Hessische Landeszentrale für politische Bildung

Blickpunkt Hessen

Walter Mühlhausen

Christian Stock (1884–1967)

Arbeiterführer Sozialpolitiker Ministerpräsident

Nr. 17 / 2013 Christian Stock (1884–1967) – Arbeiterführer, Sozialpolitiker, Ministerpräsident Prof. Dr. Walter Mühlhausen (geb. 1956 in Eichenberg/Nordhessen), Geschäftsführer der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg, lehrt nebenberufl ich als apl. Professor an der Technischen Universität und ist u.a. Mitglied der Kommission für Politische und Parlamentarische Geschichte des Landes Hessen beim Hessischen Landtag. Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der HLZ dar. Für die inhaltlichen Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.

Blickpunkt Hessen In dieser Reihe werden gesellschaftspolitische Themen als Kurzinformationen aufgegriffen. Zur Themenpalette gehören Portraits bedeutender hessischer Persönlichkeiten, hessische Geschichte sowie die Entwicklung von Politik und Kultur. Die Schriftenreihe „Blickpunkt Hessen“ erscheint als Eigenpublikation der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Taunusstraße 4–6, 65183 Wiesbaden

Herausgeberin: Angelika Röming Gestaltung: G·S Grafi k & Satz, Wiesbaden, www.dr-g-schmidt.de Druck: dinges und frick GmbH, 65199 Wiesbaden Erscheinungsdatum: November 2013 Aufl age: 4.000 ISSN: 1612-0825 ISBN: 978-3-943192-16-2

Abbildung auf dem Titel: Christian Stock in seiner Zeit als Ministerpräsident (1947). Christian Stock (1884–1967) Arbeiterführer, Sozialpolitiker, Ministerpräsident

Ein Stadion im südhessischen See- sicherungsanstalt Hessen. Er ist ein heim trägt seinen Namen; er ist bedeutender Fachmann mit großen Ehrenbürger von Darmstadt, See- Plänen. Auf seinem Posten ist er heim, Pfungstadt und Bad Orb; eine unersetzlich, kein Mensch dachte Stiftung ist nach ihm (und seiner daran, ihn zum Ministerpräsidenten Frau) benannt. Doch gehört er nicht zu machen.“1 zu den Männern der Geschichte, Nun, eine in letzter Minute ge- die im historischen Bewusstsein fundene Notlösung war Christian verankert sind, auch nicht im Land Stock gewiss nicht, zählte er doch Hessen: Christian Stock, der erste zu den Politikern der ersten Stunde demokratische Ministerpräsident im Nachkriegshessen. Er konnte zu- des Landes von 1946 bis 1950. dem auf einen beeindruckenden „Der Spiegel“ wertete die Wahl politischen Aufstieg zurückblicken. des gebürtigen Darmstädters Seit mehr als 40 Jahren gehörte zum Ministerpräsidenten am 20. er der SPD an, hatte seine Karriere Dezember 1946 doch als eine kleine ganz unten begonnen. Er stand Überraschung; in seiner ersten für die Tradition der sozialdemo- Ausgabe 1947 kommentierte das kratischen Arbeiterbewegung, der Nachrichtenmagazin unter der er sich zeitlebens verpfl ichtet fühlte Überschrift „Kandidat der letzten und die sein politisches Zuhause Stunde“: „Sein Name fi el ganz zum von Jugendjahren an war. Er durch- Schluss der Präsidentendebatte, lief den dornenreichen Weg vom aber im gleichen Augenblick war Arbeiter zum Arbeitervertreter im auch schon sicher, dass man ihn Betrieb, dann zum Gewerkschafts- wählen würde. Die SPD hatte funktionär und schließlich zum Ab- sich plötzlich auf den Sohn eines geordneten und repräsentierte Zigarrenwicklers geeinigt, der es jene steil in der Hierarchie der bis zum Präsidenten der Landesver- Sozialdemokratie aufgestiegenen sicherungsanstalt gebracht hatte Parteiarbeiter, deren ehrenamt- – auf dem mühsamen und schließ- liches Engagement zu einer Fest- lich gefahrvollen Umweg der anstellung in den Organisationen politischen Karriere. […] Er diente der Arbeiterbewegung führte. sich in der Sozialdemokratie hoch, Stocks Werdegang war typisch wurde 1919 Mitglied der National- für die Mehrzahl der führenden versammlung, 1922 Direktor der sozialdemokratischen Funktionäre Ortskrankenkasse in Heidelberg seiner Generation, die, sozialisiert und zog zehn Jahre später in jenen im wilhelminischen Kaiserreich, gewaltigen grauen Steinkasten am in jungen Jahren durch einen un- Main zu Frankfurt, der die dortige ermüdlichen Einsatz für die ge- Krankenkasse beherbergt. […] 1945 sellschaftlich ausgegrenzte Sozial- wurde er Präsident der Landesver- demokratie noch vor dem Ersten

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 1 Weltkrieg in die Dienste dieser Be- Uhr“, wie der Geburtseintrag im wegung traten und in der ersten Standesamt vermerkt4 – als Sohn der Demokratie auf deutschem Boden verheirateten, von ihrem Ehemann gesamtpolitische Verantwortung jedoch getrennt lebenden Maria übernahmen. Magdalena Reß in Darmstadt ge- Mit diesem Karrieremuster ver- boren. Über sie hält das polizeiliche körperte Stock den in der Weimarer Melderegister fest: „Lebt in wilder Republik vorherrschenden Typus Ehe mit dem Cigarrenmacher Jakob des sozialdemokratischen Politikers. Stock.“ Dieser erklärte bei der An- Obwohl er am Ende des Zweiten meldung der Geburt gegenüber Weltkrieges sofort zur Stelle war, den Behörden, dass er das Kind um beim Neubau der Demokratie „als von ihm erzeugt, hiermit an- 5 mitzuhelfen, war er weithin un- erkenne“. Der junge Christian trug bekannt, als man ihn zum Minister- jedoch zunächst den Nachnamen präsidenten kürte. Damit krönte er der Mutter, ehe er kurz vor seiner seinen Weg, der auf der Schatten- eigenen Heirat 1908 den seines seite des Lebens begonnen hatte. Vaters annehmen sollte. Christian Stock wurde katholisch getauft, ging zur Kommunion und 1. Der Aufstieg zum wurde gefi rmt, trat später jedoch Arbeiterfunktionär nicht, wie eine Vielzahl von Sozial- demokraten seiner Generation, Seine Wiege stand in einer kargen aus der Kirche aus. Bald wurde die Wohnung in Darmstadt. „Die Ver- Familie auseinandergerissen, ver- hältnisse formen den Menschen“2 mutlich weil die kränkliche Mutter – so zitiert Christian Stock am nicht mehr in der Lage war, Haus- Lebensende einmal einen väter- halt und Kindererziehung zu be- lichen Freund aus Jugendtagen. wältigen. 1891 im Alter von nur 31 Der Schlüssel zum Verständnis des Jahren starb die Mutter; der junge Politikers Christian Stock liegt im Christian, nicht einmal sieben Jahre besonderen Maße in den Verhält- alt, kam einige Zeit zu Verwandten nissen von Kindheit und Jugend. Er nach Hanau und kehrte zu seinem durchlebte die entbehrungsreiche Vater zurück, nachdem dieser in Zeit eines Proletariersohnes im aus- Pfungstadt ansässig geworden gehenden 19. Jahrhundert: „Die war, dort Arbeit gefunden und ge- Jugend war nicht allzu sehr um- heiratet hatte. Damit hatte Stocks strahlt vom Glück“3, erinnert er sich unstete Kindheit ein Ende: Allein in nach dem Zweiten Weltkrieg an seinen ersten sieben Lebensjahren seine Kindheit in der Kaiserzeit. war die Familie siebenmal innerhalb Wenn das oft strapazierte und all- von Darmstadt umgezogen. zu leichtfertig bei Biografi en von Wechselnde Arbeitsverhältnisse Sozialdemokraten verwandte Wort, des Vaters hatten häufi ge Schul- dass der Protagonist von ganz wechsel des Sohnes zur Folge, unten gekommen sei, wirklich seine so dass sich sein Volksschul- Berechtigung besitzt, dann bei der besuch auf mehrere Orte – Darm- Beschreibung von Stocks Lebens- stadt, Hanau, Lorsch und Pfung- weg: Christian Stock wurde am 28. stadt – verteilte. Stock bezeichnete August 1884 – „vormittags um 8.00 sich selbst als „mittlerer bis guter

2 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) Schüler“.6 Auch wenn er möglicher- grenzte und deren Mitglieder als weise die Eignung für eine weiter- „vaterlandslose Gesellen“ verfemt führende Schule besessen hat, so wurden. Das konnte seinen Eifer für stand der Besuch einer höheren die SPD jedoch nicht bremsen. Bildungsanstalt nicht zur Debatte, Stock gehörte zu den unzähligen denn die engen fi nanziellen Ver- kleinen Werbern, die sich ganz und hältnisse im Elternhaus erlaubten gar der sozialistischen Arbeiter- dies einfach nicht. Er musste zum bewegung verschrieben. Wie viele Lebensunterhalt der Großfamilie Arbeiterführer seiner Generation er- beitragen, die inzwischen auf zwölf warb er sich im Selbststudium um- Kinder angewachsen war. So be- fassende Kenntnisse auf politischem gann Stock 1898 mit 13 Jahren eine und sozialpolitischem Gebiet. Sein Lehre als Zigarrenmacher bei der unermüdlicher ehrenamtlicher Ein- Pfungstädter Firma Max Freund, satz führte wie bei zahlreichen wo auch sein Vater beschäftigt war. Agitatoren, die Zeit und Arbeits- Das war ein Beruf, so erinnerte er kraft für die Bewegung opferten, sich später, der ihm recht gut ge- auch bei Stock zu besoldeter Tätig- fi el. Neben der Lehre besuchte er keit. Wer sich jahrelang bewährt drei Jahre lang eine Fortbildungs- hatte, dem konnte man einen ver- schule. Nach Abschluss der Lehre antwortungsvollen Posten anver- 1901 blieb er in dem jüdischen trauen. So wurde er 1910 Leiter Familienunternehmen, wo ihn ältere des Tabakarbeiter-Verbandes für Kollegen an die Arbeiterbewegung Südhessen, Pfalz und Nordbaden, heranführten. Prägend war auch der der seinen Sitz im nordbadischen Einfl uss des Elternhauses. Sein ge- werkschaftlich organisierter Vater spielte in der Pfungstädter Sozial- demokratie durchaus eine Rolle. Lebensweg und Erfahrung be- stimmten also Stocks Weg in die sozialistischen Organisationen. Er war das Kind eines Arbeiters und selbst lohnabhängig beschäftigt; er hatte Benachteiligung und soziale Missstände am eigenen Leibe ge- spürt. Vor diesem Erfahrungs- horizont fand er geradezu zwangs- läufi g seine politische Heimat in der sozialdemokratischen Bewegung, die das Los der Arbeiterschaft sozial und politisch verbessern wollte. Im Juli 1901, mit 16 Jahren, trat Stock der Gewerkschaft, dem deutschen Tabakarbeiter-Verband, bei und wurde ein Jahr später Mitglied der SPD. Schon früh machte er sich einen Namen als Agitator innerhalb der Sozialdemokratie, die man im Kaiserreich als Umsturzpartei aus- Der passionierte Zigarrenraucher.

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 3 Heidelberg hatte, das für mehr als Im Herbst 1910 zog Stock von 20 Jahre die Heimat seiner jungen Pfungstadt nach Heidelberg, wo Familie werden sollte. er bald innerhalb der SPD lokale Am 20. Dezember 1908 hatte er die Führungspositionen bekleidete und zwei Jahre ältere Fabrikarbeiterin dann 1913 das gewerkschaftliche Katharina Kern, Tochter eines Schuh- Arbeitersekretariat, eine sozial- und machers, geheiratet, mit der er arbeitsrechtliche Hilfsstation, über- bereits einen Sohn, einen Monat nehmen sollte. Damit erklomm zuvor geboren, hatte. Es war nach er eine der wichtigsten Karriere- damaligem Verständnis also eine so- leitern innerhalb der Arbeiter- genannte „Muss-Heirat“. Aus der Ehe bewegung, denn die Arbeiter- gingen innerhalb von fünfeinhalb sekretäre genossen wegen ihrer Jahren insgesamt vier Söhne hervor, breitgefächerten Kenntnisse in der die Stock alle überleben sollte: Ein Sozialpolitik (und darüber hinaus) Sohn verstarb 1915 im Alter von ein hohes Ansehen innerhalb der fünf Jahren, zwei kehrten aus dem sozialdemokratischen Bewegung. Zweiten Weltkrieg nicht zurück. Der Die „Volksjuristen“, so nannte 7 vierte starb 1966, ein Jahr vor Stock. sie Stock , kannten sich in der Das waren tiefe Schicksalsschläge, komplizierten Sozialversicherungs- deren Wirkung auf den Vater kaum materie aus, so dass sie die rat- zu ermessen sind. suchenden Arbeitern bei der Durch- setzung ihrer Rechte halfen und dadurch an Reputation unter den Genossen gewannen. Diese Arbeit an der Basis, der fort- währende Kampf um die Rechte der Arbeiter, formte auch Stocks eigenen politischen Standpunkt. Er zählte zu den Arbeiterführern, deren Ziel die praktische Reform- arbeit war und die der Theorie oder den Kontroversen um die „wahre“ sozialistische Lehre skeptisch gegenüberstanden. Er selbst fasste seinen politischen Standort einmal sehr einfach, aber doch recht prägnant in die Worte, dass er bei denen stehe, „denen 1 Pfennig pro Stunde mehr“ wichtiger war „als irgend eine große scharfe Resolution für einen Generalstreik“.8 Auf schritt- weise Reformen hinzuarbeiten war sein Credo. Wer aus dem Kleine- Heimaturlaub 1916: Der Soldat Leute-Milieu stammte und beruf- Christian Stock mit seiner Ehefrau lich tagtäglich mit den Sorgen Käthe und den Söhnen Christian, Otto und Nöten der Arbeiterschaft und Karl (v. l.). Der zweitälteste Sohn konfrontiert wurde, der wusste, Albert ist im Jahr zuvor verstorben. wo dem Proletariat der Schuh

4 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) drückte und der entwickelte Sinn die gesamten Kräfte und Nerven für das politisch Notwendige und aufs äußerste tätig und gespannt Machbare. Nicht der utopischen waren, 4½ Jahre Hunger und Ent- sozialistischen Heilsgesellschaft, behrung aller Art, Verlust an Leben die – so prognostizierten die und Gesundheit in jeder Familie, marxistischen Theoretiker der Partei kurzum, Verderben nach jeder – irgendwann einmal nach dem Richtung, dabei Misstrauen gegen heilsbringenden Kladderadatsch alle die, die im Staat irgendetwas zu kommen würde, sondern der Ver- sagen hatten, das war das Signale- besserung im Hier und Heute galt ment des deutschen, durch seine sein Augenmerk. Nach eigenem alten Gewaltigen über und über Bekenntnis am Lebensende war betrogenen Volkes. Diese Ver- Stock „von Haus aus Reformer und hältnisse waren das Hauptfeuer- weniger Revolutionär“.9 Er war kein mittel in den Revolutionstagen theoretischer Geist, sondern ein des November 1918.“11 Mit diesen Pragmatiker und Sozialreformer, Worten umriss Stock auf dem dessen Karriere eng mit dem Auf- Landesparteitag der badischen SPD stieg der Arbeiterbewegung ver- im September 1919 die Gründe für bunden war. Er setzte auf allmäh- den Zusammenbruch und gleich- liche Umformung des Systems in zeitigen revolutionären Umsturz eine echte Demokratie. Doch solche im November 1918. Jetzt trat der Hoffnung wurde durch den Ersten Sozialdemokrat über die Partei Weltkrieg jäh unterbunden. hinaus und übernahm gesamt- Er musste an die Front, wurde aber politische Verantwortung. nach drei Jahren auf Antrag der Gewerkschaften im November 1917 vom Militärdienst zurück- 2. Ein Kämpfer für die gestellt, damit er, der Anfang Demokratie: Weimarer des gleichen Jahres verwundet worden war, wieder die Geschäfte Republik und Diktatur des Arbeitersekretärs in Heidel- In der Revolutionszeit nach dem berg wahrnehmen konnte. Das Er- 9. November 1918, als die im Kaiser- leben des Massensterbens hinter- reich ausgegrenzte und bekämpfte ließ seelische Narben. Der mit Sozialdemokratie in die politischen dem Eisernen Kreuz II. Klasse aus- Schlüsselstellungen katapultiert gezeichnete Stock schrieb später: worden war, stieg Stock vom lokalen „Wer den Krieg mitmachen musste, Funktionär der Arbeiterbewegung den Geschossen der Gegner ins zum Abgeordneten im Reich, Land Auge schaute, um die Seinen dem und in der Kommune auf. Als im Schicksal zu überlassen, hat seelisch 10 November 1918 die von den See- manche schwere Stunde gehabt.“ häfen ausgehende revolutionäre Die gewiss schwerste Stunde war Welle die fürstlichen Kronen fort- der Tod seines zweitältesten Sohnes spülte, sorgte der Sozialdemo- Albert im Juli 1915 im Alter von krat Christian Stock dafür, dass nicht einmal sechs Jahren. die Revolution in Heidelberg im Der Krieg beschleunigte den Unter- Ganzen ruhig verlief. Als einer der gang des reformunwilligen Kaiser- beiden Vorsitzenden des örtlichen reiches: „4½ Jahre Krieg, in dem Arbeiter- und Soldatenrates fühlte

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 5 er sich wie die meisten Sozialdemo- kraten in den Schaltstellen der neuen revolutionären Macht ledig- lich als ein Treuhänder, bis demo- kratische Organe aufgebaut waren. Es ging zum einen um die Weg- bereitung in den demokratischen Verfassungsstaat, zum anderen um Wahrung der Ordnung und Verhinderung der Katastrophe, und dies in einer Zeit, als die Be- völkerung sozial, wirtschaftlich und mental ausgezehrt war und ange- sichts der akuten Probleme das Chaos drohte. Stock war einer dieser Krisenmanager in der Region, der zugleich konsequent die demokratische Karte spielte. Revolutionäre Schwärmerei lag ihm ebenso fern wie linksradikale Ge- danken an eine Räterepublik nach sowjetischem Vorbild. Sein Ziel war die parlamentarische Demokratie. Porträt der 1920er Jahre in seiner Mit den Wahlen zur Nationalver- Heidelberger Zeit. sammlung im Januar 1919 war der Weg in die Republik entschieden. Nach dem Scheitern des Aufstandes Stock wurde Abgeordneter des ernannte ihn Reichspräsident Fried- ersten demokratischen Parlaments rich Ebert kommissarisch zum in der deutschen Geschichte (im Unterstaatssekretär im Reichswehr- Übrigen einer der jüngsten) und ge- ministerium. Er sollte innerhalb der hörte somit zu den Schöpfern der Reichswehr, immer noch Tummel- ersten demokratischen Verfassung, platz der Rückwärtsgewandten, der Grundlage für die Republik, die ziviler Kontrolleur sein. Das konnte allerdings nur 14 Jahre bestehen ihm jedoch wegen überlebter sollte. Denn die neue Republik Strukturen und wegen des nach war nicht die Herzenssache aller wie vor starken wilhelminischen Deutschen. Schon im März 1920 Korpsgeistes unter den Offi zieren holte die antirepublikanische nicht gelingen. Stocks Tätigkeit im Rechte zum Gegenschlag aus Reichswehrministerium beschränkte und setzte die demokratische sich daher im Wesentlichen auf die Regierung ab. Der Kapp-Lüttwitz- Leitung des Ausschusses, der das Putsch drohte die junge Republik zu Verhalten der Offi ziere während stürzen. Jedoch ließ der General- des Putsches untersuchte. Die not- streik der organisierten Arbeiter- wendige Bestrafung der in das Um- schaft die Revolte rasch zusammen- sturzunternehmen verstrickten brechen. offen antirepublikanischen Offi ziere In Heidelberg organisierte Stock blieb jedoch aus. Sie kamen glimpf- Streik und Protestversammlungen. lich davon.

6 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) Eine Weiterbeschäftigung im Aufsichtsrat er als Vertreter der Ministerium zerschlug sich, so dass Arbeiternehmer bereits seit 1914 er bald darauf Berlin und damit der saß. In diesem neuen Amt profi lierte großen Politik den Rücken kehrte, er sich als versierter Fachmann zumal er bei den Wahlen im Juni in der Sozialpolitik. Das war sein 1920 als vierter der SPD-Landesliste Metier. Und sie sollte es bis zum in Baden nicht mehr in den Reichs- Lebensende bleiben. In seiner Zeit tag gewählt worden war. Nach an der Spitze der Heidelberger AOK herben Verlusten für die SPD kamen fi elen wichtige Verbesserungen nur die drei vor ihm Platzierten zum in der Krankenfürsorge und die Zuge. Er ging zurück nach Heidel- Errichtung von kasseneigenen berg, wo er sich als Gemeindever- Instituten und Erholungsheimen. treter, gewählt im Mai 1919, intensiv Im März 1932 wurde er Direktor der Stadtpolitik zuwandte. Auch im des Landesverbandes der Kranken- kommunalpolitischen Wirkungs- kassen Hessen in Frankfurt und kreis richtete sich sein Augenmerk drei Monate später Direktor der auf soziale Verbesserungen für AOK Frankfurt, bis über Deutsch- die benachteiligten Schichten. Im land die „fürchterlichste Reaktion Zentrum rangierte da die prekäre und Barbarei“ hereinbrach.13 Die Wohnungsfrage, wegen des weit- nationalsozialistische Macht- gehenden Stopps des Wohnungs- ergreifung beendete im April 1933 baus im Kriege eines der zentralen seine Tätigkeit. Der fristlos ent- Probleme der jungen Republik. lassene Stock, in den Augen der Er mahnte nicht nur die Stadtver- neuen Machthaber einer der ver- waltung, für den Wohnungsbau femten „November-Verbrecher“, Gelder bereitzustellen, sondern verantwortlich für die verhasste war auch Mitinitiator der im Früh- Revolution von 1918, wurde im Juli jahr 1918 ins Leben gerufenen 1933 in Seeheim, wo er seit dem Baugenossenschaft Neu Heidel- Weggang aus Heidelberg lebte, von berg, die sich der Beschaffung der hessischen Polizei verhaftet. von dringend benötigtem Wohn- Man steckte ihn ins Konzentrations- raum für die Arbeiterschaft und lager Kislau bei Bruchsal, in das die für die sozial Schwachen annahm, prominenten Sozialdemokraten denn, so Stock im Juni 1922 im Badens in „Schutzhaft“, wie das badischen Landtag, unzureichende im Sprachgebrauch des Unrechts- Wohnverhältnisse waren die „Brut- 12 regimes verschleiernd für politische stätten allen Lasters“. Bis 1933 Haft hieß, verschleppt wurden. war er in ehrenamtlichen Führungs- Hier saßen bereits der langjährige funktionen der Baugenossenschaft badische Minister Adam Remmele tätig. und der badische Staatsrat Ludwig Von 1921 bis 1925 gehörte er zu- Marum, beide SPD. Diese waren am dem dem badischen Landtag an 16. Mai in einer von den National- und wurde 1921 Landessekretär des sozialisten groß inszenierten badischen Gewerkschaftsbundes. Propagandaaktion gemeinsam Diesen Posten gab er aber schon mit anderen Sozialdemokraten nach einem Jahr wieder auf, um auf offenem Lkw durch Karlsruhe, Geschäftsführer der Allgemeinen vorbei an von den Nazis zusammen- Ortskrankenkasse für den Bezirk getrommelten Menschenmengen, Heidelberg zu werden, in dessen transportiert und dann ins KZ ver-

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 7 bracht worden. Für Stock, den das die Forderung nach dem Wandel badische Innenministerium als von der Klassen- zur Volkspartei. eine „führende Persönlichkeit“ der Dies war für ihn eine der Lehren aus „marxistischen Bewegung“14 be- der Geschichte der Partei und dem sonders im Auge hatte, waren Untergang der ersten Republik. die acht Monate eine Zeit der Er- Gleichwohl konnte es für den alt- niedrigung, Ungewissheit und gedienten Funktionär, der fest in Angst. Ein Gnadengesuch führte sozialdemokratischer Tradition ver- ihn im März 1934 in die Freiheit. wurzelt war, keinen Zweifel an der So blieb ihm das Schicksal Ludwig Wiedergründung der SPD geben. Marums, der zwei Wochen nach Eine Einheitspartei mit der KPD, wie Stocks Entlassung ermordet wurde, sie die Kommunisten schließlich erspart. 1945/46 fordern sollten, stand für Das Ersuchen um Freilassung ihn – wie für die übergroße Mehrheit mit der Loyalitätsbekundung, der Sozialdemokratie – überhaupt nicht gegen die neuen Macht- nicht zur Debatte. haber wirken zu wollen, war nur ein scheinbarer Kotau vor den Nationalsozialisten, denn sein 3. Ein Mann der ersten von ihm in Darmstadt eröffnetes Stunde: demokratischer Tabakgeschäft, mit dem sich der stellungslose Stock nun über Neuaufbau in Hessen Wasser halten wollte, wurde zur An- Nach dem Ende des Zweiten Welt- laufstelle für befreundete Sozial- krieges trat Stock wie seine zwölf demokraten wie den späteren Jahre unterdrückte Partei sofort hessischen Innenminister Heinrich wieder in die politische Ver- Zinnkann oder den Verfassungs- antwortung, um am Bau eines experten Ludwig Bergsträsser. In neuen demokratischen Deutsch- Stocks Laden wurden die Genossen land mitzuwirken. Die während der nicht nur mit Rauchwaren versorgt. nationalsozialistischen Diktatur er- Man tauschte sich aus, was nach halten gebliebenen Verbindungen Hitler kommen werde und wie die zu den Weggefährten erwiesen zweite Republik beschaffen sein sich dabei als entscheidend. Stock musste, um dauerhaft zu bestehen. durfte sich mit vollem Recht zu Stock, seit Juni 1943 Buchprüfer bei den „Männern der ersten Stunde“ den Vereinigten Deutschen Metall- rechnen: Noch vor der deutschen werken in Heddernheim, wollte für Kapitulation am 8. Mai 1945 er- den demokratischen Neuanfang nannte ihn Ludwig Bergsträsser, nach Krieg und Diktatur bereit sein. von den Amerikanern eingesetzter Diskutiert wurde dabei auch die Regierungschef im Volksstaat künftige Ausrichtung der Sozial- Hessen (-Darmstadt), zum Leiter demokratie. Auch wenn Stock der der Landesversicherungsanstalt. Meinung war, dass die SPD sich Es war ein Aufbau aus dem Nichts, nach dem Krieg unter dem alten auf einem wackligen Stuhl an einem Namen wiedergründen sollte, ebensolchen Tisch, ohne irgend- so müsse sie doch ihre Basis ver- welche Unterlagen über Renten- breitern und auf das Bürgertum zu- zahlungen. Stock wurde nach der gehen. Das war nichts weniger als Gründung eines geeinten Groß-

8 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) Hessen, das die amerikanische in Hannover Richtlinien zur Sozial- Militärregierung im September 1945 politik zu entwerfen. aus der vormaligen preußischen In den ersten Monaten nach Kriegs- Provinz Hessen-Nassau (ohne vier ende trat Stock parteipolitisch an- Kreise im Raum Montabaur) und sonsten wenig in Erscheinung. dem einstigen Volksstaat Hessen (ohne das linksrheinische Rhein- Zwar saß er nach den ersten Ge- hessen) ins Leben rief, Direktor der meindewahlen im Januar 1946 im neuen landesweiten Landesver- Seeheimer Gemeinderat, doch sicherungsanstalt. Er setzte auf eine eigentlich erst mit der Wahl in die alle Versicherungszweige (Renten, Verfassungberatende Landesver- Kranken, Unfall) integrierende sammlung am 30. Juni 1946 rückte Zentralversicherung, in der auch er ins politische Rampenlicht. Handwerker, Landwirte und Selbst- Seine Partei erzielte die Mehrheit ständige verpfl ichtend Mitglied sein mit 44,3 % und stellte 42 der ins- sollten. Doch die allumfassende gesamt 90 Mandate. Stock konnte Volksversicherung kam nicht. Sein nun zum zweiten Mal nach 1919 an Ruf als Sozialversicherungsfach- der Ausarbeitung einer Verfassung mann strahlte über die Landes- mitwirken. Er leitete den sozial- grenzen hinaus. Vom designierten politischen Ausschuss; hier bewegte SPD-Parteivorsitzenden Kurt er sich als ausgewiesener Sozial- Schumacher wurde er gebeten, für politiker in seinem angestammten die erste überzonale Zusammen- Handlungsfeld. Er wurde darüber kunft der SPD im Oktober 1945 hinaus von seiner Partei in den

Der Redner (um 1950).

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 9 zentralen Verfassungsausschuss Verfassung zeichnet sich durch entsandt. So spielte er innerhalb eine konsequente Hinwendung der Fraktion eine besondere Rolle, zum Sozialstaat aus. Die Sozial- und denn als die Beratungen wegen an- Wirtschaftsordnung beruht ge- scheinend kaum zu überbrückender mäß Artikel 27 auf der Anerkennung Differenzen zwischen den beiden der Würde und der Persönlich- stärksten Fraktionen von SPD und keit des Menschen. Das Recht auf CDU festgefahren waren, gehörte Arbeit wird proklamiert; für alle An- er zu den drei Sozialdemokraten, gestellten, Arbeiter und Beamten die im stillen Kämmerlein den gilt ein einheitliches Arbeitsrecht. Kompromiss mit den Christdemo- Das Streikrecht wird garantiert, die kraten aushandelten und damit den Aussperrung für rechtswidrig er- Weg zur Verabschiedung der Ver- klärt. Der Achtstundentag und ein fassung freilegten. zwölftägiger Mindesturlaub sind Zunächst hatten SPD und CDU ko- festgeschrieben. Und Artikel 41 ver- operiert, doch je konkreter die Aus- fügt die sofortige Sozialisierung gestaltung der Verfassung wurde, der Schlüsselindustrien. Die Ver- umso mehr zeigten sich Differenzen ankerung der Unterrichtsgeld- und zwischen beiden Parteien, so dass Lernmittelfreiheit eröffnete auch dann SPD und KPD gemeinsam den weniger begüterten Schichten ihre doch in weiten Teilen überein- den Zugang zur höheren Bildung. stimmenden Forderungen im Darauf legte Stock, nicht nur aus wirtschafts- und sozialpolitischen eigener Erfahrung, besonderen Bereich gegen CDU und LDP Wert. (FDP) durchbrachten. Doch die Stärker als andere Landesver- Konfrontation hinterließ bei den fassungen der Nachkriegszeit Sozialdemokraten einiges Un- unterstreicht die hessische den behagen, denn man war sich un- demokratischen Gedanken und sicher, ob eine von SPD und KPD erhebt den Widerstand gegen allein getragene Verfassung auch diktatorische Bestrebungen oder eine Mehrheit in der von der gegen Verfassungsverletzungen amerikanischen Besatzungsmacht zur Bürgerpfl icht: Jeder verfügten Volksabstimmung er- hat die Aufgabe, den Bestand reichen würde. So setzten sich der Verfassung zu schützen. Ins- SPD und CDU im kleinen Kreis zu- gesamt geht die Landesverfassung sammen, um die strittigen Fragen mit ihren wirtschafts- und sozial- zu lösen. Das gelang. politischen Regelungen weit über Die Verfassungsarbeit war ein das Maß hinaus, was später im persönlicher Erfolg Stocks, der Grundgesetz verankert wurde. die Politik seiner Fraktion wesent- Für all das hatte Christian Stock lich geprägt hatte und der als Ge- gekämpft. Er war einer der Weg- werkschafter und Sozialpolitiker bereiter des Verfassungs- mit dem Resultat zufrieden sein kompromisses von SPD und konnte. Denn die Landesverfassung CDU, der zu den entscheidenden legte den Grundstein für eine Weichenstellungen der hessischen sozial- und wirtschaftspolitische Nachkriegszeit zählt. Denn damit Neuordnung ganz im Sinne der wurde, über die Einigung in den Sozialdemokraten. Die Hessische umstrittenen Verfassungsfragen

10 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) hinaus, zugleich das Fundament der liberalen Wirtschaftsordnung. Großen Koalition von 1946 bis 1950 So wollten die Amerikaner die im Wiesbadener Landtag gelegt. Sozialisierungsvorschrift in eine un- Bei den Verfassungsberatungen verbindliche Kann-Bestimmung wurde ein zentrales Leitmotiv der abgeschwächt sehen. Mit diesem Politik Stocks sichtbar, das ihn auch Wunsch stieß die Militärregierung als Ministerpräsident einer Koalition auf eine geschlossene Front von leiten sollte. Da die SPD nicht allein SPD, CDU und KPD; nach einigem die Verantwortung für den Wieder- Hin und Her einigten sich Ver- aufbau übernehmen konnte, musste fassungsschöpfer und Besatzungs- der Ausgleich mit der die bürger- macht schließlich darauf, den lichen Kräfte bindenden CDU ge- Artikel 41 einem Volksentscheid sucht werden, um eine breite Basis neben dem zur Verfassung zu unter- für die Neuordnung zu gewinnen, ziehen. Damit war der Weg für die auch wenn für eine solche Ko- dritte Lesung der Landesverfassung operation ein hohes Maß an frei, die am 29. Oktober mit den Kompromissbereitschaft notwendig Stimmen von 82 Abgeordneten war. Dazu war Stock bereit. aus SPD, CDU und auch KPD an- Der Verfassungskompromiss als genommen wurde. Nur die sechs richtungweisende Übereinkunft Vertreter der liberalen LDP (FDP) war ein Produkt der Notzeit, ge- votierten mit Nein. tragen von der Einsicht, dass die Landesverfassung und Artikel 41 er- Vielzahl der Probleme nur durch zielten in den Volkabstimmungen eine breite politische Zusammen- am 1. Dezember 1946 jeweils eine arbeit gemeistert werden konnte. Dreiviertelmehrheit. Bei den gleich- Die Übereinkunft war allerdings nur zeitig stattfi ndenden ersten Land- möglich geworden, weil zwischen tagswahlen, bei denen auch Stock – Sozialdemokraten und Christdemo- auf Platz 2 der SPD-Landesliste – in kraten Übereinstimmung in grund- den ersten hessischen Landtag ge- legenden Punkten bestand, denn wählt wurde, lag die SPD mit 42,7 % die hessische CDU stand sozial- und weit vor der CDU mit 30,9 %. wirtschaftspolitischen Neuerungen im Sinne der SPD zunächst durchaus aufgeschlossen gegenüber. 4. Ministerpräsident Das mit der Verfassung ge- einer Großen Koalition schmiedete Bündnis hatte schon bald seine erste Bewährungs- Obwohl Stocks Bekanntheitsgrad probe zu bestehen. Denn die als einer der Architekten der Ver- amerikanische Besatzungsmacht fassung gewachsen war, tauchte sein war zwar allgemein mit dem Name in den Spekulationen um den hessischen Verfassungsentwurf künftigen Wiesbadener Regierungs- hoch zufrieden, doch erhob sie chef nach den Wahlen zunächst Einspruch gegen Artikel 41, der nicht auf. Stock drängte nicht in das eine umgehende Sozialisierung Amt, sondern musste erst von den industrieller Leitsektoren mit An- Spitzengremien der Landes-SPD nahme der Verfassung vorsah. Eine zur Kandidatur überredet werden. Vergesellschaftung passte so gar Am 20. Dezember 1946 wählte der nicht in ihr Bild von der effi zienten Landtag mit 58 Stimmen von SPD

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 11 Stocks Regierungsmannschaft setzte sich aus zehn Männern ein- schließlich Ministerpräsident und dem Chef der Staatskanzlei, Staats- sekretär Hermann L. Brill, zu- sammen, von denen alle bis auf einen CDU-Mann während der nationalsozialistischen Diktatur berufl iche Nachteile erlitten hatten. Sieben wird man zu aktiven Wider- ständlern zu zählen haben. Sechs waren in Haft gewesen, entweder kurzzeitig (zumeist in Schutzhaft) oder länger im KZ. Mit Werner Hilpert von der CDU als Finanz- minister und Hermann L. Brill von der SPD als Chef der Staatskanzlei agierten im Wiesbadener Kabinett zwei Männer, die im KZ Buchenwald gelitten und dort einem illegalen Volksfrontkomitee angehört hatten. Die ersten beiden hessischen Minister- Andere waren von den National- präsidenten nach dem Krieg im Ge- sozialisten für kurze oder längere spräch: der im Oktober 1945 von den Zeit festgesetzt, einige politisch Amerikanern eingesetzte parteilose kalt gestellt worden, immer in der (l.) und sein Nachfolger Gefahr, in die Mühlen des Un- Christian Stock, am Tag von dessen rechtsregimes zu geraten. In der Wahl am 20. Dezember 1946. Regierung saßen Verfolgte und aktive Gegner des NS-Regimes, die und CDU den Sozialdemokraten den Tod vor Augen gehabt und das zum Ministerpräsidenten. Er löste Grauen der Lager und Gefängnisse damit den von den Amerikanern im erlebt hatten. Diese Erfahrungen Oktober 1945 eingesetzten partei- prägten, verbanden dauerhaft über losen, dem bürgerlicher Lager zu- die Parteigrenzen hinweg. zurechnenden Ministerpräsidenten Die Kooperation von SPD und CDU, Karl Geiler ab. Mit Stock besaß das wie sie sich in der Verfassungsarbeit neue Land Hessen seinen ersten und in der Regierungskoalition demokratisch gewählten Minister- von 1946 bis 1950 zeigte, gründete präsidenten und mit der Bildung sich – über diesen persönlichen seines Kabinetts, dem je vier Minister Aspekt hinaus – zum einen in der von SPD und CDU angehörten, tiefen Überzeugung, die Fehler von seine erste parlamentarisch ge- Weimar, den bis hin zu Diffamierung wählte und verfassungsmäßig ge- und Gewalt ausufernden partei- bundene Regierung. Mit der Ver- politischen Kampf jenseits eines eidigung der Regierung im Januar politischen Ehrenkodex nicht zu 1947 war Hessen bereits 15 Monate wiederholen, zum anderen in der nach seiner Gründung zum demo- bitteren Erfahrung von zwölf Jahren kratischen Verfassungsstaat ge- Unrecht, verbunden mit einem un- worden. bedingten Willen zum gemein-

12 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) schaftlichen Wiederaufbau der eine Atmosphäre des Vertrauens Demokratie. Das Durchleben von und der Gelassenheit, aber auch Diktatur, Verfolgung und Wider- eine gewisse Distanz.“15 stand trug zu einem betont fairen Die neue Regierung stand vor einer Umgang untereinander bei. Das Herkulesaufgabe. So vermied es „Nie-Wieder-Hitler“ einte. Stock in seiner ersten Regierungs- Stocks politischer Führungsstil erklärung vor dem Hessischen zeichnete sich durch Kollegialität Landtag vom 6. Januar 1947, irgend- aus. Am Kabinettstisch herrschte welche illusionären Hoffnungen zu ein „gutes persönliches Einver- wecken: „Es wäre billig […] heute nehmen“, wie Kultusminister Erwin große Versprechungen zu machen. Stein sich erinnert: „Die Kabinetts- Da wir alle aber nicht wissen, was sitzungen waren sachlich und wir von solchen Versprechungen zu auch bei Meinungsverschieden- halten imstande sein werden, sehen heiten frei von persönlichen Aus- wir davon ab.“16 Das sind ungewöhn- einandersetzungen. Dazu trugen lich zurückhaltende Worte für einen einmal die leidvollen Erfahrungen Politiker. Doch Stock war realistisch der Kabinettskollegen in der Nazi- genug, um zu sehen, dass es im zeit bei. Wogen waren schnell ge- zweiten Jahr nach Kriegsende nicht glättet. Vor allem war es auch die die Zeit war, das Bild einer segens- menschliche Art und Weise, in der reichen Zukunft zu malen. Denn Christian Stock präsidierte. Seine das Land war zerstört, die Groß- sonore Stimme und die in leichtem städte wie Frankfurt, Darmstadt badisch-hessischem Dialekt vor- und Kassel lagen zu Dreiviertel in getragenen Argumente […] schufen Schutt und Asche. Wohnungs- und

Stocks Regierungsmannschaft im Januar 1947: (vorn sitzend v. l.) Gottlob Binder (SPD), Christian Stock, Heinrich Zinnkann (SPD); (hintere Reihe v. l.) Josef Arndgen (CDU), Erwin Stein (CDU), (SPD), Karl Lorberg (CDU), Harald Koch (SPD), Werner Hilpert (CDU).

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 13 Nahrungsmittelmangel, Engpässe Zwänge der Regierungskoalition in der Versorgung, Millionen von sorgten mitunter dafür, dass Wege Flüchtlingen, Vertriebenen und Aus- beschritten werden mussten, die gebombten bestimmten das Bild den Erwartungen der sozialdemo- der Nachkriegsgesellschaft. Die Er- kratischen Gefolgschaft nicht un- nährungslage war dramatisch: Im bedingt voll entsprachen. Schon Sommer 1947 erhielt der Normal- im April 1947 warb er vor SPD- verbraucher täglich Lebensmittel Funktionären um Verständnis für die mit einem Nährwert von 900 Koalitionserfordernisse und mahnte Kalorien zugeteilt. Der Schwarz- die eigene Partei: „Wenn man eine markt blühte. Koalition eingeht, muss man auch den Koalitionspartner leben lassen. Es ging also vornehmlich zunächst Es […] kommt darauf an, eine Ein- einmal darum, die Menschen in heitlichkeit in strittigen Fragen dem zerstörten Land mit dem Not- herbeizuführen, die beiden zugute- wendigsten zu versorgen, ihnen kommt.“18 eine Perspektive auf eine bessere Zukunft zu geben. Angesichts der Während die erste Landes- desolaten ökonomischen Lage galt regierung unter dem parteilosen Stocks besonderes Augenmerk der Karl Geiler allein abhängig von Hebung der Industrieproduktion der Besatzungsmacht gewesen und des Lebensstandards, vor allem war, konnte die Regierung Stock der Sicherstellung der Ernährung eine demokratische Legitimation – denn: „Nur wer sein Hunger- durch das hessische Volk vor- gefühl zu stillen vermag, ist fähig zu weisen. Doch hatte auch die erste höherem Denken. Und Demokratie parlamentarisch gestützte Nach- setzt nun einmal Denken voraus.“17 kriegsregierung die Interessen der Besatzungsmacht mit ins Die existentiellen Probleme zu Kalkül einzubeziehen, denn an der bewältigen, erforderte in den Dominanz der amerikanischen Augen Stock den Konsens der Militärregierung hatte sich trotz der Politikträger und eine breite demokratischen Fundamentierung Regierungsmehrheit. Sein Amts- der Regierung nichts geändert. Zu verständnis als Ministerpräsident den Koalitionszwängen kam also basierte auf seinen in Weimar ge- formten politischen Denkkate- gorien, in denen der Kompromiss, der Wille zur Zusammenarbeit mit anderen Politikträgern unter einer gemeinsamen Zielrichtung, einen zentralen Stellenwert ein- nahm. Damit war auch die Große Koalition der Nachkriegszeit be- gründet, die Stock bis zum Ende der Legislaturperiode entschieden verteidigte und die er 1949 auch für die erste Bundesregierung empfahl. Diese Politik durchzu- Der Direktor der US-Militärregierung halten, wurde mit zunehmender in Hessen, Colonel James R. Newman, Dauer immer schwieriger. Denn und Christian Stock.

14 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) noch das Besatzungsrecht hinzu, auf dessen Grundlage die Amerikaner in die deutsche Politik eingreifen konnten. Das taten sie auch, wenn- gleich sich zwischen Stock und dem Leiter der US-Militärregierung in Hessen, Oberst James R. Newman, ein sachlich gutes Verhältnis ent- wickelte. Newman war Stock zu- nächst distanziert und mit einigen Vorbehalten entgegengetreten. Der Aufbau der parlamentarischen Demokratie hatte bis dahin nur unter tatkräftiger Förderung der Amerikaner erfolgen können, die Deutschland wieder auf den Pfad einer festen Demokratie führen und den Nationalsozialismus auf Dauer überwinden wollten. Sie legten besonderen Wert auf eine konsequente Entnazifi zierung, mit der die NSDAP-Mitglieder und die Nutznießer der Diktatur zur Stock überreicht im Mai 1949 dem Rechenschaft gezogen wurden. scheidenden amerikanischen Militär- Damit hatte man unmittelbar nach gouverneur Lucius D. Clay (r.) ein Bild- Kriegsende begonnen und in der geschenk; in der Mitte der Direktor Zeit der ersten Landesregierung der US-Militärregierung in Hessen, unter Geiler die Weichen gestellt. Oberst James R. Newman. Die Regierung Stock musste das ganze Verfahren durchführen, West die Entnazifi zierung, die ohne- wobei die Hessen Starrheit und hin nahezu abgeschlossen war, be- Rigorosität des am 5. März 1946 für die amerikanische Besatzungszone endet sehen wollten. erlassenen Befreiungsgesetzes Immer wieder suchte die amerika- kritisierten. Das Gesetz hielt zur Ein- nische Besatzungsmacht ihren gruppierung der Betroffenen fünf Einfl uss geltend zu machen, wenn Kategorien (vom Hauptschuldigen sie glaubte, dass die Demokratie- bis zum Entlasteten) bereit. gründung in die falsche Richtung Hierüber hatte eine deutsche gehen würde. Gerade um die Spruchkammer zu entscheiden. wirtschafts- und sozialpolitische Forderungen von deutscher Neuordnung kam es zu Kontro- Seite, den Schematismus zu über- versen mit der Landesregierung. winden, das Verfahren zu verein- Ein solcher tiefgehender Konfl iktfall fachen und zu beschleunigen, um entwickelte sich um das vom Land- die Hauptschuldigen zu bestrafen, tag im Mai 1948 mit großer Mehr- fanden erst 1948 Gehör bei der Be- heit verabschiedete Betriebsräte- satzungsmacht, als die Amerikaner gesetz, das zu den weitreichendsten im Zuge der weltpolitischen Regelungen der innerbetrieblichen Konfrontation zwischen Ost und Mitbestimmung in der Nachkriegs-

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 15 zeit zählte. Es räumte den Arbeit- Zielrichtung. Das vom Wirtschafts- nehmervertretern wesentliche Mit- minister Harald Koch (SPD) ent- entscheidungsrechte ein, auch in wickelte Gesetz über die „Sozial- zentralen wirtschaftlichen Fragen. gemeinschaften“ stellte eines Aber gerade diese wirtschaftlichen der ganz wenigen ausgereiften Rechte riefen bei den Amerikanern Modelle zur Umsetzung sozial- Widerspruch hervor, die dem demokratischer Sozialisierungs- Gesetz ihre Zustimmung versagen vorstellungen dar. Aber selbst wollten, glaubten sie doch die in den eigenen Reihen stieß das unternehmerische Freiheit unrecht- Konzept nicht auf ungeteilte Zu- mäßig eingeschränkt. stimmung. Stock gab Koch Rücken- deckung. Doch im Oktober 1950, Das sah man in Hessen freilich kurz vor den Landtagswahlen, fi el ganz anders. Für den Fall, dass das Gesetz im Parlament durch. die Militärregierung das Gesetz Denn es gab ein Patt zwischen den ablehnen würde, drohte Stock, Befürwortern SPD und KPD auf für den als alter Gewerkschaftler der einen und den Gegnern CDU die Regelungen nachgerade und LDP auf der anderen Seite. elementar waren, mit Rücktritt. In Die Koalitionspartner stimmten den Konfl ikt schalteten sich sogar im Parlament gegensätzlich; das die Washingtoner Ministerien war ein untrügliches Zeichen, dass ein; andererseits reagierten die die Zeit der Kooperation sich dem hessischen Gewerkschaften mit Ende zuneigte. An der Basis beider Massendemonstrationen auf den Koalitionsparteien rumorte es schon drohenden Eingriff der Sieger- seit einigen Monaten. Das Gesetz macht. Militärregierung und scheiterte insbesondere, weil Landesregierung einigten sich sieben Abgeordnete von SPD und schließlich, dass die Paragraphen KPD fehlten, unter ihnen auch Stock, des Gesetzes, die wirtschaft- der ans Krankenbett gefesselt war. liche Mitbestimmungsrechte ent- Das entbehrte nicht einer gewissen hielten, bis zur Konstituierung Tragik, denn er hatte nach seiner Er- der Bundesrepublik nicht in Kraft nennung zum Ministerpräsidenten gesetzt wurden. Man wollte eine nicht auf sein Landtagsmandat zu- bundeseinheitliche Regelung ab- gunsten eines Nachrückers ver- warten. Mit diesem salomonischen zichtet, wie es aus den Reihen der Kompromiss konnten die Hessen Fraktion gefordert worden war. leben; er eröffnete Stock die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust Im Vergleich zu den Wirtschafts- reformen besaß die Kulturpolitik im Amt zu bleiben. eher nachgeordnete Bedeutung. Die Interessen der Besatzungs- Amerikaner und Deutsche waren macht hemmten auch den Fort- sich weitgehend einig, dass im gang der Sozialisierung. Aber auch bildungspolitischen Bereich eine die Koalition war sich hierüber un- Reform vonnöten war. Mehr als die eins. Zwischen SPD und CDU gab Deutschen hielten die Amerikaner es in der Sozialisierung, die mit das deutsche Schulsystem für mit- dem in der Volksabstimmung an- verantwortlich für die NS-Diktatur. genommenen Artikel 41 ein un- Von daher stand im Zentrum der mittelbarer Verfassungsauftrag von den Amerikanern forcierten war, keine Übereinstimmung in der „Reeducation“ die Schule als

16 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) prägender Sozialisationsort außer- Idee. Dies war kaum verwunder- halb des Elternhauses, die als lich, da Sozialisation und Erziehung zentrales Steuerungsinstrument für der Befragten ausschließlich im die Erziehung zur Demokratie be- Dritten Reich stattgefunden hatten. griffen wurde. Während nun die Das Ergebnis unterstrich die Not- Besatzungsmacht zuvorderst auf wendigkeit einer tiefgreifenden eine organisatorische Neuerung inhaltlichen Neuorientierung. So drängte, auf Überwindung des alt- galt das Interesse vor allem dem hergebrachten dreigliedrigen Geschichts- und Politikunterricht als deutschen Schulsystems, setzten Trägern der moralischen, geistigen die Hessen auf eine innere Reform, und politischen Erziehung des wenngleich Kultusminister Erwin Kindes. Die Hessen erkannten die Stein (CDU) mit seiner gegliederten Zeichen der Zeit und betraten mit Einheitsschule eine organisatorische der Umsetzung einer gegenwarts- Neuregelung in Vorschlag brachte. bezogenen politischen und sozialen Doch stieß solche Neuerung auf Erziehung Neuland. den entschiedenen Widerstand Wegbereitenden Charakter be- der bildungspolitischen Standes- saß zudem die vom Kabinett im organisationen. Die Schulreform April 1948 beschlossene Errichtung wurde letztlich dem Fortbestand von Lehrstühlen für Politik an den der Koalition geopfert, denn die hessischen Universitäten, was zu Ziele von SPD und CDU waren nicht diesem Zeitpunkt einzigartig in in Einklang zu bringen. Zudem be- den Westzonen war. Stock ver- handelte die SPD die Schulpolitik im Vergleich zur wirtschaftlichen Neu- ordnung doch eher nachrangig; symptomatisch hierfür waren die Worte Stocks im Herbst 1949, als er im Kreise der Partei unwider- sprochen den Satz von sich geben konnte: „Ein neues Schulgesetz ist gar nicht so wichtig, danach fragen nur ein paar Lehrer.“19 Gemeinsam war Deutschen und Amerikanern die Forcierung einer geistig-moralischen Erneuerung, die Erziehung der Deutschen zu demokratisch geschulten Bürgern. Eine Erziehung im demokratischen Geiste wurde als wahrhafte De- nazifi zierung des Volkes gesehen, wie es Stock einmal auf den Punkt brachte. Nach einer im November 1946 von der Militärregierung in Marburg durchgeführten Umfrage unter Schulkindern hielten immer- hin noch 51 Prozent den National- sozialismus als eine im Grunde gute, allerdings schlecht ausgeführte Christian Stock 1948.

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 17 kündete am 18. Mai 1948 anläss- der der Weimarer Republik so sehr lich der Hundertjahrfeier der Frank- gefehlt hatte. furter Paulskirchenversammlung die Dass insgesamt nicht alle ange- Etablierung von Politiklehrstühlen dachten Reformen umgesetzt an den Hochschulen Frankfurt, werden konnten, lag zum einen Marburg und Darmstadt mit den an den Zwängen der Koalitions- Worten: „Wir wünschen […], dass politik, zum anderen an den der Hörsaal, in dem ein Professor Interessen der Besatzungsmacht. über Innen- und Außenpolitik liest, Stock wurde nicht müde, auf die von jedem aufgeschlossenen und ganzen Schwierigkeiten einer unter unserer Zeit innerlich verbundenen Studierenden aufgesucht wird. Die dem völligen Souveränitätsverlust akademische Jugend soll nicht leidenden deutschen Politik hin- neben der Politik aufwachsen zuweisen: „Die Demokratie kann sich nicht voll auswirken in einem und im Politiker einen Feind des 22 Geistes und der Wissenschaft Land, das militärisch besetzt ist.“ sehen. Sie soll erkennen, dass der Vor dem Landtag bekannte er un- künftige Richter, der Studienrat zweideutig: „Vergessen wir auch und der Arzt ihre hohe Aufgabe in dieser Stunde nicht, dass wir ein nur erfüllen können, wenn sie den von einer Militärmacht besetztes politischen und gesellschaftlichen Land und in unseren Handlungen Erscheinungen in Vergangenheit nicht vollkommen frei sind. Wir haben deshalb zu prüfen. Politik und Gegenwart Verständnis ent- 23 gegenbringen und wenn sie schon ist die Kunst des Möglichen.“ von Jugend auf versuchen, die Politik als die Kunst des Möglichen Welt zu verstehen.“20 In Weimar – Stock war eben Realpolitiker, waren die Hochschulen Brutstätten der immer das Besatzungsrecht des Antirepublikanismus gewesen; und die Koalitionserfordernisse Professoren hatten dereinst tosen- im Blick haben musste. So blieben den Beifall erhalten, wenn sie in die Resultate der vierjährigen ihren Vorlesungen die Republik Regierungszeit auf den sozial- und und ihre Repräsentanten in den wirtschaftspolitischen Gebieten, Schmutz gezogen hatten. Das sollte deren Reformierung von der Sozial- überwunden werden. demokratie als elementar für den Neuaufbau der Demokratie be- Zur geistigen Erneuerung zählte im trachtet wurde, hinter den Er- weitesten Sinne auch der Abbau wartungen der Anfangsmonate obrigkeitsstaatlicher Mentalitäten zurück. Das wurde auch Stock als und des Untertanengeistes, die verantwortlichem Regierungschef Ausmerzung der überlebten autori- angelastet. tären und republikfeindlichen Büro- kratie, an deren Stelle eine volks- Will man aber die Arbeit seiner nahe Verwaltung treten sollte. „Der Regierung angemessen be- Geist der Demokratie“ sollte auch urteilen, so wird man auch die bis in die letzten Amtsstuben vor- Leistungen in den wirtschaft- dringen, wie das Stock in seiner lichen und sozialen Sektoren in ersten Regierungserklärung im Rechnung stellen müssen. Gerade Januar 1947 prägnant formulierte.21 den sozialen Problemen widmete Es galt, auf allen Ebenen einen Ver- sich Stocks Kabinett. Eines der vor- fassungspatriotismus zu verankern, dringlich zu bestellenden Felder

18 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) im zerstörten Nachkriegsdeutsch- und Modernisierung des Landes land war der Wohnungsbau, von darstellte. Damit wurde das Funda- jeher Stocks Metier. Den Ge- ment für die Aufnahme der Neu- meinden wurden in einem Aufbau- bürger gelegt, die allerdings erst gesetz die Vollmachten gegeben, sehr viel später in einem mühe- die Rahmenbedingungen für den vollen, langjährigen Prozess voll- Wohnungsbau zu verbessern. So endet werden sollte. Die Integration fi el Stocks Zwischenbilanz in seiner der Flüchtlinge und Vertriebenen Regierungserklärung im November gehört zu den großen sozial- 1949 mit 101.000 neu errichteten politischen Leistungen der Nach- oder bewohnbar gemachten kriegsjahrzehnte. Wohnungen positiv aus, rangierte doch Hessen nach Zahl und Aus- So zeigte sich die hessische gabensumme an der Spitze sämt- Geschichte in den Jahren der Be- licher Länder der Bundesrepublik. satzung als eine Zeit des politischen Aufbruchs mit dauerhaften Auch die Bilanz in der Flüchtlings- Reformen, aber auch mit einigen frage konnte sich insgesamt sehen gescheiterten Reformversuchen. lassen. Zu den 3,4 Millionen ein- Die wirtschaftliche Konsolidierung heimischen Hessen bei Kriegs- und die Sicherstellung der Ver- ende kamen bis zum Zeitpunkt des sorgung der Bevölkerung hingen Regierungsantrittes von Stock eine ganz wesentlich von einer fort- halbe Million Flüchtlinge hinzu. schreitenden Zusammenarbeit Allein 1946 waren fast 400.000 aus- über die Zonengrenzen hinweg ab, gewiesene Deutsche nach Hessen deren Existenz die Lebensadern der geströmt. Im Januar 1950 war jeder einzelnen Länder mitunter kappte. sechste in Hessen lebende Bürger ein Vertriebener oder Flüchtling. Insgesamt verzeichnete man zu diesem Zeitpunkt 720.000 Flücht- 5. Für ein geeintes linge und Vertriebene im Land. Deutschland: Hessen Das war das Resultat einer „Völker- und der Weg zur wanderung, die in der Geschichte Europas und der Welt ihres- Bundesrepublik gleichen sucht“, wie Stock 1949 mit vollem Recht schrieb.24 Trotz der Allein konnten die Hessen die dramatischen Wohnungsnot ge- ökonomischen Probleme nicht in lang es bis zum Herbst 1949, die den Griff bekommen: „Mit den Flüchtlinge (bis auf einige Hundert) wirtschaftlichen Schwierigkeiten aus den Auffanglagern herauszu- kann das einzelne kleine Land holen und „wohnungsmäßig“ in Ge- nicht allein fertig werden“, stellte meinden unterzubringen. Noch Stock mit Recht in seiner Rund- unter Stocks Regierung wurde mit funkansprache zu Pfi ngsten 1947 dem Hessenplan ein landesspezi- heraus.25 Von daher unterstützte fi sches Eingliederungsprogramm seine Regierung nachdrücklich entwickelt, das über die wirtschaft- den stufenweisen Verschmelzungs- liche und soziale Integration der prozess der Länder und Zonen. Neubürger hinaus eine raum- Der Hesse forderte und förderte ordnungspolitische Steuerungs- die etappenweise Zusammen- maßnahme zur Industrialisierung fügung der Zonen, zum einen,

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 19 um der wirtschaftlichen Misere nis.“27 Er ging sogar noch einen Herr zu werden, zum anderen, um Schritt weiter und verlangte im mehr politischen Gestaltungs- Januar 1948 über die wirtschaft- spielraum zu gewinnen. Im April liche Kooperation hinaus eine 1947 benannte er das Minimal- politische Einigung. Die Hoffnung ziel: „Und wenn wir den Vier- auf einen weiteren Schritt in zonen-Zusammenschluss nicht Richtung staatlicher Konsolidierung erreichen können, weil wir das Ge- sollte ein halbes Jahr später in Er- fühl haben, dass er von außen her füllung gehen. torpediert wird, […] dann erscheint Am 1. Juli 1948 war es so weit. In uns eine Dreizonen-Verwaltung Frankfurt überreichten die Militär- oder meinetwegen eine Zweizonen- gouverneure der westlichen Sieger- Verwaltung immer noch als das mächte USA, Großbritannien Bessere.“26 Die zum 1. Januar 1947 und Frankreich den elf Minister- geschaffene Bizone aus britischem präsidenten aus den drei West- und amerikanischem Besatzungs- zonen – der amerikanischen, der gebiet lobte er daher als eine „erste britischen und der französischen Bresche in die Zonenteilung“, als – die sogenannten Frankfurter einen „Sonnenstrahl des Aufbaues Dokumente, die u. a. den Auftrag in unserer wirtschaftlichen Finster- umfassten, eine westdeutsche Ver-

Frankfurt, 1. Mai 1948: Die westdeutschen Ministerpräsidenten erhalten von den Militärgouverneuren der westlichen Siegermächte den Auftrag zur Erarbeitung einer Verfassung; die Ministerpräsidenten (vorn am Tisch von r.): Leo Wohleb, Baden; , Bayern; , Bremen; Max Brauer, Hamburg; Christian Stock; , Nordrhein-Westfalen; , Niedersachsen; , Württemberg-Baden.

20 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) Christian Stock eröffnet als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz am 1. September 1948 im Museum Koenig in Bonn den Parlamentarischen Rat. fassunggebende Versammlung 1948 in seiner Eigenschaft als Vor- einzuberufen und so einen Staat sitzender der Ministerpräsidenten- zu begründen. Stock gehörte konferenz im Bonner Museum zu denjenigen, die dem Schritt Koenig den Parlamentarischen zum provisorischen Weststaat Rat. Nachdem dieser im Mai 1949 äußerst positiv gegenüberstanden, das Grundgesetz verabschiedet während manch einer seiner hatte, feierte es Stock mit vollem Ministerpräsidentenkollegen zöger- Recht als „größtes Werk seit der lich agierte. Auf der Niederwald- Kapitulation“.29 Er hegte wie viele Konferenz in Rüdesheim am 21./22. Politiker im Westen noch die Juli drängte der Hesse auf einen Hoffnung, dass die Gründung raschen Abschluss: „Der Wert des des Weststaates wie ein Magnet Ganzen liegt darin, dass ein Staats- auf die sowjetische Zone wirken gebilde geschaffen wird, das ge- würde, die sich über kurz oder eignet ist, die wirtschaftliche Lage lang dem westlichen Verbund an- der Bevölkerung zu verbessern. schließen müsste. Vor dem Wies- Und weiter liegt der Wert darin, badener Landtag plädierte Stock dass wir auch in den politischen nachdrücklich für die Annahme Dingen vorwärts kommen.“28 Die des Grundgesetzes, das dann eine Deutschen beschritten den von den deutliche Mehrheit erhielt, so dass Stock mit den anderen Minister- Besatzungsmächten freigelegten präsidenten und den Abgeordneten Weg zum Weststaat, an dem Stock des Parlamentarischen Rates in selbst regen Anteil nahm. feierlicher Stunde am 23. Mai 1949 Mit einer großen Portion Zufrieden- in Bonn das Grundgesetz unter- heit eröffnete er am 1. September zeichnen konnte.

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 21 Die Zufriedenheit über die Ver- Eine dritte Enttäuschung mit fassung verdrängte bei Stock einige Blick auf die Bundesebene sollte Enttäuschungen auf dem Weg in für Stock die Bildung der ersten den Weststaat. Dazu zählte die aus- Bundesregierung werden. Nach gebliebene Neugliederung der den ersten Bundestagswahlen am Länder, für die er sich im Kreise der 14. August 1949 trat der Hesse Ministerpräsidenten besonders auf einer Pressekonferenz mit der stark gemacht hatte. Man wollte die Empfehlung an die Öffentlichkeit, alten hessischen Teile, die bei der auch im Bund eine Große Koalition Landesgründung im September aus SPD und CDU nach dem Wies- 1945 nicht nach Hessen gelangt badener Modell zu wagen. Der waren, weil sie in der französischen SPD, im Bund hinter der CDU auf Zone lagen (das linksrheinische Platz zwei, drohte der Gang auf Rheinhessen und vier rechts- die harten Oppositionsbänke. rheinische Kreise im Bezirk Monta- Die Aussicht, vom Regieren aus- baur), in das hessische Staatsgebiet geschlossen zu sein, schreckte eingliedern. Doch die meisten Stock. Mit seinem Votum für die Länder wollten keine Territorial- große Lösung in Bonn zog er sich reform, so dass das Thema sehr zum den Unmut des zentralen SPD- Leidwesen Stocks und mehrheitlich Parteivorstandes unter dem Vor- der Hessen vertagt wurde. sitzenden Kurt Schumacher zu, Auch die Entscheidung des der sich unmittelbar nach der Parlamentarischen Rates über den Wahl für die Opposition ent- künftigen Bundessitz sorgte für er- schieden hatte und umgehend er- hebliches Unverständnis bei Stock klärte, dass Stock lediglich als wie im gesamten Hessen, denn Privatmann gesprochen habe. nicht das hochfavorisierte Frankfurt, Es waren schon recht deutliche Sitz des bizonalen Wirtschaftsrates, Signale, wenn dem Minister- sondern das vergleichsweise kleine, präsidenten eines Landes so brüsk als verträumt charakterisierte Bonn die Legitimation aberkannt wurde, wurde in einer Kampfabstimmung sich zu Bonner Koalitionsfragen am 10. Mai 1949 knapp mit 33 zu zu äußern. Damit wurde sicht- 29 als vorläufi ge Bundeshauptstadt bar, dass das Verhältnis zwischen auserkoren. Im Vorfeld hatte auch dem hessischen Regierungschef Kassel zu den vier ernsthaften Be- und der SPD-Zentrale nicht un- werbern gehört, sich aber im inner- getrübt war. Das sollte Ende 1950 hessischen Zweikampf nicht gegen bei der Nominierung des Minister- Frankfurt durchsetzen können. präsidenten gegen Stock aus- Die Mainmetropole als heimliche schlagen. Hauptstadt der Westzonen war Stocks Stimme für die Große Koali- durch den Ausbau von Kapazitäten tion wog im Bonner Koalitionspoker im Zuge der Erweiterung bizonaler 1949 nicht viel. als Behörden wie geschaffen als ein Bundeskanzler und die CDU führten provisorisches Regierungszentrum. die Bundesregierung; die SPD fand Aber solche rationalen Erwägungen sich in der Opposition wieder. Auch wogen bei der Entscheidung wohl in Hessen sollten die Regierungs- nicht sehr schwer. Bonn sollte es partner SPD und CDU bald ge- sein, und dabei blieb es. trennte Wege gehen.

22 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 6. Der unfreiwillige ehemaligen Justizminister Georg August Zinn, der im Zuge der Ver- Abschied vom Amt kleinerung des Kabinetts Ende Oktober 1949 aus der Landesre- Bei den Landtagswahlen am 19. gierung ausgeschieden war. Zinn, November 1950 erzielte die SPD seit 1947 einer der beiden SPD- mit 44,4 % an Wählerstimmen die Landesvorsitzenden und seit März absolute Mehrheit an Mandaten 1950 Vorsitzender des Bezirkes mit 47 von 90. Es gab für die breite Hessen-Nord, war der Kandidat des Öffentlichkeit eigentlich keinen westdeutschen Parteivorstandes, Zweifel, dass der neue Minister- der massiv für ihn eingetreten war. präsident wiederum Christian Stock, Spitzenkandidat seiner Über die Gründe lassen sich nur Partei, heißen würde. Doch da Vermutungen anstellen. Neben hatte man die Rechnung ohne den Unstimmigkeiten zwischen der den zentralen Parteivorstand ge- Parteizentrale und dem Minister- macht. Auf der gemeinsamen präsidenten dürfte Stocks Alter – er Sitzung der SPD-Landtagsfraktion war zu diesem Zeitpunkt 66 Jahre und des erweiterten Landesaus- alt – eine Rolle gespielt haben. schusses am 6. Dezember 1950 Zudem galt Stock als Vertreter unterlag Stock bei der Kür des der alten Weimarer Sozialdemo- Ministerpräsidentenkandidaten kratie, der der Makel einer stecken- mit 42 gegen 47 Stimmen seinem gebliebenen Revolution von 1918 und damit auch des Scheiterns von 1933 anhaftete, während der um 17 Jahre jüngere Zinn eine neue unver- brauchte Generation innerhalb der SPD verkörperte. Bei der Entscheidung spielte ge- wiss auch hinein, dass Stock, ob- wohl er ein nüchtern analysierender Realpolitiker war, nicht immer das richtige Gespür für Stimmungen besaß. In seiner Partei war er nicht unumstritten, auch nicht in der Führungsetage. Als un- bedingter Verteidiger der Großen Koalition vermochte er es nicht, die wachsende Unzufriedenheit in den eigenen Reihen über das Bünd- nis mit der CDU zu entkräften und die innerparteilichen Kritiker für eine Politik des Ausgleichs mit dem Regierungspartner zu gewinnen. Er unterschätzte dabei die Zwänge der Parteiräson. Ihm fehlte eine Portion Skrupel, um seine hervorgehobene Stellung Christian Stock an der Wahlurne 1950. auch voll auszunutzen. Er besaß

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 23 Christian Stock und sein Nach- folger Georg August Zinn im Januar 1951. nicht den unbedingten Machtwillen, gesetzt hätte. Er aber blieb im Parla- den ein Politiker benötigt, um ein- ment, vertauschte den Minister- mal gewonnenes Terrain zu be- präsidentensessel mit dem Abge- haupten. Doch freiwillig auf das ordnetenstuhl. Im November 1954 Amt zu verzichten, wie ihm im Vor- wurde er erneut in den Landtag ge- feld wohl geraten worden war, wählt, gab aber schon einen Monat hatte Stock abgelehnt. Als Partei- später sein Mandat zurück. Er trat soldat, der er immer war, fügte er als 70-jähriger von der politischen sich schließlich dem Votum der Bühne ab. An der Bergstraße ver- hessischen SPD und verzichtete auf brachte er mit seiner zweiten Frau öffentliche Entrüstung über seine Anni, die er 1947 geheiratet hatte, Ausbootung. seinen Lebensabend, der mit zahl- Nach der bittersten politischen Er- reichen ehrenamtlichen Funktionen fahrung zog sich Stock nur vorüber- ausgefüllt war. Es ist symbolisch gehend zurück. Seine Enttäuschung für seinen Lebensweg, seinen un- war verständlich, verständlich bedingten Einsatz für die Belange wäre es aber auch gewesen, wenn der Benachteiligten und die Besser- er jetzt, nach einem halben Jahr- stellung der Arbeiterschaft, dass hundert in Diensten der Arbeiter- er kurz vor seinem Tod noch die bewegung, nach der persönlich „Christian und Anni Stock-Stiftung“ schmerzlichsten Niederlage seinen ins Leben rief, die mittels eines Abschied von der aktiven Politik Stipendiums Kindern des Schul- genommen und sich in seinem dorfes Bergstraße den weiter- neuen Heimatort Seeheim zur Ruhe führenden Schulbesuch ermög-

24 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) Christian Stock mit seiner zweiten Ehefrau Anni 1950. lichen sollte. Das war ihm einst und Grundsatztreue, ein „unauf- wegen der Verhältnisse im Eltern- hörliches politisches und soziales haus verwehrt geblieben. Am 13. Engagement“, „behutsames Urteil“, April 1967 starb Christian Stock im „Vertrauen und Autorität“ und Alter von 82 Jahren. „politisches Gespür“. Er wurde Stock hat dem Land Hessen gewiss da zuweilen als „kompromiss- loser sozialistischer Premier“ be- nicht den Stempel aufgedrückt wie 30 sein Nachfolger Georg August Zinn schrieben. Kultusminister Stein macht eine Beharrlichkeit fest, die in seinen fast 20 Jahren als Minister- 31 präsident. Vier Jahre Regierung an „Starrköpfi gkeit“ grenze. Der waren zu kurz, um ein klares Profi l amerikanische Militärgouverneur zu gewinnen. Stocks Zeit an der Lucius D. Clay charakterisiert ihn in Spitze des Landes war viel zu sehr seinen Erinnerungen als „Selfmade- geprägt von ungeheuren Folgen man, der vermutlich nicht über das des Krieges und den Erforder- Bildungsniveau seiner Kollegen ver- fügte, aber ein Mann aus dem Volke nissen des politischen, wirtschaft- 32 lichen und sozialen Wiederaufbaus. war, der dachte wie das Volk“. Der zupackende Allroundpolitiker Seiner Herkunft blieb der Arbeiter- war da verlangt. Dem kam Stock sohn verpfl ichtet; er war sich ihrer sehr nahe. Er vollführte seine Arbeit immer bewusst. eher still und bescheiden, immer Er war und blieb der pragmatische die Realisierungschancen von Reformpolitiker; er war kein Politik auslotend. Zeitgenossen Visionär, kein Mann der großen bescheinigen ihm Beständigkeit Geste, kein Politiker, der Aufsehen

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 25 zu erheischen suchte. Ihm fehlte zu- lasten des Krieges noch Jahre dem das Charisma, um zu einem all- drückten und das Land von der seits verehrten „Landesvater“ zu Normalität noch weit entfernt war. werden. Ein Volkstribun, der die Trotz der Inanspruchnahme durch Massen begeistern und in den Bann die alltäglichen Nöte und Probleme ziehen konnte, war er nicht. Ihm im zerstörten Land wurde in Stocks fehlte die große, über die Partei- Regierungszeit der Grundstein für grenzen hinwegreichende Populari- ein stabiles und soziales Hessen ge- tät im Land. Und es entsprach nicht legt, auf dem sein Nachfolger auf- seinem Charakter, sich am Lebens- bauen konnte. Und das ist allemal ende in Memoiren ein Denkmal zu Grund genug, an Christian Stock, setzen und seinen eigenen Anteil der im Jahr vor seinem Tod noch an der Geschichte zu überhöhen, mit der höchsten Auszeichnung um damit über die aktive Zeit im des Landes Hessen, der Wilhelm- politischen Rampenlicht hinaus Leuschner-Medaille, für seine noch im Gespräch zu bleiben. Das politische Lebensleistung geehrt war nicht sein Stil. wurde, als einen Mann der Arbeiter- Zum Zeitpunkt der Amtsübergabe bewegung, als versierten Sozial- an Georg August Zinn war die un- politiker und ersten demokratischen mittelbare Not in Hessen über- Ministerpräsidenten Hessens zu er- wunden, wenngleich die Folge- innern.

26 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) Anmerkungen

1 „Der Spiegel“ vom 4. Januar 1947, S. 4. 19 Auf dem Bezirksparteitag der SPD 2 Zitat von 1965 bei Mühlhausen, Heidel- Hessen-Süd am 29. Oktober 1949; zitiert berger Arbeitersekretär, S. 17. bei Mühlhausen, Neubeginn, S. 68. 3 Eigenhändiger Lebenslauf Stocks vom 20 Rede in: Von Weimar nach Wiesbaden, S. 181. Oktober 1945; zitiert ebd., S. 17. 21 Ebd., S. 122. 4 Zitiert ebd., S. 17. 22 Mühlhausen, Geiler und Stock, S. 105. 5 Ebd., S. 17. 23 Vor dem Landtag am 22. September 6 So Stock in einem Brief von 1936; zitiert 1948; Mühlhausen, Hessen 1945–1950, ebd., S. 18. S. 385. 7 Stock in einem Brief 1933; ebd., S. 30. 24 Stock in einer Schrift zur Flüchtlings- frage, zitiert bei Kropat, Stunde Null, 8 In einer Rede 1965; ebd., S. 34. S. 217. 9 Ebd., S. 35. 25 Am 25. Mai 1947; Von Weimar nach 10 Manuskript Stocks von 1929; zitiert bei Wiesbaden, S. 160. Mühlhausen, Heidelberger Arbeiter- 26 Ebd. S. 147; zu diesem Abschnitt vgl. sekretär, S. 38. Mühlhausen, Geiler und Stock, S. 122 ff.; 11 Ebd., S. 41. Mühlhausen, Pfeiler, passim. 12 Zitat bei Schmidt, Biographie, S. 71. 27 Mühlhausen, Geiler und Stock, S. 123. 13 Von Weimar nach Wiesbaden, S. 107: 28 Ebd., S. 128. Rede zum 1. Mai 1946. 29 „Hessische Nachrichten“ (Kassel) vom 14 Mühlhausen, Geiler und Stock, S. 90. 10. Mai 1949; zitiert ebd., S. 130. 15 Stein, Stock, S. 287. 30 Urteile im Einzelnen nachgewiesen bei 16 Rede u.a. in: Von Weimar nach Wies- Mühlhausen, Geiler und Stock, S. 106. baden, Zitat S. 120. 31 Stein, Stock, S. 282. 17 Ebd., S. 174: Rede vom 25. Juni 1947. 32 Lucius D. Clay: Entscheidung in Deutsch- 18 Ebd., S. 139: Rede vom 28. April 1947. land, Frankfurt a. M. 1950, S. 115.

Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) 27 28 Blickpunkt Hessen – Christian Stock (1884–1967) Ausgewählte weiterführende Literatur

KROPAT, WOLF-ARNO: Hessen in der Stunde Null 1945/1947. Politik, Wirtschaft und Bildungswesen in Dokumenten, Wiesbaden 1979 MÜHLHAUSEN, WALTER: Hessen 1945–1950. Zur politischen Geschichte eines Landes in der Besatzungszeit, Frankfurt a. M. 1985 MÜHLHAUSEN, WALTER: „... die Länder zu Pfeilern machen ...“. Hessens Weg in die Bundesrepublik Deutschland 1945–1949, Wiesbaden 1989 MÜHLHAUSEN, WALTER: Christian Stock 1884–1967, in: Walter Mühlhausen/Cornelia Regin (Hrsg.): Treuhänder des deutschen Volkes. Die Ministerpräsidenten in den westlichen Besatzungszonen nach den ersten freien Landtagswahlen. Politische Porträts, Melsungen 1991, S. 207–229 MÜHLHAUSEN, WALTER: Der vergessene Ministerpräsident – Christian Stock 1884–1967, in: Republik, Diktatur und Wiederaufbau. Hessische Persönlichkeiten des 20. Jahr- hunderts. Hrsg. von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Wiesbaden 1995, S. 66–77 MÜHLHAUSEN, WALTER: Christian Stock 1910–1932. Vom Heidelberger Arbeitersekretär zum hessischen Ministerpräsidenten, Heidelberg 1996 MÜHLHAUSEN, WALTER: Karl Geiler und Christian Stock. Hessische Ministerpräsidenten im Wiederaufbau, Marburg 1999 MÜHLHAUSEN, WALTER: Demokratischer Neubeginn in Hessen 1945–1949. Lehren aus der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft, Wiesbaden 2005 (Reihe „Polis“, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Nr. 43) MÜHLHAUSEN, WALTER. Der politische Widerstand gegen Hitler – Träger des demokra- tischen Neubeginns in Hessen, in: Renate Knigge-Tesche (Hrsg.): Politischer Wider- stand gegen die NS-Diktatur in Hessen. Ausgewählte Aspekte, Wiesbaden 2007, S. 69–90 (Reihe „Polis“, Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Nr. 46) SCHMIDT, FRANK: Christian Stock (1884–1967). Eine Biographie, Darmstadt/Marburg 1997 SCHMIDT, FRANK: Christian Stock (1884–1967), in: Bernd Heidenreich/Walter Mühlhausen (Hrsg.): Einheit und Freiheit. Hessische Persönlichkeiten und der Weg zur Bundes- republik Deutschland, Wiesbaden 2000, S. 229–244 STEIN, ERWIN: Christian Stock 1884–1967 – Gestalt und Leistung, in: Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde, Neue Folge 42 (1984), S. 281–291 Von Weimar nach Wiesbaden. Reden und Schriften von Christian Stock (1884–1967). Bearbeitet von Armin Hildebrandt, Darmstadt 1984

Bildnachweis

Hessisches Staatsarchiv Darmstadt: Umschlag (R4 33807-0002), S. 3 (R4 33807-0166A), S. 4 (R4 18014), S. 14 (R4 14095), S. 15 (R4 30668), S. 21 (R4 18476), S. 23 (R4 33807-0005A), S. 24 (R4 14113), S. 25 (R4 33807-0129A), S. 26 (R4 33807-0203A ), S. 28 (R4 05701) Archiv des Hessischen Landtags: S. 12 Archiv der sozialen Demokratie, Bonn: S. 9, S. 13, S. 17 Bundesarchiv Koblenz: S. 20 (Bild_183-H26569) Baugenossenschaft Neu Heidelberg, Heidelberg: S. 6 Blickpunkt Hessen In dieser Reihe werden gesellschaftspolitische Themen als Kurzinformationen aufgegriffen. Zur Themen palette gehören Portraits bedeutender hessischer Persönlichkeiten, hessische Geschichte sowie die Entwicklung von Politik und Kultur. Hrsg.: Angelika Röming. Bisher sind erschienen: Blickpunkt Hessen 1: Erwin Stein – Mitgestalter des neuen Bundeslandes Hessen Blickpunkt Hessen 2: Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach 1945 Blickpunkt Hessen 3: Carl Ulrich – Vom sozialdemokratischen Parteiführer zum hessischen Staats- präsidenten Blickpunkt Hessen 4: Die Gründung des Landes Hessen 1945 Blickpunkt Hessen 5: Eugen Kogon – Ein Leben für Humanismus, Freiheit und Demokratie Blickpunkt Hessen 6: Hessische Grenzmuseen: Point Alpha und Schiffl ersgrund Blickpunkt Hessen 7: Hessische Partnerregionen: Emilia-Romagna, Aquitaine, Wielkopolska, Wisconsin, Jaroslawl Blickpunkt Hessen 8: Oskar Schindler – Vater Courage Blickpunkt Hessen 9: Lokaljournalismus zwischen Weimarer Republik und NS-Zeit am Beispiel der Bensheimer Presse Blickpunkt Hessen 10: 1908: Studentinnen in hessischen Hörsälen Blickpunkt Hessen 11: Die Spielregeln der Demokratie in den hessischen Gemeinden – 200 Jahre Magistratsverfassung Blickpunkt Hessen 12: Leben und Wirken Georg Büchners und seiner Familie in Hessen Blickpunkt Hessen 13: Kleindenkmale schreiben Geschichte: Historische Grenzsteine in Hessen Blickpunkt Hessen 14: Nachhaltigkeit in Hessen – Ansätze für kommunales Handeln Blickpunkt Hessen 15: Als die Synagogen brannten – Die November-Pogrome 1938 in Hessen Blickpunkt Hessen 16: Christian Stock (1884–1967) – Arbeiterführer, Sozialpolitiker, Ministerpräsident