- von Frauen anprangern, behaupten sie, wir würden uns peace, ›Le Monde‹, die ›FAZ‹, den ›Daily Telegraph‹ wie Imperialisten auff ühren.« 22 und ›Fox News‹ – westliche Institutionen der Rechten, Ganz andere Meinung war Harald Müller: »Hier der Linken, der Mitte und von allem, was dazwischen aufgeklärte Meinungs- und Pressefreiheit, dort dumpfes liegt.« 27 Mittelalter. Das ist die Hauptwindrichtung, aus der es Für Eleonore Büning stand angesichts der »Idome- durch die Leitartikel und Feuilletons weht, wenn von neo-Absetzung« fest, »dass selbst [dann], wenn diese In- den Mohammed-Karikaturen und den gewaltsamen Pro- szenierung dumm, albern, gedankenarm, ignorant oder testen die Rede ist.« 23 Henryk M. Broder war wieder gar verletzend wäre – sie nicht schlicht per F ederstrich auf Seiten der Freiheit: »Es geht um Meinungsfreiheit, abgesetzt werden [dürfe], nur aus Furcht vor eventu- den Kern der Aufklärung und der Demokratie, und um ell aggressiven Andersdenkenden.« 28 Und Heinrich die Frage, ob Respekt, Rücksichtnahme und Toleranz Wefing fügte hinzu: »Niemand hat sich off enbar be- die richtigen Mittel im Umgang mit Kulturen sind, die wusst gemacht, dass ein solcher Schritt einer Einladung sich ihrerseits respektlos, rücksichtslos und intolerant ge- an Hitzköpfe und Radikalisierer gleichkommt, künftig genüber allem verhalten, was sie für dekadent, provokativ nicht nur die Spielpläne der Opern zu diktieren, sondern und minderwertig halten, von Frauen in kurzen Röcken alle öff entlichen Äußerungen der Meinungsfreiheit.« 29 bis hin zu Karikaturen, von denen sie sich provoziert Dennoch habe der Skandal auch etwas Gutes. Die Ein- fühlen, ohne sie gesehen zu haben.« 24 helligkeit, mit der die Absetzung dieser Operninszenie- Thomas Assheuer unterstrich: »Darf der Papst, und rung kritisiert werde, befestige den Konsens, Anfech- sei es nur im Gewande eines Zitats, islamische Gewalt tungen der Meinungsfreiheit, gleich welcher Art, nicht ansprechen und dabei Ross und Reiter nennen? Allein weichen zu wollen. Das sei in den letzten Jahren, gerade die Frage scheint abwegig. Natürlich darf er es, es ist so- mit Rücksicht auf die religiösen Gefühle von Minder- gar seine Pfl icht. Denn niemand kennt die Verbindung heiten, durchaus nicht immer so gewesen. 30 zwischen Religion und Gewalt besser als ein Mann der Herfried Münkler unterstrich: »Und auch die Frei- katholischen Kirche.« 25 Allerdings gab er zu bedenken, heit kann nicht nur besessen und genossen, sondern muss dass es wäre hilfreich gewesen wäre, der Papst hätte ein immer wieder auch neu erworben und erkämpft werden – Wort über die römischkatholische Auslegung des Tö- gelegentlich mehr gegen unsere Ängste und unsere Träg- tungsverbots verloren, über die mittelalterliche Verfol- heit als gegen tatsächliche Bedrohungen von außen.« 31 gung der Juden, das Abschlachten der Ungläubigen und Und Bassam Tibi sah ein speziell deutsches Problem: das Verbrennen der Hexen, auch ein Wort über die Li- »Das Problem ist: Deutschland kann den Fremden kei- turgie des Folterns, Verstümmelns, Ertränkens, stets mit ne Identität anbieten, weil die Deutschen selbst kaum der Bibel in der Hand. Noch den Franco-Faschisten sei eine haben. Das ist wohl eine Folge von Auschwitz.« 32 die katholische Kirche unter den Rock gekrochen, und Auf die Frage, was ist uns noch heilig ist, gibt Robert die Befreiungstheologie habe sie bekämpft, als sei es der Leicht folgende Antwort: »Erstens das Recht, dies für Leibhaftige. Ein Hinweis auf die Todsünden der eigenen sich selbst zu bestimmen, zweitens die Pfl icht, die Ent- Kirche, ein Hauch von Bußfertigkeit hätte den Ajatol- scheidung des anderen zu achten, drittens die Notwen- lahs ein Zeichen gegeben, und wäre dieses Zeichen so digkeit, Ansprüche des Staates auf die Religionsfreiheit kühl gewesen wie dieser Satz: »›Menschen der Kirche abzuwehren, und viertens, die Wachsamkeit gegenüber haben im Namen des Glaubens und der Moral auf Me- allen religiösen Anmaßungen, unsere freiheitliche Ver- thoden zurückgegriff en, die dem Evangelium nicht ent- fassung in Frage zu stellen.« 33 Und das hat zur Folge, sprechen.‹ Der Satz stammt übrigens nicht von einem dass wir unsere Werte und Regeln nicht deswegen auf- Häretiker. Er stammt von Joseph Kardinal Ratzinger, geben können, weil sie anderen fremd oder gar ärgerlich damals noch gefürchteter Präfekt der Glaubenskongre- sind, im Gegenteil: sie haben sich gerade im Konfl iktfall gation.« 26 zu bewähren. 34 Anne Applebaum gab sich sehr entschieden, nannte aber erfreulicherweise Ross und Reiter: »Westliche Po- litiker, Schriftsteller, Intellektuelle und Redner sollten aufhören, sich zu entschuldigen. Stattdessen sollten sie einen Weg fi nden, wie sie sich gegen die empörende | 43 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Anmerkungen

1 Zit. nach Sebastian Beck: Gipfel des Glaubens. In: 21 Alice Schwarzer: Islamisten aller Länder vereinigt »Süddeutsche Zeitung«, 29.4.2006, S. 41 euch. In: »Die Welt«, 11.2.2006, S. 8 2 Ohne Verfasser: Aufgebrachte Muslime setzen Kir- 22 Flemming Rose: Die Stunde der Wahrheit. In: »Der chen in Pakistan in Brand. In: »Süddeutsche Zeitung«, Spiegel«, 29.5.2006, S. 136 21.2.2006, S. 7 23 Harald Müller: Totentanz der Brandstifter. In: 3 Zit. ebenda, S. 7 »Frankfurter Rundschau«, 11.2.2006, S. 8 4 Zit. nach ohne Verfasser: Drohung mit Anschlägen we- 24 Henryk M. Broder: »Wir kapitulieren!« Essay. In: gen der Karikaturen. In: »Frankfurter Allgemeine Zei- »Der Spiegel«, 14.8.2006, S. 38 tung«, 4.2.2006, S. 2 25 Thomas Assheuer: Das bedrohte Wort. Der Papst 5 Zit. ohne Verfasser: Aufgebrachte Muslime setzen Kir- muss sagen dürfen, was er will – auch wenn es das chen in Pakistan in Brand. In: »Süddeutsche Zeitung«, Falsche ist. In: »Die Zeit«, 21.9.2006, S. 1 21.2.2006, S. 40 26 Ebenda, S. 1 6 Vgl. Bernhard Debatin: Die Grenzen der Presse- 27 Anne Applebaum: Es reicht. In: »Literarische Welt«, freiheit? Der Karikaturenstreit als inszenierte Farce. In: 23.9.2006, S. 1 »Publizistik« Heft 2/2006, S. 149 – 152 28 Eleonore Büning: Die Bresche. In: »Frankfurter 7 Barbara Thomass: Pressefreiheit und Verantwortung. Allgemeine Zeitung«, 27.9.2006, S. 1 In: »Journalist« 3/2006, S. 21 29 Heinrich Wefing: Nur Mut! In: »Frankfurter All- 8 Vgl. Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen: gemeine Zeitung«, 29.9.2006, S. 38 Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. 30 Vgl. ebenda, S. 38 München 2002 (1996); vgl. auch Bassam Tibi: Krieg 31 Herfried Münkler: Angst essen Seele auf. Wer vor der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Ver- Extremisten zurückweicht, spricht eine Einladung an sie nunft und Fundamentalismus. Hamburg 1995 aus. In: »Süddeutsche Zeitung«. 30.9./1.10.2006, S. 2 9 Zit. nach Jochen Hehn: Manifest der 12. Gemeinsam 32 Bassam Tibi im »Spiegel«-Interview: »Friede, Freude, gegen den neuen Totalitarismus. In: »Die Welt«, 2.3.2006, Eierkuchen«. In: »Der Spiegel« 40/2006, S. 47 S. 27 33 Robert Leicht: Wo keine Last ist, da lässt sich nur 10 Zit. nach Huntington, S. 148 schwer lästern. In: »Die Zeit«, 16.2.2006, S. 6 11 Andreas Platthaus: Stichprobe. In: »Frankfurter 34 Vgl. ebenda, S. 6 Allgemeine Zeitung«, 4.2.2006, S. 39 12 Andrea Seibel: Der Christ von Kabul. In: »Die Welt«, 23.3.2006, S. 1 13 Benedikt XVI.: Glaube, Vernunft und Universität. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 13.9.2006, S. 8; mittlerweile gibt es ein ganzes Buch über die Papst- Vorlesung, in dem eine korrekte Interpretation ange- strebt wird: Benedikt XVI.: Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung. Vollständige Ausgabe. Kom- mentiert von Gesine Schwan, Adel Th eodor Khoury, Karl Kardinal Lehmann. Freiburg 2006 14 Ebenda, S. 8 15 Ebenda, S. 8 16 Zit. ebenda, S. 8 17 Herfried Münkler: Angst essen Freiheit auf. In: »Süddeutsche Zeitung«, 30.9./1.10.2006, S. 2 18 Vgl. Heinrich August Winkler: Was heißt west- liche Wertegemeinschaft? In: »Die Zeit«, 22.2.2007, S. 12 19 BVerfGE 7, 198 (208) 20 Heribert P.: Caroline, Muslime und die Grundrechte. 44 | In: »Süddeutsche Zeitung«, 8.2.2006, S. 4 Marcus S. Kleiner & Jörg-Uwe Nieland

Medienopfer Kasachstan – eine medienethische Bewertung des Films Borat

Der Film Borat, im Untertitel Cultural Learnings of Ame- des Verhältnisses zwischen Privatheit und Öff entlichkeit rica for make benefi t glorious nation Kazakhstan 1, hat seit im Vordergrund. Vielmehr geht es um die Auseinander- seiner Premiere am 8. September 2006 beim Filmfesti- setzung mit dem Verhältnis zwischen lokaler, kultureller val Toronto eine heftige internationale Debatte über die Eigensinnigkeit, ihrer satirischen Kritik und den Mög- Grenzen der Satire ausgelöst.2 Dem Ausstrahlungsver- lichkeiten einer gegenstandsorientierten Bewertung. bot des Films in Russland und den (letztlich erfolglosen) Klagen von US-Amerikanern, die sich durch den Film verunglimpft bzw. durch die Produktionsfi rma getäuscht 1. Der Film fühlen, steht ein enormer (ökonomischer) Erfolg gegenü- ber. Der Film Borat kostete lediglich 18 Millionen Dollar Borat ist eine Fake-Dokumentation bzw. Mockumentary, und spielte, nach Angaben von 20th Century Fox, bereits d. h. ein fi ktionaler Dokumentarfi lm, der einen echten am ersten (Ausstrahlungs-)Wochenende 26,4 Millionen Dokumentarfi lm oder das ganze Genre parodiert. Dollar ein. 3 Der Film Borat wurde 2006 in den USA produziert; das Bei Borat handelt es sich um eine Fake-Dokumentation Drehbuch haben Anthony Hines, Peter Baynham bzw. Mockumentary des kasachischen Fernsehreporters und Sacha Baron Cohen verfasst; Regie führte der Borat Sagdiyew, der vom kasachischen Innenministeri- TV-Regisseur, -Produzent und -Drehbuchautor Larry um auf eine Reise durch die, wie er es immer ausspricht, Charles (u. a. Seinfeld); die Altersfreigabe liegt bei FSK »US and A« geschickt wurde, um die dortigen Gebräu- 12. che und Gewohnheiten zu studieren. Die Kunstfi gur Borat ist ursprünglich ein TV-Format, d. h. die Figur Borat wird von Sacha Baron Cohen gespielt, dem war Bestandteil der britisch-amerikanischen Comedy- britischen Komiker mit internationalem Kultstatus und Serie Da Ali G Show, die von 2000 – 2004 produziert bekannt als pakistanischer Möchtegern-Vorstadt-Gang- und ausgestrahlt wurde. Es gab insgesamt drei Staff eln sta-Rapper Ali G aus der gleichnamigen Serie und dem mit 18 30-minütigen Episoden. In England wurde die er- Film Ali G Indahouse (2002). ste Staff el von Channel 4 produziert und ausgestrahlt, in Weltweit bildete sich eine große Fangemeinde, die sich den USA von HBO, Wiederholungen gab es, ebenso wie im Internet in Borat-Blogs austauscht und die Satire des etwa die deutsche Ausstrahlung, auf MTV. 6 Films weiterführt. Vor allem aber bei der »You-Tube-Ge- Ali G interviewt größtenteils Politiker und Personen neration« (Luig 2006: 14) ist Borat äußerst erfolgreich, des öff entlichen Lebens, treibt diese dabei einerseits denn dort kann man über 3000 Ausschnitte runterladen. durch seine Begriff sstutzigkeit ›in den Wahnsinn‹ und Google weist derzeit ca. 15.400.000 Einträge zu Borat aus bringt andererseits durch provokative Fragen sowie (Stand Mai 2007). Handlungen die Bigotterie, den Rassismus und die In- Aus medienethischer Sicht ist zu fragen, ob es sich bei toleranz seiner »nominell ›toleranten‹ Gesprächspartner« Borat um einen verantwortungslosen Umgang mit kul- zum Vorschein, wie Diederichsen (2006) betont: »Die turellen, ethnischen, religiösen, sexistischen usw. Identi- mit unschuldigem Augenaufschlag gestellte Gretchen- täten und Haltungen handelt oder um eine legitime und frage ›Is it because I is black?‹ ist dann meist der Todes- instruktive Form von Kultur- und Gesellschaftskritik stoß. Die Lebenslüge der Toleranz, der ja von vornherein im Medium der Satire, die mit den Stilmitteln Fake und eingeschrieben ist, dass sie das zu Tolerierende für ein Fälschung, subversive Affi rmation, Überidentifi zierung Übel hält, sackt in sich zusammen. Doch Ali ist gar nicht und Imagebeschmutzung arbeitet. 4 black, was ihm seinerseits Rassismusvorwürfe eingetra- Weiterhin muss das von Mario Gmür (2002) in sei- gen hat. Er ist aber auch nicht klar als weiß oder asiatisch nem Buch Der öff entliche Mensch diskutierte Medien- oder was der ethnischen Identifi zierungen sonst so sind, opfersyndrom, mit Blick auf Borat, aus unserer Perspek- zu erkennen und treibt so mit Leuten seine Späße, die tive erweitert werden. Es geht im Fall von Borat nicht, immer noch nicht begriff en haben, dass Schwarz, Weiß, wie bei Gmür, um eine medienpsychologische Behand- Braun und Gelb nichts mit der Hautfarbe zu tun haben, lung / Th erapie von Einzelpersonen, sondern um den sondern soziale und kulturelle Rollen sind.« Umgang von und mit dem Medienopfer Kasachstan als Die Ali G Show gewinnt ihre Dynamik durch die ge- kollektivem Akteur. Bei uns steht entsprechend nicht konnte Montage von Sketchen, in denen ständig die das Plädoyer für eine bewusst-refl ektierte Handhabung Perspektiven gewechselt werden: osteuropäischer | 45 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

H interwäldler (Borat), mondäner österreichischer 2. Das Kasachstan-Bild in Borat. Schwuler (Brüno), leicht verstockter britischer Home- Eine öff entliche Erregung boy (Ali G). Die Story von Borat ist schnell zusammengefasst: Der Unsere spezifi sche Fragestellung, wie Satire, An- kasachische Fernsehreporter Borat mit, aus westlichem schlusskommunikationen und Reaktionen zum Film Bo- Blick, antisemitischer und frauenfeindlicher Grund- rat medienethisch zu bewerten sind, leiten wir aus dem haltung sowie als Personifi zierung des politisch inkor- Umfang und der Qualität der öff entlichen Debatten ab. rekten Humors wird vom Innenministerium beauftragt, Generell lässt sich hier das klassische journalistische Drei- zusammen mit seinem Produzenten Azamat Bagatov gestirn beobachten: Mahner und Warner, Rationalisten, in die USA zu reisen, um die dortigen Gebräuche und Euphoriker. Das (kulturkritische) Feuilleton und die Gewohnheiten der Menschen zu studieren. Ziel hierbei diversen Medienseiten, ebenso wie die Filmdienste und ist, wie es im Untertitel des Films heißt: »Kulturelle Ler- Filmkritik, verfi ngen sich in der Auseinandersetzung mit nung von Amerika, um Benefi z für glorreiche Nation von Borat in der Selbstbeobachtungsfalle (vgl. die Beiträge in Kasachstan zu machen.« Die erste Station ihrer Reise ist Beuthner / Weichert 2005). Eine gegenstandsorien- New York. In seinem Hotelzimmer entdeckt er beim tierte Debatte, die sich auf die Mehrdeutigkeit und das nächtlichen Zappen durch das amerikanische Fernseh- Kritikkapital von Borat eigensinnig eingelassen hätte, programm in der Serie Baywatch die Rettungsschwim- steht bisher noch aus. Kontrollinstanzen griff en, abgese- merin C. J., gespielt von Pamela Anderson, in die er hen vom russischen Filmverbot, kaum in die öff entliche sich sofort verliebt. Das Telegramm, das ihn am nächsten Auseinandersetzung ein; Interessenverbände setzten sich Tag über den Tod seiner Ehefrau informiert, lässt Bo- für eine Regulierung (etwa in Form von Kürzungen bei rat voll Vorfreude beschließen, mit seinem Produzenten den Trailern oder ein Filmverbot) und strafrechtliche nach Kalifornien zu fahren, um Pamela kennen zu ler- Verfolgung (z. B. durch Klagen gegen die Produktions- nen bzw. zu heiraten. Beide kaufen sich ein Auto, weil fi rma, den Hauptdarsteller etc.) ein. Letztlich das klas- Azamat nicht erneut fl iegen will, und fahren Richtung sische, zeitpunktjustierte medienkulturelle Reizklima, Westküste – ab hier wird der Film zum Roadmovie. dem nur ein kurzer Winter bevorsteht. Auf seiner Reise begegnet Borat real-life-people, die er In der (gesellschaftlichen und medialen) Öff entlichkeit durch sein Verhalten in Verlegenheit oder peinliche Si- wurde der Film aufgrund seiner diskriminierenden Dia- tuationen bringt. Bei einer Autogrammstunde in Holly- loge, die beispielsweise Vorurteile gegen Sinti und Roma wood triff t er auf Pamela Anderson, der er seine Liebe sowie Juden und Araber, aber auch gegen Amerikaner gesteht, ihr einen Heiratsantrag macht und in kasachischer bedienen, umstritten diskutiert. 7 Bereits vor dem Ki- Tradition einen mit ihren Namen bestickten Sack über- nostart hatten Interessenverbände sowie die Regierung stülpt, um sie zu verschleppen. Dies gelingt ihm nicht, von Kasachstan protestiert. Die Figur Borat sei »ein Pamela Anderson fl üchtet vor Borat, der k urze Zeit spä- Schwein von einem Mann: dumm, streitsüchtig, ohne ter festgenommen wird (Pamela Anderson war in die jeden Charme«, schrieb der kasachische Botschafter in Story eingeweiht). Borat tritt daraufhin die Heimreise Großbritannien, Erlan Idrissov, in einem Gastbeitrag an und nimmt auf dem Rückweg noch Luenell, eine für den Guardian (vgl. auch Stocker 2006). Auch der afroamerikanische Prostituierte, die er zuvor auf seiner kasachische Präsident Nursultan Äbischuly Nas- Reise nach Kalifornien kennen lernte, als seine Ehefrau arbajew beklagte sich bei George W. Bush über die mit nach Kasachstan mit. Verunglimpfung seines Landes. 8 So weit, so unspektakulär. Entscheidend für die inter- Im Film werden die Kasachen, zumindest die, die es im nationalen Kontroversen, die Borat ausgelöst hat, sind zivilisatorisch rückständigen Heimatdorf von Borat gibt, hingegen die Geschichten, die sich aus dem Zusammen- allesamt als grenzdebile, inzüchtige, juden-, schwulen-, treff en mit der westlichen Welt ergeben. zigeuner- und frauenfeindliche Barbaren dargestellt, bei Neben vielen anderen Nominierungen und Preisen, hat denen Vergewaltigungen, Waff enhandel, Prostitution Sacha Baron Cohen die Auszeichnung als Bester sowie Tischtennis als kulturell tradierte Freizeitbeschäf- Hauptdarsteller bei den Golden Globes 2007 gewonnen, tigungen gelten und Schamhaare sowie die Produktion der Film war dort auch als Bester Film nominiert, zudem von Aff en-Pornos die Exportschlager des Landes sind. war Borat in der Kategorie Bestes adaptiertes Drehbuch bei Familie besteht aus einer schwachsinnigen Mut- den Academy Awards 2007 für einen Oscar nominiert. ter, einer übergewichtigen und angsteinfl ößenden Ehe- frau, einem Sohn, der den längsten Penis aus Kasachstan besitzt, diesen präsentiert Borat auch mehrfach der Ka- mera und seiner Schwester, »die Nummer 4 Prostituierte in Kasachstan«, mit der er selbst rummacht. Der Film 46 | wurde allerdings nicht in Kasachstan gedreht, sondern Medienopfer Kasachstan – eine medienethische Bewertung des Films Borat

im rumänischen Dorf Glod, das eine Ansiedlung von über Leute, die glauben, dass so ein Land, wie ich es be- Sinti und Roma in den Südkarpaten ist. schreibe, tatsächlich existieren kann – ein Land, in dem Gleichwohl hat das Kasachstan-Bild nicht nur zu ei- Homosexuelle blaue Hüte tragen und Frauen in Käfi gen ner Protest-, sondern auch zu einer Klagewelle geführt. leben, in dem die Leute fermentierte Pferdepisse trinken Zwei Fälle möchten wir exemplarisch herausheben: Das und die Volljährigkeit gerade auf neun Jahre angehoben Europäische Zentrum für Antiziganismusforschung in wurde.« 10 Hamburg hat gegen den Filmverleih 20th Century Fox Diese Selbsteinschätzung von Cohen dient uns, nach und gegen den Hauptdarsteller von Borat Kla- einem Exkurs zum Amerika-Bild und der medialen An- ge wegen diskriminierender und rassistischer Darstel- schlusskommunikation am Beispiel des ARD Magazins lung der international geschützten Gruppe der Sinti und Polylux, als Grundlage für unsere medienethische Be- Roma erhoben. Diese würden unter dem »Kollektivplu- wertung von Borat: Als zentraler Fokus der mediene- ral Zigeuner« zusammengefasst, wodurch »zwanzig Jah- thischen Auseinandersetzung mit Borat muss einerseits re Bürgerrechtsarbeit« zu Nichte gemacht würden (vgl. der Zusammenhang sowie andererseits die Diff erenz Wiese 2006). Besonders empört hat die Sinti und Roma von kultureller Eigenheit und Fremdheit erörtert wer- eine Szene des Films, in der Borat einen Autoverkäufer den, denn durch das Aufeinanderprallen dieser beiden fragt, ob sein Geländewagen kaputt gehen würde, wenn Aspekte entsteht, zusammen mit der Rezeption, allererst er damit in eine Gruppe Zigeuner fahre. Das komme die eigentliche Gesellschafts- und Kulturkritik des Films darauf an, wie schnell er fahre, antwortet der Autohänd- bzw. sein Gegenstand. ler, wie die anderen Interviewten, eine reale Person (vgl. http://www.ezaf.org). Das Anwalt-Duo Michael Witti und Ed Fagan will 3. Das Amerika-Bild in Borat: für das Sinti- und Roma-Dorf von der 20th Century Fox Ein Non-Stop-Horror-Trip 30 Millionen Dollar einklagen, weil sie die Dorfbewoh- ner für den Borat-Dreh getäuscht haben soll: »Die beiden Nicht nur die Person Borat und sein Kaschstan-Bild er- Kläger sind Spiridon Ciorobea, 68, von Beruf Schweißer, regten die Gemüter, sondern vor allem auch die Darstel- und Nicolae Todorache, 57, von Beruf Wächter in einem lung von Amerika und den Amerikanern. Wir können Lagerhaus. Sie sind zwar nur kurz im Film zu sehen und an dieser Stelle nur einige Aspekte hervorheben, die den haben auch keinen Text, aber sie sind zentrale Figuren, provozierten clash of cultures veranschaulichen. »Im Ko- die Borats Dorf charakterisieren. Ciorobea wird im Film stüm der kulturellen Diff erenz« (Diederichsen 2006) als ›Schweißer und Abtreibungsgynäkologe‹ vorgestellt. spürt Borat, wie Ali G, der Mentalität seiner Gegenüber, Und Todorache kam zu seiner Rolle als ›Dorfvergewal- hier der der Amerikaner, nach. tiger‹, weil ihm eine Hand fehlt. Die Filmleute hatten »So entlockt er seinen Gesprächspartnern, die keine an seinen Armstumpf einen Plastikdildo montiert. To- Schauspieler sind, entweder Zustimmungen zu bru- dorache will erst jetzt erfahren haben, was das Objekt an talsten sexistischen, homophoben und antisemitischen 11 seinem Arm darstellte« (Lauer 2006: 14). Sprüchen, die der heitere Kasache zum Besten gibt, oder Cohen reagiert auf die wiederholten kritischen Äu- er bringt die Leute dazu, ihm die Regeln der amerika- ßerungen aus Kasachstan stets in seiner Rolle als Borat nischen Kultur zu erklären. Es ist bemerkenswert, was und distanziert sich damit zugleich von sich selbst: »Ich Menschen sich einfallen lassen, wenn sie den Blick auf möchte feststellen, dass ich keinerlei Beziehungen zu sich selbst als den Blick auf eine spezielle Kultur werfen. Herrn Cohen unterhalte und die Entscheidung meiner Im Angesicht des Anderen wird das Eigene plötzlich Regierung, diesen Juden zu verklagen, in vollem Umfang groß und besonders. […] Borat wie Ali G sind oft dafür unterstütze.« 9 gelobt worden, dass sie auch ›politisch Korrekte‹, ›mul- Bisher hat sich Sacha Baron Cohen, neben der tikulturelle Träumer‹ und andere Lieblingsfeinde der Times (vgl. White 2007), nur in einem Interview mit Frontkämpfer in den Huntington-Kriegen nicht schonen dem Rolling Stone Magazine (Strauss 2007: 76) über würden. Doch das stimmt nur zum Teil. Borat und Ali seine Kunstfi gur Borat geäußert: »Das [die Reaktion entlarven den schlecht entwickelten Sinn für die Praxis. der Regierung von Kasachstan – MSK/JUN] hat mich Sie sprechen zu denjenigen, die das, was sie wissen, allein überrascht, weil ich immer überzeugt war, dass das Pu- aufgrund von abstrakten Überzeugungen wissen. Und blikum merkt, hier handelt es sich um ein fi ktives Land, sie testen stets deren Bereitschaft, wider ihre Überzeu- das lediglich dazu dient, den Leuten ihre Vorurteile zu gungen zu lachen. Das läuft nicht auf den moralistischen entlocken. Kasachstan haben wir nur gewählt, weil es ein Topos vom ›im Hals stecken bleibenden Gelächter‹ hi- Land ist, über das niemand etwas Genaues weiß, und wir naus, sondern lenkt den Blick auf das Lebendige der mit Klischees und Vermutungen arbeiten konnten. Der Auff ührung namens ›Rassismus‹ oder ›Sexismus‹. Und Film macht sich nicht über Kasachstan lustig, sondern damit auf die Fülle an Formen und Konstellationen, in | 47 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

d enen diese gesellschaftsbildenden Ideologien sich stän- d iskriminierender Meinungen preisgibt, übt man auch dig aktualisieren. Ihnen entsprechend zu begegnen ist eine Form von Kritik.« 14 eben etwas anderes, als abstrakt zu wissen, dass und wie Doch zwischen die Fürsprecher mischen sich auch diese Ideologien konstruiert sind«. (ebd.) kritische Stimmen. So geht Topbob als einer der we- An zwei Beispielen soll die Amerika-Kritik von Borat nigen User direkt auf den Contra-Beitrag ein, indem er kurz veranschaulicht werden: Bei einem Abendessen mit schreibt: »Ich fi nde das Argument von der Gefahr der Südstaaten-Honoratioren, die Borat eingeladen haben, ›verbalen Verrohung‹ ausgesprochen stichhaltig. Es ist reagieren diese stets freundlich auf alle seine Verhal- wichtig, sich mit dieser Frage kritisch zu befassen, am tensweisen und betonen (in seiner Abwesenheit), dass besten mit den Jugendlichen gemeinsam.« So wird be- sie hoff en, ihn amerikanisieren zu können. Borat bringt zweifelt, dass die FSK-Freigabe richtig angesetzt ist und sogar seinen frisch gemachten Haufen von der Toilette Jugendliche in der Lage sind, den Satiregehalt des Films mit zu Tisch, weil er nicht weiß, was eine Klospülung zu erkennen und zu erklären. ist (kulturelle Diff erenz). Als Borats Gast auftaucht, die Ein Beitrag des Users xyz123456 sollte allerdings zu schwarze Prostituierte Luenell, wird sofort der Sheriff denken geben, auch wenn er/sie ein Einzelfall ist: »Borat geholt und beide werden aus dem Haus geschmissen. sagt doch nur, was wir alle denken: jeder hat Vorbehalte Als Gast besuchte Borat ein Rodeo, bei dem er die ame- gegen Juden, Zigeuner und Ausländer. Dies wird sich rikanische Nationalhymne singen durfte. In einem Vor- auch so lange nicht ändern, wie Synagogen, Moscheen gespräch mit dem Veranstalter des Rodeo, Bobby Rowe, und sehr teure Sozialprojekte von deutschen Steuergel- legte dieser Borat nah, seinen Schnauzbart abzurasieren, dern bezahlt werden. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich weil das Publikum ihn sonst für einen Muslimen halten will keine politische Diskussion anfangen. Wir Deut- und dadurch vielleicht sogar erschießen könnte, denn schen kommen uns doch oft nur mehr ausgenutzt von man befände sich ja schließlich in einem Krieg gegen allen Seiten vor. Da wundert es mich nicht, dass wir für den Terror. Als Borat ihn auf den Nacken küssen wollte, solche extreme Satire gegen ›Minderheiten‹ stärker emp- riet Rowe ihm dies nicht zu tun, weil man ihn sonst für fänglich werden.« 15 Bemerkenswerterweise gab es keine einen Schwulen halten könne. Als Borat entgegnete, Kommentierungen auf diese Wortmeldung – auch nicht dass man Homosexuelle in Kasachstan hängen würde, von der Polylux-Redaktion. antwortete Rowe, dass man dies hier in Amerika auch Die hier kurz beleuchtete Anschlusskommunikation durchsetzen wolle. zeigt, dass es dem Kulturmagazin gelungen ist, mit dem Fightclub wichtige gesellschafts- und medienkritische Th emen für das (junge) Publikum angemessen aufzu- 4. Mediale Anschlusskommunikation(en) arbeiten und kontroverse Debatten anzustoßen bzw. weiterzuführen. Im Fall von Borat lässt sich eine klare 4.1 Polylux Präferenz für den Pro-Beitrag erkennen, also den Film Als erstes Beispiel der medialen Anschlusskommunika- als Satire aufzufassen, der den latenten Rassismus, insbe- tion wird die Sendung Polylux der ARD ausgewählt. 12 sondere in den USA, aufdeckt. Konkret wird ein Teil des Sendungselements Fightclub vorgestellt und im nächsten Schritt die Internetkom- 4.2 Wikipedia munikation (der so genannte Poly-Blog) betrachtet. Der Das zweite Beispiel für eine Anschlusskommunikation, Fightclub ist fester Bestandteil der Sendung Polylux. Er wiederum im Netz, sind die Vorgänge um den Kasach- behandelt ein (aktuelles) kontroverses Th ema, indem stan-Eintrag bei Wikipedia. Im Unterschied zur gängigen eine Pro- und eine Contra-Position in je einem Filmbei- Praxis lässt sich die Kasachstan-Seite von gewöhnlichen trag gegenübergestellt werden. Nutzern nicht mehr ändern. Einerseits wird damit gegen Nach Ausstrahlung des Fightclubs am 9. November das Prinzip von Wikipeda verstoßen, anderseits sensibi- 2006 wurden die beiden Beiträge zwecks Eröff nung lisiert der Vorgang dafür, über die Grenzen dieses Prin- eines Diskussionsforums online gestellt. Eine Abstim- zips nachzudenken und Kontrollschleifen einzuziehen. mung pro oder contra Borat ergab folgendes Ergebnis: Borat-Fans hatten im Internetlexikon auch den Text der 85 pro vs. 15 contra Borat. Dies entspricht auch dem kasachischen Nationalhymne geändert. Vorübergehend Bild, welches die 61 Kommentare zu diesem Fightclub- hieß es dort: »Kasachstan größtes Land der Welt. Alle Th ema auf der Polylux-Homepage widerspiegeln. 13 anderen Länder sind von kleinen Mädchen regiert.« An- »Es ist doch besser, etwas an der Desinformation zu dere Witzbolde fügten nach Informationen der Zeitung ändern, als immer Verbote anzukurbeln. Als ich Ali G. Th e Sun die (fehlerhafte) Information hinzu, dass Frauen oder Borat, den Film, im Kino sah, empfand ich tat- in Kasachstan erst seit 1978 auch Busse benutzen dür- sächlich nicht Borat selbst als schockierend, sondern fen (vgl. http://www.heute.de; abgerufen am 07.01.2007). 48 | die Reaktionen auf ihn. Indem man die Lächerlichkeit Kurzzeitig hat es sogar den Eintrag gegeben, dass es in Medienopfer Kasachstan – eine medienethische Bewertung des Films Borat

Kasachstan das Hobby gäbe, Frauen zu vergewaltigen. Signale der Solidarität gibt. Sollten sich die Zuschauer Die Anschlusskommunikation über Borat in Wikipedia von Borat Sagdijew für unsere Heimat interessieren und steht beispielhaft für die Probleme, die mit off enen, inter- ihr wirkliches Bild kennen lernen wollen, heißen wir sie aktiven Kommunikationsangeboten/-medien bestehen. auf unserer Internetseite willkommen.« Medienethische Fragen sind hier ebenso aufgeworfen, Die Äußerung von Rachimschanowa und Omirow wie die nach der Rolle von journalistischen Standards dokumentiert die Unzufriedenheit und auch Wut, die und Expertenwissen. Zahlreiche Tests der Qualität und der Film bei einigen Kasachen hinterlassen hatten – sie Verlässlichkeit (vgl. stellvertretend Gross 2006; Rühle steht aber gleichzeitig für die Ohnmacht dieser Gruppe, 2006) zeigen den Bedarf wissenschaftlicher Begleitung ihre Kritik und ihren Widerstand öff entlich zu machen, an. Nachzudenken ist über Formen der Selbstkontrol- denn letztlich ist die Internetseite www.atameken.de le bei Wikipedia ebenso wie über die Verwendung und keine Quelle, die in der Anschlusskommunikation über Überprüfung von Wikipedia im wissenschaftlichen und Borat eine nennenswerte Beachtung erhielt. journalistischen Kontext. Gemeinsam ist allen vier zuvor erwähnten Beispielen der medialen Anschlusskommunikationen die Aus- 4.3 Kasachstan in der Opferrolle – einandersetzung mit vermeintlichen oder tatsächlichen ausgewählte Wortmeldungen Verstößen gegen die herrschende Moral und rechtsstaat- 4.3.1 Studenten aus Kasachstan im Selbstversuch liche Grundsätze. Die Journalistin Anna Reimann (2006) schrieb auf spiegel.de über einen gemeinsamen Kino-Besuch mit 4.4 Die Haltung Kasachstans zu Borat drei kasachischen Gaststudenten zur Deutschlandpre- Um die Haltung von Kasachstan zum Film Borat zu ver- miere des Films. Dass sich jemand nach Borat mal fragt, deutlichen haben wir ein Interview mit der kasachischen wie Kasachstan in Wirklichkeit ist, glauben die Gaststu- Botschaft in Deutschland geführt. Aus den Antworten denten nach dem Kinobesuch nicht: »Die Leute haben von Yermukhan Baimurynov, dem Presse-Attache gelacht – von denen wird sich doch jetzt keiner näher der Botschaft, sind folgende Passagen zentral. Gefragt mit Kasachstan beschäftigen.« Anstatt sich nach der nach der (offi ziellen) Position des Landes antwortete Hauptstadt des Landes zu erkundigen – sie heißt Asta- Baimurynov: »Die erste offi zielle Reaktion aus Kasach- na –, werden die Gaststudenten von ihren Kommilitonen stan war kritisch, weil im Film Kasachstan in der ver- gefragt: »Hey, du bist aus Kasachstan, Borat doch auch, zerrten Art vorgestellt worden war. Aber da der Film oder?« Auch wenn es sich um eine Momentaufnahme das große Interesse bei dem Publikum zu Kasachstan handelt – und eine keineswegs repräsentative Gruppe –, herbeigerufen hat, war die offi zielle Position später et- so wird in den Reaktionen der Gaststudenten deutlich, was berichtigt.« Mit Blick auf die Ausgangsthese des dass sie die Kritik an Kasachstan in Borat als »Angriff « vorliegenden Beitrags wurde gefragt, ob Kasachstan auf- verstehen. grund der Darstellung in dem Film als ein Medienopfer zu betrachten ist. Die Antwort fi el eindeutig aus: »Nein. 4.3.2 Aufruf auf www.atameken.de Dank des Filmes erfuhr die große Menge der Leute auf Die Internetseite www.atameken.de versteht sich als In- der Erde, darunter in Deutschland, über die Existenz formationsangebot über Kasachstan. Es ist ein Portal der Kasachstans. An uns hatten sich zahlreiche Vertreter der kasachischen Gemeinde in Deutschland. Am 2. Dezem- Massenmedien Deutschlands, einschließlich Fernsehsen- ber 2006 wurde von, den Organisatoren des Portals, Sal- der, gewandt, um unsere Meinung über ›Borat‹ zu erken- tanat Rachimschanowa und Nisanbay Omirow, nen.« Schließlich galt es, die ›Lehren‹ aus den Vorgängen folgender Aufruf eingestellt: um den Film Borat zu erfragen. »Das deutsche Publikum »Wenn wir die dümmste Frage der Welt gestellt be- hat leider keine bzw. nicht so gute Vorstellungen über kommen, ob Borats Geschichten über Kasachstan wahr Kasachstan. Aus diesem Grund muss man mehr über sind, und wenn wir, das kasachische Volk, ungerecht unser Land informieren, um Kasachstan bekannt zu ma- ausgelacht werden, dann macht das Studium im Aus- chen.« Die Antworten des kasachischen Presse-Attaches land keinen Spaß mehr, geschweige denn die Teilnahme zeugen von einer größeren Souveränität als die zuvor an interkulturellen Veranstaltungen. […] Wir sind aber zitierte Äußerung auf der Internetseite www.atameken. ganz sicher, dass das bösartige Auslachen eines Volkes de. Yermukhan Baimurynov sieht Kasachstan nicht und die damit einhergehende Diskriminierung, Intole- in der Rolle des Medienopfers, sondern verweist auf das ranz und Fremdenfeindlichkeit nicht zur Politik jeder gestiegene Interesse an dem Land, welches durch den demokratischen Gesellschaft und nicht zum friedlichen Film ausgelöst wurde. Zusammenleben der ganzen Menschheit gehören. Wir hoff en sehr, dass unser Aufruf eine größere öff entliche Resonanz fi ndet und es deutliche und weithin sichtbare | 49 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

5. Medienselbstkontrolle: Anspruch und Realisierung könnte es einer Global Media Governance gelingen, die Unterschiede zwischen den Professionsethiken, den In- Der kurze, exemplarische Blick auf die Anschlusskom- stitutionenethiken und den Publikumsethiken auch zwi- munikation zu Borat leitet zu einer Auseinandersetzung schen verschiedenen Ländern zu thematisieren und zu über die Medienselbstkontrolle über. Denn Medien- überwinden. selbstkontrolle scheint national wie transnational der Schlüssel zur Th ematisierung und ggf. Bewältigung der off ensichtlichen Gegensätze in der Bewertung des Films. 6. Fazit und Ausblick: Medienselbstkontrolle gilt als der gesetzlich legitimierte Kasachstan vom Medienopfer zum Medienstar – Versuch, die Macht der Medien in moralischer Hinsicht neue Herausforderungen für die Medienethik zu verantworten. »Selbstkontrolle als eine ethische Frage defi niert sich in Abgrenzung zur Fremdkontrolle als pri- Abschließend möchten wir Fazit und Ausblick unseres mär rechtliche Frage. Dies verdeutlicht sich bei der Be- Beitrags in vier Th esen präsentieren. Ausgehend von der trachtung eines für Medien typischen Spannungsfeldes: weltweiten Debatte um Borat, die sich insbesondere auf Dem Missbrauch der Medienfreiheit gegenüber von den die Darstellung von Kasachstan und den USA fokussier- Medien Betroff enen. Die Freiheit der Medien erhält im te, möchten wir die aktuellen Herausforderungen für die Rahmen ihrer Macht gegenüber potenziell Betroff enen Medienethik markieren. – z. B. im Persönlichkeits- oder Jugendschutz – eine mo- ralische Qualität, die über rechtliche Ansprüche hinaus- 1. Vom Diskursethik zur Gerichtsshow? geht« (Stapf 2005: 18). Die Klagen gegen Borat stehen für den Trend, die diskur- Diese Defi nition zur Medienselbstkontrolle bezieht sich sive Auseinandersetzung in die Gerichtssäle zu verlagern auf nationale Mediensysteme (hier das deutsche). An- und sich dabei selbst medialen Inszenierungslogiken zu gesichts des Kommunikationsverhaltens der You-Tube- unterwerfen. Nicht die Debatte über künstlerische Frei- Generation , der unterschiedlichen medienrechtlichen heit und Meinungsfreiheit versus Persönlichkeitsrechte, und medienökonomischen Bedingungen in Ländern sondern die Höhe der Schadenersatzforderungen werden wie Kasachstan, Deutschland und den USA, kommt es zum Th ema, das wiederum medial ausgeschlachtet wird. zu einer Verdoppelung der strukturellen Verantwortungs- Der Medienethik kommt hierbei die Aufgabe zu, ihre losigkeit in globalem Ausmaß. Prozesshaftigkeit und Diskursivität zu betonen. Dies Moralisches Fehlverhalten wird zugunsten kommer- kann geschehen, indem insbesondere die Anschlusskom- zieller Profi te und unter Rechtfertigung einer Nach- munikation, also die Äußerungen des Publikums und der frage auf dem Markt gezielt einkalkuliert (status quo). Betroff enen, beobachtet und bewertet werden. Verstöße werden selbst nicht mehr wahrgenommen, weil Kriterien und Festlegungen moralischen Verhal- 2. Von der Dokumentation zum tens (bei den ›Laien‹ oder ›Praktikanten‹) nicht mehr Mockumentary / Fakeutainment bekannt sind (Medienzäsur). Nach dem Boom von Bowling for Columbine und Fah- Zur Bewältigung der Verdoppelung der strukturellen Ver- renheit 9/11 (Michael Moore) erleben wir mit Borat antwortungslosigkeit bietet sich das Konzept der Media eine neue Stufe der fi lmbasierten Gesellschaftskritik. Governance – insbesondere von Media Governance als Während Michael Moore seine Kritik im Medium Good Governance an. Media Governance thematisiert des klassischen Dokumentarfi lms, verbunden mit seiner zum einen sich wandelnde und neue Akteurskonstel- suggestiven Fragetechnik, die die Antwortmöglichkeiten lationen. Media Governance befasst sich zweitens mit bereits vorwegnimmt und nur an wenigen Stellen die den sich wandelnden und neuen institutionellen Arran- Verblüff ung und Unbeholfenheit der Protagonisten aus- gements und Regungsstrukturen. Drittens beschäftigt nutzt (vgl. stellvertretend Misik 2005), setzt Cohen auf sich Media Governance mit den sich aufl ösenden bzw. Kommunikationsguerilla, durch die ein off ener und über- den sich verwischende bisherige Grenzziehungen, wie raschender Kommunikationsprozess entstehen kann. etwa zwischen national und international, öff entlich Der Medienethik kommt hierbei die Aufgabe zu, er- und privat, innen und außen (Donges 2007: 14f.). Die stens die Hybridisierung der verschiedenen M ediengenre Veränderungen und Herausforderungen sind keines- (Fake, Dokumentation, Infotainment, Roadmovie, wegs beschränkt auf nationale Mediensysteme. Gerade S lapstick, TV-Sketch usw.) gegenstandsorientiert zu die Debatten um und Reaktionen auf den Film Borat erfassen und zweitens, einen Diskurs zwischen Medien- zeigten, dass staatliche Medienregulierung erweitert machern und Betroff enen über die Möglichkeiten und werden muss zu einer European und Global Media Go- Grenzen der neuen Ausdrucksformen und Kritikkom- vernance. Mit der Erweiterung der Akteurskonstellati- munikationen zu initiieren. 50 | onen und den neuen institutionellen Arrangements Medienopfer Kasachstan – eine medienethische Bewertung des Films Borat

3. Kasachstan vom Medienopfer zum Medienstar Anmerkungen Diese Th ese kann durch einen Beitrag des kasachischen Präsidenten Nursultan Nazarbayev belegt werden, 1 Die offi zielle Filmwebseite lautet: www.boratmovie. der am 6. Dezember 2006 in der britischen Zeitung Th e com. 20th Century Fox, ließ den Film von der (neuge- Spectator erschien. Er nutzt die Aufmerksamkeit, die gründeten) Firma One America produzieren – nach An- Kasachstan zuteil wurde, und stellt die (rhetorische) sicht des Journalisten Mark Memmott (2006) auch Frage: »Who needs Borat?« Nazarbayev beschreibt in deshalb, damit Borat nicht auf der Produktionsliste von seinem Beitrag Kasachstan als aufblühendes und opti- Fox erscheint und die Kritik am Film, die schon wäh- mistisches Land und geht sogar so weit, die Erfahrungen rend des Drehs von Seiten der Regierung Kasachstans Kasachstans für den Wiederaufbau des Iraks zu empfeh- geäußert wurde, zu entgehen. len und seine autoritäre Herrschaft als demokratisches 2 Als Anfang März 2007 der Film auf DVD erschien, lie- Regime zu deklarieren. ßen sich dagegen kaum Anschlusskommunikation und Diese Ausführungen Nazarbayevs stützen die Ein- Aufgeregtheiten beobachten. schätzung des Nation-Branding-Experten Simon 3 Bemerkenswert ist dieses Einspielergebnis vor allem A nholt, die er in einem Interview mit Newsweek äu- deshalb, weil Borat lediglich in 837 Kinos in den USA ßerte: »I don’t think that any damage has been done at all. gezeigt wurde; in direkter Konkurrenz lief beispiels- In fact I fi nd it quite hard to believe that Sacha Baron- weise Santa Clause 3, der in knapp 4.000 Kinos anlief Cohen isn’t in the pay of the Kazakh goverment. It’s won und am ersten Wochenende 20 Millionen Dollar ein- the lottery with this fi lm. I always say that it is much, spielte (vgl. heute.de/ZDFheute, v. 06.11.2006; abgeru- much easier to turn a strong negative into a strong posi- fen am 16.01.2007). tive than to turn nothing into anything. Th e world is now 4 Vgl. zur Kommunikationsguerilla Kleiner 2005 sowie focused on Kazakhstan [...]« (Underhill 2006). zu den Strategien des Cultural Hacking Düllo/Liebl Der Medienethik kommt hierbei die Aufgabe zu, den 2005. Übergang von der Medienopfer- in die Medienstarrolle 5 Vgl. die Begründung der FSK zur Kennzeichnung des eigensinnig zu beschreiben und auf den Bedeutungsan- Films Borat mit »Freigegeben ab 12 Jahren«; Prüfung stieg des Imagebuilding nicht nur für einzelne Personen am 16.10.2006 durch den zuständigen Arbeitsausschuss: (Politiker, Prominente usw.), sondern für ganze Nationen »Der Arbeitsausschuss stellte fest, dass es sich um eine zu refl ektieren. Hierzu fehlen bisher, gerade mit Fokus neue Form der Komödie handelt, die die Grenze des auf das Medium Film, Bewertungskategorien. guten Geschmacks und politischer Korrektheit bewusst überschreitet. Die Ausschussmitglieder widmeten sich 4. Vom Kulturkampf intensiv der Frage, ob 12-Jährige bezüglich ihrer per- zur media governance als good governance sönlichen Entwicklung und ihrer Medienkompetenz Borat lebt von der Dynamik der kulturellen Diff erenz. in der Lage sind, die nötige Distanz zum Gesagten Filmimmanent erscheint diese als Ausschlusssystem des und Gezeigten auszubauen. Konsens bestand in der Eigenen und des Fremden bzw. als Kulturkampf. Hierbei Auff assung, dass 12-jährige Mädchen und Jungen den bleibt der Film aber nicht stehen, weil die subversive Af- Charakter des Films als Satire erkennen können. Die fi rmation dieser Opposition eine neue Akteurskonstella- comichaft gezeichnete Kunstfi gur ›Borat‹ wird laut tion hervorbringen kann (media governance). Ausschuss von dieser Altersgruppe nicht als Identifi - Die Aufgabe der Medienethik besteht in diesem Kon- kationsfi gur wahrgenommen. Mit dem Stilmittel der text darin, die Idee von Michael Haller (2003) auf- Übertreibung und Verzerrung ins Lächerliche agiert zugreifen, transnationale Kommunikationsordnungen der Antiheld in naiv-kindlicher Weise […]« (vgl. Stän- vor dem Hintergrund von transnationalen Kommu- diger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden nikationsräumen zu konzipieren und als legitimiertes bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft Verhandlungs- sowie Regulationssystem zu institutio- GmbH 2006 bzw. www.fsk.de). nalisieren. Voraussetzung für good governance ist hier 6 Off enbar auch ausgelöst durch den Erfolg von Borat die Konstitution einer transnationalen Medienethik, laufen seit Anfang 2007 Wiederholungen der Da Ali die zur Diskussion (weniger Überwindung) der aktuell G Show auf MTV (Deutschland). s eparierten Medienethiken beiträgt. 7 Vgl. z. B. www.polylog.tv/fi ghtclub/videocast/3393; Laurer 2006; Reimann 2006. 8 Zit. n. www.polylog.tv/fi ghtclub/videocast/3393/. Er- wähnt wurde in diesem Zusammenhang, dass eine 40 Millionen Dollar teure eigene Filmproduktion ge- plant sei, um das Image des zentralasiatischen Staates z urechtzurücken. | 51 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Literatur

9 Zit. n. www.polylog.tv/fi ghtclub/videocast/3393/. Vgl. autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe / Blissett, Luther / auch Strauss 2007; White 2007. Brünzels, Sonja: Handbuch der Kommunikationsgue- 10 Eine vergleichbare Strategie machte sich unter ande- rilla. Berlin/Hamburg/Göttingen 2001 rem der Film Wag the dog (USA 1997, Regie: Barry Ambassador Erlan Idrissov’s message on »the Bo- Levinson) zu eigen. Hier soll die sexuelle Belästi- rat Story«, Th e Embassy of the Republic of Kazakhstan gung eines minderjährigen Mädchens durch den US- in London, 29. September 2006 http://www.kazakh- Präsidenten durch den Krieg gegen ein Land, von stanembassy.org.uk/cgibin/index/272 (letzter Zugriff dem niemand etwas weiß, nämlich Albanien, zwei am 27.03.2007) Wochen vor seiner Wiederwahl vertuscht werden. Zur Baum, A. / Langenbucher, W. R. / Pöttker, H. / Umsetzung dieses Plans wird ein erfolgreicher Holly- Schicha, C. (Hrsg.) (2005): Handbuch Medienselbst- wood-Regisseur engagiert. Innerhalb der kürzesten kontrolle. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen- Zeit wurde Albanien zum Staatsfeind Nummer 1 und schaften. Land grausamster Barbaren. Beuthner, Michael / Weichert, Stephan Ale- 11 Bezeichnenderweise hat die Darstellung von Juden xander (Hrsg.) (2005): Die Selbstbeobachtungsfal- nicht zu heftiger Kritik geführt, denn Cohen ist le. Grenzen und Grenzgänge des Medienjournalismus. selbst (praktizierender) Jude. Das Gleiche gilt für die Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Auseinandersetzung mit dem Judentum von Woody College-Schnapsnasen vor Gericht gescheitert. In: Spie- Allen, etwa in seinem Film Zelig. Zu fragen wäre gel online, 12. Dezember 2006 http://www.spiegel.de/ hierbei, ob nur Mitglieder ethnischer Gruppen sich kultur/kino/0,1518,454023,00.html (letzter Zugriff am über ihre jeweilige Gruppe, im Rahmen einer emanzi- 27.03.2007) patorischen Gesellschafts- und Kulturkritik, satirisch Diederichsen, Diedrich (2006): Ein Mann greift äußern dürfen? ins Klo. In: Die Zeit, N5. 45 v. 02.11.2006, unter: http:// 12 Polylux ist ein Kulturmagazin in der ARD (www.po- www.zeit.de/2006/45/Komiker-Cohen (am 15.01.2007). lylog.tv). Es wird donnerstags um 22.45 Uhr (im An- Donges, Patrick (2007): Medienpolitik und Me- schluss an die Late Night von Harald Schmidt) dia Governance. In: Donges, Patrick (Hrsg.): Von ausgestrahlt. Moderatorin und Produzentin ist Tita der Medienpolitik zur Media Governance? Köln: H. v. von Hardenberg. Als Produktionsfi rma fungiert Halem, S.7 – 23. Kobat (Kobat produziert auch das Magazin tracks auf Donges, Patrick (Hrsg.) (2007): Von der Medienpoli- arte). tik zur Media Governance? Köln: H. v. Halem. 13 Vgl. die Einträge unter www.polylog.tv/fi ghtclub/ Düllo, Thomas / Liebl, Franz (Hrsg.) (2005): Cul- videocast/3393/comments. tural Hacking. Kunst des strategischen Handelns. Wien/ 14 Eintrag im Poly-Blog (www.polylog.tv/fi ghtclub/ New York: Springer. videocast/3393/comments) von henleh am 09.11.2006, Giesenfeld, G. (2006): Alltäglicher Zynismus. In: 23:34 Uhr. Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2006. 15 Eintrag im Poly-Blog (www.polylog.tv/fi ghtclub/ Giesenfeld, Günter (2007): Jedem seinen Hitler. In: videocast/3393/comments) von xyz123456 am Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2007. 09.11.2006, 23:54 Uhr. Gmür, Mario (2002): Der öff entliche Mensch. Me- dienstars und Medienopfer. München: dtv. Gross, Thomas (2006): Per Anhalter durchs Pluriver- sum. Die Laien erobern das Internet. In: Die Zeit, Nr. 38, v. 14.09.2006, S. 49 – 50. Gutsch, Jochen-Martin (2006): Aufruhr im Moral- Business. MTV startet »Popetown«, eine Cartoon-Serie, die nicht weiter der Rede wert wäre. In: Der Spiegel, 19/2006, S. 188 – 189. Haller, Michael (2003): Von der Pressefreiheit zur Kommunikationsfreiheit. Über die normativen Bedin- gungen einer informationsoff enen Zivilgesellschaft in Europa. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Die Kommunikationsfreiheit der Gesellschaft. Die demo- kratischen Funktionen eines Grundrechts. Wiesbaden: 52 | Westdeutscher Verlag, S. 96 – 111. Medienopfer Kasachstan – eine medienethische Bewertung des Films Borat

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Rüdiger Funiok

Entwicklung der Medienethik im deutschen Sprachraum

1. Anfänge vor 25 Jahren

Die Medienethik hat sich im deutschsprachigen Raum – Noch Mitte der 80er-Jahre kritisiert Saxer (1986), die im Unterschied zum US-amerikanischen – erst re- ethische Diskussion verlaufe »mehrheitlich reaktiv und lativ spät entwickelt. Im historischen Rückblick von sicher nicht im Sinne einer strukturierten Dauerrefl exi- C hristians (2000) etablierte sich in den USA – ne- on, und sie bleibt fragmentarisch« (a. a. O., 21), es fehle ben der Anwendung von Codes of Ethics in der journa- an einem stringenten theoretischen Bezugsrahmen. Am listischen Ausbildung – Mass Communication Ethics als Ende dieses Abschnitts soll gefragt werden, ob diese akademisches Unternehmen schon in den letzten Deka- Mängelanzeigen heute noch zutreff en. de des 19. Jahrhunderts. Dennoch stellt Christians in Den Beginn der deutschsprachigen Medienethik- seiner Conclusion fest: »Th e fragility of the fi eld is obvi- debatte kann man mit einem Aufsatz von Saxer (1970) ous.« Vor allem seien die Versuche, Medienethik als an- ansetzen. Stärker wahrgenommen wurde die gemein- gewandte Ethik und damit als interdisziplinäres Projekt same Bestandsaufnahme von Rühl & Saxer (1981) zum von Philosophen und Kommunikationswissenschaftlern 25-jährigen Bestehen des Deutschen Presserats. Zum zu etablieren, in beiden Fakultäten bisher noch immer Teil setzten sie sich dabei mit H. Boventer auseinan- durch Isolierung und Marginalisierung gekennzeichnet. der, dessen Bedeutung man verkürzte, würde man ihn Auch im deutschen Sprachraum sind derartige Ver- nur als Vertreter eines zu überwindenden individuale- suche institutionell (z. B. durch Lehrstühle für Medien- thischen Ansatzes betrachten; damit würde man seinen ethik) und methodisch noch wenig gefestigt. Mit Recht Monographien (1984 b; 1986; 1989; 1995), Sammelbänden konstatieren Rühl und Saxer zu Beginn der 80er-Jahre, (1988; 1993) und zahlreichen Aufsätzen nicht gerecht. Be- dass deutsam in dieser Anfangsphase sind auch drei Aufsätze »die deutschsprachige Kommunikationswissenschaft des theologischen Ethikers in Tübingen, A. Auer (1979; die Frage der Ethik von Journalismus und Massen- 1980; 1981). Als eine der ersten hat die Katholische Aka- kommunikation mit ihren spezifi schen, eben mit demie in Stuttgart die medienethische Debatte öff ent- kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnismittel lich gemacht. noch kaum angegangen hat.« Es mag manchen erstaunen, dass sich an ihr neben (Rühl & Saxer 1981, 471) Publizistikwissenschaftlern auch Th eologen beteili- gten. Wird hier nicht die Autorität des christlichen »In dem 1970 von Elisabeth Noelle-Neumann Glaubens eingeführt, wo es um allgemein konsensfä- und Winfried Schulz herausgegebenen Fischer- hige Wertbezüge gehen müsste? Seit Mitte der 1970er Lexikon Publizistik steht beispielsweise in der Ein- Jahre entwickelten jedoch Vertreter der (katholischen) leitung die l apidare Festestellung: ›Das derzeit ge- Christlichen Sozialethik oder der Evangelischen Ethik ringe – oder allenfalls äußerst partielle – Interesse für normative Überlegungen, die nicht mehr nur Christen ethische Fragen hat in letzten zwei Jahrzehnten keine – auf der Grundlage der Off enbarung – ansprechen, son- neuen Arbeiten zum Th ema Ethik des Journalismus dern auch von jenen kritisch mitvollzogen werden kön- entstehen lassen. Wir haben darum auf einen Artikel nen, die den christlichen Standpunkt nicht teilen. Dies dazu verzichtet.‹ Dem kann man nur hinzufügen: Seit geschah unter Einbeziehung empirischer Ergebnisse der Herausgabe dieses Buches sind – sieht man von der zuständigen Fachdisziplinen und entsprechender Gelegenheitspublikationen einmal ab – auch in der Institutionen. Die katholischerseits entwickelte »Th e- kommunikationswissenschaftlichen Literatur kaum ologische Ethik« wollte »Autonome Moral« sein (A. Veröff entlichungen zum Th ema Ethik erschienen. Auer) und mit »Christlicher Soziallehre« besonders Die Kommunikationswissenschaft verhält sich, um es die sozialen Strukturen untersuchen (W. Korff, G. ganz schlicht zu sagen, diesem Th ema gegenüber ab- W. Hunold, L. H onnefelder, A. Holderegger). stinent.« (Rühl 1980, 29 f.) Es ist daher falsch, diese Vertreter und ihre Schüler (Th. H ausmanninger, M. Heimbach-Steins, Th. 54 | Bohrmann, A. Greis, W. Veith, A. Filipovi) als »theologische Denker« im Sinne weltanschaulicher Ge- Beck, K. & Voigt, S. & Wünsch, J. (2006). Medie- bundenheit zu betrachten. Ähnliches gilt von der Evan- nethische Qualitätskriterien für den Rundfunk. Analysen gelischen Ethik (M. Kock, M. Schibilsky, G. Thomas, und Empfehlungen für Rundfunkmacher. (= Schriften- M. Leiner). reihe der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rund- funk und neue Medien, 15). Gottwald, F. & Kaltenbrunner & A., Karmasin, 2. Zunahme an Veröff entlichungen M. (2006). Medienselbstregulierung zwischen Ökonomie und Ethik. Erfolgsfaktoren für ein österreichisches Modell. Im Folgenden sei eine Aufl istung der medienethischen Funiok, R. (2007). Medienethik. Verantwortung in der Publikationen versucht – ohne Anspruch auf Vollstän- Mediengesellschaft. (in Vorbereitung) digkeit und ohne sie im Einzelnen zu kommentieren, das würde den Rahmen dieses Überblicks sprengen. Dabei zeigt sich, dass die Zahl und thematische Vielfalt der 2.2 Medienethische Dissertationen und Habilitationen Veröff entlichungen seit Mitte der 80er-Jahre stark zuge- nommen hat. Mit Schwerpunkt auf der journalistischen Berufsethik und der Selbstkontrollgremien gab es elf Studien: 2.1 An Monografi en mit explizit medienethischem Schwerpunkt seit Anfang der 1980er-Jahre: Gottschlich, M. (1980). Journalismus und Orientie- rungsverlust. Grundprobleme öff entlich-kommunikativen Boventer, H. (1984). Ethik des Journalismus. Handelns. (Veröff entl. Habilitation, Wien) Boventer, H. (1988). Medien und Moral. Ungeschrie- Köcher, R. (1985). Spürhund und Missionar. Eine ver- bene Regeln des Journalismus. gleichende Untersuchung über Berufsethik und Aufgaben- Boventer, H. (1989). Pressefreiheit ist nicht grenzenlos. verständnis britischer und deutscher Journalisten. Einführung in die Medienethik. Haybäck, Gerwin (1989). Medium und Wahrheit. Karmasin, M. (1993). Das Oligopol der Wahrheit. Me- Ethische Implikationen des Journalismus aus kommuni- dienunternehmen zwischen Ökonomie und Ethik. kationswissenschaftlicher Sicht. Boventer, H. (1995). Medienspektakel. Wozu Journalis- Wild, C. (1990). Ethik im Journalismus. Individuale- mus? USA und Deutschland. thische Überlegungen zu einer journalistischen Berufse- Karmasin, M. (1996 b). Journalismus: Beruf ohne Mo- thik. ral? Journalistisches Berufshandeln. Pöttker, H. (1997). Entfremdung und Illusion. Sozi- Karmasin, M. (1998). Medienökonomie als Th eorie ales Handeln in der Moderne. (Veröff entl. Habilitation (massen-)medialer Kommunikation. Kommunikationsö- Siegen) konomie und Stakeholder Th eorie. Thomass, B. (1998). Journalistische Ethik. Ein Vergleich Leschke, R. (2001). Einführung in die Medienethik. der Diskurse in Frankreich, Großbritannien und Deutsch- Nethöfel, W. (1999). Ethik zwischen Medien und land. Mächten. Th eologische Orientierung im Übergang zur Krainer, L. (2001). Medien und Ethik. Zur Organi- Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft. sation medienethischer Entscheidungsprozesse. (veröff entl. Wiegerling, K. (1998). Medienethik. Habilitation, Graz) Karmasin, M. (2000). Journalismus: Beruf ohne Mo- Schütz, M. R. (2003). Journalistische Tugenden. Leit- ral? Von der Berufung zur Profession. (2., völlig neu erarb. planken einer Standesethik. Aufl age von Karmasin 1996) Stapf, I. 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Leifert, St. (2007). Bild und Ethik. Th eoretische Grund- In philosophischer Perspektive lagen und normative Prinzipien im Bildjournalismus der entwickeln Medienethik fünf Studien: Massenmedien. (im Druck) Hausmanninger, Th. (1993). Kritik der mediene- thischen Vernunft. Die ethische Diskussion über den Film Mit Schwerpunkt auf Internetethik in Deutschland im 20. Jahrhundert. fi nden sich fünf Studien: Platter, G. (1994). Die elektronische Medienwelt als Gegenstand einer philosophischen Ethik. Döring, N. (1999). Sozialpsychologie des Internet. Die Friedrich, F. (1997). Aspekte philosophischer Anthropo- Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, logie im Zeitalter der Massenmedien. (2003 neu aufge- Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. legt unter dem Titel Massen, Medien, Menschen. Aspekte Greis, A. (2001). Identität, Authentizität und Verant- philosophischer Anthropologie im Zeitalter der Massen- wortung. Die ethischen Herausforderungen der Kommu- medien). nikation im Internet. Weil, F. (2001). Die Medien und die Ethik. Grundzüge Schwenk. J. (2002). Cyberethik. Ethische Problemstel- einer brauchbaren Medienethik. lungen des Internets und Regulierungsansätze aus Sicher Müller, C. (2001). Medien, Macht und Ethik. Zum der Online-Nutzer. (veröff entl. Magisterarbeit) Selbstverhältnis der Individuen in der Medienkultur. Weber, K. (2005). Das Recht auf Informationszugang. Begründungmuster der politischen Philosophie für infor- mationelle Grundversorgung und Eingriff sfreiheit. (ver- In kirchlich-theologischer Perspektive öff entl. Habilitation, Frankfurt/Oder) beschäftigen sich mit Medienethik sechs Studien: Nagenborg, M. (2005). Das Private unter den Bedin- gungen der IuK-Technologie. Deussen, G. (1973). Ethik der Massenkommunikation bei Papst Paul VI. Kos, E. (1997). Verständigung oder Vermittlung? Die Die Ethik von PR und Werbung kommunikative Ambivalenz als Zugangsweg einer the- behandeln folgende sechs Studien: ologischen Medienethik. Uden, R. (2004). Kirche in der Medienwelt. Anstöße der Bohrmann, Th. (1997). Ethik – Werbung – Medien- Kommunikationswissenschaft zur praktischen Wahrneh- gewalt. Werbung im Umfeld von Gewalt im Fernsehen. mung der Massenmedien in Th eologie und Kirche. (Ver- Eine sozialethische Programmatik. öff entl. Habilitation, Erlangen) Hanas, Z. (1998). Vertrauen in der Werbung. Notwen- Derenthal, B. (2006). Medienverantwortung in digkeit und Grenzen in der werblichen Kommunikation. christlicher Perspektive. Ein Beitrag zu einer praktisch- Filipovi, A. (2000). Ethik und Public Relations. An- theologischen Medienethik. fragen und Perspektiven einer Christlichen Sozialethik. König, A. (2006). Medienethik aus theologischer Per- (unveröff entl. Magisterarbeit) spektive. Medien und Protestantismus – Chancen, Risiken, Eisermann, J. (2001). Mediengewalt. Die gesellschaft- Herausforderungen und Handlungskonzepte. liche Kontrolle von Gewaltdarstellungen im Fernsehen. Filipovi, A. (2007): Öff entliche Kommunikation in der Könches, B. (2001). Ethik und Ästhetik der Werbung. Wissensgesellschaft. Sozialethische Analysen. Phänomenologie eines Skandals. Förg, B. (2004). Moral und Ethik der PR. Grundlagen – Th eoretische und empirische Analysen – Perspektiven.

Der Ethik der Medienrezeption, einschließlich anthropologischen Fragen widmen sich nur zwei Stu- dien:

Priesemann, G. (1988). Medien-Alltag und Erziehung. Beiträge zur Th eorie und Praxis der Medienerziehung. Jansen, G. M. (2003). Mensch und Medien. Entwurf einer Ethik der Medienrezeption.

56 | 2.3 Sammelbände zur Medienethik

Hinzu kommt eine stattliche Anzahl von Sammel- bänden. Dabei ist eine thematische Untergliederung schwierig, weil die meisten mehrere Unterbereich der Medien ethik abdecken – auch wo das aus dem Titel nicht gleich ersichtlich ist (wie bei dem Sammelband von H ausmanninger & Bohrmann, wo sowohl ein Modell ethischer Begründung wie eine, an gewalthal- tigen Filmen exemplifi zierte Ethik der Produktion, der Distribution und der Rezeption). Die Sammelbände sol- len deshalb lediglich in zeitlicher Reihenfolge aufgelistet werden.

Ethik der Kommunikation. Hrsg. von H. Maier 1985. Medienethik und Medienwirkungsforschung. Hrsg. von Medien und Moral. Ungeschriebene Regeln des Journalis- M. Rath 2000. mus. Hrsg. von H. Boventer 1988. Media Ethics. Opening Social Dialogue. Hrsg. von B. Medien ohne Moral. Variationen über Journalismus und Pattyn 2000. Ethik. Hrsg. von L. Erbring & S. Russ-Mohl & Wer die Medien bewacht. Medienfreiheit und ihre Gren- B. Seewald & B. Sösemann 1988. zen im internationalen Vergleich. (Beiträge zur Medie- Medien zwischen Markt und Moral. (Beiträge zur Me- nethik, 5). Hrsg. von R. Gerhardt & H.-W. Pfeifer dienethik, 1). Hrsg. von W. Wunden 1989. 2000. Journalismus. Anforderungen – Berufsauff assungen – Ver- Medien und Ethik. Hrsg. von M. Karmasin 2002. antwortung. Hrsg. von H.-W. Stuiber & H. Pürer Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Per- 1991. spektiven. Hrsg. von Th. Hausmanninger & Th. Medienethik. Beschreibungen, Analysen, Konzepte für den B ohrmann 2002. deutschsprachigen Journalismus. Hrsg. von M. Haller & Netzethik. Grundlegungsfragen der Internetethik. Hrsg. H. Holzhey 1992. von Th. Hausmanninger 2002. Ethik der Massenkommunikation. Grundlagen. Hrsg. Menschenbilder in den Medien – ethische Vorbilder? von A. Holderegger 1992. Hrsg. von P. Grimm & R. Capurro 2002. Medien und Demokratie. Nähe und Distanz zur Politik. Kommunikations- und Medienethik. Hrsg. von B. Hrsg. von H. Boventer 1993. D ebatin & R. Funiok 2003. Öff entlichkeit und Kommunikationskultur. (Beiträge zur Medienethik. Ein Arbeitsbuch. Hrsg. von A. Greis & Medienethik, 2) Hrsg. von W. Wunden 1994. G. W. Hunold & K. Koziol 2003. Moral in einer Kultur der Massenmedien. Hrsg. von Kinderfernsehen und Wertekompetenz. (Medienethik, 3) W. Wolbert 1994. Hrsg. von P. Grimm & S. Horstmeyer 2003. Ethik der Massenmedien. Hrsg. von J. Wilke 1996. Handeln im Netz. Bereichsethiken und Jugendschutz im Grundfragen der Kommunikationsethik. Hrsg. von Internet. Hrsg. von Th. Hausmanninger 2003. R. Funiok 1996. Vernetzt gespalten. Der Digital Divide in ethischer Per- Wahrheit als Medienqualität. (Beiträge zur Medienethik, spektive. (Schriftenreihe des International Center for 3) Hrsg. von W. Wunden 1996. Information Ethics, 3). Hrsg. von R. M. Scheule & Freiheit und Medien. (Beiträge zur Medienethik, 4) R. Capurro & Th. Hausmanninger 2004. Hrsg. von W. Wunden 1998. Krieg und Medien. Verantwortung zwischen apokalyp- Cyberethik. Verantwortung in der digital vernetzten tischen Bildern und paradiesischen Quoten? (Mediene- Welt. Hrsg. von A. Kolb & R. Esterbauer & H.-W. thik, 4) Hrsg. von R. Capurro & P. Grimm 2004. R uckenbauer 1998. Tugenden in der Medienkultur. Zu Sinn und Sinnverlust Medienethik – die Frage der Verantwortung. Hrsg. von tugendhaften Handelns in der medialen Kommunikation. R. Funiok & U. F. Schmälzle & C. H. Werth 1999. (Medienethik, 5) Hrsg. von P. Grimm & R. Capurro Kommunikations- und Medienethik. Interdisziplinäre 2005. Perspektiven. Hrsg. von A. Holderegger 1999. Handbuch Medienselbstkontrolle. Hrsg. von A. Baum & Medienethik zwischen Th eorie und Praxis. Normen für die W. R. Langenbucher & H. Pöttker & C. Schicha, Kommunikationsgesellschaft. Hrsg. von C. Schicha & im Auftrag des Vereins zur Förderung der publizis- C. Brosda 2000. tischen Selbstkontrolle 2005. | 57 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

2.4 Medienethik in deutschsprachigen Zeitschriften 4. Medienethische Vereinigungen, Initiativen und Journalistenpreise Während es in den USA seit 1986 ein Journal of Mass Me- dia Ethics – Exploring Questions of Media Morality (mit An wissenschaftlichen Vereinigungen, die sich aus- drei Heften pro Jahr) gibt, hat sich im deutschen Sprach- schließlich mit medienethischen Fragestellungen be- raum noch kein medienethisches Periodikum etabliert. schäftigen gibt es im deutschen Sprachraum zwei: seit Immerhin erscheinen medienethische Abhandlungen, 1996 das Netzwerk Medienethik (Darstellung bei Wun- Tagungs- und Literaturberichte in allgemeinen kommu- den 2001) und die 2001 errichtete Fachgruppe Kommu- nikationswissenschaftlichen und ethischen Zeitschriften. nikations und Medienethik der Deutschen Gesellschaft für Drei Zeitschriften tragen (Medien-)Ethik in ihrem Na- Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK). men (International Review of Information Ethics, Zeit- Seit 2002 veranstalten beide eine gemeinsame Jahresta- schrift für Kommunikationsökologie und Medienethik und gung, jeweils im Februar in München. Außerdem bemü- Forum Medienethik), eine den Begriff Verantwortung im hen sich um Verbesserung der Selbstkontrolle bzw. um Untertitel (tv diskurs – Verantwortung in audiovisuellen Qualitätssicherung im Journalismus: Medien). Die meisten medienethischen Artikel erschie- nen in Communicatio Socialis (35 Beiträge – davon einige Der Verein zur Förderung der publizistischen Selbstkon- Kommentare zu päpstlichen Dokumenten), gefolgt von trolle (FPS). Er hat es sich zum Ziel gesetzt, die Praxis der Publizistik (24 Beiträge); obwohl weniger zahlreich, der Medienselbstkontrolle bekannter zu machen und die hatten die Letzteren für die wissenschaftliche Debatte betreff enden Gremien anzuregen, ihre Spruchpraxis an besonderes Gewicht. einheitlichen Kriterien auszurichten.

Initiative Qualität im Journalismus (IQ). Charta 2002 3. Wichtige Selbstkontrollgremien vom Deutschen Journalisten-Verband (DJV) angenom- und ihre Publikationen men, inzwischen von weiteren elf Institutionen mitge- tragen. Das Aus- und Weiterbildungskonzept haben 25 Eine wichtige Institutionalisierung von Medienethik Einrichtungen unterzeichnet. stellt die Errichtung von Selbstkontrollgremien und die öff entliche Darstellung ihrer Arbeit dar. Nach dem Netzwerk Recherche e.V. Gegründet 2002, Vorsitzender beiden ›alten‹ Freiwilligen Selbstkontrollen der Film- Thomas Leif. Als eine kritische Plattform will diese wirtschaft (FSK, gegründet 1949) und der Presse (Deut- Initiative journalistische Recherche in der Praxis stärken, scher Presserat, 1956; Jahrbuch mit Dokumentation der indem sie den verbesserungswürdigen Zustand der Re- Entscheidungen des Beschwerdeausschusses ab 1978. cherche in deutschen Medien bekannt macht und Aus- Schweizer Presserat, Stellungnahmen ab 1990 im Inter- und Weiterbildungskonzepte entwickelt. Das Netzwerk net veröff entlicht) sind an neueren zu nennen: Recherche vergibt jährlich den Leuchtturm-Preis für vor- bildlichen investigativen Journalismus. Deutscher Werberat (1972). Jahrbuch. Deutscher PR-Rat (1987). Jahrbuch. Nachrichten-Aufklärung. 1997 von Peter Ludes u. a. ge- Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) (1993). gründet. Diese Initiative wählt jährlich aus Vorschlägen Periodikum tv diskurs(seit 1997). diejenigen wichtigen Nachrichten und Th emen aus, die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) (1994). in den Medien nicht genügend berücksichtigt wurden, Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia Diensteanbie- und veröff entlicht diese Liste (von zumeist zehn Th e- ter (FSM) (1997). men).

Ethikrat der Akademie für Publizistik, Hamburg – Me- dienethische Online-Beratung für Journalisten. Seit Juli 2003. Ein Vierer-Gremium berät Journalisten in kon- kreten Entscheidungssituationen; Vertraulichkeit wird gewährleistet.

Journalisten-Preise: Sie sind nach Russ-Mohl (1994) ein Infra-Strukturfaktor zur Qualitätssicherung im Journalismus. Die Zeitschrift V.i.S.d.P. – Magazin für Medienmacher listete Ende 2006 insgesamt 50 deutsche 58 | Journalistenpreise auf. Wenn auch die Preisgelder recht beachtlich sind (von 10.000 bis 70.000 ), so mangelt es Routinen sage oder wie sie die gegenseitige Abhängig- nach Russ-Mohl (2003, 343 f.) in Deutschland – im keit von Public-Relations und journalistischer Recher- Unterschied zu den USA – sehr an Aufmerksamkeit in che bzw. Auswahl sehe. Auch müsse klar sein, dass die in den Medien und damit in der Öff entlichkeit. den Kodizes formulierten Handlungsmaximen »den Pu- blizisten bei ihren Entscheidungen in Normkonfl ikten helfen können, diese aber nicht aus der Welt schaff en.« 5. Die deutschsprachige Medienethik – (Saxer 1970, 31). Zu ergänzen sei vor allem die individu- eine Erfolgsgeschichte? alethische Betrachtungsweise, und zwar durch die weit wichtigere organisationsethische Perspektive, also die Auch wenn diese Aufl istung zeigt, dass die deutschspra- Mesoebene des Mediensystems (Rühl & Saxer 1981, chige Medienethik seit Mitte der 1980er-Jahre an Pu- 479 ff .; Saxer 1992, 115). Auch sollten die gesinnungs- blikationen, Selbstkontrollgremien und Vereinigungen und die verantwortungsethische Perspektive miteinander zugenommen hat, ist abschließend zu fragen: Hat sich versöhnt werden (Saxer 1970, 28). die Situation der Medienethik auch qualitativ verbes- Diese Forderungen wurden inzwischen von der ande- sert? Dazu sollen die drei wichtigsten Mängelanzeigen ren, an Medienethik beteiligten Wissenschaft, nämlich und Forderungen an die Medienethik aufgegriff en wer- der Moralphilosophie, weitgehend eingelöst: Die mei- den, wie sie Saxer (1970; 1986; 1992), Rühl (1980b) und sten Entwürfe verstehen sich primär als sozial- oder Rühl & Saxer (1981) formuliert haben. strukturethische. Es gibt sogar gelungene Versuche, die Luhmann’sche Systemtheorie – welche vielen in der 5.1 Überwindung der Instrumentalisierung Kommunikationswissenschaft als Metatheorie gilt – mit medienethischer Aussagen Forderungen der christlichen Soziallehre (z. B. nach Teil- habegerechtigkeit) zu verbinden (vgl. Filipovi 2007). Saxer (1970) hatte bemängelt, dass gesellschaftliche Daneben werden die demokratische Öff entlichkeit und Gruppen – hier stellt er den politisch-wirtschaftlichen inhaltliche Vielfalt, Wahrhaftigkeit, aber auch die sou- Kreisen die Kirchen und Schulen gegenüber – mit je- verän auswählende Aktivität der Rezipienten als Prin- weils ihrer Werthierarchie »die publizistische Ethik zu zipien gesehen. Angenommen haben durchgehend alle verbessern« suchen (a. a. O, 30), also ihre Wertposition philosophischen und theologischen Ethiker die Tatsache, auf die Journalisten projizieren. Diese hätten jedoch die dass wir in einer wertpluralen Gesellschaft leben. In ihr in der Gesellschaft vorhandene Wertpluralität zum Aus- gibt es zwar sich widersprechende Auff assungen, welche druck zu bringen. Wo von außen »die Verwirklichung Werte ein gelungenes Leben ausmachen, aber Einigkeit ethischer Werte angesonnen wird« (a. a. O, 24), liege herrscht über die Notwendigkeit und Möglichkeit eines eine Verschleierung von Gruppeninteressen vor. Wenn demokratischen Konsenses, wie eine gerechte Verteilung Journalistenverbände selbst in Feiertagsreden ihr Ethos materieller und geistiger Güter zu bewerkstelligen ist (vgl. refl ektieren, komme es oft zu idealisierten Darstellungen Laux 2002). Gelungen scheint auch die Abgrenzung der der eigenen Rolle und Verantwortbarkeit. Ethik ver- Medienethik zur Medienpolitik bzw. Medienrecht und komme so zur Ideologie (Saxer 1986, 22); dem müsse zur Medienpädagogik (Medienkompetenz) – bei gleich- mit Ideologiekritik begegnet werden. Es stellt in der Tat zeitiger Verbindung zu diesen anderen Faktoren einer eine bleibende Aufgabe der Ethik dar, diese Instrumen- demokratischen Medienkultur. talisierungen von Moral zu durchschauen und zu ver- meiden. – Ein unbefangener Blick in die heutigen Ver- 5.3 Empirische Erfassung der Steuerungsressource Moral öff entlichungen zeigt, dass dies der deutschsprachigen Medienethik weitgehend gelungen ist – lediglich Lesch- Rühl & Saxer hatten gefordert, den spezifi schen Bei- ke (2001) sieht bei fast allen Autoren nur Ideologie und trag der Moral zur gesellschaftlich gewünschten Steu- beschränkt sich – wohl um ihr nicht selbst zu verfallen erung des Mediensystems empirisch zu erfassen – im – auf deskriptive Wertanalysen der Medieninhalte. Vergleich mit und in Interaktion zu den anderen Steu- erungsressourcen wie Recht, staatliche Regulierungen 5.2 Ausreichende wissenschaftliche Fundierung vs. Selbstkontrolle sowie reaktionsinternen organisato- rischen Normen. Dieser Forderung sind die meisten Au- Mit Recht haben die beiden Kommunikationswissen- toren – wie mir scheint zu Recht – kaum nachgekommen, schaftler Rühl und Saxer gefordert, dass Medienethik liegt ihr doch ein Missverständnis über die Eigenart der auf dem Stand der aktuellen fachwissenschaftlichen Dif- Moral zugrunde. Mit dem individuellen oder kollektiven ferenzierungen des komplexen Medienkommunikations- Ethos werden Verpfl ichtungen formuliert, die zwar bin- prozesses sein müsse. Aufzugreifen sei, was die Forschung dend sind, denen man sich aber doch entziehen kann zum aktuellen Rollenselbstbild, zu den journalistischen und oft auch entzieht – aus moralischer Schwäche oder | 59 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

in Anspruchnahme einer berechtigten Ausnahme. Es Literatur geht nicht an, diese zur Conditio humana gehörige Tat- sache der Moral oder ihrer Refl exionstheorie Ethik als Laux, B. (2002). Wert der Werte. Zur Bedeutung und Schwäche anzulasten, und sie als unklare und schwache Tragfähigkeit des Wertkonzepts in der pluralen Gesell- Steuerungsressource zu diskreditieren. schaft. Stimmen der Zeit, 220, 507 – 518. Ist die Entwicklung der deutschsprachigen Medie- Rühl, M. (1980). Ethik – ein Gegenstand der Kommu- nethik also eine Erfolgsgeschichte? Zweifellos hat die nikationswissenschaft? In: Zentralstelle Medien der Quantität und Qualität der Publikationen seit Mitte der Deutschen Bischofskonferenz & Katholische Akade- 80er-Jahre erheblich zugenommen. Unzweifelhaft ist, der mie Stuttgart (Hrsg.), Ethik und Kommunikation. Vom Medienentwicklung folgend, auch die Zahl der Selbst- Ethos des Journalisten. (Hohenheimer Medientage, kontrolleinrichtungen größer geworden; im Zuge des 25. – 27.6.1980) (S. 29 – 49). Stuttgart. Abbaus staatlicher Kontrollfunktionen kam es – auch im Rühl, M. & Saxer, U. (1981). 25 Jahre deutscher Pres- Vorgriff auf Europäische Regelungen – zu neuen Kom- serat. Ein Anlaß für Überlegungen zu einer kommunika- binationen von staatlicher bzw. gesetzlicher Regulierung tionswissenschaftlich fundierten Ethik des Journalismus und Selbstkontrolle (z. B. im Staatsvertrag zum Jugend- und der Massenkommunikation. Publizistik 26, 471 – 507. medienschutz 2003). Dabei ist in den Medienbranchen Russ-Mohl, S. (1994). Der I-Faktor. Qualitätssiche- das Bewusstsein gewachsen, die Selbstkontrolle zwar mit rung im amerikanischen Journalismus – Modell für Eur- einem gewissen gesetzlichen Freiraum, aber in gesamt- opa? Osnabrück: Fromm. gesellschaftlicher Verantwortung wahrnehmen zu sollen. Russ-Mohl, S. (2003). Journalismus. Das Hand- und Darf man also mit der Entwicklung der deutschspra- Lehrbuch. Frankfurt a. M.: F.A.Z.-Institut für Manage- chigen Medienethik zufrieden sein? Die Ansehnlichkeit ment-, Markt- und Medieninformationen. der hier erstellten Aufl istung von Publikationen kann Saxer, U. (1970). Publizistische Ethik und gesellschaft- über das geringe Ausmaß, vor allem die mangelhafte liche Realität. Communicatio Socialis, 3, 24 – 35. Qualität d er öff entlichen Diskussion medienethischer Saxer, U. (1986): Konstituenten einer Medien- und Fragen hinwegtäuschen. Denn wenn ihnen auch grobe Journalismus-Ethik. Zur Th eorie von Medien- und Jour- journalistische Fehlleistungen oder Schüler-Amokläufe nalismus-Regelungssystemen. Zeitschrift für Evange- zu kurzfristiger Aufmerksamkeit verhelfen, so muss die lische Ethik, 30, 21 – 45. kontinuierliche Beschäftigung mit ihnen noch größer Saxer, U. (1992). Strukturelle Möglichkeiten und Gren- werden – in der Öff entlichkeit und in der Kommunika- zen von Medien und Journalismusethik. In: M. Haller & tionswissenschaft. H. Holzhey (Hrsg.), Medienethik. Beschreibungen, Analysen, Konzepte für den deutschsprachigen Journalis- mus (S. 104 – 128). Opladen: Westdeutscher Verlag.

Netzwerk Medienethik

60 | www.netzwerk-medienethik.de Noch mehr Literaturangaben fi nden Sie unter: www.netzwerk-medienethik.de

Bibliothek

| 61 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Matthias Rath & Pinar Erdemir »Denn sieh’, das Fremde liegt so nah!« Der Einbruch kultureller Heterogenität in die nationale Medienethik

1. Medien und Globalisierung

Am Beispiel der von türkischen Jugendlichen in Die Globalisierung nimmt den Charakter des Marx‘schen Deutschland via Satellit rezipierten türkischen Fern- Gespenstes das weltweit umzugehen scheint an. Aber sehsendungen wollen wir das Problem diskutieren, wie was unterscheidet Globalisierung vom Internationalis- Kulturgrenzen übergreifende Medienangebote unter mus kapitalistischer Markteroberung? Dies scheint vor den Bedingungen der Globalisierung zu bewerten sind allem die Digitalisierung zu sein. Erst unter den Bedin- (vgl. Rath 2003c; 2004). Zunächst ist der Sachverhalt gungen der umfassenden technischen Verfügbarkeit von zu beachten, dass auch über Satellitenfernsehen Fern- Information, Kommunikation und Investition (Rath sehformate in Deutschland empfangen werden können, 2003b) vermag ein Unternehmen, global präsent zu sein. die nicht dem deutschen Rundfunkrecht oder Jugend- Zusätzlich interessant wird diese technikgetriebene digi- schutz unterliegen und auch nicht durch die deutschen tale Globalität bei Produkten, die ebenfalls digitalisierbar Medien kontrollinstanzen kontrolliert werden. Dies ist sind. Dabei sind zwei Arten von ›Produkten‹ zu unter- aber nur die Oberfl äche des Problems. Darunter geht es scheiden: Dienstleistungen (wie z. B. die Verwaltung und um das Phänomen, dass türkische Medienangebote für Verarbeitung elektronischer Daten von europäischen Un- die soziokulturellen Gegebenheiten der Türkei konstru- ternehmen in Indien) und Medienprodukte im engeren iert sind. Sie geben türkische Antworten auf türkische Sinne. Im Folgenden werden wir uns mit digitalen Medi- Probleme. Ihre türkische Rezeption in Deutschland steht enprodukten beschäftigen, sofern sie inhaltlich defi niert damit – vor allem bei den Jugendlichen türkischer Her- sind und unter den Bedingungen der Globalisierung kunft – unter den Bedingungen einer »Gleichzeitigkeit über die Grenzen ihrer jeweiligen kulturellen Herkunft des Ungleichzeitigen« (Bloch 1935/1977). Wir können hinaus distribuiert und rezipiert werden. Die Globalisie- an diesem Beispiel der gelebten medialen Globalisierung rung wurde hierbei bisher als ein vor allem technisches eine interessante (und fatale) Sinnverkehrung kultureller Phänomen vorgestellt. Bei off ensichtlichen Pull-Medien Aufklärung in Heterogenität nachverfolgen. Um diesen (Kelly/Wolf 1997) wie dem Internet scheint dies un- Aspekt in einen größeren Zusammenhang zu stellen, mittelbar einleuchtend. Aber auch bei Push-Medien wie werden wir zunächst die Globalisierung der Medien all- dem Fernsehen können wir eine mittlere Globalisierungs- gemein refl ektieren. Daran anschließend gehen wir der schiene feststellen. Über Satellitenschüsseln werden TV- Transkulturalität von Medieninhalten nach und fokus- Angebote, die meist nicht für einen globalen Markt kon- sieren dabei auf die Bedingungen der Verwertung kultu- struiert wurden, global präsent. Wo liegen die möglichen reller Heterogenität. In einem dritten Teil, der quasi als Problemfelder dieser Präsenzformen medialer Inhalte? das ethische Begründungsstück gelten soll, versuchen wir Und lassen diese sich medienethisch refl ektieren? die Notwendigkeit und Möglichkeit einer formalen Mo- Die Rezeption interkulturell angebotener Medienin- ralisierung medialer Angebote unter den Bedingungen halte ist wenig bearbeitet. So haben z. B. Liebig und kultureller Heterogenität aufzuweisen. Dabei wird uns Katz (1993/2002) die Rezeption der Serie Dallas in die Kantische Defi nition von Aufklärung als inhaltliches den 1980er Jahren unter dem Schlagwort »Export of Prinzip formaler Kritik dienen. Im letzten Abschnitt Meaning« untersucht und Marci-Boehncke (2002) schließlich versuchen wir diese Vorüberlegungen im konnte die unterschiedlich rezipierten nationalen Images Hinblick auf das in Deutschland via Satellit zu empfan- in Volker Schlöndorffs Film Homo Faber bei US- gende türkische Fernsehen zu konkretisieren.* amerikanischen und deutschen Rezipienten beschreiben. Für uns interessant ist in diesem Zusammenhang, ob und in wie weit die unterschiedlich kulturell konstruierten und rezipierten Medienangebote noch einer allgemeinen medienethischen Beurteilung off en stehen. Können wir * Der Beitrag entstand im Rahmen des Projekts »Wertver- die Heterogenität medienproduktiver und medienrezep- mittlung in kulturheterogenen Medienangebote« der For- tiver, im Produktionsprozess intendierter Bedeutungsin- schungsstelle Jugend – Medien – Bildung an der Pädago- halte und im Rezeptionsprozess entschlüsselte und un- 62 | gischen Hochschule Ludwigsburg. terstellte Bedeutungsinhalte noch moralisch bewerten? 2. Transkulturalität von Medieninhalten: die Verwertung kultureller Heterogenität

Medien im zeichentheoretischen Sinne (Bonfadelli 2002, 11f) sind durch den Prozess der Enkodierung und Dekodierung gekennzeichnet. Diese Symbolstruktur ist jedoch nicht zufällig, sondern ein anthropologisches Da- tum (Rath 2001; 2002). Mit Ernst Cassirers Philo- sophie der symbolischen Formen heben wir auf die prinzi- pielle Vorgeprägtheit der Welt ab. Begriff e, Kategorien und Th eorien des Menschen über sich und die Welt sind »selbstgeschaff ene intellektuelle Symbole« (Cassirer 1923/1953, Herv. im Orig.). Diese symbolische Hervor- bringung von Welt ist für Cassirer jedoch weder kul- turell noch anthropologisch beliebig. Der Mensch als animal symbolicum ist auf Symbolisierung angewiesen. Diese Medialität der Welt drückt sich in einem sozial und kulturell vermittelten »Symbolsystem« (Cassirer 1944/1996, 49) aus. Die Leistung des animal symboli- cum, das Ganze seiner Welt als eine je schon gedeutete vorzustellen und in diesem Sinne sich die ganze Welt und sich selbst jeweils zu schaff en, läuft auf kulturell tra- dierte Beschreibungen dieser ›Welten‹ hinaus, die von den Menschen im Zuge der Sozialisation gelernt werden. Diese Weltinterpretationen stellen einen grundlegenden Interpretationsrahmen für die Mitglieder einer kulturell tradierten symbolischen Form bereit. Über den Aspekt der Tradierung wird einsichtig, dass diese grundsätzliche »Medialität« menschlicher Welterfassung zugleich die jeweilige Kennmarke der spezifi schen Kultur ist, in der Menschen leben. Das Symbol und mit ihm die Mediali- tät des Menschen ist zwar als Faktum nicht hintergehbar, wandelt sich jedoch unter den Gegebenheiten der jewei- ligen Kultur. Medieninhalte lassen sich als Symbolangebote ver- stehen, die nur aus dem kulturellen Vorverständnis des Rezipienten gedeutet werden können. Der kulturellen Heterogenität entspricht die Vielfalt der symbolischen Welten. Dies führt zu dem idealtypisches Kulturparadox der Pluralen Einsinnigkeit: Medialität macht Kulturen formal durchlässig, inhaltlich aber rigide. Die formale Durchlässigkeit können wir z. B. an der kulturindustriel- len Symbolökonomisierung feststellen. Kulturell belegte Symbole werden unter den Bedingungen einer ökono- miegetriebenen Aufmerksamkeitsprovokation (Franck Zugleich sehen wir die inhaltliche Rigidität kultureller 1998) aus ihren tradierten Kontexten herausgelöst und Symbolsysteme an den Reaktionen der Kommunika- durch neue Kontextalisierung quasi neu erfunden. Ein toren vor allem geschlossener Kulturen, wenn alterna- Beispiel ist die Verwendung religiöser Symbole (vgl. tive mediale Sinnangebot als Sinnkritik des tradierten Pirner 2003, 134f). Beispiele dazu fi nden wir bei der Symbolverständnisses gedeutet werden. Beispiele sind Pop-Ikone Madonna bereits 1989 in ihrem Musikvideo die Verfolgung von Salman Rushdie über mehr als ein Like a Prayer oder wieder 2006 in ihrer Bühnenshow. Jahrzehnt, nachdem er seinen Roman Th e Satanic Verses 1988 in Großbritannien veröff entlichte, oder aktuell der so genannte Karikaturenstreit (Rath 2007) um die Veröff entlichung vermeintlich Mohammed-kritischer | 63 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten. Zum anderen setzt die Wahrnehmung von kultureller D iese Paradoxie legt zumindest für ökonomische Inte- Heterogenität die Wahrnehmung von Fremdheit als ressen die Entscheidung nahe, die Heterogenität durch ›Normalfall‹ voraus – nur soweit das Fremde nicht exklu- konfl iktarme Inhalte zu ›entschärfen‹. Die transnatio- diert werden kann (›die Ausländer‹), wird die eigene Hy- nalen Verwertungsketten können zunächst einmal nur bridität deutlich. Welche medienethischen Kategorien ökonomisch globalisiert werden. Regionale und lokale böten sich nun für eine Analyse medialer Angebote an, Interessen und Wertgefüge fordern ihre Berücksichti- die diese kulturelle Heterogenität abbilden? gung. Akzeptanz als Voraussetzung für Konsum wird daher umso leichter möglich, je geringer die Reibungs- punkte, die Irritationen, die Erfahrung von Fremdheit 3. Formale Moralisierung: jenseits unterhaltsamer Exotik sind. ›Aufklärung‹ als inhaltliches Prinzip formaler Kritik Erfolgreiche globale Medienpräsenz erlaubt daher keinen vereinheitlichenden Kulturimperialismus, wie er Greifen wir die Trias von Wolfgang Wunden (1999) im Schlagwort von der »Amerikanisierung« der Kultur auf, der die Aspekte Produktion, Distribution und Re- unter den Bedingungen einer globalen Kulturindustrie zeption medialer Inhalte als ein erstes Analyseraster vor- mitschwingt (vgl. Beck/Sznaider/Winter 2003; schlägt, so sehen wir uns einem Dilemma gegenüber. Die Hafez 2005). Vielmehr würde eine solche Vereinheit- medienethische Beurteilung inhaltlicher Vielfalt führt, lichung den modernen Erfahrungen der Hybridizität zumindest wenn diese Vielfalt kulturell bedingt ist, zur (Ackermann 2004), d. h. der Verwobenheit von Iden- Erfahrung auch normativer Heteronomie. Diese Hete- tität und Alterität in modernen Gesellschaften, wider- ronomie erzeugt die Erfahrung pluraler Moralen, die aus sprechen. Es liegt nahe, die kulturindustrielle Produk- sich selbst heraus keine Verbindlichkeit gegen einander tion medialer Inhalte nach dem Motto plot plus culture plausibilisieren können. Die moralische Relativität medi- zu konstruieren, d. h., eine Grundstruktur den jeweiligen aler Angebote ist die Folge. Wollen wir angesichts kultu- kulturellen Gegebenheiten anzupassen – angefangen von rell unterschiedlicher Produktionsbedingungen medialer der Bearbeitung (z. B. im Rahmen einer Übersetzung Angebote also nicht Gefahr laufen, diese inhaltlichen oder Synchronisation) bis hin zur Adaption. Ein Beispiel und normativen Unterschied letztlich nur konstatieren für eine transkulturelle Grundstruktur ist die Heldenreise zu können, bleiben nur zwei Lösungsstrategien. (Campbell 1949/1990), die nicht nur in vielen Mythen Man kann sich einerseits auf die Distribution konzen- vorkommt, sondern auch als Grundstruktur vieler Medi- trieren und dabei eine technische Moralisierung betreiben. enplots angesehen werden kann, z. B. bei Star Wars oder Die normative Frage lautet dann, ob die Distributions- Harry Potter. wege jedem off en stehen. Dies entspricht dem Grundwert Diese globale kulturelle Heterogenität, vor allem, wo sie Öff entlichkeit für den Aspekt Distribution bei Wunden über das Internet öff entlich wird, wirft medienethisch (1999). Dabei läuft man aber Gefahr, einem inhaltlichen unseres Erachtens zumindest nicht das Problem der Anything goes aufzusitzen. Ein Beispiel dafür ist die Blue kulturellen Überformung auf. Für dieses Pull-Medium Ribbon Campaign, die den freien und gleichen Zugang ist jeder Nutzer für die potentielle Empörung über eine zum Internet als moralisches Argument so stark macht, mögliche Verletzung seiner kulturellen Identität selbst dass inhaltliche Bedenken nicht mehr berücksichtigt verantwortlich. Auch als internationales Phänomen ist werden. Man kann andererseits die Rezeption in den kulturelle Heterogenität eher als Bereicherung zu sehen. Blick nehmen und dann eine rezeptive Moralisierung Medien in affi nen Kulturzusammenhängen (z. B. zwi- verfolgen. Die normative Frage lautet dann, ob die re- schen mitteleuropäischen Gesellschaften) sind entwe- zipierten Inhalte moralisch vertretbar seien. Diese Po- der simplifi ziert anschlussfähig (z. B. in standardisierten sition birgt eine fatale Gefahr. Da Rezeption als mora- Formaten wie Wer wird Millionär? oder Big Brother), lisches Argument letztlich die subjektive Bewertung des oder aber explizit gemachte Unterschiedlichkeit ermög- Rezipienten absolut setzt, zwingt sie den Anbieter zur licht eine Kommunikation über Fremdheit zwischen ethischen Askese. Nichts, was moralisch negativ rezipiert den Kulturen und leistet damit die Anschlussfähigkeit werden könnte, ist dann noch akzeptabel. Ein Beispiel der kulturell unterschiedlichen Medieninhalte. Ein inte- für die absurden Konsequenzen, die aus dieser, auch be- ressantes Beispiel für solche nicht simplifi zierende An- wahrpädagogisch immer wieder vorgebrachten Position schlusskommunikation scheint uns das Programm des folgen, lassen sich am so genannten Karikaturenstreit deutsch-französischen Fernsehsenders Arte zu sein. Als um die Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung nationales Phänomen schließlich setzt kulturelle Hetero- Jyllands-Posten ablesen. Hielte man an der rezeptiven gentät zum einen eine kulturhomogene Basis voraus, um Moralisierung fest, so wäre die subjektive Verletztheit erst subkulturell heterogene Medialität zu ermöglichen, religiöser Gefühle ein ausreichendes Argument für die 64 | z. B. im Prozess der Identitätsarbeit in Jugendkulturen. Einschränkung der Pressefreiheit (Rath 2007). »Denn sieh’, das Fremde liegt so nah! «Der Einbruch kultureller Heterogenität in die nationale Medienethik

Wir plädieren daher hier für ein Prinzip, das als for- S elbstverschuldetheit aufzubrechen, ist von den Medien- maler Kritik am Produkt ansetzt und dennoch der Re- angeboten Wahrhaftigkeit zu fordern. Diese Wahrhaftig- lativierung durch die unterschiedlichen Inhalte und keit umfasst z. B. die Off enlegung der jeweiligen Intenti- Kontexte entgeht. Dafür bietet sich natürlich zunächst on der Medienproduzenten (Rath 2006). Und die durch Kants Kategorischer Imperativ (KpV, A 54) an. Dieses Aufklärung zu überwindende Unmündigkeit verweist die Formalprinzip setzt bei der Eigenschaft einer Handlung Medien auf die Beförderung der Freiheit als Zielvorgabe an: Die Orientierung folgt für den Handelnden aus im Sinne der Erweiterung der Handlungsoptionen. Wir seinem eigenem Rationalitätsanspruch als vernünftiges werden im Folgenden an einem Beispiel des kulturell he- Wesen, dessen Handlungsmaximen »nicht der Materie, terogenen Medienangebots diese Aspekte einer materi- sondern bloß der Form nach, den Bestimmungsgrund alen Zielvorgabe für Medienangebote im Rahmen einer des Willens enthalten« (KpV, A 48). Dieser allgemei- formalen Medienkritik konkretisieren. ne Bestimmungsgrund des Willens ist seine Autonomie (KpV, A 59). Auf eine Medienproduktion gewendet, ent- 4. Türkisches Fernsehen in Deutschland: scheidet das Formalprinzip über die Autonomie des Me- zur Sinnverkehrung kultureller Aufklärung dienproduzierenden. Aber Medienangebote zielen immer auf das Symbol- Laut der im Auftrag des WDR erstellten Studie Zwi- verständnis eines Rezipienten, wie wir bei Cassirer schen den Kulturen. Fernsehen, Einstellungen und Integra- gesehen haben. Können wir ein ethisches Prinzip benen- tion junger Erwachsener mit türkischer Herkunft in Nor- nen, das es bei aller Formalität dennoch erlaubt, trans- drhein-Westfalen (2006) sehen 32  der 14 – 29jährigen kulturelle Medienangebote inhaltlich zu bewerten? Wir türkischen Jugendlichen in Deutschland vor allem tür- schlagen vor, diesen Inhaltsaspekt über das Ziel der Pro- kische TV-Angebote. Jugendliche präferieren dabei im duktion medialer Inhalte zu erfassen. Ziel ist hier nicht türkischen Fernsehen vor allem die Emotionalität und als intentionaler Zweck der Handlung zu verstehen, die Familiarität der Formate. Das Vorbild der Erwachse- sondern als Sachfolge. Wir sehen eine solche Zielori- nen bietet dabei keine Alternativen, denn 72  der 30- bis entierung in Kants Defi nition der Aufklärung gegeben 49-Jährigen sehen nur türkisches Fernsehen. Ein Faktor (WiA, A 481): »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen dabei mag die Tatsache sein, dass 72 der Befragten in aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündig- deutschen Sendern ein eher schlechtes Meinungsbild keit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne über die Türkei wahrnehmen bzw. mehr Hintergrund- Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist informationen über die Türkei vermissen. In diesen Zah- diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht len wird deutlich, dass die kulturelle Rückbindung der am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung türkischen Bevölkerung an ihre Heimatkultur große Be- und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines an- deutung hat und im deutschen Fernsehen diese Erwar- dern zu bedienen.« tung nicht erfüllt wird – was angesichts der Zielgruppe Damit sind die beiden Prinzipien einer medialen Hand- des deutschen Fernsehens nicht verwundern kann. lung benannt: Mit den Worten Paul Tillichs (1919/20) Der normale Zugang zum türkischen Fernsehen erfolgt gesprochen, ist die Vernunft das »Formalprinzip« der über Satellit. Da diese Programme jedoch nicht für Tür- Aufklärung (ebd., 119ff ), wohingegen das Individuum als ken im Ausland produziert werden, sondern ihrerseits ihr das »Materialprinzip« der Aufklärung (ebd., 124f) zu gel- türkischen Publikum in der Türkei im Blick haben, ist es ten hat. Für die medienethische Forderung, dass Medien unter dem Aspekt der medialen Vermittlung kultureller in ihren Inhalten nicht der Indoktrination und Bevor- Heterogenität interessant, den Inhalten türkischer Ange- mundung, sondern der Aufklärung des Individuums zu bote nachzugehen.* »Im Zentrum der Fernsehrezeption dienen haben, stellt der Kategorische Imperativ das For- malprinzip dar und Kants Bestimmung der Aufklärung * Von den Sendeformaten im türkischen Satellitenfernsehen beschreibt die materiale Füllung dieser Forderung. Wie ist allerdings die Werbung zu unterscheiden. Während die sieht das konkret aus? redaktionellen Anteile identisch sind, werden die Werbeblö- Kant weist mit seiner Formulierung Ausgang darauf cke auf das Zielpublikum der Auslandstürken zugeschnitten. hin, dass Aufklärung ein Prozess ist, der ein »sich im Hier werben nicht nur türkische Firmen für türkische Wa- Denken orientieren« ermöglichen soll. Medienange- ren, sondern auch deutsche Unternehmen werben mit spezi- bote hätten dann also immer auch eine Relevanz (Rath ellen, für das türkische Zielpublikum in Deutschland insze- 2007) zu bieten, nämlich die Erweiterung der Orientie- nierten Werbefi lmen. So wird nicht nur die türkische Kultur rungsmöglichkeiten, sowohl kognitiv als auch aff ektiv als Konsumgut für die Auslandstürken aktuelle gehalten, es und moralisch (vgl. Aufenanger 2006). Diese Rele- fi ndet auch eine, die kulturelle Heterogentät nivellierende vanz medialer Angebote ist als Gegenentwurf zur Selbst- (weil an die Zielkultur angepasste) homogene Ökonomisie- verschuldetheit der Unmündigkeit zu denken. Um diese rung der deutschtürkischen Lebenswelt statt. | 65 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

stehen türkische Serien und alte türkische Spielfi lme. kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass es Alle Altersgruppen, egal ob Mann oder Frau, Akade- in den letzten Jahren verstärkt Bespiele für Töre-Morde miker oder Handwerker, sehen diese Angebote, die sich innerhalb der türkischen Community in Deutschland inhaltlich um eine endlose Variation der klassischen Th e- gegeben hat. Die große Anzahl türkischer Familien, die men ›unglückliche Liebe, Familie, Traditionen, Intrigen sich nicht den archaischen Töre-Normen unterwerfen, und Dramen‹ drehen. Die derzeit ausgestrahlten Serien erhalten durch diese Soap-Angebote keine anschlussfä- bieten damit eine inhaltliche Fortführung der alten tür- higen Handlungsoptionen benannt. kischen Spielfi lme an, von denen vor allem die jüngeren Ein anderes Beispiel sind TV-Nachrichten. Obwohl tür- Gruppen schwärmen.« (Zwischen den Kulturen 2006, 11). kische Zuschauer die deutschen Fernsehnachrichten für Analysieren wir die türkischen Serienangebote inhalt- glaubwürdig halten, »wird auch im Zusammenhang mit lich, so stellen wir fest, dass v. a. intrakulturelle Konfl ikte den Nachrichten die Emotionalität des türkischen (pri- im Zusammenhang traditioneller Moralvorstellungen vaten) Fernsehens hervorgehoben. Es scheint, als könne (Frauen-, Familienbild, Bildungschancen) innerhalb der die dramatisierende Form der Nachrichtenvermittlung Türkei thematisiert werden. Als gutes Beispiel hierfür mehr Aufmerksamkeit erregen« (Zwischen den Kul- kann die Serie Yarali Yürek gelten, die im Untersuchungs- turen 2006, 14). Dieser Präferenz entspricht das türkische zeitraum April 2007 jeweils mittwochabends im privaten Fernsehen, v. a. die privaten Sender. Diese stark emotio- Sender Show TV um 21 Uhr (inzwischen um 19 Uhr) zu nalisierten und privatisierten Nachrichtenangebote bie- sehen war. In dieser Serie wird die Geschichte einer jun- ten wenige Ansätze für die Beurteilung gesellschaftlicher gen Frau erzählt, die nicht als ›Jungfrau‹ in die Ehe geht. Verhältnisse – in der Türkei ebenso wie in Deutschland. Ihr Mann entdeckt diesen Umstand in der Hochzeits- Sie bieten damit keine Relevanz im Sinne der rationalen nacht. Was er nicht weiß: Seine Frau wurde von seinem Orientierung. Etwas anders ist das öff entlich-rechtliche Vater vergewaltigt. Nach den Gesetzen des Töre, dem Fernsehen zu bewerten. Abgesehen vom umstrittenen traditionellen türkischen Stammes- und Ehrenkodex, Gesetz 3984, in dessen Artikel 4 das Einheitsprinzip wird die Frau zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung soll des türkischen Staates auch für Nachrichtensendungen auf einem Felsen erfolgen, aber aufgrund verschiedener als Maßstab der Inhalte zu gelten hat, entsprechen die Umstände bzw. Zufälle bleibt sie am Leben. Am Ende Fernsehnachrichten im öff entlich-rechtlichen Fernsehen triff t sie auf einen Staatsanwalt, der als Personifi zierung (TRT) weitgehend professionellem Journalismus und der modernen türkischen Gesellschaft sich ihrer Sache dem Sachlichkeitsgebot. annimmt und die Frau retten möchte. Die türkischen Fernsehangebote, die über Satellit in In der Narration dieser und anderer Serien werden die Deutschland rezipiert werden können, unterliegen na- kulturellen Diff erenzen der Türkei thematisiert. Intrakul- türlich nicht der deutschen Medienkontrolle. In der turell betrachtet, tragen diese Angebote zur Aufklärung Türkei ist die Aufsichtsbehörde von Funk und Fernsehen in der Türkei bei. Töre-Normen werden relativiert und RTÜK für die Kontrolle der Medien zuständig. Diese damit diskutabel und der gesellschaftlichen Realität der besteht seit 1994 aus neun Personen, die vom türkischen Türkei gegenüber gestellt. »Die Auseinandersetzung mit Parlament auf jeweils sechs Jahre gewählt werden. RTÜK dem symbolischen Material, das uns die Medien bereit- reagiert vor allem auf Beschwerden, die telefonisch oder stellen, fi ndet im sozialen Leben statt. In der Kommu- per E-Mail seitens der Bevölkerung eingehen. RTÜK hat nikation mit anderen Personen handeln wir oft erst aus, auch die Möglichkeit, Sanktionen zu verhängen, so z. B. welche Bedeutung eine Fernsehsendung für uns hat.« die zeitweise oder endgültige Schließung eines Senders (Mikos u. a. 2007, 9) In der deutschen Gesellschaft hin- und die Verhängung von Berufsverbot. Wie stark diese gegen bieten diese Angebote keine adäquaten Anknüp- Sanktionen auch bei für deutsche Verhältnisse eher un- fungspunkte für die erlebte gesellschaftliche Realität. problematischen Sendungen wirken, zeigt das Beispiel Die Handlungsstränge bieten Antworten auf Fragen und des Moderators Mehmet Ali Erbil. Während seiner Probleme in der Türkei, aber nicht in Deutschland. Diese Live-Sendung ya sundadir ya bundadir zog Erbil einem medialen Lösungsstrategien sind »türkische Antworten seiner Angestellten die Hose herunter. Der Sender ATV auf deutsche Fragen«. Die intrakulturelle Aufklärung des beendete daraufhin sofort den Vertrag mit Mehmet türkischen Fernsehens bietet in Bezug auf die deutsche Ali Erbil, um Sanktionen von RTÜK zu verhindern. Gesellschaft keine Erweiterung der Handlungsoptionen. Wir können von einer Sinnverkehrung der kulturellen Aufklärung unter den Bedingungen kultureller Hetero- genität sprechen. Die für die türkische Gesellschaft auf- klärerischen Angebote thematisieren Lösungen, für die in der deutschen Gesellschaft weitgehend die Probleme 66 | fehlen. Über diese »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« »Denn sieh’, das Fremde liegt so nah! «Der Einbruch kultureller Heterogenität in die nationale Medienethik

5. Fazit: »Nicht alle sind im selben Jetzt da.« Literatur (Bloch 1935/1977, 104)

Das türkische Fernsehen in Deutschland stellt den in- Ackermann, Andreas (2004): Das Eigene und das teressanten Fall eines interkulturellen Medienangebots Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfer. In: dar, das für die Rezipienten, v. a. die türkischen Jugend- Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der lichen, nur unvollständige Anschlüsse an die deutsche Kulturwissenschaften. Bd. 3: Th emen und Tendenzen. Gesellschaft zulässt. Diese Anschlussproblematik stellt Stuttgart: Metzler, S. 139 – 154. auch eine medienpädagogische Herausforderung dar. Aufenanger, Stefan (2006): Medienkritik: Alte und Da weder technisch noch inhaltlich eine Einfl ussmög- neue Medien unter der Lupe. In: Computer + Unterricht, lichkeit für die deutsche Medienkontrolle besteht, ist die 64/2006, S. 4 – 9. Refl exion und Th ematisierung dieser kulturellen Span- Beck, Ulrich / Sznaider, Natan / Winter, Rainer nung vor allem eine Bildungsaufgabe. Der können aber (Hg.) (2003): Globales Amerika? Die kulturellen Folgen die Bildungsinstitutionen in Deutschland nicht adäquat der Globalisierung. Bielefeld: Transcript. nachkommen. Die schulische Medienkompetenzent- Bloch, Ernst (1935/1977): Erbschaft dieser Zeit (Ge- wicklung reagiert nicht auf muttersprachliche Medien- samtausgabe, Band 4). Frankfurt am Main: Suhrkamp. angebote für nicht erstsprachig deutsch sozialisierte Kin- Bonfadelli, Heinz (2002): Medieninhaltsforschung. der und Jugendliche. Dafür bräuchte es mehr Lehrkräfte Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Konstanz: UVK. mit Migrationshintergrund, die Entwicklung medien- Campbell, Joseph (1949/1990): Th e Hero with a Th ou- didaktischer Konzepte für »Deutsch als Fremdsprache« sand Faces (Bollingen Series in World Mythology). 2nd im Regelunterricht und, soweit möglich, den wirkungs- Edition. Princeton, NJ: Princeton University Press vollen Austausch über Medienkontrollmechanismen, zu- 1990. mindest auf europäischer Ebene. Anschlusskommunikati- Cassirer, Ernst (1923/1953): Philosophie der symbo- on, der refl exive Austausch über mediale Angebote, ist lischen Formen. Teil 1. Die Sprache (1923). Darmstadt: ohnehin eines der großen Defi zite der schulischen Me- wbg 1953. dienerziehung in Deutschland (vgl. Marci-Boehncke/ Cassirer, Ernst (1944/1996): Versuch über den Men- Rath 2007) – um so mehr, wenn es um Medieninhalte schen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (1944). geht, die sich den Lehrkräften nicht nur sprachlich, son- Hamburg: Meiner 1996. dern auch kulturell entziehen. Franck, Georg (1998): Ökonomie der Aufmerksamkeit. Die kulturelle Heterogenität der Medien – vor allem, Ein Entwurf. München: Hanser. wenn sie nicht explizit für den Zielgruppenmarkt Hafez, Georg (2005): Mythos Globalisierung. Warum Deutschland konzipiert sind – und ihre Rezeption sind die Medien nicht grenzelos sind. Wiesbaden: VS Verlag. in Deutschland nicht ausreichend thematisiert. Die vor- Kelly, Kevin / Wolf, Gary (1997): Push! Kiss your liegenden Daten (Zwischen den Kulturen 2006; Marci- browser goodbye, the radical future of media beyond the web. Boehncke/Rath 2007) zeigen, dass sich Jugendliche In: Wired Nr. 5.03, März 1997; http://www.wired.com/ zwischen den transkulturellen und kulturell heterogenen wired/archive/5.03/ff _push.html?pg=1&topic=&topic_ Angeboten weitgehend allein orientieren müssen. Eine set=; Zugriff 18.03.2007. normative Basis für Medienerziehung ›in Zeiten der Kant, KpV: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Globalisierung‹ müsste ein formales Beurteilungskriteri- Vernunft (1788), zitiert nach Kant. Werke. Band 6. Hg. um zur Verfügung stellen, dass zugleich die Zielrichtung Wilhelm Weischedel. Darmstadt: wbg 1983. medialer Angebote berücksichtigt. Die Grundzüge einer Kant, WiA: Immanuel Kant, Beatwortung der Frage: solchen Argumentation im Nachgang zu Kants Auf- Was ist Aufklärung? (1783), zitiert nach Kant. Werke. klärungsschrift wurden umrissen. Medienerziehung für Band 9. Hg. Wilhelm Weischedel. Darmstadt: wbg globalisierte Medienmärkte muss trans- und multikultu- 1983. relle Aspekte berücksichtigen. Die Bildungsinstitutionen Marci-Boehncke, Gudrun (2002): »Lonely« für sind dafür noch nicht ausreichend vorbereitet. Frauen, »Cowboy« für Männer. Ergebnisse einer interkul- turellen Studie zur geschlechtsspezifi schen Rezeption von Volker Schlöndorff s »Homo Faber«. In: Gansel, Carsten / Enslin, Anna-Pia (Hg.): Facetten der Informations- gesellschaft. Festschrift für Wolfgang Gast zum 60. Ge- burtstag. Berlin: Weidler, S. 301 – 312. Marci-Boehncke, Gudrun / Rath, Matthias (2007): Jugend – Werte – Medien: Die Studie. Wein- heim. | 67 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

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»Gemeinschaft und Fortschritt« (Rom 1971): Das vatikanische Grundlagendokument – Beitrag zu einer europäischen Medienethik

Gemeinschaft und Fortschritt: Grundzüge

Ungeachtet ihrer weltweiten Mission ist die römisch- Das Dokument (Päpstliche Kommission 1971), das im fol- katholische Kirche in Struktur, Disziplin und Doktrin genden nach den lateinischen Anfangsworten Communio eine unverkennbar europäische Institution – weshalb sie et Progressio CeP genannt wird, geht auf einen Auftrag bei Missionsaktivitäten auf anderen Kontinenten erheb- des 2. Vatikanischen Konzils (Rom, 1962 – 1965) zurück. liche Anpassungsleistungen erbringen musste und muss. Für das Verständnis des Dokuments ist dieser Umstand Die Kirche agiert von europäischem Territorium (Città nicht unwichtig. Das von Papst Johannes XXIII. die- del Vaticano) aus weltweit, auch mittels Medien. Der Va- sem Konzil abverlangte aggiornamento bedeutete eine tikan sendet Hörfunk, druckt L’Osservatore Romano, und Öff nung von Kirche und Th eologie zur modernen Kultur seit der Weihnacht 1995 ist er online. Die politischen und und somit auch eine verstärkte Auseinandersetzung mit kulturellen Wurzeln des Vatikan bzw. der katholischen modernen kulturellen Ausdrucksformen und Technolo- Kirche in der griechischen und römischen Antike ma- gien. chen ›Rom‹ zu einem primären Ort europäischer Tradi- Vorgeschichte und Entstehung des hier besprochenen tion: und zwar im Sinne von religiös-kultureller Herkunft Dokuments schildert Wagner (1971, 1 – 6). Die im en- ihrer Botschaft einerseits und deren Weitervermittlung geren Sinn medienethisch relevanten Fragen umfassen bis heute und auf Zukunft hin anderseits. Europa ist nur wenige der insgesamt 187 Absätze des Dokuments. mithin stark von der Kirche geprägt (s. für viele andere Über die inhaltliche Struktur kann man sich im Inhalts- Belege etliche Beiträge in Althoff 2004). Mindestens verzeichnis der deutsch-lateinischen Ausgabe leicht ei- siebzehn Jahrhunderte lang ist die katholische Kirche nen Überblick verschaff en. Hier nur soviel: CeP besteht insbesondere für Europa sowohl Segen als oft auch Ver- aus einem substantiellen und wichtigen Vorwort, drei hängnis gewesen. Hauptteilen, die jeweils wiederum in Kapitel unterglie- Trotz ausgeprägt europäischen Charakters erwartet dert sind, und einem Schlusswort. Im folgenden stellen man gemeinhin vom Vatikanstaat und von der Kirche wir die für die Medienethik wichtigsten Passagen vor. keinen nennenswerten Beitrag zum Th ema »Europäische Mit einem Paukenschlag in Form eines programma- Medienethiken«. Das liegt an Gründen, die hier nicht im tischen Satzes setzt der Text ein: einzelnen darzustellen sind. Ein Blick in das noch im Jahr 2001 novellierte Grundgesetz (legge fondamentale) des »Gemeinschaft und Fortschritt der menschlichen Gesell- Vatikans bestärkt solche Skepsis (www.vatican.va). Der schaft sind die obersten Ziele sozialer Kommunikation und Vatikan ist demnach ein vormodernes, monarchisches ihrer Medien, wie der Presse, des Films, des Hörfunks und Gebilde, man lese nur den ersten Satz »Der Oberste des Fernsehens«. (CeP 1) Pontifex, Souverän des Staates Vatikanstadt, hat die Fül- le der gesetzgebenden, ausführenden und richterlichen Das ist ein mutiger Satz, weil seine Autoren ohne lange Gewalten inne«. So wenig wie von Gewaltenteilung ist Umschweife und Absicherungen alles, was dann gesagt in diesem Gesetz von Pressefreiheit die Rede. Was also wird, einer normativen Prämisse unterstellen. Sie hat soll man von einem solchermaßen verfassten Staat und den Charakter einer Vision: Soziale Kommunikation von der zentralen kirchlichen Autorität für eine europä- und die Medien, die in sozialer Kommunikation agie- ische Medienethik des 21. Jahrhunderts erwarten, eines ren und funktionieren, beziehen ihren Sinn aus Werten, Europa, das die Aufklärung, monarchische Verfassungen die »Gemeinschaft« und »Fortschritt« heißen. Andere und zwei große Weltkriege hinter sich hat und sich zu Werte, wie etwa politischer oder ökonomischer Nutzen, den Menschenrechten, zu Grundrechten und insbeson- sind damit auf hintere Plätze verwiesen (von Ökonomie, dere zu Medien- und Meinungsfreiheit bekennt? Kann von Geld ist übrigens in dem ganzen Dokument keine – gefragt mit biblischen Skeptikern unter Bezug auf Jesus, Rede, was im Kontext der heutigen Kommerzialität der den Mann aus dem unscheinbaren Nazareth – aus Rom Medien ein gravierendes Defi zit des Textes ist). Dieser denn Gutes für eine europäische Medienethik kommen? grundlegenden Orientierung entspricht auch die im Text Ja, lautet die Antwort, die im folgenden begründet wird. geknüpfte enge Beziehung von »Gesellschaft« (convictus humanus) und »sozialer Kommunikation«. Die Option | 69 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

der katholischen Kirche ist eindeutig: Medien stehen vor »Sie vermitteln jedermann ein Bild des Lebens in der allem im Dienst der Gesellschaft, nicht irgendwelcher heutigen Welt und öff nen Geist und Sinn für die gegen- Organisationen, und man darf hinzufügen: Auch nicht wärtige Zeit. Sie sind daher geradezu unabdingbar, um der Kirche. die innersten, immer noch wachsenden Beziehungsge- Es folgen zwei Sätze über die zunehmende Durchdrin- fl echte und Leistungen unserer Gesellschaft zu ermög- gung der Medien: Immer mehr Menschen auf der Erde lichen.« (CeP 6) haben immer mehr Medien zur Verfügung, und Medien Von dieser Funktionalität her wird erneut, wie im Vor- prägen immer deutlicher die Denk- und Lebensweise wort schon, auf die normativen Prinzipien geschlossen, der Menschen; wir sprechen heute über eine »Mediali- die für das Handlungsfeld Medien gelten: sierung der Lebenswelt«. »Daher gelten für sie auch die Grundsätze, die nach So lautet die Botschaft und die Leitthese des Doku- christlicher Auff assung das Zusammenleben der Men- mentes: Die Sinn-Dimension der sozialen Kommuni- schen bestimmen. Ihrem inneren Wesen nach sind diese kation und ihrer Medien angesichts zunehmender Me- Erfi ndungen darauf angelegt, die Probleme und Erwar- dialisierung heißt »Gemeinschaft und Fortschritt« der tungen der menschlichen Gesellschaft sichtbar zu ma- menschlichen Gesellschaft. Die Medien sind infolgedes- chen, dadurch schneller Antworten zu fi nden und die sen »Instrumente der sozialen Kommunikation«. Menschen in immer engere Verbindung zueinander zu Die Kirche erblickt in ihnen »Geschenke Gottes« (CeP 2) bringen.« (CeP 6) Das ist ein Zitat von Papst Pius XII. Erinnert man sich Dies sei, stellen die Autoren am Ende des Abschnitts an die verheerenden päpstlichen Tiraden auf die Medien fest, der oberste Grundsatz für die christliche Beurtei- und deren Freiheit, wie sie vor allem im 19. Jahrhundert lung der Möglichkeiten, welche die Medien für den zu notieren waren, darf man sich an dieser Stelle des menschlichen Fortschritt bieten. Textes die Augen reiben – aber es steht da: Medien sind In Abschnitt 7 wird dieses Potential der Medien in den in der Sicht der Kirche »Geschenke Gottes«. CeP erin- weiteren theologischen Zusammenhang der Schöpfung nert daran, dass das Konzil bzw. die Autoren von CeP der Erde und des göttlichen Auftrags an die Menschen diese grundsätzlich positive Sicht der Dinge nicht plötz- gestellt, das Schöpfungswerk fortzuführen. Abschnitt 8 lich wie durch göttliche Eingebung gewonnen haben, geht dann auf das Th ema »Gemeinschaft« ein, das – wir sondern dass dieser Wandel über mehrere Pontifi kate erinnern uns – programmatisch das erste Wort des Do- zustande gekommen ist. In seiner großen Studie Ethik kuments ist. Menschen in geschwisterliche Verbindung der Massenkommunikation bei Papst Paul V. hat Deussen miteinander zu bringen, das gehört zur Erfüllung der (1973) die Entwicklung nachgezeichnet (Kurzfassung: »Ökonomie des Heils«. Und noch mehr: »Nach christ- Deussen 1979). CeP nennt auch den Grund für diese licher Glaubensauff assung ist die Verbundenheit und die Einschätzung: Medien sind Geschenke Gottes, » ... weil Gemeinschaft – das oberste Ziel jeder Kommunikation sie nach dem Ratschluss der göttlichen Vorsehung die – ursprünglich verwurzelt und gleichsam vorgebildet im Menschen brüderlich verbinden, damit diese im Heils- höchsten Geheimnis der ewigen Gemeinschaft in Gott werk Gottes mitwirken«. (CeP 2) zwischen dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, Die positive Sicht auf die Medien ist also theologisch die ein einziges göttliches Leben haben«. (CeP 8) begründet; sie gehört zur »Ökonomie des Heils«, wie das Die Option für menschliche Gemeinschaft und Ver- Werk Gottes mit und an den Menschen in der dogma- bundenheit der Menschen ist hier im zentralen Ge- tischen Th eologie genannt wird. Unterstützt wird diese heimnis der christlichen Lehre, der Dreifaltigkeit Gottes, Sicht auf die Medien durch Zitate aus den großen Kon- zugrundegelegt. In der theologischen Dogmatik sind zilsdokumenten, vor allem über die Kirche in der Welt mit Vater, Sohn und Geist keine drei Ego neben- oder von heute (Gaudium et Spes). Die restlichen Sätze haben miteinander gemeint; vielmehr sind die Beziehungen eher Vorwort-Charakter und können hier unberücksich- zwischen ihnen gemeint. Die Wertoption für die soziale tigt bleiben, bis auf den Abschnitt 5, der die Erwartung Kommunikation und für deren Instrumente, die Medi- und Hoff nung zum Ausdruck bringt, dass der Text bei en, am Anfang des Dokuments ist also im Zentrum des denen Zustimmung fi ndet, die berufl ich in den Medien christlichen Dogmas begründet. Dass Communio / Ge- tätig sind oder sich um den Fortschritt der Menschheit meinschaft für den christlichen Glauben zentral ist, wird bemühen; er setzt auf Gespräch und Zusammenarbeit dann weiter theologisch begründet, vor allem in Leben aller Menschen guten Willens, damit die Medien ihren und Sendung des Jesus von Nazareth. Sinn erfüllen. Mit dem 12. Abschnitt kehrt der Text zu den Medi- Im ersten Hauptteil bietet CeP »Elemente einer christ- en zurück. Medien knüpfen neue Verbindungen unter lichen Medienlehre« an. Die Medien sprechen zwar die den Menschen und schaff en sozusagen eine neue Spra- einzelnen Menschen an, erreichen und beeinfl ussen aber che. Erneut wird die Einheit stiftende Kraft der Medien 70 | die gesamte Gesellschaft. b eschworen, die zu Gerechtigkeit und Frieden führen Das vatikanische Grundlagendokument – Beitrag zu einer europäischen Medienethik

kann, zu Wohlwollen und Wohltun, zu gegenseitiger Aufbau durch eigene Mitarbeit beitragen.« Außerdem Hilfe, zur Liebe und endlich zur Einheit. Abschnitt 13 wird ein ausgewogenes Verhältnis gefordert zwischen leitet dann mit einem Aufruf an alle Menschen guten Information, Bildung und Unterhaltung sowie auch zwi- Willens zur Betrachtung der Medienpraxis über, und schen einem anspruchsvollen und einem volkstümlichen dazu gehört eben auch der ethische Bereich. Angebot für die Freizeit. Soweit die Kriterien für die Be- urteilung des Gesamtangebots. Dann kommen die Autoren in Abschnitt 17 auf die Kri- Ethik der Medien terien für die Angemessenheit jedweder einzelnen Kom- munikation zu sprechen: »Sie muss unter dem obersten Die ethischen Grundsätze stützen sich nach Abschnitt Gesetz der Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit und Wahrheit 14 von CeP auf den Begriff der Würde des Menschen – stehen. Reine Absicht und guter Wille allein genügen auch hier wird wieder ein theologisches Argument der nicht, um eine Kommunikation schon als positiv zu be- Verbindung unter den Menschen eingeführt: die Würde werten. Sie muss darüber hinaus die Dinge sachlich rich- des Menschen beruht theologisch gesprochen darin, dass tig darstellen. d.h. ein zutreff endes Bild des Zusammen- jeder Mensch in die Gemeinschaft der Söhne und Töch- hangs vermitteln und in sich glaubwürdig sein. Nicht ter Gottes berufen ist. allein das Th ema oder die vertretene Meinung bestim- Würde des Menschen – das ist das eine medienethische men den sittlichen Wert einer Kommunikation, sondern Grundprinzip. Das andere ist die Eigengesetzlichkeit des auch der Geist, aus dem heraus sie geschieht, die Art und jeweils betrachteten Mediums der sozialen Kommunika- Weise, mit der sie anspricht und Einfl uss zu nehmen tion. Unter Berufung auf das Konzilsdokument Gaudium sucht, ihre Begleitumstände und schließlich das Publi- et Spes über die Kirche in der heutigen Welt unterstreicht kum, an das sie sich wendet.« Abschnitt 18 untermauert CeP den Grundsatz, der für alle Bereiche menschlichen als letzter Abschnitt des ersten Hauptteils die Sicht der Daseins gilt: »Alle Einzelwirklichkeiten haben ihren festen Communio mit einem Argument aus der Lehre von der Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit, so- Kirche: Communio und Communicatio stehen in engstem wie ihre Eigengesetzlichkeit und Ordnung, die der Mensch Zusammenhang. anerkennen muss« – d. h. die Medien treten sozusagen Aus dem zweiten Hauptteil werden hier nur einige Ge- mit einem spezifi schen Anspruch dem Menschen ge- sichtspunkte herausgegriff en, die für Medienethik von genüber. Die sittliche Qualität menschlichen Handelns besonderer Bedeutung sind: So die Bedeutung der Me- entscheidet sich außer am Maßstab der menschlichen dien für das Gespräch der Gesellschaft (Abschnitte 19 und Würde auch an der Frage, ob der Mensch das Wesen des 24), positive Wirkpotentiale und Risikopotentiale der Mediums, das er gebraucht, richtig versteht und entspre- Medien (Abschnitte 20 und 21). Abschnitt 22 präsentiert chend richtig gebraucht. Kenntnis der Medien ist daher konträre Meinungen zur Rolle der Medien beim Verfall grundlegend und wird als »Gewissenspfl icht« bezeichnet. von Normen des Sittlichen, hält das für eine off ene Frage, CeP wendet dies direkt im Abschnitt 15 auf Kommuni- jedenfalls seien die Mängel in der Gesellschaft selbst zu katoren an, dann auf diejenigen, die anderen helfen sol- suchen. Im Zusammenhang der Rede von der Öff ent- len, ein kritisches Urteil über die Qualität der Medien zu lichen Meinung (Abschnitte 24 – 32) wird Freiheit der gewinnen, also auf Eltern, Lehrer, Kritiker usf. Betont Meinungsäußerung als unbedingt erforderlich bezeich- wird dies insbesondere mit Blick auf Leser, Hörer und net, allerdings in den Grenzen der Sittlichkeit (honestas) Zuschauer: »Sie sollen alles, was ihnen durch die Medien und des Gemeinwohls. Auf die Grenzen von Propagan- geboten wird, richtig deuten, daraus möglichst großen da weisen die Abschnitte 29 und 30 hin. Gewinn ziehen und so schließlich an ihrem Platz das Es folgen Ausführungen zum grundlegenden Recht auf Leben der Gesellschaft aktiv mitgestalten. Nur dann ent- Information (Abschnitt 33 – 43) und zur Kommunika- falten die Kommunikationsmittel«, schließt Abschnitt 15, tionsfreiheit (44 – 47). Es würde zu weit führen, dies hier »ihre volle Wirksamkeit«. detailliert darzustellen; zweifellos gehört dies Kapitel zu Abschnitt 16 nennt dann Kriterien für die Beurteilung den am sorgfältigsten ausgearbeiteten des ganzen Doku- des medialen Gesamtangebots in einer Region. Inwie- ments. Die Autoren beschreiben auch recht umfassend weit dient es dem Gemeinwohl, konkreter: Wieweit die Probleme, die mit der Nachrichtengebung verbun- fördert das Gesamtangebot der Medien durch Infor- den sind, und unterstreichen die Verantwortung der mation, Bildung und Unterhaltung das Leben und die Kommunikatoren bei der Schilderung von Verbrechen Entwicklung der betreff enden Gesellschaft? »Die Medi- und Brutalität. en sollen Informationen so vermitteln, dass der Ereig- Es folgen Ausführungen zu Erziehung, Bildung, Unter- niszusammenhang nicht zerrissen, sondern im Gegenteil haltung (Abschnitte 48 – 53), zu den Künsten (Abschnitte hergestellt wird, damit alle Rezipienten die Probleme 54 – 58) sowie zur Werbung (Abschnitte 59 – 62), mit zahl- der Gesellschaft wirklich durchschauen und zu ihrem reichen moralischen Anwendungen versehen, häufi g | 71 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

auch mit tiefschürfenden Betrachtungen, etwa über das (90), sowie die Notwendigkeit einer weltweiten Perspek- Th ema »Kunst und sittliches Leben«. Oder fast prophe- tive in der Medienpolitik, mit dem Ziel, dass »möglichst tisch, wenn man den Bedeutungszuwachs der Werbung alle Völker den ihnen gebührenden Platz im weltweiten in den Medien seit 1971 bedenkt, folgende Äußerung: Gespräch der Menschheit einnehmen können« (91). »Die großen Geldsummen, welche die Medien aus der Den zweiten Hauptteil beschließen Abschnitte über Werbung ziehen, bedrohen ihre eigenen Grundlagen. die Zusammenarbeit zwischen den Völkern (Abschnitte Stil und Art der Werbung können den gefährlichen 92 – 95), wobei besonders der Umgang mit den Entwick- Eindruck hervorrufen, als trage beinahe das ganze Kom- lungsländern Berücksichtigung fi ndet; sowie zwischen munikationswesen Werbe- und Propagandacharakter.« Christen, Menschen anderer Glaubensrichtungen und (CeP 62). allen Menschen guten Willens (96 – 100). – Soweit ein Der zweite Hauptteil beschreibt die Bedingungen, un- Durchgang durch den Text; im folgenden eine Bewer- ter denen soziale Kommunikation mit Hilfe der Medi- tung. en gelingen kann. Hier ist Verantwortung gefragt. »Die Aufgaben, welche die Kommunikationsmittel in der Ge- sellschaft haben, erfüllen sich nicht von selbst ... Jeder Europäische Identität und Medienethik muss sich seiner besonderen Rolle bewusst sein und sich als einzelner und als Glied der Gesellschaft darauf vor- Was können die Perspektiven von CeP zur Entwicklung bereiten. Dem Staat, der Kirche und den Erziehern fal- einer europäischen Medienethik beitragen? Europa ist, len dabei Verpfl ichtungen besonderer Art zu, damit die wie die Debatten um die europäische Verfassung deut- Medien zum Wohl der Gesellschaft tatsächlich leisten, lich gezeigt haben, auf der Suche nach seiner Identität. was sie versprechen.« (CeP 63) Worin soll die bestehen? Was ist der Kern Europas, was Zunächst wird die Medienpädagogik besprochen, als macht Europa aus in der Weise und mit der Folge, dass Ziel der selbständige und gekonnte Umgang mit Medi- sich alle dazugehörenden Gesellschaften und Staaten en genannt, der dazu führen soll, dass die Mediennutzer und vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger Eu- »mitwirken im Kampf um die Gerechtigkeit in der Welt,« ropas darin wiedererkennen und sich darin verorten damit wenigstens die gröbsten Ungleichheiten zwischen können? Einige schlagen ein Marktmodell vor, auch für armen und reichen Völkern beseitigt werden (CeP 65). die Medien. Wenn aber von Medien, von moralischen Allgemeinere Beschreibungen der Rolle der Kommu- Standards und ethischen Refl exionen darüber die Rede nikatoren (Abschnitte 71f.) leiten dann über zu ihren ist, sind kulturelle und das heißt regionale, sprachlich Möglichkeiten und Pfl ichten (73 – 80), wobei auch der geprägte Gebilde und Traditionen zu berücksichtigen; Aufgabe der Medienkritiker und der Verleger bzw. Me- über die muss man sich austauschen, ohne dass man sie dienunternehmungsbesitzer Aufmerksamkeit geschenkt unbedingt angleichen müsste. Zum Kernbestand wech- wird; dann werden Möglichkeiten und Pfl ichten der selseitig wahrgenommener und anerkannter kultureller Rezipienten erläutert (Abschnitte 81 – 83). Die Möglich- Besonderheit gehören die moralischen Werte und die keiten der Einfl ussnahme durch die Rezipienten werden Refl exionen auf gelingendes menschliches und gesell- größer eingeschätzt als es allgemein geschieht (Ab- schaftliches Miteinander, und das eben auch insoweit sie schnitt 81). Dann heißt es: »Leser, Hörer und Zuchau- sich auf den Medienbereich beziehen. Mit anderen Wor- er werden dann eine aktive Rolle spielen, wenn sie die ten: Eine europäische Medienethik im Sinne einer in- Informationen richtig deuten und nach Ursprung und haltlich und sprachlich einheitlichen Werte-Architektur Zusammenhang bewerten, wenn sie diese gewissenhaft ist weder erforderlich, noch ist sie wünschenswert. Dies auswählen und kritisch beurteilen, wenn sie die Infor- vorausgesetzt, könnte europäische Medienethik als eine mationen gegebenenfalls aus anderen Quellen ergänzen gemeinsame Anstrengung der Kommunikations- und und ohne Scheu Zustimmung, Zweifel oder Ablehnung Medienwissenschaftler sowie der Medienpraktiker in off en äußern.« (CeP 82). Schließlich fordert das Doku- den europäischen Kultur- und Sprachräumen Europas ment die Rezipienten auf, sich zu Nutzervereinigungen betrachtet werden, sich ständig refl exiv mit der Medien- zusammenzuschließen (Abschnitt 83). praxis und den sie bestimmenden moralischen Standards Es folgen Abschnitte über die Zusammenarbeit zwi- zu befassen und in den internationalen und interkultu- schen den Bürgern und dem Staat (84 – 91). Unabhän- rellen Austausch darüber Zeit, Geld und Arbeitskraft gige gesellschaftliche Kontrolle wird sehr empfohlen, zu investieren. Es wird sich im Verlauf eines solchen mit dem Ziel, »staatliche Eingriff e und ein Überge- Austauschs zeigen, ob man zu gemeinsamen Standards wicht wirtschaftlicher Interessen zu verhindern«(88). kommt – etwa einem europäischen Pressekodex, den Abschnitt 89 ist dem Jugendschutz gewidmet. Weitere zum Beispiel Protze (2006) fordert – oder ob man es Th emen sind die Sicherung von Angeboten, die keinen bei unterschiedlichen Standards und Kodizes in den ein- 72 | Gewinn a bwerfen, aber gesellschaftlich notwendig sind zelnen Ländern Europas belässt. Zu welcher Sicht auf Das vatikanische Grundlagendokument – Beitrag zu einer europäischen Medienethik

die Identitätsfrage und zu welchen Folgerungen daraus Gemeinwohlorientierung: Über das Wohl von Individuen man auch gelangt: wichtig ist jedenfalls, medienethische und Gruppen und über deren jeweiligen Nutzen hinaus Refl exion in den Kernbereich kultureller Selbstverstän- gilt als Zielwert gesellschaftlichen (und auch staatlichen) digung der Völker Europas einzuführen. Medienfreiheit Gestaltens einen optimaler Zustand der Verhältnisse in allen Staaten Europas zu sichern, muss dabei immer dergestalt, dass sich der einzelne Mensch frei entfalten vorrangiges Ziel aller medienbezogenen Aktivitäten in kann. Dem sollen auch die Medien dienen, eben in ih- Bildung, Politik, Publizistik und gesellschaftlicher Praxis rer gesellschaftlichen Funktion als Instrumente sozialer sein (vgl. Wunden 1998); soweit mindestens müsste der Kommunikation. Grundkonsens reichen, um den eben geforderten Aus- Eigengesetzlichkeit: Die Ziele der Medienkommunika- tausch möglich und sinnvoll zu machen. Das »Cicero«- tion sind – von den obersten genannten abgesehen – aus Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2007 den Strukturen und Funktionen der Medien selbst zu ist aus deutscher Sicht ein weiterer Lichtpunkt von juri- gewinnen. Was Medienqualitäten sind, erschließt sich stischer Seite auf diesem Weg. vor allem aus der Funktionalität der Medien: Funktion Das vatikanische Dokument Gemeinschaft und Fort- bei der Bildung der öff entlichen Meinung; Darstellung schritt bietet in einem solchen konzeptionellen Rahmen der Lebensverhältnisse und der Erörterung existentieller einen validen Beitrag zur Grundlagendiskussion. Dazu Fragen, vor allem in Kunst, Th eater und Film; Wahrheit drei Th esen: und Wahrhaftigkeit bei der Präsentation umstrittener Sachverhalte in der aktuellen Berichterstattung. 1. Th ese: Die normativen Argumentationen und Werto- rientierungen von CeP bieten einen allgemeinen ethischen 2. Th ese: Der Ansatz eines normativ auslegbaren Verständ- Rahmen, der einerseits weit genug ist, um Diskursen und nisses der Medien als Instrument sozialer Kommunikation Debatten Raum zu lassen, der anderseits stabile Orientie- und Vehikel des Gesprächs der Gesellschaft ist nach wie vor rungen gibt für eine europäische Kommunikations- und aktuell. Medienkultur. CeP vertritt eine weithin akzeptierte Auff assung publi- Fast 36 Jahre sind seit der Veröff entlichung von CeP zistisch-medialer Aktivität, die sich auch aus der Analy- vergangen, viel Zeit angesichts der exponentiell sich be- se des publizistischen Prozesses ergibt. Ganz in diesem schleunigenden Medienentwicklung, ich nenne nur die Sinn lieferte Deussen in einer abschließenden Passage Stichworte Kommerzialisierung, Digitalisierung und seines bereits zitierten Buches eine Kritik am Verständ- Internet. Trotz seines Alters bietet das Dokument aber nis Pauls VI. von publizistischer Kommunikation als einige Ansätze, die zur Diskussion global von Belang, »Hinsagekommunikation« vom Kommunikator zum wenn auch sicherlich nicht unumstritten sind. Einige, Rezipienten (Deussen 1973, 269) und entwickelte dem- die mir wichtig erscheinen, möchte ich kurz benennen: gegenüber ein Verständnis des publizistischen Prozesses, Wertbegründung: Kommunikation ist auf Gemeinschaft das mit CeP kongruent ist. Haller versteht »Medien- hin angelegt; es ist demnach also ein oberstes Kriteri- kommunikation nicht als Warenproduktion, nicht als um gelingender Kommunikation, ob sie auf Gemein- publizistische Tätigkeit klug gewordener akademischer schaft zielt, anders gesagt, ob sie Kooperation unter den Individuen, sondern als einen Prozess der gesellschaft- Menschen fördert. Dies gilt auch für die Medien, die als lichen Selbstverständigung – dasselbe in der Vokabel Instrument sozialer Kommunikation verstanden werden. der derzeit gängigen Systemtheorie: als referenzielle CeP biete eine Ethik eudaimonistischen Typs an, die ihre Selbstorganisation der komplex strukturierten Nach- Kraft aus einem ganzheitlichen Verständnis medialer Industriegesellschaft« (Haller 1999, 9). Natürlich sind Kommunikation bezieht. Die Einordnung der mit »Ent- Begriff e wie »Gemeinschaft«, »Selbstverständigung« und wicklung / progressio« gemeinten Wertorientierung auf »Gespräch« grundsätzlich, nicht naiv zu verstehen; für die Dritte Welt hin fällt hier ein wenig aus dem Konzept, die Frage, wie diese Prozesse sich konkret im Medien- will man sie nicht unmittelbar mit der Geschwisterlich- kontext vollziehen, sind empirische Einzelstudien not- keit in Verbindung bringen, die mit »communio« auch wendig, wie sie für TV-Talkshows mehrfach vorgelegt gemeint ist. Die Hinzufügung von »progressio« zu »com- wurden, u. a. von Tenscher / Schicha (2002), für die munio« ist vermutlich eine Hommage an den 1971 regie- politischen Talkshows jüngst von Schultz (2006). renden Papst Paul VI., der 1967 die Enzyklika Popul- Medien als Mittel der Selbstverständigung der Ge- orum Progressio über die Entwicklung der Dritten Welt sellschaft: Auf diese Sicht der Dinge, die schon Prutz veröff entlicht hatte (zur Rolle Pauls VI. bei der Lösung (1845) in seiner Geschichte des deutschen Journalismus eines Medienproblems der katholischen Kirche, nämlich vertrat, läuft dann auch seit CeP die Rezeption in der bei der Aufhebung des Index der verbotenen Bücher s. katholischen Sozialethik und Medienethik hinaus: Ge- die Studie von Schwedt 1999). nannt seien hier Auer (1988) in einem Gedenkband | 73 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

für den »Medienbischof« Moser und im Handbuch der ausführlich und was darauf folgt, gestützt auf Deussen; christlichen Ethik (1993): das Kapitel »Zur Ethik der In- und zieht daraus Konsequenzen für die Praxis der Me- formationsmedien«; es beginnt mit einem Beitrag des dienpädagogik. Texte von Wörther (2002,2004) und SDR-Intendanten Bausch und endet mit dem Beitrag Henning (2002) zeigen, in welche Richtung sich eine des österreichischen Moraltheologen Virt. Wagner Th eologie von Medien und Kommunikation nach CeP (1971, 28ff .) unterstreicht ebenfalls die Bedeutung des entwickeln könnte, und belegen, dass die Botschaft von Konzepts. CeP in der Praxis der kirchlichen Bildungsarbeit ›ange- kommen‹ ist. 3. Th ese: Positive Auswirkungen hat CeP auf dem Feld der Ein anderes Feld, auf dem CeP weiterführende Impulse katholischen Bildungsarbeit und auf dem Feld internati- gesetzt hat, waren international besetzte Studienwochen onalen Austauschs zu medienethischen Th emen gehabt. Es zu Medienfragen. Aus einem der »Cavaletti«-Seminare wäre an der Zeit, hier wieder anzuknüpfen und zur Ent- (in der Nähe Roms) entstand die Planung für einen me- wicklung von Initiativen zur Medienbildung und wissen- dienethischen Reader, zu dem der Verfasser mit dem schaftlich-praktischem Austausch auf dem Feld der Medie- polnischen Moraltheologen Janusz Balicki eine ver- nethik beizutragen, mit einem europäischen Ansatz. gleichende Studie zur Berichterstattung über die Kata- strophe von Tschernobyl beitrugen – eine europäische In der innerkatholischen Debatte fi ndet CeP sonst Kooperation (Balicki / Wunden 1994). überraschend wenig Beachtung, lässt man einmal gele- Zusammenfassend: Gegen alle Vorbehalte empfi ehlt es gentliche Beiträge in der katholischen Fachzeitschrift sich, die kommunikationswissenschaftlichen und medie- Communicatio Socialis außer Betracht. Eine explizite nethischen Grundlagen, wie sie im Dokument Commu- Darstellung der Grundthesen ist eher eine Seltenheit. nio et Progressio niedergelegt sind, als wertvollen Beitrag Immerhin konnte Gasper (1991) in einer Broschüre zu einer europäischen Exploration im Medienbereich zu zum jährlichen Welttag der Kommunikationsmittel die betrachten. Eine Medienethik im Sinne der Förderung Grundzüge von CeP darstellen. In dem repräsentativen des gesellschaftlichen Gesprächs und der Verständigung Sammelband zur Medienethik (Dräger / Schneider zwischen Menschen und Gruppen kann und sollte ein 2001) sucht man bei etlichen prominenten katholischen wichtiger Teil dessen sein, was als kulturell verstandene Autoren Hinweise auf CeP vergeblich. Festzustellen ist europäische Identität zu fassen und zu entwickeln ist. auch, dass die auf CeP später folgenden Texte, wie Ae- tatis Novae (Päpstlicher Rat 1992) oder Ethik in der so- zialen Kommunikation (Päpstlicher Rat 2000) CeP zwar Literatur erwähnen und sich darauf beziehen, aber seine Tiefe und Zielsetzung nicht mehr erreichen. In Deutschland Althoff, Gerd (Hrsg.) (2004): Zeichen – Rituale – schließlich erschien ein gemeinsames Mediendokument Werte. Münster. beider großer christlicher Kirchen (Kirchenamt Ekd / Auer, Alfons (1988): Verantwortete Vermittlung. Bau- Sekretariat DBK 1997), das aber gerade in den Grund- steine einer medialen Ethik. In: Glässgen, Heinz / lagenaussagen der theologischen Anthropologie hinter Tompert, Hella (Hrsg.): Zeitgespräch. Kirche und CeP zurückbleibt (s. Wunden/Kos 2000). Insofern Medien. Freiburg. S. 63 – 84. scheint die katholische Kirche einen eigenen Schatz ver- Balicki, Janusz/wunden, Wolfgang (1994): »And a graben zu haben. Die Zeit für eine Ausgrabung scheint Th ird of the Water Turned Bitter”: Chernobyl, Truth, Me- gekommen – vielleicht 2011, zum vierzigsten Jahrestags dia Technology, and the Flow of Information. In: Rossi, des Erscheinens von CeP? Die – gleichwohl kritische – Philip J. / Soukup, Paul A. (Hrsg.): Mass Media and Verteidigung der positiven Sicht auf die Medien in CeP the Moral Imagination. Kansas City. S. 162 – 177. bei Schockenhoff (2000, 284 – 286) lässt hoff en. Bausch, Hans / Auer, Alfons / Virt, Günter CeP enthält etliche Abschnitte zur Bedeutung von Bil- (1993): Zur Ethik der Informationsmedien. In: Hertz, dung im Medienbereich: sowohl für die Kommunikato- Anselm et al. (Hrsg.): Handbuch der christlichen Ethik. renseite, also vor allem für die Journalisten-Ausbildung, Aktualisierte Neuausgabe. Band 3. Freiburg. S. 531– 556. als auch für die Rezipientenseite, besonders für die Me- Deussen, Giselher (1973): Ethik der Massenkom- dienpädagogik. In Deutschland hat das Referat Medi- munikation bei Papst Paul VI. München – Paderborn enpädagogik im Sekretariat der Deutschen Bischofskon- – Wien. ferenz in den vergangenen Jahren einen Zertifi katskurs Deussen, Giso (1979): Wahrheit und öff entliche Mei- entwickelt, in dem Multiplikatoren für die Bildungsar- nung. Köln. beit ausgebildet werden. Die Prinzipien von CeP und Drägert, Christian / Schneider, Nikolaus Th emen der Medienethik gehören selbstverständlich (Hrsg.) (2001): Medienethik. Freiheit und Verantwor- 74 | zum Curriculum. Hoffmann (1993) diskutiert CeP tung. Stuttgart – Zürich. Gasper, Hans (1991): Die Kernaussagen von Commu- Schultz, Tanjev (2006): Geschwätz oder Diskurs? Die nio et Progressio. Th eologische und sozialethische Überle- Rationalität politischer Talkshows im Fernsehen. Köln. gungen. In: Zentralstelle der Deutschen Bischofskon- Schockenhoff, Eberhard (2000): Zur Lüge ver- ferenz, Referat Kommunikationspädagogik (Hrsg.): dammt? Politik, Medien, Medizin, Justiz, Wissenschaft Kirche und Kommunikation. Zur bleibenden Aktualität und die Ethik der Wahrheit. Freiburg. von Communio et Progressio. Bonn, S. 24 – 39. Schwedt, Herman H. (1999): Papst Paul VI. und die Haller. Michael (1999): Die Zukunft der Journalistik. Aufhebung des römischen Index der verbotenen Bücher In: relation. Leipzig. 6.Jg./ April 1999/ Nr. 8. S. 8 – 10. in den Jahren 1965 – 1966. In: Geschichtsverein für das Henning, Karsten (2001): Medien – Kommunika- Bistum Aachen e.V. (Hrsg.): Papst Paul VI. Zur 100. tion und der Durst nach Leben. In: Jacobi, Reinhold Wiederkehr seines Geburtstages 1897 – 1997. Neustadt a.d. (Hrsg.): Medien Markt Moral. Vom ganz wirklichen, Aisch. S. 45 – 111. fi ktiven und virtuellen Leben. Freiburg, Basel. Wien. Tenscher, Jens / Schicha, Christian (Hrsg.) S. 129 – 134. (2002): Talk auf allen Kanälen. Angebote, Akteure und Kirchenamt der EKD / Sekretariat der Deutschen Bi- Nutzer von Fernsehgesprächssendungen. Wiesbaden. schofskonferenz (Hrsg.) (1997): Chancen und Risiken Wagner, Hans (1971): Einführung und Kommentar. In: der Mediengesellschaft. Gemeinsame Erklärung der Deut- Päpstliche Kommission (1971, s. oben), S. 1 – 148. schen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Wörther, Matthias (2002): Jesus – Meister der Kirche in Deutschland. Hannover, Bonn. Kommunikation. In: Jacobi, Reinhold (Hrsg.): Me- Päpstliche Kommission für die Instrumente der Sozi- dien Markt Moral. Vom ganz wirklichen, fi ktiven und alen Kommunikation (1971): Pastoralinstruktion Com- virtuellen Leben. Freiburg, Basel, Wien. S. 123 – 128. munio et Progressio über die Instrumente der sozialen Wörther, Matthias (2004): Kirchliche Medienkom- Kommunikation, veröff entlicht im Auftrag des II. Vati- petenz aus katholischer Sicht. In: Pirner, Manfred / kanischen Ökumenischen Konzils. Von den deutschen Breuer, Thomas (Hrsg.): Medien – Bildung – Reli- Bischöfen approbierte Übersetzung, kommentiert von gion. Zum Verhältnis von Medienpädagogik und Religi- Hans Wagner. Trier. onspädagogik in Th eorie, Empirie und Praxis. München. Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel S. 78 – 8 (1992): Pastoralinstruktion »Aetatis novae« zur sozialen Wunden, Wolfgang (Hrsg.) (1998): Freiheit und Me- Kommunikation zwanzig Jahre nach Communio et Pro- dien. Beiträge zur Medienethik, Bd. 4. Frankfurt a.M. gressio. Bonn. (auch: Münster, 2005). Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel Wunden, Wolfgang / Kos, Elmar (2000): Anthro- (2000): Ethik in der sozialen Kommunikation. Bonn. pologie, Th eologie und Medien. Das Kapitel 3 der Kirchen- Protze, Manfred (2006): Globale Medien – Nationale erklärung »Chancen und Risiken der Mediengesellschaft« Ethik? In: Deutscher Presserat (Hrsg.): Deutscher Pres- reicht nicht aus. In: Communicatio Socialis 33. Jg., H.4. serat. Selbstkontrolle der gedruckten Medien 1956 – 2006. S. 379 – 412. Bonn. S. 32 – 35. Prutz, Robert (1845): Geschichte des deutschen Jour- nalismus, 1. Teil, Hannover. (Faksimiledruck nach der 1. Aufl ., Göttingen 1971).

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Roger Blum

Ein europäisches Modell für die Struktur der Ethikinstitutionen?

1. Personenbeispiele aus Amerika und Europa Le Monde müsse auf gewisse Passagen des Buches La face cachée du ‚Monde’ öff entlich reagieren. Eine Wo- Im Mai 2005 wurde der 65jährige Byron E. Calame che später publizierte Solé die gestrichenen Zeilen, Public editor der New York Times. Er übernahm damit die zusammen mit einer Erklärung Edwy Plenels. Sei- Funktion des Ombudsmanns, der die Aufgabe hat, die ne Nachfolgerin wurde die Monde-Journalistin und Berichterstattung des Blattes zu beurteilen, die Sorgen Schriftstellerin Véronique Maurus. und Anliegen der Leserinnen und Leser zu behandeln Achille Casanova, der 65jährige Tessiner mit lan- und mindestens alle zwei Wochen in der Rubrik Week in gem Wohnsitz in der Deutschschweiz, ist seit 2005 Review der Sonntagsausgabe eine Kolumne zu schreiben. Ombudsmann der Schweizerischen Radio- und Fern- Calame stiess von aussen zur New York Times. Er war sehgesellschaft (SRG) für die deutschsprachigen Pro- zuvor Deputy Managing Editor des Wall Street Journal gramme. 2 Ursprünglich Journalist für das Radio, dann gewesen und ein Journalist, der viele Preise eingeheimst für das Fernsehen der italienischen Schweiz, übte er hatte. Er gehört zu den ethisch bewussten Persönlich- am Sitz der schweizerischen Regierung in Bern 24 Jah- keiten der Branche. Bereits im Mai 2007 endete seine re lang das Amt eines Vizekanzlers und Bundesrats- Amtszeit. Sein Vorgänger, Daniel Okrent, der vom sprechers aus. Als Ombudsmann behandelt er jährlich Life Magazine und dem Time-Verlag gekommen war, über 150 Beschwerden, in der Regel auf schriftlichem übte die Funktion bloss eineinhalb Jahre aus. Die New Weg, manchmal in der Form einer Aussprache und York Times hat sich spät, erst 2003, dafür entschieden, Mediation zwischen Beschwerdeführer und Sendere- eine Ombudsstelle einzurichten, und sie beruft jeweils daktion. Auch er hat eine feste Kolumne, und zwar Journalisten von aussen für eine kurze Amtszeit. Anlass, in der Zeitschrift Link, dem Blatt des Publikumsrates die Stelle zu schaff en, gab die Jayson Blair-Aff äre, als das der SRG in der deutschen Schweiz. Blatt in mindestens 36 Fällen Texte eines jungen Repor- Anton Sahlender, der langjährige stellvertretende ters publiziert hatte, die gefälscht oder Plagiate waren. Chefredakteur der Main-Post, ist seit 2004 gleichzei- Dieser Tiefpunkt in der Geschichte des stolzen New tig Leseranwalt der Zeitung (Stapf 2006: 347, Kaiser Yorker Blattes führte zu einer medienethischen Aufrü- 2007). Er veröff entlicht seine Stellungnahmen in der stung. Zeitung und im Internet (unter www.mainpost.de/ Ombudsstellen bei Medien sind Organe der Instituti- mainfranken/leseranwalt) und sieht seine Aufgabe onsethik. Sie ergänzen andere Infrastrukturen, die den darin, ähnlich wie ordentliche Anwälte »eine ehrliche ethischen Diskurs fördern und die Qualität sichern sol- Beratung« zu bieten. 3 Er ist bis jetzt in Deutschland len. Dass Ombudsstellen dabei nützlich sein können, der einzige Ombudsmann im Sinne der Ethikinstitu- haben nicht nur amerikanische Medienhäuser erkannt tionen geblieben, denn Karin Stemmler, die Om- (Russ-Mohl 1994: 165 – 176). Auch in Europa gewinnt budsfrau der Berliner Zeitung, hilft den Leserinnen die Institution an Boden (vgl. auch Stapf 2006: 263 – 269, und Lesern, Probleme mit Firmen und Behörden zu 334, 347, Cornu 1997: 25). Vier Beispiele sollen das illus- lösen, ist also eher eine Agentin der Lebenshilfe und trieren: nicht eine Mediatorin zwischen Leserinteressen und Redaktion (Paul 2005). Robert Solé, der 61jährige Franzose mit ägyptischen Kurt Felix, der 66jährige frühere Quiz-Master und Wurzeln, mehrfacher Romanautor, wirkte von 1998 Spassmacher des Fernsehens, wirkt seit Februar 2007 bis 2006 als Médiateur von Le Monde 1 und war vor- als ›Merker‹ des St. Galler Tagblattes. Seine Aufgabe her 29 Jahre Redakteur am selben Blatt, am Schluss ist es, »im Dienste der Leserschaft Bilder kritisch zu Mitglied der Chefredaktion. Auch er stand im Dialog betrachten und auf die Redaktion einzuwirken« (So in mit den Leserinnen und Lesern, betreute zusammen der Pressemitteilung vom 1. Februar 2007). Er teilt die mit seinem Team die Leserbriefe, behandelte Leser- Aufgabe des ›Merkers‹ mit zwei anderen Beauftragten, beschwerden und schrieb jeden Samstag eine Kolum- dem Sprachbeobachter Stefan Stirnemann und ne, in der er jegliche Freiheit hatte, das eigene Blatt zu dem Team der Zeitschrift klugscheisser. Ihre Beobach- kritisieren. Ein einziges Mal, 2003, strich ihm Chef- tungen publizieren sie in der Rubrik Merker. Sie be- 76 | redakteur Edwy Plenel 15 Zeilen, als er schrieb, handeln keine Leserbeschwerden. 2. Infrastrukturen der Medienethik: Presseräte und Ombudsleute

Die Strukturen der Selbstregulierung der Medien ha- Tab. 1: Presseräte und Ombudsleute nach Kontinenten ben sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts aus systemtheoretischen und demokratietheoretischen Überlegungen entwickelt. Systemtheoretische Gründe Kontinent Länder mit Länder mit für die Selbstregulierung ergaben sich aus dem Struk- (mit Anzahl Länder) Presseräten Ombudsleu- turwandel der Öff entlichkeit, der nach der Ablösung der ten bürgerlichen Öff entlichkeit der Salons, Clubs und Kaf- feehäuser durch die Massenmedien in einem weiteren Europa (50) 27 13 Schritt zur Abkoppelung der Medien von den Parteien und damit zu einem autonomen Mediensystem führte. Nordamerika (2) 2 2 Dieses System bedurfte der eigenen Ethik, zumal sich die Journalistinnen und Journalisten immer mehr von Lateinamerika (29) 2 2 den früheren politischen Subkulturen mit deren eigenen bürgerlich-liberalen, katholischen oder sozialistischen Ozeanien (13) 2 1 Ethiken lösten. Demokratietheoretische Gründe für die Selbstregulierung waren deshalb gegeben, weil eine Afrika (54) 15 0 engmaschige Regulierung der Medien durch den Staat die Pressefreiheit unterlaufen und ad absurdum führen Asien (37) 15 0 würde. Die Demokratie bedarf freiheitlicher Medien, und diese müssen in ihrer Regulierung so frei wie nur möglich sein (vgl. Thomass 1998, Stapf 2005). Die Struktur, die Stellung und die Zusammenset- Eine solche Selbstregulierung kommt nicht ohne Insti- zung der Presseräte ist schon oft untersucht worden tutionen in der Form von Infrastrukturen aus (vgl. Stapf (etwa in C ornu 1997: 19 – 26, Bertrand 1999: 87 – 149, 2006: 223, 227ff ., Russ-Mohl 1993 u. 1994). Es können Wiedemann 1990, Wiedemann 1994, Saxer 1992, zwei konträr einander gegenüberstehende Typen von Rüttimann 1994, Blum 1993, Blum 2000, Blum 2001, Ethikinstitutionen beobachtet werden: Presseräte und Nobel 1997, Rettenmund 2005, Stauffacher 2005). Ombudsstellen. In einigen europäischen Ländern, zu- Sie soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Viel weniger erst 1916 in Schweden (Bertrand 1999: 111), etablierte durchleuchtet wurden bisher die Medien-Ombudssstel- sich ein nationaler Presserat, und viele Länder anderer len (immerhin bereits durch Everts 2003, Weichert Kontinente ahmten das Beispiel nach. 4 In einigen ame- 2004, Elia 2005, Trechsel 2005, Elia 2007).Werfen rikanischen und europäischen Staaten, zuerst 1967 beim wir daher einen kurzen Blick auf sie: Wo gibt es solche Courrier-Journal in Louisville (Stapf 2006: 264), wurde Ombudsstellen für welche Medien? die Idee des dezentralen, familialen Medien-Ombuds- mannes verwirklicht. Wenn wir die Länder, in denen die 1. Wir fi nden Ombudsstellen in insgesamt 15 Ländern, 5 eine oder die andere Institution Einzug gehalten hat oder 14 davon mit dezentralen-familialen Ombudsleuten, in denen beide existieren, nach Kontinenten betrachten also solchen, die direkt bei einem Medienhaus oder (Tab. 1), so fällt sofort auf, dass es in Afrika und Asien einer Medienkette angesiedelt sind, aber nirgends nur Presseräte oder Medienbeobachtungsstellen, aber gibt es im Printbereich so viele wie in den USA (etwa keine Ombudsleute gibt und dass die Zahl der Länder 40) und nirgends im elektronischen Bereich so viele in Lateinamerika und Ozeanien, die beide Institutionen wie in der Schweiz (etwa 120). Ein Land – Österreich kennen, sehr gering ist. Jene Kontinente, die ein gerüttelt – kennt nur einen nationalen Medien-Ombudsmann, Mass an Erfahrung mit beiden Institutionen aufweisen der dem Presserat beigeordnet ist (aber beide Institu- können, sind Europa und Nordamerika. Auf diese beiden tionen sind zurzeit lahmgelegt). Kontinente wollen wir uns in der Folge konzentrieren. | 77 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

2. Die Ombudsleute sind in erster Linie von quality Tab. 2: Idee des Strukturmodells der Ethikinstitutionen papers eingerichtet worden – wie New York Times, Washington Post, Boston Globe, Chicago Tribune oder Mediation Mischung Dezision Los Angeles Times in den USA, Guardian und Obser- ver in Grossbritannien, Le Monde in Frankreich, Di- De- Familiale Familiale Regionale ario de Noticias in Portugal, El Pais in Spanien, La zentral Ombuds- Ombudsleute Presseräte Repubblica in Italien, Politiken in Dänemark, Dagens leute und regionale Nyheter in Schweden, De Volkskraant in den Nieder- Presseräte landen, Tages-Anzeiger in der Schweiz oder Milliyet in der Türkei, aber es sind auch popular papers darun- Kombi- Familiale Familiale oder Regio- ter, etwa Th e Sun in Grossbritannien , Hürriyet in der niert und natio- nationale Om- nale und Türkei oder Le Matin in der Schweiz. nale Om- budsleute und nationale budsleute regionale oder Presseräte 3. Beidseits des Atlantiks im Vordergrund stehen Om- nationale Pres- budsleute für Printmedien, aber es gibt auch solche seräte für elektronische Medien, etwa bei National Public Radio in den USA, bei CBC in Kanada, bei France Zentral Nationaler Nationaler Nationaler 2 und France 3 in Frankreich, bei Fernsehkanälen in Ombuds- Ombudsmann Presserat Finnland und Schweden sowie bei sämtlichen elek- mann und nationaler tronischen Medien in der Schweiz. Presserat

Wenn wir uns nun vergegenwärtigen, was die Charak- teristika der Presseräte und der Ombudsleute sind und 2a) das kombiniert-heterogene Mediationssystem mit wenn wir in Betracht ziehen, auf welcher Stufe sie jeweils familialen Ombudsleuten und einem nationalen angesiedelt sind, dann können wir folgende Zwischenbi- Ombudsmann; lanz ziehen: Die Presseräte sind eher Institutionen der 2b) das kombiniert-heterogene Mischsystem mit fami- Dezision, denn sie müssen Rügen erteilen oder sogar lialen Ombudsleuten oder einem nationalen Om- – wie in Schweden – Sanktionen aussprechen. Sie sind budsmann und mit regionalen/lokalen Presseräten meist auf nationaler Ebene angesiedelt und gehorchen oder einem nationalen Presserat; der Professionsethik. Die Ombudsleute sind eher Insti- 2c) das kombiniert-heterogene Dezisionssystem mit re- tutionen der Mediation, denn sie bringen Redaktionen gionalen/lokalen Presseräten und einem nationalen und Rezipienten oft zu Aussprachen zusammen. Sie sind Presserat; in der Regel auf dezentraler, familialer Ebene angesiedelt 3a) das zentral-homogene Mediationssystem mit einem und gehorchen der Institutionsethik. Natürlich existie- nationalen Ombudsmann; ren auch Mischtypen. 3b) das zentral-homogene Mischsystem mit einem na- tionalen Presserat und einem nationalen Ombuds- mann; 3. Entwicklung des Strukturmodells 3c) und das zentral-homogene Dezisionssystem mit einem nationalen Presserat. Auf diese Weise gelangen wir zu einem Strukturmodell der Ethikinstitutionen mit neun Ländertypen, die nach Dies ist die Idealskizze des Modells. Wenn wir indes- den Kriterien der Arbeitsweise der Institutionen (Meda- sen die Realität betrachten, so zeigt sich sofort, dass vier tion, Dezision oder Mischtyp) und nach den Kriterien der Typen nirgends vorkommen. Wir haben es folglich der Ansiedlungsstufe (dezentral, zentral oder kombi- nur noch mit fünf Typen zu tun, nämlich mit den aus- niert) bestimmt sind. So erhalten wir schliesslich familialen Ombudsleuten (links oben) wie beispielsweise in Frankreich, mit den familialen Om- 1a) Das dezentral-heterogene Mediationssystem mit budsleuten und regionalen Pressräten (Mitte oben) wie ausschliesslich familialen Ombudsleuten; beispielsweise in den USA, mit den familialen Ombuds- 1b) das dezentral-heterogene Mischsystem mit familia- leuten und nationalen Presseräten (Mitte mitte) wie bei- len Ombudsleuten und regionalen (oder sogar loka- spielsweise in Grossbritannien oder in der Schweiz, mit len) Presseräten; dem nationalen Ombudsmann und nationalen Presserat 1c) das dezentral-heterogene Dezisionssystem mit aus- (Mitte unten) wie beispielsweise in Schweden und mit schliesslich regionalen (oder sogar lokalen) Pres- dem nationalen Presserat (rechts unten) wie beispiels- 78 | seräten; weise in Belgien. Ein europäisches Modell für die Struktur der Ethikinstitutionen?

Tab.3: Realität des Strukturmodells der Ethikinstitutionen Das dezentral-heterogene Mediationssystem mit aus- schliesslich familialen Ombudsleuten kommt nur in Mediation Mischung Dezision wenigen Ländern Europas und Lateinamerikas vor, nämlich in Frankreich, Italien, Brasilien und Kolum- Dezen- Familiale Familiale bien. tral Ombuds- Ombudsleute Das dezentral-heterogene Mischsystem mit familialen leute und regionale Ombudsleuten und regionalen oder lokalen Presserä- Presseräte ten wiederum ist in wenigen Ländern Nordamerikas und Europas vertreten, nämlich in den USA, in Kana- Kombi- Familiale oder da und in Spanien. niert nationale Das kombiniert-heterogene Mischsystem mit fami- Ombudsleute lialen oder nationalen Ombudsleuten und nationalen und regionale Presseräten fi ndet sich hingegen in einer beträcht- oder nationale lichen Anzahl Länder Europas und Ozeaniens, näm- Presseräte lich in der Schweiz, in Finnland, Schweden, Dänemark, Grossbritannien, den Niederlanden, Deutschland, Zentral Nationaler Nationaler Spanien, Portugal, der Türkei und Australien. Ombudsmann Presserat Das zentral-homogene Mischsystem mit einem nati- und nationaler onalen Ombudsmann und einem nationalen Presser- Presserat at existiert nur in europäischen Ländern, nämlich in Schweden und in Österreich (und ist in Wien derzeit inaktiv). Nun können wir die Felder mit Ländern füllen und er- Das zentral-homogene Dezisionssystem mit einem halten so eine Übersicht, welcher Typ heute in welchen nationalen Presserat allerdings ist stark verbreitet, Weltregionen besonders verbreitet ist (wobei, entspre- vor allem in europäischen, aber auch in lateinameri- chend der vorangegangenen Erkenntnis, asiatische und kanischen und ozeanischen Ländern, so in Belgien, afrikanische Länder zum vorneherein unberücksichtigt Luxemburg, Norwegen, Island, Griechenland, Mal- bleiben): ta, Zypern, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Slowenien, der Slowakei, Bulgarien, der Ukraine, Rus- sland, Estland, Litauen, Peru und Neuseeland (dazu auch Bervar 2002).

Tab.4: Länder im Strukturmodell der Ethikinstitutionen

Mediation Mischung Dezision

Dezentral Frankreich, Italien, USA, Kanada, Spanien Brasilien, Kolumbien

Kombi- Schweiz, Finnland, Schweden, Dänemark, niert Grossbritannien, Niederlande, Deutschland, Spa- nien, Portugal, Türkei, Australien

Zentral Schweden, (Österreich) Belgien, Luxemburg, Norwe- gen, Island, Griechenland, Malta, Zypern, Mazedoni- en, Bosnien-Herzegowina, Slowenien, Slowakei, Bulgarien, Ukraine, Russ- land, Estland, Litauen, Peru, Neuseeland | 79 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

4. Drei Th esen

Meine erste Th ese ist, dass bei allen Systemen ausser dem Meine zweite Th ese ist, dass sich das kombiniert-hete- kombiniert-heterogenen Mischsystem die Nachteile rogene Mischsystem entwickelt auf Kosten des zentral- überwiegen: homogenen Dezisionssystems und dass daraus das euro- päische Modell für die Struktur der Ethikinstitutionen Das dezentral-heterogene Mediationssystem mit aus- entsteht. Es würde folgende Elemente beinhalten: schliesslich familialen Ombudsleuten hat den Vor- teil, dass es auf der geschmeidigen Institutionsethik Jedes Land verfügt über einen Presserat, der als Ethi- basiert, die adäquate Lösungen für jedes Medium er- kinstitution für sämtliche aktuelle Medien fungiert.* laubt, aber weist die Nachteile auf, dass viele Medien Jedes Medium oder jede Mediengruppe verfügt über oder Mediengruppen über gar keine Ombudsleute einen Ombudsmann, der Publikumsbeschwerden be- verfügen, keine einheitliche Spruchpraxis besteht und handelt. eine übergeordnete Instanz fehlt, die Grundsatzfra- Die Ombudsstellen werden off ensiv publik gemacht, gen klärt. damit sich das Publikum in erster Linie an sie wen- Das zentral-homogene Dezisionssystem mit aus- det. schliesslich nationalen Presseräten hat den Vorteil, Ombudsleute und Presserat arbeiten zusammen mit dass es eine einheitliche Spruchpraxis auf der Basis dem Ziel, die Spruchpraxis zu harmonisieren. einer klar defi nierten Professionsethik gibt, aber die Die Ombudsleute entlasten den Presserat, so dass sich Nachteile, dass die besonderen Bedingungen der ein- dieser auf Grundsatzfragen konzentrieren kann. zelnen Medien zu wenig berücksichtigt werden kön- nen und dass die Presseräte oft überlastet sind. Meine dritte Th ese ist, dass der Weg hin zu diesem Das dezentral-heterogene Mischsystem mit Presserä- europäischen Modell noch hart und steinig sein wird. ten und Ombudsleuten auf unterer Ebene hat den Dies lässt sich aus den Erfahrungen der Schweiz ablei- Vorteil, dass es sich auf der Grundlage der regionalen ten. (dazu umnfassend Rother 1997). In der Schweiz Professionsethik und der Institutionsethik geschmei- sind die elektronischen Medien gesetzlich verpfl ich- dig an die jeweiligen Bedürfnisse anpassen kann, aber tet, eine Ombudsstelle einzurichten. 6 Die SRG hat für die Nachteile, dass grosse Lücken klaff en, weil es jede Sprachregion einen Ombudsmann eingesetzt, also Ethikinstitutionen jeweils nur in wenigen Fällen gibt vier, die Lokalradios und die Lokalfernsehsender ver- – in Kanada beispielsweise nur Presseräte in 4 von 10 fügen hingegen alle über je einen eigenen, so dass sich Provinzen, in den USA bloss in 3 von 50 Staaten, in deren Zahl auf rund 115 beläuft. Wie Juliette Trech- Spanien lediglich in einer von 17 Regionen, von der sel nachwies, wissen viele Ombudsleute der privaten spärlichen Verbreitung der Ombudsleute ganz zu elektronischen Medien, meist Anwälte, gar nicht, dass schweigen – und dass die Spruchpraxis nicht einheit- sie dieses Mandat haben, und bei den Redaktionen und lich ist und eine übergeordnete Instanz fehlt. Sendeleitungen hat oft auch niemand eine Ahnung, wer Das zentral-homogene Mischsystem mit einem nati- ihr Ombudsmann ist. Die Ombudsstelle wird nirgends onalen Presserat und einem nationalen Ombudsmann publik gemacht. So weiss auch das Publikum nichts weist immerhin gleich viele Vorteile wie Nachteile auf. davon, und es gibt im Bereich der privaten Radio- und Es hat die Vorteile einer einheitlichen Spruchpraxis Fernsehsender daher kaum je Beschwerden (Trechsel und der Entlastung des Presserates durch den Om- 2005). Das könnte sich ändern. Denn nach dem neuen budsmann, aber die Nachteile, dass die besonderen Radio- und Fernsehgesetz, das am 1. April 2007 in Kraft Bedingungen der einzelnen Medien nicht berück- trat wurde die Zahl der Ombudsstellen für private elek- sichtigt werden können und der Ombudsmann mög- tronische Medien auf drei reduziert: Je einen für den licherweise überlastet ist. Demgegenüber weist das kombiniert-heterogene Mischsystem nur Vorteile auf: Die Ombudsleute wir- ken nahe an ihrem Medium und entlasten die Pres- seräte. Die Presseräte können sich auf schwierige Fälle * Im Unterschied zu Ingrid Stapf (Vgl. Stapf 2006: 340- und auf Grundsatzfragen konzentrieren. Sie sorgen 341), die einen Rat für Medienethik schaff en möchte, wird für eine einheitliche Spruchpraxis. Institutionsethik hier im Einklang mit dem Eventualvorschlag Stapfs (Vgl. und Professionsethik ergänzen sich. Stapf 2006: 341-342) für die Aufwertung der nationalen Presseräte plädiert, die zu Medienräten werden, für alle aktuellen Medien zuständig sind, Fälle selber aufgreifen, 80 | Grundsatzfragen klären und öff entlich tagen. Ein europäisches Modell für die Struktur der Ethikinstitutionen?

deutschen und rätoromanischen, den französischen und Weblinks für den italienischen Sprachraum. Die Unabhängige Be- schwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) wähl- 1 www.nzz.ch/2005/12/09/em/articleDCYOA.print. te sie auf jeweils vier Jahre. 7 Viele Beschwerden gehen hml (13.2.2007); www.acrimed.org/article1670.html jedoch schon heute bei den Ombudsstellen der SRG (13.2.2007), Zitzmann 2005 ein. Die Befunde der Ombudsleute können an die UBI 2 http://www.srg.ch/249.0.html?&L=065, http://www. weitergezogen werden. Die Bilanz zeigt, dass seit der kleinreport.ch/meld.phtml?id=25964 Einführung der Ombudsstellen die UBI wesentlich ent- 3 www.mainpost.de/mainfranken/leseranwalt/ lastet werden konnte; sie muss jährlich nur noch etwa 20 art9445,2858267html (13.2.2007): »Ich denke nicht nur Beschwerden behandeln. 8 Im Bereich der Printmedien an die Leser, die sich beschweren«. ist die Etablierung von Ombudsstellen freiwillig. Vier 4 Vgl. http://www.media-accountability.org/aipce_index. wichtige Medienhäuser haben es getan, nämlich die Ta- php media, die den Tages-Anzeiger, die SonntagsZeitung oder 5 Vgl. http://www.newsombudsmen.org/ das Nachrichtenmagazin Facts herausgibt, die AZ-M- 6 Bundesgesetz über Radio und Fernsehen (1991): Art. edien mit der Aargauer Zeitung, der zu Springer gehö- 57 und 60-66, http://www.admin.ch/ch/d/sr/7/784.40. rende Jean Frey-Verlag mit dem Beobachter, der Bilanz de.pdf und bis vor kurzem der Weltwoche sowie Edipresse mit 7 http://www.ubi.admin.ch/ubi/d/070125.htm (14. 2. 24heures, Tribune de Genève und Le Matin. Doch andere 2007) wichtige Verlagsgruppen, wie Ringier, die NZZ-Gruppe, 8 Jahresberichte der UBI; Statistik 1984-2005: www.ubi. die Basler Zeitungs-Medien, die Espace Media oder die admin.ch/jahresbe/d/index.htm Südostschweiz-Medien, weigern sich bislang, die Institu- tion des Ombudsmanns als Mehrwert zu sehen.* Und so kann aus dem Beispiel der Schweiz entnommen werden, Literatur welches die Probleme sind: Bertrand, Claude-Jean (1997): La déontologie des Die Ombudsmann-Idee hat sich noch nicht richtig médias (= Que sais-je? No. 3255). Paris : Presses univer- durchgesetzt. sitaires de France. Die Ombudsstellen sind zu wenig publik. Bertrand, Claude-Jean (1999): L’arsenal de la dé- Die Ombudsleute behandeln ihre Fälle nicht überall mocratie. Médias, déontologie et M*A*R*S. Paris : Eco- nach ethischen Kriterien. nomica. Zuviele Ombudsleute sind branchenfremd (so Bervar, Gojko (2002): Freedom of Non-Accountabili- setzten in der Schweiz die elektronischen Medien ty. Self-regulation in the Media in Slovenia. Ljubljana: vor allem Anwälte ein und die Tamedia einen ehema- Mirovni-Institut. ligen Generalstabschef der Schweizer Armee). Blum, Roger (1993): Der Presserat des Verbands Schwei- Presseräte und Ombudsleute arbeiten zu wenig zer Journalistinnen und Journalisten. In: Schanne, zusammen. Michael / Schulz, Peter (Hrsg.): Journalismus in Institutionsethik und Professionsethik konkurrieren der Schweiz. Aarau: Sauerländer, S. 105 – 130. sich, statt sich zu ergänzen. Blum, Roger (2000): Eff ektivierung von Selbstkon- trollorganen. In: Held, Barbara / Russ-Mohl, Ste- Daraus folgt, dass das europäische Modell erst eine Idee phan (Hrsg.): Qualität durch Kommunikation sichern. ist, die weiter wachsen muss, und dass es noch einige Zeit Vom Qualitätsmanagement zur Qualitätskultur. Erfah- dauern wird, bis überall in Europa Ombudsleute Pres- rungsberichte aus Industrie, Dienstleistung und Meden- seräte stützen und in eine lichte Zukunft entführen. wirtschaft. Frankfurt a. M.: FAZ-Institut, S. 335 – 345. Blum, Roger (2001): Der Journalismus als Unruhe- herd. Nur Qualitätssicherung gewährleistet seine Glaub- * Ausnahmen innerhalb der NZZ.Gruppe sind die »Neue würdigkeit. In: »Neue Zürcher Zeitung«, 2. März 2001 Luzerner Zeitung« mit ihrem Leserrat (Vgl. Pelosi 1997) (Ressort Medien und Informatik). und das »St. Galler Tagblatt« mit seinen Merkern. Auch die Cornu, Daniel (1997): Éthque de l’information (= Que Berner Tageszeitung »Der Bund« kannte 2004-2005 einen sais-je? No. 3252). Paris : Presses universitaires de France. Leserrat. Elia Cristina (2005): Gewissen des Journalismus. Was Ombudsleute leisten können. In: »Neue Zürcher Zei- tung«, 9. Dezember 2005. | 81 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

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Medienethik in Österreich. Defi zite in Ausbildung, Beruf und institutioneller Regulierung

Die Verbindung von Medien und Ethik ist noch lange und den Möglichkeiten, verantwortungsvolles journa- keine Selbstverständlichkeit und doch hat Medienethik listisches bzw. Medien-Handeln zu fassen, das sowohl in der heutigen ›Informations-‹, ›Wissens-‹, ›Medien-‹ informelle Normen (Sachzwänge), die Berufsmoral aber vor allem ›Netzwerkgesellschaft‹ sowohl an theo- (Gewissen) und formelle Normen (Regeln) berücksich- retischer wie auch praktischer Relevanz gewonnen. 1 Die tigt bzw. (re)produziert. In diesem Sinne stellt der vor- kommunikative Durchdringung der Gesellschaft, die liegende Beitrag ethische Fragen in der journalistischen Verdichtung, Beschleunigung und Grenzüberschreitung Ausbildung sowie im Beruf in Bezug zu bestehenden von Kommunikationen zu bestimmten Th emen bzw. und notwendigen (Selbst-)Regulationsmechanismen auf issue fi elds und die Vernetzung von immer mehr Kom- institutioneller Ebene. Grundlage dieser Überlegungen munikatoren in einem immer enger gefl ochtenen, grenz- sind sowohl Daten einer explorativen Untersuchung der überschreitenden Netzwerk von Kommunikationen Ausbildungssituation zu Kommunikationsberufen in sowie die daraus resultierende Praxis der Medienpro- Österreich (1), einer qualitativen Befragung von österrei- duktion, Ausdiff erenzierung des Angebots und Entgren- chischen Journalisten und einer Bevölkerungsstichprobe zung der Kommunikations-Professionen PR, Marketing zur Moral von Journalisten (2) und einer aktuellen Stu- sowie andere Formen des Kommunikationsmanage- die zu Medienselbst-Regulierung in der österreichischen ments und journalistische Content-Produktion liefern Medienlandschaft anhand internationaler Best Practice zunehmend Anlass, sich nach dem Sollen und Sein aber Modelle (3). So wird der Status quo der Medienethik in vor allem den Möglichkeiten zu fragen, die vorliegende Österreich zur Grundlage für die hier vertretenen Th ese, Diff erenz zwischen diesen Dimensionen zu überwin- dass eine Implementierung von Medienethik in einer der den. Die S uche nach einer ›Kommunikations-Ethik‹ drei beschriebenen Dimensionen, d. h. entweder eine ver- bestimmt die gesellschaftliche aber auch vermehrt die stärkte Aus- und Weiterbildung in Medienethik oder ein (ordnungs-)politische Diskussion um die Möglichkeiten bewusster Berufsethos oder die institutionelle Veranke- und Grenzen medialer Freiheit und Verantwortung, Sol- rung von Medienethik nicht funktioniert, sondern es ein lensbeschreibungen und Seinsbeobachtungen bewegen Zusammenspiel geben muss, alle Dimensionen als mitei- sich dabei in den drei in Abb. 1 skizzierten Dimensionen: nander verknüpft, sich gegenseitig bedingend und damit Fragen der Ausbildung (werden Kommunikationsma- auf einander bezogen verstanden werden müssen. nager, von Journalisten bis zu PR-Schaff enden, in der Ausbildung in ethische Refl exion ausgebildet und ihnen entsprechende Instrumente vermittelt?), des Berufs (Fra- 1. Schwache curriculare und mangelnde gen der Individualethik, des Gewissens) und der makro- kommunikationswissenschaftliche Verankerung und organisationsstrukturellen Regulierung (Fragen der Verantwortungszuschreibung auf Organisations- und Das Fehlen der ethischen Dimension in der journali- Unternehmensebene). Entsprechend diskutieren Wis- stischen Ausbildung über und abseits akademische(r) senschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen (Kom- Wege in den Beruf erhält durch eine explorative Analyse munikations- und Medienwissenschaftler, Soziologen, der Ausbildungssituation für Kommunikationsberufe in Politologen etc.) sowie Praktiker aus verschiedensten So- Österreich 2006 seine empirische Bestätigung. 2 Nach zialisationen und Berufsfeldern das Th ema Medien und wie vor haben sich die Curricula an österreichischen deren Verantwortung, deren Funktion und A ufgaben Universitäten, Fachhochschulen und praxisnahen Aus- und Weiterbildungsinstitutionen in den letzten Jahren Abb. 1 nur wenig verändert. Eine Vergleichsstudie aus den Jah- Regulierung ren 2003 und 2006 weist nur auf vereinzelte Verände- rungen hin. Aktuell untersucht wurden zwischen dem 16.09. und dem 16.10.2006 mit 22 Hochschulen / Uni- versitäten, 18 Fachhochschulen, 26 Institutionen der Er- wachsenen- und Weiterbildung sowie 22 Institutionen Ausbildung Beruf zur journalistischen Aus- und Weiterbildung i nsgesamt | 83 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

88 C urricula. Die gesuchten Schlagworte waren u. a. lassen sich also sowohl auf Individual- bzw. Professions-, M edienethik, Journalismusethik, Kommunikationsethik, Organisations- bzw. Institutions- als auch auf struktu- Kommunikation und Ethik, Medien und Ethik. reller, genauer: Systemebene generieren bzw. haben dort Wie auch 2003 bieten die Universität Klagenfurt, die ihre ganz spezifi schen Auswirkungen. Hinzu kommt die FH St. Pölten sowie die FH Joanneum Graz auch 2006 Dimension der Öff entlichkeit, die sog. Publikumsebene. Lehrveranstaltungen zu Medienethik an, ihr Curricu- Die hier geführten Überlegungen basieren auf der the- lum um Medienethik erweitert haben in diesem Zeit- oretischen Annahme, dass gesellschaftliche Diff erenzie- raum das Institut für Publizistik der Universität Wien rung im Wechselspiel zwischen teilsystemischen Orien- (Medien ethik im Zusammenhang mit Multimedia, neu- tierungshorizonten, Organisationen und Institutionen en M edien, Netznutzungsfragen) und die Universität sowie Akteuren bzw. Akteurskonstellationen als kontin- Salzburg (Medienethik als Forschungs- und Th eoriese- genter Prozess, 5 erweitert durch die Giddens’sche Struk- minar im Rahmen des Magister-Schwerpunktmoduls), turationstheorie: als Reproduktionsprozess der Strukturen sowie die Studiengänge Kommunikationswirtschaft und durch Handlungen passiert, und zwar unter Bezugnah- Journalismus der FH Wien. Eine qualitative Verände- me auf Regeln der Sinnkonstitution sowie Wahrneh- rung ist dahingehend zu beobachten, dass curriculare mungs- und Interpretationsschemata und allokative und Inhalte online verfügbar und individuelle didaktische autoritative Ressourcen 6. Werden die Zusammenhänge Konzepte und Literaturangaben einzusehen, ein deut- zwischen Individual- und Berufsethik, Institutionene- licher Bezug zur Praxis, insbesondere dem Journalismus thik, System- und Sozial- sowie Publikumsethik sich in zu beobachten sind und auf weiterführende Angebote diesem Sinne als gegenseitig konstitutiv, sich bedingend (u. a. aus Philosophie, Th eologie und Pädagogik) ver- bzw. (re)produzierend verstanden, genügt es also nicht, wiesen wird. Doch nach wie vor lässt sich auch auf der allein bei Fragen der Ausbildung, speziell der Integration Basis dieser Ergebnisse der Medienethik in Österreich ethischer Refl exionen in die Curricula österreichischer nur eine schwache curriculare Verankerung attestieren, Kommunikations-Studien anzusetzen, sondern ist es sowohl quantitativ als auch qualitativ; nur vereinzelt ist notwendig, sich in einem zweiten, ergänzenden Schritt sie über den Studienplan dauerhaft institutionell abgesi- mit der Individual- und Berufsethik sowie dem Gewis- chert, entstehende Forschungsdefi zite aber auch Praxis- sen von Journalisten auseinanderzusetzen. defi zite sind zuzuordnen. In Anbetracht dieser Ergeb- Im Rahmen der Studie Journalismus: Beruf ohne nisse stellt sich die Frage, welche Auswirkungen das auf M oral?! aus den Jahren 2004 /2005 7 wurden 122 österrei- die individuelle (Berufs-)Moral der Kommunikations- chische Journalisten verschiedenster Mediengattungen 8 manager ( Journalisten, PR-Fachleute und andere Arten zu ihren ethischen Einstellungen und als Referenzgröße von ›Kommunikationsstrategen‹) hat. eine Publikumsstichprobe (n = 1000) befragt, letztere erneut 2006, 9 so dass ein Längsschnittvergleich der Da- ten möglich ist. Das Ergebnis: Journalisten halten sich 2. Journalismus – Beruf ohne Moral?! selbst für weniger moralisch und schlechter ausgebildet, als sie von der Bevölkerung eingeschätzt werden; die be- Medien werden in unserer westlichen (demokratischen), rufl ichen Fähigkeiten der Journalisten haben sich in den ausdiff erenzierten Gesellschaft als eine zentrale Steue- letzten 30 Jahren aber dennoch verbessert, die Möglich- rungs- und auch Kontrollinstanz für bzw. in allen Teil- keit zur Realisierung ethischer Handlungen ist gegeben, systemen betrachtet. Sie sind nicht nur direkt mit der kann aber in Konfl ikt mit den ökonomischen Sachzwän- Herstellung und dem Erhalt von der ›Öff entlichkeit‹ gen geraten. Generell beschreiben Journalisten, dass sie bzw. bestimmten Teilöff entlichkeiten oder öff entlichen relativ häufi g mit Gewissenskonfl ikten konfrontiert sind, Arenen verbunden, 3 sondern spielen auch eine zentrale die befragte Bevölkerungsstichprobe weist auf die Fol- Rolle in wirtschaftlicher Hinsicht. Aus unterschiedlichen gen hin: sie beurteilen Journalisten als nicht sehr objektiv. kommunikationswissenschaftlichen Perspektiven be- Wie Abb. 2 verdeutlicht, fühlen sich im Gegensatz zu trachtet können die Internationalisierung von Unterneh- Vergleichsdaten aus dem Jahr 1994 10 mit 62  zwar drei men, technische Konvergenz und damit ein verändertes Prozent weniger, aber dennoch ein Drittel der Befragten Medienverständnis, Ökonomisierung des Mediensektors in ihrem Beruf zu Handlungen gedrängt, durch die sie und ein gesamtgesellschaftlicher Werte- und Normen- mit ihrem Gewissen in Konfl ikt geraten. 11 Die Frage wandel (neue Formen der Verantwortungszuschreibung) danach, inwieweit diese Handlungen mit der, wie von als die vier Entwicklungsstränge identifi ziert werden, der Bevölkerung bemängelt, fehlenden Objektivität zu- die eine Neuausrichtung der Überlegungen zur Selbst- sammenhängen, lässt sich anhand der folgenden Daten Regulierung von Medien notwendig machen. Diese Ver- beantworten: Als wesentliches Ziel ihrer journalistischen änderungen spiegeln sich auf den verschiedenen Ebenen, Arbeit nennen 40  der 2004 Befragten Objektivität; 84 | auf denen Medienregulierung diskutiert werden sollte, dies hat sich im Vergleich zu 1994 nur um ein Prozent Medienethik in Österreich

Fühlen Sie sich in Ihrem Beruf zu Handlungen gedrängt, durch die Sie mit Ihrem Gewissen in Konflikt geraten? JournalistInnen 1994 (n = 206) und 2004 (n = 122) Angaben in  31 65 Total 1994 36 62 Total 2004

Hochschulstudium 31 65 Ja 1994 33 64 Ja 2004 36 62 Nein 1994 37 62 Nein 2004

Abb. 2

(nach oben) verändert. Aufmerksamkeit erregt hingegen, 3. Kein Presserat, keine Medienethik? dass das Ziel und damit der eigenen Handlungssinn Selbst-Regulierung in Österreichs Medienlandschaft ›Information‹ von 99  auf nur mehr 74  gesunken ist, wohingegen ›Unterhaltung‹ als eine der zentralen jour- Wie beschrieben, wird in der vorliegenden Diskussion nalistischen Vermittlungskompetenzen 12 von 36  der zu Medienethik in Österreich sowohl auf Individual-/ befragten Journalisten als wesentliches Ziel ihrer Arbeit Professions-, Organisations-/ Institutions- als auch auf genannt wurde – 1994 waren es nur 8 . Hier bestätigt struktureller System- bzw. Öff entlichkeitsebene ange- sich in der Selbstwahrnehmung der Journalisten das Bild setzt. Die bisherigen Überlegungen deuten bereits darauf der Bevölkerung, dass der Mediennutzer heute verstär- hin, dass es nicht genügt, auf einer dieser Ebenen anzu- kt mit Infotainment, der Vermengung von Information setzen. In einem dritten Schritt steht deshalb die Frage und Unterhaltung, und entsprechenden ›neuen‹ Selekti- nach Selbst-, Fremd- und /oder Co-Regulierung sowie onskriterien konfrontiert ist. den entsprechenden Instrumenten im Mittelpunkt der Doch wer trägt die Verantwortung? Sollte die Diskus- Überlegungen. Seit 1961 war in Österreich der (typisch sion über Medienethik also genaue hier, auf der Indivi- sozialpartnerschaftlich angelegte) Österreichische Presse- dualebene und konkret bei der Berufs-Moral, bei den rat allgemein akzeptierte Instanz für die Diskussion und spezifi schen Problemen journalistischer Berufsausübung Beurteilung medienethischer Streitfälle. Doch seit seiner und dem Gewissen der Journalisten, ansetzen? Oder Aufl ösung 2002, konkret dem Ausstieg des Verlegerver- ist jeder Journalist über seine Berufsrolle eingebunden bandes (VÖZ) aus dem Trägerkonsortium, gibt es in Ös- in – ob eher marktförmige oder stark hierarchische – terreich kein Selbstkontrollorgan der Presse mehr – eine Organisationsstrukturen, eingebunden in dichte Struk- Ausnahmeerscheinung in westlichen Demokratien. Zu- turen aus Regeln und Ressourcen, die ihn in seiner In- sätzliches Problem: Der noch existierende Ehren kodex dividualethik beeinfl ussen und /oder einschränken? Wie besteht quasi ohne Sanktionsmöglichkeiten weiter; er sieht es also mit der institutionellen Verankerung von legt zwar mit Worten wie »Journalismus bedingt Frei- Ethik in Medienunternehmen aus, wie mit Instrumenten heit und Verantwortung« 15 eine gemeinsame ethische der Selbst-Regulierung? Und können diese in Zeiten der Grundlage der Printmedienmacher fest, allerdings führt »Kommunikations-« 13 bzw. »Informationslawine« 14 ohne niemand die ›ethischen Geschäfte‹. Aus der Frage nach eine wirtschaftliche und /oder gesetzliche (Grund-) den Möglichkeiten selbstregulativer Maßnahmen in der Regelung bzw. Fremd-Kontrolle der Medien greifen? Zukunft, entstand 2005 die Idee für eine Studie zu Fragen der Selbst-, Fremd und Co-Regulierung in Österreich. Die Ergebnisse aus einem im Folgenden kurz skizzierten Ländervergleich aus dem Jahr 2006 belegen im Zusam- menhang mit den bisher dargestellten Studienergeb- nissen – soviel sei an dieser Stelle bereits angedeutet –, dass es für eine Wiederbelebung bzw. Neuinstallation einer Einrichtung der Medienselbstkontrolle (hier am | 85 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Beispiel Österreich) unabdingbar erscheint, die journali- Best Practice Modelle stische Individual- sowie die institutionelle Ebene ›mit- Bei der Suche nach sogenannten Best-Practice-Model- zudenken‹. len der Co-Regulierung 22 war eine der ersten Auff ällig- keiten das jeweils unterschiedliche Verhältnis zwischen Kein Presserat – ›haltlose Medien‹? Medien und Regierung. Beispielsweise ist die Existenz In Österreich wurde eine staatliche Kontrolle ethischer eines Presserates sowie eines Pressekodex in Dänemark Normen vor allem im Printmedienbereich immer abge- gesetzlich festgelegt (nicht so u. a. in Großbritannien und lehnt. Nicht nur aber auch aus diesem Grund hatten in Deutschland, wo er von der Branche selbst entwickelt Österreich die Sozialpartner, eine in der Alpenrepublik wird); ein weiterer Unterschied liegt im Geltungsbereich nicht ganz unwichtige ›Größe‹, 16 mit dem Ehrenkodex des Pressekodex, in Großbritannien und Deutschland der österreichischen Presse bereits 1961 für den Printme- z. B. nur für Print-, in Finnland auch für Rundfunkme- diensektor bindende Regeln geschaff en. Heute bestehen dien. Der Vergleich ergab auch, dass in einem Kodex im- staatliche Regulierungen für den öff entlich-rechtlichen mer das Spannungsfeld zwischen ›free press‹ (Pressefrei- Rundfunk (ORF) und für private Rundfunk- und Fern- heit, durch Gesetze gewährleistet bzw. geschützt) und sehsender sowie Instrumente der Co-Regulierung ne- ›fair press‹ ( Journalismus bzw. Medien, der /die sich an beneinander. Daneben existieren mit der RTR (Rund- ethischen Standards und Werte halten) aufgezogen ist. In funk und Telekom Regulierungs-GmbH) bzw. dem der praktischen aber auch wissenschaftlichen Diskussion Bundes kommunikationssenat Medien kontrollierende aller Länder am häufi gsten debattiert werden Sanktions- Einrichtungen, die aber nicht dem Modell der regulierten möglichkeiten und damit Aufgaben, Zuständigkeiten, Selbstkontrolle 17 entsprechen; sie stellen eher ein Modell Möglichkeiten aber auch Grenzen 24 der Instrumente der asymmetrischen Marktregulation und der gesetzba- der Selbst-Regulierung sowie mögliche gesetzliche oder sierten behördlichen Kontrolle dar. Zudem ist die ge- ökonomische ›Begleitmaßnahmen‹. 25 setzliche Grundlage für Medienregulation in Österreich Im Hinblick auf das Zusammenwirken von staatli- ein uneinheitliches Nebeneinander von Mediengesetz, cher und privater Kontrolle lässt sich auf der Basis der ORF-Gesetz und weiteren eher auf Lizenz-Vergaben Studien ergebnisse konstatieren, dass die folgenden Be- beschränkte Regulativen. Ist deshalb in Österreich eine reiche in einem Konzept ›regulierter Selbst-Regulierung‹ im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten ›halt- eine zentrale Rolle spielen: Art der Aufgabendefi niti- lose Medienlandschaft‹, eingeschränkte Pressefreiheit, on, Organisation der Selbst-Regulierungs-Einrichtung wildernde und Individualrechte missachtende Medien- (Mitglieder, Verfahren), Evaluation, Sanktionsmecha- produzenten oder die völlige Aufl ösung von Trennungs- nismen, Sicherung der Kooperation zwischen staatlichen grundsätzen zwischen redaktionellen und werblichen Regulierungsinstanzen und Instanzen der Selbst-Re- Medieninhalten zu beobachten? Die aktuellen Zah- gulierung und die Regelungen für den Fall des Versa- len zeugen von einem anderen Bild: Auf der Rangliste gens von Selbst-Regulierung (staatliche Regulierung als der Pressefreiheit, die jedes Jahr von der Organisation ›Auff angnetz‹). Die Ergebnisse der Studie Medienselbst- Reporter ohne Grenzen über einen Fragebogen ermittelt Regulierung zwischen Ökonomie und Ethik weisen dem- wird, rutschte Österreich von Platz 26 im Jahr 2002 auf nach darauf hin, dass heute auch herkömmliche korpo- Platz 16 im Jahr 2006. 18 Auch die Beschwerdepraxis in ratistische oder sozialpartnerschaftliche Strukturen wie Bezug auf mediale Inhalte geht zurück, 19 dies zeigt sich sie in Österreich vorlagen und -liegen durch erweiterte beispielsweise auch an den beim Werberat eingehenden Modelle von Netzwerken, konkret eine komplementäre Klagen, die von 258 aus dem Jahr 2001 auf 34 in 2007 Ergänzung von Instrumenten der Selbst- und Fremdre- sanken. 20 gulierung, sowohl marktlicher als auch politischer Art, er- Fazit: Trotz des fehlenden Presserates ist die Medien- setzt werden sollten. Diese Netzwerke sind beweglicher 26 situation in Österreich nicht aus den Fugen geraten, und können sich leichter an Innovationen und Verände- dennoch stellt sich die Frage nach der Verpfl ichtung rungsprozessen und damit an der sich ändernden Qua- der Journalisten, Medienunternehmen aber auch der lität und Quantität globaler Kommunikationsfl üsse und Politik »gegenüber der Öff entlichkeit«, 21 der Bedeutung ›Flows‹ von Daten, Kapital, Informationen, Menschen, ethischer Grundsätze für die Produktion medialer Kom- Produkten und Dienstleistungen orientieren. 27 Dass munikationen, den Orten der Verantwortungsübernah- Selbst-Regulierung in diesem Sinne als eine Form von me und den Möglichkeiten der Implementierung von Netzwerkmanagement verstanden werden kann, belegen Medienethik über Modelle der so genannten ›Co-Regu- die Schlussfolgerungen der Untersuchung internationaler lierung‹. Best Practice Modelle: Empfehlenswert scheint die Eta- blierung einer Medienselbstkontrolleinrichtung, die alle Formen und Inhalte medialer Darstellungsformen unter 86 | Berücksichtigung aktueller Konvergenzentwicklungen Medienethik in Österreich

umfasst; genauso wie die Selbstorganisation in den be- tionsberufe, das fehlende Bewusstsein für die Notwen- teiligten Unternehmungen unter Einbezug aller betrof- digkeit einer umfassenden, auf verschiedenen Ebenen fenen Stakeholder. Die Vereinbarung auf professionelle ansetzenden Implementierung von Ethik in und um die und ethische Standards (›Stiftung Medientest‹, Zerti- Medien und ihre Berufe und das fehlende Instrument fi zierung, Prämierung, Anreizsysteme) ist vor allem in der Selbst-Regulierung auf institutioneller Ebene nicht Medienunternehmen festzulegen und durchzusetzen von einer den aktuellen Herausforderungen der sich und sollen auch ökonomisch motiviert und belohnt wer- stetig weiter ausdiff erenzierenden (errodierenden?), der den. immer stärker ökonomisierten, digitalisierten und kon- vergierenden Medienlandschaft gerecht werdenden Me- Bestätigung durch Journalisten dienethik in Österreich. Auch die Ergebnisse der weiter oben beschriebenen Stu- Es lässt sich wie bereits an mehreren Stellen angedeutet die Journalismus – Beruf ohne Moral?! zeigen, dass sowohl die zu Beginn aufgestellte Th ese bestätigen und auf der der Markt als auch die Politik, konkret die Gesetzgebung, Basis der Studienergebnisse der Schluss ziehen, dass Me- keine alleinigen Regulierungsinstanzen darstellen. War dienethik nicht als appellative Individualethik oder Ge- die Zustimmung zu dem Statement »Man braucht keine sinnungsethik des Journalismus allein verstanden werden besondere Kontrolle der Massenkommunikation, das re- kann und darf. Eine Ethik des Journalismus umfasst un- gelt der Markt schon selber« 1994 noch mit einem Mit- ternehmensethische Fragen der Berufsausübung ebenso telwert von 3,44 vorhanden, ist die Zustimmung seitens wie Fragen des Verhältnisses von Macht und Verant- der Journalisten mit einem Mittelwert von 4,08 zehn wortung in sozialethischer und politisch-ökonomischer Jahre später deutlich geringer 28 zu (in beiden Fällen: 1 = Hinsicht, womit sich auch eine Ethik des Journalismus stimme voll zu, 5 = stimme nicht zu). Bei der Aussage wieder an eine allgemeine Ethik rückbinden lässt. Me- »ethische Grundsätze im Journalismus lassen sich nicht dienethisch refl ektiertes Handeln ist demnach kein hin- durchsetzen, das geht nur per Gesetz« veränderte sich reichendes journalistisches Qualitätskriterium per se, es die (auch hier eher geringe) Zustimmung mit Mittel- bezeichnet aber wohl eine notwendige Bedingung für werten von 3,37 auf 3,56 bei Printjournalisten und 3,52 auf publizistische Qualität wenn es denn auf institutioneller 3,41 bei Journalisten elektronischer Medien in den Jahren Ebene durch Formen der Co-Regulierung implemen- 1994 auf 2004 nur wenig. 29 tiert wird. Wird also von einem Zusammenwirken von Zusammengefasst deuten die drei durchgeführten Akteuren, Organisationen und entsprechenden struk- Unter suchungen auf eine Bestätigung der zu Beginn der turellen Vorgaben ausgegangen, ist es möglich, Ansprü- hier vorliegenden Ausführungen aufgestellte Th ese hin, che, Erwartungen aber eben auch Leistungspotentiale dass Verantwortung nicht auf einer Ebene, also nicht auf allen Ebenen abzuholen, zu vernetzen und damit zu entweder bei den Journalisten und ihrer Individualethik integrieren. Eine strukturationstheoretische Netzwerk- oder bei Medienunternehmen oder bei Politik, Wirt- perspektive ermöglicht es, die Beziehungen zwischen in- schaft oder generell der Öff entlichkeit deponiert werden dividuellen oder kollektiven Akteuren sowie den durch kann, sondern sich ein ›sowohl als auch‹ empfi ehlt. Ab- Interdependenzen zwischen Beziehungen gestifteten schließend soll deshalb ein Modell für eine Vernetzung, (übergreifenden) Beziehungszusammenhang (die Teilöf- konkret: die beschriebene komplementäre Ergänzung der fentlichkeit) theoretisch zu fassen. Er bietet damit eine Implementierung von Ethik auf Akteurs-, Institutionen spezielle, eine relationale Sichtweise auf Gesellschaft und Systemebene zur Diskussion gestellt werden. und insbes. Öff entlichkeit(en) und damit im Sinne der vorliegenden Überlegungen die Möglichkeit, sowohl das individualethische (Kommunikations-)Handeln als auch 4. Resümee: Tu Felix ? Zusammenhänge den Beziehungszusammenhang als Ganzes (Instituti- zwischen Ausbildungssituation, Berufsmoral und onen- und Systemethik sowie die publikumsethische Di- institutioneller Verankerung von Medienethik mension) zu beobachten, zu untersuchen und Vorschläge für die Implementierung von Medien ethik zu formu- Du glückliches Österreich – diese Aussage Kaiser lieren. Geht es also um die Frage der Implementierung M aximilian des I. lässt sich durch die kurz skizzierten und /oder der Institutionalisierung von Medienselbst- Ergebnisse wohl kaum bestätigen. Auch wenn das Pro- kontrolleinrichtungen, kann dies sowohl informelle Nor- blembewusstsein in der Berufspraxis generell vorhanden men (wichtige Rolle spielt hier die Ausbildung), die Be- ist und die Mediensituation nicht als desolat oder ›un- rufsmoral (das journalistische ›Gewissen‹) und formelle freier‹ als vergleichbare europäische Länder zu beschrei- Normen (Regeln) umfassen – ohne dabei sozial- genauer: ben ist, zeugen die nach wie vor defi zitäre Integration publikumsethische Ansprüche zu vernachlässigen. Wenn von Ethik, speziell Medienethik, in den Curricula öster- es möglich ist, bestehende ›Netzwerkstrukturen für eine reichische Ausbildungsinstitutionen für Kommunika- Implementierung von Medienethik‹ zu erkennen und | 87 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

mögliche Löcher (Bedarf, fehlende Angebote) aufzufül- 2 Durchgeführt im Rahmen eines studentischen For- len, d. h. neue Strukturen insbesondere auf der Mesoe- schungsprojekts am Institut für Medien- und Kommu- bene, d. h. über Organisationen und in Unternehmen zu nikationswissenschaft der Universität Klagenfurt unter bilden, dann können sich über derartige Netzwerkstruk- Leitung von Dr. Franzisca Weder. turen die Leistungen der Netzwerkpartner auf einen 3 Öff entlichkeit wird im Folgenden nicht mehr als Ein- bestimmten Zweck bzw. ein Problem hin im Sinne der heit, sondern vielmehr als aus einer Vielzahl von mehr Verantwortungsübernahme komplementär ergänzen. oder weniger bzw. mehr oder weniger intensiv aufei- nander bezogenen Einzelöff entlichkeiten bestehend verstanden; diese sind durch abgrenzbare Th emen und Anmerkungen Meinungen sowie durch unterschiedliche Funktionen gekennzeichnet. Jede dieser Öff entlichkeiten wird 1 Die zum Makroleitbild der Postmoderne hochstilisierte wiederum als die Teilsysteme überlappend bzw. inte- Informations- und Mediengesellschaft signalisiert zwar grierend begriff en. Mit einer Öff entlichkeit bildet sich die mediale Durchdringung aller gesellschaftlicher Le- auch eine ethisch-moralische Ordnung, die ebenfalls bensbereiche, dabei geraten aber nicht alle Grundlagen integrierend wirkt. Überblick über die aktuell diskutier- der Industriegesellschaft aus den Fugen. Im Gegenteil: ten Konzepte in: Theis-Berglmeier, Anna Maria Profi tmaximierung, Wettbewerb und technologischer (2005): Öff entlichkeit und öff entliche Meinung. In: Ben- Anpassungsdruck bestimmen auch die Dynamik der tele, Günter / Fröhlich, Romy / Szyszka, Peter Informations- und heutigen Netzwerkgesellschaft. Sie (Hg.): Handbuch der Public Relations. Wissenschaft- ist nicht nach-industriell, sondern eine mediatisierte liche Grundlagen und berufl iches Handeln. Mit Lexikon. Industriegesellschaft marktwirtschaftlicher Prägung. Wiesbaden, S. 335 – 345. Für den vorliegenden Kontext Medienkompetenz und -nutzung ist zur »Schlüsselqua- vgl. auch Gerhards, Jürgen / Neidhardt, Fried- lifi kation des 21. Jahrhunderts erhoben worden. ... Das helm (1991): Strukturen und Funktionen moderner Öf- Relevanzmaß der Medien und des Journalismus ist da- fentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze. In: Müller- bei zugleich das Maß ihres Machtpotenzials, durch das Dohm, Stefan / Neumann-Braun, Klaus (Hg.): sie den sozialen und gesellschaftlichen Wandel maß- Öff entlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Beiträge geblich mitgestalten.« Vgl. hierzu Löffelholz, Mar- zur Medien- und Kommunikationssoziologie. Olden- tin (1993a): Beschleunigung, Fiktionalisierung, Enter- burg, S. 44 ff . tainisierung: Krisen in der »Informationsgesellschaft«. In: 4 Vgl. Jarren, Otfried (1999): Medienregulierung in ders. (Hg.): Krieg als Medienereignis. Opladen. S. 49 – 53 der Informationsgesellschaft? Über die Möglichkeiten zur und Beuthner, Michael (2005): Der Überjournalist. Ausgestaltung der zukünftigen Medienordnung. In: Pu- Versuch einer Konturierung medienjournalistischer Kom- blizistik H2/1999, S. 152/153. petenzbereiche und Berichterstattungsfelder. In: Beuth- 5 Vgl. hierzu u. a. Schimank, Uwe (2000): Th eorien ner, Michael / Weichert, Stephan Alexander gesellschaftlicher Diff erenzierung. 2. Aufl age Opladen (Hg.) (2005): Die Selbstbeobachtungsfalle. Grenzen und und Schimank, Uwe (2001): Funktionale Diff erenzie- Grenzgänge des Medienjournalismus. Wiesbaden. S. rung, Durchorganisierung und Integration der modernen 74 / 75. Zur Mediengesellschaft vgl. Vgl. Saxer, Ulrich Gesellschaft. In: Tacke, Veronika (Hg.): Organisa- (1998): Mediengesellschaft: Verständnisse und Missver- tion und gesellschaftliche Diff erenzierung. Wiesbaden, ständnisse. In: Sarcinelli, U. (Hg.): P olitikvermittlung S. 19 – 38. und Demokratie in der Mediengesellschaft. Opladen, 6 Vgl. Giddens, Anthony (1984): Th e constitution of so- Wiesbaden: Bundeszentrale für politische Bildung, ciety. Outline of the theory of structuration. Cambridge, S. 52- – 73 und Merten, Klaus (2004): Zur Ausdiff e- Giddens, A. (1990): Structuration theory and sociolo- renzierung des Mediensystems am Beispiel von Journalis- gical analysis. In: Clark, J. / Modgil, C. / Modgil, mus und Public Relations. In: Raupp, Juliana /Klewes, S. (Hg.): Anthony Giddens. Consensus and controversi- Joachim (Hg.) (2004): Quo vadis Public Relations? Auf ty. London u. a., S. 297 – 315 und Giddens, Anthony dem Weg zum Kommunikationsmanagement: Bestands- (1995): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge ei- aufnahme und Entwicklungen. Festschrift für Barbara ner Th eorie der Strukturierung. Frankfurt / New York. Baerns. Wiesbaden, S. 17 – 29. Vgl. zur konstruktivis- 7 Durchgeführt in den Jahren 2004 und 2005 von Stu- tischen Perspektive u. a. Merten, K. / Schmidt, S.J./ denten der FH Wien, Studiengang Journalismus, in Weischenberg, S. (Hg.) (1994): Die Wirklichkeit der Kooperation mit Prof. DDr. M. Karmasin, Mitglied Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswis- des wissenschaftlichen Beirats des Studiengangs. Vgl. senschaft. Opladen. Zu Netzwerkgesellschaft vgl. u. a. im Folgenden: Karmasin, Matthias (2005): Journa- Castells, Manuel (2005): Die Internet-Galaxie. In- lismus: Beruf ohne Moral? Von der Berufung zur Profes- 88 | ternet, Wirtschaft und Gesellschaft. Wiesbaden. sion. Wien. Medienethik in Österreich

8 Personen, deren Einkommen zu einem überwiegenden oder der betreff enden Berufsgruppe festgelegt wur- Teil aus journalistischer Tätigkeit resultiert (im Fol- de. Überblick zu den Modellen u. a. bei Hoffmann- genden: n = 122). Riem, Wolfgang / Schulz, Wolfgang / Held, 9 Durchgeführt zwischen März und Juni 2006 im Rah- Thorsten (2000): Konvergenz und Regulierung. Op- men einer Studie zum Th ema Wirtschaftsethik/CSR tionen für rechtliche Regelungen und Aufsichtsstrukturen und der Verantwortung von Managern in Österrei- im Bereich Information, Kommunikation und Medien. chischen Unternehmen; ein vom Wirtschaftsmini- S. 50 ff ., Schulz, Wolfgang / Held, Thorsten sterium gefördertes Forschungsprojekt unter Leitung (2000): Regulierte Selbstregulierung als Form moder- von Prof. DDr. Matthias Karmasin und Dr. nen Regierens. Studie des Hans Bredow Instituts für F ranzisca Weder, Institut für Medien- und Kom- Medienforschung an der Universität Hamburg im munikationswissenschaft der Universität Klagenfurt, in Auftrag des Bundesbeauftragten für Angelegenheiten Zusammenarbeit mit der Wiener Gruppe für Integri- der Kultur und der Medien. Endbericht Mai 2002. Vgl. tätsmanagement und gesellschaftliche Verantwortung. hierzu auch: http://europa.eu.int/comm/avpolicy/le- 10 Im Folgenden: n = 206; Studienkonzept und -anlage gis/key_doc/saarbruck_en.htm, zuletzt abgerufen am in: Karmasin, Matthias (1996a): Journalismus: Be- 25. August 2007. ruf ohne Moral? Journalistisches Berufshandeln in Öster- 18 Dieser Index von Reporter ohne Grenzen misst den reich. Wien. vgl. hierzu auch: Karmasin, Matthias weltweiten Zustand der Press- und Medienfreiheit. (1996): Journalismus ohne Moral - Staat oder Markt als Er gibt den Grad der Freiheit wieder, den Journalisten Moralersatz? In: Mast, Claudia (Hrsg.): Markt- und Nachrichtenagenturen in den einzelnen Ländern Macht-Medien. Publizistik zwischen gesellschaftlicher genießen, wie auch die Bemühungen des jeweiligen Verantwortung und ökonomischen Zielen. Konstanz, Staates, diese Freiheit selbst zu respektieren und ih- S.215 – 231. ren Respekt sicherzustellen. Bewertungssystem ergab 11 Werden die Antworten der Hochschulabsolventen mit 2002 7,5 Punkte, 2006 4,5 Punkte; zum Vergleich: 2006 denen von den Befragten ohne Hochschulstudium hatte das letztplatzierte Land Nordkorea 109 Punkte. unterschieden, fallen nur marginale Unterschiede von Fragebogen, Bewertungssystem und Ranglisten unter drei (1994) bzw. zwei Prozent auf (vgl. erneut Abb. 2). www.reporter-ohne-grenzen.de, insbes. www.repor- 12 Vgl. Kompetenzmodell von Weischenberg in ter-ohne-grenzen.de/archiv/ranglisten-pressefreiheit. Weischenberg, S./Löffelholz, M./Scholl, A. htm, zuletzt abgerufen am 15. Februar 2007. Für Ös- (1994): Journalismus in Deutschland. In: Journalist 5/94, terreich siehe darüber hinaus www.rog.at. S. 55 – 70. 19 Vgl. www.derstandard.at/etat, zuletzt abgerufen am 21. 13 Hömberg (1974), zitiert in Kohring, Matthias Februar 2007 (1997): Die Funktion des Wissenschaftsjournalismus. 20 Vgl. www.derstandard.at/etat, zuletzt abgerufen am Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen, S. 70. 05. April 2007 14 Vgl. Fischer, Heinz-Dietrich (1976): Probleme der 21 Pressemitteilung der ›Plattform für Reform der Selbst- ›Vermarktung‹ von Wissenschaft durch Massenmedien. kontrolle im Printsektor‹ vom 19.12.2003 In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 44, S. 10. 22 Rekurriert wird hier auf die bereits angekündigte Stu- 15 Grundsätze für die publizistische Arbeit (Ehrenko- die Medienselbstregulierung zwischen Ökonomie und dex für die österreichische Presse) in der Fassung vom Ethik. Erfolgsfaktoren für ein österreichisches Modell von 21.1.1999 Franzisca Gottwald, Andy Kaltenbrunner 16 Vgl. u. a. Karlhofer, Ferdinand/Tálos, E mmerich und Matthias Karmasin; vgl. hierzu: Karmasin, (2005): Sozialpartnerschaft. Österreichische und Eu- Matthias / Gottwald, Franzisca / Kalten- ropäische Perspektiven. Wien und Kienzl, Heinz brunner, Andy (2006): Medienselbstregulierung (2005): Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft gestern, zwischen Ökonomie und Ethik. Berlin/Wien. Als sog. heute, morgen: Mitbestimmung. Wien. ›Best Practice Modelle‹ wurden die Instrumente der 17 Defi nitorisch bezeichnet der Begriff Selbstkontrolle Selbst-, Fremd- und Co-Regulierung in Schweiz, einerseits die Einfl ussnahme höherer Prozesse auf das Dänemark, Deutschland, Australien, Großbritannien Selbst, andererseits sich gegenseitig kontrollierende und die USA untersucht. Mechanismen innerhalb von biologischen, sozialen 23 So sind manche Presseräte gänzlich seitens der In- oder auch politischen Netzwerken. Ein Instrument dustrie fi nanziert, andere (z. B. Finnland aber auch der Selbstkontrolle ist ein institutionalisiertes /nicht Deutschland) erhalten staatliche Unterstützung. institutionalisiertes Set von Bestimmungen, die auf 24 Der häufi gste Vorwurf: Selbst-Regulierungsin- eine Berufsgruppe oder in einem Wirtschaftsbereich strumente seien ›zahnlose Tiger‹, vgl. Pöttker, Anwendung fi nden und deren Inhalt ursprünglich von Horst (2003): Zahnloser Tiger? Plädoyer für wirk- Angehörigen des betreff enden Wirtschaftszweiges same Selbstkontrolle des Journalismus im Dienste der | 89 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

K ommunikationsfreiheit. In: Langenbucher, Wolf- Giddens, Anthony (1995): Die Konstitution der Ge- gang R. (Hg.): Die Kommunikationsfreiheit der Ge- sellschaft. Grundzüge einer Th eorie der Strukturierung. sellschaft. Die demokratischen Funktionen eines Grund- Frankfurt / New York. rechts. Publizistik, Sonderheft 4/2003. S. 379 – 384. Gottwald, Franzisca (2006). Gesundheitsöff entlich- 25 Von einer aktuellen nationalen Diskussion der Presse- keit. Die Entwicklung eines Netzwerkmodells für Journa- bzw. Medienselbstkontrolle mit dem Hauptfokus auf lismus und Public Relations. Konstanz. den Möglichkeiten der Sanktionierung wird z. B. aus Hafez, Kai (Hg.) (2003): Media ethics in the dialo- Deutschland, Frankreich, Irland, der Schweiz, Spani- gue of cultures. Journalistic self-regulation in Europe, the en und Großbritannien berichtet; vgl. Suhr, Oliver Arab World and Muslim Asia. Deutsches Orient Institut. (1998): Europäische Presse-Selbstkontrolle. Baden- Hamburg. Baden, S. 17. Haller, Michael (Hg.) (2004): Grundlagen der Me- 26 Ein Überblick über Netzwerktheorien sowie die Aus- dienethik. Stuttgart. arbeitung eines strukturationstheoretischen Netz- Hoffmann-Riem, W. / Schulz, W . / Held, T. (2000): werkmodells fi nden sich bei Gottwald, Franzis- Konvergenz und Regulierung. Optionen für rechtliche Re- ca (2006) Gesundheitsöff entlichkeit. Die Entwicklung gelungen und Aufsichtsstrukturen im Bereich Information, eines Netzwerkmodells für Journalismus und Public Re- Kommunikation und Medien. lations. Konstanz. Jarren, Otfried (1999): Medienregulierung in der In- 27 Vgl. Karmasin, Matthias / Winter, Carsten formationsgesellschaft? Über die Möglichkeiten zur Aus- (Hg.) (2006): Konvergenzmanagement und Medien- gestaltung der zukünftigen Medienordnung. In: Publizis- wirtschaft. München, S. 16. tik H2 / 1999, S. 152 / 153. 28 1994: n = 2006; 2004: n = 122; vgl. hierzu Karmasin Jarren, O. / Weber, R. H. / Donges, P. / Dörr, (2005), S. 156 ff . B. / Künzler, M. /Puppis, M. (2002): Rundfunkregu- 29 Auch hier galt: 1 = stimme voll zu, 5 = stimme nicht lierung – Leitbilder, Modelle und Erfahrungen im inter- zu. nationalen Vergleich. Eine sozial- und rechtswissenschaft- liche Analyse. Zürich. Karmasin, Matthias (1996): Journalismus ohne Moral 5. Literatur - Staat oder Markt als Moralersatz? In: Mast, Claudia (Hrsg.): Markt-Macht-Medien. Publizistik zwischen ge- Beuthner, Michael (2005): Der Überjournalist. Ver- sellschaftlicher Verantwortung und ökonomischen Zielen. such einer Konturierung medienjournalistischer Kompe- Konstanz, S. 215 – 231. tenzbereiche und Berichterstattungsfelder. In: Beuthner, Karmasin, Matthias (2005): Journalismus: Beruf Michael / Weichert, Stephan Alexander (Hg.) ohne Moral? Von der Berufung zur Profession. Wien. (2005): Die Selbstbeobachtungsfalle. Grenzen und Grenz- Karmasin, M. / Winter, C. (Hg.) (2006): Konvergenz- gänge des Medienjournalismus. Wiesbaden. management und Medienwirtschaft. München, S. 16. Castells, Manuel (2005): Die Internet-Galaxie. In- Karmasin, Matthias / Gottwald, Franzisca / ternet, Wirtschaft und Gesellschaft. Wiesbaden. Kaltenbrunner, Andy (2006): Medienselbstregulie- Debatin, Bernhard / Funiok, Rüdiger (Hg.) rung zwischen Ökonomie und Ethik. Berlin / Wien. (2003): Kommunikations- und Medienethik. Konstanz. Kohring, Matthias (1997): Die Funktion des Wissen- Fischer, Heinz-Dietrich (1976): Probleme der ›Ver- schaftsjournalismus. Ein systemtheoretischer Entwurf. marktung‹ von Wissenschaft durch Massenmedien. In: Opladen. Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 44, S. 10. Löffelholz, Martin (1993a): Beschleunigung, Fiktio- Gerhards, Jürgen / Neidhardt, Friedhelm nalisierung, Entertainisierung: Krisen in der »Informati- (1991): Strukturen und Funktionen moderner Öff entlich- onsgesellschaft«. In: ders. (Hg.): Krieg als Medienereignis. keit. Fragestellungen und Ansätze. In: Müller-Dohm, Opladen. S. 49 – 53. S. 74 / 75. Stefan / Neumann-Braun, Klaus (Hg.): Öff ent- Merten, Klaus (2004): Zur Ausdiff erenzierung des lichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Beiträge zur Mediensystems am Beispiel von Journalismus und Pu- Medien- und Kommunikationssoziologie. Oldenburg, blic Relations. In: Raupp, Juliana / Klewes, Joachim S. 31 – 89. (Hg.) (2004): Quo vadis Public Relations? Auf dem Weg Giddens, Anthony (1984): The constitution of society. zum Kommunikationsmanagement: Bestandsaufnahme Outline of the theory of structuration. Cambridge. und Entwicklungen. Festschrift für Barbara Baerns. Giddens, A. (1990): Structuration theory and sociolo- Wiesbaden, S. 17 – 29. gical analysis. In: Clark, J. / Modgil, C. / Modgil, Merten, K. / Schmidt, S.J. / Weischenberg, S. S. (Hg.): Anthony Giddens. Consensus and controversity. (Hg.) (1994): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einfüh- 90 | London u. a., S. 297 – 315. rung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen. Medienethik in Österreich

Münch, Henning (2002): Freiwillige Selbstkontrolle Medien. Endbericht Mai 2002. bei Indiskretionen der Presse. Ein Vergleich des deutschen Stapf, Ingrid (2006). Medien-Selbstkontrolle. Ethik und englischen Rechts. Baden-Baden. und Institutionalisierung. Konstanz. Puppis, Manuel (2002): Co-Regulierung im Rundfunk Theis-Berglmeier, Anna Maria (2005): Öf- Zusammenspiel von staatlicher Regulierung und Selbst- fentlichkeit und öff entliche Meinung. In: Bentele, Regulierung als Erfolgsgarant? In: Medienwissenschaft Günter / Fröhlich, Romy / Szyszka, Peter (Hg.): Schweiz, H. 1, S. 31 – 35. Handbuch der Public Relations. Wissenschaftliche Grund- Saxer, Ulrich (1998): Mediengesellschaft: Verständnisse lagen und berufl iches Handeln. Mit Lexikon. Wiesbaden, und Missverständnisse. In: Sarcinelli, U. (Hg.): Poli- S. 335 – 345 tikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft. Ukrow, Jörg (Hg.) (2000): Die Selbstkontrolle im Me- Opladen, Wiesbaden: Bundeszentrale für politische dienbereich in Europa. Schriftenreihe des Instituts für Bildung, S. 52 – 73. Europäisches Medienrecht. Band 21. München / Berlin. Schimank, Uwe (2000): Th eorien gesellschaftlicher Dif- Vecsei, Paul (2005): Das Ende des sozialpartnerschaft- ferenzierung. 2. Aufl age Opladen lichen Presserates in Österreich im Jahr 2002. Unveröf- Schimank, Uwe (2001): Funktionale Diff erenzierung, fentlichte Bakkalaureatsarbeit. Universität Wien. Durchorganisierung und Integration der modernen Gesell- Verband Österreichischer Zeitungen (2005): VÖZ- schaft. In: Tacke, Veronika (Hg.): Organisation und Journal. Juli 2005. gesellschaftliche Diff erenzierung. Wiesbaden, S. 19 – 38. Weischenberg, S. / Löffelholz, M. / Scholl, A. Schulz, Wolfgang / Held, Thorsten (2000): Re- (1994): Journalismus in Deutschland. In: Journalist 5 / 94, gulierte Selbstregulierung als Form modernen Regierens. S. 55 – 70. Studie des Hans Bredow Instituts für Medienforschung Wiegerling, Klaus (2006): Grundfragen und neue an der Universität Hamburg im Auftrag des Bundes- Fragen einer Medienethik. In: Zeitschrift für Didaktik beauftragten für Angelegenheiten der Kultur und der der Philosophie und Ethik. H. 3 / 2006. S. 187 – 197.

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Enrico Morresi

Journalistische Ethik in Italien

Ein Vergleich nationaler journalistischer Systeme ist Z eitungen in Italien wirtschaftlichen oder industriellen kein leichtes Unterfangen. Zwei Autoren haben diesem Gruppen, die mit der politischen Welt durch gemein- Problem ein umfangreiches Werk mit dem Titel Com- same Interessen verfl ochten waren. Die ›reinen‹ – im paring Media Systems gewidmet. 1 Sie machen uns darauf Sinne von unabhängig-professionellen – Verleger sind aufmerksam, dass der Großteil der Literatur über die stets eine Minderheit gewesen. Während der Zeit des Medien stark ethnozentrisch ist. Die Erfahrungen eines kalten Kriegs von 1948 bis 1989 schien es nämlich ge- einzelnen Landes werden so allgemeinen beschrieben, als wissermaßen logisch, dass die Medien und die Journa- ob das in diesem Land vorherrschende Modell universal listen sich für eines der beiden Lager – Ost oder West wäre. Das geschieht vor allem in den Ländern, in denen – stark machten. Nach dem Fall des Kommunismus und die Untersuchungen über die Massenmedien detaillierter mit dem Aufstieg neuer Machtgruppen haben sich die sind, wie in den Vereinigten Staaten, England, Frank- Dinge nicht verändert. Die Gründung der Partei Forza reich und Deutschland. Wissenschafter aus Ländern mit Italia unter Silvio Berlusconi, dem Motor der neuen einer kargeren Medienforschung neigen dazu, vor allem rechten Gruppierung, und die Entstehung einer linken, die angloamerikanische oder französische Fachliteratur jetzt von Romano Prodi geführten Koalition Ulivo hat für überall problemlos anwendbar zu halten. Italien wiederum entzweit. Auch die Medienwelt zerfi el Ich will nicht denselben Fehler begehen, wenn ich über wiederum in zwei entgegengesetzte Lager. Trotzdem die Medienethik in Italien spreche. Im Gegenteil: Es gilt glaube ich sagen zu können, dass die Mehrheit der Jour- zunächst, einige sehr besondere Umstände des ›italie- nalisten von dieser Neuaufl age der üblichen frontalen nischen Falls‹ zu unterstreichen. Auseinandersetzung nicht besonders begeistert war. Die moderate Mehrheit rechtfertigte die Wahl ihres Lagers als eine Notwendigkeit, sich wechselweise bei den Ver- Freiheit als einziges Prinzip legern oder den Mächtigen einzuschmeicheln. Le coeur n’ y est pas. Die Politiker beider Lager werden zu Objekten Ich freue mich, in einem deutschsprachigen Kreis zu von Schmähungen und Zynismus. sprechen, weil ich sicher bin, dass hier das erste Element, Das erklärt den starken Widerstand der Journalisten über das man sich im Klaren sein muss, eher verstan- gegen jede Auff orderung, ihre Rechte zugunsten Drit- den wird. Italien wie auch Deutschland sahen sich am ter zu begrenzen. In jedem dieser Versuche sehen sie ein Ende des Zweiten Weltkriegs genötigt, eine Demokratie Manöver der Politik, jene Freiheit zu begrenzen, von auf den Ruinen eines totalitären Systems zu errichten. der sie noch Gebrauch machen wollen. Aber das ist ein Bestandteile waren die Freiheit, Information anzubieten großes Missverständnis. Es ist schade, dass jede Debatte (von journalistischer Seite) wie auch die Freiheit, Infor- in Italien davon beeinfl usst wird. Erst vor kurzem habe mation zu beziehen (von Seiten der Öff entlichkeit). Das ich diesen Umstand bei einem Vortrag in Florenz an- Presserecht, aber auch und vor allem die journalistische geprangert. Im Namen des Schutzes der privacy habe Kultur dieser beiden Länder spiegeln den Willen, der ich die Exzesse einer politischen Satire im Fernsehen Erfahrung der Diktatur zu entkommen, indem Freiheit kritisiert, woraufhin das anwesende Publikum Partei für grossgeschrieben wird. Aber wessen Freiheit? Im Blick die Journalisten ergriff , da die Zielscheibe der Sendung auf die italienische Verfassung von 1947 bemerkte der Ju- Politiker waren. In anderen Ländern ist man fähig, zwi- rist Nicola Lipari: »In seinem Wortlaut ist der Artikel schen politischer Satire und persönlicher Diff amierung 21 der Verfassung eher aus dem Blickwinkel derjenigen zu unterscheiden. In der Schweiz würde kaum jemand geschrieben, welche Informationen anbieten« als aus das Gerichtsurteil kritisieren, das die Karikatur einer dem Blichwinkel jener, die sie beziehen. 2 Freiheit bedeu- noch nicht verurteilten Person als Geldwäscher rügte. 3 tet dementsprechend die Freiheit der Journalisten. Erst In Deutschland versteht die öff entliche Meinung, dass danach (und wie wir sehen werden, nicht ohne Wider- das Gericht reagiert hat, als Franz Josef Strauss als stand) haben sich in Italien die Rechte der Bürger als kopulierendes Schwein dargestellt wurde. 4 Weite Teile Nachrichtenempfänger mit durchgesetzt. der italienischen Medienwelt wittern da hingegen sofort Ein zweites ›italienisches‹ Element ist das eigentüm- einen Angriff auf die Pressefreiheit. liche Verhältnis der Medien zur politischen Macht. Seit Anbeginn (schon bevor der Faschismus seine re- 92 | pressiven Gesetze durchgesetzt hatte) gehören die Die resistente Zunft

In Italien sind die Journalisten in einem professionellen, etwaiger Einwände beauftragt war, trat nie in Funktion. von einem staatlichen Gesetz geregelten Berufsstand or- Auch deswegen, weil ab 1996 das Parlament eine neue ganisiert – wie die Ärzte, die Ingenieure und die Rechts- Lösung skizzierte. anwälte. Dies ist ein Erbe des Faschismus mit seiner be- Aufgefordert von der EU hat Anno 1996 auch Ita- rufsständischen Ordnung. Aber in der demokratischen lien eine Legge sulla privacy, ein Gesetz zum Schutz Nachkriegszeit wurde das Modell dennoch durch das der Privatsphäre, eingeführt. Es regelt die Behandlung »Gesetz über die Presse, den Beruf des Journalisten und von persönlichen Bankdaten. Im Rahmen dieses Ge- den Berufsstand (Ordine dei giornalisti)« 1963 bestätigt; setzes mussten, mit einer auch für andere europäische 1997 hat es sogar einem öff entlichen Referendum stand- Gesetzgebungen vorgesehene Ausnahme, bestimmte gehalten. Wer die staatliche Journalistenprüfung besteht, Regeln zum Schutz der von Journalisten und Redakti- muss dem Berufsstand (Ordine) beitreten, wenn er den onen gesammelten Informationen übernommen wer- Berufstitel führen will. Das Gesetz verpfl ichtet den Be- den. Der Berufsstand (Ordine) wurde infolgedessen vom rufsstand, auf das korrekte Verhalten seiner Mitglieder Parlament aufgefordert, einen Codice deontologico, einen zu achten und entsprechende disziplinäre Maßnahmen Pfl ichtenkodex zu verfassen, der auf den Schutz sensibler einzuführen. Der Ordine kann verschiedene Sanktionen Personendaten ausgerichtet ist. Dies geschah, allerdings aussprechen: Die Abmahnung (für Missbrauch oder Ver- widerwillig und mit dem Gefühl, einem politischen gehen leichterer Art), die Zensur 5 (für Missbrauch oder Zwang erlegen zu sein. Es handelte sich jedoch um ei- Vergehen schwerer Art), die Suspendierung und in extre- nen bedeutenden Fortschritt! Nur nach viel Widerstand, men Fällen, den Ausschluss aus dem Register (Albo). und hauptsächlich Dank des persönlichen Ansehens von Um »das Verhalten und den Anstand« der Mitglieder Prof. Stefano Rodotà, selbst Journalist und erster zu beurteilen, hat sich der Berufsstand stets an der all- nationaler Datenschützer, wurde der Kodex schliesslich gemeinen Rechtssprechung orientiert, vor allem was die ausgearbeitet und 1999 als staatliches Gesetz in kraft ge- Verletzung der Ehre einer Person und das Recht zur Ge- setzt. Die Kontrolle über die Anwendung übernahm die gendarstellung betriff t. In der Nachkriegszeit haben sich nationalen Datenschutzbehörde, ein Amt zwischen Po- die Berufsregeln aus den Urteilssprüchen der Berufungs- litik und Beruf (die vier Mitglieder werden von den Prä- gerichte (Corte di Cassazione, die letzte Berufungsinstanz sidenten der zwei parlamentarischen Kammern ernannt). gegen die Berufsstände) und dem Verfassungsgericht Die Behörde hat jedoch keine Kompetenz, Strafmaß- (Corte costituzionale) entwickelt. nahmen gegen Journalisten zu verhängen: Im Fall der Darüberhinaus war ein wichtiges Element der 1982 Verletzung des Codice deontologico muss er den Fall dem vollzogene Beitritt der Federazione della stampa italiana Berufsstand übertragen, der entscheidet, ob die im Pres- (Vereinigung der italienischen Presse, FNSI), der ein- segesetz vorgesehenen Strafen verhängt werden können. zigen Journalistengewerkschaft (sindacato), in die inter- nationale Journalistenvereinigung (FIJ). Fast alle beige- tretenen nationale Vereinigungen hatten schon damals Der Codice deontologico, der Pfl ichtenkodex einen eigenen Berufskodex entwickelt: zum Beispiel der deutsche Pressekodex und die Schweizer Erklärung der Welches sind die Merkmale dieses Regelwerks? Im Ver- Rechte und Pfl ichten der Journalistinnen und Journa- gleich mit anderen Pfl ichtenkodizes, zum Beispiel dem listen (Journalistenkodex). Obwohl ausschließlich zum deutschen Publizistische Grundsätze oder dem schwei- Schutz der wirtschaftlichen Interessen der Journalisten zerischen Pfl ichten der Journalistinnen und Journalisten, geschaff en, wurde die Vereinigung der italienischen zeichnet sich der italienische durch Knappheit aus. Dies Presse (FNSI) Stück um Stück für die (Berufs-)Pfl ich- ist meiner Meinung nach kein Nachteil. Denn dadurch ten sensibilisiert. So hat sie zwei wichtige Dokumente wird vermieden, dass der Kodex jene Details enthält, die verabschiedet, an deren Vorbereitung auch der Berufs- sich bloss auf einen bestimmten Fall beziehen. Ich erin- stand (Ordine) beteiligt war: 1990 die Carta di Treviso, nere hier an Regeln in diesem Kodex: ein Pfl ichtsheft zum Jugendschutz und 1993 die Carta dei doveri del giornalista, die Charta über die journali- Sensible Daten stischen Pfl ichten, welche Regeln zur Achtung der Per- Beim Sammeln persönlicher Daten muss der Journalist son enthält. Diese beiden Dokumente hatten eine ge- sich auf die Daten beschränken, welche von öff entlichem ringe Wirkung. Das Gremium, das mit der Bearbeitung Interesse sind und einen wirklichen Informationsgehalt | 93 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

haben. Er soll die Einbeziehung von Angehörigen und Berufsstand (Ordine) im Fall der Verletzung des Kodex nahe stehenden Personen vermeiden, welche nicht mit verhängt. dem Fall in einem Zusammenhang stehen. (Art. 5) Der Garante hat schon zweimal einen Auszug aus sei- nen Stellungnahmen veröff entlicht, aus denen sich die V.I.P. Linie seiner Interpretation ablesen lässt. 6 Es war ver- Die Privatsphäre von Personen des öff entlichen Interes- ständlich, am Anfang eine pädagogische Übergangs phase ses muss respektiert werden, wenn die Informationen für der Anwendung des Kodex vorzusehen. Diese Arbeit hat die Beurteilung ihrer öff entlichen Rolle nicht von Inte- der Garante gut gemacht. Weniger gut hingegen hat der resse sind (Art. 6,2) Berufsverband (Ordine) funktioniert. Bei ihm herrschte die Tendenz vor, die eigenen Vorstellungen gegen jeden Minderjährige Angriff oder äußere Einfl üsse zu verteidigen. Auch hat Die Namen und die Bilder von Minderjährigen dürfen eine Reihe von neuen Missbrauchsfällen, zum Beispiel nicht veröff entlicht werden, auch nicht in Fällen, die kei- die Veröff entlichung des Inhalts mitgeschnittener Ge- nen Bezug zu einer Straftat aufweisen. Das Recht des spräche, die Regierung im letzten Sommer dazu gebracht, Minderjährigen auf die Zurückhaltung (der Medien) eine Revision der Legge sulla privacy vorzuschlagen. Und geht dem Recht auf Kritik und Berichterstattung vor. zwar in dem Sinne, dass die Bestrafungen für die Verlet- (Art. 7) zungen des Pfl ichtenkodex der Journalisten nicht mehr vom Berufsstand (Ordine), sondern unmittelbar vom Ehre amtlichen Datenschützer (Garante) verhängt werden. Der Journalist darf weder Nachrichten liefern noch Pho- Vorgesehen sind sehr hohe Strafen. Der Gesetzesentwurf tos von Personen veröff entlichen, die die Ehre der Person liegt zurzeit dem Parlament vor. beschädigen könnten. Gewalttätige Details sind wegzu- lassen. Personen dürfen nicht in Handschellen gezeigt werden, es sei denn um auf Misshandlungen aufmerk- Conclusio sam zu machen. Gefängnisinsassen dürfen nur mit ihrer Zustimmung fotografi ert oder gefi lmt werden. (Art. 10) Letztendlich hat das italienische System theoretisch den Vorteil, dass die Bestrafungen auf öff entlichem Recht be- Gesundheit ruhen und von einer staatlichen Behörde verhängt wer- Zurückhaltung bei der Veröff entlichung medizinischer den. Aber: die Bilanz der ersten Jahre unter dem Pfl ich- Informationen, welche das Ansehen und die Würde tenkodex kann nicht befriedigen. Fortschritte wurden eines Menschen beschädigen. erzielt zum Beispiel beim Schutz der Minderjährigen, aber im Allgemeinen zeigen die Journalisten, dass sie Intimsphäre noch nicht ausreichend über den Respekt vor der Privat- Der Journalist hat sich der Beschreibung sexueller sphäre nachgedacht haben, wie anhand der öff entlichen Gewohn heiten von bestimmten Personen zu enthalten. Meinung und auch der Rechtsprechung der letzten 20 (Art. 11) Jahre deutlich wird. Die Entwicklung wird auch von den Bildungsinstitutionen nicht genügend gewürdigt. Die Alle diese Normen treten beim Vorliegen relevanter Universitäten kümmern sich eher darum, der Industrie Gründe für öff entliches Interesse zurück. (Art. 5) Nichts- und den Politikern die spin doctors zu liefern, die ihnen destoweniger soll auch in diesem Fall die Information helfen, die Öff entlichkeit zu beeinfl ussen anstatt sie zu knapp und bündig sein (Art.6) – das heißt, sie darf Be- informieren. Ethikbücher sind rar. Die aktuelle Frage- teiligte, die nur eine untergeordnete Rolle in dem Ge- stellung lautet: Werden sich die Dinge ändern durch den schehen spielen, nicht einbeziehen oder Details wieder- drohenden direkten Eingriff des Staats, durch den Ga- geben, die lediglich reine Neugierde befriedigen. rante, indem man den Berufsstand (Ordine) übergeht? Der Kodex soll eine Balance herstellen zwischen dem Eines ist sicher: In der öff entlichen Meinung herrscht Recht auf den Schutz der persönlichen Ehre einerseits Ungeduld und Gereiztheit gegenüber der immer scham- und dem Recht auf Informationen über gesellschaftlich loseren Einmischung in die Privatsphäre von Menschen relevante Fakten andererseits. Momentan fehlt es jedoch durch die Medien. Daher ist es notwendig, die Grenzen an einer klaren und deutlichen Defi nition des Begriff s einer verantwortungsvollen Publizistik in der Zivilge- »öff entliches Interesse« für die Öff entlichkeit und die sellschaft zu ziehen. Berichterstatter. Diese Schwierigkeit wird sich wahrscheinlich legen: durch die Festigung der Gesetzgebung des Garante 94 | (Datenschützer) und durch die Strafen, welche der Journalistische Ethik in Italien

Anmerkungen Literatur

1 D.C.Hallin & Paolo Mancini: Comparing Media Angelo Agostini, Giornalismi: Media e giornalisti Systems. Th ree Models of Media and Politics. Cambridge In: Italia, il Mulino, Bologna, 2004. University Press, Cambridge UK, 2004. Franco Abruzzo: Codice dell’informazione. Neue 2 N. Lipari: Il riserbo e la notizia In: Atti del Convegno Aufl age In: 3 Bd., Centro di documentazione giornalistica. di studio dell’Associazione italiana magistrati, 5. – 6. Piazza di Pietra 26, 00186 Roma, 2006. März 1982 Adriano Fabris: Guida alle etiche della comunicazione. 3 Urteil 17.5.1994 des Schweizerischen Bundesgerichts Edizioni ETS, Pisa, 2004. Eine CD im Anhang mit den (Kopp c. Tages-Anzeiger). Siehe: P. Studer & R. Mayr Pfl ichtenkodices verschiedener Berufe, national und in- von Baldegg: Medienrecht für die Praxis. SaldoRatge- ternational. ber, Zürich, 2006, p. 172. Adriano Fabris: Etica della comunicazione. Carocci, 4 BverGE 75, 369. Roma, 2006. 5 »Zensur« ist hier nicht im Sinne eines Veröff entlich- Daniel C. Hallin & Paolo Mancini: Comparing keitsverbots sondern als »gravierende Mahnung« zu Media Systems. Cambridge University Press, Cambridge verstehen. UK, 2004. 6 M. Paissan (a cura di): Privacy e giornalismo. Diritto Paolo Mancini & Gerd G.Koppert: Kulturen des di cronaca e diritto dei cittadini. 2. Aufl age, 2006. Journalismus und politische Systeme. Vistas, Berlin, 2003. Paolo Mancini: Mediensystem und journalistische Kultur in Italien. Vistas, 2005. Roberto Manservisi: Giornalismo & regole dell’informazione. Bononia University Press. Bologna, 2004. Denis McQuail: Sociologia dei media. il Mulino, 2001. Enrico Morresi: Etica della notizia. Casagrande, Bellinzona, 2003. Mauro Paissan: Privacy e giornalismo. Auszug der Stellungnahmen des Garante, Istituto poligrafi co e Zecca dello Stato, Roma, 2006. Paolo Scandaletti: Etica e deontologie dei comuni- catori. Luiss University Press, Roma, 2005. Ein CD im Anhang mit den Pfl ichtenkodices des journalistischen Berufs, national und international. Carlo Sorrentino: Il giornalismo. Che cos’è e come funziona. Carocci, Roma, 2002

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Peter Studer Ein Blick in die Maschinerie des Schweizer Presserats

Oft werde ich mit Fragen zum System Presserat ange- Wie gut ist der Presserat in der Journalistenbranche veran- gangen. Statt eines Aufsatzes diesmal also ein Strauss kert? Manche schelten ihn einen »zahnlosen Tiger« … typischer Fragen und der Versuch, sie knapp zu beant- worten. Indizien liefert die Zunahme der Beschwerden. 1995 pu- blizierte der Presserat fünf Stellungnahmen zu fünf Be- schwerden; 2006 lagen rund 120 Beschwerden vor dem Weshalb überhaupt ein Presserat, der zwar betont, auf Presserat, von denen er 66 mit oft ausführlichen Stel- Freiwilligkeit zu beruhen, aber dennoch mit »Rügen« und lungnahmen erledigte. »Freisprüchen« recht dezidiert auftritt? Im letzten Quartal 2006 führte das Institut für ange- wandte Medienwissenschaft (Hochschule Winterthur) Der Schweizer Presserat, gegründet 1978, wendet die »Er- eine Umfrage bei über 1000 Journalistinnen und Journa- klärung der Pfl ichten und Rechte der Schweizer Journa- listen aller Regionen und Stufen durch. Vorläufi ge Resul- listinnen und Journalisten« (1972 / 1999) an. Fundstelle: tate ergaben, dass über 90 Prozent den Presserat, knapp www.presserat.ch, Erklärungen unter 90 Prozent den Journalistenkodex »kennen«. Man hält den Kodex für »nützlich«, aber erst 30 billigen ihm Das Selbstverständnis zu, den Dialog in den Redaktionen konkret zu stimulie- des Presserats hat zwei Komponenten: ren. Hier sind die Redaktionskader gefordert – und der Proaktiv will er zur Qualitätswahrung im Berufsjour- Presserat selber mit zielgerichteter Öff entlichkeitsarbeit. nalismus beitragen. Qualitätsmedien sind laut Bundes- Als einzige Sanktion steht die Publikation der Stellung- verfassung gesellschaftlich und politisch unverzichtbar nahmen da, zu denen viele Kurzmeldungen abgedruckt als Plattformen der Information sowie der Meinungs- werden. Das erzeugt eine gewisse Reputationswirkung. bildung – deshalb gewähren Westeuropas Verfassungen Der Eintrag ins Berufsregister der Journalistenverbän- ausdrücklich Medienfreiheit. Nur glaubwürdige Medi- de und die Abgabe des Journalistenausweises setzt ein eninhalte werden vom Publikum als Qualitätsjournalis- Bekenntnis zum Journalistenkodex gegenüber den drei mus wahrgenommen. Und Glaubwürdigkeit setzt me- Basis-Berufsverbänden voraus, die das System Presser- dienethische Masstäbe der Berichterstattung voraus. at tragen (Impressum, Comedia, Syndikat Schweizerischer Medienschaff ender R/TV). Bei schweren oder wiederhol- Defensiv möchte der Presserat in freiheitlichem Sinne ten Verstössen kann der Eintrag ins Berufsregister ge- dem Wuchern einengenden Medienrechts wehren: löscht werden (was seit Inkrafttreten dieser Bestimmung Selbstregulierung statt Fremdregulierung. 2003 noch nie geschehen ist). Der vierte Trägerverband des Systems Presserat ist die Konferenz der Chefredak- Der Presserat dient jedermann / jeder Frau als Beschwer- torInnen. deinstanz gegen Verletzungen des Journalistenkodex. Verhandlungen mit der Verlegerschaft, bisher der Am Ende des Verfahrens erklärt er die Beschwerde grossen Abwesenden im System Presserat, haben die ganz / teilweise berechtigt (»Rüge«) oder lehnt sie ab Verhandlungsdelegationen der Verlegerschaft und des (»Freispruch«). Er stellt seine Stellungnahmen, die auf Stiftungsrats Ende April erfolgreich abgeschlossen: Die Beschwerde und Beschwerdeantwort (des Medien- Verlegerschaft sowie die Schweizerische Radio- und hauses) beruhen, sogleich samt Begründung ins Netz Fernsehgesellschaft sollen mit einer Sperrminorität bei (www.presserat.ch, Stellungnahmen). Anders als der wichtigen Stiftungsentscheiden gegenüber den Journa- Deutsche Presserat unterscheidet er weder zwischen ver- listenverbänden Einsitz im Stiftungsrat des Presserats öff entlichten und unveröff entlichten Stellungnahmen erhalten; publizistisch sensibilisierte Mitglieder würden noch zwischen Hinweisen, Missbilligungen und Rügen. auch in den operativen Presserat wählbar sein. Anders als Mit dieser formalen Klarheit will er auch den mediene- im Deutschen Presserat würde also nicht das Prinzip der thischen Diskurs in den Redaktionen erleichtern. Parität auf allen Ebenen gelten. Der bisherige Stiftungs- rat des Schweizer Presserats, ausschliesslich mit Ver- 96 | tretern der Journalistenverbände besetzt, müsste dem Verhandlungsresultat im November 2007 mit Zweidrit- refl ektiert. Auch aus Zeitgründen fokussiert der Pres- telsmehrheit zustimmen. Der Ausgang der Abstimmung serat meist auf die Auslegung der Journalistenpfl ichten ist weit off en (Ende April 2007). nach den Leitpostulaten von Wahrhaftigkeit, Transpa- renz und Fairness. Der Schweizerische Kodex enthält elf Pfl ichten und Woher stammen die Normen des Presserats? sieben Rechte; letztere spielten bisher eine geringe Rol- le (schätzungsweise in etwa 2  der Fälle), weil sich die An der Wiege des Schweizer Kodex anfangs der 1970er meisten an die Verleger wenden, die aber dem System Jahre standen die Kodices internationaler Journalisten- Presserat (noch) nicht angehören. verbände; von diesen aber ist in der heutigen Praxis nichts Im Jahr 2000 hat der operationelle Presserat den elf mehr zu spüren 1. Auch an den jährlichen Tagungen der Pfl ichten insgesamt 45 Richtlinien beigegeben. Hier selbstregulierten (nichtstaatlichen) Presseräte Europas handelt es sich nicht um weitere Pfl ichtnormen, sondern um (AIPCE) werden keine internationalen Quellen zi- ein Kondensat der Presseratspraxis, das die oft etwas ab- tiert. Mehrmals haben die AIPCE-Tagungsteilnehmer strakten Pfl ichten veranschaulicht. Eine Überfl utung mit in Gruppen aber einzelne Fälle aus den verschiedenen »Normen« auf verschiedenen Ebenen würde nur verwir- Mitgliedsländern »gelöst« – und besonders im Bereich ren. Der Journalistenkodex ist – weil Änderungen einer »Schutz der Privatsphäre« überraschende Ähnlichkeiten Zweidrittelsmehrheit im Stiftungsrat bedürfen – verän- der Fallbehandlung festgestellt. Andererseits divergieren derungsresistent. Die fl exiblen Richtlinien formuliert der gewisse Grundvoraussetzungen etwa über Kritikfunkti- operationelle Presserat von sich aus mit einfacher Mehr- on und Unabhängigkeit der Medien zwischen West- und heit. Damit reagiert er auch rasch auf neue Tendenzen Osteuropäern. – etwa im Interviewbereich. Die Richtlinien sind deshalb Der Journalistenkodex gehört zu den Werkzeugen veränderungsfreundlich. der angewandten oder deontologischen (pfl ichtbetonten) Ethik. Dieser meist berufsbezogene Ethik-Typus kon- zentriert sich darauf, »Regeln zu bestimmen, innerhalb Ein Beispiel aus dem Interviewbereich? derer Diff erenzen der Interessen, aber auch der Lebens- formen möglich sind … Es sind die Regeln und weni- Ich kann das anhand von zwei unterschiedlichen Strate- ger die dahinterstehenden Werte, die den normativen gien zur Gestaltung von Richtlinien erklären. Grundkonsens tragen« ( Julian Nida-Rümelin) 2. Der deutsche Medienethiker scheint sich – ohne das Der Deutsche Presserat hat Kodex und Richtlinien 2006 ausdrücklich zu sagen – an den Regelutilitarismus des zu seinem 50. Jahrestag revidiert. Zum Zankapfel »In- britischen Ethikers Richard B. Brandt 3 anzulehnen. terview«, der besonders in Deutschland viele Autorisie- Im Unterschied zum platten individuell ausgerichteten rungskonfl ikte hinsichtlich der Umschreibepraktiken Utilitarismus ist eine Handlung nach Brandt mora- von Interviewgebern provozierte, heißt es jetzt grund- lisch dann richtig, wenn sie »mit Handlungsregeln kon- sätzlich und schlicht: Ein Wortlautinterview ist auf jeden form geht, die – als Regeln befolgt – das Maximum an Fall journalistisch korrekt, wenn es das Gesagte richtig wie- Wohlergehen beförderten (Was wäre, wenn jeder [ Jour- dergibt (Richtlinie 2.4.). nalist] so handelte?)« 4. Liegt hier vielleicht eine »Mar- Der Satz hat in seiner Klarheit sowohl bei deutschen riage« vor zwischen Kants Kategorischem Imperativ, wie auch bei einigen schweizerischen Kommentatoren A ugustinus’ »Goldener Regel« (Was Du nicht willst Beifall gefunden. Aber ist er auch zielführend? Ich be- dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu) und zweifl e es. Ein umstrittener CEO oder Politiker, der den Nöten des modernen Wertepluralismus? von Interviewbegehren heimgesucht wird, gewährt nur Das ist eine erzpragmatische, lösungsorientierte Grund- den Journalisten ein Interview, die ihm das Gegenlesen haltung. Sie ist auch jenen hochgesinnten Kritikern ent- zusichern. Tun sie es nicht, gibt es eben kein Interview. gegenzuhalten, die sich vom Presserat mehr ethische Die Forderung nach Gegenlesen ist auch keineswegs an Grundsatzdiskussion auf höherer Ebene wünschten sich schon unanständig. Die meisten Journalisten reden (Debatin an der Tagung 2000 des deutschsprachigen zu ausschweifend mit ihren Interviewpartnern. Sie wis- Netzwerks Medienethik in München). Die typische Sit- sen, dass sie 250 Zeilen zur Verfügung haben; aber das zung einer Kammer des Schweizer Presserats bleibt nicht wörtliche Transkript füllt 1300 Zeilen (SonntagsZeitung in systemethischen Debatten stecken. Sie müht sich mit Zürich, Interview mit der stark kritisierten stadtzürche- der Auslegung bestehender oder mit der Neuschöpfung rischen Sozialministerin Monika Stocker, März 2007). tauglicher Regeln – ohne Nida-Rümelin oder Brandt Das ›Eindampfen‹ der Textmasse schaff t Streit. So oder zu kennen. Fundamentale Werthaltungen werden mit- so muss der Interviewgeber schon klare Versprecher, aber unter aber indirekt bei der Diskussion einzelner Fälle auch unbeabsichtigte Nuancenverschiebungen durch | 97 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

den Journalisten diskutieren können: Eine Konsequenz beruht auf Freiwilligkeit. Es gibt nur einen rein internen des Fairnessprinzips, immer jedoch auf der Basis des Ge- Rekurs: Wenn zwei der 21 Mitglieder mit der zirkulie- sagten (meist auf Tonband). In diesem engen Rahmen renden Endfassung einer Stellungnahme nicht einver- kann notfalls fair um einige wichtige Nuancen verhan- standen sind. Die Verfahren sind kostenlos. Oder eine delt werden. Revision: Wenn eine Stellungnahme auf nachweislich falschen Tatsachenannehmen beruht. Deshalb hat der Schweizer Presserat 2005 seine neuen Bei manchen Chefredaktoren und Verlegern schaff t es Richtlinien 4.5. (Interview) und 4.6. (Recherchegespräch) böses Blut, wenn der Presserat einen Fall aufgreift, der nicht als normative Statements, sondern als ethisch- bereits vor einem Gericht hängig ist oder hängig werden praktische Handreichung an Journalisten verstanden. Er könnte. Sobald ein Fall wichtige medienethische Fra- empfi ehlt ihnen, besonders bei heiklen Interviewgebern gen aufwirft und die Beschwerde nicht auf einen Miss- den genau überlegten Inhalt der Richtlinie 4.5. vorher zu brauch (Stoff sammlung für den Gerichtsfall) hindeutet, übermitteln, sich bestätigen zu lassen und damit allfäl- nimmt der Presserat trotzdem – eng begrenzt auf den lige spätere Meinungsverschiedenheiten strikt zu kana- medienethischen Aspekt – Stellung. Ansonsten müsste lisieren. Also auf jeden Fall kein nachheriges Umschrei- er oft Jahre lang warten, bis das Urteil der letzten Instanz ben des Interviews und keine Implantation von neuen rechtskräftig ist. Jährlich weist er aber einige Beschwer- Fragen, Antworten und Gesetzeshinweisen (wie es Frau den zurück, die ihm missbräuchlich scheinen. Stocker laut Reporter in einer frühen der insgesamt 7 Auf weite Strecken laufen Gesetze und Journalisten- Versionen versuchte). Am Ende gilt: Die zuletzt verein- kodex einigermaßen parallel, wobei das Gesetz meist – barte Version ist zu drucken. wenn überhaupt – nach dem Wort eines bekannten deut- schen Rechtslehrers »nur die ethischen Minima« erfasst Richtlinie 4.5. Interview (Georg Jellinek). Das gilt besonders für den Bereich Das Interview basiert auf einer Vereinbarung zwischen Persönlichkeitsschutz (Recht) / Schutz der Privatsphäre zwei Partnern, welche die dafür geltenden Regeln ( Journalistenkodex mit zahlreichen Praxisrichtlinien). festlegen. Besondere Bedingungen vor der Aufzeich- An einigen Punkten sind Kollisionen möglich: Beim nung (Beispiel: Verbot, gewisse Fragen zu stellen) sind Zeugnisverweigerungsrecht der Journalisten hatte das bei der Publikation öff entlich zu machen. Im Nor- Parlament dem Strafgesetzartikel zahlreiche Ausnahmen malfall müssen Interviews autorisiert werden. (…). aufgebürdet; der Journalist, der dem Informanten unter Der Interviewte darf bei der Autorisierung keine we- Umständen für Anonymität bürgt, widersetzt sich in ex- sentlichen Änderungen (des Sinns, der Fragestellungen) tremis einem richterlichen Befehl (nimmt dann aber die vornehmen. Er kann aber off ensichtliche Irrtümer kor- richterliche Bestrafung in Kauf). rigieren. Auch bei starken Kürzungen [Normalfall, d. Dem Richter kann eine Stellungnahme des Presserats Verf.] soll er seine Äußerungen wieder erkennen. Ist besonders dann dienlich sein, wenn das Gesetz eine sehr keine Einigung zu erzielen, haben Medienschaff ende allgemeine ›Generalklausel‹ enthält, etwa über ein feh- das Recht, auf eine Publikation zu verzichten oder den lerhaftes Rechercheresultat, das der Journalist »in guten Vorgang transparent zu machen (…). Treuen für wahr« halten durfte (weshalb er laut Gesetz strafl os bleibt). Hier kann sich der Richter an den Re- Richtlinie 4.6. Recherchegespräch chercheregeln des Journalismus orientieren, sie als »state Journalisten sollen ihre Gesprächspartner über das Ziel of the art« der Sorgfaltspfl icht benennen. Auf jeden Fall des Recherchegesprächs orientieren. Medienschaff ende ist der Richter nicht daran gebunden, denn er praktiziert dürfen Statements ihrer Gesprächspartner bearbeiten die freie Beweiswürdigung. und kürzen, soweit dies die Äußerungen nicht entstellt. Dem Befragten muss bewusst sein, dass er eine Autori- Ist der Presserat in dem Sinn ›verrechtlicht‹, dass man sierung (…) verlangen darf. für Beschwerde oder Beschwerdeantwort einen Anwalt braucht? Wie verhalten sich Medienrecht und Medienethik, Gerichte und Presserat zueinander? Auf keinen Fall. Die elf Journalistenpfl ichten des Kodex und ihre Praxis sind leicht zu handhaben. Wirtschafts- Medienrecht ist grundsätzlich zwingend, und der Richter kapitäne wie auch grosse Medienhäuser setzten meist wendet es von Amtes wegen an. Urteile können über meh- aus Bequemlichkeit ihre Rechtsabteilungen auch in der rere Instanzen gezogen werden, in Grundrechtsfragen bis Medienethik des Presserats ein. Der grössere Teil der an den Europäischen Gerichtshof für M enschenrechte Schriftenwechsel stammt jedoch von juristischen Laien. in Strassburg. Es laufen oft hohe Gerichts- und An- 98 | waltskosten auf. Medienethik, ausgelegt vom Presserat, Ein Blick in die Maschinerie des Schweizer Presserats

Wie läuft ein Verfahren vor dem Presserat ab? Anmerkungen

Nach Eintreff en einer Beschwerde schlägt der Sekretär, 1 Die Déclaration des Devoirs des Journalistes der Inter- die »Drehscheibe der Maschinerie«, den beiden Vize- nationalen Journalistenföderation in Bordeaux (1954). präsidenten und dem Präsidenten vor, darauf einzutre- Eine Erklärung der Pfl ichten und Rechte der Journali- ten oder nicht (Nichteintretensgründe sind etwa: Reine stinnen und Journalisten wurde 1971 von sechs europä- Rechts- statt Ethikfrage, Verlangen einer Geldzahlung, ischen Journalistenverbaänden in München verabschie- fehlende Begründung). Falls ja, fordert er vom Medien- det. Vgl. Daniel Cornu, Journalisme et vérité, Genève haus eine Antwort. Hernach konferieren Sekretär und 1994, S. 52 ff . Präsidium per e-mail, ob es sich um einen unspektaku- 2 Juian Nida-Rümelin: Demokratie und Wahrheit. lären Routinefall handelt, den sie aufgrund eines Ent- München 2006, S. 47 ff wurfs des Sekretärs unter sich bearbeiten. Oder ob eine 3 Richard B. Brandt: Some Merits of one form of Rule- der drei nach Sprachen unterschiedenen Kammern – je- Utilitarisnism. University of Colorado 1967 – abge- weils fünf Medienleute, zwei Publikumsvertreter – sich druckt in Otfried Höffe: Einführung in die utilita- des Falls annehmen soll. In der Kammer referiert ein ristische Ethik. Tübingen / Basel 2003, S. 183 ff Mitglied mit seinem Entwurf; dann folgt Diskussion. 4 Höffe, Anm. 3, S. 31 Der Sekretär setzt nachher den bereinigten Kammerent- wurf beim ganzen Presserat in Umlauf (21 Mitglieder). Ganz selten erheben zwei Mitglieder Einwände – etwa einmal alle zwei Jahre. Ein Doppeleinwand bedeutet laut Geschäftsreglement, dass der Entwurf des Präsidial- entscheids in eine Kammer oder an das Plenum geht. Zuletzt wird die verabschiedete Stellungnahme, oft mit einer vorgelagerten Pressemitteilung, publiziert. Gelegentlich fi ndet ein Mitglied – meist der Präsident –, ein Th ema sei wegen seiner medienethischen Tragweite aufzugreifen, selbst wenn keine Beschwerde eingetroff en ist. Dazu bedarf es einer über e-mail eingeholten Zu- stimmung einer Mehrheit des operationellen Presserats (Beispiele: Journalistische Ethik im Internet 36/2000, Rassismus in der Kriminalberichterstattung 10/2001, Fall Borer 62/2002, Mohammed-Karikaturen 12/2006). Im Meinungsaustausch mit ausländischen Presse – oder Medienräten fällt jeweils auf, dass der Schweizer Presse- rat keine eigenen Residenzräume hat. Das Kommuni- kationszentrum für Beschwerden und Stellungnahmen ist die Anwaltskanzlei des Sekretärs. Ein grosser Teil der internen Kommunikation läuft über E-mail. Auch ein überaus knapp bemittelter Presserat kann funktionieren. Das versuchen wir immer wieder den »emerging Press Councils« von Aserbeidschan bis Ukraine beliebt zu machen. Viele wenden sich zunächst an internationale Institutionen mit der Bitte um Subventionen – die re- gelmässig aufgrund der Reglemente nach einigen Jahren wieder versiegen. Unsere Empfehlung deshalb: Klein an- fangen, sich die normative Kompetenz schaff en, in den Medien über die Medien publizieren.

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Cristina Elia

Vierzig Jahre Presseombudsmann Wer sind die Leserschaftsanwälte und wie kommunizieren sie? Eine vergleichende Analyse

1967 nahm In Louisville, Kentucky, der Leserschaftsan- Ganz off ensichtlich ist es nützlich, jemanden im Ver- walt John Herchenroeder seine Tätigkeit auf. Vor lag zu haben, der bei Konfl ikten vermittelt und der vierzig Jahren wurde damit in den Vereinigten Staaten Leserschaft die Zeitung und ihre Produktionsprozesse der erste Ombudsmann für Printmedien eingesetzt. verständlich macht. Dennoch hat die Institution Om- Hauptaufgabe solcher »readers’ representatives« 1 ist budsmann noch immer Mühe, sich zu behaupten. Om- es, auf Beschwerden der Rezipienten einzugehen und budsleute sind in den Printmedien im angelsächsischen zwischen ihnen und der Redaktion zu vermitteln. Oft Raum vergleichsweise sichtbar, auch in einigen anderen thematisieren Ombudsleute dabei auch die Funktions- kontinentaleuropäischen Ländern und in Lateinamerika weise einer Redaktion. Sie erläutern dem Publikum, wie sind sie zumindest gelegentlich in der Öff entlichkeit prä- und weshalb Journalisten und Verleger bestimmte Ent- sent. Es gibt eine ganze Reihe von Untersuchungen über scheidungen treff en, sie klären, welche Dilemmata und die Anfänge, die Funktionsweise und die Wirksamkeit Probleme im Tagesgeschäft auftreten und sie fungieren der nordamerikanischen Leserschaftsvertreter. Von den somit als ›öff entliches Gewissen‹ des Journalismus. Nicht Ombudsleuten, die in der übrigen Welt tätig sind, wissen zuletzt nehmen sie Einfl uß auf die Journalisten, indem wir dagegen bislang wenig. Rechtzeitig zum vierzigsten sie als Kontroll- und Qualitätssicherungsinstanz auf de- Jahrestag der Institution des Presse-Ombudsmanns will ren Arbeit einwirken. Oft sind sie als Bezugspersonen die vorliegende Untersuchung dieses Manko beheben. in die Redaktion eingebunden, als eine Art ›Coach‹, an den sich auch die Journalisten in schwierigen Entschei- dungssituationen wenden können.

Abbildung 1: Übersichtskarte der kontaktierten Ombudspersonen

100 | Lücken im empirischen Forschungsfeld zum Ombuds- Wer sind die Ombudspersonen mann und methodologische Anmerkungen in den drei Analysegebieten?

Die vorliegende Analyse soll also eine Forschungslücke Die Datenanalyse in den drei Untersuchungsräumen er- schließen. Mit Ausnahme einzelner nationaler Studien, gibt einige Ähnlichkeiten: mehr als 90 Prozent der Om- z. B. für Holland (Van Dalen und Deuze 2006), für budsleute waren Journalisten, bevor sie ihr Amt übernah- die Schweiz (Trechsel 2005), sind bislang nur die der men, ebenfalls 90 Prozent von ihnen sind für ein einziges Organization of News Ombudsmen angehörenden Om- Medienunternehmen tätig. budsleute, die meist aus den Vereinigten Staaten kom- Bemerkenswerter ist, wie sich die Ombudsleute beim men, untersucht worden (insbesondere: Papirno 1997, Vergleich ihrer Herkunftsregionen unterscheiden – ins- Ettema / Glasser 1987; Schultz 2000; Nemeth besondere hinsichtlich Alter und Geschlecht. Wie bereits 2004). Die Situation in den meisten anderen Ländern ist von Stark (1999: 3) herausgearbeitet, ist der Ombuds- nicht erforscht; und es gibt bislang keine vergleichenden mann meist ein Journalist »in reiferen Jahren«. Das bestä- Studien (vgl. van Dalen und Deuze 2006: 458) – was tigt auch die vorliegende Analyse: das Durchschnittsalter freilich kaum verwunderlich ist, denn nicht zuletzt auf- beträgt 57 Jahre. Im europäischen Raum sind Ombuds- grund methodischer Schwierigkeiten mangelt es generell leute mit durchschnittlich 66 Jahren dagegen um 9 Jahre an komparativen kommunikationswissenschaftlichen älter in den beiden anderen geographischen Räumen. Untersuchungen (Hallin / Mancini 2004: 20 – 21). Im Folgenden wird zwischen den Journalismus- Kulturen verglichen. Zugleich wird dort, wo ältere Er- Durchschnittliches Geburtsjahr in: hebungen vorliegen, auch die Entwicklungsdynamik der Europa = 1940 ›Institution Ombudsmann‹ aufgezeigt, also beobachtet Im angelsächsischen Raum = 1951 und herausgearbeitet, wie sich gewisse Aspekte verän- Im Mittelmeerraum und in Lateinamerika = 1954 dern und was über vier Jahrzehnte hinweg gleich geblie- ben ist. Zur Analyse der Daten wird das von Hallin Das Alter der Befragten ist deshalb interessant, weil es und Mancini (2004: 62 – 63) vorgeschlagene Modell auch Rückschlüsse auf den Karriereabschnitt zuläßt, in verwendet. Demzufolge läßt sich die Vielfalt journali- dem sich Ombudsleute befi nden. Im kontinentaleuro- stischer Kulturen drei Idealtypen zuordnen: päischen Raum handelt es sich um die letzte Phase im 1. Mediterranes oder polarisiert-pluralistisches Modell: Berufsleben eines Journalisten, ja off enbar sogar meist »Mittelmeerraum und Lateinamerika« 2 um eine Beschäftigung, der man nach der Pensionierung 2. Kontinentaleuropäisches oder demokratisch- nachgeht. Oft sind es ehemalige Redakteure, die im Ru- korporatistisches Modell: »Europäischer Raum« hestand bei ihren früheren Arbeitgebern solch eine Teil- 3. Nordatlantisches oder liberales Modell: zeitfunktion übernehmen. »Angelsächsischer Raum« Diese Besonderheit läßt sich einerseits negativ bewer- ten, denn der Einsatz eines jüngeren Leserschaftsan- Den ausgewählten Ombudsleuten wurde ein Fragebogen walts, der in der Redaktion präsent und mit den neuen mit 40 Fragen zugestellt. 3 Technologien vertraut ist, bringt gewiss Vorteile – nicht Die weltweite Rücklaufquote betrug fast 60 (50 ausge- nur im Blick auf den ›Draht zur Leserschaft‹, sondern füllte Fragebogen). 4 auch in puncto Einfl uß, der auf die Redaktion ausgeübt werden kann (Rolle als Coach). Für ältere Ombudsleute spricht dagegen, dass sie ihr in langen Jahren der Re- daktionsarbeit gewonnenes Ansehen und eine entspre- chende Kenntnis der Arbeitsprozesse einbringen – sowie die Unabhängigkeit einer Person, die bereits ihre eigene berufl iche Karriere abgeschlossen hat. | 101 Inhalt EditorialSchwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

Auch in Bezug auf das Geschlecht sind die Unter- Abbildung 5: Beschäftigungsgrad als Ombudsperson schiede enorm. Im angelsächsichen Raum hat der Frau- enanteil über die Jahre hinweg stark zugenommen und Kontinentaleuropäischer Raum wuchs bis auf rund 40 Prozent an (Nemeth 1999, 39; 29% Starck 1999). Dieser Wert ist in den letzten Jahren in etwa stabil geblieben. Noch 1985 waren nur sechs Prozent Teilzeit der Ombudsleute im angelsächsischen Raum weiblich. Vollzeit 71%

6% 37% Angelsächsischer Raum 21% Frauen Teilzeit Männer Vollzeit 94% 63% 79% 1985 2006 Mittelmeerraum und Lateinamerika Abbildung 2: Geschlecht – Angelsächsischer Raum, 29% Entwicklung innerhalb von 20 Jahren (Ettema und Glasser 1987 – Elia 2006) Teilzeit Vollzeit Im Gegensatz dazu sind der Mittelmeerraum, Latein- 71% amerika und auch Kontinentaleuropa ›rückständig‹: Im Untersuchungssample war nur ein Ombudsmann – und Verglichen mit den Daten aus den früheren Untersu- zwar in Bogotà, Kolumbien – weiblichen Geschlechts chungen, hat im angelsächsischen Raum der Beschäfti- (entspricht: 3 Prozent). Weiteren Recherchen zufolge gungsgrad zunächst ab- und dann wieder zugenommen: gibt es beim Eindhovens Dagblad in Dänemark eine 1985 arbeiteten 75 Prozent der Befragten auf Vollzeitbasis weitere Ombudsfrau, und seit Dezember 2006 hat end- (Ettema / Glasser 1987: 7), 1999 waren es ungefähr 66 lich mit Le Monde auch eine europäische Zeitung von Prozent (Nemeth 2004: 36) – gegenüber 79 Prozent der Weltrang mit Véronique Maurus eine Frau als Leser- Befragten im Jahr 2006. In den Vereinigten Staaten be- schaftsanwältin. steht somit eine klare Tendenz, das Mandat in Vollzeit auszuüben, was sich auch als Bedeutungsgewinn für die 3% Institution und die Funktion des Leserschaftsanwalts werten läßt. Frauen Männer 97% Wie kommunizieren Ombudsleute?

Abbildung 3: Geschlecht. Mittelmeerraum / Lateinameri- Ein Vergleich der Kommunikationskanäle, welche die ka und Europäischer Raum Ombudsleute der drei Analyse-Regionen in ganz unter- schiedlicher Intensität nutzen, erlaubt Rückschlüsse, wie Diametral entgegengesetzte Ergebnisse ergeben sich auch sich ihre Arbeit eff ektiver und effi zienter gestalten ließe. beim Beschäftigungsgrad. Im angelsächsischen Raum ist Die eigene Zeitungskolumne ist der öff entlich sicht- die Anzahl Ombudsleute, die einer weiteren Berufstä- barste Teil der Aktivität eines Ombudsmannes. Hier tigkeit nachgehen, gering – ungefähr 80 arbeiten auf werden Fragen aufgegriff en, Probleme thematisiert, In- Vollzeitbasis. Im Mittelmeerraum und in Lateinamerika terpretationen vorgeschlagen – und die Leser gleichsam sowie im kontinentaleuropäischen Raum üben dagegen medienpädagogisch zu den Th emen hingeführt, die das mehr als 70 Prozent der Befragten die Ombudsfunktion Wesen des Journalismus und seine Qualität tangieren. Die als Teilzeitaktivität aus. Datenanalyse ergibt insoweit ein erfreuliches Bild: Mehr als 60 Prozent der Leserschaftsanwälte nutzen diesen Kanal regelmäßig – das heißt meist: einmal pro Woche. Nur 13 Prozent der Befragten haben keinen solchen Zu- gang zur Leserschaft. Besonders aktiv sind die Befragten 102 | im angelsächsischen Bereich sowie im Mittelmeerraum Vierzig Jahre Presseombudsmann

und in Lateinamerika, in Kontinentaleuropa hingegen Europä- Angelsäch- Mittelmeer- verzichten mehr als 20 Prozent auf eine solche Kolum- ischer sischer Raum raum und ne. Damit wird nicht nur eine wichtige Chance zu einer Raum Lateinamerika öff entlichen Diskussion über Journalismus und seine ja, mehr 14.3 36.8 11.8 Qualitätsstandards vertan. Der Ombudsmann ist auch als 10mal weniger sichtbar für die Leserschaft und wird so partiell pro Jahr seines Wirkungspotentials beraubt. Dementsprechend ja, 6mal 7.1 26.3 5.9 geringer dürfte das Verständnis für die Bedeutung und pro Jahr für die Möglichkeiten dieser Institution bei den Stake- ja, gele- 57.1 31.6 23.5 holdern ausgeprägt sein. gentlich Ansonsten nutzen die Ombudsleute regionen-übergrei- fend im Dialog mit der Leserschaft dieselben drei K anäle: nein 21.4 5.3 58.8 E-Mail hat inzwischen alle anderen Kommunikations- Total 100.0 100.0 100.0 wege übertrumpft, 98 Prozent der Befragten sprechen ihre Leser auf diesem Wege an, aber auch Telefon und Abbildung 6: Treff en mit Publika, in  Fax sind wichtig geblieben. Ombudsleute und Journalisten kommunizieren meistens persönlich (90) oder per E-Mail (76). Auch hier Chat 10% könnten die Europäer und Lateinamerikaner aktiver Blog 18% werden, orientierten sie sich am angelsächsischen Vor- bild. Wer an Redaktionssitzungen teilnimmt, erhält Ein- Webforum 24% blicke in die Produktionsprozesse und kann mehr Kon- Fax 82% trolle ausüben und aktiver an Entscheidungen mitwirken. Telefon 86% Zwei Drittel der angelsächsischen Ombudsleute nimmt diese Chance wahr, 37 Prozent beteiligen sich aktiv an E-Mail 98% den Diskussionen. Im Mittelmeerraum und in Lateina- merika nutzen knapp 30 Prozent der Leserschaftsanwäl- Abbildung 5: Kommunikationsarten mit der Leserschaft te diese Möglichkeit, im kontinentalen Europa hingegen halten sie Abstand: mehr als 90 Prozent nehmen nie in einer Redaktionssitzung teil. Der Vergleich ergibt indes, dass in Europa und in La- teinamerika einige Kommunikationsmöglichkeiten mit Europä- Angel- Mittelmeer- der Leserschaft noch wenig genutzt werden. Im angel- ischer säch- raum und sächsischen Raum laden Ombudsleute regelmäßig Leser Raum sischer Lateiname- ein, um persönlich mit ihnen in Diskussionsrunden über Raum rika die Arbeitsweise ihrer Zeitung oder generell über Jour- ja, und ich betei- 7.1 36.8 23.5 nalismus zu diskutieren. Solche Interaktionen erweitern lige mich aktiv den Wissensstand der Beteiligten und erleichtern es den an den Diskus- Ombudsleuten, den Puls ihrer Leserschaft zu fühlen: Sie sionen erfahren von Meinungen, Sorgen und Interessen, die sie anschließend an die Kollegen in der Redaktion weiterlei- ja, aber ich höre 0 36.8 5.9 ten oder in ihrer Kolumne aufgreifen können. 40 Prozent nur zu der angelsächsischen Ombudsleute bieten nach eigener nein 92.9 26.3 70.6 Aussage mehr als zehn solcher Foren des Austausches total 100.0 100.0 100.0 jährlich an, nur rund fünf Prozent machen nichts derglei- chen. In den anderen untersuchten Gebieten sind derar- Abbildung 7: Teilnahme an Redaktionssitzungen, in  tige Treff en weit seltener: Im kontinentaleuropäischen Raum vermelden knapp 80 Prozent der Ombudsleute Im Vergleich mit früheren Untersuchungen (Papirno zumindest gelegentliche Treff en, im mediterranen Raum 1996) wird im angelsächsischen Raum heute diese Inter- und in Lateinamerika dagegen verzichtet die Mehrheit aktionsform mit der Redaktion mehr als doppelt so oft (58,8 ) darauf. genutzt als noch vor zehn Jahren.

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Wie gehen Ombudsleute mit neuen Technologien um? Forscher sehen in Blogs bereits ein geeignetes Mittel, um die Wirkung der Institution des Leserschaftsanwalts zu Seit Beginn der 1990 Jahre, als das Internet zum Massen- potenzieren, in dem eine stärkere Partizipation des Pu- phänomen wurde, veränderten sich auch die Arbeitsrou- blikums angeregt wird (Ribeiro 2006: 284). Heute kom- tinen von Ombudsleuten radikal. Chats und Blogs eröff - munizieren 18 Prozent aller analysierten Ombudsleute nen interessante Wege, um den Dialog mit einem Teil mit Hilfe von Blogs: Bei den Angelsachsen sind es über der Leserschaft zu intensivieren. Die Zeitungen derjeni- 20 Prozent, im Mittelmeerraum und in Lateinamerika gen Ombudsleute, die den Fragebogen ausgefüllt haben, etwa 17 Prozent, bei den Europäern 14 Prozent. Bei der betreiben allesamt eine Webseite. Mehr als die Hälfte Nutzung neuer Technologien durch Ombudsleute ergibt von ihnen unterhalten Foren, wo sich Leser direkt unter- sich zusammenfassend folgendes Bild: einander und auch mit Redakteuren austauschen können: Europäisches Modell Web-Surfer treff en sich hier, um über alles Mögliche zu Chat Angelsächsisches Modell diskutieren. Die auf der Homepage der jeweiligen Zei- Mediterranes und tung aufgeschalteteten Foren sollen die Leserbindung Blog lateinamerikanisches Modell intensivieren und helfen, die Wünsche, Bedürfnisse und Nöte der Leserschaft besser zu erfassen. Chats sind auch ein nützliches Instrument für Om- Webforum budsleute. Wie das Forum bieten sie Raum für Diskussi- onen, aber diese spielen sich zeitgleich ab – live: Mehrere, E-Mail räumlich voneinander entfernte Akteure treten direkt über dieselbe Webseite in Kontakt und diskutieren mit- 20% 40% 60% 80% 100% einander – geregelt durch ein spezielles Protokoll. Man Abbildung 10: Einsatz der neuen Technologien könnte annehmen, dass Ombudsleute solche Kommu- nikationsmöglichkeiten mit ihren Lesern jede Woche Zusammenfassend: einige Stunden lang nutzen. Doch dieser Weg bleibt E-Mails werden in allen analysierten Ländern genutzt. oft unbeschritten: Nur jeder zehnte Ombudsmann hat Das Forum wird sowohl in den angelsächsischen als je mit Lesern gechattet. Immerhin: Gut 20 Prozent der auch in den kontinentaleuropäischen Ländern von über Angelsachsen hat einschlägige Erfahrungen; im Mittel- 30 Prozent der Befragten genutzt, im Mittelmeerraum meerraum und Lateinamerika sind es zehn Prozent, bei und in Lateinamerika weit seltener. den Kontinentaleuropäern dagegen Fehlanzeige. Chats werden im angelsächsischen Raum und in den Ein weiterer Kommunikationsweg sind Blogs (Web- Ländern des Mittelmeerraumes und Lateinamerikas Logs): Auf solchen selbstverwalteten Websites werden genutzt; im europäischen Raum dagegen nicht. aktuelle Nachrichten, Informationen, Meinungen oder Einträge aller Art publiziert, welche in umgekehrt chro- Weil E-Mails überall eine Rolle spielen, wurde hier noch nologischer Reihenfolge aufgeführt sind. Der Blog ist weiter analysiert: 98 Prozent der Ombudsleute kom- ein Mix zwischen persönlicher Homepage und Diskus- munizieren per E-Mail mit ihrer Leserschaft, und zwar sionsforum, das die Meldungen (Logs) der Teilnehmer im Umfang von täglich durchschnittlich 30 Meldungen. registriert. Ein Blog kann ein Netztagebuch sein, das im- Die kulturellen Unterschiede sind groß: Die Angelsach- mer auf den neuesten Stand gebracht wird und von allen sen schreiben rund 50 Mails pro Tag an ihre Leser, Om- gelesen werden kann, oder aber ein Raum im Web, den budsleute aus dem Mittelmeerraum und Lateinamerika sich Surfer mit gemeinsamen Interessen teilen. Im Blog durchschnittlich 18, die Europäer 15. eines Ombudsmanns werden dann Th emen erörtert, die den Journalismus und die Prozesse der Nachrichtenpro- europäisches Modell 14,5% duktion betreff en – siehe als Beispiel das Angebot des angelsächs. Modell 49,11% public editor der New York Times (http://publiceditor. Mittelmeerraum und blogs.nytimes.com / ). 18,35% Lateinamerika Blogs haben sich in den letzten Jahren rapide ver- mehrt. 38 Millionen waren es im Jahre 2006, und ihre 20% 40% 60% Zahl verdoppelt sich weltweit tendenziell alle sechs Abbildung 11: Anzahl E-Mail proTag, vergleichend Monate (Faré 2006: 6). Einige von ihnen betreiben Medien- Monitoring und fungieren somit als »watch- Der Vergleich mit den früheren Untersuchungen zeigt, dogs« des Journalismus (Faré 2006: 3). Diese Funktion in welchem Umfang und wann die Nutzung der E-Mail ist kombinierbar mit der Rolle von Ombudsleuten als sich durchgesetzt hat: Schon vor zehn Jahren war der 104 | »ö ff entlichem Gewissen« des Journalismus. Einzelne Prozentsatz der E-Mail-Benutzer mit 86 sehr hoch; Vierzig Jahre Presseombudsmann

aber gut die Hälfte der befragten Ombudsleute er- und vier deutsche und österreichische Ombudsleute hielt damals nur fünf Mails täglich, nur 11 mehr als 10 nicht berücksichtigt, bei denen sich herausgestellt hat, (P apirno 1996). dass sie sich nicht um journalistisch-redaktionelle Be- lange, sondern um andere Alltagsprobleme ihrer Leser- Schlussfolgerungen schaft (z. B. im Umgang mit Behörden) kümmern. Die Analyse ergibt einige bemerkenswerte Unterschiede 4 Verglichen mit ähnlichen Studien – etwa mit 63 zwischen den Ombudsleuten in den drei verschiedenen Rücklauf von Nemeth (2004: 42) – ist dies zufrieden- Journalismus-Kulturen: Im angelsächsischen Raum gibt stellend. Vergleicht man nicht die Prozentwerte, son- es die längste Tradition, und sie scheint auch dazu ge- dern die Anzahl der beantworteten 50 Fragebögen, ist führt zu haben, dass sich Ombudsleute am stärksten die Rückmeldung sogar bislang unübertroff en hoch. ›profes sionalisiert‹ haben. ›Fortschrittlich‹ ist dort die Starck (1999) hat z. B. eine sehr hohe Rücklaufquote stärkere Verbreitung der Institution als solcher, der hö- (81) gehabt, die aber aus nur 26 Antworten bestand here Frauenanteil, aber auch die verstärkte Nutzung neu- (von insgesamt 32 zur Zeit der Umfrage aktiven US- er Technologien. Die angelsächsischen Ombudsleute ha- Ombudsleuten). Dasselbe gilt für Papirno (1997), die ben in den vergangenen vierzig Jahren off enbar gelernt, 28 Antworten erhielt. Selbst bei Ettema / Glasser wie sie intensiver und eff ektiver kommunizieren können (1987), die mit 97 einen außerordentlich hohen Rück- – mit ihrer Leserschaft ebenso wie mit den Kollegen in lauf erreichten, waren es in absoluten Zahlen nur 32 den Redaktionen. ausgefüllte Fragebögen. Wunder Punkt in allen drei Untersuchungsräumen ist und bleibt, dass noch immer zu wenige Verlagsunterneh- Literaturangaben men Ombudsleute institutionalisieren. In einer Zeit, in Ettema, James e Glasser, Theodore (1987): Public der Ressourcen knapp sind, neigt man dazu, gerade an Accountability or Public Relations? Newspaper Ombuds- diesem Punkt zu sparen. Aber es gibt auch den prinzi- men Defi ne Th eir Role. Journalism Quarterly, Vol. 64, No. piellen Einwand, dass die Chefredaktion selbst sich um 1: 3 – 12. die Aufgaben der Ombudsleute kümmern sollte. Doch Faré, Marco (2006): Blog e giornalismo, l’era della gerade diese Erwartung ist unrealistisch: Leitende Re- complementarietà. http: / / www.ejo.ch / analysis / new- dakteure sind ohnehin meist überlastet, und Journalisten, media / corti_integrale_it.pdf, online il 3.4.2007. die sich mit der Leserschaft bei Beschwerden auseinan- Hallin, Daniel C. e Mancini, Paolo (2004): Mo- dersetzen müssen, tun dies erfahrungsgemäß eher wider- delli di giornalismo: mass media e politica nelle democra- willig und häufi g unprofessionell. Die Vermutung liegt zie occidentali. Roma, Laterza. daher nahe, dass die Abwehrhaltung oft emotional be- Nemeth, Neil (2000): A news Ombudsman as an gründet ist: eine gewisse Arroganz, Unsicherheit – und Agent of Accountability In: Pritchard, David (2000): natürlich Angst vor öff entlicher Kritik, die obendrein Holding the Media Accountable. Citizens, Ethics and the schwarz auf weiß in der eigenen Zeitung stehen könnte. Law. Indiana University Press, Bloomington: 55 – 67. Nemeth, Neil (2004): News ombudsmen in North Anmerkungen America: assessing an experiment in social responsibility. 1 Die Begriff e Ombudsmann, Leserschaftsanwalt, readers’ Westport, Praeger. represenative oder public editor werden im Folgenden sy- Papirno, Elissa (1997): 1997 survey of ONO members. nonym verwendet. Entsprechend dem angelsächsischen http: / / www.newsombudsmen.org / survey.html, online Usus, den Begriff »Ombudsman« geschlechtsneutral zu il 11.08.2005. verwenden, schließt im folgenden der eingedeutschte Ribeiro Filipa Martins (2006): Weblogues como meio Terminus »Ombudsmann« auch entsprechende Funk- privilegiado para o exercício do ombudsman em jornalis- tionsträgerinnen mit ein. mo de ciencia. Prisma, Nº3 – ottobre. 2 Um alle Länder mit Ombudsleuten berücksichtigen zu Trechsel Juliette (2005): Journalistische Chiroprak- können, wurde das Modell von Hallin und Mancini toren in stillen Kämmerchen? Die schweizerischen Me- modifi ziert: Ins polarisiert-pluralistische Modell dien-Ombudsleute – eine Bestandesaufnahme. Facharbeit (Mittelmeerraum) wurden auch die südamerikanischen Institut für Medienwissenschaft Univ. Bern, Institut für Ombudsleute mit einbezogen. Diese Entscheidung Medienwissenschaften. läßt sich durch eine kulturelle Nähe dieser Länder zu Stark, Kenneth (1999): Newspaper Ombudsmanship Spanien und Portugal begründet. as Viewed by Ombudsmen and Th eir Editors. Newspaper 3 In dieser Aufl istung wurden der Ombudsmann in Research Journal 20 (fall 1999): 37 – 49. Schweden (mit seiner Eigenheit, nicht im Dienste einer Van Dalen Arjen, Mark Deuze (2006): Readers’ Ad- Zeitung oder einer Verlagsgruppe zu arbeiten, sondern vocates or Newspapers’ Ambassadors? European Journal im Auftrage des Parlaments bzw. des ganzen Landes) of Communication, 21 (4), London, Sage Publications. | 105 Verlagsseite Christian Schicha

Alles wird Knut? Die Initiative Nachrichtenaufklärung stellt seit 10 Jahren die Top 10 der vernachlässigten Themen und Nachrichten vor.

Einleitung: Knut auf allen Kanälen

Am 5. Dezember 2006 kam ein kleiner Eisbär im Berliner Zoo zur Welt, der den Namen Knut erhielt. Das possierliche Tierchen hält seit einigen Wochen die Republik in Atem. Am 23. März 2007 wurde Knut der Öff entlichkeit vor rund 500 Journalisten vorgestellt. Tausende von Besuchern schauen sich täglich den tierischen Medienstar an und kein Tag vergeht, an dem der Bär nicht umfassend in den Medien auftaucht. Mittlerweile hat der Berliner Zoo Knut als Marke eintragen lassen, um Merchandising betreiben zu können. Die Berliner Boulevard- und Tageszeitungen berichten ebenso regelmäßig wie der dort ansässige Fernsehsender RBB. Natürlich nutzt auch die hohe Politik die Beliebtheit des Eisbären. Bundesumweltminister Gabriel hat während eines Zoobesuches publikumswirksam die Patenschaft für Knut übernommen Die Nachrich- tensender N24 und n-tv sendeten live von diesem ›Großereignis‹. Auch in China, der USA, Japan, Usbekistan, Irland, Südafrika, Australien und Indien wurde über den klei- nen Eisbären berichtet. Die deutsche Ausgabe der Lifestyle-Zeitschrift Vanity Fair zeigte Knut in ihrer April- Ausgabe 2007 auf dem Titel. Zahlreiche Trittbrettfahrer haben in der Hoff ung auf Ruhm und Geld rasch Knut-Lieder produziert, die neben dem konventionellen Verkauf auch in den Internetportalen You Tube und My Video abgerufen werden können. Weltweit liegen rund 1,3 Millionen Einträge bei Google vor, wenn »Eisbär Knut« eingegeben wird und mehr als 570 Artikel werden zum selben Th ema bei Ebay zum Verkauf angeboten. So unterhaltsam der Hype um Knut auch sein mag; relevant ist das Th ema jedoch kaum. Seit nunmehr zehn Jahren triff t sich die Jury der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA), die aus Journalisten und Wissenschaftlern besteht und diskutiert über potenzielle Th emen und Nachrichten, die trotz einer erheblichen gesellschaftlichen Relevanz nicht in ausreichendem Maße in den Medien behandelt worden sind. In diesem Jahr konnten eine Reihe von wichtigen Experten für die Jury gewonnen werden. Als Redaktionsleite- rin des WDR-Magazins Monitor hat sich Sonja Mikich zur Verfügung gestellt. Dabei war auch der bekannte Journalist und Buchautor Günther Wallraff, der die Ma- chenschaften der BILD-Zeitung aufdeckte. Der renommierte Journalist Toralf Staud, der u. a. für die ZEIT arbeitet, hat sich ebenso als Jurymitglied zur Verfügung gestellt wie der Journalist und Buchautor Hersch Fischler. Die übrigen Jurymitglieder sowie weitere Infos zur Initiative fi nden sich auf der Homepage der INA unter www.nachrich- tenaufklaerung.de. Bevor der Aufbau und die Aufgaben der INA sowie die Top 10 der am meisten ver- nachlässigten Th emen und Nachrichten 2006 skizziert werden, erfolgen zunächst eini- ge Anmerkungen zum Th emenkomplex der journalistischen Vernachlässigung und der Nachrichtenfaktoren als Auswahlkriterium und Begrenzung für die Medienberichter- stattung.

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Vernachlässigung als Th ema

»Aber auch die Arbeitsbedingungen von Journalisten sorgen manchmal für das Ver- schweigen von Th emen. Anzeigenkunden fördern etwa bestimmte Th emen, während andere unter den Tisch fallen. Auch kulturelle Tabus in den Köpfen der Journalisten ver- hindern, dass Widersprüchliches, Unvertrautes oder Neues weniger gern wahrgenommen wird. Schließlich sorgt auch ein Übermaß von Information für einseitige Information. So wird etwa lieber über private Verfehlungen von Politikern berichtet, als über politische Entscheidungen und Zusammenhänge. Politik wird tendenziell auf das private Verhalten der Politiker reduziert. Schließlich bleiben manche Probleme so lange unbemerkt, bis es schon fast zu spät geworden ist, sie zu lösen.« (Schulzki-Haddouti 2003, S. 1) Die Herstellung von Öff entlichkeit durch die »Grundpfl icht zum Publizieren« (Pöttker 1999, S. 162) gehört zur Kernaufgabe des Journalismus, um Orientierung zu ermöglichen. Indem über gesellschaftlich relevante Th emen berichtet wird, entsteht eine Form sozialer Integration, die für eine funktionierende Demokratie erforderlich ist, um Kontrolle und Kritik auszuüben. Die Pressefreiheit ist dabei eine notwenige Vorausset- zung der freien Meinungsbildung. Gleichwohl ist die Klage über die Informationsüber- fl utung zu Recht weit verbreitet. Überfl üssige, triviale und nichtssagende Meldungen prägen ebenfalls unsere Wahrnehmung. Die zahlreichen Fernsehkanäle und Printangebote kämpfen um die Aufmerksamkeit der Rezipienten. Daraus ergibt sich die Konsequenz: »Irgendwann sind die Kanäle der Öff entlichkeit mit Informationsmüll verstopft.« (Pöttker 1999, S. 165) Obwohl die An- zahl der Nachrichten ständig zunimmt und eher von einer Nachrichtenüberfl utung als von einem Nachrichtenmangel ausgegangen werden kann, werden häufi g nicht die Th e- men über die Medien transportiert, die gesellschaftlich relevant sind und im Verständnis eines investigativen Journalismus einer kritischen und refl ektierten Form der Hinter- grundberichterstattung bedürfen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Erstens sind viele Th emen kompliziert und schwer zu recherchieren. Komplexe poli- tische Gesetzesverfahren aus dem Finanz- oder Ökologiebereich etwa erfordern eine intensive Einarbeitung, um die Zusammenhänge zu begreifen. Diese dann noch in eine angemessenen und verständlichen Form zu vermitteln ist eine hohe Kunst (vgl. Meyer / Schicha / Brosda 2001). Gleiches gilt für wissenschaftliche oder ökonomische Th emen, die erhebliche journalistische Sachkenntnis und Vermittlungskompetenz erfordern und im Gegensatz zu etablierten Th emenstrukturen wie der nationalen Politik seltener in der Berichterstattung berücksichtigt werden. Auch andere Kulturräume fi nden aufgrund der schwierigeren Zugänglichkeit nur wenig journalistische Beachtung (vgl. Ludes 1999). Zweitens liegt es aber auch an den Interessen von Politik und Wirtschaft, die bestimmte Informationen nicht an die Journalisten weiterzugeben, um eine kritische Berichterstat- tung zu vermeiden. Geheimdienste und das Militär arbeiten lieber im Verborgenen, Stör- fälle in chemischen Anlagen werden von den Betreibern nur ungern publik gemacht und die Nebeneinkünfte von Politikern werden auch nicht gerade mit großer Leidenschaft von den Volksvertretern selbst nach außen hin kommuniziert. Drittens sorgen die Sachzwänge einer kommerziell ausgerichteten und unter Konkur- renzbedingungen agierenden Medienlandschaft und das Aktualitätspostulat dafür, dass eine fundierte Hintergrundrecherche in vielen Fällen ausbleibt. Oft stellen die Redak- tionen den Journalisten auch nicht die dafür erforderlichen fi nanziellen und zeitlichen Ressourcen zur Verfügung.

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Viertens lässt sich der Trend erkennen, dass Boulevard- und Verbraucherthemen bei den Rezipienten an Beliebtheit zugenommen haben, während kritischer Journalismus weniger häufi g in der Öff entlichkeit wahrgenommen wird. Fünftens werden auch Informationen von PR-Agenturen als Basis von journalistischen Berichten vermittelt und als solche nicht kenntlich gemacht. Dies hängt auch mit den schlechter werdenden Arbeitsbedingungen auf dem Medienmarkt zusammen. Sechstens werden in erster Linie die Th emen ausgewählt, die sich gut visualisieren las- sen. Dies ist bei einem Gesetzesentwurf nicht so einfach. Bei Kriegen, Terroranschlä- gen oder Naturkatastrophen hingegen gibt es Bilder, die die Tragödie des Ereignisses in komprimierter Form deutlich werden lassen (oder auch in propagandistischer Absicht manipulativ eingesetzt werden können). Siebtens neigen Medien dazu, komplexe Ereignisse zu personalisieren und die Ge- schehnisse im eigenen Land stark in den Fokus ihrer Berichterstattung zu rücken. Achtens sorgen Nachrichtenfaktoren dafür, dass bestimmte Th emen in der Berichter- stattung zu Lasten anderer privilegiert werden. Dabei sind »etablierte Th emenstrukturen, Ereignisregionen, Schlüsselwörter und Schlüsselbilder« (Ludes 1999, S. 172) ein immer wiederkehrender Gegenstand der Medienberichterstattung. Dieser letzte Aspekt der medialen Selektionsfaktoren wird im Folgenden ausführlicher erörtert.

Nachrichtenfaktoren

Die Resonanzzuweisung und Problemdeutungskapazität durch die Medien erfolgt durch spezielle Techniken. Die Beteiligungs- und Austauschprozesse in der Medienöf- fentlichkeit sind von den Vermittlungsleistungen der Medien abhängig. Sie orientieren sich dabei an den »spezifi schen Bedingungen der Nachrichtenproduktion, von Nach- richtenfaktoren, Medienformaten und anderen medienspezifi schen Einfl üssen auf die Informationsverarbeitung« (Schulz 1998, S. 64). Der Agenda-Setting-Th ese zufolge wird die Berichterstattung durch die allgemeine Präferenzordnung der Th emenauswahl und ihrer Darstellung beeinfl usst. Dabei er- halten die Sachthemen, über die in der Berichterstattung prononciert berichtet wird, eine höhere Aufmerksamkeit als die Th emen, die nur am Rande erörtert werden. Die Zuwendung zu einem Th ema hängt dabei von der medialen Darstellungsfähigkeit in Bezug auf den Nachrichtenwert ab. Die Medien greifen aus dem breiten Spektrum der vielfältigen Th emenangebote diejenigen heraus, die in Konkurrenz zu den anderen potenziellen Angeboten besonders interessant erscheinen. Davon hängt schließlich die formale Gestaltung, die Aufbereitung, der Umfang und die Qualität der Berichterstat- tung ab. Massenmedien verbreiten immer nur in begrenztem Maße Informationen an ein disperses Publikum mit verschiedenen Interessen und Vorkenntnissen. Dies erfolgt vor allem durch spezifi sche Anreize, die dazu führen sollen, eine Orientierung an dem Interesse des Publikums für eine bestimmte Meldung zu erhöhen. Die Nachrichtenfaktoren bestimmen den Nachrichtenwert eines Ereignisses. Umso mehr Faktoren auf ein Ereignis zutreff en, umso wahrscheinlicher kann davon ausgegan- gen werden, dass es zu Schlagzeilen führt (Additivitätshypothese). Sofern einzelne Kri- terien nicht oder nur gering vorhanden sind, müssen andere Nachrichtenfaktoren dieses ausgleichen, damit ein Ereignis zur Nachricht wird (K omplementaritätshypothese) (vgl. Zühlsdorf 2002).

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Die Bestimmung von Nachrichtenfaktoren gelten seit langem als journalistisches Aus- wahlkriterien im Rahmen der Berichterstattung. 1 Es lässt sich festhalten, dass die Ereig- nisse, die sich langfristig aufgrund von hohen Nachrichtenwerten etabliert haben, eine hohe Chance besitzen, auch zukünftig eine starke Medienbeobachtung zu erzielen (vgl. Schulz 1976, S. 88f.). Insgesamt lässt sich eine Diff erenz zwischen folgenden Nachrich- tenfaktoren aufzeigen: Status der Akteure (Elite-Nation; institutioneller Einfl uss; Elitepersonal), Zeit (Dauer und Th ematisierung des Geschehens) Relevanz (Nähe des Ereignisses; Ethnozentrismus; Tragweite; Betroff enheit), Dynamik (Überraschung, Ungewissheit; Vorhersehbarkeit; Frequenz), Konsonanz (Stereotypie; Th ematisierung; Kontinuität), Valenz (Aggression: Berichte über Konfl ikte, Kriminalität, Schäden und Erfolge) Identifi kation (Personalisierung eines Ereignisse und Ethnozentrismus) Human Interest (Personalisierung und Emotionalisierung) Nationale Zentralität (hohe politische und wirtschaftliche Macht) Persönlicher Einfl uss (Personalisierung und persönliche Macht) Kriminalität (rechtswidrige Handlungen) Schaden (von Personen und Sachen) Erfolg (vorteilhafte politische, wirtschaftliche, soziale und wissenschaftliche Ereignisse) 2

Weitere Faktoren schließen sich an: So wird die Aktualität oftmals durch die Inszenie- rung von Pseudoereignissen bewerkstelligt, die im Rahmen eines Ereignismanagement (vgl. Kepplinger 1992, Berens 2001), u. a. durch Pressekonferenzen eingeleitet wird. Die Planung und Ausrichtung derartiger Ereignisse wird ausschließlich zu Zwecken der Berichterstattung in den Medien verfolgt und kommt den massenmedialen Produkti- onsbedingungen in der Regel sehr entgegen, da derartige Auftritte planvoll umgesetzt werden. Die Nachrichtenfaktoren Elitestatus und Prominenz verleihen den Vorkomm- nissen einen besonderen Stellenwert, bei denen die Personalisierung politischer Persön- lichkeiten eine besondere Rolle spielt. Überraschung dient als zusätzlicher Nachrichtenfaktor, da unerwartete Ereignisse ein besonderes Interesse auslösen und publikumswirksam inszeniert werden können. Kon- fl ikthaftigkeit ist ein weiterer Garant dafür, dass darüber in den Medien berichtet wird. Harmonie und Konsens gelten als weniger interessant, während Auseinandersetzungen zwischen Parteien und Personen einen hohen Nachrichtenwert aufweisen, der sich auch empirisch belegen lässt (vgl. Dombrowski 1997). Th ematisierung als Nachrichtenfaktor ist deshalb von Relevanz, weil bevorzugt den- jenigen Ereignissen und Sachverhalten Aufmerksamkeit geschenkt wird, die sich als institutionalisierte und etablierte Th emen im Kontext der Berichterstattung einordnen lassen. Dadurch, dass Th emen aus der Menge der Informationen, die ein öff entliches Gut darstellen (vgl. Sunstein 2001), nach medienspezifi schen Selektionskriterien und Ver- breitungsmechanismen ausgewählt werden müssen, kann eine unzulässige Verkürzung und Vereinfachung bei der Darstellung von Ereignissen resultieren. Die Problematik bei der Orientierung an Nachrichtenfaktoren im Rahmen der Poli- tikvermittlung liegt auch darin, dass sich einige ›Schiefl agen‹ ergeben können, die einer politisch angemessenen Form der Berichterstattung über komplexe politische Prozesse ggf. behindert. Gerhards (1991, S. 25) fasst die Kritikpunkte wie folgt zusammen:

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»Statushöhere und prominente Akteure werden überrepräsentiert sein; die nationalen Ereignisse werden von internationalen Ereignissen rangieren, und diese wiederum werden je nach Status des Landes hierarchisiert sein; Ereignisse, die die Rezipienten unmittelbar betreff en, werden präferiert werden; kontinuierliche Prozesse werden weniger Aufmerksamkeit erhalten als abrupte, über- raschende Prozesse; gleichzeitig werden Ereignisse, die stereotypen Erwartungen und Vorurteilen entspre- chen, eher die Aufmerksamkeit auf sich ziehen; gewaltsame, kontroverse, erfolgreiche und wertverletzende Ereignisse werden überbe- tont werden; komplexe Zusammenhänge werden seltener oder in personalisierter und emotionali- sierter Form Eingang in die Medien fi nden.«

Daraus ergibt sich die Problematik, das gesellschaftlich relevante Ereignisse, die wichtige Informationen für die Öff entlichkeit beinhalten, zu wenig Raum mehr erhalten, da gar nicht oder nur unzureichend über sie berichtet wird. An diesem Punkt setzt die Arbeit der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) an, die darauf hinweist, dass »jedes Jahr Th e- men und Nachrichten von gesamtgesellschaftlicher Relevanz ausgelassen bzw. verkürzt oder einseitig dargestellt werden.« (Projektseminar »Initiative Nachrichtenaufklärung« 1999, S. 197).

Aufbau und Aufgaben der Initiative Nachrichtenaufklärung

Die Initiative Nachrichtenaufklärung wurde im Mai 1997 an der Universität Siegen von Peter Ludes gegründet, um jedes Jahr eine Rangliste der in der Bundesrepublik Deutschland am meisten vernachlässigten Th emen und Nachrichten zu veröff entlichen. Die Initiative Nachrichtenaufklärung orientiert sich an dem US-amerikanischen Project Censored (www.projectcensored.org). 3 Seit Beginn des Wintersemesters 1997 / 98 bear- beiten auch Studierende im Fach Journalistik an der Universität Dortmund, die Recher- che der eingereichten Vorschläge von vernachlässigten Th emen eines Jahres. Inzwischen werden weitere Rechercheseminare an der Universität Bonn und der Fachhochschule Darmstadt angeboten. 4 Um an möglichst viele unabhängige und breitgefächerte Th emenvorschläge zu gelan- gen, sucht die INA Jahr für Jahr Kontakt zu Presseorganisationen (Redaktionen von Printmedien, Hörfunk und Fernsehen, Verlage, Pressebüros) sowie zu wissenschaftlichen Institutionen, Hoch- und Fachhochschulen sowie Journalistenschulen. Per Rundschrei- ben werden die Medienorgane über die Initiative informiert und es wird um Th emenvor- schläge für die aktuelle Aufstellung der jährlichen »Top-Th emen« gebeten, die trotz ihrer öff entlichen Relevanz vernachlässigt worden sind. Neben deutschen Medieneinrichtungen werden darüber hinaus Lehrende der Publizis- tik, Journalistik und Kommunikationswissenschaften angeschrieben, die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) sind. Ebenso wird in jedem Jahr zu Privatpersonen Kontakt aufgenommen, die ihr g enerelles Interesse an der Initiative Nachrichtenaufklärung geäußert haben. Schließlich ist es je- dem Interessenten möglich, Vorschläge für vernachlässigte Nachrichten und Th emen des laufenden Jahres per E-Mail an die Initiative Nachrichtenaufklärung einzureichen.

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Alle Th emen und Nachrichten, die der INA im Laufe eines Jahres für die Liste vorge- schlagen worden sind, werden von den Rechercheseminaren in einem arbeitsintensiven Prozess nach wissenschaftlichen und journalistischen Kriterien sorgfältig auf Richtigkeit, Recherchierbarkeit und Vernachlässigung geprüft. Vorschläge, die den Kriterien standhal- ten, werden an die Jury weiter gegeben, der die Prüfung des Kriteriums Relevanz vor- behalten ist. Die mit der Recherche betrauten Studierenden holen Stellungnahmen von Autoren vernachlässigter Th emen und von Experten ein. 5 Im Plenum des Recherche- teams werden die gewonnenen Informationen diskutiert und bewertet. Liegen Quellen zu einem Vorschlag vor, werden diese präsentiert und deren Zuverlässigkeit geprüft. Es folgt eine gemeinsame Einschätzung, in welchem Grad die eingereichten Vorschläge tat- sächlich in den Medien vernachlässigt wurden. Ausschlaggebend bei dieser Bewertung sind die Nominierungskriterien anhand folgender Fragestellungen:

Wurde das Th ema (neben dem Vorschlag selbst als Quelle) in den Medien – und wenn ja in welcher Breite - aufgegriff en? Warum haben die Medien ggf. nicht über das Th ema berichtet? Wer hat ggf. davon profi tiert, dass nicht über das Th ema berichtet worden ist? Warum sollte die Öff entlichkeit mehr über das Th ema erfahren? Wer bzw. welche Gesellschaftsgruppe ist von dem Th ema betroff en?

Auf der Basis aller Vorschläge, die sowohl von Medienschaff enden, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Institutionen, als auch von interessierten Bürge- rinnen und Bürgern eingereicht werden können, entscheidet die Jury der Initiative über eine Rangliste der Top-Th emen und -Nachrichten, die ihrer Meinung nach stärkerer Aufklärung bedürfen. Nominiert werden Th emen, die der Bevölkerung in Deutschland (und Europa) bekannt sein sollten, zu denen sie aber nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang hat, die für einen Großteil der Bevölkerung relevant und eindeutig konzipiert sind und auf zuverlässigen, überprüfbaren Quellen basieren sowie trotz ihrer Bedeutung kaum von den Medien (Tageszeitungen, Zeitschriften, Nachrichtenbriefe, Rundfunk, Fernsehen, Internet u. a.) aufgegriff en, bzw. recherchiert und veröff entlicht wurden.

Nach einer Vorauswahl werden in jedem Jahr rund 20 Kurzberichte an die Mitglieder der Jury weitergeleitet, die schließlich über die »Top-Th emen« der in Deutschland vernach- lässigten Nachrichten des jeweiligen Jahres abstimmt. Die unabhängige und überpartei- liche Initiative Nachrichtenaufklärung stellt sich die Aufgabe, Journalisten und Medien auf Th emen hinzuweisen, die zu wenig oder gar nicht öff entlich gemacht werden, obwohl sie relevant sind. Die INA will über Gründe und Folgen dieser Vernachlässigung aufklä- ren. Europäische und globale Entwicklungen gewinnen hierbei an Bedeutung. Deshalb ist die internationale Zusammenarbeit notwendig. Die INA veröff entlicht jährlich eine Liste der am meisten vernachlässigten Th emen und Nachrichten aus dem vorangegan- genen Jahr. In dieser Liste werden die ausgewählten Th emen in der Rangfolge ihrer Be- deutung bekannt gegeben und zur weiteren Recherche empfohlen. Die Entscheidungen werden im Internet auf der Website der INA veröff entlicht. Es besteht die Möglichkeit, neue Vorschläge für vernachlässigte Th emen online einzugeben. 6 Die Jury entscheidet über die Liste. 7 Am 14. Februar 2007 wurde im Rahmen einer Pressekonferenz der INA die Top der vernachlässigten Th emen 2006 an der Universität Bonn vorgestellt.

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Platz 1: Fehlende Th erapieplätze für Medikamentenabhängige

1,4 Millionen Menschen in Deutschland sind von Medikamenten abhängig. Th erapie- plätze gibt es jedoch nur für die rund 1,7 Millionen Alkoholkranken und die knapp 300.000 Menschen, die von illegalen Drogen abhängig sind. Auch sind die Th erapie- angebote nicht auf die Bedürfnisse der von psychotropen Medikamenten Abhängigen zugeschnitten: Sie werden meist im Alkoholentzug therapiert, der nicht auf ihre beson- deren Probleme ausgerichtet ist. Obwohl der Suchtbericht 2006 der Bundesregierung die Versäumnisse benennt, fehlen in der Berichterstattung Hinweise auf das völlig unzu- reichende Angebot an Th erapieplätzen und die möglichen Ursachen dafür.

Platz 2: Über eine Million politische Gefangene in China – unmenschliche Haftbedingungen und Organhandel?

Dass es Menschenrechtsverletzungen in China gibt, ist in der Öff entlichkeit bekannt. Kaum bekannt ist das Ausmaß: Die Zahl der politischen Gefangenen in China liegt nach Schätzungen der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte deutlich über einer Million – eine Zahl, die von Wirtschaftsmeldungen oder der Vorfreude auf die olym- pischen Spiele 2008 in Peking verdrängt wird. Zunehmend gelangen Berichte in den Westen, dass Proteste blutig unterdrückt werden sollen. Auch nehmen Meldungen zu, nach denen Hingerichteten die Organe entnommen und diese dann verkauft worden sein sollen. Die chinesische Pressezensur hat bislang notwendige weitere Recherchen massiv erschwert.

Platz 3: Stromfresser Internet

Klick für Klick, Mail für Mail verbraucht das Internet gewaltige Mengen Strom. Bereits im Jahre 2010 werden dafür – wenn die Energieeffi zienz nicht steigt, voraussichtlich drei Atomkraftwerke laufen müssen. Während Energiesparen zu Hause längst populär geworden ist, ist dies in vielen Rechenzentren kaum ein Th ema. Verbraucher machen keinen Druck für energiesparende Serverfarmen, weil deutsche Medien darüber kaum berichten.

Platz 4: Biowaff en aus dem Internet

Gefährliche Krankheitserreger lassen sich aus frei über das Internet erhältlichen Gen-Se- quenzen zusammensetzen. Dieser Versandhandel unterliegt keiner wirkungsvollen Über- wachung. Terroristische Organisationen mit entsprechender Kenntnis und Ausrüstung könnten so zum Beispiel in den Besitz des Pocken-Virus gelangen, gegen den es keinen ausreichenden Impfschutz mehr gibt. Eine internationale Biologen-Konferenz hat be- reits im Mai 2006 vor der Gefahr eines Missbrauchs gewarnt. Die Berichterstattung über dieses Th ema ist im Vergleich zu seiner Brisanz gering.

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Platz 5: Wenn Insider Alarm schlagen - Whistleblower haben in Deutschland einen schweren Stand

Von Korruption bis zum Gammelfl eisch: Missstände in Unternehmen werden oft erst dadurch bekannt, dass Mitarbeiter sich an die Öff entlichkeit wenden. Im internatio- nalen Vergleich haben es so genannte Whistleblower in Deutschland jedoch schwer. Sie werden nicht nur als Denunzianten hingestellt, sondern haben auch – anders als etwa in den USA oder in Großbritannien – keinen besonderen Rechtsschutz. Medien berichten vereinzelt über fi rmeninterne Maßnahmen wie Korruptions-Hotlines, nicht aber über die prekäre Rechtslage.

Platz 6: Keine Zukunft für die Sahrauis

Die Sahrauis leben seit mehr als dreißig Jahren in Flüchtlingslagern in der Westsahara. Marokko blockiert jede Bemühung, den Konfl ikt mit der Befreiungsbewegung Polisario öff entlich werden zu lassen. Die UNO versucht vergeblich die Konfl ikt-Parteien zu einer Lösung zu führen. Hilfsorganisationen wie Medico International ziehen sich zurück. Das Schicksal der Sahrauis stand 2002 stellvertretend für vergessene Kriege an der Spitze der vernachlässigten Th emen der Initiative Nachrichtenaufklärung. Heute können die Sahr- auis als das vergessene Volk bezeichnet werden.

Platz 7: MEADS: Auf welche Berater verließ sich die Bundesregierung?

Laut einem WDR-Fernsehbeitrag hat die rot-grüne Regierung vor ihrer Entscheidung, das umstrittene Raketen-Abwehrsystem MEADS mitzufi nanzieren, drei Politikberater konsultiert, die Verbindungen zum beteiligten EADS-Konzern hatten. Die anteiligen Entwicklungskosten für MEADS belaufen sich für Deutschland auf voraussichtlich eine Milliarde Euro. 2008 steht die Entscheidung über die Beschaff ung an. Die Verbindungen wurden nur in einem Bericht des WDR-Magazins Monitor aufgedeckt. Eine weiter ge- hende Berichterstattung, eine Überprüfung der vorgelegten Analysen oder eine breite öff entliche Diskussion über die Notwendigkeit des Rüstungsprojekts stehen aus.

Platz 8: Agrarsubventionen: EU verhindert rechtzeitige öff entliche Debatte

Obwohl im Herbst letzten Jahres die Off enlegung aller Informationen über EU-Agrar- subventionen auf europäischer Ebene für 2007 beschlossen wurde, werden der deutschen Öff entlichkeit Informationen über Agrarsubventionen weiterhin vorenthalten. Von den Medien weitgehend unbemerkt, hat die EU auf Druck einiger Mitgliedsstaaten m ittlerweile die Pfl icht zur Veröff entlichung der Agrarbeihilfen auf das Jahr 2009 ver- schoben, obwohl im Jahr 2008 eine Neuverhandlung des EU-Haushalts und der Agrar- subventionen geplant ist. Off enbar möchte man verhindern, dass Informationen bereits vor der Neuaushandlung des EU-Agrarhaushalts ans Licht kommen.

114 | Alles wird Knut? Die Top 10 der vernachlässigten Themen und Nachrichten

Platz 9: Öl-Konzern hintertreibt Klimaschutzpolitik

Exxon Mobil betreibt intensive Lobbyarbeit in Brüssel und in Deutschland, um eine Lockerung der Klimaschutzprotokolle zu erreichen. Deutsche Medien haben darüber kaum berichtet.

Platz 10: Pauschale Bonitätsprüfung

Kreditinstitute bewerten Kunden zunehmend mit undurchsichtigen Scoring-Verfahren. Pauschale Kriterien wie die Wohngegend und das Alter bestimmen mit über die Kredit- würdigkeit eines Kunden. Dabei bleibt die tatsächliche Zahlungsfähigkeit des Kunden unberücksichtigt. Diese Praxis ist dem Publikum kaum bekannt, da Medien darüber wenig berichten.

Fazit

Die Initiative Nachrichtenaufklärung soll einen kleinen symbolischen Beitrag dazu lei- sten, Informationsdefi zite abzubauen, indem sie wichtige Th emen und Nachrichten, die in der »Mainstreamberichterstattung« ggf. nicht genügend Beachtung fi nden, nach gründlicher Prüfung auf die jährlich erscheinende Top 10 setzt. Sie will vernachlässigte Th emen von allgemeinem Interesse einer breiten Öff entlichkeit zugänglich machen und damit investigativen Journalismus fördern und unterstützen. Die Arbeit der INA soll dafür sensibilisieren, dass es neben den gängigen Meldungen und Berichten, die nach den skizzierten Nachrichtenfaktoren ausgewählt werden, auch vernachlässige Bereiche gibt, die eine größere öff entliche Resonanz verdient hätten. Die Beispiele auf der Liste sollen dokumentieren, dass auch die Situation von Minderheiten, die über keine große Lobby verfügen, stärker in das mediale und damit öff entliche Bewusstsein rücken sollte. Grundsätzlich ist es auch wünschenswert, dass die vernachlässigten Th emen und Nach- richten auf der TOP 10-Liste von journalistischer Seite weiter recherchiert werden, um doch noch eine angemessene Berichterstattung zu erhalten. Eine Problematik, die sich auch für die INA ergibt, besteht darin, dass Partikularin- teressen versuchen, ihre Th emen auf die Liste der zehn am meisten vernachlässigten Th emen zu platzieren. So werden immer wieder Vorschläge eingereicht, die in die Rubrik »Verschwörungstheorien« gehören und keinen sachlichen Bezug zu faktischen Gescheh- nissen haben. Gleichwohl werden alle eingereichten Th emenvorschläge von den Stu- dierenden nach professionellen Kriterien nachrecherchiert, ausgewertet und ggf. auch aussortiert. Es wäre wünschenswert, wenn das Konzept der INA zum festen Bestandteil der Journalistenausbildung werden würde und sich weitere Hochschulstandorte nicht nur in Deutschland der Idee der Initiative anschließen und insgesamt stärker dem Motto »Mehr Leidenschaft Recherche« (Leif 2003) folgen würden. Dafür wäre aber auch eine gute fi nanzielle Ausstattung der Berichterstatter erforderlich, damit investigativer Jour- nalismus nicht nur eine Leerformel bleibt, sondern auch kritisch und fundiert die Th e- men und Personengruppen beachtet werden, die im Rahmen der konventionellen jour- nalistischen Arbeit nach den gängigen Nachrichtenfaktoren nur unzureichend beachtet werden.

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Aufruf zur Mitarbeit

Die Initiative Nachrichtenaufklärung sammelt bereits Vorschläge für die Liste der am meisten vernachlässigten Th emen für das Jahr 2007. Jeder kann entsprechende Hinweise geben, die dann überprüft und ggf. der Jury vorgeschlagen werden. Um eine möglichst fundierte Liste der vernachlässigten Th emen erstellen zu können, ist die Initiative auf die Vorschläge möglichst vieler Privatpersonen, Organisationen und Vereinigungen an- gewiesen. Wenn ein Th ema oder eine Nachricht Ihrer Ansicht nach in der Berichterstat- tung zu kurz gekommen ist – dann teilen Sie das der Initiative bitte per Post (Initiative Nachrichtenaufklärung, Prof. Dr. Horst Pöttker, Universität Dortmund, Institut für Journalistik, 44221 Dortmund), per Fax (0231 / 7555583) oder E-Mail (info@nachrich- tenaufklaerung) mit. Beachten Sie dabei bitte folgende Punkte: Fassen Sie Th ema oder Nachricht so knapp wie möglich und so ausführlich wie nötig zusammen. Erläutern Sie kurz, weshalb Sie Ihren Vorschlag für relevant halten. Nennen Sie uns Ihre Quellen und Ansprechpartner – wie bestimmte Internetseiten oder persönlich Betroff ene. Teilen Sie uns Ihren Namen sowie Ihre E-Mailadresse und Telefonnummer mit. So können wir bei Rückfragen problemlos mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Damit erleichtern Sie uns die Recherchearbeit. Einsendeschluss für die Top Ten 2007 ist am 15. November 2007.

Lesetipp

Im VS-Verlag Wiesbaden ist im Mail 2007 ein von Horst Pöttker und Christiane Schulzki-Haddouti herausgegebene Sammelband mit dem Titel »Verschwiegen? Verdrängt? Vergessen? Zehn Jahre ›Initiative Nachrichtenaufklärung‹« erschienen, der die Arbeit der INA und die kompletten Top 10-Listen der am meisten vernachlässigten Th emen und Nachrichten seit Bestehen der Initiative dokumentiert.

Anmerkungen

1 Darüber hinaus bildet auch die ideologische Ausrichtung der Medien einen zentralen Faktor für die Auswahl von Th emen. Die Medienbiashypothese geht davon aus, dass Medien bestimmte Bericht nicht berücksichtigen, da sie ihrer »redaktionellen Linie« bzw. ihrer politischen Linien nicht entsprechen. Dabei müssen die Journalisten sich nicht selbst parteipolitisch äußern, sie können jedoch durch die Privilegierung be- stimmter Zeugen, die eine von der Redaktion präferierte Haltung vertreten, einen ent- sprechende Richtung vorgeben (vgl. Gerhards / Neidthard / Rucht 1998). 2 Luhmann (1979, S. 39f.) setzt bei seiner Analyse der Entstehung der öff entlichen Mei- nung folgende Regeln voraus, die bei der Verteilung von Aufmerksamkeit und der Th e- menbildung zugrundegelegt werden können: Überragende Priorität bestimmter Werte (z. B. Frieden, Unabhängigkeit der Justiz), Krisen oder Krisensymptome (z. B. Hungers- nöte, Gewalttaten), Status des Absenders einer Kommunikation (z. B. Politische Führer, Prominenz), Symptome politischen Erfolges, Die Neuheit von Ereignissen, Schmerzen oder zivilisatorische Schmerzsurrogate (z. B. Geldverluste, Haushaltskürzungen, Posi- tionsverluste. 3 Seit 1976 Jahren verfolgt dieses Projekt unter der Beteiligung von rund 175 Personen mit etwa 90 Juroren die Berichterstattung der Massenmedien in den USA. Jährlich

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v eröff entlicht das amerikanische Project Censored eine Liste von 25 Top-Th emen, die trotz großer Relevanz für weite Bevölkerungsteile durch das Aufmerksamkeitsraster der Redaktionen gefallen sind. Pro Jahr erhält die Initiative etwa 700 Nominierungen für diese Liste. Studierende der Sonoma State University of California treff en eine Vorauswahl. Eine ehrenamtliche Jury wählt die 25 wichtigsten Th emen aus. Jahrelang veröff entlichte Project Censored auch Junk News Stories. Dazu gehören Geschichten, über die zu umfassend berichtet wurde. (vgl. Jensen / Project Censored, 2004) 4 Seit dem Wintersemester 2002 /03 sind die Recherche-Seminare fest als zwei semestriges Projekt in das Curriculum des Dortmunder Journalistik-Studiengangs integriert. 5 Jeder eingereichte Vorschlag wird von den Studierenden zunächst auf die Erfüllung der Nominierungskriterien untersucht, bevor eine detaillierte Recherche beginnt: Per Tele- fon und E-Mail nehmen die Studenten im Bedarfsfall Kontakt zu den Verfassern der eingereichten Vorschläge auf; es wird im Internet und in der Bibliothek sowie in Tages- zeitungen, Zeitschriften, Fachmagazinen, Büchern und in Archiven von audiovisuellen Medien nach Informationen zu den Vorschlägen recherchiert. Zusätzlich werden Ex- perten zu den jeweiligen Th emenbereichen befragt. Den Studierenden obliegt es auch, Jury-Sitzung, Jury-Tagung und die öff entliche Bekanntgabe der Liste vorzubereiten und bei diesen Veranstaltungen mitzuwirken. Mindestens eine Person aus dem Kreis der Seminarteilnehmer gehört der Jury an. 6 Die INA bietet überdies Einsicht in alle Listen vernachlässigter Th emen seit ihrer Gründung im Jahr 1997. Die INA organisiert öff entliche Veranstaltungen, bei denen über das Problem der Vernachlässigung informiert und diskutiert wird. Im zeitlichen Zusammenhang mit dem jährlichen Treff en der Jury, die über die Liste der am meisten vernachlässigten Th emen entscheidet, kann eine entsprechende Tagung stattfi nden. Die INA gibt Publikationen heraus, die auf vernachlässigte Nachrichten und Th emen aufmerksam machen und in denen über das Problem der Vernachlässigung informiert und diskutiert wird. 7 Sie setzt sich nach Möglichkeit zu gleichen Teilen aus Wissenschaftlern und Jour- nalisten zusammen. Hinzu kommen Vertreter der Studierenden aus den Recherche- Seminaren. Die Jury entscheidet auch über die Kooperation der INA mit anderen Or- ganisationen des Journalismus und der Wissenschaft sowie über die Aufnahme neuer Mitglieder. In jedem Jahr wird eine Liste mit vernachlässigten Nachrichtenthemen benannt, die nach Auff assung einer Jury einer intensiveren journalistischen Recherche und öff entlicher Beachtung bedürfen.

Literatur

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118 | Lisa Glagow-Schicha

Schule im Gender Mainstream

Gender Mainstreaming: Die neue Strategie der Gleichstellungspolitik

Gender Mainstreaming ist ein Ansatz, der Gleichstellung als Grundprinzip und als Querschnittsaufgabe ansieht. Wenn man den englischsprachigen Begriff Gender Main- streaming übersetzt, so bedeutet gender das soziale Geschlecht. Damit sind die sozial und kulturell geprägten Rollen von Frau und Mann gemeint, mit denen geschlechtsspe- zifi sche Zuschreibungen verbunden sind. Gender meint die gesellschaftlich konstruierte, und damit auch veränderbare Geschlechtsrolle. Mainstreaming bedeutet, dass eine be- stimmte Sichtweise zur Leitlinie wird, die die Entscheidungen und das Handeln prägt. Gender Mainstreaming heißt also, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern zur Querschnittsaufgabe, zur Leitlinie des gesamten Planens und Handelns wird.

Rechtliche und politische Vorgaben zu Gender Mainstreaming

Nach der Defi nition des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahre 2000 bezeichnet: »Gender Mainstreaming [...] den Prozess und die Vor- gehensweise, die Geschlechterperspektive in die Gesamtpolitik aufzunehmen. Dies be- deutet, die Entwicklung, Organisation und Evaluierung von Entscheidungsprozessen und Maßnahmen so zu betreiben, dass in jedem Bereich und auf allen Ebenen die Aus- gangsbedingungen und Auswirkungen auf die Geschlechter berücksichtigt werden, um auf das Ziel einer tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern hinwirken zu können. Dieser Prozess soll Bestandteil des normalen Handlungsmusters aller Ressorts und Organisationen werden, die an Entscheidungsprozessen beteiligt sind.« Die Strategie von Gender Mainstreaming hat das Ziel, die Gleichstellung der Ge- schlechter zu erreichen, so dass Frauen genau wie Männer gerecht am politischen, gesell- schaftlichen und wirtschaftlichen Prozess partizipieren. Die Idee des Gender Mainstreaming geht auf die Weltfrauenkonferenz von 1985 in Nairobi zurück und wurde zunächst von den Vereinten Nationen aufgegriff en. Nach der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking kam die europäische Kommission der Forderung nach, sich dem Prinzip des Gender Mainstreaming zu verpfl ichten. In dem 1997 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag heißt es in Artikel 2: »Aufgabe der Gemeinschaft ist es, [...] die Gleichstellung von Männern und Frauen [...] zu för- dern.« Weiter heißt es in Artikel 3, Absatz 2: »Bei allen in diesem Artikel genannten Tätigkeiten wirkt die Gemeinschaft darauf hin, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern.« Das entspricht dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 3, Abs. 2, der besagt: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Nach der Grundgesetzände- rung von 1994 regelt das Grundgesetz auch die Pfl icht des Staates, »die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern« zu fördern und »auf die Beseitigung bestehender Nachteile« hinzuwirken.

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In den nationalen Strategien zur Umsetzung des Amsterdamer Vertrages hatte sich die Bundesrepublik verpfl ichtet, die Einführung des Gender Mainstreaming zu prüfen und ein Konzept zur Umsetzung zu entwickeln. Nach einem Beschluss des Bundeskabinetts vom 23.6.1999 wurde erstmals auf Bundesebene die Gleichstellung von Frauen und Män- nern als durchgängiges Leitprinzip postuliert. Die Bundesregierung sprach sich dafür aus, dieses als Querschnittsaufgabe unter dem Begriff Gender Mainstreaming zu fördern. In vielen Landesverfassungen fi ndet sich der Art. 3 des Grundgesetzes wieder, der besagt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Die damalige Landesregierung Nordrhein-Westfalen aus SPD und Grüne hatte sich im Koalitionsvertrag von 2000 dem Gender Mainstreaming als Leitgedanken ihres politischen Handelns verpfl ichtet und ein Steuerungskonzept zur Implementierung von Gender Mainstreaming verabschiedet. Auch im Koalitionsvertrag der nachfolgenden aktuellen Landesregierung in NRW aus CDU und FDP vom 16.6.2005 steht (auf S. 39): »Die Gleichstellung von Mann und Frau berücksichtigen wir als Querschnittsaufgabe bei allen politischen Entscheidungen. Mädchen und Jungen, Frauen und Männer sollen von der Politik gleichermaßen profi tieren.« Im neuen Schulgesetz für NRW vom 15.2.2005 fi ndet sich unter §2 Bildungs- und Er- ziehungsauftrag der Schule Absatz 5 der nachfolgende Passus, der dem Konzept des Gender Mainstreaming zu geordnet werden kann: »Die Schule wahrt Off enheit und Toleranz gegenüber den unterschiedlichen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen und Wertvorstellungen. Sie achtet den Grundsatz der Gleichberechti- gung der Geschlechter und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Sie ver- meidet alles, was die Empfi ndungen anders Denkender verletzen könnte. Schülerinnen und Schüler dürfen nicht einseitig beeinfl usst werden.«

Strategien von Gender Mainstreaming

Zum Gender Mainstream-Konzept gehören zwei Strategien: Zum einen existiert das top down-Konzept, das bedeutet, dass diese Strategie von der obersten hierarchischen Ebene vorgegeben wird und auf allen anderen Ebenen umgesetzt werden soll. Für den Schulbe- reich bedeutet dies, dass von der obersten Dienstaufsichtsbehörde, also dem Schulmini- sterium, über die Bezirksregierungen und die Schulleitungen die Prinzipien von Gender Mainstreaming im Schulbereich umgesetzt werden sollen. Da Gender Mainstreaming per Defi nition eine grundlegende Querschnittsaufgabe für alle Bereiche umfasst, müssen sich also Genderaspekte in allen schulischen Bereichen, also beim Schulprogramm, bei der Schulorganisation sowie der Personal- und Organisa- tionsentwicklung wieder fi nden. Zusätzlich existiert es das bottom up-Konzept, das besagt, dass die Menschen, die an der Basis arbeiten, die Strategie des Gender Mainstreaming umsetzen. Auf die schulische Ebene bezogen bedeutet dies, dass zusätzlich alle Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler sowie auch die Eltern an der praktischen Umsetzung der Geschlechterge- rechtigkeit mitarbeiten.

120 | Schule im Gender Mainstream

Gender Mainstreaming und Frauenförderpolitik

Spezifi sche Frauenförderpläne und Gender Mainstreaming sind zwei unterschiedliche Konzepte für die Umsetzung der Gleichstellung von Frauen und Männern. Beide Prin- zipien sind notwendig und ergänzen sich gegenseitig. Die europäische Kommission spricht hier von einem dualen Ansatz (Mitteilung der Kommission 2000). Der Haupt- unterschied zwischen den beiden Politiken besteht in den beteiligten Aktiven und den konzeptionellen Ansatzpunkten. Die klassische Frauenförder- und Gleichstellungspoli- tik geht von einer konkreten Problemstellung aus, die Frauen benachteiligt. Durch die Anwendung geeigneter Maßnahmen wird eine Lösung für dieses spezielle Problem ent- wickelt, und damit ist das entsprechende Th ema erst einmal bearbeitet. Demgegenüber setzt Gender Mainstreaming breiter an: Alle Entscheidungen werden unter geschlechterbezogener Perspektive betrachtet. Die Beschlüsse, die vordergrün- dig neutral erscheinen mögen, können unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer haben, auch wenn dies nicht geplant war. Deshalb ist der Gender Mainstrea- ming Ansatz zu bevorzugen. Beispielsweise betriff t die Einführung der Ganztagesschule Frauen anders als Män- ner, da diese überwiegend für die Kindererziehung zuständig sind. Die möglicherweise unterschiedlichen Ausgangsbedingungen oder Auswirkungen der Maßnahmen müssen auf beide Geschlechter hin untersucht werden. So werden die jeweils diff erenzierten Rahmenbedingungen von Frauen und Männern zu dem entscheidenden Kriterium für die Eignung einer Maßnahme erhoben. Die spezifi schen Maßnahmen der Frauenförder- und Gleichstellungspolitik allein reichen jedoch nicht aus, um in allen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen die Gleichstellung der Geschlechter durch- zusetzen. Sie bleiben allerdings weiterhin ein notwendiges Fundament, die Strategien des Gender Mainstreaming weiter zu forcieren.

Reader Schule im Gender Mainstream

Im Schulbereich hat die geschlechterbewusste Diskussion mit der Debatte zur Refl exion der Koedukation bereits eine längere Tradition. Das Konzept der refl exiven Koedukation will alle pädagogische Praxis daraufhin untersuchen, ob sie bestehende Geschlechter- verhältnisse eher stabilisieren oder ob sie eine kritische Auseinandersetzung und da- mit ihre Veränderung fördern (Faulstich-Wieland / Horstkemper 1996). Dadurch ist ein neues geschlechterbewusstes Verständnis von Schule und Unterricht entstanden. Praktisch stellt das Prinzip der refl exiven Koedukation damit die Anwendung der Ge- nder Mainstreaming-Strategie auf das Gesamtsystem Schule dar. Im Jahre 2002 ist in Nordrhein-Westfalen eine Handreichung mit grundlegenden Praxisanregungen zur Umsetzung der refl exiven Koedukation herausgegeben worden, die sich insbesondere an die Lehrkräfte richtete (Landesinstitut 2002). Wie dargelegt, beinhaltet der Gender Mainstreaming-Ansatz jedoch mehr als die Ge- schlechterorientierung für den rein unterrichtsbezogenen Bereich. Daneben ist es not- wendig, einen geschlechtssensiblen Blick auch auf die Bereiche der Organisations- und Personalentwicklung von und in Schulen, auf die Ressourcenbewirtschaftung und auf die Schulentwicklung zu richten. Während meiner dreijährigen Tätigkeit als pädago- gische Mitarbeiterin im Gleichstellungsreferat des Schulministeriums NRW habe ich

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den Reader Schule im Gender Mainstream konzipiert, der vom Schulministerium NRW im Jahre 2005 herausgegeben worden ist. Ein Anliegen des Readers Schule im Gender Mainstream ist es, die Schulleitungen und die Schulaufsicht über Gender Mainstrea- ming in der Schule zu informieren. Nach den eingangs erwähnten gesetzlichen Grund- lagen des Grundgesetzes, des Schulgesetzes und des Landesgleichstellungsgesetzes sind Schulleitungen und Vorgesetzte in der Schulaufsicht verantwortlich für die Umsetzung des Grundsatzes der Gleichberechtigung an der Schule. Dies entspricht der Strategie des Top-Down-Prinzipes. Dazu sollten diese über umfassende gleichstellungsorientierte Handlungskompetenz verfügen. Das bedeutet konkret: Sie kennen ihren gleichstellungsrechtlichen Auftrag als Teil ihrer Führungsverantwortung und erfüllen ihn aktiv. Sie kennen die gleichstellungs- relevanten Rechtsvorschriften, Aspekte und Daten ihres Handlungsfeldes und stellen eine geschlechtersensible, gleichstellungsfördernde Ausrichtung sicher. Dies gilt insbe- sondere bei Entscheidungen zu(r) Personalführung und –entwicklung, Organisation und Budget, Qualitätsentwicklung, -sicherung, -evaluation von Unterricht, Kooperationen mit außerschulischen Partnern und dem Schulträger. Sie kennen die Aufgaben und Be- teiligungsrechte der Ansprechpartnerinnen für Gleichstellungsfragen an Schulen bzw. der Gleichstellungsbeauftragten und stellen die Wahrnehmung entsprechend den recht- lichen Vorgaben sicher. Zur Unterstützung dieser Aufgaben enthält der Reader eine Sammlung von Diskus- sionsbeiträgen unterschiedlicher Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und P raxis, die Stellung nehmen zu möglichen Anwendungsfeldern, Chancen und Risiken von G ender Mainstreaming in den Aufgabenbereichen der Zielgruppe. Er stellt insoweit recht unterschiedliche Aspekte des Gender Mainstreaming im Kontext von Schule dar. Die unterschiedlichen Beiträge von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis verknüpfen Fach-, Methoden- und Erfahrungswissen im System Schule mit ge- schlechtsspezifi schem Wissen und Gender-Methoden-Wissen. Damit vermitteln sie Grundlagen für eine fachspezifi sche Gender-Kompetenz. Die Auswahl von Praxisanlei- tungen oder Projektbeispielen erfolgte exemplarisch. Im ersten Kapitel werden die Grundlagen für Gender Mainstreaming dargelegt. Hier wird das Konzept des Gender Mainstreaming und die historische Entwicklung erläu- tert, aber auch die rechtlichen und politischen Vorgaben. Der Schwerpunkt des Readers liegt auf dem zweiten Kapitel, das sich mit Handlungsfeldern im schulischen Kontext auseinandersetzt. Hier wird der Focus zunächst auf genderorientierte Organisationsent- wicklung gelegt. Es folgt ein Blick auf die genderbewusste Personalentwicklung. Ein weiteres Unterkapitel skizziert Aspekte der geschlechtergerechten Kommunikation. Im Anschluss daran wird die aktuelle Erlasslage aus juristischer Perspektive zur geschlech- tergerechten Sprache dargestellt. Der nachfolgende Teil beginnt mit der Defi nition von Gender Budgeting – einer Strategie für geschlechtergerechte Haushaltsplanung und -bewirtschaftung, bevor aus Gender-Sicht Aspekte von Unterricht und Schulleben erörtert werden. Daran folgen Kriterien für ein genderbewusstes Schulprogramm. Der kommende Teil beschäftigt sich mit der Berufs- und Lebensplanung von Schülerinnen und Schülern, bevor es um ge- schlechtergerechte Prinzipien im Rahmen der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer geht. Daran schließen sich zwei praktische Beispiele aus Studienseminaren an. Abschlie- ßend werden Probleme der Lehrenden in Fortbildungen zum Th ema geschlechterbe- wusste Pädagogik diskutiert. Es folgen Beispiele von konkreten Fortbildungen, wie ein

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Fortbildungskonzept zur Förderung von Frauen in Schulleitungsstellen, Technikfortbil- dungen unter Genderaspekten und gendergerechte Fortbildungen zu Neuen Medien. Die in diesem Band dargestellten vielfältigen Aspekte im schulischen Kontext zeigen ein breites Spektrum von Ansatzpunkten und Umsetzungsmöglichkeiten von Gender Mainstreaming. Der skizzierte Reader kann für 10 Euro bestellt werden. Alternativ sind alle Texte auch als pdf-Datei herunterzuladen unter: http://www.learn-line.nrw.de/an- gebote/gendermainstreaming

Münsters Experimentierlabor Physik (MexLab)

Ergänzend zur schulischen Förderung ist es sinnvoll, wenn außerschulische Maßnah- men existieren, die Mädchen und Jungen darin unterstützen, geschlechtsspezifi sch fest- gelegte Bahnen zu verlassen. Ein solches Beispiel fi ndet sich in Münsters Experimentier Labor Physik an der Uni Münster, dem MExLab, das im März 2007 eröff net worden ist. Es möchte einen Beitrag dazu leisten, Mädchen und Jungen gleichermaßen für natur- wissenschaftliche Berufe zu motivieren. Das MExLab dient grundsätzlich als außerschu- lischer Lernort der naturwissenschaftlichen Nachwuchsförderung. Die Th emenauswahl für die Experimentierangebote erfolgt mit Bezug auf die Alltagserfahrungen der Ju- gendlichen. Neben einem Experimentierangebot für Schülerinnen und Schüler existiert eine Dauerausstellung das MExLab Experimentum, in dem verschiedene physikalische Ex- perimente ausprobiert werden können wie in einem Mitmachmuseum für Kinder und Jugendliche. Es gibt u. a. mehrere Pendelmodelle vom harmonischen Pendel bis zum Chaospendel, eine Strömungstafel, die den Weg vom Wirbel zur Turbulenz darstellt, einen zwei Meter hohen Tornado zum Anfassen (solch ein Modell existiert nur noch zwei Mal in Deutschland), eine Funkenkammer, die hochenergetische kosmische Strah- lung detektiert; Strukturen im Sand, die das Phänomen der singenden Dünen erklären; Rieselräder, die den Ordnungssinn der Natur präsentieren und ein Sandpendel, dass regelmäßige Spuren im Sand aufzeigt.

Gender Mainstreaming im MExLab Da Frauen in den naturwissenschaftlichen Fächern immer noch stark unterrepräsentiert sind, soll ein Schwerpunkt dieses Schülerlabors darin liegen, mehr Mädchen und Frauen für die Naturwissenschaften, und besonders für die Physik zu motivieren. Das MExLab wird dabei durch die Gleichstellungsbeauftragte der Universität Münster unterstützt. Bei der Namenswahl dieses ›Schüler‹labors wurde bewusst darauf geachtet, keine männ- liche Sprache zu benutzen. MExLab = Münsters Experimentier Labor Physik ist ein gutes Beispiel für geschlechtsneutrale Benennung eines ›Schüler‹labors. Unter Gender- aspekten seien nachfolgend einige Schwerpunkte des MExLab exemplarisch erwähnt.

Berühmte Frauen in den Naturwissenschaften Da die Schülerinnen, aber auch die Schüler in der Regel nur selten weibliche Natur- wissenschaftlerinnen kennen, sollen in einer Dauerausstellung in den Räumen des MExLab Experimentum Portraits zu historischen Naturwissenschaftlerinnen gezeigt werden. Grundsätzlich bedeuten Vorbilder eine zentrale Größe für die Persönlich- keitsbildung der Jugendlichen. Schülerinnen fehlen häufi g weibliche Vorbilder und

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I dentifi kationsfi guren aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächerkanon. Wenn Frauen und ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechend dargestellt wer- den, können sich Schülerinnen mit ihnen identifi zieren und sehen Naturwissenschaften nicht zwangsläufi g als männliche ›Domäne‹ an. Unter Genderaspekten sollten männ- liche und weibliche Vorbilder nebeneinander angeboten werden. So ist geplant zusätzlich zu den Pionierinnen eine Ausstellung mit wichtigen Physikern aufzubauen, so dass ganz selbstverständlich Frauen und Männer mit ihren vorbildlichen naturwissenschaftlichen Fähigkeiten nebeneinander gezeigt werden. Hierzu wird ein Seminarangebot für Studierende zu historischen Pionierinnen in den Naturwissenschaften angeboten, dass im Rahmen der »Gender Studies« für Studierende aller Fachrichtungen geöff net ist. Hier gibt es auch die Möglichkeit der Ausschreibung eines Wettbewerbes für Schulen im Umkreis der Universität Münster zu berühmten Naturwissenschaftlerinnen zum Weltfrauentag am 8. März.

Lehrende als weibliche und männliche Vorbilder Da persönliche Vorbilder bedeutend für die eigene Zukunftsperspektive sind, sollen so- wohl Studentinnen und Studenten als Unterrichtende fürs MExLab mit eingebunden werden, damit Schülerinnen und Schüler sich mit jungen Frauen und Männern in der Physik identifi zieren können. Hierfür kann ein Seminarangebot an Studierende der Phy- sik zur Vorbereitung des Einsatzes im MExLab mit dem Focus auf geschlechtsspezi- fi sche Unterschiede angeboten werden, dass für Lehramtsstudierende auch durch einen Nachweis über die pädagogische Mitarbeit im MExLab als ein Baustein für das päda- gogische Staatsexamen als Physiklehrer/in angesehen werden kann. Daneben sollten die Schülerinnen und Schüler Gelegenheit bekommen, auch berufstätige Frauen kennen- lernen, die heute in naturwissenschaftlichen Berufen erfolgreich arbeiten. So sollen bei- spielsweise Physikerinnen im Beruf, die ehemalige Studentinnen der Uni Münster sind, als Expertinnen bei Veranstaltungen im MExLab eingeladen und eingebunden werden können, um dort den Schülerinnen und Schülern über ihre Arbeit zu berichten. Diese Frauen könnten ein Vorbild für die Schülerinnen darstellen, um so im Rahmen eines Betriebspraktikums praktische Erfahrungen in naturwissenschaftlichen Bereichen sam- meln zu wollen.

Regelmäßige Physikshows durch Schülerinnen und Schüler Bei der Eröff nungsveranstaltung des MExLab wurde Schülergruppe eines Münsteraner Gymnasiums eine beeindruckende Physikshow Von Pisa bis Plasma vorgestellt, die große Resonanz erhielt. Das MExLab möchte ein Angebot an interessierte Schülerinnen und Schüler darstellen, an solch einer Physikshow zu arbeiten. Hierbei soll ein besonderer Focus auf die gleichberechtigte Auswahl von Mädchen und Jungen gelegt werden, damit nicht nur Jungen einem großen Publikum dieses Event vorführen.

Geschlechtergerechte Unterrichtsformen in den Kursen mit Schülerinnen und Schülern Da das MExLab ein Angebot für Schulen ist, mit Schülerinnen und Schülern vor Ort physikalische Experimente durchzuführen, soll in Anlehnung an die pädagogischen For- schungsergebnisse auch in diesen Kursen geschlechtersensibel unterrichtet werden. Das heißt, es soll häufi ger in Kleingruppen gearbeitet werden, wobei es hier auch ein A ngebot für monoedukative Kleingruppen geben soll. Es wird ein Angebot für Kurse und Klassen geben mit bewusster Trennung nach Geschlechtern, z. B. beim Aufteilen einer ganzen

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Klasse, oder bei einem speziellen Th ema. Die Orientierung an den Schülerinnen und Schülern dient dazu, dass diese selbst sehr viel experimentieren und ihre Ergebnisse immer selbst vorstellen. Ein Focus liegt darauf, dass, dass alle Typen von Aufgaben von Mädchen und Jungen gleichermaßen und gleichberechtigt bearbeitet werden. Weitere Methodiken werden sich im Verlauf des Projektes bei den Besuchen der Schülerinnen und Schüler herauskristallisieren und immer wieder unter einer Geschlechterperspektive diskutiert werden.

Berufswahlorientierung für Mädchen Frauenförderpläne und Gender Mainstreaming sind zwei unterschiedliche Strategien für die Gleichstellung von Frauen und Männern, gehören aber nach der Bedeutung von Gender Mainstreaming gemäß der europäischen Kommission zusammen. In diesem Kontext steht auch die Durchführung des Girls’ Days. Er wird jetzt im April vom MEx- Lab für zwei Altersgruppen angeboten: einmal für Mädchen der Unterstufe und einmal für die Mittelstufe. Mit beiden Gruppen werden Blinklichtermodelle gelötet. Bei der Gruppenbetreuung werden sie von Physikstudentinnen unterstützt. Es ist geplant, dass das MExLab so wie im letzten Jahr und in diesem Jahr auch zukünftig den Girls’ Day für die Uni Münster organisiert und durchführt.

Mitarbeit in Netzwerken zu Gender Mainstreaming in der Physik Die Mitarbeiterinnen im MExLab arbeiten in Netzwerken zu Gender Mainstreaming, mit Veröff entlichungen in entsprechenden Organen und Vortragstätigkeit auf Kon- gressen und Tagungen hierzu, u. a:

Arbeitskreis Chancengleichheit der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (AKC der DPG) Physikerinnentagung (Die Tagung für 2008 ist an der Uni Münster geplant) Frauen in Naturwissenschaft und Technik (FiNuT) Frauen und Schule Frauen und Technik im Institut für Kommunikationsökologie (ikö)

MExLab Physik Institut für Angewandte Physik Corrensstraße: 2 48149 Münster Telefon: 0251/83-36153 Email: [email protected]

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Literatur

Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft; Denkschrift der Kommission beim Ministerpräsidenten des Landes NRW, Neuwied, Kriftel, Berlin 1995 Denz, Cornelia / Vogt, Annette: Einsteins Kolleginnen, hrsg. vom Bundesministe- rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bielefeld 2005 Fölsing, Ulla: Nobel-Frauen, Naturwissenschaftlerinnen im Porträt, München 1990 Frank, Elisabeth: Schule der Chancengleichheit, Impulse für eine qualifi zierte Koedu- kation am Beispiel des Schulversuchs Physik, Landesinstitut für Erziehung und Unter- richt Stuttgart 1997 Glagow-Schicha, Lisa: Bedeutende Frauen in der Informatik und der Mathematik, in: Compouter und Unterricht Heft 24, 1996 Glagow-Schicha-Lisa / Sonja Meyer / Petra Ridlhammer (Hg.): Für Ada, Marie und andere Mädchen, ikö-Diskussionsforum Band 1, Duisburg 1997 Heiliger, Anita: Mädchenarbeit im Gendermainstream, München 2002 Hoffmann, Lore: Mädchen/Frauen und Naturwissenschaft/Technik, in: Sigrid G iesche/ Dagmar Sachse (Hg).: Frauen verändern Lernen, Kiel 1988 Jansen, Mechthild (Hrsg.): Gender Mainstreaming, München 2003 Kaiser, Astrid (Hrsg.): Koedukation und Jungen – Soziale Jungenförderung in der Schule, Weinheim 1997 Kerner, Charlotte (Hg.): Nicht nur Madame Curie ..., Frauen, die den Nobelpreis bekamen, Weinheim, Basel 1990 Kessels, Ursula: Undoing Gender in der Schule. Eine empirische Studie über Koeduka- tion und Geschlechtsidentität im Physikunterricht, Weinheim, München 2002 Koch-Priewe, Barbara (Hrsg.) Schulprogramme zur Mädchen- und Jungenförderung, Weinheim und Basel 2002 Kreienbaum, Maria Anna / Teworte-Dodt, Gertrud / Gemein, Ella / Glagow-Schicha, Lisa / Wanzeck-Sielert, Christa (Hg.): Was ist eine gute Schule?, Weinheim 1993 Kreienbaum, Maria Anna /Urbaniak, Tamina: Mädchen und Jungen in der Schule. Konzepte der Koedukation, Berlin 2006 Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Neue Wege zur Gestaltung der koe- dukativen Schule, Refl exive Koedukation als Element der Schulentwicklung, Soest 1998 Meuser, Michael / Neusüss, Claudia: Gender Mainstreaming, Konzepte- Hand- lungsfelder- Instrumente, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004 Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann des Landes Nordrhein-Westfa- len (Hg.): Was Sandkastenrocker von Heulsusen lernen können, Ein handlungsorientiertes Projekt zur Erweiterung sozialer Kompetenz von Jungen und Mädchen, Düsseldorf 1996 Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes NRW und Landesinstitut für Schule (Hrsg.): Schule im Gender Mainstream – Denkanstöße – Erfahrungen – Perspek- tiven, Soest 2005 Nyssen, Elke: Mädchenförderung in der Schule, Ergebnisse und Erfahrungen aus einem Modellversuch, Weinheim, München 1996 Schnack, Dieter / Neutzling, Rainer: Kleine Helden in Not, Jungen auf der Suche nach Männlichkeit, Reinbek 1990 Wagenschein, M.: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken, Stuttgart 1970

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Whistleblower und Journalisten – Zur Spruchpraxis des Deutschen Presserats *

Trotz formeller Pfl icht zur Vertraulichkeit informieren Whistleblower Journalisten über Missstände in Unternehmen und Institutionen. An diesem Whistleblowing besteht ein hohes gesellschaftliches Interesse, denn in vielen Fällen kann nur so Öff entlichkeit ent- stehen, die bestehende Missstände beseitigt und zukünftige verhütet (Regulierungsfunk- tion). Unternehmen und Institutionen drohen jedoch, Whistleblowing zu sanktionieren. Zum Whistleblowing gehört daher Mut. Die Chance, dass dieser Mut aufgebracht wird, wächst mit dem Grad an Sicherheit potentieller Whistleblower, unerkannt zu bleiben. Zur Professionalität des Öff entlichkeitsberufs Journalismus gehört deshalb der Infor- mantenschutz. Vom Gesetz her genießen Journalisten das Recht, die Identität von Informanten nicht preiszugeben – auch nicht gegenüber einem Richter und seinen Vollzugsorganen, wenn diese Auskunft verlangen. Dieses Recht steigert sich in der staatlich nicht sanktionier- baren Berufsethik zur Pfl icht, die Identität von Informanten gegenüber der Öff entlich- keit zu schützen, sofern der Informant die Preisgabe seiner Identität nicht ausdrücklich zulässt (Zeugnisverweigerungspfl icht). Wenn sich potentielle Informanten nicht darauf verlassen können, dass Journalisten die Zeugnisverweigerungspfl icht erfüllen, kann es kaum zum Whistleblowing und damit zum Entstehen von Öff entlichkeit mit Selbstregulierungskraft kommen.

I. Der Presserat bekräftigt die Zeugnisverweigerungspfl icht...

Im Verhaltenskodex für Journalisten, den der Deutsche Presserat bei seinen Beschwer- deentscheidungen zugrundelegt, war die Zeugnisverweigerungspfl icht bis vor kurzem in den Ziff ern 5 und 6 festgeschrieben. Bis zum 31. 12. 2006 lautete Ziff er 5: »Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren.« Und Ziff er 6 sah vor: »Jede in der Presse tätige Person wahrt das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien sowie das Be- rufsgeheimnis, macht vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und gibt Informanten ohne deren ausdrückliche Zustimmung nicht preis.« Da Ziff er 6 zwei logisch nicht not- wendigerweise miteinander verknüpfte Gesichtspunkte (Ansehen der Medien einerseits und Zeugnisverweigerungspfl icht andererseits) zusammenzog, ist von der Zeugnisver- weigerungspfl icht in der seit 1.1.2007 gültigen Fassung des Pressekodex nur noch in Zif- fer 5 die Rede. Meine Überlegungen zur Spruchpraxis des Presserats im Zusammenhang mit der Zeugnisverweigerungspfl icht beziehen sich aber auf die Zeit vor dieser Reform, so dass ich in der vom Presserat vorgelegten Statistik mindestens zwei Ziff ern (nämlich 5 und 6) berücksichtigen muss.

* Leicht überarbeiteter Text eines Vortrags, den ich am 7. Juni 2007 auf der Tagung Whistle- blower und Journalisten gehalten habe, die von der Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) und dem Whistleblower-Netzwerk in der Universität Bonn veranstaltet wurde. Siehe auch den Tagungsbericht von Christian Schicha in dieser Ausgabe

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Bei großzügiger Auslegung gab es von 1985 bis 2006 insgesamt 17 Beschwerdeentschei- dungen des Presserats, die ich auf die Zeugnisverweigerungspfl icht beziehen, davon zehn nach Ziff er 5, fünf nach Ziff er 6 und zwei nach anderen Ziff ern des Pressekodex. Davon sind höchstens fünf als Entscheidungen anzusehen, mit denen der Presserat den Infor- mantenschutz gestärkt hat. In einem dieser Fälle, in dem eine öff entlich bloßgestellte Institution per Beschwerde die Anonymität eines Informanten in Frage gestellt hatte, verteidigte der Presserat das journalistische Zeugnisverweigerungsrecht, indem er die Beschwerde für unbegründet erklärte:

»Der Bildungsurlaub einer gewerkschaftsnahen Landesarbeitsgemeinschaft ist Th ema eines Magazinberichts. Darin heißt es u. a., ›Arbeitnehmer sollten fürs Küssen (»mit- zubringen sind bequeme Kleidung und eine kuschelige Decke«) fünf Tage bezahlten Bildungsurlaub erhalten‹. (...) Der Landesbezirk der Gewerkschaft moniert in seiner Beschwerde beim Deutschen Presserat, daß der Artikel aufgrund eines anonymen Anrufes bei der Landesarbeitsgemeinschaft zustande gekommen sei. (...) Die Redak- tion bezeichnet den Inhalt ihrer Veröff entlichung als zutreff end und beweisbar. (...) Verdeckt sei nicht recherchiert worden. Ein hochrangiger Landespolitiker habe das Magazin über die Existenz dieses Kurses informiert. (...) Der Presserat weist die Be- schwerde als unbegründet zurück. (...) Da sich die Redaktion auf einen Informanten berufen kann, von dem die wesentlichsten Informationen stammen, ist eine Verlet- zung der Sorgfaltspfl icht nicht festzustellen. Der Informant braucht von der Zeit- schrift auch nicht preisgegeben zu werden.« (B 64 / 93, Deutscher Presserat, Hrsg.: Jahrbuch 1993, S. 75f).

So geschehen im Jahre 1993. In vier weiteren Fällen bekräftigte der Presserat die Zeug- nisverweigerungspfl icht, indem er Beschwerden für begründet erklärte, bei denen von den Beschwerdeführern die Preisgabe von Informanten beklagt wurde. Zwei davon en- deten mit einer Rüge, der schärfsten Sanktion, die dem Presserat zur Verfügung steht. Eindrucksvoll als ein Akt der Verteidigung von Whistleblowing, das notwendig ist, da- mit der Journalismus die Aufgabe Öff entlichkeit erfüllen kann, ist die nicht-öff entliche Rüge einer Zeitung, die einen Informanten preisgegeben hatte, von dem ihr Sicherheits- mängel in Atomkraftwerken gesteckt worden waren:

»Mängel in drei namentlich genannten Atomkraftwerken sind das Th ema eines Zei- tungsberichts. Vom Pfusch beim Reaktorbau, von Manipulation und Suff ist die Rede. Zitiert wird der ehemalige Koordinator für Sicherheitsüberprüfungen, der sich aus Gewissensgründen bei der Redaktion gemeldet hat, um auf gravierende Mängel bei der Sicherheit hinzuweisen. Sein Foto wird veröff entlicht, sein Vorname, sein abge- kürzter Nachname und sein Alter werden genannt. Damit sei er bewußt Risiken aus- gesetzt worden, heißt es in einer Beschwerde beim Deutschen Presserat. Die Zeitung habe zugesichert, daß er als Informant ungenannt bleibe. Die Redaktion bestreitet das. (...) Der Presserat ahndet den Fall mit einer nichtöff entlichen Rüge. Die Zeitung hatte dem Betroff enen vor Veröff entlichung schriftlich Vertraulichkeit zugesichert. (...) Der Presserat berücksichtigt bei seiner Entscheidung den Hinweis der Redaktion, daß die später gegebene Zusage, den vollen Namen nicht zu erwähnen, gekoppelt gewesen sei an die Bereitschaft des Informanten, eine eidesstattliche Erklärung zu seinen Vorwür- fen abzugeben. Auch wenn diese Erklärung die Redaktion t atsächlich nicht erreicht

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hat und dem Sicherheitsexperten hätte bekannt sein müssen, daß die Redaktion auf die Veröff entlichung der enthüllenden Vorgänge nicht verzichten würde, vermag dies den Vorwurf der Verletzung des publizistischen Grundsatzes der Beachtung der Ver- traulichkeit nicht zu entkräften. (...) Der Presserat empfi ehlt der Zeitung, bei Sach- verhalten der vorliegenden Art künftig sensibler mit den Interessen von Informanten umzugehen.« (B 18 /93, Jb 1993, S. 142f.)

Auch diese Entscheidung fi el in das Jahr 1993. Um diese Zeit hatte sich im Presserat off enbar eine Tendenz durchgesetzt, das juristisch verbriefte Zeugnisverweigerungsrecht im Rahmen der journalistischen Berufsethik konkret zur Pfl icht zum Informantenschutz zuzuspitzen.

II. ...und der Presserat entkräftet die Zeugnisverweigerungspfl icht

Die für Whistleblowing förderliche Praxis war allerdings nicht von langer Dauer. Denn danach folgen etliche Entscheidungen des Presserats, die den Informantenschutz eher in Frage stellen als ihn zu garantieren. Meistens handelt es sich darum, dass der Presserat Beschwerden, die sich gegen die Preisgabe eines Informanten durch eine Zeitung wen- den, für unbegründet erklärt, weil kein Vertraulichkeitsverhältnis zwischen der Redak- tion und dem Informanten zustande gekommen sei. Dass der Presserat u. U. auch Argu- mente an den Haaren herbeizieht, um die Preisgabe von Informanten durch Journalisten zu rechtfertigen, zeigt ein Fall aus dem Jahre 1996:

»Ein Redakteur einer Zeitschrift will über ein Seminar eines bestimmten Anbieters berichten, das der Entwicklung der Persönlichkeit dienen soll. Bei der Recherche stößt er auf eine freie Kollegin, die ihm sehr kritisch ihre eigenen Erfahrungen in einem sol- chen Seminar schildert. Zuvor bittet sie ihn nach eigenem Bekunden mindestens drei- mal, sie als Informantin nicht preiszugeben, weder in dem geplanten Artikel noch dem Veranstalter gegenüber. In einer Beschwerde beim Deutschen Presserat erklärt die Journalistin, der Redakteur habe ihr Informantenschutz zugesichert. (...) Am nächsten Tag habe sie bereits der empörte Anruf des Veranstalters erreicht, der sie fragte, ‚was sie denn da erzähle’. Der Seminaranbieter habe ihr erklärt, von dem Redakteurskolle- gen über den Inhalt des Gesprächs vom Vortag unterrichtet worden zu sein. (...) Der betroff ene Journalist versichert dem Presserat, der Kollegin telefonisch zugesichert zu haben, daß sie in dem geplanten Artikel nicht genannt werde. Er habe sich jedoch keineswegs verpfl ichtet, ihren Namen vor dem Seminaranbieter geheimzuhalten. (...) Die konkrete Frage, ob der Redakteur der Kollegin hinsichtlich der Ergebnisse seiner Recherche umfassenden Informantenschutz zugesichert hat, oder ob dieser Schutz sich ausschließlich auf eine Veröff entlichung ihres Namens in dem geplanten Artikel bezog, ist für den Presserat anhand der ihm vorliegenden Unterlagen und Zeugen- aussagen nicht beantwortbar. Er (...) erklärt die Beschwerde aber für unbegründet, da eine Verletzung von Ziff er 5 des Pressekodex in diesem Fall nicht nachweisbar ist.« (B 62/96, Jb. 1997, S. 202)

In der Tat ist Ziff er 5 des Pressekodex ja so formuliert, dass ein Vertraulichkeitsverhältnis zwischen Informant und Redaktion ausdrücklich vereinbart sein muss und die Beweislast für diese Vereinbarung beim Informanten liegt.

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Ein anderer Beschwerdefall aus dem Jahre 2004 zeigt, dass der Presserat es gerade bei heiklen Informationen für unzulässig hält, wenn die einer Redaktion bekannten Quellen gegenüber dem Publikum nicht off engelegt werden:

»Unter der Überschrift ›Hoher Anspruch, leere Säle‹ gibt eine Regionalzeitung in ihrer Stadtausgabe die Kritik zahlreicher ›Kulturmacher‹ an der ›elitären Politik‹ der städtischen Kulturreferentin wieder. (...) Ein einfl ussreicher Stadtrat nenne die Kul- turpolitik der Referentin schwammig. Und ein erfahrener Szenekenner klage, sie rede von Frieden, doch sie säe Unfrieden. Viele Kritiker wollten unerkannt bleiben. ›Wer aufmuckt, muss bluten‹, sage einer. Ein Leser äußert sich hierüber kritisch gegenü- ber dem Deutschen Presserat. Es sei nicht mit der Sorgfaltspfl icht vereinbar, wenn ausschließlich Bezug auf anonyme Informanten genommen werde. (...) Der Chefre- dakteur der Zeitung betont, (...) alle Gesprächpartner seien zwar bereit gewesen zu informieren, wollten ihren Namen aber auf keinen Fall in der Zeitung veröff entlicht haben. Sie hätten off enbar Repressalien von Seiten der Kulturreferentin befürchtet. (...) Nach Meinung (...) des Presserats ist es mit der journalistischen Sorgfaltspfl icht nicht vereinbar, eine derartige Häufung an Kritik ausschließlich auf der Basis anonym bleibender Informanten und somit ohne klare Quellenangabe zu veröff entlichen. (...) Ein solch schwerwiegender, auch moralisch disqualifi zierender Vorwurf sollte durch die Zeitung nicht ohne Nennung des Urhebers transportiert werden. Die Kammer re- agiert auf den Verstoß gegen die in Ziff er 2 des Pressekodex defi nierte journalistische Sorgfaltspfl icht mit einer Missbilligung.« (BK 1-163/04, Jb. 2005, S. 100f.)

Der Grundsatz, dass schwerwiegende Kritik sich nicht (nur) auf anonyme Quellen beru- fen darf, muss potentielle Whistleblower entmutigen, sich mit konfl iktträchtigen Kennt- nissen überhaupt an Journalisten zu wenden. Fazit: Whistleblower können nicht sicher sein, im Deutschen Presserat eine Instanz zu haben, die ihr Interesse an Anonymität im Zweifelsfall schützt. Das Problem ist nicht, dass die Zeugnisverweigerungspfl icht von Journalisten dem Presserat und seinem Verhaltenskodex unbekannt wäre. Das Problem besteht vielmehr darin, dass dieses Prinzip nicht mit der nötigen Konsequenz angewendet wird, um Whistleblower zu ermutigen.

III. Die Spruchpraxis stimmt nicht mit der emphatischen Verteidigung des Zeugnisverweigerungsrechts auf der politischen Bühne überein

Im Unterschied zu seiner wechselhaften Spruchpraxis in Bezug auf den Informanten- schutz, der bei medienungewohnten Personen für Whistleblowing demotivierend sein muss, vertritt der Presserat in medienpolitischen Grundsatzerklärungen anlässlich von öff entlichen Festlichkeiten emphatisch das Zeugnisverweigerungsrecht von Journalisten gegenüber der staatlichen Exekutive. Beispielsweise engagierte sich Geschäftsführer Lutz Tillmans im Bericht über die Arbeit des Selbstkontrollorgans im Jahre 2002 mit folgender Formulierung gegen einen Gesetzentwurf des Hamburger Innensenators Schill, der weitgehende Kontroll- und Beschlagnahmerechte für den Verfassungsschutz sogar in privaten Journalistenwohnungen vorsah: »Der Deutsche Presserat und die ihn tragenden Medienorganisationen (...) sehen hie- rin eine Aushöhlung des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts. Deshalb ap- pelliert der Presserat an die Mitglieder des Rechtsausschusses der Bürgerschaft, die

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zunehmende Kritik an dem Entwurf ernst zu nehmen und bei seiner Sitzung am 22. Oktober 2002 auf die verfassungsrechtlich bedenklichen Regelungen zu verzichten.« (Deutscher Presserat, Hrsg.: Jahrbuch 2003, S. 38)

Nichts gegen das politische Engagement für ein Schutzrecht gegenüber dem Staat – aber es wäre gut, wenn der Presserat auch die Zeugnisverweigerungspfl icht im Alltag der Spruchpraxis so konsequent statuieren würde, dass Whistleblower sich darauf verlassen könnten.

IV. Fazit und Interpretation

1. In der Spruchpraxis des Presserats spielt der Informantenschutz eine verschwindend geringe Rolle. Weniger als ein Fall pro Jahr, d. h. höchstens 0,3  der entschiedenen Beschwerden nehmen darauf Bezug. Daran zeigt sich einmal mehr, dass in Deutsch- land das Interesse an professionellen Belangen des Journalismus gering ist. Selbst in der Praxis des für die Stärkung der Professionalität zuständigen Selbstkontrollorgans dominiert eine kritische Außensicht auf den Journalismus aus der Perspektive der allge- meinen Moral. Das hängt damit zusammen, dass der Presserat von Anfang an haupt- sächlich dazu gedacht war, der hierzulande traditionell starken Tendenz zu staatlicher Kontrolle des Journalismus zuvorzukommen. 2. Dieser Hintergrund tritt auch hervor, wo der Presserat sich in seinen offi ziellen Pro- klamationen besonders für das journalistische Zeugnisverweigerungsrecht engagiert – nämlich dort, wo es gilt, gesetzliche Regelungen zu verhindern, die dem Staat einen legi- timen Zugriff auf Informationsmaterial und Informanten ermöglichen würden. Weil er sich vor allem als Lobbyorganisation der Pressebranche versteht, misst der Presserat dem Informantenschutz auf einer politisch-proklamatorischen Ebene hohe Bedeutung zu. 3. Anders verhält es sich mit der konkreten Spruchpraxis, wenn man sie unter der Fra- ge betrachtet, ob sie günstige Bedingungen für die Möglichkeit von Whistleblowing schaff t. In einer kurzen Phase Anfang der 1990er Jahre fi nden sich prägnante Ent- scheidungen, die über die politische Verteidigung des Zeugnisverweigerungsrechts hi- naus eine professionelle Zeugnisverweigerungspfl icht statuierten, was als Rückhalt für Whistleblowing unerlässlich ist. Seitdem überwiegen restriktive Beschwerdeentschei- dungen, die einer Denkhaltung entspringen, welche den Informantenschutz tenden- ziell als Deckung für illegitimen Verrat von Betriebsgeheimnissen interpretiert. Auch dies ist ein Ausdruck der Dominanz des Moralaspekts über den Professionalitätsa- spekt in der journalistischen Kultur Deutschlands. Anders die USA, wo aufgrund der höheren Wertschätzung des Öff entlichkeitsprinzips professionelle Belange und damit auch das Whistleblowing höher im Kurs stehen. 4. Wie bei anderen Regelungsaspekten ist auch beim Informantenschutz die Inkonsi- stenz der Presseratsentscheidungen ein großes Problem. Die Spruchpraxis schwankt zwischen der deutlichen Bekräftigung der Zeugnisverweigerungspfl icht und der nicht weniger deutlicher Bekräftigung des Prinzips, dass gerade bei heiklen Informationen der Informant die ausdrückliche Vereinbarung von Vertraulichkeit nachweisen muss. Durch diese Inkonsistenz werden Entscheidungen wertlos, die an sich die Zeugnisver- weigerungspfl icht statuieren, weil (potentielle) Whistleblower sich auf dieses Prinzips nicht verlassen können. Erst eine konsistente Spruchpraxis, die den Informantenschutz durchgehend zur Pfl icht machte, würde Whistleblowing fördern.

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V. Konkrete Empfehlungen

1. Der Presserat sollte in seinem Verhaltenskodex und in seiner Spruchpraxis klar zum Ausdruck bringen, dass Journalisten grundsätzlich die Pfl icht haben, besonders bei hei- klen Informationen ihre Informanten zu schützen. Informanten dürfen nur preisgege- ben werden, wenn sie dem ausdrücklich zugestimmt haben. Es ist also eine Umkehrung der Beweislastregel notwendig: Nicht der Informant muss nachweisen, dass Vertrau- lichkeit vereinbart worden ist, um sich erfolgreich zu beschweren, sondern der Journa- list muss nachweisen, dass sein Informant ihn ausdrücklich von der grundsätzlich gel- tenden Zeugnisverweigerungspfl icht entbunden hat, um eine Beschwerde abzuwehren. Erst wenn die Geltung dieses Grundsatzes garantiert ist, werden mehr Whistleblower es wagen, sich mit heiklen Informationen über Missstände in Unternehmen und Insti- tutionen an die Medien zu wenden.

2. Der Grundsatz, dass besonders bei heiklen Informationen die dem Journalisten be- kannten Quellen nicht anonym bleiben dürfen, um eine Veröff entlichung zu tragen, sollte abgeschaff t, mindestens relativiert und modifi ziert werden. Richtig ist natürlich: Quellentransparenz gegenüber dem Publikum ist im Journalismus wichtig, Öff ent- lichkeit lässt sich nur durch Öff entlichkeit kontrollieren. Das wusste schon D aniel Defoe, der das Anonymisierungsverbot allerdings nicht auf die Quellen, sondern auf die Journalisten selbst bezogen hat. Damit hat Defoe schon vor 300 Jahren einen gangbaren Weg gewiesen, um Whistleblowing zu fördern: Es ist der Journalist, der die Quelle kennt und der durch sein professionelles Zeugnisverweigerungsrecht vor Nachteilen geschützt wird, der nicht anonym bleiben darf, damit er für die Richtigkeit seiner Information verantwortlich gemacht werden kann; es ist nicht der Informant als Quelle, z. B. ein aus Gewissensgründen handelnder Whistleblower, der ja nicht durch ein professionelles Zeugnisverweigerungsrecht geschützt wird und deshalb u. U. existenzbedrohende Nachteile zu gewärtigen hat, wenn er sich mit vertraulichen In- formationen über Missstände an die – nein, nicht an die Öff entlichkeit, sondern an jemanden wendet, dessen Beruf es ist, Öff entlichkeit um ihrer gesellschaftsregulie- renden Kraft willen herzustellen. Wenn die journalistische Professionalität nicht in dieser Weise als Schutzmauer für Informanten verstanden wird, werden kaum Infor- mationen über Missstände an die Öff entlichkeit gelangen können.

3. Schließlich mein ceterum censeo: Der Presserat sollte sich endlich für das an einem professionellen Journalismus interessierte Publikum öff nen, z. B. Medienleute, die nicht den Trägerverbänden angehören, sowie nicht aus dem Pressewesen stammende Laien als Mitglieder aufnehmen oder seine Beschwerdeverfahren wie jedes Gericht in einem demokratischen Rechtsstaat grundsätzlich öff entlich führen. Nur durch die Anwendung der Transparenzregel, also jenes Prinzips, dem sich der Presserat in Bezug auf den Journalismus ja verschrieben hat, auch auf sich selbst und das dadurch möglich werdende Mehr an öff entlicher Kontrolle seiner Arbeit wird der Presserat zu jener Konsistenz seiner Spruchpraxis in Bezug auf den Informantenschutz kommen, die notwendig ist, um Whistleblowing zu ermutigen.

132 | Christian Schicha

Aufgaben, Ansätze und Arbeitsfelder der Medienethik

Einleitung: Eine gefakte Show als Plädoyer für die Organspende

Anfang Juni 2007 wurde auf dem niederländischen Sender BNN die »grote Donorshow« ausgestrahlt, bei der sich drei Menschen um eine Niere »bewarben«, die von der angeblich unheilbarkranken Spenderin Lisa eine Niere zur Verfügung gestellt werden sollte. Das Ganze wurde dann im Rahmen einer typischen Spielshow inszeniert. In Einspielfi lmen wurde die Lebensgeschichte der drei kranken Kandidaten vorgestellt. Die ›Todkranke‹ wurde unter johlendem Applaus des Publikums begrüßt und die potenziellen Empfänger kämpften nach Kräften um die Sympathie der ›Spenderin‹ und des Fernsehpublikums, das sich per SMS an der ›Abstimmung‹ beteiligen konnte. Das Ganze war ein großer Bluff . Kurz bevor die Wahl des ›Gewinners‹ der Niere verkündet werden sollte, klärte der Moderator darüber auf, dass es sich bei der angeblich todkranken Person um eine gesunde Schauspielerin handelte und dass die tatsächlich kranken Kandidaten darüber im Vorfeld der Sendung bereits aufgeklärt worden seien. Das Ziel – so die Macher der Show – bestand darin, auf die Problematik der geringen Organspendenbereitschaft in der Bevölkerung aufmerksam zu machen. Produziert wurde der Fake von Endemol. Vor- dergründig war die Nierenshow ein Erfolg. Noch während der Sendung haben mehrere Tausend Niederländer einen Organspendeausweis beantragt. Dennoch stellt sich die Fra- ge, ob hier der Zweck die Mittel heiligt. Ist es moralisch angemessen, durch eine derartig spektakuläre Inszenierung die Aufmerksamkeit auf einen Missstand zu lenken? Oder ist bei einem derart sensiblen Th ema ein höherer Grad an Seriosität in der medialen Präsentation geboten? Was macht unter den Bedingungen moderner, unterhaltungszen- trierter Medien eine angemessene Vermittlung aus? Stimmen die journalistischen und moralischen Standards, die zur Empörung über das niederländische Beispiel geführt ha- ben? Oder erzwingt eine Ökonomie der Aufmerksamkeit bisweilen den kontrollierten Tabubruch, um Gutes zu bewirken?

Aufgaben der Medienethik

Auf der Suche nach einem angemessenen Umgang mit den unterschiedlichen Formen und Ausprägungen medialer Angebote soll die Medienethik als Form der angewandten Moralphilosophie einen systematischen Beitrag zur Beurteilung potenziell moralischer Verfehlungen leisten und sich dabei auf ein philosophisch fundiertes Kategoriensystem beziehen, das normative Kriterien für den angemessenen Umgang mit Medieninhalten formuliert und klare Verantwortungszuschreibungen vornimmt. Die Disziplin der Medienethik wird zur Sensibilisierung und Verantwortungszuschrei- bung herangezogen, um Defi zite im Bereich der Medienangebote, der Mediennutzung sowie der Programminhalte aufzuzeigen. Sie soll alternative Handlungskonzepte anbie- ten, anhand derer die Qualität und moralische Angemessenheit medialen Handelns be- wertet werden können.

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Im Gegensatz zur Medienpsychologie arbeitet die Medienethik weniger empirisch, sondern versucht, normative Leitlinien im Umgang mit Medienangeboten aus dem phi- losophischen Th eoriekontext abzuleiten. Die Medienpsychologie hingegen widmet sich kognitiven und emotionalen Wirkungen von Medieninhalten, während die Mediene- thik eine allgemeinere Perspektive anstrebt (vgl. Mangold, Vorderer & Bente 2004). Gleichwohl gibt es Gemeinsamkeiten beider Disziplinen, da sie einen anwendungsori- entierten Gegenstand mit den entsprechenden Risiken in den Blick nehmen. Der Buch- titel Medienethik und Medienwirkungsforschung (Rath 2000) dokumentiert zudem, dass empirische Ergebnisse durchaus Relevanz für die Medienethik besitzen. Berührungen zwischen medienethischen Refl exionen und medienpsychologischen Forschungen erge- ben sich anhand von Formaten des sogenannten Aff ektfernsehens (Bente & Fromm 1997). Talkshowformate und Bekenntnisshows (vgl. Fromm 1999 & 2002) sind hier eben- so untersucht worden wie Real-Live-Formate (vgl. Spielhagen u. a. 2000), wobei die medienpsychologische Forschung stärker die Selbstdarstellungstechniken der beteiligten Protagonisten in den Fokus rückt, während die Medienethik u. a. grundlegende Fragen der Menschenwürde diskutiert (vgl. Schicha 2002a).

Medienethik zwischen Th eorie und Praxis

Um insgesamt die Diff erenz zwischen hohen moralischen Ansprüchen und den mensch- lichen Unvollkommenheiten und Sachzwängen zu überbrücken, triff t Birnbacher (1988) die Unterscheidung zwischen idealen Normen und Praxisnormen. Praxisnormen verhalten sich zu idealen Normen wie einfache Gesetze zu Verfassungsnormen. Wäh- rend die Fundierung von Idealnormen als Arbeitsaufgabe der Philosophie zugeschrieben wird, werden Praxisnormen primär der Ebene des Rechts oder der Politik zugeordnet. Die Aufgabe einer wirksamen angewandten Ethik für die Praxis besteht nunmehr darin, dass ideale Normen im Verständnis von »Durchführungsregeln« eine praktikable An- gleichung an faktische Verhältnisse erfahren, um eine Vermittlungsfunktion zwischen der abstrakten idealen Ethik einerseits mit den anthropologischen und psychologischen Realitäten andererseits zu bewerkstelligen. Oft sind anspruchsvolle ethische Prinzipien zu rigoros, um eine Chance zur Durchsetzung in der Praxis zu erreichen. Darüber hinaus weichen sie oftmals zu gravierend von den gängigen Gegebenheiten und Konventionen der Lebenspraxis ab, um die Akteure zur Durchführung entsprechender Prinzipien zu motivieren. Insofern sind die Durchsetzungsbedingungen idealer Normen ein wesent- licher Maßstab für die Wirksamkeit entsprechender Leitlinien. Die zentrale Aufgabe ei- ner tragfähigen angewandten Moralkonzeption liegt darin, einen Kompromiss zu fi nden zwischen der legitimen Anpassung an die faktischen Gegebenheiten, ohne sich jedoch zu stark an opportunistischen Gepfl ogenheiten in der Praxis zu orientieren. Eine Aufga- be der angewandten Ethik besteht nunmehr darin, dass ideale Normen eine praktikable Angleichung an die faktischen Verhältnisse erfahren, um Kompromisse zu fi nden, bei denen ideale Leitbilder zwar nicht aufgegeben werden, jedoch soweit operationalisierbar gestaltet werden können, dass sie als Handlungsoptionen in der Praxis Entscheidungs- hilfen bei der ethischen Urteilsbildung bieten können. Auch im Kontext der Medien- bzw. journalistischen Ethik ist ein Spannungsfeld zwischen Ideal- und Praxisnormen zu verzeichnen. Schließlich gilt: »Systematische Imperative wie Rentabilität, Markt- und Zielgruppenorientierung, Konkurrenz-, Zeit und Erfolgsdruck, aber auch strukturelle

134 | Aufgaben, Ansätze und Arbeitsfelder der Medienethik

Zwänge der Organisation, wie Organisationsroutinen, Redaktionsmanagement, Arbeits- verteilung und ›redaktionelle Linie‹ können einem an medienethischen Werten und Normen ausgerichteten Handeln entgegenstehen.« (Debatin 1997, S. 284)

Folglich spielen also u. a. die Imperative der Ökonomie im Medienwettbewerb eine zen- trale Rolle, die ggf. konträr zu den medienethischen Idealnormen stehen können. Das Spannungsfeld zwischen ökonomischen Zwängen und der Qualitätssicherung im Jour- nalismus wirkt sich schließlich auch auf die Qualität der Informationsleistung und die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit als Voraussetzung der wirtschaftlichen Existenz auf dem Medienmarkt aus (vgl. Gleich 2003). Die Ethik fungiert letztlich als Refl exionsinstanz, die das Verfahren zur Abgleichung zwischen normativen Ansprüchen und praktischen Sachzwängen unterstützt. Sie ist als Orientierungsrahmen für die Aufrechterhaltung weitreichender normativer Anforde- rungen auf einer allgemeinen Idealebene unerlässlich, um eine zu starke Akzeptanz an bereits erfolgte Entwicklungen zu vermeiden, die aus ethischer Perspektive zu korrigie- ren sind.

Bezugsebenen ethischer Verantwortung

In der kommunikationswissenschaftlichen und philosophischen Debatte um die Medie- nethik sind zunächst zwei Ansätze und theoretische Zugangsweisen zu beobachten. Der individualethische Diskurs versucht, allgemeingültige Maßstäbe etwa der Wahrheit und der Freiheit am konkreten Handeln oder Unterlassen festzumachen. Systemtheoretische Modellvorstellungen hingegen fokussieren den Blickwinkel nicht auf das Individuum, sondern geben ihre Ausgangsbasis bei den Medien als Teil der gesellschaftlichen Syste- matik an. Darüber hinaus wird weitergehend eine Standesethik der Profession ebenso diskutiert wie die Publikumsethik, die beim Empfänger und nicht beim Betreiber von Medienprogrammen ansetzt. Insgesamt kann zwischen folgenden vier Ansätzen diff e- renziert werden:

Individualethische Maximen sind als moralische Verhaltensregeln für den einzelnen Journalisten formuliert. Dort werden allgemeine moralische Gewissensnormen des Individuums vorausgesetzt, »die als motivationale Handlungsorientierung und interne Steuerung des Individuums fungieren« und »konkrete journalistische Praktiken und Verhaltensweisen« (Debatin 1997, S. 283) initiieren. Als Vertreter dieses normativ- ontologischen Ansatzes hebt Boventer (1988) die Verantwortung jedes einzelnen Journalisten für seine Berichterstattung hervor. Journalisten und Journalistinnen be- sitzen schließlich eine umfassende Rollenverantwortung, die in ihrer Berichterstattung zum Ausdruck kommen muss (vgl. auch Wild 1990, Baird, Loges & Rosenbaum 1999). Professionsethische Maßstäbe sollen dafür sorgen, dass das berufl iche Verhalten im Kon- text der Medienberichterstattung ›berechenbar‹ ist. Es wird daher in »Standes ethiken« von Seiten der Berufsverbände kodifi ziert (vgl. Teichert 1996). Es geht insgesamt darum, berufl iches Verhalten berechenbar zu machen und moralisch angemessen zu ge- stalten. Insgesamt können professionsethische Maßstäbe in Standesethiken (z. B. Deut- scher Presserat) im Verständnis einer Selbstkontrolle kodifi ziert werden.

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Die System- / Institutionenethik hebt die Verantwortung der Medienunternehmen her- vor, um der journalistischen Tätigkeit angemessene Rahmenbedingungen einer sozial- verantwortlichen Arbeit zu ermöglichen. Rühl und Saxer (1981) plädieren für eine makroperspektivische Sichtweise journalistischen Handelns unter Berücksichtigung der politischen, ökonomischen und juristischen Gegebenheiten. Bei diesem empirisch- analytischen Ansatz ruht die Verantwortung dann auch auf den Schultern der Ge- setzgeber, Medieneigner und Medienmitarbeiter. Die Ethik kommt hierbei in sozialen Entscheidungsstrukturen zum Tragen, die in Personal- und Sozialsysteme eingebettet wird. Bei der Publikumsethik rückt die Verantwortung der Rezipienten in den Blickpunkt. Der mündige Zuschauer soll durch die Verweigerung der Rezeption moralisch fragwürdiger Programminhalte dazu beitragen, das Qualitätsniveau der Programminhalte auf dem Mediensektor anzuheben. Im Rahmen einer Publikumsethik soll eine Zurückweisung minderwertiger oder moralisch fragwürdiger Produkte, etwa durch Programmverzicht oder Boykottaufruf dazu beitragen, sich diesem Ziel anzunähern (vgl. Funiok 1996).

In einem vielschichtig ausdiff erenzierten Mediensystem lässt sich zwischen sechs me- dienethischen Inhaltsbereichen diff erenzieren, bei denen die Bedingungen für ethisches Handeln mit unterschiedlichen Reichweiten angesiedelt sind (vgl. Thomass 2002):

Auf der metaethischen Ebene werden die grundlegenden Prinzipien (z. B. Freiheit, Ver- antwortung) diskutiert, die eine fundamentale Bedeutung für die unabhängige und ethisch angemessene Medienberichterstattung besitzen. So wird etwa darüber disku- tiert, ob Gäste in den Daily-Talks intime Details ihres Privatlebens vor der Fernseh- öff entlichkeit schildern sollten oder nicht. Auf der medienpolitischen Ebene wird der Rahmen festgelegt, in dem sich Mediensy- steme und Medienunternehmen organisieren. An diesem Punkt wird z. B. geregelt, ob die Informationsfreiheit das Zeugnisverweigerungsrecht einschließt oder nicht. Hier geht es u. a. konkret um das Verbot der Telefonüberwachung von Journalisten. Auf der Organisationsebene steht das Tun und Unterlassen der einzelnen Medienunter- nehmen im Rahmen der Pressefreiheit im Zentrum des Interesses. Hierbei lassen sich Unterschiede aufzeigen, ob die Unternehmen dem Modell der Integration verpfl ichtet sind (z. B. öff entlich-rechtliche Rundfunkanbieter) oder primär dem kommerziellen Marktmodell (z. B. privat-kommerzielle Rundfunkanbieter). Dabei kommt das Mo- dell der Organisationsethik zum Tragen. Es wird u. a. darüber diskutiert, ob privat- kommerzielle Anbieter neben reinen Unterhaltungsformaten auch Informationspro- gramme anbieten sollten. Auf der berufsbezogenen Ebene werden die allgemeinen normativen Ansprüche an jour- nalistisches Handeln und ihre Umsetzung formuliert. An diesem Punkt wird das Mo- dell der Institutionsethik tangiert. Hierbei spielt v. a. die medienethische Kompetenz eine Rolle, die im Rahmen der Berufsausbildung vermittelt werden soll. Auf einer personalen Ebene schließlich stehen die Handlungsspielräume und Gestal- tungsoptionen des einzelnen Journalisten und Rezipienten im Mittelpunkt, die beide bei der Partizipation an der Medienkommunikation besitzen. Hierbei spielen sowohl die individuelle Verantwortungsethik als auch die Publikumsethik eine Rolle. Dabei können Abwehrmechanismen von Medienbetreibern zum Ausdruck kommen, sofern sie sich ggf. weigern, als Paparazzi in die Privatsphäre von Prominenten einzudringen.

136 | Aufgaben, Ansätze und Arbeitsfelder der Medienethik

Das Publikum kann u. U. die Rezeption von moralisch-fragwürdigen Medieninhalten verweigern und dadurch die Werbeeinnahmen der entsprechenden Anbieter schmälern.

Diese Ebenendiff erenzierung ist von zentraler Bedeutung, um bei der Beschreibung von Konfl iktfeldern in der konkreten Medienpraxis Möglichkeiten der Adressierung für Verantwortungszuschreibungen und Handlungsorientierungen zu bieten und im Sinne einer Arbeitsteilung Interdependenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den verschie- denen Ebenen aufzuzeigen, die für die Bewertung medienethischer Dilemmata unver- zichtbar sind. In der Praxis kommt es schließlich nicht primär darauf an, medienethische Werte zu setzen, sondern Entscheidungsprozesse bei konkreten Handlungsalternativen zu organisieren, bei denen jedoch auch die kollektive Refl exion ethischer Fragestellungen zum Tragen kommt.

Ebenen der medienethischen Argumentation

Insgesamt kann zwischen fünf idealtypischen Ebenen der philosophisch-ethischen Argu- mentation diff erenziert werden, die über unterschiedliche Abstraktionsgrade verfügen und sich auf medienethische Problemstellungen übertragen lassen (vgl. Funiok 2002): Auf der ersten Ebene wird im Rahmen moralischer Urteile z. B. entschieden, was veröf- fentlicht werden darf oder nicht. Dabei spielt die Situationsanalyse des konkreten Falles ebenso eine Rolle wie professionelle Regelstandards, geltende Normen und Loyalitäten. Durch das moralische Urteil wird konkret ausgedrückt, was zu tun oder zu unterlassen ist (vgl. Birnbacher 1995), bzw. was als richtig oder falsch klassifi ziert werden kann. Entsprechende Urteile werden in der Alltagspraxis der Reaktionen ebenso gefällt, wie in den Entscheidungen des Deutschen Presserates beim Vorliegen von konkreten Be- schwerden. Auf der zweiten Ebene werden konkrete Regeln und Normen mit z. T. begrenzter Reichweite formuliert, die beispielsweise unlautere Methoden bei der Beschaff ung von Nachrichten untersagen (vgl. Ziff er 4 beim Pressekodex des Deutschen Presserates). Auf der dritten Ebene werden allgemeine moralische Grundüberzeugungen bzw. Hal- tungen und Tugenden zum Ausdruck gebracht, die eine hohe Plausibilität für individu- elles Handeln beinhalten. Die Aufgabe der angewandten (Medien-)Ethik besteht darin, die entsprechenden Intuitionen zu begründen, die in ihnen enthaltenen Prinzipien he- rauszuarbeiten und eine Rangordnung der entsprechenden Regeln und Normen aufzu- stellen. Einen höheren Abstraktionsgrad weisen ethische Prinzipien auf der vierten Ebene auf. Neben der Anerkennung der Personalität jedes Menschen werden bei der Beurteilung der menschlichen Handlungen und Unterlassungen die Bedeutungen für die individu- ellen Entwicklungschancen und die Sicherung der personalen Freiheit mit ins Kalkül gezogen. Dabei spielen auch Entwicklungschancen im Bereich der Sozialverträglich- keit und Umweltverträglichkeit für gegenwärtige und zukünftige Generationen eine zentrale Rolle (vgl. Birnbacher 1988, Birnbacher & Schicha 2001). Die fünfte Ebene bezieht sich auf die Basis der ethischen Th eoriebildung bis hin zur Metaethik, wo darüber diskutiert wird, aufgrund welcher Kriterien ethische Grund- prinzipien des moralischen Tuns und Unterlassens entwickelt werden können. Beim Blick auf die theoretischen Konzeptionen der angewandten Ethik bieten sich

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als Basis für die Medienethik zunächst diskurstheoretische Entwürfe einer kommuni- kativen Ethik an, die partizipatorische und emanzipatorische Gerechtigkeitsprinzipien einschließen (vgl. Loretan 1999). Dabei kann die »Diskursethik als Basistheorie der Medienkommunikation« (Lesch 1996, S. 97) klassifi ziert werden (vgl. auch Arens 1996). Die kommunikative Ethik hat Debatin (2002) zufolge gezeigt, dass aus der interperso- nellen Kommunikation soziale Bindungskräfte und Normen resultieren, die in der Praxis als Steuerungsinstrument wirken und theoretisch als Grundlage für die Begründung einer Ethik fungieren können, da im Rahmen von Kommunikationsprozessen die Gel- tung und Aushandlung von Normen vonstatten gehen. Gerechtigkeit und Achtung sind dabei die konstitutiven Prinzipien, die sich im Bereich der Medienethik konkretisieren können durch die Normen der allgemeinen Rede- und Meinungsfreiheit (Toleranz- und Vielfaltgebot), der Informationsfreiheit und -gerechtigkeit (Grundversorgung und Zu- gänglichkeit) und der informationellen Selbstbestimmung und Zurechnung (Autonomie und Verantwortung). Neben diesen normativen Postulaten an zwischenmenschliche Verständigungsprozesse sind jedoch auch inhaltliche Richtlinien erforderlich, um eine medienethische Konzep- tion zu entwickeln.

Arbeitsfelder medienethischer Refl exionen

Im Zentrum der medienethischen Analyse steht der Zusammenhang zwischen medi- alem Ausdruck und menschlichem Verhalten. Durch die medienethische Refl ektion sol- len alternative Handlungskonzepte angeboten werden, anhand derer die Qualität und Angemessenheit medialen Handelns bewertet werden können (vgl. Wiegerling 1998). Bei den Medieninhalten geht es um die Verbreitung problematischer Programme und Schriften. Es werden u. a. frauenfeindliche, rechtsextreme und gewaltverherrlichende Sendungen und Publikationen kritisiert, die über verschiedene mediale Kanäle transpor- tiert werden können (vgl. Hausmanninger & Bohrmann 2002). Ein zentraler Kri- tikpunkt an den Berichterstattern wird darin gesehen, dass sie aufgrund ihrer Jagd nach Schlagzeilen die Privatsphäre der in ihren Berichten dargestellten Personen nicht adäquat respektieren. Sensationslust, Kritiksucht, Zynismus, Enthüllungsgier und Menschenver- achtung werden auch als prägnante Faktoren journalistischer Aussagen diagnostiziert, die letztlich zu einem Eindruck chaotischer Vielfalt sowie zur Diskontinuität und damit zu einer weiteren Destabilisierung des Normensystems in der Gesellschaft und in den Medien führen können. Die »Informationsethik« (Kuhlen 2004 ) setzt sich zudem mit den spezifi schen Erfordernissen und Ausprägungen problematischer Entwicklungen im Internet zusammen, in dem die Verursacher moralisch fragwürdiger Seiten häufi g nicht ausfi ndig gemacht werden können. Neue Problemfelder wie Spam-Mails und Datenklau erweitern das Feld medienethischer und medienrechtlicher Herausforderungen. Die Medienethik verfolgt insgesamt die Aufgabe, Regeln für ein verantwortliches Han- deln in der Produktion, Distribution und Rezeption von Medien zu formulieren und zu begründen, um ethisch gebotene Selbstverpfl ichtungen der am Medienprozess beteili- gten Berufsgruppen, Branchen und Individuen zu bewerkstelligen und die Verantwor- tung des Publikums zu berücksichtigen. Für die Programminhalte sind jedoch nicht nur die Journalisten verantwortlich, sondern alle am Produktions- und Distributionsprozess von Medien Beteiligten.

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Die Medienethik kann Debatin (1997) zufolge in ihrer Orientierungsfunktion ge- genstandsorientiert entwickelt werden, indem sie ihren Blick auf die Inhalts- und An- wendungsbereiche richtet. Auf der Basis der Steuerungsfunktion fungiert sie als integrie- rendes, legitimierendes und motivbildendes Element, das sowohl auf der institutionellen und organisatorischen Ebene als auch auf der Ebene des individuellen Agierens fungiert (vgl. Debatin & Funiok 2003). Auf der institutionell-organisationsinternen Ebene werden neben allgemeinen ethischen Prinzipien auch Satzungen, Geschäftsordnungen und Programmgrundsätze formuliert, die u. a. Normen der wahrheitsgemäßen Berichterstattung, der Sorgfaltpfl icht (im Rah- men der Recherche), der Menschenwürde und des Diskriminierungsverbotes umfassen, die durch ethische Institutionen und Kontrollgremien wie den Deutschen Presserat durchgesetzt werden sollen. Weiterhin umfasst die Steuerungsfunktion auch medienspe- zifi sche Berufsnormen, die u. a. in Pressekodizes verankert sind. Dort kommen profes- sionsspezifi sche Werte wie Wahrheit, Objektivität, Richtigkeit und Sorgfaltspfl icht als ethische Leitlinien zum Tragen. Zudem werden ethische Selbstverpfl ichtungen auf der Organisationsebene formuliert. Im Rahmen der Refl exionsfunktion besitzt die Medienethik einerseits die Aufgabe, Operationen und Auswahlprozesse des Mediensystems und der beteiligten Akteure unter einer ethischen Perspektive zu refl ektieren, andererseits unterliegt sie der moral- philosophischen Aufgabe, medienethische Prinzipien selbst zu begründen. Die Refl e- xion bezieht sich u. a. auf die kritische Analyse von problematischen medialen Formen (z. B. Gewalt und Pornographie). Sie bezieht sich aber auch auf technische, institutionelle, ökonomische und soziale Strukturen und Prozesse innerhalb des Mediensystems. Es reicht jedoch nicht aus, dass sich die Medienethik auf die Refl exionsfunktion be- schränkt, da sonst ihre praktische Umsetzung vernachlässigt wird. Der Anwendungsbe- zug sollte daher gewährleistet bleiben.

Medienethisch relevante Praxisfälle

Die öff entliche Debatte über Ethik der Medienberichterstattung wird primär geführt durch die Beobachtung und Analyse alltäglicher Defi zite im Medienspektrum und spektakulärer journalistischer Fehlleistungen, u. a. in Form der Fälschung von Presse- produkten, der Manipulation von Fotoaufnahmen, durch Zensurmaßnahmen, bei der Verletzung des Persönlichkeitsschutzes von Prominenten und von Angehörigen bei Un- glücken und Katastrophen sowie der unkritischen »Hofberichterstattung« (vgl. Brosda & Schicha 2000, Gleich 2003). Weiterhin existieren fi ktionale Formate, zu denen Kino- und Fernsehfi lme gezählt wer- den, die drehbuchgestützte Geschichten erzählen, in denen u. a. Gewaltdarstellungen gezeigt werden, die dann wiederum aus medienethischer Perspektive speziell für den Jugendschutz relevant sind. Auch Computerprogramme wie Counterstrike haben auf- grund ihrer brutalen Spielszenen öff entliche Debatten nach Verboten hervorgerufen, da einige Nutzer auch im realen Leben Gewalt ausgeübt haben. Die Problematik derartiger Diskurse besteht darin, dass oft monokausale Erklärungen für derartige Gewalttaten abgegeben werden, die allein auf das Medienverhalten zurückgeführt werden und der faktischen Komplexität der individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht gerecht werden.

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Medienethische Debatten wurden auch geführt, als die Muhammed-Karikaturen oder die Comic-Serie Popetown wahlweise muslimische oder christliche Gefühle verletzen. Die Forderung nach einer wirksamen Medienkontrolle kollidiert dabei jedoch auch mit dem grundgesetzlich verankerten Zensurverbot und der Kunstfreiheit. Durch die vom Stern-Reporter Gerd Heidemann für rund fünf Millionen DM er- worbenen »Hitler-Tagebücher« des Fälschers Konrad Kujau, die von der Illustrier- ten 1993 als authentisches Zeitdokument präsentiert wurden, verlor der Stern seine Glaubwürdigkeit. Einen ähnlichen Fall gab es bereits 1957 in Italien, wo die ebenfalls gefälschten Tagebücher des »Duce« Benito Mussolini einem amerikanischen Maga- zin angeboten wurden. Derartige ›Presseenten‹ verfügen innerhalb der journalistischen Berichterstattung über eine lange Tradition. Plumpe Fälschungen von Fernsehberichten, etwa durch Michael Born (1997), der seine manipulierten Beiträge u. a. an das RTL- Magazin »STERN-TV« verkauft hat, dokumentierten zum einen die kriminelle Energie des ›Journalisten‹ Born und zum anderen die fehlende Gegenrecherche der beteiligten Redaktion. Ein weiteres Beispiel für die Darstellung frei erfundener Interviews liefer- te das Magazin der Süddeutschen Zeitung, wo über Monate gefälschte »Exklusiv-Inter- views« des Journalisten Tom Kummer mit prominenten amerikanischen Schauspielern erschienen sind, die faktisch nicht geführt worden sind. Aktuelle Fälle der ›Schleichwerbung‹ auch bei den öff entlich-rechtlichen Anbietern wie der ARD (z. B. Marienhof, Tatort) dokumentieren, dass Werbeverbote off ensichtlich nur eine begrenzte Wirkung haben. Tägliche Krawall-Talkshows, Reality-Formate und ›Abzock-Sender‹ wie 9LIVE runden das negative Erscheinungsbild der populären Fern- sehkultur ab. Auf der Jagd nach Einschaltquoten und Aufl agenhöhen werden die Tabugrenzen der Berichterstattung aus kommerziellen Interessen heraus verschoben, um den moralisch- fragwürdigen Voyourismus der Rezipienten zu befriedigen oder anzuheizen. Folgende Fälle seien hier nur exemplarisch erwähnt:

Im Jahr 1988 fanden eine Reihe von Skandalen im Rahmen der journalistischen Berichterstattung statt. So hat die Live-Übertragung des Geiseldramas von Gladbeck für öff entliche Empörung gesorgt, da Journalisten nicht nur die Polizeiarbeit behin- dert, sondern zusätzlich den ›Aktivismus‹ der Täter angeheizt haben. Kritisiert wurde darüber hinaus das mit der zynischen Bezeichnung beschriebene »Witwenschütteln« anlässlich des Grubenunglücks von Borken, wo Reporter die Angehörigen der Opfer für eine Stellungnahme vor die Kameras zerrten. Der Schutz der Persönlichkeitssphäre ist ein hohes moralisches Gut, das häufi g miss- achtet wird. Die Verfolgung von Prominenten durch Paparazzi hat seinen vorläufi gen Höhepunkt 1997 beim tödlichen Verkehrsunfall der britischen Prinzessin Diana er- reicht, wo ›Journalisten‹ die Limousine der Princess of Wales durch Paris jagten. Das abgedruckte Foto des Ministerpräsidenten Uwe Barschel in der Illustrierten Stern, der in der Badewanne eines Züricher Hotels von dem Reporter Knauer foto- grafi ert worden ist, sorgte für eine heftige öff entliche Debatte. Schutz erhoff en sich vor allem Schauspieler und Künstler durch das sogenannte »Caroline-Urteil«. Das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2004 gefällte Urteil brach- te für die gesamte europäische Boulevardpresse erhebliche Einschränkungen in den Möglichkeiten der Berichterstattung über Details aus dem Privatleben von Promi- nenten.

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In der aktuellen Medienlandschaft zelebrieren Menschen in den Fernsehtalkshows vor einem Millionenpublikum intimste Details ihres Privatlebens. Im Internet erfolgen über Web-Cams Live-Schaltungen in die Wohnstuben von kommerziell motivierten Exhibitionisten, die sich den Zugriff in ihre Privatsphäre durch die User bezahlen lassen. Das Spektrum reicht von den Sexanbietern bis hin zum normalen Alltagsgeschehen von Studenten. Das vorläufi ge Höhepunkt dieser Entwicklung stellte die kontrover- se ›Moraldebatte‹ um das Sendeformat Big-Brother auf RTL II dar, die ebenso wie die bereits erwähnte grote Donorshow in den Niederlanden von der Produktionsfi rma Endemol auf den Markt gebracht wurde (vgl. Schicha 2002a).

Derartige Fälle und die daraus resultierenden medienethischen Konsequenzen werden im Rahmen des Netzwerkes Medienethik, einem Gesprächsforum für Wissenschaftler und Praktiker für ethische Fragen im Medienbereich, seit mehr als zehn Jahren kontro- vers diskutiert (vgl. www.netzwerk-medienethik.de).

Medienselbstkontrollinstanzen

Es stellt sich die Frage, wie sich diese und weitere Fälle moralisch-fragwürdiger Pro- gramminhalte vermeiden lassen und ob sich die bereits skizzieren anspruchsvollen Ziele in der aktuellen Medienlandschaft überhaupt noch realisieren lassen. Pessimistisch lässt sich prognostizieren, dass vor allem der Einfl uss der Kommerzialisierung und die Sach- zwänge bei der Selektion von journalistischen Beiträgen dazu beitragen, dass die Be- richterstattung medienethischer Leitlinien in vielen Fällen nicht mehr gerecht wird. Der Zeitdruck, unter denen Journalisten in der Regel agieren, trägt weiterhin nicht dazu bei, eine ›saubere‹ journalistische Hintergrundrecherche zu ermöglichen, die den anspruch- vollen normativen Vorgaben an die glaubwürdige Medienberichterstattung auch inner- halb der Praxis entspricht. Insofern ist es wenig überraschend, dass immer wieder Fälle aufgezeigt werden, in denen die journalistische Glaubwürdigkeit ihr Ansehen verliert. Insofern sind Medienselbstkontrollinstanzen von entscheidender Bedeutung, um Miss- stände aufzuzeigen und anzuprangern. Dies soll schließlich dazu führen, dass moralisch- fragwürdige Programminhalte auf unterschiedlichen Ebenen bis hin zur Werbung zu- mindest begrenzt werden (vgl. Schicha 2005). Die Medienselbstkontrolle verfügt Grimm (2002) zufolge insgesamt über größere Eingriff smöglichkeiten als eine durch Zensurverbote eingeschränkte staatliche Regu- lierung. Sie gilt als fl exibel und ist in der Lage, eine Synchronisation zwischen medien- ökonomischen und ethischen Zielen vorzunehmen. Selbstkontrollinstanzen folgen der Logik der deontologischen Ethik, da es dort um das Angebot von Maximen geht, an denen sich die Berichterstatter bei ihrem Tun und Unterlassen zunächst unabhängig von den konkreten Umständen bzw. den entsprechenden Folgen orientieren können (vgl. Weischenberg 1992). In liberalen Demokratien mit (grund-)gesetzlich garantierter Kommunikationsfreiheit wie der Bundesrepublik Deutschland klaff t, was Kontrolle und Regulierung von Medien betriff t, eine Lücke zwischen der bewussten Zurückhaltung des Staats einerseits und dem gesellschaftlichen Interesse an einer verantwortungsvollen Praxis des Journalismus und anderer Öff entlichkeitsberufe andererseits. Diese Lücke ist seit den 1980er Jahren durch die Entwicklung neuer Medien und die fortschreitende Kommerzialisierung der alten

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Medien größer geworden. Diese Lücke zu füllen, ist Aufgabe der publizistischen Selbst- kontrolle und ihrer diversen Einrichtungen von alt bekannten Institutionen mit langer Tradition wie der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) oder dem Deut- schen Presserat über die relativ jungen, rechtlich verankerten Regulierungsinstanzen für den privaten Rundfunk bis zu den neuen Selbstkontrollorganen der Computersoftware und der Online-Medien. Der Medienselbstkontrolle kommt seit jeher auch deshalb Bedeutung zu, weil durch sie staatliche Kontrolle überfl üssig und so eine schleichende Enddemokratisierung der Öff entlichkeit abgewehrt wird. Ihre eff ektive Arbeit ist seit den 1980er Jahren wegen der rasanten Entwicklung der Medienentwicklung noch wichtiger geworden. Dieser zuneh- menden Relevanz, die u. a. durch ein wachsendes Beschwerdebedürfnis in der Bevölke- rung zum Ausdruck kommt, hinkt das tatsächliche öff entliche Interesse an der publizis- tischen Selbstkontrolle noch hinterher. Obwohl teilweise aus Steuermitteln fi nanziert, werden die Selbstkontrollorgane und ihre Aktivitäten etwa von der politischen Bil- dungsarbeit, bei Wahlkämpfen oder in den Medien selbst nur wenig beachtet. Der 2004 gegründete Verein zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle (www.publizistische- selbstkontrolle.de) setzt sich das Ziel, der geringen Beachtung der Medienselbstkon- trolle abzuhelfen, indem er die Arbeit ihrer diversen Organe kontinuierlich beobachtet und öff entlich zur Diskussion stellt. Positive Beispiele eines eff ektiven Selbstkontrolle, die von Journalisten betrieben wird, liefern Internet-Blogger, die publizistische Missstände zeitnah aufgreifen und öff entlich dokumentieren. Unter www.bildblog.de beispielsweise werden täglich die Meldungen der BILD-Zeitung nachrecheriert. So können regelmäßig Fehlmeldungen nachgewie- sen und kritisiert werden. Readers Edition (www.readersedition.de) hingegen bietet eine neue Form des Bür- gerjournalismus, wo auch interessierten Laien die Möglichkeit geboten wird, zu gesell- schaftlich relevanten Fragestellungen (z. B. Zukunft der Medien) Stellung zu beziehen. Grundregeln des Publizierens werden auf der Basis des Pressekodex festgelegt. So sollen wichtige Th emen, die von den Medien nicht ausreichend behandelt werden, im Internet behandelt werden. Die meisten Kodizes der Medienselbstkontrollinstanzen wie der Deutsche Presserat (www.presserat.de) operieren mit abstrakten Begriff en wie Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Verantwortung, Objektivität, Sorgfalt, Verantwortlichkeit, Wahrung des Berufsgeheim- nisses. Verboten sind u. a. Diff amierungen, Verunglimpfungen, Pauschalverdächtigungen, Diskriminierungen, unlautere Methoden. Diese Selbstverpfl ichtungen drücken eine Akt des Wollens aus, indem sie Zielrichtungen und Normen vorgeben, die sich an gesell- schafts- und demokratiepolitischen Zielen orientieren. Dabei werden normative Werte als absolut gesetzt, obwohl sie in einer pluralistischen Gesellschaft eher relativ gesehen werden sollten und die Arbeitszwänge der journalistischen Praxis z. T. auch ausblenden (vgl. Krainer, 2001). Zu den Medienkontrollinstanzen gehören u. a. die Bundesprüfstelle für jugendgefähr- dende Schriften (BPjS), die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (www.fsk.de), die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (www.usk.de) sowie die Freiwillige Selbstkon- trolle Multimedia-Dienstanbieter e.V. (www.fsm.de) (vgl. Enquete-Kommission Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft Deutschlands. Weg in die Informationsge- sellschaft Deutscher Bundestag, 1998).

142 | Aufgaben, Ansätze und Arbeitsfelder der Medienethik

Fazit

Es stellt sich die Frage, ob sich die skizzierten anspruchsvollen moralischen Maximen und praktischen Verhaltensregeln in der aktuellen Medienlandschaft überhaupt noch realisieren lassen. Dabei ist zu prognostizieren, dass der Einfl uss der Kommerzialisie- rung, die Sachzwänge bei der Selektion von journalistischen Beiträgen dazu beitragen, dass die Berichterstattung diesen hohen Ansprüchen nicht mehr gerecht wird. Der Zeit- druck, unter denen Journalisten in der Regel agieren, trägt weiterhin nicht dazu bei, eine ›saubere‹ journalistische Hintergrundrecherche zu ermöglichen, die den anspruchvollen normativen Vorgaben an die glaubwürdige Medienberichterstattung auch innerhalb der Praxis entspricht. Insofern ist es wenig überraschend, dass immer wieder Fälle aufgezeigt werden, in denen die journalistische Glaubwürdigkeit ihr Ansehen verliert. Der Zwang zur Aktualität schränkt strukturell die Möglichkeit zur umfassenden Re- cherche, zur Überprüfung und zur Hintergrundinformation ein. Dass ideale Normen in ihrem radikalen Anspruch in der Praxis nicht umgesetzt werden können ist unstrittig. Dennoch sollte versucht werden, eine Annäherung an ideale Leitbilder dennoch anzu- streben, um medienethische Standards im Rahmen der journalistischen Berichterstat- tung zu gewährleisten. Eine adäquate Medienethik entlässt weder die Medienbetreiber, das Publikum noch die Sozialisationsinstanzen aus der Verantwortung. Nur im Zusammenspiel der Akteure lässt sich eine verantwortungskritische Refl exion von Medieninhalten bewerkstelligen, an die sich eine mündige Partizipation der Bürger am politischen, kulturellen und sozi- alen Entwicklungsgeschehen anschließt. Eine hinreichend fundierte Medienethik sollte über fallbezogene Erörterungen hinaus- gehen und statt dessen die Strukturbedingungen und Handlungsspielräume aufzeigen, unter denen Journalisten in einer kommerziell orientierten Medienlandschaft agieren. Daher ging dieser Beitrag explizit der Frage nach, welchen grundlegenden Beitrag ab- strakte philosophische Moralkonzeptionen für die journalistische und allgemein die me- diale Praxis leisten können. Um Kriterien für eine angemessene Bestimmung medienethischer Kriterien für die Medienpraxis zu erhalten, ist zunächst eine systematische Zusammenstellung, Ausarbei- tung und Fundierung theoretischer Forschungsergebnisse zu medienethischen Fragestel- lungen unter Berücksichtigung ethischer Prinzipien und ihrer Reichweite (u. a. Individu- alethik, Institutionsethik, Publikumsethik) erforderlich. In einem zweiten Schritt sollte eine Erarbeitung der unterschiedlichen Ebenen medienethischer Argumentationsver- fahren erfolgen. Darüber hinaus wäre eine Untersuchung von Verhaltensgrundsätzen im Bereich der Medizinethik, Technikethik, Wirtschaftsethik und ethischen Normen der Public Relations in bezug auf ihre Relevanz zu »Medienethischen Qualitätskriterien« ebenso hilfreich wie die Darlegung des medienethischen Forschungsstandes hinsichtlich bereits vorhandener Kriterienkataloge der nationalen und internationalen Medienselbst- kontrolle. Eine vergleichende Analyse und Graduierung der dort auftretenden medienethischen Kriterien, Normen und Werte sowie ihre wechselseitigen Abhängigkeiten könnte dazu beitragen, medienethische Kriterien unter Rekurs auf bereits vorliegende Standards zu erarbeiten um eine Ausdiff erenzierung zwischen normativ-ethischen Postulaten und professionellen Qualitätsanforderungen zu erhalten.

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| 145 Verlagsseite Ingrid Stapf

50 Jahre Deutscher Presserat – hat sich die Medienselbstkontrolle bewährt? am 19. November 2006 im Haus der Bundespressekonferenz Berlin

Eigentlich gibt ein Geburtstag Anlass zum Feiern. sanktionieren, in dem sie den moralischen Verstoß dort Schon gar ein runder, wie der des Deutschen Presser- t hematisiert, wo er veröff entlicht wurde. Das System ats, der am 20. November 2006 sein 50-jähriges Beste- kann damit nur dann greifen, wenn der Abdruck der hen in Berlin feierte. Doch gerade bei einer Institution Rüge zeitnah und transparent erfolgt. mit der Doppelaufgabe, die moralischen Standards der Anders dagegen die Bilanz hinsichtlich der zweiten Auf- deutschen Presse zu sichern und gleichzeitig ihre Frei- gabe des Presserates neben der Verteidigung der Berufse- heiten zu maximieren, gibt ein Geburtstag auch Anlass thik: der Aufrechterhaltung der Pressefreiheit. In dieser zum kritischen Rückblick. Und dazu lud der Verein zur Hinsicht sei die Entwicklung des Presserats seit Beste- Förderung der publizistischen Selbstkontrolle (FPS) am hen eine Erfolgsgeschichte, so die Diplom- Journalistin. Vorabend ein. Ziel der Veranstaltung, so der Vorsitzende So sei beispielsweise die Lex Soraya verhindert worden. des FPS, Prof. Horst Pöttker, sei es, »die Kontrol- Es dränge sich also der Verdacht auf, dass die Verhinde- leure zu kontrollieren« und Hinweise auf Reformbedarf rung staatlicher Kontrolle das wichtigste Ziel des Presse- zu geben. rats sei. Wo bleibt dann aber die Selbst-Kontrolle? Und Bilanz ziehend konstatierte die Diplom-Journalistin wie kann sie sich dem Wandel auf dem Medienmarkt Juliane Fliegenschmidt, der Presserat sei »mitten anpassen? Diese Frage wurde anschließend im Plenum in der midlife-crisis.« Es häuften sich Krisensymptome diskutiert, das Prof. Dr. Wolfgang Langenbucher und Defi zite vor allem im Hinblick auf den Pressekodex, von der Universität Wien moderierte. das Auftreten des Presserats in der Öff entlichkeit sowie Das Prinzip Selbstkontrolle beinhaltet die Idee, dass im Umgang mit dem Pressekodex in der Praxis. Seinem sich die Profession selbst kontrolliert. Dies bezieht sich Anspruch, »Wegweise für die Berufsethik« zu sein, wür- aber nicht nur auf Institutionen wie den Presserat, son- de der zum Geburtstag überarbeitete (und am Abend dern auch die Medien selbst. Gerade die Zeitverzöge- vorher noch nicht vorliegende) Pressekodex nicht ge- rung der Aussprache von Rügen verhindere aber, so Dr. recht. Wie könnte dies auch der Fall sein, wenn der Pres- Joachim Huber vom Tagesspiegel, dass es eine Medien serat unter Ausschluss von Vertretern der Öff entlichkeit -Berichterstattung zum Fehlverhalten der Presse gäbe. arbeite und nur aus Interessenvertretern bestehe, seine Es sei daher auch aus Perspektive der Zeitungen, »mehr Tagungen nicht-öff entlich und seine Entscheidungen Tempo« bei der Arbeit des Presserats erwünscht. Dass oft nicht nachvollziehbar seien. Die Kontrolleure, so die relativ wenig darüber berichtet wird, liege, so die ehema- Kritik, »wollen unter sich sein.« lige Sprecherin des Presserats, Dr. Ilka Desgranges, Dies ist für ein Organ der freiwilligen publizistischen aber auch daran, dass sich rund 70  der Beschwerden Selbstkontrolle nicht ungewöhnlich. Auch der Deut- auf die Lokalberichterstattung bezogen, und nicht, wie sche Werberat besteht nur aus Vertretern der deutschen häufi g angenommen, auf große Boulevardzeitungen. Werbewirtschaft. Doch beweisen Beispiele aus anderen Als positives Gegenbeispiel zur zeitschnelleren Bearbei- Ländern (z. B. den USA), dass die unterstützende Mit- tung von Beschwerden eignet sich dagegen die Schweiz. wirkung von Vertretern der Öff entlichkeit (z. B. Kom- Dr. Peter Studer, Präsident des Schweizer Presserats, munikationswissenschaftlern oder Medienethikern), die lobte die dortigen »pfadfi nderhaften Verhältnisse,« die Glaubwürdigkeit der Entscheidungen sowie der öff ent- zu »großer Einfachheit« zwängen. In der Schweiz werde lichen Außenwirkung eher noch erhöhen, ohne dass da- beispielsweise jeder Entscheid des Presserates sofort ins bei die Freiheit der Profession verringert würde. Netz gestellt und gehe mit einer Pressemitteilung (mit Auch der eigentlich obligatorische Abdruck von Rügen Namensnennung sowie Stellungnahme des Presserats) (gemäß der Selbstverpfl ichtungserklärung sowie dem einher. Auch seien die Kodizes viel praxisbezogener und Pressekodex) sei in der Praxis, so Fliegenschmidt, lan- der Presserat verfüge über Vertreter der Öff entlichkeit, ge nicht durchgesetzt. Weder die Form sei vorgegeben, die zum »Vorteil der Spruchpraxis« beitrügen. noch sei der Rügenabdruck zeitlich aktuell und versande Obwohl der deutsche Pressekodex, so Pöttker, aus daher in der öff entlichen Wahrnehmung. Dies ist fatal, der Spruchpraxis entstanden sei, sei er »unsystema- da die einzige Sanktion einer freiwilligen Selbstkontrolle tisch« und vertrete eine »Außensicht auf den Journalis- nämlich symbolischer Art ist: die Rüge in der Öff ent- mus.« Dies erkläre sich aus der Motivation seiner lichkeit soll das betreff ende Unternehmen negativ E ntstehungsgeschichte, die primär von dem Wunsch | 147 Inhalt Editorial Schwerpunkt PerspektivenTagungen Rezensionen Impressum

geprägt war, die Pressefreiheit zu verteidigen. Da terkeit gegenüber dem Publikum« darstelle. Eine w ichtige i nsgesamt eher eine allgemeine Moral überwiege (so m edienethische Norm ist damit das »Fairness-Prinzip,« z. B. Ziff er 1, in der die Menschenwürde und wahre Un- die Notwendigkeit der objektiven Berichterstattung. terrichtung der Öff entlichkeit eingefordert wird), treff e A llein 50  der Rügen des Schweizer Presserats bezie- er nicht das »professionelle Selbstverständnis der Jour- hen sich auf das Fairness-Gebot. Im deutschen Kodex nalisten.« Auch werde der Pressekodex kaum aktuellen ist es nur Bestandteil der Sorgfaltspfl icht. Ist also mehr Entwicklungen angepasst. Beispielsweise fehle das Th e- Kontrolle nötig? Funktioniert die Selbstkontrolle nicht? ma Krieg, obwohl im Zuge neuer Formen des Terroris- Greift noch immer der alte Vorwurf des »zahnlosen Ti- mus Journalisten immer mehr zu Beteiligten würden und gers?« Nach Benneter ist Selbstkontrolle gut, aber »nur, hilfreicher Praxisnor men bedürften. Pöttker forderte wenn es auch Kontrolle gibt.« Dagegen betonte Des- daher, dass der Presserat vermehrt zu neuen Entwick- granges, dass die der Selbstkontrolle implizite Freiwil- lungen Stellung nehmen solle. ligkeit nicht »harte Sanktionen« bedeute, sondern, dass Doch könne, so Desgranges, der Pressekodex kein Selbstkontrolle die Kontrolle untereinander einschließe. »Schutzmittel« sein, da es immer auch um die »Einstel- Auch an dieser Stelle wurde wieder die Schweiz als posi- lung des Berufs des Einzelnen« gehe, die der Kodex al- tives Beispiel herangezogen. Der dortige Presserat habe, lenfalls mitprägen kann. Dazu muss er allerdings relevant nach Pöttker, eine gute Wahrnehmung in der Öf- und glaubwürdig für die Einzelnen sein. Der Presseko- fentlichkeit sowie in anderen Medien. Er sei eine wahre dex könne derzeit, so der stellvertretende Vorsitzende Alternative zum »rechtsförmigen Verständnis« und das der SPD-Medienkommission Klaus Uwe Benneter, Prinzip Öff entlichkeit sei dort wirksam. Die durch- doch »nur Heiterkeit auslösen,« er sei nicht mehr als ein schnittliche Behandlungsdauer von Beschwerden (einer »frommer Wunsch,« da er keine Disziplin schaff e. Dem Hauptaufgabe von Presseräten) betrage dort, nach Stu- entgegnete Desgranges, dass der Presserat alleine den der, sechs Monate. Daher werde heute alles per E-Mail Journalismus auch gar nicht richten könne. Unterstützt erledigt, was eine zeitgerechte Bearbeitung erleichtere. wurde sie in dieser Aussage von Dr. Klaus Huber vom Wie es mit der Reformfähigkeit des Presserats aussieht, Tagesspiegel. Die berufsethischen Maßstäbe und der Be- wurde abschließend behandelt: Eine breite Diskussion rufsethos seien letztlich entscheidend, man dürfe den sei »bald und zwingend nötig,« gab Desgranges zu, der Presserat aber »nicht überfrachten.« Presserat sollte mehr Tempo und mehr Online machen, Entscheidend wird also auch die professionelle Ausbil- die Öff nung des Presserats für Kommunikationswissen- dung angehender Journalisten. Die Implementierung des schaftler werde allerdings dauern. Huber betonte ab- Handwerkszeug Journalismus müsse, so Desgranges, schließend, der Presserat solle Formen fi nden, bei denen »ganz großes Th ema« werden. Dies gerade auch ange- »das Publikum dabei ist.« Trotzdem solle man das Inte- sichts gegenwärtiger Entwicklungen hin zum Online- resse der Öff entlichkeit an der Tätigkeit des Presserats Journalismus. Der Abstand zwischen klassischem und und der Berichterstattung nicht überschätzen. Geringes Online-Journalismus sei mindestens so weit »wie zwi- Interesse und fehlende Aufl agensteigerung seien ein schen Erde und Mond,« so Huber. Folglich sei selbst der Problem, das Misstrauen der Branche ein anderes: »Was neue Pressekodex schon »schrecklich veraltet.« Denn der wir über andere schreiben, kriegen wir mit voller Wucht 24-Stunden-Journalismus nach dem Motto »und schon zurück.« stehts im Netz« sorge für die »Aufl ösung der Sorgfalt« Insgesamt gab es also vorwiegend kritische Gratulanten. und einer »Veränderung des Berufsbildes.« Doch sollte trotz der (insgesamt sehr konstruktiven) Kri- Aber wie schlimm steht es mit der deutschen Presse tik nicht übersehen werden, dass nicht nur die Öff entlich- überhaupt? Ständige Verstöße gegen das Strafrecht, so keit sondern vor allem die Medien selbst ein Interesse an Pöttker, gebe es auch in der Gesellschaft. Wo sei denn einem renommierten und respektieren Presserat haben, der »schöne Journalismus« gewesen, der »Gipfel, von dem der einerseits ihre Freiheit verteidigt und andererseits wir heute abrutschen?« Es geht nicht nur um falsche Er- aber auch mehr Berufsethik abverlangt. Und der Presse- wartungen an Journalismus und Presserat, sondern viel- rat hat in beider Hinsicht in 50 Jahren viel geleistet. Wie mehr um eine Grundbedingung funktionierender Öf- schwer es ist, die notwendige Öff entlichkeit herzustellen, fentlichkeit: Transparenz. Der Kodex solle primär auch bewies die Veranstaltung selbst. Denn das vom Verein ge- für ein »Optimum an Transparenz« sorgen. Das Problem forderte Prinzip der »Öff entlichkeitsherstellung« für den beim Interview beispielsweise sei wachsende »Ängst- Presserat und die Medienselbstkontrolle konnte nicht lichkeit« unter Journalisten, so Huber, die Neigung, zu eingelöst werden – mangels Öff entlichkeit. Der kleine streichen oder die Tendenz zu von Politikerseite gefor- Kreis von Publikum und berichtenden Journalisten ver- derten Interviewverträgen. Genau daraus erwachse, nach hinderte wohl eine größere Wirkung der Diskussion, die S tuder, die Gefahr der »Frisierung des Interviews,« die allerdings hoch relevant und notwendig öff entlich zu 148 | in Bezug auf das Transparenzgebot, eine »grobe Unlau- führen ist. Vielleicht beim nächsten G eburtstag. IKÖ - Mitglied werden Das Institut für Informations- und Kommunikationsökologie e. V. ist offen für alle.

Drei Gründe für eine Mitgliedschaft:

Kostenloser Bezug der Zeitschrift für Kommunikationsökologie und Medienethik Einladungen zu Tagungen und Veranstaltungen des IKÖ Möglichkeit zur inhaltlichen Mitarbeit im Netzwerk ›Kommunikationsökologie‹

Sie wollen mehr wissen, dann fordern Sie unsere Satzung an oder informieren sich unter www.ikoe.de Kontakt: PD Dr. Christian Schicha – IKÖ-Büro | Am Botanischen Garten 8 | 47058 Duisburg | 02 03 - 33 21 53 | [email protected]

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Christian Schicha

Whistleblower – Alarm schlagen im öffentlichen Interesse

»Whistleblower und Journalisten« war das Th ema einer Die juristische und soziale Situation von Menschen, die Tagung der Initiative Nachrichtenaufklärung in Koope- auf Probleme, Missstände oder drohende Gefahren in- ration mit dem Whistleblower-Netzwerk e.V. beim Insti- nerhalb einer Organisation aufmerksam machen, muss tut für Kommunikationswissenschaften an der Universi- deshalb verbessert werden. Vorbildlich sind das Whistle- tät Bonn am 7. Juni 2007 blower-Schutzrecht in den USA sowie der Public Interest Die Jury der Initiative Nachrichtenaufklärung (www. Disclosure Act in Großbritannien. So sollte etwa ein Ar- nachrichtenaufklaerung.de) hat auf ihrer Sitzung 2007 beitnehmer über verlässliche und gesicherte Artikulati- Whistleblowing und den fehlenden Schutz von Whist- ons-, Kommunikations- und Leistungsverweigerungs- leblowern als eines der zehn am meisten vernachlässi- rechte verfügen. Bereits die Weimarer Reichsverfassung gten Th emen und Nachrichten für das Jahr 2006 gewählt. von 1919 bestimmte in Artikel 118: »An diesem Recht Dies wurde wie folgt begründet: [,(…) seine Meinung (…) frei zu äußern’] darf ihn kein »Whistleblower decken in ihrem Wirkungskreis gravie- Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis hindern, und rendes Fehlverhalten und schwerwiegende Missstände niemand darf ihn benachteiligen, wenn er vor diesem auf. In der Regel schlagen sie zunächst im persönlichen Recht Gebrauch macht.« Eine ähnliche Formulierung und berufl ichen Wirkungskreis Alarm. Bleibt dies ohne sieht das Grundgesetz allerdings nicht vor. Auch die Resonanz oder wird dies gar unterdrückt, wenden sie grundgesetzliche Garantie des Petitionsrechts könnte sich an Außenstehende oder an die Öff entlichkeit – etwa eff ektiver ausgestaltet werden, damit sich Beschäftigte an Aufsichtsbehörden, Ombudsleute, Abgeordnete, Be- an kompetente staatliche Stellen wenden können bzw. es rufsverbände, Journalisten und Massenmedien. Whistle- sollte ihnen dafür ein ausdrückliches Recht zugestanden blower streben damit keine wirtschaftlichen Vorteile für werden. Trägt jemand dazu bei, Verstöße gegen interna- sich oder Nahestehende an. Im Gegenteil: Sie nehmen tionale Abkommen aufzudecken, sollte er Anspruch auf in Kauf, dass ihr Alarmschlagen mit erheblichen Risiken rechtlichen Schutz haben. Dies sollte sich auch auf Ver- oder Nachteilen für ihre berufl iche Karriere oder persön- dachtsäußerungen erstrecken. liche Existenz verbunden ist.« Ähnlich wie staatliche Rechtsvorschriften ist aber auch Obgleich sich Whistleblower Fragen des Umwelt-, Ge- die Entwicklung einer zivilgesellschaftlichen Kultur des sundheits- und Verbraucherschutzes sowie der S icherheit Whistleblowing wichtig. Während Whistleblower in den von Produktionsanlagen widmen und obwohl sie Kor- USA, Großbritannien und in der Schweiz einen guten ruption und Verschwendung in Bürokratien aufdecken, Ruf genießen, werden sie in Deutschland noch immer bewegen sie sich in Deutschland noch immer in einer als Denunzianten oder Netzbeschmutzer verunglimpft. rechtlichen Grauzone. Explizite Regelungen zum Schutz Unternehmen können sich durch ein internes Whistle- von Whistleblowing gegenüber der Öff entlichkeit feh- blowing-System Wettbewerbsvorteile verschaff en, weil len in Deutschland nahezu vollständig. Weil Gerichte sie schneller auf Missstände reagieren können. Der deshalb auf allgemeine Regelungen und Grundsätze ab- Fleischskandal oder Umwelttragödien wie die Rheinver- stellen müssen, ergibt sich für die Betroff enen eine große schmutzung durch Sandoz hätten vielleicht verhindert Rechtsunsicherheit. werden können, wenn Whistleblower rechtlich abgesi- Arbeitsverträge verpfl ichten etwa Arbeitnehmer alle chert wären. Überdies sind auch Journalisten auf coura- Anweisungen des Arbeitgebers zu befolgen und Betriebs- gierte Menschen angewiesen. und Geschäftsgeheimnisse zu wahren. Einem Arbeitge- Eine rechtliche Anerkennung von Whistleblowern ber ist es außerdem nicht zuzumuten, mit einem Mitar- könnte auch dazu führen, dass Korruptionsfälle in Un- beiter weiter zusammenzuarbeiten, der sich illoyal verhält ternehmen schneller aufgedeckt oder gar verhindert wer- und der durch sein Verhalten den ›Betriebsfrieden‹ ge- den können. Doch die Führungseliten in Deutschland fährdet. Für Beamte ist die Flucht in die Öff entlichkeit scheinen Korruption, anders als die Bevölkerung, bislang oder die Erstattung einer Strafanzeige ein Dienstverge- kaum als Problem zu erkennen. So liegt Deutschland auf hen. Selbst wenn ein Beamter intern seine abweichende dem »Corruption Perceptions Index« 2006 von Trans- Rechtsauff assung mehrfach vorgetragen hat, verbietet parency International im Vorderfeld, auf Platz 16 von 163 sich die Unterrichtung der Presse. Der Schritt an die Ländern. Er basiert auf Umfragen unter Landesexper- Öff entlichkeit ist für viele Whistleblower deshalb mit ten und Führungsleuten aus der Wirtschaft. Auf dem 150 | hohem persönlichem Risiko verbunden. Ende 2006 veröff entlichten »Gallup Korruptionsindex« h ingegen liegt Deutschland weit abgeschlagen im Mit- diff amiert, ist bisweilen Mobbing-Angriff en aus dem telfeld – auf Platz 48 von 101 befragten Ländern. Mas- Kollegenkreis ausgesetzt und muss sich eventuell auch senmedien berichten nicht darüber, dass Whistleblower strafrechtlich verantworten. Häufi g verliert er seinen Job. in Deutschland rechtlich nicht geschützt sind. Die weni- Es hat sogar schon Fälle gegeben, wo ein Whistleblower gen Berichte begrenzen sich auf relativ unbekannte In- im Gefängnis gelandet ist oder in die Psychiatrie einge- ternetseiten und ältere Zeitungsartikel. Ein jüngerer Zei- wiesen worden ist. Zudem muss er sich auch gegen Scha- tungsartikel in der Süddeutschen Zeitung thematisierte densersatzforderungen wehren, die vom Arbeitgeber aus- den unzureichenden Schutz in einem Bericht über eine gehen. Er muss also erheblichen Mut beweisen, um den Korruptionsaff äre bei Siemens Business Services (SBS) in öff entlichen Diskurs voranzutreiben, indem Missstände Norwegen. Dem Mitarbeiter, der auf den Korruptions- angeprangert werden. Einige Fälle sind bereits bekannt fall aufmerksam machte, wurde gekündigt. geworden. Statt über die Problemlage aufzuklären neigen Massen- Die Tierärztin Margrit Herbst machte auf die medien dazu Whistleblower-Fälle als Human-Interest- Gefahren von BSE aufmerksam und wurde von Ihrem Geschichten darzustellen. Grund: Es fehlt der Nach- A rbeitgeber entlassen, als sie darüber berichtete. richtenfaktor Aktualität, da die Vorgänge aufgrund einer Der Zeitsoldat Joseph Darby machte Fotos von Fol- fehlgeschlagenen internen Aufklärung meist zwei bis terungen in Abu Ghraib öff entlich und lebt heute mit drei Jahre alt sind. Zudem ist die Berichterstattung mit einer neuen Identität in den USA. einem rechtlichen Risiko verbunden, da die Angelegen- Weitere Whistleblower haben Korruption in der heit meist noch nicht abschließend geklärt ist.« Pharmabranche publik gemacht, über Gammelfl eisch berichtet und auf mögliche Gesundheitsschäden durch elektromagnetische Strahlung hingewiesen, die durch Zur Arbeit von Whistleblowern die Handynutzung entstehen können. Leider gibt es in Deutschland im Gegensatz zu den Whisteblower im Verständnis von Alarmschlagenden oder USA und Großbritannien keinen gesetzlichen Schutz Skandalaufdeckern sind in der Regel langjährige Mitar- für Whistleblower. Insofern ist eine breite öff entliche beiter in Betrieben, Dienststellen und Organisationen, Debatte über das Th ema erforderlich, um den Schutz die im Rahmen Ihrer Tätigkeit brisante Missstände für dieser wichtigen Aufklärer voranzutreiben. Mensch und Umwelt aufdecken und öff entlich machen. Dabei kann es sich um Korruption, Gesundheits- und Umweltrisiken, Rechtsbrüche oder einen Verstoß ge- Zum Tagungsverlauf gen internationale Abkommen handeln, die dazu führen, dass dies publik gemacht wird. Es geschieht zunächst In der Veranstaltung an der Universität Bonn standen intern. So kann ein Mitarbeiter seinen Vorgesetzten z. B. folgende ethischen, juristischen und technischen Fragen auf Umweltrisiken hinweisen, die aufgrund von spezi- im Mittelpunkt: fi schen Produktionsverfahren entstehen. Sofern sich an Wie sollten Journalisten mit Whistleblowern umge- der problematischen Situation nichts ändert, wendet sich hen – und wie tun sie dies in der berufl ichen Praxis? der Beschäftigte auch an die Öff entlichkeit. Dies kön- Welchen Rechtsschutz genießen Whistleblower und nen sowohl Aufsichtsbehörden als auch Politiker, Ge- Informanten? werkschaftler oder Journalisten sein. Der Whistleblower Was können Whistleblower tun, ist also Insider, der die Öff entlichkeit über Missstände um anonym zu bleiben? in seiner Organisationen erst dann informiert, wenn die interne Kommunikation fehlgeschlagen ist. Er beweist Diese Fragen wurden im Rahmen mehrere Vorträge, Zivilcourage und handelt nicht aus egoistischen Motiven, Diskussionsrunden und Workshops diskutiert. sondern aus gut begründeten Gewissensgründen, um die Der 1. Vorsitzende des Whistleblower-Netzwerk e.V. Öff entlichkeit vor negativen Konsequenzen unterneh- Guido Strack vertrat in seiner Stellungnahme »Wer ist merischen Handelns zu bewahren. Seine Tätigkeit kann Whistleblower?« die Th ese, dass Whistleblower »heim- erhebliche Konsequenzen für ihn bedeuten. Er ist hohen liche Helden« seien, da sie Gefahren und Risiken nicht persönlichen Risiken ausgesetzt, wird als Denunziant schweigend hinnehmen, sondern aufdecken. Er betonte | 151 Inhalt Editorial Schwerpunkt PerspektivenTagungen Rezensionen Impressum

den Nutzen ihrer Arbeit, da sie die freie Meinungsäu- ihre Arbeit als Form der Risikokommunikation u. a. über ßerung vorantreiben, alternative Organisationskanäle für Umweltsünden und gefährliche Produkte. Sie seien al- die betroff enen Unternehmen initiieren und schließlich lerdings für die Risikobehandlung und nicht wie die eine Kritik- und Kontrollfunktion vorantreiben. Journalisten für die Zeitungsmeldung angetreten. Das Prof. Dr. Horst Pöttker vom Institut für Journa- Management der betroff enen Unternehmen müsse ver- listik an der Universität Dortmund und Geschäftsführer stehen, dass das Aufdecken von Missständen auch dem der Initiative Nachrichtenaufklärung betonte in seinem eigenen Betrieb diene und müsse die entsprechenden In- Beitrag »Whistleblower und Journalisten – zur Spruch- formationen der Mitarbeiter auch achten und konstruk- praxis des Deutschen Presserates«, dass es erheblichen tiv umsetzen. Der Anwalt schilderte die Gefahr, dass persönlichen Mut erfordere, als Whistleblower zu agie- Whistleblower durch ihre Tätigkeit zunächst ihre eige- ren. Er beschäftigte sich in seinen Ausführungen mit nen Reputation gefährden können. Insofern sei es auch der Spruchpraxis des Deutschen Presserat, der in seiner Aufgabe der Journalisten, die Arbeit der Whistleblower Spruchpraxis in 21 Jahren nur insgesamt 17 Beschwerden zu schützen. zum Zeugnisverweigerungsrecht bearbeitete. Er kam Im weiteren Verlauf der Tagung wurden neben Praxis- zu dem Ergebnis, dass der Informantenschutz eine nur berichten auch rechtliche, technische und taktischen geringe Rolle in der Spruchpraxis des Presserates spiele, Schutzmöglichkeiten für Whistleblower diskutiert. Er- da in jüngeren Entscheidungen die Aufdeckung ver- örtert wurden Leitlinien für Journalisten im Umgang traulicher Quellen gefordert werde. Pöttker wirft dem mit Whistleblowern und Leitlinien für Whistleblower Medienselbstkontrollorgan vor, den Informantenschutz im Umgang mit Journalisten. Vertrauensbildung der lediglich auf einer politisch proklamatorischen Ebenen betroff enen Parteien und Aufklärung über die journali- allgemein zu vertreten, ihn im Einzelfall jedoch zu ver- stischen Rechte und Pfl ichten wurden hier als zentra- nachlässigen. Zudem forderte er eine stärkere Transpa- le Maßnahmen skizziert, um Fortschritte zu erreichen. renz und öff entliche Kontrolle bei den Beschwerdever- Die Journalisten sind gefordert, die Informationen der fahren des Presserates, dem auch Laien und Experten Whistleblower durch konkrete Nachforschungen aus- beiwohnen sollten. Die Spruchpraxis solle schließlich zubauen, ohne den Informantenschutz zu gefährden. dazu führen, den Informantenschutz zur Pfl icht zu er- Zusätzlich müsse ein öff entliches Bewusstsein dafür klären, um die wichtige Arbeit der Whistleblower zu geschaff en werden, dass Whistleblower im allgemeinen erleichtern. wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interesse agieren. Dr. Wim Vandekerckhove vom Center for Ethic and Es ist zu wünschen, dass die mutige und wichtige Ar- Value Inquiry der Universität Gent aus Belgien lieferte beit der Whistleblower eine breitete Resonanz und stär- zunächst einen Überblick über den Stand der interna- kere öff entliche Akzeptanz erhält. tionalen Gesetzgebung zum Th ema. Er verwies unter der Überschrift »Th e failure of Whistleblowing Legislati- on: Telling the World« darauf hin, dass Whistleblower Weitere Infos zum Th ema und Unterstützung für Betrof- keine Störenfriede seien, sondern eine falsche betrieb- fene fi nden sich im Internet unter www.whisteblower- liche Praxis stoppen wollen. Dabei bewegen sie sich im netzwerk.de beim gemeinnützigen Whistleblower-Netz- Spannungsfeld zwischen Unternehmensloyalität und werk e.V., das im September 2006 gegründet worden ist. der gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber der Öf- Das Netzwerk fordert eff ektive Regelungen in Wirtschaft, fentlichkeit. Auch aus der Perspektive der Unternehmen Staat und Gesellschaft, um Whistleblower zu schützen. sollte ihre Arbeit akzeptiert werden, um Missstände ab- Schirmherr der Initiative ist der renommierte Computer- zustellen. Wenn dies fi rmenintern über interne Kanäle und Medienkritiker Prof. Dr. Joseph Weizenbaum. nicht bewerkstelligt werden kann, könnten auch Nicht- Regierungs-Organisationen, Gewerkschaften oder Jour- nalisten eingeschaltet werden, um die Öff entlichkeit zu informieren. Schließlich habe die Gesellschaft das Recht, etwas über Fehlentwicklungen zu erfahren. Es solle dafür gesorgt werden, dass die Arbeit der Aufklärer konstruk- tiv aufgenommen und nicht blockiert werde Auch der Rechtsanwalt und Mediator Björn Rohde- Liebenau (RCC Risk Communication Concepts) aus Hamburg machte in seinem Beitrag »Whistleblower und das Recht – Genügt der Informantenschutz?« deut- lich, dass Whistleblower keine Mäkler oder Miesmacher 152 | seien, sondern dem Allgemeinwohl dienen. Er defi niert Buchtipps : Neuerscheinungen

Alexander Filipoci´c Christian Schicha

Öffentliche Kommunikation in der Legitimes Theater? Inszenierte Politikver- Wissens gesellschaft : Sozialethische mittlung für die Medienöffentlichkeit am Analysen. wbv: Bielefeld 2007 Beispiel der »Zuwanderungs debatte«. Lit: Münster 2007

Heute vermitteln die Medien das Wissen zwischen der Politikvermittlung in der Mediendemokratie arbei- Gesellschaft und den Individuen. So sprechen Soziolo- tet mit Inszenierungsstrategien, um Aufmerksamkeit gen von einer Wissensgesellschaft. Die individuellen Mög- zu er reichen. Am Beispiel der Debatte um den ›Eklat‹ lichkeiten, sich dieses Wissen anzueignen, sind maßgeb- im Bundesrat zum Zuwanderungsgesetz erfolgt eine lich für die Lebenschancen: Sie entscheiden über den qualitative Analyse ausgewählter Fernsehformate und Bildungsstand, die Möglichkeiten im Erwerbsleben und Printbeiträge. Hierbei werden theatralische und unter- das Einkommen, über die Gestaltungsmöglichkeiten und haltsame Präsentationsformen ebenso analysiert wie die Teilnahme im gesellschaftlichen und politischen Le- informative Aussagen und argumentative Begründungs- ben. Der Autor analysiert und bewertet gesellschaftliche verfahren. Zentral ist dabei, in welcher Form das Th ema Trends, Bildung und die Medien aus der Perspektive der Zuwanderung behandelt wurde und inwiefern die rele- Beteiligungsgerechtigkeit, wie die christliche Soziale- vanten politischen Prozesse angemessen widergespiegelt thik sie vertritt. Daraus leitet er eine Medienethik ab, die und eingeordnet worden sind. Die Untersuchung soll eine gerechte Vermittlung und Aneignung von Wissen Bezugspunkte aufzeigen, um Entwicklungslinien einer f ordert. politischen Öff entlichkeit unter Medienbedingungen erfassen und bewerten zu können.

Christian Schicha Legitimes Theater? Inszenierte Politikvermittlung für die Medienöffentlichkeit am Beispiel der „Zuwanderungsdebatte“

Studien zur politischen Kommunikation, Bd. 1

LIT

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Prozess und System, das auch computergestützte Instal- lationen und inszenierte Performances umfasst. Neben historischen Ausführungen zur Kunstentwicklung seit den 1910er Jahren richtet sich das Hauptaugenmerk pri- mär auf aktuellere Ausstellungen von Kunst für das In- ternet die u. a. 1997 auf der Dokumenta X in Kassel zu se- hen waren und gesellschaftliche und kulturelle A spekte von Technologien refl ektierten. Mit Unterstützung von insgesamt 65 graphischen Dar- stellungen wird das breite Spektrum der digitalen Me- dienkunst dargestellt, in dem mediale Transformationen erfolgen. Dabei wird immer wieder auf Erscheinungs- formen tradierter Medien zurückgegriff en, um die »Auf- weichung medialer Grenzen« (S. 55) zu dokumentieren. So wird zunächst an der Schnittstelle von Mensch und Technik die Wahrnehmungsfähigkeit des Rezipienten problematisiert. Der Blick auf eine Operationsperfor- Rezension: Petra Missomelius: mance der Künstlerin Orlan etwa refl ektiert das Ver- Digitale Medienkultur. Wahrnehmung, hältnis zwischen der Technik und dem Körper durch technische Eingriff e. Computersimulationen bieten die Konfi guration, Transformation. Transcript- Möglichkeit Bauprojekte digital zu modellieren und Verlag Bielefeld 2006, 25,80 Euro durch Schatten und 3D-Eff ekte eine realistische Per- spektive zu ermöglichen. Die Desktop-Gestaltung bietet einen Illusionsraum mit Naturbezug durch die Reprä- Von Christian Schicha sentaion von Bäumen und Wolken und stellt zugleich ein Die Marburger Medienwissenschaftlerin Petra virtuelles Navigationsfeld dar. Dennoch stellt das Inter- M issomelius widmet sich in Ihrer Dissertationsschrift net, »kein rein bilddominiertes Medium« (S. 90) dar, da dem unübersichtlichen Feld der Digitalen Medienkultur, Textverwendung nach wie vor die Suche und Steuerung das sowohl Computer, CD-ROM, DVD, Internet und im Netz prägt, zumal Bilder erklärt werden müssen, um die aktuelle Generation portabler Medien umfasst, die den Kontext angemessen erfassen zu können. wie das Handy als Mehrzweckgeräte fungieren. Der Umgang mit Medien erfordert insgesamt »weit- Mit Verweis auf Lev Manovich zeichnet sie die fünf reichende Fähigkeiten im Bereich der Wahrnehmung, Prinzipien digitaler Medien nach, die auf numerischer Re- der Sensibilität sowie der Urteils- und Entscheidungs- präsentation, Modularität, Automation, Variabilität, und fähigkeit« (S. 100). Die entsprechenden Arbeitsfelder Transcodierung basieren. Zentral widmet sich die Autorin benötigen zwar kaum noch Muskelkraft, aber n eben 154 | dem Feld der Medienkunst im Wechselspiel z wischen sensorischen Kapazitäten auch Kompetenzen der »W achsamkeit und Entscheidungsfähigkeit« (ebd.), um Insgesamt wird das faszinierendes Potenzial der Neuen die Navigation in der Datenfl ut bewältigen zu können. Medien eindrucksvoll aufgezeigt, da es gelingen kann, Missomelius beschäftigt sich mit Veränderung der durch die Anwendung modernen Techniken raumzeit- TV-Wahrnehmung durch Phänomene des Switchens. liche Distanzen zu überbrücken. Hinsichtlich der ge- »Der Wechsel avanciert zum Grundmoment der Dar- wünschten gesellschaftlichen Konsequenzen durch die stellung.« (S. 117) Der Zuschauer entzieht sich dem ei- digitalen Medienkultur bleibt die Autorin skeptisch. gentlichen Sinn des Medienproduktes, indem er die Versprechen »gesteigerter individueller Entfaltungsmög- Zeiträume seiner Aufmerksamkeit selbst festlegt. Erst lichkeiten und erhöhter Selbstbestimmung« (S. 201) für der Videorecorder macht es möglich, die Sendungen die Subjekte scheinen eher im Reich der Wünsche ange- zu speichern, um der Flüchtigkeit der bewegten Bilder siedelt zu sein. selektiv begegnen zu können. Die Videokunst hat diese Hinsichtlich der Rückwirkungen auf Film und Fern- Möglichkeiten kreativ umgesetzt. Überblendungstech- sehen konstatiert die Autorin, dass sich Handlungsver- niken machen es möglich, historische und aktuelle Stra- läufe in Spielfi lmen wie Herr der Ringe oder Star Wars ßenansichten auf einem Bild zu vereinigen. zunehmend an der Logik von Computerspielen orien- Es entstehen neue Formen von Datenbank-Erzäh- tieren, die im Übrigen auch als solche angeboten werden. lungen, die Manovich zufolge als »kulturelle Form des Im Fernsehen hingegen sind digitale Erzähloptionen, digitalen Zeitalters« (S. 158) zum Ausdruck kommen. etwa durch die Schaff ung digitaler Räume, bislang kaum Der Nutzer benötigt die Kompetenz, die Fragmente der genutzt worden. Datensätze in kausale Beziehungselemente zu bringen, Die vorliegende Studie hat es sich insgesamt zur Auf- um Kohärenz zu erzielen. Der Erfolg derartiger Bemü- gabe gemacht, digitale Artefakten im Kontext einer hungen hängt dabei von des »medialen Dechiff rierungs- medienwissenschaftlichen Analyse zu untersuchen. Die kompetenzen« (S. 165) des Empfängers ab. Insofern ist Autorin leistet dies unter Rekurs auf zentrale kommuni- die Medienkompetenz des aktiven Rezipienten gerade kationstheoretische Th eorien und liefert einen fundierten im Bereich der Neuen Medien von zentraler Bedeutung. Überblick über unterschiedlichen Formen und Ausprä- Petra Missomelius zeigt zahlreiche Möglichkeiten gungen der Digitalen Medienkultur. Hierbei zeigt sie einer Ausdiff erenzierung der Medienkultur durch digi- zahlreiche theoretische Anknüpfungspunkte von der tale Formen auf. Sie dokumentiert das breite Spektrum Kybernetik über Informationsästhetik bis hin zur Sys- künstlerischer Formen, innovativer Erzählweisen und temtheorie kenntnisreich auf. neuer Herausforderungen für den Betrachter. Multime- Das Buch ist verständlich und anschaulich geschrieben diale Erzählelemente erfordern erneut Kompetenzen der und eignet sich daher auch für interessierte ›Einsteiger‹, Entschlüsselung: »Dualismen wie Körper und Identität, die sich mit dem breiten Spektrum der Neuen Medien Sinne und Verstand, Nähe und Distanz, Inhalt und Form, beschäftigen möchten. Medienwirklichkeit und Alltagsrealität, Privatheit und Öff entlichkeit, Autor und Leser scheinen in A ufl ösung begriff en und verlieren Ihre konstituierende oppositio- nelle Qualität.« (S. 190) | 155 Inhalt Editorial Schwerpunkt Perspektiven Tagungen Rezensionen Impressum

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