1 Zur Diskussion Gestellt – Marcel Reich-Ranickis Literaturkanon

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1 Zur Diskussion Gestellt – Marcel Reich-Ranickis Literaturkanon Zur Diskussion gestellt – Marcel Reich-Ranickis Literaturkanon 1 „Literatur muss Spaß machen“ Marcel Reich-Ranicki über einen neuen Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke SPIEGEL: Herr Reich-Ranicki, Sie haben für den lichkeit der Wahl gibt. Aber bei den jetzigen vo- SPIEGEL Ihren persönlichen literarischen Kanon luminösen Listen sind alle überfordert - die Lehrer zusammengestellt, die Summe Ihrer Erfahrung als ebenso wie die Schüler. Diese Richtlinien und Literaturkritiker - für Schüler, Studenten, Lehrer Lehrpläne zeugen vor allem von einem: von Welt- und darüber hinaus für alle die an der Literatur fremdheit. interessiert sind. Gibt es überhaupt einen Bedarf SPIEGEL: Nennen Sie ein Beispiel. für eine solche Liste literarischer Pflichtlektüre? Reich-Ranicki: Der Bildungsplan für die Gymna- Reich-Ranicki: Ein Kanon ist nicht etwa ein Ge- sien in Baden-Württemberg ist von erschrecken- setzbuch, sondern eine Liste empfehlenswerter, der Vollständigkeit: Aus der Epoche nach 1945 wichtiger, exemplarischer und wenn es um die werden ganz einfach - jedenfalls entsteht dieser Schule geht, für den Unterricht besonders geeig- Eindruck - alle Autoren empfohlen, die in dieser neter Werke. Die Frage, ob wir einen solchen Ka- Zeit publiziert haben, einschließlich des mittler- talog benötigen, ist mir unverständlich, denn der weile zum Glück vergessenen Gerd Gaiser. Nichts Verzicht auf einen Kanon würde den Rückfall in gegen Ruth Rehmann oder Reinhold Schneider die Barbarei bedeuten. Ein Streit darüber, wie der oder Erich Loest: Aber ich erlaube mir die Kanon aussehen sollte, kann dagegen sehr nütz- schüchterne Frage, ob sie wirklich zum Kanon für lich sein. den Gymnasialunterricht gehören sollten. Das SPIEGEL: Wie lange kann ein solcher Kanon Gül- Kultusministerium von Sachsen-Anhalt nennt in tigkeit haben? Der Geschmack ändert sich doch - seinem "Lektüre- und Medienangebot" für den von Individuum zu Individuum, von Epoche zu Deutschunterricht an Gymnasien und Fachgym- Epoche. nasien Irina Liebmann und Jens Sparschuh und Reich-Ranicki: Jeder Kanon ist ein Produkt seiner den ehrenwerten Erich Loest - und wiederum Epoche und vom persönlichen Geschmack ge- Gerd Gaiser. Im Lehrplan für die gymnasiale O- färbt. Wie er in 20 oder 30 Jahren aussehen wird, berstufe in der Freien und Hansestadt Hamburg interessiert mich überhaupt nicht. Sicher ist: an- finden sich - doch etwas überraschend - die Auto- ders als heute. rinnen Karin Struck und Elisabeth Plessen. Auf SPIEGEL: Leben wir nicht längst in einer Epoche einer in Rheinland-Pfalz gültigen Lektüreliste der totalen Beliebigkeit? sehen wir nicht ohne Verwunderung die Autoren Reich-Ranicki: Wenn das zutrifft, dann ist ein Innerhofer und Woelk, Peter Schneider, Leonie Kanon erst recht notwendig, In der Sehnsucht Ossowski und auch die liebe Elke Heidenreich. nach einem Kanon verbirgt sich die Angst vieler Bemerkenswert der Lehrplan des Sächsischen Zeitgenossen, überinformiert und dennoch unwis- Staatsministeriums für Kultus: Da werden auch send zu sein, und daraus ergibt sich die Sehnsucht "Texte der Unterhaltungsliteratur von Konsalik bis nach einer Ordnung. Gerade wer fürchtet, in der Simmel" empfohlen. Auf irgendeinem dieser Ver- unentwegt wachsenden Bücherflut zu ertrinken, zeichnisse habe ich Ephraim Kishon gefunden. wird für einen Kanon dankbar sein. SPIEGEL: Unterhaltend braucht demnach der SPIEGEL: Haben Sie sich mit den aktuellen Lehr- Deutschunterricht nicht zu sein? plänen vertraut gemacht? Reich-Ranicki: Im Gegenteil: Gerade der Reich-Ranicki: Die von den Ministerien der ein- Deutschunterricht sollte unbedingt unterhaltend zelnen Bundesländer verfassten Rahmenrichtli- sein. Nur kommt es darauf an - und das ist durch- nien und Lehrpläne für den Deutschunterricht an aus möglich -, die Schüler nicht mit minderwerti- den Gymnasien haben einen generellen Fehler: Sie ger, sondern mit guter Literatur zu unterhalten. sind zu reichhaltig. Es handelt sich um lange, all- SPIEGEL: Was soll denn die Schule bei der Ver- zu lange Listen. Bisweilen hat man sogar den Ein- mittlung von Literatur leisten? druck, dass irgendjemand die Namen nacheinan- Reich-Ranicki: Die Aufgabe des Deutschunter- der aus einer Literaturgeschichte abgeschrieben richts besteht nicht nur darin, den Schülern be- hat. Ich bin dafür, dass man dem Lehrer die Mög- stimmte literarische Texte zu vermitteln. Wichti- 2 ger ist es, dass die Schüler etwas lernen, was sich Bibelübersetzung, beispielsweise "Amnons durchaus erlernen lässt, nämlich: Wie sollte man Schandtat an Absaloms Schwester" aus dem ein Gedicht oder eine Novelle lesen und verste- zweiten Buch Samuel. hen? Es ist eine Banalität, aber vielleicht sollte SPIEGEL: Warum gerade diese Geschichte? man doch darauf hinweisen: Wer gelernt hat, ein Reich-Ranicki: Weil sie beweist, wie modern das Gedicht von Eichendorff zu begreifen oder gar zu Alte Testament bisweilen ist, hier gibt es Stellen, lieben, der wird auch mit Gedichten von Mörike die von Strindberg oder Hemingway hätten oder Rilke zu Rande kommen. Der Schüler soll stammen können. lernen, was eine Ballade ist und was eine Meta- SPIEGEL: Was wollen Sie mit der Barockdichtung pher, was die Begriffe Romantik oder Naturalis- machen? mus bedeuten. Er soll erfahren, warum ein be- Reich-Ranicki: Wir müssen uns auf drei geniale stimmtes Gedicht von Goethe oder Heine, das von Autoren -beschränken - auf Hofmann von Hof- allen für schön gehalten wird, tatsächlich schön mannswaldau und Gryphius und als Übergang ist. Aber das Allerwichtigste kommt erst jetzt, zur Sturm-und-Drang-Zeit Johann Christian SPIEGEL: Wir sind gespannt. Günther. Mit der Literatur des 18. Jahrhunderts Reich-Ranicki: Dem Schüler soll gezeigt und be- sollte man in der Schule besonders streng verfah- wiesen werden, welche Aufgabe Literatur vor ren, also keine Lyrik von Lessing oder Klopstock, allem hat: Sie soll den Menschen Freude, Vergnü- keine Prosa von Wieland oder Herder. Das muss gen und Spaß bereiten und sogar Glück. man den Studenten der Germanistik überlassen. SPIEGEL: Ist das machbar? SPIEGEL: Warum wollen Sie den Schülern einen Reich-Ranicki: Aber sicher. Freilich hängt es vom genialen Dichter wie Klopstock vorenthalten? pädagogischen Geschick des Lehrers ab und von Reich-Ranicki: Weil wir Zeit und Platz brauchen der richtigen Auswahl der zu behandelnden Wer- für noch Wichtigeres und Bedeutenderes - für ke. Goethe und Schiller, für Kleist, Hölderlin und die SPIEGEL: Manches von Kishon oder der Heiden- Romantiker. reich ist doch durchaus vergnüglich. SPIEGEL: Von Lessing bleibt nichts im Kanon? Reich-Ranicki: Lassen Sie die Scherze, denn Sie Reich-Ranicki: O doch: "Nathan der Weise" und zwingen mich, Sie zu belehren, dass Fontane noch „Minna von Barnhelm“ und mindestens ein Aus- unterhaltsamer ist als die Heidenreich und Joseph zug aus der „Hamburgischen Dramaturgie“ - am Roth besser als Kishon! besten das letzte Stück. SPIEGEL: Also wie wollen Sie Ihre hehren Ziele SPIEGEL: Und der gewaltige Goethe - was sollte erreichen? Mit einem entsprechend ergänzten und davon in den Unterricht gelangen? aktualisierten Kanon? Reich-Ranicki: Da muss man rigoros und konse- Reich-Ranicki: Umgekehrt - zunächst mit einem quent sein. Man muss Zeit haben vor allem für entsprechend gekürzten, mit einem rigoros zu- „Faust I“ und für die Lyrik aus den verschiedenen sammengestrichenen Lektüreplan. Er muss be- Zeitabschnitten, insgesamt nicht weniger als 20 bis rücksichtigen, dass dem Lehrer oft für Deutsch 30 Gedichte. Ferner sollte man auch den "Werther" nicht mehr als drei Unterrichtsstunden in der Wo- gründlich behandeln und Auszüge aus "Dichtung che zur Verfügung stehen und dass die Schüler und Wahrheit". Ob man die heutigen Schüler für für die Lektüre heute erheblich weniger Zeit ha- den "Tasso" oder ein so herrliches Stück wie die ben als vor 30 oder gar 5o Jahren. Umfangreiche "Iphigenie" begeistern kann, weiß ich nicht. Ne- Werke, längere Romane vor allem, muss man, wie benbei: Es ist das erste deutsche Rundfunk- schmerzhaft es auch sein mag, weglassen, "Die Hörspiel. Wahlverwandtschaften" oder den "Zauberberg" SPIEGEL: Goethe und der Rundfunk - vielleicht etwa. bringen Sie hier was durcheinander? SPIEGEL: Sind diese Romane nicht gut genug? Reich-Ranicki: Durchaus nicht. Hier haben wir es Reich-Ranicki: Ich kenne keine besseren. Aber sie mit einem Werk zu tun, in dem es nur auf das sind für Schüler zu schwierig und zu anspruchs- Akustische ankommt. voll. Auch auf den "Grünen Heinrich", den „Jo- SPIEGEL: Und ist das alles von Goethe? seph“-Roman und erst recht auf den „Mann ohne Reich-Ranicki: Genügt Ihnen das nicht? Da hilft Eigenschatten“ muss man verzichten. Im Vorder- nun nichts: Wenn man das Zentrale bei Goethe grund sollten Gedichte, Dramen und kurze Ro- ordentlich „durchnehmen“ will, muss man auf mane, besser noch: Erzählungen, stehen. „Egmont“ und „Götz von Berlichingen“ ebenso SPIEGEL: Wie stellen Sie sich die Literatur des verzichten wie auf „Stella“ und „Clavigo“, von Mittelalters in der Schule vor? „Hermann und Dorothea“ ganz zu schweigen. Reich-Ranicki: Zwei - nicht zu lange - Auszüge SPIEGEL: Glauben Sie, dass Schillers Dramen, die aus dem „Nibelungenlied“ müssen sein. Das Al- Sie wohl nicht ignorieren wollen, junge Menschen lerwichtigste aus dem deutschen Mittelalter ist, noch interessieren? glaube ich, die Lyrik Walthers von der Vogelwei- Reich-Ranicki: Mit Sicherheit. Nur muss man de, von ihm sollte man mindestens fünf Gedichte seine Stücke aus heutiger Sicht erklären. Bei den behandeln. Aus der Epoche des Minnesangs emp- „Räubern“ bietet sich
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