Veranstaltungen des Sächsischen Landtags Heft 71 FESTAKT

zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 Nationalhymne

Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland! Danach lasst uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand: Blüh’ im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland! FESTAKT zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 im Plenarsaal des Sächsischen Landtags

Festredner: Arnold Vaatz, DDR-Bürgerrechtler und Mitglied des Deutschen Bundestages

Es musizierte das Streichquartett Crazy Harmony – Rahel Weiler (Violine), Amira Kamil (Violine), Elisa Olbrich (Viola) und Diana Moldovan (Violoncello). Inhalt

Begrüßungsrede

Impressum: »Friedliche Revolution und parlamentarische Demokratie Herausgeber: Sächsischer Landtag als zivilisatorische Leistungen« Verfassungsorgan des Freistaates Sachsen Stabsstelle Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Präsident des Sächsischen Landtags, Protokoll und Besucherdienst Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 Dr. Matthias Rößler ...... 6 01067 Dresden

Der Freistaat Sachsen wird in Angelegenheiten Ansprache des Sächsischen Landtags durch den Präsidenten Dr. Matthias Rößler vertreten. »Wir leben heute im besten Deutschland, was wir je hatten« Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Tel. 0351 493-50 [email protected] ...... 12 www.landtag.sachsen.de twitter.com/sax_lt instagram.com/sachsen_landtag Vorstellung des Festredners V.i.S.d.P.: Ivo Klatte, Sächsischer Landtag, Arnold Vaatz ...... 20 Anschrift s. o.

Redaktion: Dr. Thomas Schubert, Tabea Buckard, Festrede Sächsischer Landtag, Anschrift s. o. »Die Deutsche Einheit war keineswegs eine zwingende Folge Fotos: Stephan Floss, www.stephanfloss.com; Arnold Vaatz im Porträt: unserer Herbstrevolution« Jan Kopetzky, www.jankopetzky.de DDR-Bürgerrechtler und Mitglied des Deutschen Bundestages, Gestaltung, Satz: Ö GRAFIK agentur für marketing und design, Arnold Vaatz ...... 22 www.oe-grafik.de

Druck: Sächsischer Landtag, Anschrift s. o.

Diese Publikation wird vom Sächsischen Landtag im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Sie ist kostenfrei erhältlich. Eine Verwendung für die eigene Öffentlichkeitsarbeit von Parteien, Fraktionen, Mandatsträgern oder zum Zwecke der Wahlwerbung ist – ebenso wie die entgeltliche Weitergabe – unzulässig.

| 4 | | 5 | »Friedliche Revolution und parlamentarische Demokratie als zivilisatorische Leistungen«

Begrüßungsrede des Präsidenten des Sächsischen Landtags, Dr. Matthias Rößler

Liebe Bürgerinnen und Bürger, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Präsident des Verfassungsgerichtshofes, lieber Arnold Vaatz, verehrte Abgeordnete, Staatsministerinnen und Staatsminister sowie Repräsentanten und Mitglieder der Verfassungsorgane und des Konsularischen Corps, meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich freue mich, dass Sie meiner Einladung zur Feierstunde des Sächsischen Landtags aus Anlass des 30. Tages der Deutschen Einheit und des 30. Ju­ biläums der Wiederbegründung des Freistaates Sachsen gefolgt sind und begrüße Sie ganz herzlich hier im Plenarsaal unseres Parlaments. Heute vor 30 Jahren wurde die gespaltene deutsche Nation unter dem Zutun vieler in Ost und West friedlich wiedervereint. Das Jahr 2020 ist für uns ein besonderes Jubiläumsjahr – in Deutschland wie in Europa. Der »Eiserne Vorhang« hob sich 1990 europaweit, Länder und Völker errangen friedlich ihre Freiheit, ein unverhoffter, aber guter Zeitenbruch durchzog unseren Kontinent. Wir Deutschen fanden uns als freies Land in der Mitte Europas wieder, umgeben von befreundeten Staaten, ausgestattet mit einer großen, vielleicht sogar mit einer einmaligen historischen Chance. Wir können, so sagte es uns Ulrich Wickert hier im letzten Jahr, »stolz sein auf einen Tag, der in der deutschen Identität an eine Friedliche Revolution erinnert und daran, dass das Volk die Freiheit erkämpft hat«. Der 3. Oktober 1990 ist unser aller Tag der Deutschen Einheit. Er ist aber auch ein historisches Datum für den Freistaat Sachsen. An diesem

| 6 | Begrüßungsrede des Landtagspräsidenten Tag wurde das Land Sachsen auf der Albrechtsburg zu Meißen wieder- gegründet, der Wiege des sächsischen Staates. Zwar endete in der DDR erneut die jahrhundertealte Tradition sächsischer Staatlichkeit unter der Knute einer Diktatur. Was aber nicht gebrochen werden konnte, das war eine tief verwurzelte sächsische Identität, das war eine lange säch- sische Geschichte. Es ist aus heutiger Sicht somit nicht verwunderlich, damals war es ganz und gar verwegen, dass nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. Novem- ber 1989 alsbald Rufe nach einer Wiedererrichtung des Landes Sachsen laut wurden. Neben der Freiheit war 1989/1990 die Länderneubildung eine entscheidende Errungenschaft. Wir kehrten zur historischen Normalität sächsischer Staatlichkeit zurück.

Begrüßungsrede des Landtagspräsidenten | 7 | Seien wir dankbar, dass für uns vor 30 Jahren die Geschichte so gut aus­ gegangen ist. In Belarus sehen wir heute, wie hart der friedliche Kampf für Demokratie und Freiheit sein kann. Hier müssen wir demokratische Soli­ darität zeigen, das lehrt uns die eigene Vergangenheit. Das weißrussi­sche Volk soll sehen, dass es in seiner friedlichen Revolution nicht alleinsteht.­ Vor diesem Hintergrund und weil unsere Errungenschaften des Jahres 1990 heute zu unserem großen Glück für die allermeisten eine Selbst- verständlichkeit sind, weil man in Sachsen gut lebt, weil man hier seine Heimat hat, weil man hier Freiheit und Stabilität genießt, ist es immer wieder geboten, auf die Anfänge zu schauen. Die Menschen in der DDR haben sich 1989 selbst aus der Diktatur befreit, sie haben die Gunst des historischen Augenblicks genutzt. In der Friedlichkeit ihres Vorgehens lag eine ungemeine zivilisatorische Leis- tung. Es war zuerst ein ziviler Ausbruch »vieler Unbekannter, zahlloser Namenloser«, dann ein politischer Aufbruch einiger Engagierter und Motivierter. In Sachsen haben die Akteure der Friedlichen Revolution maßgeblich die Landesgründung 1990 mitbestimmt und sie nicht jenen überlassen, die in den Jahren zuvor politisch wie moralisch gescheitert waren. Sachsen wurde 1990 im Geiste der Friedlichen Revolution demo- kratisch wiedererrichtet. Das ist und bleibt unsere große zivilisatorische Errungenschaft und die historische Leistung der Sachsen selbst! Das Wissen um diese Wiederentstehung des Landes Sachsen, um die Herkunft unserer politischen Selbstbestimmung muss ein fester Teil unseres historischen Erbes, unserer Erinnerungskultur sein. Was 1990 zur Wiedergründung Sachsens führte, das wurzelte in einem tiefen zivilen Bürgersinn. Er leitete das Denken und Handeln vor 30 Jahren. Er ließ damals Menschen wie den heutigen Festredner Arnold Vaatz vorwärtsdrängen. Dieser zivile Bürgersinn bewirkte den couragierten Auf­ bau der parlamentarischen Demokratie als eine für die Freiheit und ge- gen jedwede Diktatur aufgestellte Regierungsform. Von Karl Popper stammt der Satz: »Institutionen sind wie Festungen. Sie müssen nach einem guten Plan entworfen und mit einer geeigneten Mannschaft besetzt sein.« Genau darum ging es uns 1990. Das neue politische Gemeinwesen sollte nach bestem Wissen und Gewissen be- schaffen sein. Es sollte möglichst wenig von dem Alten und viel Neues haben. Die Institutionen und Verfahren der Demokratie sollten den Bürgern dienen, ihnen Freiheit und damit Wohlstand ermöglichen.

| 8 | Begrüßungsrede des Landtagspräsidenten Mit einer gehörigen Portion Demut sehe ich heute, 30 Jahre später, wie die damals geschaffene parlamentarische Demokratie diesen hehren Anspruch weithin erfüllt, wie sie gesund atmet, wie sie lebt, wie sie in Problemlagen handelt und die Zukunft im Blick hat. Nehmen Sie etwa die Corona-Krise, die so viele Menschen in ihrem Leben hart getroffen hat. Wir haben sie in Deutschland bislang unter dem Einsatz großer Kräfte gut beherrschen können – bei allen mensch- lichen Irrtümern in so einer Situation. Eben weil unsere Wirtschaft stark, unser Sozialsystem belastbar ist, weil wir ein leistungsfähiges Gesund- heitssystem haben, weil die politischen Institutionen ihre Arbeit tun, weil die allermeisten Menschen vernünftig und solidarisch sind. Es gibt viele Gründe, um im 30. Jahr der Einheit auf unser Land und seine Menschen stolz zu sein, die breite Solidarität in der Corona-Pandemie­ ist ein solcher Grund. Es ist eine »aufregende und vor allem aufgeregte Zeit«, wie der frühere Bundestagspräsident neulich schrieb, eine Zeit voller Streit, Kritik und Wut. Es ist aber in erster Linie eine Zeit, in der sich unsere demokratische Gesellschaft bewährt, da bin ich mir sicher. Zu Beginn dieses Jahres habe ich betont, verantwortlich handelnde Politik heißt immer positive Verantwortung den Menschen und dem Land

Begrüßungsrede des Landtagspräsidenten | 9 | gegenüber. Sie meint ebenso Zuversicht und Zukunftswille. Ich wieder- hole das, weil ich finde, dass in unserem Land zu viel von Abstieg und Niedergang geredet wird, erst recht seit Ausbruch der Corona-Krise. Wo man nur hinsieht, finden sich negative Projektionsflächen für alles Mög- liche. Meine Damen und Herren, 30 Jahre nach der Deutschen Einheit und der Wiedergründung des Freistaates Sachsen sollten wir alle miteinander mehr Zutrauen in unser Land und seine Menschen haben – erst recht, wenn es mal schwierig wird. Ein vernünftiges, ein maßvolles Herangehen zeichnet nämlich unsere parlamentarische Demokratie aus. Es geht um praktikable Wege, darum, die Realitäten zu sehen und auf sie in geordneten Verfahren und mit guten Argumenten zu reagieren. Diese Prinzipien sind in den vergange- nen Monaten gehörig auf die Probe gestellt worden. Aber sie haben, wie ich meine, diesen Test bestanden. Und selbst wenn die Bekämpfung der Pandemie gegenwärtig unseren Blick da etwas verschiebt: Wir müssen diesen verlässlichen, diesen ver­ nünftigen Weg weitergehen. Wir müssen unsere Gesellschaft offen und frei halten. Wir sollten den bestmöglichen rechtsstaatlichen Rahmen dafür setzen, dass sie aus sich heraus vorankommt, wir sollten Eigen- verantwortung schützen, das historisch Gewachsene achten. Das ist der Schlüssel für Wohlstand und Stabilität in unserem Land. Neue Blüten- träume von einem großen Umbau unserer Gesellschaft sind es nicht. Sie gefährden die Errungenschaften vergangener Jahre. Meine Damen und Herren, die Wirkmacht der Ereignisse 1989/1990 droht im grellen Licht der Gegenwart zu verblassen. Dagegen hilft die authentische Erinnerung. Sie macht Geschichte erlebbar. Im 30. Jubiläumsjahr der Wiedergründung des Freistaates Sachsen spricht aus diesem Grund mit Arnold Vaatz ein Zeitzeuge zu uns. Einer, der nicht nur ein sächsischer Vorkämpfer der Friedlichen Revolution 1989 war, sondern vor allem ein wichtiger politischer Gestalter der Wieder- gründung unseres Landes. Als einer der Ersten erhielt Arnold Vaatz 1997 die Sächsische Verfassungsmedaille zum Zeichen der Würdigung seiner Verdienste um die freiheitliche demokratische Entwicklung im Freistaat Sachsen. Der studierte Mathematiker und Theologe verurteilte frühzeitig das autokratische DDR-System, kämpfte für die Freiheit. Er wurde in der

| 10 | Begrüßungsrede des Landtagspräsidenten SED-Diktatur auch wegen seines Engagements in der christlichen Jugend­ arbeit politisch verfolgt. Ein halbes Jahr verbrachte er als politischer Häftling unter schlimmsten Bedingungen. Im Oktober 1989 trat er dem Neuen Forum bei, arbeitete in der Dresdner Gruppe der 20 mit, ging Anfang 1990 in die CDU, um politischen Ein- fluss auf den Umbruch zu nehmen und die Bildung des Landes Sachsen voranzutreiben. Das tat er als Leiter des Koordinierungsausschusses zur Gründung des Landes Sachsen. Arnold Vaatz blieb danach in der Politik. In den Jahren 1990 bis 1998 gestaltete er als sächsischer Staatsminister das Land mit. Seit 1998 ge­ hört er dem Deutschen an, wo er stets gegen das DDR-Unrecht und für die Rechte der Ostdeutschen stritt. Zweifelsohne ist Arnold Vaatz streitbar, hat eine klare Meinung, ist seit jeher ein freier Denker in unserer offenen und so wunderbar pluralen Gesellschaft. Das behagt nicht allen, lässt aber keine Zweifel an seiner zutiefst demokratischen Haltung zu. Ich bedauere es daher ganz offen, dass Teile dieses Parlaments am heutigen 30. Jahrestag der Wiedergründung des Freistaates Sachsen dem Festakt in unserem Haus der Demokratie nicht beiwohnen. Trotz alledem: Im Namen aller Anwesenden, lieber Arnold Vaatz, herz- lich willkommen im Sächsischen Landtag! Meine Damen und Herren, 30 Jahre sind seit der Wiedergründung un­ se­res Freistaates vergangen, seit drei Jahrzehnten ist unsere Nation wieder vereint. Wir alle sollten uns am heutigen Tage klarmachen, welches unbeschreibliche Glück uns Deutschen im Wunderjahr 1990 zuteilwurde, auch weil wir es annahmen und gestalteten. Und genau so sollten wir es weiter halten! Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und bitte unseren Minister- präsidenten Michael Kretschmer um das Wort. Vielen Dank.

Begrüßungsrede des Landtagspräsidenten | 11 | »Wir leben heute im besten Deutschland, was wir je hatten«

Ansprache des Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Michael Kretschmer

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident! Liebe Ehrengäste! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident des Landesverfassungsgerichts! Liebe Ingrid und lieber Kurt Biedenkopf! Liebe Kollegen aus dem Landtag, dem Bundestag, aus dem Kabinett! Herr Landesbischof!

Es ist vermutlich der glücklichste Tag der deutschen Geschichte. Dieser 3. Oktober 1990, mit dem wir wiedervereint sind, mit dem der Zweite Weltkrieg ein endgültiges Ende und die Nachkriegszeit ein Ende findet, mit dem Europa in einen neuen Frieden kommt und wir dieses große Wunder der Deutschen Einheit erleben können. Wenn man über Ge- schichte und über Erinnerungen spricht, dann ist das nie objektiv. Es muss subjektiv sein – jeder hat eine unterschiedliche Erinnerung. Und wenn Politik mit ins Spiel kommt, dann ist Geschichte auch ganz schnell politisch. Dann wird interpretiert, dann wird nicht nur die Ver- gangenheit beleuchtet, sondern die Vergangenheit wird dann in den aktuellen Kontext gerückt. Deswegen sind solche Tage wie der heutige so wichtig. Das gilt auch für so einen Festakt, an dem wir die Dinge noch einmal so aussprechen, wie wir sie gesehen haben, und zu dem jetzt schon über einen langen Zeitraum hinweg verschiedene Persönlichkeiten die Chance hatten, hier eine Rede zu halten und damit Anregungen für die aktuelle Debatte zu geben. In Sachsen ist es uns wichtig, dass wir im- mer wieder sagen: Die DDR war ein Unrechtsstaat und wir ehemaligen DDR-Bürger wollten sie beenden. Wir wollten den Beitritt zur Bundes­

| 12 | Ansprache des Ministerpräsidenten republik Deutschland und wir wollten das Grundgesetz. Wir sind nicht irgendwie übernommen worden. Nein, wir wissen: Wir hier im Osten, wir hier in Sachsen sind die eigentlichen Gewinner der Deutschen Einheit. Es gibt ganz klar unterschiedliche politische Haltungen, die am Ende auch den Blick auf dieses Ereignis, auf das, was davor und was in den vergangenen 30 Jahren passiert ist, beleuchten. Aber wir hier wissen, dass die Planwirtschaft, dass der Sozialismus zu Unrecht führt. Wir ha- ben in diesen vergangenen 30 Jahren erlebt, dass Freiheit, Demokratie und soziale Marktwirtschaft das bessere Konzept sind, dass wir die Schäden der DDR, die durch Unfreiheit entstanden sind, aufgearbeitet haben. Und deswegen wollen wir keine weiteren sozialistischen Experi- mente. Wir stehen für Freiheit, für Demokratie, für die soziale Marktwirt- schaft, meine Damen und Herren! Und wir wissen auch, dass es die Treuhand nur brauchte, weil der SED-Staat in den 40 Jahren zuvor unsere Betriebe, mit ihren fleißigen Frauen und Männern, zugrunde gerichtet hat. Auch das ist eine historische Wahrheit. Und jetzt hat der Landtagspräsident Arnold Vaatz eingeladen. Ein Mann, der in der DDR im Gefängnis gesessen hat. Der 1989/1990 mit vielen, die heute gekommen sind, mutig Verantwortung übernommen

Ansprache des Ministerpräsidenten | 13 | hat. Der als erster Chef der Staatskanzlei und später als Umweltminister auch in Sachsen die Schäden der DDR mit beseitigt hat. Die Elbe war ein toter, stinkender Fluss. Wir hatten viele Umweltsünden. Im Deutschen Bundestag hat er Verantwortung übernommen und er ist mittlerweile der letzte aktive Bürgerrechtler, der noch in der Bundespolitik richtig aktiv ist. Und ich will Ihnen sagen, meine Damen und Herren, ich freue mich, dass Arnold Vaatz heute da ist. Ich wollte eigentlich in Potsdam sein und da wäre ich auch gewesen, um meinem Kollegen Dietmar Woidke beiseite zu stehen. Mit ihm haben wir viel für die Braunkohle­ regionen und für den Strukturwandel in den vergangenen Monaten gemacht, aber ich finde es unfair, wie die Sache jetzt in den letzten Wochen gelaufen ist. Und nicht nur das, was Sie und wir 1989 erkämpft haben, wofür die Menschen auf die Straße gegangen sind, das wäre vergebens. Nein, alles, was wir im Bereich der politischen Bildung jeden Tag in den Schulen versuchen zu vermitteln. Wie wir in den Sportvereinen für Demokratie, für Meinungsfreiheit, für einen vernünftigen Diskurs versuchen zu wer- ben, es wäre vergebens, wenn sich am Ende durchsetzen würde, dass wir uns nicht mehr gegenseitig zuhören. Dass wir so wenig Respekt

| 14 | Ansprache des Ministerpräsidenten voreinander haben. Dass wir uns nur noch wegdrehen und nicht mehr hingehen und demjenigen, der eine andere politische Meinung hat, einfach nicht diesen Respekt zollen, dass wir miteinander reden. Des- wegen bin ich heute hier, meine Damen und Herren. Es ist das ganze Gegenteil von dem, was ich meine, was eine Gesell- schaft lebenswert macht und was ein gutes Zusammenleben ermöglicht. Wir müssen es aushalten, dass es verschiedene Positionen gibt und wir müssen miteinander reden. Wir müssen Mann und Frau genug sein, auch die Kraft zu haben, zu argumentieren, sich miteinander auseinan- derzusetzen. Der Kollege Vaatz – und das fand ich fast schon rührend – hat mir im Vorfeld des heutigen Tages seine Rede geschickt. Und dann habe ich gedacht, jetzt wird er langsam eitel und will, dass ich seine Rede auch schon vorher lese. Dann hat er mich aber angerufen und hat gesagt: »Lies sie mal durch! Und wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist, dann musst du es mir halt sagen.« Er tat es in seiner typischen, charmant ruppigen Art. Ich habe die Rede gelesen und ich habe viele Stellen ge- funden, bei denen ich bemerkt habe, er ist mit mir nicht einverstanden und ich sehe das ganz anders als er. Aber ich habe ihn angerufen und gesagt: »Ich möchte, dass du diese Rede genauso hältst!« Wo kommen wir denn hin, wenn wir uns gegenseitig sagen, was nicht mehr zu hören ist. An jedem Gedanken in dieser Rede ist ein Punkt, über den man nachdenken kann. Mit dem man sich auseinandersetzen kann. Und nur das wird uns eine gute Zukunft bringen, wenn wir genau dieses Verhält- nis miteinander haben. Wir sind klug genug – alle miteinander –, uns eine eigene Meinung zu bilden. Die Sachsen sind klug genug, die Deut- schen dazu. Das haben sie in der Vergangenheit sehr genau gezeigt. Eine Gesellschaft, die nur in Überschriften denkt, nur Haltungen und Bekenntnisse hat, wird keine gute Zukunft haben. Jedes System ero- diert, wenn man sich nicht mehr um die Details kümmert. Deswegen freue ich mich, dass wir in den vergangenen Jahren spannende Diskus- sionen mit jungen Schülerinnen und Schülern auf den Klimakonferenzen hatten, die wir selbst und mit dem Landesschülerrat gemeinsam orga- nisiert haben. Ich hoffe, weitere folgen. Wo junge Leute Ideen haben, wie man dem Klimawandel begegnen kann, was wir gestalten können und was man auch selber tun kann. Im Bereich der Energiepolitik und in der Mobilität; für diese vielen Fragen, die vor uns stehen, braucht es

Ansprache des Ministerpräsidenten | 15 | Konzepte, braucht es junge Leute, die mit anpacken und die etwas be- wegen. Die kommenden 30 Jahre bieten die Chance, eine neue Epoche zu gestalten. Eine Epoche, die nicht nur fragt: »Was war gewesen in der DDR und während der Wiedervereinigung?«, sondern die zeigt, dass unter- schiedliches politisches Handeln, dass unterschiedliche Wege auch zu verschiedenen Ergebnissen führen. Wir haben das übrigens hier in Sachsen in den vergangenen 30 Jahren genau so gemacht und ich möchte, dass wir diesen Weg weitergehen. Wir haben in der Corona-Krise die Möglichkeiten des Föderalismus genutzt, haben uns unsere Freiheiten bewahrt und wir fahren damit – glaube ich – richtig. Wir investieren in Forschung und Entwicklung, weil wir wissen, dass dort die Zukunft her- kommt. Wir brauchen eigene Wege für die Fachkräftezuwanderung. Diese Chance haben wir. Der Föderalismus gibt sie uns und wir sollten sie mit Kraft benutzen. Die kommenden 30 Jahre werden auch im Großen die Frage beantwor- ten müssen, ob das, was in den vergangenen Jahrzehnten, ja Jahrhun- derten, das Dominierende war, die westliche Welt mit ihren Werten von Religionsfreiheit, von Toleranz, von Emanzipation sowie von Rechts- staatlichkeit und Demokratie, ob das auch in 30 Jahren noch das domi- nierende System in der Welt ist, oder ob nicht andere (Chinesen, Inder, andere Regionen der Welt) mit ihren Vorstellungen des Zusammen­ lebens eine Wirkung haben werden. Für uns gilt: Wenn wir das wollen, dann müssen wir uns dafür einsetzen. Wir wissen aus den Jahren der Wiedervereinigung, dass nur ein kluges politisches Handeln, eine Integration in Europa, in die westliche Welt, diesem Land die Chance gegeben hat, auch wieder vereint zu sein. Ja, wir brauchen die Europäische Union, ja, wir brauchen die NATO als Bündnis. Wir setzen uns hier mit ganzer Kraft dafür ein, weil wir nur gemeinsam eine Chance haben in dieser sich verändernden globalen Welt mit neuen Mächten. Und Sachsen muss ein guter Ort sein, an dem weiter Zukunft gestaltet werden kann, meine Damen und Herren. Wir sind hier im Plenarsaal des Sächsischen Landtags zusammenge- kommen, im Haus der Demokratie, wie der Landtagspräsident gesagt hat, und ich möchte Ihnen, als Abgeordnete des Landtags, des Bundestags, aber auch gleichzeitig den vielen Frauen und Männern, die in der Kom- munalpolitik ehrenamtlich zuständig sind, die sich in die Verantwortung

| 16 | Ansprache des Ministerpräsidenten nehmen lassen haben, den Bürgermeistern und Landräten, danken! Nur durch Ihr Engagement können wir diese Demokratie leben. Das ist eine große Chance und sie ist in den vergangenen 30 Jahren mannigfaltig genutzt worden. Danke für dieses Engagement, für unsere Demokratie, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir erleben allerdings auch seit einigen Jahren, hier bei jeder Land- tagssitzung, dass es eine politische Gruppierung gibt, die in ganz be- sonderer Weise spaltet. Die andere herabwürdigt, die die Eskalation vorantreibt. Meine Damen und Herren, ich frage mich wirklich ernsthaft: Warum stehen und begehren Sie nicht auf, wenn bekennende Rechts­ extremisten in der eigenen Partei – Höcke, Kalbitz, andere – ihr Unwesen treiben, nach Sachsen eingeladen werden, hier hofiert werden? Wenn es einen Schulterschluss mit einer Gruppe gibt, die vergangenen Mon- tag hier durch Dresden gelaufen ist und skandiert hat: »Ausschwitzen! Ausschwitzen!« – Was ist hier los? Es muss doch, wenn man die Biogra- fien dieser Personen liest, einzelne Frauen und Männer geben, denen das nicht egal ist. Die sagen: »So kann es doch nicht sein!« Zu unserer gemeinsamen Geschichte, zu dem, was wir in den 30 Jahren erlebt haben, gehört eben auch: Jede und jeder hat eine Verantwortung für dieses Land. Für die Demokratie, für die Art und Weise, wie wir zusammenle- ben. Und dazu gehört ein vernünftiger Umgang miteinander. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich anschauen: die Attentäter in Halle, in Christchurch, in Oslo – es ist eine Linie, die immer damit beginnt, dass andere herabgesetzt werden. Wenn Sie sich anschauen, wer auf den Pamphleten steht – Juden, Muslime, moderne Christen, emanzipierte Frauen –, dann wissen wir: Wir alle sind damit gemeint. Und wir müssen gemeinsam denen entgegentreten, die einen solchen Weg vorzeichnen! Wir leben heute im besten Deutschland, was wir je hatten. Es ist ein tolles Erlebnis, junge Leute zu sehen, die heute hier Abitur machen, die studieren, die zusammen sind und sich in keiner Weise mehr als ost- deutsch oder westdeutsch identifizieren, sondern als Sachsen, als Bayern, als Baden-Württemberger. Als Europäer, als Deutsche. Es ist uns viel gelungen und wir haben allen Grund weiterzuarbeiten. Glück auf Sachsen! Glück auf Deutschland! Vielen Dank.

Ansprache des Ministerpräsidenten | 17 | | 18 | | 19 | Vorstellung des Festredners Arnold Vaatz

Arnold Vaatz, geboren 1955 in Weida, ist ein früherer DDR-Bürgerrechtler, sächsischer Staatsminister a.D. und Mitglied des Deutschen Bundestages. Nach seinem Abitur in Greiz 1974 leistete er den 18-monatigen Grund- wehrdienst bei der NVA. Von 1976 bis 1981 studierte Arnold Vaatz an der TU Dresden Mathematik (Abschluss mit Diplom) und absolvierte zur glei­ chen Zeit ein theologisches Fernstudium. Er arbeitete nach dem Studium bis 1990 im VEB Komplette Chemie­anlagen Dresden. Wegen seines Engagements in der christlichen Jugendarbeit und seiner Freundschaft zu dissidenten Schriftstellern wie etwa Reiner Kunze beo­ bachtete ihn das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (Operativ­ vorgang »Primus«). Im Jahr 1982 verweigerte er den Reservewehrdienst bei der NVA, woraufhin er zu sechs Monaten Haft verurteilte wurde. Er verbüßte diese u. a. in der Strafvollzugseinrichtung Unterwellenborn, musste dort als politischer Häftling Zwangsarbeit verrichten. Im Oktober 1989 trat er dem Neuen Forum bei, arbeitete in der Dresdner »Gruppe der 20« mit, war später Mitglied des Runden Tisches des Bezirkes Dresden, ging Anfang 1990 in die CDU, um politischen Einfluss auf den Umbruch zu nehmen. Als Vorsitzender des Koordinierungsausschusses zur Gründung des Landes Sachsen und stellvertretender Regierungsbe- vollmächtigter für den Bezirk Dresden wirkte er maßgeblich bei der Bil- dung des Landes Sachsen mit. 1990 zog er als Mandatsträger in den 1. Sächsischen Landtag ein. Arnold Vaatz gestaltete von 1990 bis 1992 als Staatsminister in der Sächsischen Staatskanzlei sowie von 1992 bis 1998 als Staatsminister für Umwelt und Landesentwicklung den Freistaat Sachsen politisch mit. Seit 1998 gehört er dem Deutschen Bundestag an, wo er u. a. stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist. 1997 erhielt Arnold Vaatz zum Zeichen der Würdigung seiner Verdiens- te um die freiheitliche demokratische Entwicklung im Freistaat Sachsen die Sächsische Verfassungsmedaille. Er ist ferner Träger des Bundesver- dienstkreuzes 1. Klasse und des Sächsischen Verdienstordens.

| 20 | Vorstellung des Festredners Vorstellung des Festredners | 21 | »Die Deutsche Einheit war keineswegs eine zwingende Folge unserer Herbstrevolution«

Festrede des DDR-Bürgerrechtlers und Mitglieds des Deutschen Bundestages, Arnold Vaatz

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, lieber Matthias, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Michael,

ich weiß nicht, ob ich eure beiden Reden toppen kann! Ihr habt hervor- ragend gesprochen. So viel Honig ist mir lange nicht ums Maul ge- schmiert worden. Herzlichen Dank! Alles, was ihr gesagt habt, das kann ich vorbehaltlos unterschreiben. Eine Ergänzung möchte ich loswerden: Es gehört auch dazu, wenn man die Kette der Gewalttaten nennt, solche Geschichten wie beispielsweise das Attentat auf dem Breitscheid-Platz in Berlin zu erwähnen. Sonst nehmen wir nur die Hälfte dessen wahr, was hier wirklich inakzeptabel ist und bekämpft werden muss. Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Biedenkopf, liebe Frau Biedenkopf, ganz toll, dass Sie gekommen sind! An einer Stelle muss ich mich entschuldigen: Ich habe vorhin eine Reihe von Freunden aus dem Revolutionsherbst begrüßt. Und einen habe ich nicht erkannt: Das ist Frank Neubert. Der hat mich dann traurig ange- guckt und plötzlich dämmerte es mir: Herzlich willkommen, lieber Frank Neubert! Herzlich willkommen, liebe Beate Mihaly! Sie sind Männer und Frauen der ersten Stunde der »Gruppe der 20« gewesen. Ihr wart in einer sehr gefährlichen Situation und habt sehr viel dazu beigetragen, dass damals vor über 30 Jahren alles friedlich blieb. Verehrte Gäste im Saal und verehrte Gäste an den Bildschirmen, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete. Jeder, der über diese Geschich­ te nachdenkt, weiß, was uns damals in den Knochen steckte – nämlich die Erfahrungen von 1953 (DDR), 1956 (Ungarn), 1968 (Tschechoslowakei)

| 22 | Festrede von Arnold Vaatz und 1981 (Polen). Alle diese Ausbruchs­versuche an der Peripherie des sowjetischen Imperiums wurden jeweils brutal niedergeschlagen durch die russische Armee bzw. durch die eigene Armee in Polen. Diejenigen, die alt genug waren, haben alle diese Dinge erlebt. Und etliche, wie ich zum Beispiel, einige dieser Dinge. Und wer das erlebt hat, weiß, dass es kein Spaziergang sein würde, wenn wir das Gleiche versuchen wollten, woran unsere Vorgängergenerationen gescheitert sind. Sie wissen, dass alle diese Gewalttaten überhaupt nichts genutzt haben! In den 1980er-Jahren war der Westen dem Osten wirtschaftlich und technologisch uneinholbar davongeeilt. Da gelangte im Kreml Michail Gorbatschow an die Macht. Er erkannte, dass die Wege, die in diese Stagnation geführt hatten, verlassen werden mussten. Perestroika gleich Umbau und Glasnost gleich Transparenz: Das waren seine Ansage und

Festrede von Arnold Vaatz | 23 | sein Programm. Zum ersten Mal wehte jetzt der Wind der Veränderung aus dem Zentrum der Macht, aus dem Kreml selbst. Die alten Herren im Politbüro der SED reagierten trotzig: Nur, weil der Nachbar die Tapeten wechselt, müsse man nicht gleich selbst neu tape- zieren, verkündete Kurt Hager. Die Menschen in der DDR warfen darauf- hin die Tapete samt Mauer über den Haufen – in der Hoffnung, dass der nach alter sowjetischer Gewohnheit fällige Gegenschlag diesmal aus- bleibt. Und er blieb aus. Die Revolution siegte. Und nichts in der bisherigen europäischen Geschichte konnte sich mit dieser Friedlichen Revolution messen: nichts in Bezug auf die Reichweite – von Berlin bis Wladiwostok –, nichts in Bezug auf die Kultur der Besonnenheit, in der sie ablief – bei uns ohne einen einzigen Schuss –, und nichts in Bezug auf die Freiheit, in die sie mündete. Aber in Wahrheit war sie nur das friedliche Ende eines blutigen Kampfes, der 1917 begonnen hatte und – überlagert durch die noch viel schrecklicheren Hitlerjahre – Millionen Tote gekostet hat.

| 24 | Festrede von Arnold Vaatz Diese Revolution war ein Gemeinschaftswerk. Der polnische Papst hatte bei seinem ersten Besuch in der Heimat die wahren Mehrheitsverhält- nisse in Polen offenbart. Auch alle getürkten Wahlen konnten die Fern- sehbilder aus Tschenstochau nicht auslöschen. Unsere tschechischen Freunde – die Charta 77 –, unsere polnischen Freunde – die polnische Gewerkschaft Solidarność – und die tapfere Opposition innerhalb der ungarischen Staatspartei um Miklós Németh und Imre Pozsgay hatten schon am Tor zur Freiheit gerüttelt, als es bei uns noch nichts Vergleich- bares gab. Die Menschen in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn hatten es ungleich schwerer als wir. Sie hatten keinen Westteil ihres Landes, der ihnen mit enormen Summen aufhalf. Sie erkämpften die Demokratie unter Bedingungen, die im Westen Europas unvorstellbar sind. Wie bitter muss es in diesen Ländern heute aufstoßen, wenn ihnen genau aus diesem Westen ein Klima permanenter Belehrung entgegen- schlägt und ihre Wahlentscheidungen fortwährend herablassend kom- mentiert werden. Diesen Länder verdanken wir zu einem gehörigen Teil, dass wir heute einen weiteren Tag der Befreiung in unserer Geschichte

Festrede von Arnold Vaatz | 25 | feiern dürfen. Ihnen gebührt Dank. Und Dankbarkeit, meine Damen und Herren, ist sehr wohl auch eine politische Kategorie. Und als Christ sage ich: Gott sei Dank. Denn kein menschlicher Plan hätte das riesige politische Schachbrett so aufstellen können, wie es da­ mals stand. Ob ein Wladimir Putin anstelle eines Michail Gorbatschow 1989 an der Spitze der Sowjetunion hätte uns damals kampflos ziehen lassen, scheint mir jedenfalls nicht sehr wahrscheinlich. Es ist deshalb völlig richtig, dass unsere Bundeskanzlerin und unser Bundesaußenminister in ihrer Russlandpolitik eine eindeutige Haltung beziehen. Sich zu Komplizen von Putins imperialen Phantasien zu ma- chen, wäre ein Schlag ins Gesicht der Opfer von 1953, 1956 und 1968, der mehr als 13 000 getöteten Ukrainer und Georgier, der Demonstran- ten in Weißrussland und all derer, denen es unter russischen Drohge- bärden heute ähnlich ergeht wie uns vor 30 Jahren. Die Deutsche Einheit war keineswegs eine zwingende Folge unserer Herbstrevolution. Der Aufruf »Für unser Land«, unterschrieben unter anderem von Egon Krenz, Lothar de Maizière und etlichen Bürgerrechtlern, abgedruckt in fast allen DDR-Zeitungen und zur Unterschrift ausliegend in fast allen Betrieben, war eine Kampfansage an den Wunsch nach deutscher Einheit. Erst der Besuch von im Dezember 1989 in Dresden zeigte den Menschen in der DDR, wo – im Gegensatz zu dem Eindruck, den Zeitungen und Fernsehen hierzulande zu erwecken suchten – im eigenen Land die Mehrheiten standen. Im Westen Deutschlands war das mediale Klima damals überwiegend wiedervereinigungsfeindlich. Einige ZEIT-Journalisten waren 1986 durch die DDR gereist. Die SED hatte die Route organisiert. Heraus kam das Buch »Reise in ein fernes Land«. Darin ließen sie die Leser wissen, wie gut wir es doch in der DDR hätten und dass Erich Honecker von uns regelrecht verehrt würde. Als ich dieses Buch damals in die Hände bekam, empfand ich es als einen Schlag in die Magengrube. Mir fiel der berühmte Aus- spruch von Marie-Antoinette ein, wenn die Leute kein Brot hätten, dann sollten sie doch Kuchen essen. Egon Bahr nannte Ende der 1980er-Jahre allein das Reden von einer möglichen Wiedervereinigung »politische Umweltverschmutzung«. Johannes Rau gestand denn auch 1990 in der Leipziger Nikolaikirche ein: »Wir haben uns bei den Mächtigen wohlgefühlt. Wir waren nicht bei

| 26 | Festrede von Arnold Vaatz denen, die die Revolution vorbereiteten. Wir waren bei denen, die nichts ändern wollten«. Und die Grünen? Am Morgen nach der Volkskammerwahl 1990 hielt uns eine Banane entgegen. Er rückte unseren Freiheitskampf in die Nähe einer Affenfütterung. Noch im Mai 1990 demonstrierten die Grünen gegen die sich abzeichnende Wiedervereinigung mit dem Slogan »Nie wieder Deutschland!« Sie alle waren »nicht dabei«, wie Johannes Rau richtig feststellte. Sie waren verdatterte Zaungäste dieser historischen Stunden. Ich werde den Eindruck nicht los: Das Faktum, dass wir als unbedeu- tend empfundene Ossis mit unseren als vernachlässigbar erscheinen- den Meinungen dies alles in Gang gesetzt hatten, scheint die Deutsche Einheit für manch einen bewunderungsgewohnten Meinungsführer aus dem Westen zu einer einzigen narzisstischen Kränkung zu machen. Auch in der CDU war man schon dabei, auf diesen Kurs einzuschwenken: Heiner Geißler und Rita Süssmuth wollten die Wiedervereinigung aus dem CDU-Grundsatzprogramm streichen, was Helmut Kohl verhinderte.

Festrede von Arnold Vaatz | 27 | Und was sagte die übrige Welt? Margaret Thatcher, François Mitterand, Ruud Lubbers oder Giulio Andreotti waren entschieden gegen eine Deutsche Einheit. Nur George Bush und Felipe González waren dafür. Ich glaube heute: Ein Bundeskanzler, der 1990 die deutsche Wieder- vereinigung hätte verhindern wollen, hätte es leichter gehabt als einer, der diese Deutsche Einheit angestrebte. Helmut Kohl wollte die Einheit. Er war es, der seine europäischen Kollegen vor die Frage stellte, ob wirklich ein gegen den Willen der betroffenen Menschen von außen in die Zweistaatlichkeit gezwungenes Deutschland für Europa besser sein soll, als ein starkes, solidarisches, in Europa integriertes, in Frieden und Freiheit wiedervereinigtes Land. Er ebnete den Weg dafür, dass sich Europa mit der deutschen Wiedervereinigung abfand. Und das sage ich nun adressiert an die Freunde aus der FDP, die heute erfreulicherweise hierhergekommen sind: Das hätte er natürlich niemals geschafft ohne die langjährige Zusammenarbeit mit Hans-Dietrich Genscher, der ihm überhaupt erst den Weg in das Kanzleramt gebahnt hatte. Er war in dieser Zeit eine der größten Stützen dieser Bemühungen um Wiedervereinigung. Viele stellten sich nun vor, zunächst eine neue Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes zu entwickeln. Aber einerseits stand dies im Wider- spruch zu der gebotenen Eile. Die politische Großwetterlage konnte jeder­ zeit umschlagen – siehe den Sommerputsch gegen Gorbatschow 1991. Und andererseits: Wenn hierdurch eine bessere Verfassung als das Grund- gesetz herauskommen sollte – warum gab es diese nicht schon längst? So blieb der Beitritt nach dem damaligen Artikel 23. Die ganze DDR als Bundesland in den neuen Gesamtstaat einzufügen, stieß jedoch sofort auf allgemeine Ablehnung. Niemand wollte künftig DDR-Bürger sein. Hierzulande beispielsweise wollte man Sachse sein. Nun war die DDR allerdings in Bezirke gegliedert. Formal hatte es in der DDR einmal Länder gegeben. Sie waren 1952 zerschlagen worden. Was war nun zu tun, um aus den DDR-Bezirken ein Bundesland zusammenzufügen? Die Herbstrevolution hatte sogenannte Runde Tische hervorgebracht, die zur Hälfte mit Oppositionellen besetzt waren. Sie sollten die delegi- timierten – weil von der SED eingesetzten – Räte der Bezirke kontrollieren. Der Rat des Bezirkes Dresden kündigte nun im März 1990 an, einen Entwurf einer Landesverfassung erarbeiten zu wollen, der am 18. April 1990 in einem Festakt auf der Albrechtsburg in Meißen einer Reihe aus-

| 28 | Festrede von Arnold Vaatz gewählter sächsischer Honoratioren – gedacht wurde an Persönlichkeiten wie Kurt Masur und Manfred von Ardenne – überreicht werden sollte. Damit wäre die politische Initiative zur Landesneugründung den Räten der Bezirke zugefallen. Der Runde Tisch des Bezirkes Dresden befürch- tete nun, dass in diesem Fall das von der SED geschaffene Kadergebirge der Räte der Bezirke zum neuen Verwaltungsgerüst Sachsens wird. Dies alarmierte uns. Herbert Wagner, Sprecher der am 8. Oktober 1989 aus der Dresdener Demonstration heraus entstandenen »Gruppe der 20«, der ich damals angehörte, forderte mich auf – da ich inzwischen einen Personal-­Computer besaß –, ebenfalls einen Verfassungsentwurf zu er- arbeiten. Binnen einer Woche hatte ich einen solchen im Wesentlichen aus Textbausteinen der Verfassungen Nordrhein-Westfalens, Nieder- sachsens und Baden-Württembergs sowie der sächsischen Verfassung von 1919 zusammengeschrieben und am 29. und 30. März in der Tages- zeitung DIE UNION veröffentlicht. Der Zweck dieser Aktion war es, den Verfassungsentwurf der Räte der Bezirke zu neutralisieren und damit die geplante Festveranstaltung auf der Albrechtsburg zu stoppen oder wenigstens zu relativieren. Gleichzeitig intervenierten wir sofort bei der nach den demokratischen Volkskammer­

Festrede von Arnold Vaatz | 29 | wahlen am 18. März 1990 gebildeten Regierung de Maizière und erreichten, dass der geplante Initialakt auf der Albrechtsburg gestoppt wurde. Inzwischen war in Berlin ein für die Länderbildung zuständiges Minis- terium unter dem früheren Funktionär der Blockpartei LDPD, Manfred Preiß, entstanden. Dessen Bemühungen schienen sofort wieder darauf hinauszulaufen, den von der SED eingesetzten Bezirksverwaltungen die Initiative zur Länderbildung zu übertragen. Aber nun entstand die Frage, ob damals überhaupt der DDR-Regie- rung die Einführung von Ländern zustand. Im Westen hatten ja die Länder den Bund gegründet und nicht der Bund die Länder. Als müssten doch die Ostländer auch Anspruch auf eine eigene, aus sich selbst heraus erwachsene Staatlichkeit haben. Deshalb löste der Runde Tisch des Bezirkes Dresden sich mit Amtsantritt der DDR-Regierung de Maizière nicht auf. Als Referenz an die Mehrheits- verhältnisse in der Volkskammer veränderte er die Sitzverteilung so, dass diese in etwa die der Volkskammer abbildete. Sodann beanspruchte der Runde Tisch des Bezirkes Dresden die Aufgabe für sich, die Neubildung der Landesstrukturen vorzubereiten und deren rudimentäre Arbeitsfähigkeit herzustellen, ohne die Gestaltungsfreiheit künftiger Minister zu beein- trächtigen.

| 30 | Festrede von Arnold Vaatz Hierzu bildete er einen sogenannten Koordinierungsausschuss mit dem Auftrag, Kontakt zu den Runden Tischen der anderen Bezirke aufzunehmen und gemeinsam mit diesen die Aufgaben anzugehen. Zum Vorsitzenden dieses Ausschusses wurde ich bestimmt. Weiterhin wurden auf Verlangen des Runden Tisches dem inzwischen von der Regierung de Maizière eingesetzten Regierungsbevollmächtigten für den Bezirk Dresden, Siegfried Ballschuh, Stellvertreter aus Oppositions­ kreisen beigeordnet. Diese Positionen übernahmen: Peter Adler (SPD, Bereich allgemeine Verwaltung), Matthias Reichenbach (DSU, Bereich Personal) und ich (Bereich Länderbildung). Die angestrebte Zusammenarbeit mit den anderen Runden Tischen erwies sich als schwierig. Oft überwog das Misstrauen: Allenthalben be­ fürchtete man, durch Dresden marginalisiert zu werden. Erst die Aus- sicht, dann eben den Vorstellungen der Räte der Bezirke ausgeliefert zu sein, ebnete von Fall zu Fall den Weg zur Zusammenarbeit. Ich ernannte nun zwölf Strukturbeauftragte jeweils mit der Aufgabe, ein Ministerium beziehungsweise den Landtag vorzubereiten und das Landes­vermögen zu sichern. Hier hatte sich gezeigt, wie dünn unsere Personaldecke inzwischen geworden war. Viele Akteure der ersten Stun- de waren im Herbst nach ein paar Tagen abgetaucht, und manche tauchten dann in Jahresabständen wieder auf, um uns zu erläutern, was wir alles falsch gemacht hatten. Logisch, wir waren ja alle politische und juristische Laien. Weil mir das klar war, bat ich Lothar Späth und den Beauftragten des bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl, Herrn Dr. Rudolf Baer, Beamte aus deren Ministerien zur Verfügung zu stellen, die – im Tandem mit unserem jeweiligen Strukturbeauftragten – das jeweils betreffende Ministerium vorbereiten sollten: Räumlichkeiten erschließen, Organi- gramme und Geschäftsverteilungspläne als Vorschläge an die künftige Regierung entwerfen, Ausschreibungsunterlagen für die Stellenbeset- zungen vorbereiten und Elementardienste wie Hausmeister, Pförtner, Materialverwaltung, Fuhrpark, Telefondienste und so weiter einrichten. Gleichzeitig entstand eine gemischte Arbeitsgruppe Baden-Württem- berg/Sachsen, der wichtige Schulungsaufgaben zufielen, zum Beispiel die Vorbereitung von potenziellen Bürgermeistern und Landräten, oder die juristische Schulung von Führungspersonal in Berufsgenossenschaften, Kammern, Krankenversicherungen und Ähnlichem.

Festrede von Arnold Vaatz | 31 | Der Widerstand im Rat des Bezirkes war enorm, als sich herausstellte, dass jeder dort Beschäftigte sich neu bewerben müsse, wenn er in der Landesverwaltung tätig sein wolle. Auch unsere Absicht, alle auf eine etwaige Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit überprüfen zu wollen, führte zu Aufregung. Im August 1990 erschien in Dresden, angeführt von dem Bundes­ beamten Günter Ermisch, eine Mannschaft, die sich als Clearingstelle des Bundesinnenministeriums vorstellte und angab, die Länderbildung vornehmen zu wollen. Ich erläuterte Herrn Ermisch, dass wir gerade dasselbe täten und lud ihn ein, an unseren Sitzungen teilzunehmen, was dieser zunächst eher belustigt zur Kenntnis nahm. Aber er kam. Als er feststellte, dass hier keineswegs auf nur Analphabeten aus dem Osten herumsaßen, sondern auch echte Ministerialbeamte aus den Westlän- dern, nahm er uns ernst. Wir tagten nun gemeinsam. Bald schickten wir die erarbeiteten Unterlagen nach Bonn, und kurz darauf erhielten wir sie zurück mit einem Deckblatt des Bundesinnen­ ministeriums, dem zu entnehmen war, dass so zu verfahren sei, wie wir das geplant hatten. Später erfuhr ich, dass diese Unterlagen vervielfäl- tigt worden waren und auch den anderen entstehenden Bundesländern zugegangen waren. All unsere Aktivitäten waren insofern demokratisch legitimiert, da ich – von der Regierung in Berlin bestätigt – als Stellvertretender Regierungs- bevollmächtigter eingesetzt war. Aber öffentliche Akzeptanz konnten wir nur dann erwarten, wenn unsere Ergebnisse auch öffentlich verfolgbar und kontrollierbar waren. Wie kann das ohne einen Landtag geschehen? Erich Iltgen hatte die Idee, ein sogenanntes Sächsisches Forum einzu- richten. Wer zu diesen Versammlungen kommen wollte, konnte das tun, und die Säle füllten sich mit interessierten Bürgern. Dort ging es ähnlich zu wie in einem Parlament, mit dem feinen Unter- schied, dass keiner der Versammelten gewählt war. Dennoch ist gerade dieses Sächsische Forum das noch fehlende Element gewesen, das eine aus sich selbst heraus entstehende neue Staatlichkeit Sachsens reprä- sentierte. Wir stellten den jeweiligen Arbeitsstand des Koordinierungs- ausschusses vor, beantworten Fragen und hörten uns Einwände an. Eine Sternstunde des Forums war der Auftritt des Löbauer Stempelmacher- meisters Karl Keßner. Er rief in den Saal: »Ich bin im Freistaat Sachsen geboren und will im Freistaat Sachsen sterben!«. Plötzlich spürte man

| 32 | Festrede von Arnold Vaatz die Kraft, die von einer Staatsbezeichnung ausgeht, welche die neu er- rungene Freiheit im Namen trägt. Der Sommer 1990 stand im Zeichen der nahenden Landtagswahlen am 14. Oktober. Die CDU wollte zunächst mit Klaus Reichenbach als Spitzen­ kandidat in den Wahlkampf ziehen. Reichenbach, menschlich sympa- thisch und politisch dynamisch und effizient, war Landesvorsitzender der sächsischen CDU und Kanzleichef von Lothar de Maizière im Minister- rang. Zu DDR-Zeiten war er Bezirksvorsitzender der CDU von Karl-Marx- Stadt. Wir benötigten an dieser Stelle jedoch eine Persönlichkeit, die sich in den Gegebenheiten des neuen Rechts und der neuen politischen Verfahren möglichst perfekt auskennt. Deshalb war ich gegen Reichenbachs Kandidatur. Er gab denn auch nach einigen Wochen sein Vorhaben auf, womit schließlich die Bahn frei wurde für Kurt Biedenkopf. Die SPD kürte zur Spitzenkandi- datin. Beide lud ich nun in den Koordinierungsausschuss ein, um mög- lichst deren Hinweise berücksichtigen zu können. Anke Fuchs reagierte darauf nicht, Kurt Biedenkopf nahm jedoch teil und beriet uns. Die Neugründung des Landes Sachsen am 3. Oktober – heute vor 30 Jah­ ren – vollzog sich vor prächtiger Kulisse im Schloss Albrechtsburg in Meißen. Professor Karlheinz Blaschke entfaltete in einer großartigen, zu Herzen gehenden Rede die historische Dimension dieser Wiedergeburt unseres Landes; und elf Tage später handelte das sächsische Wahlvolk erstmals fast auf den Tag genau seit 40 Jahren wieder als Souverän und wählte einen Sächsischen Landtag. Mit Günter Kröber (FDP) gehörte ihm ein Abgeord­ neter an, der schon im letzten sächsischen Landtag 1950 bis 1952 saß. Es begann eine wunderbare noch im Rückblick regelrecht elektrisie- rende Zeit des Neuaufbaus. Die Sachsen entwickelten einen unbändi- gen Willen, die neuen Chancen beim Schopf zu packen. Kurt Biedenkopf erwies sich als Glücksfall für Sachsen. Seine Be- kanntheit und sein exzellenter Ruf schufen Vertrauen, das Vertrauen schuf Investitionen. Seine kluge Ansiedlungspolitik erwies sich als nachhaltig. Es entstand das europäische Silicon Valley in Dresden, VW kam nach Mosel und Dresden, BMW und Porsche kamen nach Leipzig. Die Universitäten zogen Studenten und Professoren an. Unsere wunder- bare historische Bausubstanz erhielt einen neuen Glanz. Als Monument des erwachten Bürgerwillens entstand die Dresdner Frauenkirche neu, und zwar größtenteils finanziert nicht etwa aus

Festrede von Arnold Vaatz | 33 | Steuer­geldern, sondern aus privaten Spenden. Aber auch die öffent­ liche Hand investierte. Unser Finanzminister und späterer Minister­ präsident Georg Milbradt sorgte für eine enorme Investitionskraft bei sensationell niedrigem Schuldenstand. Natürlich reiften nicht alle Blütenträume. Viele verloren ihre Arbeit. Viele überforderte die völlige Umstellung aller Lebensbereiche und ließ sie verzweifeln. Die DDR-Oppositionellen, die Aktivisten der ersten Stunde, waren zwar die Sieger der Revolution, oft aber nicht die Sieger der Ein- heit. Ein Vogel, dem man im Käfig die Flügel stutzt, der kann auch in Frei­ heit nicht mehr fliegen. Die Wirtschaft fragte nach Führungserfahrung, Herrschaftswissen, Ressourcenkenntnis. Mit alldem konnte ein Opposi- tioneller, den man vom Ingenieur zum Platzanweiser im Kino degradiert hatte, meist nicht dienen. Aber ein Stasioffizier schon. Aber bei aller Bitternis rufe ich auch gerade all jenen zu, die in den letzten 30 Jahren viele schmerzliche Erlebnisse hatten: Wer die letzten zehn Jahre der DDR diese mit all ihrem Zerfall, der Verlogenheit ihrer Propaganda und ihrer Perspektivlosigkeit erlebt hat und ehrlich ist, muss bestätigen, dass sich damals kaum jemand hätte vorstellen kön- nen, in welcher Geschwindigkeit sich dann tatsächlich unsere Lebens- verhältnisse verbesserten, die fast umgekippten Flüsse sauber, die Braunkohle-­Mondlandschaften attraktive Seen wurden, unsere Infra- struktur gesundete, das Ende der Mangelwirtschaft eintrat und die Freiheit uns verwandelte. Die blühenden Landschaften, von denen Helmut Kohl sprach, und das blühende Sachsen, von dem Kurt Biedenkopf sprach, sie sind weit über das damals vorstellbare Maß Wirklichkeit geworden. Erst wenn man für einige Minuten hinter einem Fahrzeug mit Zweitakt- motor herfährt, erinnert man sich an den Geruch der DDR. Dass dies geleistet werden konnte, danken wir ganz besonders der Solidarität der Menschen im Westen, die das ungleiche Erbe aus einem gemeinsam ver­schuldeten schrecklichen Krieg angenommen und ausgeglichen haben. Meine Damen und Herren: Lassen Sie uns dieses große Gemein- schaftswerk achten und fortsetzen. Dazu brauchen wir eine technolo- gieoffene, vorurteilsfreie und weltoffene Suche nach dem besten Weg für unser Land. Eine Suche ohne jeden Konformitätsdruck. Eine ergeb- nisoffene Debatte, die politischen Entscheidungen jederzeit auf den Prüfstand stellt.

| 34 | Festrede von Arnold Vaatz Es muss möglich sein, über die Energiepolitik der Bundesregierung zu streiten; für die Nutzung der Kernenergie einzutreten; die Wirklich- keitstauglichkeit unseres Risikobewusstseins zu prüfen; die Gefahren unserer Verschuldungspolitik abzuwägen; die Wirksamkeit unserer Entwicklungspolitik zu hinterfragen; unnütze Bürokratie beim Namen zu nennen und zu beseitigen; eine saubere Trennung von Asylpolitik einer- seits und Einwanderungspolitik andererseits einzufordern. Und all dies, ohne an den Pranger gestellt zu werden oder an den Pranger zu stellen. Wenn hier Allensbach zufolge heute fast 80 Prozent der Menschen sagen, man müsse sich beim Sprechen über manche Themen wieder vorsehen, dann frage ich mich allerdings: Ist die Freiheit von 1990 heute noch Lebenswirklichkeit? Wenn ich von Journalisten gefragt werde, wie ich denn mit Beifall von der falschen Seite umginge, wenn eine Aussage statt nach ihrem Wahrheitsgehalt danach beurteilt wird, wer es auch gesagt hat, wenn jemand seinen Job verliert, weil er mit der falschen Person an einem Tisch gesessen hat, dann habe ich daran Zweifel.

Festrede von Arnold Vaatz | 35 | Wenn in Klimafragen mit der Mehrheitsmeinung der Wissenschaftler argumentiert wird, denke ich an Kopernikus, und Galilei – die mutter- seelenallein ihre richtige Meinung vertraten; oder an die Denkschrift »Hundert Autoren gegen Einstein« von 1931. Mehrheitsmeinungen eignen sich, politische Streitfragen zu entscheiden. Das ist Demokratie. In der Wissenschaftsgeschichte zeigt sich hingegen ihre Begrenztheit. Die Wissenschaftsgeschichte liest sich geradezu als eine Geschichte der Korrektur kollektiver Irrtümer. Der Kabarettist Dieter Nuhr hat kürzlich einen ähnlichen Gedanken auf die Webseite der Deutschen Forschungs- gemeinschaft gebracht. Daraufhin brach ein Shitstorm über ihn herein und sein Eintrag wurde zeitweise gelöscht.

| 36 | Festrede von Arnold Vaatz Wenn auf diese Art ein öffentlicher Konformitätsdruck erzeugt wird, der die Menschen, die sich ihm nicht beugen, etikettiert und aus der medialen Relevanzzone drängt, sich also statt gegen eine Meinung gegen den Menschen mit dieser Meinung wendet, wird das Land eine Polarisierung erleben, zu deren Heilung Worte nicht mehr zur Verfügung stehen, denn sie wurden ja gelöscht. Und es muss möglich sein, Hass und Hetze zu ächten. Hass und Hetze gegen Menschen wegen deren Religion, deren Herkunft, deren Ge- schlecht, deren sexueller Orientierung, deren Hautfarbe oder deren Alter. Dazu zählt auch die Ächtung widerwärtiger Beleidigungen, wie sie der Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in Heidenau vor fünf Jahren oder den Gästen zum Tag der Deutschen Einheit 2016 in Dresden entgegenschlu- gen oder wie sie kürzlich meine Bundestagskolleginnen Renate Künast und – gerichtlich unbeanstandet – ertragen mussten. Dazu zählt auch eine medial wenig beachtete Form von Alltagsrassismus: Dass man heute ohne die geringsten Konsequenzen Menschen bis ins Mark kränken darf, wenn diese Menschen beispielsweise alte weiße Männer sind. Und dazu zählt auch Schaum vor dem Mund beim Reden und Schreiben über missliebige, aber immerhin demokratische gewählte Politiker wie Johnson, Trump, Orban oder Netanjahu: Als seien sie schlim­ mere Feinde der Menschheit als ein Kim Jong-un. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben alle gemeinsam vor 30 Jahren ein wunderbares neues Kapitel der Freiheit, der Rechts- staatlichkeit und der Solidarität aufgeschlagen. Sorgen wir dafür, dass es nie wieder zugeschlagen wird. Ich entschuldige mich, dass ich viele Namen nicht nennen konnte, die es verdient hätten, heute erwähnt zu werden, und danke allen, die meine Rede erduldet haben.

Festrede von Arnold Vaatz | 37 | | 38 | | 39 | | 40 | | 41 | Die Schriftenreihe »Veranstaltungen des Sächsischen Landtags« dokumentiert die Reden zu Fest- und Gedenkveranstaltungen im Sächsischen Landtag seit 1990. Folgende Dokumentationen sind zuletzt erschienen:

Die einzelnen Hefte (ab 1990) können bei Interesse kostenfrei unter www.landtag.sachsen.de, per E-Mail unter [email protected] oder per Post bestellt werden, soweit sie noch nicht vergriffen sind. Ansichtsexemplare aller Hefte stehen in der Bibliothek des Hefte der Schriftenreihe Sächsischen Landtags zur Verfügung. hier herunterladen

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