PD Dr. Stephan Bröchler Hessen wählt! Ministerpräsidentendemokratie, politische Kipppunkte und neue Koalitionsmärkte Eine Hintergrundanalyse

10. September 2013

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Hessen wählt! Ministerpräsidentendemokratie, politische Kipppunkte und neue Koalitionsmärkte

Eine Hintergrundanalyse

Von PD. Dr. Stephan Bröchler 1

In den Medien nimmt die Wahl zum Deutschen Bundestag am 22. September 2013 breiten Raum ein. Im Windschatten erfolgt die Neuwahl des hessischen Landtags in Wiesbaden, die am gleichen Tag stattfindet. Von der Wahl des Landesparlamentes gehen bedeutsame Weichenstellungen sowohl für die Landes- als auch für die Bundespolitik aus. In Hessen wird es spannend, denn die Mehrheiten sind knapp und es ist offen, ob SPD und Grüne einen Machtwechsel herbeiführen können oder CDU und FDP den Machterhalt sichern können. Dabei ist es offen, wie viele Parteien im Landtag vertreten sein werden und welche. Unsicher ist der Wiedereinzug der FDP und der Partei Die Linke. Möglich ist, dass die AfD (Alternative für Deutschland) und/oder die Piraten den Sprung über die 5% Klausel schaffen. Die Landtagswahl wird auch zeigen, ob die CDU im Bundesrat weiter marginalisiert wird, sie stellt nur noch fünf von 16 Länderchefs. Der folgende Beitrag vermittelt aus politikwissenschaftlicher Sicht wichtiges Hintergrundwissen zu den Besonderheiten des Regierungs- und Parteiensystems zur Hessenwahl. Aktuelle demoskopische Prognosen vermitteln kurzlebige Trends über die Entwicklung der parteipolitischen Machtverhältnisse. Demgegenüber untersucht der Beitrag längerfristige Veränderungen, in denen das Parteiensystem einen deutlichen Wandel erfahren hat.2

Der hessische Ministerpräsident: Entscheider, Machtmakler und Moderator

Die Wahlplakate mit den Portraits des amtierenden Ministerpräsidenten (CDU) und seines Herausforderers Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD) vermitteln eine klare Botschaft: Auf den Ministerpräsidenten kommt es an! Der Ministerpräsident erscheint als „Gesicht“ des Bundeslandes und politischer „Macher“, der entscheidet, welche Politik im Land in den kommenden vier Jahren verfolgt wird. Im Folgenden werden die Handlungsspielräume des hessischen Ministerpräsidenten dargelegt.

Das Bundesland Hessen lässt sich aus politikwissenschaftlicher Sicht als Ministerpräsidentendemokratie einordnen. Der Begriff bringt die herausgehobene Rolle des Ministerpräsidenten für das gesamte Regierungsgeschehen des Landes und zugleich seine

1 PD Dr. Stephan Bröchler ist Senior Researcher an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen und Privatdozent für Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Fernuniversität in Hagen. Arbeitsschwerpunkte sind das politische System Deutschlands und Vergleichende Regierungslehre: Regierungsforschung, informelles Regieren, Parlamentarismus, Politikberatung und Medien. Kontakt: [email protected] 2 Zur besseren Lesbarkeit wurde auf Literaturhinweise und Fußnoten verzichtet. Ausgewählte weiterführende Literatur findet sich am Ende. 2

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Einbindung in die moderne parlamentarische Parteiendemokratie zum Ausdruck. Der Ministerpräsident wird nicht in direkter Wahl von den Hessen gewählt, sondern in einer eigenständigen Wahl, durch die Mehrheit der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten des Hessischen Landtags bestimmt. Die Macht des Ministerpräsidenten speist sich besonders aus drei Quellen: Der Amtsinhaber ist zugleich Staatsoberhaupt des Föderalstaats, Regierungschef und in aller Regel auch Vorsitzender seiner Partei in Hessen. Damit kommen ihm umfangreiche und bedeutsame formale und informale Handlungsressourcen für die politische Willensbildung, Entscheidungsfindung und -umsetzung zu.

Die Rolle des Staatsoberhauptes verschafft dem Amt des Ministerpräsidenten hohes öffentliches Prestige. In seiner Funktion als Regierungschef kommt ihm eine maßgebliche Rolle zu: die Grundsätze und Ziele der Politik der Landesregierung zu gestalten. Die „Richtliniengewalt“ (Artikel 102 HessVerf.) ist jedoch kein hierarchisches Steuerungsinstrument. Denn die Minister seines Kabinetts sind nicht bloße Befehlsempfänger des Regierungschefs, sondern verantworten, im Rahmen des Ressortprinzips, ihren Zuständigkeitsbereich eigenständig (Artikel 102 HessVerf.). Alleinentscheider der Regierung ist der Landeschef auch aufgrund des Kollegialprinzips nicht. Es besagt, dass Ministerpräsident und Kabinett eine Handlungseinheit bilden, die auf gemeinsam gefällten Entscheidungen als Landesregierung beruhen. Nur bei Stimmengleichheit gibt seine Stimme den Ausschlag.

Im Blick auf die formal-rechtlichen Handlungsspielräume des hessischen Ministerpräsidenten zeigen sich interessante Besonderheiten des Regierungssystems. Denn die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs wird durch Mitbestimmungsrechte des Hessischen Landtags und der Landesregierung eingeschränkt. 1) Zunächst wird der Ministerpräsident durch den hessischen Landtag gewählt (Artikel 101, Absatz 1 HessVerf.). Daraufhin ernennt er die Minister (Artikel 102, Absatz 2 HessVer.), die jedoch noch nicht regieren dürfen. Erst wenn der Landtag der Landesregierung in einer erneuten Abstimmung das Vertrauen ausgesprochen hat, darf sie die Arbeit aufnehmen (Artikel 101, Absatz 4 HessVerf.). Das stärkt de facto die Mehrheitsfraktion(en) im Parlament gegenüber der Regierung. 2) Der Ministerpräsident kann einen Minister nicht eigenständig abberufen. Auch darüber muss der Landtag beschließen (Artikel 112 HessVerf.). Hat der Regierungschef daraufhin einen neuen Minister ernannt, so muss er wiederum einen Beschluss des Parlaments herbeiführen, der nicht nur dem Nachfolger des Ressortchefs, sondern der gesamten Landesregierung das Vertrauen ausspricht. 3) Eine bedeutsame Einhegung erfährt auch das Organisationsrecht des Ministerpräsidenten. Nicht der Ministerpräsident, sondern die gesamte Landesregierung als Kollegialorgan entscheidet über die Zuständigkeit der Ministerien und damit über den Zuschnitt der Landesregierung (Artikel 104, Absatz 2 HessVerf.). Damit werden die Einflussrechte des Kabinetts als Willensbindungs- und Entscheidungsorgan gestärkt.

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Dritte Machtquelle – neben der Doppelfunktion von Staatoberhaupt und Regierungschef – ist die starke parteiliche Verankerung des Ministerpräsidenten. In aller Regel ist er Vorsitzender des Landesverbandes seiner Partei. Damit nimmt er maßgeblich Einfluss auf die Programmatik und das politische Führungspersonal von Partei und Regierung. Durch den Koalitionsausschuss erfährt der Ministerpräsident jedoch eine Einhegung seiner Handlungsspielräume. Es handelt sich um ein informales Gremium, das sich im Verfassungstext nicht findet und dem dennoch – neben der Landesregierung – eine wichtige Bedeutung für die Regierungsarbeit zukommt. Der Ausschuss setzt sich in der Regel aus dem Ministerpräsidenten, Kabinettsmitgliedern sowie Spitzenvertretern von Partei und Mehrheitsfraktionen zusammen. Der Koalitionsausschuss definiert maßgeblich die Handlungsspielräume des Ministerpräsidenten. So erarbeitet das Gremium den Koalitionsvertrag die Geschäftsgrundlage der Regierungsarbeit und übernimmt während der Regierungszeit wichtige Steuerungs- und Koordinationsaufgaben, z.B. bei Differenzen innerhalb des Regierungslagers.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der hessische Ministerpräsident besonders aufgrund der Kopplung der Ämter von Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitz strukturell ein machtvoller Landeschef ist. Gleichzeitig muss er im Zusammenspiel von Richtlinienkompetenz, Kabinett, Fraktion und Partei seine Handlungsspielräume stets auf Neue aushandeln.

Kipppunkte: Entwicklungslinien und Veränderungen des hessischen Parteiensystems

Wer am 22. September als Erstwähler seinen Stimmzettel bei der Wahl zum Hessischen Landtag abgibt, hat im Wesentlichen christdemokratische Ministerpräsidenten erlebt. Seit 1999 stellt die CDU die Landeschefs. Der Blick auf die längerfristige Dynamik des Parteiensystems zeigt jedoch, dass vielmehr die SPD über die längste Zeit die Politik des Landes bestimmte. Seit der ersten Landtagswahl in Hessen im Jahre 1946 bis heute haben die Sozialdemokraten insgesamt fast 49 Jahre regiert. Davon stellte die SPD ununterbrochen knapp 41 Jahre in Alleinregierung oder wechselnden Koalitionen den Ministerpräsidenten. Fünf von insgesamt acht Länderchefs waren Sozialdemokraten. Auf (1946-1950) folgten (1950-1969), (1969-1976), Holger Börner (1976-1987) und (1991-1999). Demgegenüber bringt es die CDU, wenn die Legislaturperiode im Januar 2014 endet, auf 19 Jahre Regierungszeit, davon 15 Jahre ohne Unterbrechung. Bisherige christdemokratische Ministerpräsidenten waren (1987-1991), (1999-2010) und seit dem 31. August 2010 Volker Bouffier.

Um wichtige Entwicklungslinien und Veränderungen deutlich werden zu lassen, ist es interessant einen kurzen Blick auf das Hessische Parteiensystem zu werfen. Damit wird es möglich, aktuelle demoskopische Prognosen im Lichte der längerfristigen Entwicklung des Parteiensystems einzuordnen und zu bewerten. Aus politikwissenschaftlicher Sicht können vier Phasen herausgearbeitet werden, in denen das Parteiensystem einen deutlichen Wandel erfahren hat. Dieser Beitrag markiert die Veränderungen als „Kipppunkte“, zu denen sich die 4

Regierungsforschung.de parteipolitische Machtkonstellation in Hessen nicht nur für kurze Zeit, sondern mittelfristig verändert hat.

Die erste Phase lässt sich als „Ultrastabilität“ bezeichnen. Bereits mit der Landtagswahl im Jahre 1946 gelingt es der Sozialdemokratie stärkste Fraktion zu werden und daraufhin den Ministerpräsidenten in einer großen Koalition mit der CDU zu stellen. Mit dem Ergebnis der ersten Landtagswahl in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1950 begründet sich eine lange Zeit der politischen Vorherrschaft der SPD in Hessen. Die Sozialdemokraten erreichten 44,4%, die CDU 18,8% und die FDP 31,8% – ein Ergebnis, das die Freidemokraten nie wieder erzielten. Charakteristisch für diese Ultrastabilität ist, dass es der SPD unter Ministerpräsident Georg August Zinn für 19 Jahre ohne Unterbrechung gelang sich sowohl als stärkste Partei im Hessischen Landtag zu etablieren als auch den Ministerpräsidenten zu stellen. In dieser Phase des hessischen Parteiensystems lagen die Stimmenanteile von SPD und der damals stark vom christlichen Sozialismus geprägten CDU noch nicht Kopf an Kopf. Vielmehr vermochten die Sozialdemokraten, die Christdemokraten bis 1966 im zweistelligen Prozentbereich auf Distanz zu halten. 1969 kam es zum Wechsel an der Spitze der Landesregierung: Georg August Zinn trat aus gesundheitlichen Gründen zurück und Albert Osswald wurde zum Nachfolger als Ministerpräsident gewählt. Bedeutsam ist die hohe Akzeptanz des Parteiensystems, die in Wahlbeteiligungen, mit Ausnahme der Wahl 1950, im Bereich von 80% lag.

Die Ultrastabilität wurde durch die Phase der „aufholenden Polarisierung“ abgelöst. Markierender Kipppunkt war das Resultat der Landtagswahl 1974. Die CDU erreichte 47,3%, die SPD 43,2% und der FDP gelang mit 7,4% der sichere Einzug in das Parlament in Wiesbaden. Die SPD büßte unter Albert Osswald erstmals ihre Vormachtstellung ein und vermochte es nicht, mit Ausnahme der Landtagswahlen 1983 und 1991, wieder stärkste Partei im Hessischen Landtag zu werden. Bereits die vorausgegangene Landtagswahl 1970 hatte den Vorsprung der SPD auf 6,2% zusammenschmelzen lassen und einen deutlichen Stimmenzuwachs der CDU von 13,3% erbracht. Der Erfolg der CDU war ganz wesentlich auf die Strategie Alfred Dreggers zurückzuführen, der 1967 zum neuen Landesvorsitzenden gewählt wurde. Dreggers Taktik beruhte besonders auf zwei Elementen. Nach Außen verfolgte er eine Politik der scharfen Polarisierung gegenüber SPD und FDP durch eine dezidiert konservative Konfrontationstaktik, besonders in den Bereichen „Bildung“ und „innere Sicherheit“. Die strikte Abgrenzung gegenüber dem politischen Gegner erweist sich aus heutiger Sicht als stilbildend. Besonders in Wahlkampfzeiten ist das Auftreten als „Hardliner“ ein zentraler Bestandteil des konservativen Markenkerns und zugleich wichtiger Mobilisierungs- und Erfolgsfaktor der hessischen CDU. Die polarisierende Positionierung nach Außen wurde durch eine Politik der Parteireformen nach Innen flankiert, wie beispielsweise der Professionalisierung durch Schaffung hauptamtlicher Geschäftsführer in allen Kreisverbänden. Doch obwohl die CDU stärkste Partei im Landtag war und trotz Kopf an Kopf Rennen mit der SPD, gelang Alfred Dregger die Regierungsübernahme nicht. In Koalition mit der FDP regierten weiterhin sozialdemokratische Ministerpräsidenten:

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Albert Osswald und Holger Börner. Der polarisierende Parteienstreit förderte die Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler und erzielte Wahlbeteiligungen um die 85%.

Die Landtagswahlen 1982 markieren einen weiteren bedeutsamen Kipppunkt und markieren den Übergang zur Phase der „dynamisierenden Pluralisierung“ des hessischen Parteiensystems. Charakteristikum ist die hohe Dynamik, die in der Auffächerung des Parteiensystems, einer neuen Regierungskonstellation und für Hessen ungewöhnlich kurzen politischen Machtwechseln zum Ausdruck kommt. 1982 gelang den Grünen erstmals der Einzug in den hessischen Landtag. Damit betrat ein politischer Akteur das parlamentarische Parkett in Hessen, der neue Handlungsspielräume für Regierungskonstellationen eröffnen und das Parteiensystem strukturell verändern sollte. Zunächst regiert in Hessen eine geschäftsführende SPD-Regierung unter Leitung von Ministerpräsident Holger Börner nach den Wahlen 1982 weiter, da aufgrund der hohen Polarisierung weder SPD noch CDU willens waren, entweder in einer Großen Koalition zusammen zu regieren oder mit den Grünen eine Koalition zu bilden. Überraschend kam es bei der Hessenwahl 1982 nicht zu einem Regierungswechsel hin zur CDU/FDP. Der Regierungswechsel wurde insbesondere durch das schlechte Abschneiden der FDP verfehlt. Die Freidemokraten kamen mit nur 3,1% nicht wieder in den Landtag. Alfred Dregger trat als Landesvorsitzender der CDU zurück, übergab dem Frankfurter Bürgermeister Walter Wallmann die Parteiführung und wechselte als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Deutschen Bundestag die politische Bühne. Bereits im folgenden Jahr 1983 fanden Neuwahlen statt, die zum Vierparteiensystem aus CDU, SPD, FDP und Grüne führten. Nach langwierigen und schwierigen Koalitionsverhandlungen kam es 1985 zur ersten rot-grünen Landesregierung. Joschka Fischer wurde unter Ministerpräsident Holger Börner erster grüner Minister. Die neue Konstellation erwies sich schnell als fragil und wenig belastbar. Vor Ablauf der regulären Legislaturperiode kam es im Streit um die Atompolitik zum Bruch und anschließend zu vorgezogenen Neuwahlen. Obwohl das Ergebnis der Landtagswahl 1987 sehr knapp ausfiel, veränderte sich die Regierungslandschaft deutlich. Nach knapp 41 Jahren Opposition im hessischen Landtag gelang der CDU der Machtwechsel. Walter Wallmann wurde erster christdemokratischer Ministerpräsident Hessens und führte eine schwarz-gelbe Koalitionsregierung an. Doch die neue parteipolitische Machtkonstellation blieb zunächst ein Intermezzo. 1991 kam es zur Neuauflage von rot-grün. Hans Eichel wurde neuer SPD Ministerpräsident und leitete eine Koalitionsregierung aus SPD und Grünen, die für acht Jahre bis 1999 die Landesregierung stellte. In der Phase der dynamisierenden Pluralisierung beginnt der bis heute anhaltende Akzeptanzverlust des hessischen Parteiensystems. Lag die Wahlbeteiligung 1982 noch bei 86,4%, so sank sie bis 1995 kontinuierlich auf 66,3%.

Seit Ende der 90er Jahre befindet sich das hessische Parteiensystem in der Phase der „volatilen Vormachtstellung der CDU“. Kennzeichnend für diesen Abschnitt ist, dass es der hessischen CDU mit Roland Koch als Ministerpräsidenten erstmals in ihrer Geschichte gelang, über mehrere Wahlperioden hinweg die politische Vorherrschaft zu sichern, jedoch bei erheblichen Schwankungen des Stimmenvorsprungs. Kipppunkt, an dem die Vorherrschaft der CDU markiert werden kann, ist die Landtagswahl im Jahre 1999. Mit einem Stimmenergebnis von 43,4% 6

Regierungsforschung.de wurde die CDU stärkste Kraft im Landtag und stellte in Koalition mit der FDP, der mit 5,1% ganz knapp der Einzug in das Parlament gelang, den Ministerpräsidenten. Im Wahlkampf knüpfte der christdemokratische Herausforderer von Ministerpräsident Hans Eichel intensiv an die polarisierende und konfliktorientierte Strategie Alfred Dreggers an. Mit einer Unterschriftenkampagne gegen ein von der rot-grünen Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder geplantes Staatsbürgerschaftsgesetz, gelang es ihm mit populistischem Gespür die Bundesregierung anzugreifen und auf landespolitischer Ebene die Früchte des Erfolges zu ernten. Die medienwirksame Unterschriftenaktion erwies sich als wichtiger Mobilisierungs- und Erfolgsfaktor für den Ausgang der Landtagswahl. Dennoch war der Wahlausgang sehr knapp: CDU/FDP einerseits und SPD/Grüne andererseits lagen nur 1,9% auseinander. Bei der Landtagswahl 2003 allerdings vermochte Roland Koch das Ergebnis deutlich zu verbessern. Mit einem Stimmenanteil von 48,8% erzielte die CDU die absolute Mehrheit im Hessischen Landtag und regierte, aufgrund der Verlängerung der Legislaturperiode im Jahr zuvor, für fünf Jahre in Alleinregierung. SPD und Grüne brachten es gemeinsam nur auf 39,2%. Ursache waren starke Verluste der SPD im einst „roten Hessen“ unter ihrem Vorsitzenden Gerhard Bökel. Die Sozialdemokraten rutschten erstmals in ihrer Geschichte knapp unter die 30% und verschlechterten sich damit im Vergleich zur vorigen Wahl um 10.3%. Die Grünen hingegen konnten ihren Stimmenanteil von 7,2% auf 10,1% steigern.

Die Landtagswahlen 2008 hatten das Potential, die politischen Karten neu zu mischen und einen erneuten Kipppunkt für das hessische Parteiensystem einzuleiten. Verlierer waren CDU und Grüne. Die CDU büßte 12% ein und erzielte ein Ergebnis mit 36,8%, wie es schlechter nur vor 1970 war. Die Christdemokraten lagen mit 0,1% Vorsprung nur noch eine Nasenspitze vor der neu erstarkten SPD. Verluste hatten auch die Grünen hinzunehmen. Ihr Stimmenanteil sank um ein Viertel auf 7,5%. Als Gewinner erwiesen sich SPD, FDP und Die Linke. Mit der neuen Partei- und Fraktionschefin sowie Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti legte die hessische Sozialdemokratie um knapp 8% zu und erzielte 36,7%. Zugewinne konnte auch die FDP verzeichnen. Sie legte um 1,5% auf insgesamt 9,4% zu. Überraschend zog die Partei Die Linke mit 5,1% in das Parlament in Wiesbaden ein. Auch bei dieser Landtagswahl lagen CDU und FDP mit 46,2% und SPD und Grüne mit 44,2% erneut Kopf an Kopf. Doch diesmal verfügte keine der beiden Formationen über eine Mehrheit im Landtag. Eine große Koalition wurde aufgrund der hohen Polarisierung sowohl von CDU als auch von SPD ausgeschlossen. Angesichts dieser schwierigen Konstellation entschloss sich Andrea Ypsilanti – entgegen ihrer klaren Positionierung im Wahlkampf – eine Regierung aus SPD, Grünen und Die Linke zu bilden und sich der Wahl zur Ministerpräsidentin zu stellen. Vier Abgeordnete der SPD Landtagsfraktion durchkreuzten die Regierungsübernahme. Sie kündigten an, bei der Wahl zur Ministerpräsidentin Andrea Ypsilanti die Stimme zu verweigern. Damit verfügte die geplante Koalition über keine parlamentarische Mehrheit mehr. Das Ziel des Regierungswechsels war gescheitert. Ministerpräsident Roland Koch blieb im Amt und leitete die geschäftsführende Regierung aus CDU und FDP.

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Am 19. November 2008 löste sich der Hessische Landtag auf und setzte zugleich für den 18. Januar 2009 Neuwahlen an. Das Wahlergebnis bestätigte diesmal mit klarer Mehrheit die Koalitionsregierung aus CDU und FDP, die gemeinsam auf einen Stimmenanteil von 53,4% kamen. Ein genauer Blick auf das Ergebnis zeigt, dass der eigentliche Gewinner der Wahl nicht die CDU, sondern die FDP war. Während die Christdemokraten lediglich um 0,4% auf 37,2% zulegten, steigerten die Freidemokraten ihr Ergebnis um 6,8% auf 16,2%. Auch die Grünen gingen gestärkt aus der Wahl hervor. Es gelang nicht nur die Scharte der Wahl von 2008 wieder wett zu machen, sondern mit einer Steigerung von 6,2% mit nun 13,7% das bisher beste Ergebnis zu erreichen. Auch Die Linke zog leicht gestärkt mit 5,4% Stimmen erneut in das Landesparlament in Wiesbaden ein. Klarer Verlier der Wahl 2008 war die hessische SPD. Als neuer Herausforderer von Ministerpräsident Roland Koch trat Thorsten Schäfer-Gümbel an. Zwar konnte er in dem nur wenige Wochen dauernden und intensiv geführten Wahlkampf die schwere Niederlage der SPD Hessen nicht mehr verhindern, jedoch einen „freien Fall“ abbremsen. Mit 23,7% erzielten die hessischen Sozialdemokraten das bisher niedrigste Ergebnis ihrer Geschichte. Noch am Wahlabend trat Andrea Ypsilanti auch vom SPD Landes- und Fraktionsvorsitz zurück. Beide Funktionen übernahm der neue sozialdemokratische Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel. Eine wichtige personale Veränderung vollzog sich auch in der CDU. Roland Koch, der in die Privatwirtschaft wechselte, übergab 2010 das Amt des hessischen Ministerpräsidenten und CDU Landesvorsitzenden an Volker Bouffier, der zuvor das Amt des Innenministers in seiner Regierung bekleidet hatte.

Bereits in der Regierungszeit der rot-grünen Landesregierung unter Hans Eichel war die Wahlbeteiligung von 70,8% auf 66,3% gesunken. In der Phase der volatilen Vormachtstellung der CDU seit 1999 ist sie weiter leicht gesunken (1999: 66,4; 2003: 64,6% und 2008: 64,3%), jedoch mit der „Denkzettelwahl“ des Jahres 2009 auf den Rekordtiefstand von 61% gerutscht.

Der kurze Überblick lässt wichtige Entwicklungslinien und Veränderungen der politischen Machtkonstellationen im Parteiensystem Hessens erkennen. Während der Phase der „Ultrastabilität“ gelang der SPD die politische Vormachtstellung, in der sie sowohl stärkste Partei im Landtag war als auch die Ministerpräsidenten stellte. In dieser Phase gab es noch kein Kopf an Kopf Rennen von SPD und CDU. Mit der Phase der „aufholenden Polarisierung“ schloss die CDU in den 70er Jahren zur gleichberechtigten Volkspartei auf. Erzielt wurde der Aufstieg durch eine konfliktorientierte und das Parteiensystem aufholende polarisierende Strategie, die maßgeblich durch Alfred Dregger geprägt wurde und zum jahrzehntelangen Markenkern der hessischen CDU geworden ist. Seitdem erweisen sich die Landtagswahlen sehr häufig als Kopf an Kopf Rennen. Die nun folgende Phase der „dynamisierenden Pluralisierung“ des hessischen Parteiensystems ist gekennzeichnet durch den Wandel zum Vierparteiensystem, eine geschäftsführende SPD Regierung, ein erstes rot-grünes Regierungsexperiment, die erste CDU/FDP Koalition und zwei rot-grüne Regierungen. Die gegenwärtige Phase der „volatilen Vormachtstellung“ ist charakterisiert durch die erste länger andauernde Vormachtstellung der CDU, die mit der FDP koaliert, deren Bündnis jedoch starken Schwankungen im Stimmenergebnis nach Wahlen unterliegt. 8

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Hessen vor der Wahl: Wahlkampfstrategien und Koalitionsoptionen der hessischen Landtagsparteien

Vor dem Hintergrund der Besonderheiten des hessischen Parteiensystems ist der Wahlausgang der Landtagswahlen am 22.September 2013 spannend. Dabei interessiert die Frage, ob sich die derzeitige Konstellation fortsetzt oder ob sich die parteipolitische Machtkonstellation ändert und einen Kipppunkt markiert, der eine neue Phase des Parteiensystems einleitet. Im Folgenden wird analysiert, wie sich die Parteien strategisch im Wahlkampf aufstellen.

CDU: Die Strategie des Wellness-Wahlkampfs

Ziel der hessischen CDU ist die Fortsetzung der bisherigen Regierungsarbeit von CDU und FDP unter Führung von Ministerpräsident Volker Bouffier. Um die Orientierung auf „Weiter so!“ zu realisieren, verfolgt die Partei eine Wahlkampfstrategie, die auf den Begriff Wellness-Wahlkampf gebracht werden kann. Das Konzept setzt auf die Verbindung dreier Elemente: Emotionalisierung, Personalisierung und Kontinuität. Mit dem Motto „Ja zu Hessen“ soll ein emotionalisierendes Wir-Gefühl aller Hessen erzeugt werden. Der Slogan bezieht sich darauf, dass sich laut einer Umfrage 96% aller Bürgerinnen und Bürger in ihrem Bundesland „wohl fühlen“. Die positive emotionale Grundstimmung wird versucht eng mit der Person des Ministerpräsidenten und Spitzenkandidaten Volker Bouffier zu verknüpfen. Volker Bouffier wird als erfolgreicher Landesvater präsentiert, der das positive Lebensgefühl repräsentiert und das Land in erster Linie zusammenführen und nicht spalten will. Wir-Gefühl und Personalisierung münden in der zentralen Botschaft, dass es bei dieser Wahl darum geht, die als erfolgreich dargestellte Arbeit des Ministerpräsidenten und seiner Regierung fortzusetzen, damit sich auch in Zukunft alle Hessen in ihrem Land „wohl fühlen“ können. Im Konzept des Wellness- Wahlkampfes ist die Formulierung der konkreten Politikziele der CDU, wie die Schaffung von Arbeitsplätzen, bessere Bildung und die Bewältigung des demographischen Wandels nachrangig.

Im Vergleich zu früheren Wahlkämpfen der CDU Hessen nimmt der Wellness-Wahlkampf von Volker Bouffier die konfrontative Polarisierungsstrategie seines Vorgängers Roland Koch deutlich zurück. Dieser hatte die CDU besonders mit den Themen Staatsbürgerschaft, innere Sicherheit, Bildung und Verkehr scharf gegenüber SPD und Grüne abgegrenzt. Nun formuliert der amtierende Ministerpräsident in einem Interview des Hessischen Rundfunks vom 22.08.2013: „Ich sehe die Aufgabe des Ministerpräsidenten nicht darin, der oberste Spalter eines Landes zu sein“. Die veränderte strategische Ausrichtung beinhaltet im Blick auf Stimmenmaximierung eine Chance, aber auch eine ernst zu nehmende Gefahr für den Wahlsieg der CDU. Der Wohlfühl-Wahlkampf ermöglicht einerseits die Führung eines asymmetrischen Wahlkampfs, der über die CDU Stammwählerschaft hinaus ein weiter gefasstes Wählerpotential anspricht. Durch Emotionalisierung sollen besonders Wechselwähler_innen und Wähler_innen, die sich noch nicht festgelegt haben, adressiert werden. Eine Strategie, die sich als wahlentscheidend erweisen kann, denn immerhin sind laut einer Umfrage von Infratest dimap für den Hessischen Rundfunk, die am 21.08.2013 ausgestrahlt wurde, 30% der hessischen 9

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Wählerinnen und Wähler noch unentschieden, welcher Partei sie die Stimme geben. Zudem eröffnet die Strategie keinen Abgrenzungswahlkampf zu führen der CDU nach der Wahl neue Handlungsoptionen für ein breiteres Spektrum an Koalitionsmöglichkeiten. Doch die Wohlfühlstrategie muss nicht aufgehen. Denn die Erfolgsformel, mit der die Christdemokraten in Hessen Wahlen gewonnen haben und an der Macht geblieben sind, lautete: Attacke und scharfe Abgrenzung gegenüber dem politischen Gegner. Eine aus Sicht der Kernwählerschaft „weichgespülte CDU“ läuft Gefahr, die eigene Klientel nur unzureichend zu mobilisieren. Bei einem Kopf an Kopf Rennen am Wahlabend, bei dem nur wenige Prozentpunkte über Sieg oder Niederlage entscheiden, kann die Strategie des Wellness-Wahlkampfes zum Regierungsverlust der CDU beitragen.

SPD: Sozialdemokratischer Werte- und Programmwahlkampf als Strategie

Ziel der hessischen SPD ist – nach 15 Jahren Opposition – die Regierungsübernahme einer von Ministerpräsident Thorsten Schäfer-Gümbel geführten rot-grünen Landesregierung. Die Sozialdemokraten setzen strategisch alles auf einen werte- und programmorientierten Wahlkampf. Das Motto: „Gerechtigkeit macht stark“ formuliert, dass Gerechtigkeit als Leitbild und Maßstab für alle Politikfelder einer sozialdemokratischen Regierungspolitik dienen soll. Als Schwerpunktthemen im Wahlkampf werden Arbeit, Familie, Bildung und Steuerpolitik ins Zentrum gestellt. Das Thema Steuergerechtigkeit hat dabei in letzter Zeit einen besonders hohen Stellenwert in der Programmatik und der politischen Kommunikation der SPD eingenommen. Mitte August wurde eine Unterschriftenkampagne „Null Toleranz für Steuerhinterziehung“ gestartet, die zum Ziel hat, Maßnahmen zur Verhinderung von Steuerflucht zu veranlassen. Die hessische SPD und ihr Spitzenkandidat positionieren sich als Regierung im Wartestand, die inhaltlich wie personell in der Lage sei, sofort die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Die Aufstellung einer „Wechsel-Mannschaft“ potentieller hessischer Landesminister, das Regierungsprogramm „Gerechtigkeit macht stark“ für die künftige Legislaturperiode von 2014 bis 2019 und das Programm „Auf den Wechsel. Fertig. Los“ für die ersten 100 Tage einer SPD- Regierung sollen die Handlungsfähigkeit unterstreichen.

Im Landtagswahlkampf 2009, als Thorsten Schäfer-Gümbel kurzfristig Spitzenkandidat der SPD Hessen wurde, haben ihn viele als Spitzenpolitiker nicht ernst genommen. Doch der hessische SPD Partei- und Fraktionsvorsitzende hat es in den letzten fünf Jahren erfolgreich vermocht, der Partei neues Selbstvertrauen zu vermitteln und sie programmatisch für die Regierungsübernahme neu aufzustellen. Heute ist Schäfer-Gümbel ernst zu nehmender Herausforderer, der Bouffier Sorgen bereiten muss. Der amtierende Ministerpräsident kann in der öffentlichen Wahrnehmung weder vom Bonus als Landesvater noch vom deutlichen Imagevorsprung der Bundeskanzlerin nennenswert profitieren. Laut Umfrage von Infratest dimap vom 21.08.2013 im Auftrag des Hessischen Rundfunks liegt Volker Bouffier mit 41% nur zwei Prozentpunkte vor Thorsten Schäfer-Gümbel in der Beliebtheitsskala. Die gleiche Umfrage kommt – nur einen Monat vor der Wahl – zu dem Ergebnis, dass 53% der Bürgerinnen und Bürger eine politische Wechselstimmung empfinden. Profitieren kann die SPD Hessen auch von 10

Regierungsforschung.de kommunalen Erfolgen. So konnten die Sozialdemokraten bei den Oberbürgermeisterwahlen die Landeshauptstadt Wiesbaden und die Metropole Frankfurt von der CDU zurückgewinnen.

Bündnis 90/ Die Grünen: Strategie der programmatischen ökologisch-sozialen Modernisierung

Gemeinsam mit der SPD streben die hessischen Grünen die Ablösung der derzeitigen CDU/FDP Regierung an. Der Politikwechsel ist deshalb die zentrale Botschaft im Wahlkampfmotto der Partei: „Hessen wechselt. Und Du?“. Die ökologisch-soziale Orientierung der grünen Modernisierungspolitik wird programmatisch in den Themen Energiewende, Betreuungsgarantie für Grundschulen, Schulfrieden und Bürgergesellschaft deutlich. Die Grünen haben ein Programm erarbeitet, dass die vorrangigsten Aufgaben einer zukünftigen Regierung umreißt. Spitzenkandidaten der Grünen sind Tarek Al-Wazir und Angela Dorn.

Aus strategischer Sicht ist interessant, dass die Grünen sich zwar klar für eine Koalition mit der SPD aussprechen, jedoch gleichzeitig betonen, dass sie nicht auf diese Variante fixiert sind. Damit hat die Partei aus den Erfahrungen der bisherigen 14 Oppositionsjahre und besonders den verlorenen Wahlen 2008 und 2009 Lehren gezogen. Im Wahlkampf 2008 hatten sich die Grünen stark an die SPD gebunden, um bei der Auszählung der Stimmen feststellen zu müssen, dass sie ein Viertel der Stimmen ihrer Wählerinnen und Wähler eingebüßt hatte. Noch stärker im kollektiven Gedächtnis der Partei hat sich die verunglückte gemeinsame Regierungsbildung mit SPD und Die Linke 2008 eingebrannt, als die Teilhabe an der Landesregierung aufgrund sozialdemokratischer Dissidenten noch auf den letzten Metern scheiterte. Bei den Landtagswahlen 2009 verbesserten die Grünen zwar ihr Ergebnis, blieben jedoch bis heute in der Opposition. Strategisch halten sich die Grünen deshalb zumindest rhetorisch alle Koalitionsoptionen für den „worst case“ nach der Wahl offen.

FDP: Stammwähler und Zweitstimmenkampagne als strategische Orientierung

Die hessische FDP will die Koalition mit der CDU fortzuführen. Dieses Ziel soll strategisch mit einer Stammwähler- und Zweitstimmenkampagne erreicht werden. Das Wahlkampfmotto: „Entscheidend für Hessen“ soll darauf anspielen, dass die FDP das „Zünglein an der Waage“ für die Fortsetzung der bisherigen Regierungsformation darstellt. Zentrale Themen des Wahlkampfes sind Schuldenabbau, Förderung der Schulvorbereitung und innovative Wirtschaftspolitik, die besonders dem Mittelstand zugutekommen soll. Die Strategie beinhaltet ferner die polarisierende parteipolitische Konfrontation, ganz besonders mit den Grünen.

Noch bei der Landtagswahl 2009 erzielte die hessische FDP ihr zweitbestes Stimmenergebnis und ermöglichte so den Erhalt der Regierungsfähigkeit. Anders stellt sich die Situation im Wahlkampfjahr 2013 dar. Diesmal kämpfen die Liberalen um das politische Überleben. Erst in den letzten Monaten zeichnet sich in den Prognosen ab, dass die FDP überhaupt Chancen hat in das Landesparlament in Wiesbaden zurückzukehren. Dafür setzen die Liberalen alles auf die Karte einer Stammwähler- und Zweitstimmenkampagne. Dabei wollen sie von der geschaffenen 11

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Zweitstimmenregelung profitieren, die 1988 auf Wunsch der FDP in Hessen eingeführt wurde und ein Stimmensplitting ermöglicht. Mit dem Konfrontationskurs gegenüber ihrem Grünen Mitbewerber, erhofft sich die FDP vom Wellness-Wahlkampf der CDU enttäuschte Wähler_innen zu gewinnen. Die Fixierung auf die CDU erschwert andere Koalitionsoptionen.

Die Linke: Sozial orientierter Politikwechsel

Ziel des Wahlkampfes ist die Abwahl des amtierenden CDU Ministerpräsidenten Bouffier und seiner Koalition mit der FDP. Strategisch angestrebt wird die Herbeiführung eines sozial orientierten Politikwechsels mit der Linken als programmatischer Kraft in einem Bündnis mit SPD und Grünen. Diese Orientierung auf Veränderung der politischen Verhältnisse kommt im Wahlkampfmotto zum Ausdruck: „100% sozial. Hessen verändern“. Zentrale Wahlkampfthemen sind Forderungen nach einem Tariftreuegesetz, die Abschaffung von G8 und Wohnungsbau. Spitzenkandidatin der Linken im Landtagswahlkampf 2013 ist Janine Wissler.

Die Linke konnte bereits 2008 und 2009 in den Hessischen Landtag einziehen. Trotz ihres geringen Stimmenanteils von 5,1% bzw. 5,4% wäre ihr bei der Wahl 2008 beinahe die Rolle des „Züngleins an der Waage“ zugekommen und die Regierungsbeteiligung in einer Koalition mit SPD und Grünen gelungen. Als einzige Partei im Landtag vertritt sie eine dezidiert anti- kapitalistische Politik. Wie die FDP muss die Linke um den Wiedereinzug in den Landtag bangen. Gelingt dies nicht, so wird Die Linke sich außerhalb des Parlaments neu aufstellen müssen. Ist sie jedoch erfolgreich, kann sie zum Königsmacher avancieren.

Wohin geht die Reise? Neue Konstellationen im geöffneten Koalitionsmarkt für Regierungsbildungen in Hessen

Die bisherige Entwicklung des hessischen Parteiensystems lässt keine Alleinregierung von CDU oder SPD erwarten. Als „wild card“ stellen sich Die Piraten und die AfD (Alternative für Deutschland) derzeit dar. Beide Parteien sind schwierig zu prognostizieren, werden aber wahrscheinlich nicht in den Landtag in Wiesbaden einziehen. Damit könnte den Grünen oder der FDP die bedeutsame Rolle des „Königsmachers“ zukommen. Wie sich weiter abzeichnet, wird es erneut zu einem Kopf an Kopf Rennen zwischen CDU und FDP einerseits und SPD und Grünen andererseits kommen. Im Unterschied zur Landtagswahl 2008 zeigt sich eine erkennbare Öffnung des Marktes für mögliche Regierungskonstellationen für die Zeit nach der Wahl, falls sich die Wünschbündnisse nicht realisieren lassen. Mit der Strategie keinen polarisierenden Abgrenzungswahlkampf zu führen, öffnet sich die CDU vorsichtig für die Situation, in der eine Koalition mit der FDP nicht gelingt. SPD und Grüne schließen für den Fall, dass rot-grün nicht über ausreichend Stimmen verfügen, keine Partei von Auslotungsgesprächen für eine Regierungsbildung aus. Doch gerade der Umgang mit der Linkspartei erweist sich für die SPD als Drahtseilakt. Gilt es zugleich die Fähigkeit zu beweisen, rechnerisch mögliche parlamentarische Mehrheiten zu organisieren und neu gewonnne Glaubwürdigkeit nach dem Desaster der Landtagswahl 2008 zu erhalten. Einzig die FDP spricht sich dezidiert gegen eine Koalition 12

Regierungsforschung.de sowohl mit SPD als auch mit den Grünen aus. Im Folgenden werden drei unterschiedliche Handlungsräume unterschieden, in denen sich die Regierungsbildung vollziehen kann:

Einen Raum konstituieren die Regierungsbündnisse, die von den hessischen Parteien explizit angestrebt werden. Hierzu zählen die Fortführung der CDU/FDP Koalition, um erneut den Ministerpräsidenten und Landesregierung zu stellen. Voraussetzung ist, dass der FDP wieder der Einzug ins Landesparlament in Wiesbaden gelingt und die CDU stark genug wird, um über ausreichend Stimmen zum gemeinsamen Sieg zu verfügen. Die Alternative zu dieser Variante ist eine Koalition von SPD und Grünen und damit verbunden der Machtwechsel in Hessen. Unstreitig ist, dass die Grünen erneut in den Landtag einziehen. Es stellt sich jedoch bei beiden Konstellationen die Frage, ob die Parteien genügend Wähler mobilisieren können, um als Koalition eine Regierungsmehrheit zu erzielen.

Ein zweiter Handlungsraum wird durch Strategien eröffnet, über den polarisierten Parteienstreit hinweg zu neuen Regierungskonstellationen zu gelangen. Diese Orientierung könnte handlungsleitend werden, wenn die angestrebten Wunschbündnisse sich nicht realisieren lassen. Hier sind unterschiedliche Konstellationen denkbar: 1) Für den Fall, dass es der FDP nicht gelingt, die 5% Hürde zu überspringen und keine rot- grüne Mehrheit erzielt werden kann, ist eine von CDU und Grünen gebildete gemeinsame Landesregierung denkbar. Das Bündnis verspricht – über die Differenzen der unterschiedlichen Politikvorstellungen und Parteikulturen hinweg – für beide Parteien eine mögliche „win-win“ Situation. Für die Christdemokraten wäre eine sichere Mehrheit im Landtag gesichert. Die Grünen würden nach langer Zeit der Opposition wieder Regierungsverantwortung übernehmen. Anknüpfungspunkt für eine CDU/ Grüne Regierung wären bereits erfolgreich praktizierte Bündnisse in Hessen auf kommunaler Ebene wie in Frankfurt. Programmatisch könnte ein solches Bündnis beide Parteien jedoch überfordern. 2) Sollte Die Linke in den Landtag einziehen, dann könnte eine Koalition mit SPD und Grünen möglich werden, sofern rot-grün über keine eigene Mehrheit verfügt. Doch ist die SPD nach dem Desaster von 2008 ein gebranntes Kind und der Einzug der Partei Die Linke ist unsicher. 3) Für eine große Koalition aus CDU und SPD kann sich besonders dann ein Handlungsfenster öffnen, wenn andere Konstellationen ausgereizt sind. Aufgrund der hohen Polarisierung in der Vergangenheit müssten beträchtliche Differenzen zwischen und innerhalb der Parteien überwunden werden. Dabei können sich die großen Koalitionen von CDU und SPD im Bund (1966-1969 sowie 2005-2009) und auf Ebene der Bundesländer wie in Berlin, Thüringen oder im Saarland als mögliche Vorbilder für Hessen erweisen. Ein dritter Raum öffnet sich, wenn kein Regierungsbündnis zustande kommt und dennoch Neuwahlen vermieden werden sollen. 1) Falls sich keine Koalition schmieden lässt, so könnte die bisherige CDU/FDP Koalition als geschäftsführende Regierung zunächst im Amt verbleiben. Denn laut Verfassung Hessens (Artikel 113 HessVerf.) muss der Ministerpräsident, sobald der neu gewählte Landtag erstmals zusammentritt, zurücktreten. Bis zur Übernahme der Geschäfte durch eine neu gewählte Landesregierung bleibt die alte Regierung jedoch geschäftsführend im Amt. Dass diese Regelung

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Regierungsforschung.de kein Glasperlenspiel darstellt, haben die Ministerpräsidenten Holger Börner und Roland Koch gezeigt, die auf diese Konstruktion zurückgriffen. Doch die geschäftsführende Regierung ist kein Instrument, sich dauerhaft an der Regierung zu halten. Denn es handelt sich in Hessen um eine Übergangsregierung mit eingeschränkten Befugnissen, die nur die laufenden Geschäfte führen darf. Unter außergewöhnlichen Bedingungen konnte die Regierung von Holger Börner von 1982 bis 1984 hiervon Gebrauch machen. Roland Koch regierte zwischen den Landtagswahlen 2008 und 2009 aufgrund dieser Verfassungsnorm. 2) Eine weitere Variante ist das sogenannte „Düsseldorfer Modell“. Der Sozialdemokratin hatte in Nordrhein-Westfalen nach den Landtagswahlen 2010 gemeinsam mit den Grünen eine Minderheitsregierung gebildet und wurde zur Ministerpräsidentin gewählt. Es war Kraft gelungen, wechselnde Mehrheiten mit den Oppositionsparteien CDU, FDP und Linkspartei zu organisieren. Ob diese Variante jedoch für Hessen attraktiv erscheint ist fraglich. Denn nach knapp zwei Jahren beschloss der Landtag in NRW Neuwahlen und damit endete auch der Modellversuch. Beide Varianten, die geschäftsführende Regierung wie auch das „Düsseldorfer Modell“, erweisen sich zumindest in Deutschland als Übergangskonstruktionen für außergewöhnliche parteipolitische Konstellationen im parlamentarischen Regierungssystem, die schließlich in vorzeitigen Neuwahlen mündeten.

Fazit:

Die Wahl am 22. September 2013 stellt eine Weichenstellung dar. Wenn die CDU/FDP Regierung nicht wiedergewählt wird, ist die Phase der volatilen Vormachtstellung der Christdemokraten beendet. Dann wird es spannend. Denn unter den Bedingungen des geöffneten Koalitionsmarktes für Regierungsbildungen in Hessen hat die SPD gegenüber der CDU einen strategischen Startvorteil. Die CDU konnte Erfahrungen im Koalitionsmanagement bisher nur mit der FDP gewinnen. Zudem wirkt die jahrzehntelange Strategie der Polarisierung gegenüber SPD und Grünen nach. Die SPD verfügt über ein breiteres Repertoire des Koalitionsmanagements, an das sie anknüpfen kann. Dies gilt sowohl für eine rot-grüne Koalition als auch für bis dato unkonventionelle Regierungskonstellationen. In jedem Fall verspricht der Wahlabend aus landespolitischer Sicht ganz sicher spannende Ergebnisse.

Quellen und Literatur

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