t M A NSI NORDOSTEUROPA ALS GESCHICHTSREGION NORDOSTEUROPA ALS GESCHICHTSREGION Aue-Säätiön julkaisuj a Skrifter utgivna av Aue-Stiftelsen Veröffentlichungen der Aue-Stiftung
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NORDOSTEUROPA ALS GESCHICHTSREGION NORDOSTEUROPA ALS GESCHICHTSREGION
Beiträge des III. Internationalen Symposiums zur deutschen Kultur und Geschichte im europäischen Nordosten
vom 20.-22. September 2001 in Tallinn (Estland)
Veranstalter: Aue-Stiftung (Helsinki) Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Universität Greifswald Stadtarchiv Tallinn
Herausgegeben von
Jörg Hackmann und Robert Schweitzer
Redaktion: Uta-Maria Liertz
Aue-Stiftung • Helsinki Verlag Schmidt-Römhild • Lübeck 2006 Unter dem Serientitel Aue-Säätiön julkaisuja / Skrifter utgivna av Aue-Stiftelsen / Veröffentlichungen der Aue-Stiftung wird seit der Namensänderung des Urhebers die Schriftenreihe Saksalaisen kulttuurin edistämissäätiön julkaisuja / Skrifter utgivna av Stiftelsen för främjande av tysk kultur / Veröffentli- chungen der Stiftung zur Förderung deutscher Kultur ab Stück 10 fortgesetzt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 10: 3-7950-7042-2 ISBN 13: 978-3-7950-7042-7 ISSN: 1237-7422
© 2006 Aue-Stiftung und die Herausgeber Jörg Hackmann Robert Schweitzer
Umschlaggestaltung: Werner Knopp unter Verwendung von Reproduktionen der ältesten gedruckten Karte der Welt aus dem Rudimentum novitiorum, Lübeck 1475 (Lukas Brandfis) und der Verkehrskarte der Ostseeländer, Berlin: Flemming & Wiskott (ca. 1930) (mit Genehmigung der Bibliothek der Hansestadt Lübeck)
Druck: Schmidt-Römhild, Lübeck
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der oben genannten Inhaber des Copyrights unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi- kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Klaus Zernack zum 75. Geburtstag
Inhalt
Zur Einführung
Jörg Hackmann, Robert Schweitzer Nordosteuropa als Geschichtsregion — ein neuer Blick auf den Ostseeraum? 13
Urmas Oolup Paul Johansen und Estland 26
Klaus Zernack Im Zentrum Nordosteuropas 29
Paul Johansen — Beiträge zu seiner Biographie und seinen Forschungen zur Geschichte Nordosteuropas
Lea Köiv Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn 45
Jüri Kivimäe Fremdenangst und/oder akademische Intrige? Paul Johansens Bewerbung um die Professur für mittelalterliche Geschichte an der Universität Tartu 60
Eugen Helimski Paul Johansen als Etymologe 72
Ulla Johansen Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg 85
Heinz von zur Mühlen (1) Paul Johansen und die sogenannten Undeutschen in Reval/Tallinn (Aus der Sicht eines Beteiligten) 103
Norbert Angermann Paul Johansen und Leonid Arbusow jun. 112
7 Enn Tarvel Paul Johansen als Siedlungshistoriker Estlands 119
Klaus Friedland Erinnerungen an Paul Johansen 126
Elemente der Raumkonstitution Nordosteuropas
Ralph Tuchtenhagen Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas 133
Manfred Gläser Die mittelalterliche Großstadt Lübeck — Vorbild und Muster für die Ostseestädte? 172
Ulrich Müller Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums" 193
Jens E. Olesen Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union. Dänische Versuche zur Revindikation Estlands 223
Tiit Rosenberg Zur Raumkonstitution in den Briefen eines livländischen Magnaten Ende des 18. Jahrhunderts 241
Valters gYerbinskis Die Entwicklung der technischen Kommunikations- und Verkehrsmittel zwischen Lettland und den nordischen Ländern 1918-1940 254
Außen- und Binnengrenzen Nordosteuropas
Jukka Korpela Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kardis 1323-1660: Kirchengrenze, politische Grenze oder Kulturgrenze? Eine Region des Ost-West-Gegensatzes? 267
8 Anti Selart Russen und Rus' in den livländischen Quellen um die Wende des 13. zum 14. Jahrhundert 287
Jürate Kiaupien Das Großfürstentum Litauen und Nordosteuropa 297
Aleksandr Myl 'nikov (t) Nordosteuropa — Raum ethnokultureller Synthese: Vom Frühmittelalter bis in die Frühe Neuzeit 308
Janis Kreslins Konfessionelles Engagement und Historische Identität: Religion, Kommunikationskultur und „Nordosteuropa als Geschichtsregion" 321
Nordosteuropa als Objektraum
Jürgen Heyde Die Livlandpolitik der polnisch-litauischen Adelsrepublik 333
Boguslaw Dybas Polen-Litauen und Livland im 17. und 18. Jahrhundert — drei Formen ihrer Verbindung 343
Kristian Gerner Nordosteuropa und schwedische Großmachtpolitik: Reflektionen zum historischen Bewusstsein 353
Michael North Die Niederlandisierung des Ostseeraumes 368
Robert Schweitzer Nordosteuropa: Ergebnis „unvollendeter Penetration" oder „korrekten Nachfolgestaatsverhaltens"? 378
Karsten Brüggemann Das Baltikum im russischen Blick: Rußland und sein Anspruch auf die baltischen Staaten in der Perspektive des 19. Jahrhunderts 392
9 Reinhard Nachtigal Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet (bis 1941) 412
Olaf Mertelsmann Sowjetisierung als Faktor nordosteuropäischer Geschichte. Das Beispiel Estland 433
Nordosteuropa als Subjektraum
Kalervo Hovi Nordosteuropa als Akteur: War die „Randstaatenpolitik" eine Illusion oder versäumte Chance? 447
Michael Garleff Deutschbalten als Träger eines nordosteuropäischen Identitätsgedankens? 452
Jörg Hackmann Vom Objekt zum Subjekt. Kleine Nationen als konstituierender Faktor der Geschichte Nordosteuropas 458
Schlussbetrachtung
Matti Klinge Der Ostseeraum als Kulturraum 487
Manko Lehti Paradigmen ostseeregionaler Geschichte: Von Nationalgeschichten zur multinationalen Historiographie 494
Anhang Kurzbiographien der Autoren und Herausgeber 513
10 Paul Johansen
Jörg Hackmann, Robert Schweitzer Nordosteuropa als Geschichtsregion — ein neuer Blick auf den Ostseeraum?
Es ist längst ein Gemeinplatz, dass sich die Ostseeregion im neuen Völ- kerfrühling von 1989 bis 1991, der das Eis des Kalten Krieges und der sowje- tischen Hegemonie im östlichen Europa abgeschmolzen hat, als erfahrbarer Raumzusammenhang und als politischer Aktionsraum neu konstituiert hat. Po- litisch, geographisch und kulturell wird der Ostseeraum heute als eine Einheit angesehen. Während es aus einem politischen Blickwinkel noch recht einfach sein mag, die Region abzugrenzen,' so führt die wissenschaftliche Annäherung an diese Frage dagegen zu zahlreichen, recht unterschiedlichen Ansätzen. Der heutige Diskurs über die Ostseeregion macht sich in erster Linie an solchen Politikfeldern wie wirtschaftliche Integration, Sicherheit, Um- weltschutz, Aufbau einer Zivilgesellschaft usw. fest. In diesem Kontext wird die Geschichte in der Regel als Grundlage einer gemeinsamen kultu- rellen Identität herangezogen. In Anknüpfung an die Gedenkschrift für Hugh Seton-Watson2 ließe sich behaupten, dass Historiker in diesem Kontext nicht mehr die Rolle der nation-builder spielen, sondern nun region-builder wer- den. Auch wenn der Stellenwert solcher Beiträge zu einer gemeinsamen Ge- schichte des Ostseeraums im Verhältnis zu den nach wie vor gefragten Na- tionalgeschichten noch näher zu bestimmen wäre, so ist doch zu erkennen, dass sich die geschichtswissenschaftliche Produktion seit der Epochen- wende von 1989 nicht mehr nur auf die Dekonstruktion nationaler oder in anderer Weise ideologisch gefärbter Geschichtsbilder beschränkt. Viel- mehr findet die Forderung nach der historischen Unterfütterung einer ge- meinsamen Identität ihr Pendant in der postmodernen Auffassung, dass Historiker mit Narrativen operieren und dass Geschichtsschreibung im- mer auf Konstruktionen basiert. Das heißt freilich nicht, dass solche Kon- struktionen gänzlich beliebig sind, beruht doch die Stärke ihrer Glaubwür- digkeit nicht zuletzt auch auf wissenschaftlicher Haltbarkeit. Daraus folgt also, dass man auf eine wissenschaftliche Diskussion von Geschichts- raumbildungen nicht wird verzichten können und dass die Frage, wel- che Determinanten für die Postulierung einer Geschichtsregion als konsti-
1 Allerdings umfasst der Ostseerat als Zusammenschluss der Ostseeanrainerstaaten neben Norwegen auch noch Island, und zeigt damit, dass es sich auch dort nicht um ein einfaches Abbild geographischer Gegeben- heiten handelt. 2 Historians os Nation-Builders: Central and South-East Europe / hrsg. v. Dennis Deletant, Harry Hanak, London 1988.
13 Jörg Hackmann, Robert Schweitzer tutiv betrachtet werden können, über den akademischen Raum hinausweist.
Das neue Interesse an kultur- und geschichtsräumlichen Zusammenhängen jenseits vermeintlich klarer nationaler oder staatlicher Abgrenzungen geht einher mit einer vertieften Diskussion über die Rolle räumlicher Aspekte in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hatte Reinhart Koselleck 1986 noch konstatiert, dass die Historiker, vor die Wahl zwischen Raum und Zeit als Leitkategorien gestellt, sich eher für die Dimension der Zeit entscheiden,' so lassen die Diskussionen der letzten Jahre über den spatial oder topographi- cal turn eine deutliche Akzentverschiebung, nicht zuletzt mit Blick auf das östliche Europa und den Ostseeraum, erkennen.4 Eine solche Neubewertung der Kategorie des Raums' ist zwar nicht unumstritten, allerdings kann man diese Ansätze keineswegs mit dem Argument vom Tisch wischen, die osteu- ropäischen Regionalstudien hätten angesichts des Zerfalls der sowjetischen Hemisphäre versagt. Vielmehr sehen wir eine fächerübergreifende Entwick- lung, in der die historischen Wissenschaften keine unwichtige Rolle spielen. Ostsee und Mare Balticum — semantische Differenzen und regionale Kohärenzen Dass die Ostsee seit etwa zwei Jahrzehnten wieder als Definitionsrah- men für die Konstitution einer Region herangezogen wird, hat nicht allein mit neuen wissenschaftlichen Paradigmen oder der veränderten politischen Großwetterlage zu tun, sondern ebenso mit einer langen historischen Traditi- on. Der von dem Chronisten Adam von Bremen im 11. Jahrhundert verbrei- tete oder geprägte Begriff des mare balticum ist eine in vielen Sprachen an den Küsten der Ostsee gängige Benennung.' Ähnlich weitverbreitet ist die
3 Reinhart Koselleck: Raum und Geschichte, in: Zeitschichten: Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; Bd. 1656), S. 78-96. 4 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit: über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003; Sigrid Weigel: Zum „topographical turn": Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2 (2002), Nr. 2, S. 151-165; s. jetzt auch: Norbert Götz, Jörg Hack- mann, Jan Hecker-Stampehl: Die Karte im Kopf. Einleitung, in: Die Ordnung des Raums: mentale Karten in der Ostseeregion / hrsg. v. dens., Berlin [2006, im Druck] (The Baltic Sea Region: Nordic Dimensions — European Perspectives; Bd. 5); S. 9-23. 5 So hieß es in einem Gutachten des Wissenschaftsrates aus dem Jahr 2000: „Die Kategorie ,Raum' oder ,Region' steht indessen in keiner Beziehung zu wissenschaftlichen Disziplinen, Methoden oder zur Theoriebildung der betroffenen Fächer. Eine Region bietet letztlich nur kontingente Zusammenhänge von Gegenständen wissenschaftlicher Untersuchung, deren fachsystematische Beziehungen unscharf bleiben." (Wissenschaftsrat, Drucksache 4560/00. Stellungnahme zur Strukturplanung der Hochschulen in Berlin. 12.5.2000, S. 88. http://www.wissenschaftsrat.de/texte/4560-00.pdf [18. April 2006]). 6 Ob mare balticum mit litauisch baltijos jüra ursprünglich zusammenhängt, darüber gehen die sprach- wissenschaftlichen Ansichten auseinander, entscheidend ist hier jedoch, dass der Zusammenhang seit dem
14 Nordosteuropa als Geschichtsregion zweite Bezeichnung als „östliches Meer" („Ostsee", schwed. Östersjö, auch finn. Itämeri). Die einzige Ausnahme machen die Esten, die von der "West- see" (estn. Läänemeri) sprechen.' Wenn es von dieser Beobachtung ausgehend nahe liegt, in Geschich- te und Kultur der Ostseevölker die Basis für die Vorstellung einer gemein- samen regionalen Ostseeraum-Identität zu sehen, so gibt es jedoch zumin- dest zwei kritische Einwände. Zum einen stiftet der semantische Unterschied zwischen baltic im Englischen und seinen Entsprechungen im Deutschen, Schwedischen und anderen Sprachen' mitunter immer noch Verwirrung bei Übersetzungen. Bis um 1850 verband sich mit „baltisch" noch die gesamte Ostseeregion, sowie es heute noch mit baltic oder polnisch ballycki der Fall ist. Aus diesem Grund wurden auch das Litauische und Lettische von Georg Heinrich Ferdinand Nesselmann 1845 als „baltische Sprachen" bezeichnet. In Folgezeit verengte sich aber die Bezeichnung „baltisch" im Deutschen auf die „Ostseeprovinzen" des Russländischen Reiches — wie man Estland, Liv- land und Kurland zusammenfassend zu nennen begann. Abgesehen von dieser terminologischen Verwirrung begegnen wir zum anderen auch noch Missver- ständnissen hinsichtlich der kulturellen Homogenität der Region. Vor allem in der deutschen Diskussion von Anton von Etzel über Friedrich Ratzel zu Fritz Rörig war man überzeugt, dass der Ostseeraum ein deutsch geprägter Kulturraum war und leitete daraus Hegemonieansprüche in der Gegenwart ab.' In den 1930er Jahren trat eine germanisch-nordische Komponente hin-
19. Jahrhundert vielfach hergestellt und nicht in Zweifel gezogen wurde; zur Diskussion s. Jörg Hackmann: Was bedeutet „baltisch"? Zum semantischen Wandel des Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert: ein Beitrag zur Erforschung von mental maps, in: Buch und Bildung im Baltikum: Festschrift für Paul Kaegbein / hrsg. v. Heinrich Bosse u.a., Münster 2005 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 13), S. 15-40 mit weiteren Nachweisen, sowie aus der älteren Literatur mit einem Plädoyer für die Genese von „balticum" aus den baltischen Sprachen: Herbert Ludat: Ostsee und Mare Balticum, in: Deutsch-slavische Frühzeit und modernes polnisches Geschichtsbewußtsein: ausgewählte Aufsätze / hrsg. v. Herbert Ludat, Köln, Wien 1969, S. 222-248. 7 S. die Einträge bei Ferdinand Johann Wiedemann, Jakob Hurt: Estnisch-deutsches Wörterbuch. Eesti- saksa Sönaraamat, Tallinn 4. Aufl. 1973; allerdings taucht das Lemma in der Erstausgabe dieses Werkes (Ferdinand Johann Wiedemann: Ehstnisch-deutsches Wörterbuch, St. Petersburg 1869, hier S. 527) noch nicht auf, so dass es sich um eine Neubildung handeln könnte. Daneben begegnet partiell auch Balti meri. 8 Eingehender hierzu Hackmann: Was bedeutet „baltisch"? (wie Anm. 6). 9 Anton von Etzel: Die Ostsee und ihre Küstenländer, geographisch, naturwissenschaftlich und histo- risch geschildert, Leipzig 1859 , S. V; Friedrich Ratzel: Das Meer als Quelle der Völkergröße. Eine po- litisch-geographische Skizze, München, Berlin 2. Aufl. 1911; Fritz Rörig: Die Erschließung des Ostsee- raumes durch das deutsche Bürgertum, in: Vorträge zur 700-Jahrfeier der Deutschordens- und Hansestadt Elbing, Elbing 1937, S. 5-24; vgl. auch Ralph Tuchtenhagen: Die Rolle des Nordens in der deutschen historischen Osteuropaforschung, in: Nordost-Archiv N.F. 9 (2000), Nr. 1, S. 11-49, und Jörg Hackmann: Mare germanicum? Anmerkungen zur deutschen Geschichtsschreibung über den Ostseeraum, in: Mare Balticum (1995), S. 31-40.
15 Jörg Hackmann, Robert Schweitzer zu, nach 1945 war es dann das Schreckgespenst des Bolschewismus, ge- gen das alle anderen Ostseeanrainer sich zusammenschließen sollten?' Als Gegenmodell zu deutschen, aber auch russischen" Hegemonieansprü- chen wurde im 20. Jahrhundert mehrfach eine gemeinsame Ostseeidentität der kleinen Völker beschworen, und nach 1945 setzte sich das Konzept des „Nordens" als Gemeinschaft der nordeuropäischen Staaten durch?' Solche Konzeptionen von kultureller Hegemonie oder Harmonie als Konstrukti- onen darzustellen, fällt nicht allzu schwer; wichtiger freilich ist die Frage nach den solchen mental maps zugrunde liegenden historischen Strukturen. Paul Johansen, Klaus Zernack und Nordosteuropa Eine kritische Bewertung der skizzierten Konzeptionen zur Geschich- te des Ostseeraums und das Nachdenken über die Rolle von Regionen in der europäischen Geschichte öffneten den Weg zu einem geschichtswis- senschaftlichen Diskurs über die Ostseeregion, und zwar lange bevor sich der erste Silberstreif der Wende von 1989 am Horizont abzeichnete. Wäh- rend lange Zeit Staaten und Nationen die Einheiten waren, die das Interes- se der Historiker auf sich zogen, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Geschichte von Regionen — von sub-nationalen, unterstaatlichen ebenso wie übernationalen — immer wichtiger.13 In dieser Hinsicht wurde von deut- schen Historikern immer wieder betont, dass insbesondere Ostmitteleuropa eine Region war, die durch intensive wechselseitige Beziehungen zwischen den betreffenden Nationen und zwischen den sie bildenden sozialen Grup- pen geformt wurde. Auf diese Weise wandelte sich die Vorstellung eines regionalen Geschichtsraums von einem politisch bestimmten Begriff eines deutsch geprägten Gebiets oder eines deutschen „Schicksalsraums" hin zu einem wohlbegründeten wissenschaftlichen Konzept.14
10 Erich Maschke: Das germanische Meer: Geschichte des Ostseeraums, Berlin u. Stuttgart 1935 (Schriften zur Volkswissenschaft; Bd. 11); Walther Hubatsch: Im Bannkreis der Ostsee. Grundriss einer Geschichte der Ostseeländer in ihren gegenseitigen Beziehungen, Marburg 1948; Johannes Paul: Europa im Ostseeraum, Göttingen 1961 11 Die Idee eines historisch von den Slaven dominierten Raumes an der Südküste der Ostsee findet sich bei Aleksandr F. Gil'ferding: Ostatki Slavjan na juinom beregu Baltijskago morja [Die Reste der Slaven an der Südküste der Ostsee], Sanktpeterburg 1862; s. auch den Beitrag von Karsten Brüggemann in diesem Band. 12 S. dazu die Beiträge von Jörg Hackmann und Marko Lehti in diesem Band. 13 Zur Entstehung der internationalen Diskussion über Geschichtsregionen s. Stefan Troebst: Introduc- tion: What% in a Historical Region? A Teutonic Perspective, in: European Review of History 10 (2003), Nr. 2, S. 173-188, s. jetzt auch ders.: Region und Epoche statt Raum und Zeit — „Ostmitteleuropa" als prototypische geschichtsregionale Konzeption, in: Themenportal Europäische Geschichte (2006)
16 Nordosteuropa als Geschichtsregion
Aufbauend auf diese Voraussetzungen entwickelte Klaus Zerhack eine neue historiographische Annäherung an den Ostseeraum. In seinem wir- kungsmächtigen Buch von 1977 regte er an, Nordosteuropa in Entsprechung zu Ostmitteleuropa, Südosteuropa und Russland als ein langfristiges histo- risches Regionskonzept anzusehen?' Dieser neue Regionalbegriff sollte so- mit einen weiteren konstitutiven Teilraum einer umfassend verstandenen Osteuropäischen Geschichte bilden, deren Objekt somit aus vier sich über- schneidenden Großregionen mit ihren jeweils spezifischen Charakteristika bestand. Dass Zerhack dabei nicht auf den traditionellen Begriff des Ost- seeraums zurückgriff, hatte nicht nur mit seiner Systematik osteuropäischer Regionalbegriffe und der Distanzierung von den deutschen Raumdiskursen zu tun, sondern es ging ihm in seinen Worten um den „höchsten Grad von historischer Artifizialität", die zu einer „rezente[n] Prägung in der Absicht historischer Anwendbarkeit" führte.16 Bei diesem Versuch, den Ostseeraum in das Zentrum einer neuen regio- nalgeschichtlichen Sehweise zu rücken, berief sich Zerhack — wie er wie- derholt betonte — auf das Werk des Historikers Paul Johansen (1901-1965). Johansens Eltern waren Dänen, die sich 1901 im damals noch zaristischen Estland niedergelassen hatten. Der Vater war dort Direktor eines landwirt- schaftlichen Meliorationsbüros und wurde nach dem Ersten Weltkrieg erster dänischer Konsul in der nun selbständigen Republik Estland. Paul Johansen wuchs in einer multikulturellen dänisch-estnisch-deutsch-russischen Umge- bung in Reval (estn. Tallinn) auf, und nach Beendigung seines Studiums bei Rudolf Kötzschke in Leipzig 1924 wurde das Revaler Stadtarchiv seine wissenschaftliche Domäne bis 1939. Seit 1934 war er Direktor des Archivs, aber nach dem Molotov-Ribbentrop-Pakt sah er keine Alternative zur Emi- gration zusammen mit den deutschen „Umsiedlern".17 Seit 1940 lehrte er an der Universität Hamburg, wo er bis zu seinem Tode 1965 einen Lehrstuhl für Osteuropäische und Hansegeschichte innehatte. Von seinen grundlegenden Beiträgen zur politischen, Sozial- und Wirt- schaftsgeschichte des Ostseeraums im Mittelalter seien seine Dissertation über Siedlung und Agrarwesen der Esten,'8 die Edition der „Estlandliste" 15 Ebda., S. 51-59; s. außerdem: Klaus Zerhack: Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschich- te der Ostseeländer, Lüneburg 1993. 16 Klaus Zerhack: Der europäische Nordosten als Geschichtsregion, in: Bibliotheca Baltica: Symposi- um vom 15. bis 17 Juni 1992 in der Bibliothek der Hansestadt Lübeck im Rahmen der Initiative ARS BALTICA / hrsg. v. Jörg Fligge, Robert Schweitzer, München 1994 (Beiträge zur Bibliothekstheorie und Bibliotheksgeschichte; Bd. 10), S. 26-34, hier S. 26. 17 S. die Beiträge von Lea Köiv und Jüri Kivimäe in diesem Band. 18 Paul Johansen: Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter: ein Beitrag zur estnischen Kul- turgeschichte, Dorpat 1925 (Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat; Bd. 23).
17 Jörg Hackmann, Robert Schweitzer
des dänischen Steuerregisters,19 seine Untersuchungen zur Bedeutung der Hanse für Livlanc12° sowie zur Gründung Revals21, sein Aufsatz über Nov- gorod und die Hanse' und schließlich das posthum erschienene Werk über „Deutsch und undeutsch im mittelalterlichen Reval"23 erwähnt. Es waren insbesondere Johansens Untersuchungen sowohl zur Tragweite der rus- sischen, skandinavischen und deutschen Einwirkung auf die Ostküste der Ostsee als auch zu den indigenen historischen Faktoren, die Zernack als Ba- sis für die Formulierung eines neuen historischen Raumkonzepts dienten. Als Hauptcharakteristika, die Nordosteuropa zu einem Geschichts- raum machen, hat Zernack zum einen die Existenz eines Fernhandels und die damit einhergehende Herausbildung entsprechender politischer Struk- turen schon in vorhansischer Zeit sowie zum anderen die wirtschaftliche, soziale und politische Transformierung dieses Raums im Hoch- und Spät- mittelalter, durch Landesausbau und Stadtgründungen, die Hanse und die großen Unionen von Krewo und Kalmar angeführt. Ein drittes prägendes Merkmal war der Aufstieg Schwedens im Rahmen der Rivalität um das dominium maris baltici seit dem sechzehnten Jahrhundert und schließ- lich der Aufstieg Russlands zur dominierenden Macht im Ostseeraum. Mit der „zweiten Teilung Schwedens" 1809 sah Zernack jedoch das Ende der geschichtsregionalen Einheit Nordosteuropa und dessen Unter- ordnung unter das europäische System der Großen Mächte gekommen. Mittelmeer Ostsee Eine ähnliche zeitliche Begrenzung hatte bereits Fernand Braudel in seiner epischen Schilderung der Mittelmeerwelt formuliert:24 dort war es der Ge-
- Genaueres in Klaus Zernacks Beitrag in diesem Band. Eine Bibliographie der Veröffentlichungen Paul Johansens findet sich in: Rossica Externa: Studien zum 15.- 17. Jahrhundert; Festgabe für Paul Johansen / hrsg. v. Hugo Weczerka, Marburg 1963, S. 179-188. 19 Paul Johansen: Die Estlandliste des Liber Census Daniae, Kopenhagen und Reval 1933. 20 Ders.: Die Bedeutung der Hanse für Livland, in: Hansische Geschichtsblätter Bd. 65/66 (1940/41), S. 1-55. 21 Ders.: Nordische Mission: Revals Gründung und die Schwedensiedlung in Estland, Stockholm 1951 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens handlingar; Bd. 74). 22 Ders.: Novgorod und die Hanse, in: Städtewesen und Bürgertum als geschichtliche Kräfte: Gedächt- nisschrift für Fritz Rörig. Lübeck 1953, S. 121-148. 23 Ders. und Heinz von zur Mühlen: Deutsch und Undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval, Köln u. Wien 1973 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; Bd. 15). 24 Fernand Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II, 3 Bde., Frank- furt/Main 1990 (zuerst frz. u.d.T.: La m&literran& et le monde m&literran&n ä Npoque de Philippe II, Paris 1949). Mittlerweile hat sich zum Mittelmeerraum eine intensive Auseinandersetzung mit dem Braudel- schen Ansatz entwickelt, s. Peregrine Horden, Nicholas Purcell: The corrupting sea: a study of Mediterra- nean history, Oxford 2000; und Rethinking the Mediterranean / hrsg. v. W.V. Harris, Oxford 2005; Details dazu bei Troebst: Region und Epoche (wie Anm. 13).
18 Nordosteuropa als Geschichtsregion gensatz zwischen christlichem Abendland und osmanischem Orient, die die vom Meer konstituierte räumliche Einheit auflöste. Mit dem Ende der Tei- lung des Ostseeraums sind nicht nur historischen Beziehungen und Paral- lelen zur Mittelmeerwelt in den Blick geraten, sondern Braudels Darstellung galt insbesondere als Vorbild für die neu zu schreibende Geschichte der Ost- seewelt. Anspielungen an Braudel finden sich in den Titeln der Bücher von David Kirby25 und Matti Klinge26. Darüber hinaus ist bei einem genaueren Blick auch zu sehen, dass die Anfänge zur Konzeptualisierung historischer Räume um diese Binnenmeere in die Zwischenkriegszeit zurückführen — also in einer Zeit, in der auch die ersten Schritte zur Konstruktion einer Geschichts- region Ostseeraum unternommen wurden.27 Trotz aller Unterschiede im Detail wäre daher zu fragen, ob sich nicht ähnliche Perspektiven auf den Gegen- stand und etwa in den Überlegungen zu Zivilisationen und supra-nationalen Regionen, zu Kontakten zwischen verschiedenen Kulturen wie auch zu den Dichotomien von Land und Meer sowie Stadt und Land Ansatzpunkte für eine vergleichende Betrachtung ausmachen lassen. Zudem wird man auch Indizien für die Vorstellung einer longue dure in Zernacks Ansatz als In- strument zur Beschreibung Nordosteuropas bzw. des Ostseeraums ausma- chen können, wenngleich die naturräumlichen Gegebenheiten — die ja den ersten Band von Braudels Werk ausmachen — zweifellos weniger Beachtung gefunden haben als im Fall des Mittelmeerraums. Wenn diese Aspekte dafür sprechen, den Ostseeraum als Geschichts- region neu zu denken, so ist jedoch auch zu beobachten, dass der Begriff Nordosteuropa in den vergangenen Jahren eine zuvor unbekannte Kon- junktur erfahren hat.28 Daraus resultiert nicht allein die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen beiden Bezeichnungen zu erörtern, sondern ins- besondere auch die Frage, welchen geschichtswissenschaftlichen Mehr- wert der von Nordosteuropa als Geschichtsregion ausgehende Ansatz bietet. Nordosteuropa als Geschichtsregion Paul Johansens 100. Geburtstag im Jahre 2001 bot eine ideale Gelegenheit, die Erinnerung an den Revaler Historiker an seiner alten Wirkungsstätte im Re-
25 David Kirby: The Baltic World 1772-1993: Europe's Northern Periphery in an Age of Change, London 1995. 26 Matti Klinge: Die Ostseewelt, Helsinki 1995. 27 S. Troebst:: Introduction (wie Anm. 13). 28 Der Begriff wurde in der deutschen Diskussion von Stefan Troebst: Klaus Zemack als Nordosteuropahi- storiker, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 50 (2001), S. 572-586, und zuletzt von Ralph Tuchten- hagen (wie Anm. 9) und Jörg Hackmann aufgegriffen, s. außerdem aus der angelsächsischen Historiographie: Robert Frost: The Northem Wars: War, State und Society in Northeastem Europe, 1558-1721, London 2000.
19 Jörg Hackmann, Robert Schweitzer
valer Stadtarchiv mit der Diskussion über „Nordosteuropa als Geschichts- region" zu verbinden. Folgende Fragen wurden in einem internationalen Kreis von Historikern zur Diskussion gestellt: Gibt oder gab es eine Geschichtsregion Nordosteu- ropa? Welches sind ihre geographischen Voraussetzungen und Charakteri- stika? Welche äußeren Einwirkungsfaktoren waren für Nordosteuropa als „Objektraum" konstitutiv? Welche Binnenfaktoren haben ihn als „Subjek- traum" geprägt? Gibt es Binnengrenzen, die die Postulierung eines kohä- renten Raumzusammenhangs in Frage stellen? Wo verlaufen die Außen- grenzen von Nordosteuropa? In welcher Beziehung steht Nordosteuropa zu anderen Regionalbegriffen wie Ostseeraum, Nordeuropa oder dem Norden und — last not least — zu Osteuropa und Ostmitteleuropa? Mit diesem induktiven Vorgehen sollte vermieden werden, dass den Dis- kussionen die Frage nach eindeutiger Abgrenzung des Raumes im Sinne mo- derner Grenzlinien übergestülpt wird. Vielmehr sollten zunächst verschie- dene historische Phänomene beleuchtet werden, deren Relevanz für einen nordosteuropäischen Raum im Sinne einer Arbeitsdefinition als unbestritten angesehen werden konnte. Aus der Betrachtung dieser Phänomene und der Zusammenschau mit den Ergebnissen aus der Betrachtung anderer Aspekte war dann erst zu prüfen, ob und inwieweit die jeweiligen Abgrenzungen zu Umrissen eines Geschichtsraums konvergieren. Das Ziel der Tagung war es nun freilich nicht, alle von Zerhack und an- deren Autoren genannten Aspekte der Geschichtsregion Nordosteuropa auf den Prüfstand zu stellen. Vielmehr waren es zwei Aspekte, die die Konzep- tion der hier dokumentierten Tagung beeinflusst haben. Zum einen ging es um die Artifizialität der wissenschaftlichen Begriffsbildung. Ein solcher An- satz war zum Zeitpunkt seiner Prägung, wo an einen aktuellen räumlichen Zusammenhang über die Blockgrenzen hinaus kaum mehr zu denken war, gewiss nahe liegender als nach der Epochenwende von 1989, als die Ostsee- region als historischer Raumzusammenhang in einer breiten Öffentlichkeit wiederentdeckt wurde und politisches Gewicht erhielt. Ungeachtet dieser Zeitumstände kann Zernacks Nordosteuropakonzept allerdings als ein wis- senschaftliches Korrektiv in der Beschäftigung mit alten und neuen mental maps dienen, die so nicht nur auf ihre narrativen Muster, sondern auch auf ihre Nähe zu historischen Tatsachen und Strukturen geprüft werden können. Angesichts der Tatsache, dass es eine lange Tradition gibt, namentlich Rus- sland von der Zugehörigkeit zur Ostseeregion auszugrenzen, war das Bezie- hen eines distanzierten Standpunkts ein wesentliches Anliegen der Tagung. Die zweite für die Tagung richtungsweisende Perspektive im Ansatz Zer- nacks liegt in seiner expliziten Einbeziehung des Geschichtsraums Nord-
20 Nordosteuropa als Geschichtsregion osteuropa in den Gesamtzusammenhang der osteuropäischen Geschichte. Das besondere dabei ist, diese Teilräume nicht exklusiv zu setzen, sondern zu prüfen, wie viel Inklusion notwendig ist, um erklärungsmächtige Raum- und Epochenkonstellationen zu schaffen: Geschichte Nordosteuropas zu be- treiben setzt nach Zerhack einen sicheren Blick auf die Hanse, Schweden, Polen und Russland — und auch auf die Niederlande29 - voraus. Geschichts- regionen sind keine Kampfbegriffe, deren Kraft auf ihrer Ausgrenzungsfä- higkeit beruht, sondern analytische, die ihr Erklärungspotential der wohlab- gewogenen Einbeziehung des Relevanten verdanken. Ein weiterer Punkt in der Beschäftigung mit Zernacks Konzeption spielte auf der Tagung ebenfalls eine Rolle: Die räumliche und zeitliche Erweite- rung des Raumzusammenhangs. In der räumlichen Dimension ging es vor allen um die Ausdehnung auf die Barentsseeregion und das nordwestliche Russland;" in der zeitlichen Perspektive dominierte die Frage, inwieweit in der Neuzeit von einem geschichtsregionalen Zusammenhang gesprochen werden kann. Diese Diskussion ging von der bereits oben skizzierten Ein- sicht aus, dass Geschichtsregionen keine Regionen per se seien. Die Vorstel- lung von einem Geschichtsraum war für Zerhack nur berechtigt, solange sie sich in historischen Prozessen und aufeinander bezogenen, auf diese Regi- on fokussierten Kraftlinien manifestierte. Daher sah Zerhack mit der "zwei- ten Teilung Schwedens" 1809 und seinem nachfolgenden Rückzug auf das eigentliche Skandinavien einerseits sowie der Hegemonie der Großmächte über den Ostseeraum andererseits den Niedergang Nordosteuropas als Ge- schichtsraum gekommen. 1977 erschien Zerhack die Zwischenkriegszeit nur noch als ein Epilog des älteren nordosteuropäischen Zusammenhangs?' Auf der Tagung in Tallinn freilich wurde daraus ein Bindeglied, das das Wieder- aufleben des Raumzusammenhangs nach dem annus mirabilis ermöglichte. Nachdem einige Beiträge der Konferenz bereits — teilweise auf Englisch — in einem Themenheft des Journal of Baltic Studies erschienen sind,32 ent- hält nun dieser Band alle auf dem Symposium gehaltenen Vorträge in ihrer vollständigen, teils ins Deutsche übersetzten Fassung. Beide Publikationen überprüfen die Konzeption von Nordosteuropa als Geschichtsregion nach einem Jahrzehnt intensiven Publizierens über diese Region und versuchen auch, bis dahin differierende nationale Traditionen im Geschichtsdenken
29 Vgl. den Beitrag von Michael North in diesem Band. 30 S. dazu bereits Stefan Troebst: Nordosteuropa: Geschichtsregion mit Zukunft, in: NORDEUROPAforum (1999), Nr. 1, S. 53-69; sowie die Beiträge von Ralph Tuchtenhagen und Reinhard Nachtigal in diesem Band. 31 Zernack: Nordosteuropa (wie Anm. 15), S. 9-21. 32 Journal of Baltic Studies 33 (2002), No. 4 (Special Issue: Mapping Baltic History: the Concept of North Eastern Europe / hrsg. von Jörg Hackmann), S. 361-446.
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miteinander zu verbinden. Um einen kurzen Überblick über die thematische Einbettung der folgenden Beiträge zu geben, seien hier die zentralen Diskus- sionspunkte der Tagung genannt. Bezüglich der Außengrenzen Nordosteuropas sollte man nicht mit festen und klaren Grenzlinien operieren. Vielmehr scheint es angemessener, den Blick auf Grenzräume mit wechselnder Zugehörigkeit und sich überschnei- dende territoriale Kartierungen zu lenken." Somit gibt es keinen Weg zu- rück zu Konzepten, die die orthodoxe, slavische, russische Welt per se vom Ostseeraum abgrenzen wollen. Über die Binnengrenzen der Region sind weitere Diskussionen notwen- dig. Somit stehen bisher weitgehend unbestrittene Abgrenzungen — z.B. von schwedischem Protestantismus und polnischem Katholizismus — nunmehr auf dem Prüfstand» Hier ist auch die Frage erlaubt, ob nicht Unterschiede innerhalb der Region - beispielsweise Leibeigenschaft vs. Freibauerntum, Orthodoxie vs. westliches Christentum — letztlich für sie als Ganzes wiede- rum konstitutiv sind. Hier kann Braudels Operieren mit strukturellen Dicho- tomien als Modell dienen, das von Matti Klinge in seinem Schlussbeitrag aufgegriffen wurde. Es ist nicht nur so, dass Grenzen einer Region sich im Laufe der Zeit ändern; es können vielmehr permanente Überschneidungen mit anderen Ge- schichtsräumen bestehen — besonders mit dem „Norden", aber auch mit dem „Westen" und Osteuropa. Wenn auch der „Osten" im Sinne der politischen Geographie in den letzten Jahrzehnten häufig negativ konnotiert wurde, so greift die Vorstellung von Nordosteuropa dieses jedenfalls nicht auf, sondern stellt diese einseitige Perspektive in Frage. Auch bringt sie keine neue Rhe- torik hervor, die die ganze Region als Grenzraum gegen den Osten aufbau- en oder ganz für den Westen reklamieren würde." So geht es historisch ge- sprochen keineswegs um die Abgrenzung eines „Baltischen Russland" mit den Zentren Novgorod und St. Petersburg von einem „orientalischen" Mos- kauer Russland, wie manche — unter traditionellen ideologischen Perspekti- ven — unterstellen möchten. Vielmehr ist es darum zu tun, die Bedeutung der Ostsee und des Ostseeraums für Russland und seine Regionen auszuloten." Der Begriff Nordwestrussland erscheint hier als ein zu Nordosteuropa kom- plementärer Begriff
33 Vgl. insbesondere den Beitrag von Jukka Korpela in diesem Band. 34 Die verdeutlicht vor allem der Beitrag von Jänis Krsliiiig in diesem Band. 35 Dazu nehmen vor allem Kristian Gerner und Marko Lehti in ihren Beiträgen Stellung. 36 Der Beitrag von Nachtigal macht die ungleich höhere Attraktivität des Ostseeraums für Russland durch das Aufzeigen der geringen Würdigung der Nordmeeralternative sichtbar.
22 Nordosteuropa als Geschichtsregion
Diese Diskussionen verdeutlichen, dass die Beziehungen dieses Raumes zu Russland entscheidend bleiben. Anstelle neuer Ausgrenzungen soll je- doch auch ausgelotet werden, inwieweit es in Russlands Politik gegenüber dem nordosteuropäischen Raum spezielle „ostseeraumbezogene" Charak- teris-tika gegeben hat. Die Vorstellung von einer „unvollendeten Penetrati- on", wie sie sich als gemeinsamer Zug der polnischen, schwedischen und russischen Herrschaft in der Region herauskristallisiert hat, könnte hypothe- tisch sogar auf die Baltischen Sowjetrepubliken angewendet werden. Man kann so weit gehen, auf Züge eines „korrekten Nachfolgestaatsverhaltens" Russlands in den neu eroberten Gebieten hinzuweisen, die gerade durch die Schaffung des autonomen Finnland eine Kontinuität Nordosteuropas auch über 1809 hinaus während der Großmächtehegemonie ermöglichten." Ein weiterer wichtiger, aber bis jetzt unterschätzter Punkt ist die Rolle der baltischen Region — Livland (poln. Inflanty) und Kurland — für die polnisch- litauische rzeczpospolita bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die traditionell negative Einschätzung der Einwirkung Polens auf die Nachbarländer in die- sem Gebiet könnte durch weitere Erforschungen der frühneuzeitlichen Be- ziehungen eine Korrektur erfahren." Ein letzter Punkt betrifft die Transformation des Ostseeraums seit dem 19. Jahrhundert. Während Zernack ursprünglich davon überzeugt war, dass die Kontinuität eines Geschichtsraums Nordosteuropa nicht weiter als bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts postuliert werden könne,39 zeigte die Tagung, dass endogene Prozesse Züge einer andauernden Kontinuität hervorbrachten. Besonders die kleinen Nationen, deren hartnäckiger Aufstieg unter den Be- dingungen zweifacher Hegemonie durchaus als ein weiteres konstitutives Charakteristikum von Nordosteuropa angesehen werden könnte,4° entwi- ckelten neue Sichtweisen auf die Identität der Region. In der Tat versuchten die „Randstaaten" in den ersten Jahren nach 1918 eine Ostseeraumidentität zu schaffen, die sich — wenn auch eher gezwungenermaßen denn anfänglich in- tendiert — vom älteren Konzept des Nordens oder der Nordischen Länder löste. Anfangs griff das Bemühen um eine solche regionale Identität durchaus über die gegenwärtigen Baltischen Staaten hinaus. Nicht zuletzt die Wichtigkeit maritimer Symbole für Polen — die sich noch im ideologischen Arsenal der
37 So pointiert Robert Schweitzers Beitrag in diesem Band. 38 Erste Ansätze bieten in diesem Band die sich ergänzenden Beiträge von Jürgen Heyde und Boguslaw Dyba; bemerkenswert auch die Hinweise auf die wenig beachtete Orientierung des mittelalterlichen Li- tauen auf die baltische Küstenregion durch Jürate Kiaupien. 39 Allerdings nahm Zernack auch 1977 „über die Grenzen der Systemblöcke hinweg [...] Spuren älterer geschichtsregionaler Zusammenhänge" wahr: Zernack: Osteuropa (wie Anm. 14), S. 52. 40 Dazu der Beitrag von Jörg Hackmann in diesem Band.
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Solidarnosc erhalten hat — verdeutlicht die Einwirkung des Ostseeraum- gedankens auf Polen sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg.' Schlussbemerkungen Die Reihe der hier erwähnten Themen wirft noch einmal die Frage auf, inwiefern es sinnvoll ist, den Kunstbegriff Nordosteuropa als Geschichtsre- gion anstelle des Begriffs Ostseeraum zu verwenden.42 Obwohl die Auffas- sungen von Nordosteuropa zugegebenermaßen kein unzweideutiges Kon- zept über dessen Bedeutung als Geschichtsregion bieten, so sind doch zwei Aspekte hervorzuheben. Die hier dokumentierte Tagung war konzipiert als eine kritische Sichtung und Neubewertung von historischen Regionalbegrif- fen. Insofern kann die Dekonstruktion älterer Vorstellungen von einem ein- deutig abgegrenzten, homogenen Ostseeraum als ein fruchtbares Ergebnis dieser Herangehensweise bezeichnet werden. Zweitens zeigt der Nordosteuropabegriff durch die damit verbundene Fokussierung der Grenzräume und Überlagerungszonen, dass man keines- falls die oben dargestellte Begriffsverengung des Epithetons balt- auf die Baltischen Sprachen oder die Baltischen Staaten mental in den Diskurs um den Ostseeraum (oder englisch Baltic Sea Area / Baltic Region) einfließen lassen darf. Nordosteuropa hat deutlich mehr mit dem schwedischen Reich der Großmachtzeit zu tun, aber nicht einmal darauf darf man diesen Regio- nalbegriff geographisch oder historisch einschränken. Heutzutage scheint es, dass die Bezeichnung baltic im weiten Sinne und mit ihr die oben genannten Entsprechungen mit Ostsee-/Östersjö- etc. sich in ihrem abgrenzenden Charakter gegenüber dem „Osten" bereits abschwä- chen und neuen Vorstellungen Raum geben. Sehen wir einmal einen Au- genblick von den Namen für die Region ab, dann ist zu erkennen, dass po- litische Konzeptionen wie die „Nördliche Dimension" der Europäischen Union oder z.B. Zbigniew Brzezinskis transatlantisches Sicherheitskon- zept' mit einem ganz ähnlichen Raumbegriff arbeiten, der seinen Brenn- punkt im Nordwesten Russlands und in den Baltischen Staaten hat.
41 Stefan Troebst: „Intermarium" und „Vermählung mit dem Meer": kognitive Karten und Geschichts- politik in Ostmitteleuropa., in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), Nr. 3, S. 435-469; s. auch: Jörg Hackmann: „Zugang zum Meer": Die Ostsee in der polnischen Historiographie, in: Nordeuropaforum (2004), Nr. 2, S. 43-66. 42 Dessen Ambivalenzen werden ausführlich in dem Beitrag von Marko Lehti in diesem Band darge- stellt. 43 Zbigniew Brzezinski: U.S. Policy Toward Northeastern Europe. Independent Task Force Report Spon- sored by the Council an Foreign Relations. Released April 1999,
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In der Tat kann man den diesen Aspekt des Nordosteuropabegriffs sogar zur Erklärung für die Attraktivität des Ostseeraumgedankens heranziehen, denn es sind die starken Traditionen von Demokratie und Wohlfahrtsstaat des Nordens, die die Übergangsgesellschaften dieser Regionen anziehen, ganz abgesehen von den zahlreichen Bestrebungen, hier Zonen von soft security zu schaffen, die auch nach den Umwälzungen des 11. September 2001 nicht an Bedeutung verloren haben. Die Herausgeber hoffen, in diesem Band einen Begriff thematisiert zu ha- ben, der die wissenschaftliche wie auch die politische Diskussion anregt. Ob- wohl es nicht die Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft ist, eine regionale Identität zu schaffen, so mag doch langfristig dies einen Beitrag zur Stär- kung der Identität einer Region darstellen, die sich auf Freiheit und Gleichheit stützt, wie Zerhack in der Schlussbemerkung seines Festvortrags betonte. Die Tagung wurde gemeinsam vom Stadtarchiv Tallinn, der Aue-Stiftung (Helsinki) und der Universität Greifswald mit großzügiger Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln, veranstaltet. Die Herausgeber bedanken sich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtarchivs Tallinn, allen vo- ran Archivdirektor Urmas Oolup, sowie Frau Waltraud Bastman-Bühner als Geschäftsführender Vizedirektorin der Aue-Stiftung für die organisatorische Unterstützung sowie bei Frau Dr. Uta-Maria Liertz (Aue-Stiftung, Helsinki) und Wolfgang Knopp (Verlag Schmidt-Römhild, Lübeck) für die geduldige und umsichtige Begleitung der Drucklegung des Kongressbandes. Angesichts der Tatsache, dass sich das Erscheinen aus vielfältigen Grün- den hinausgezögert hat, ist im Interesse der Autorinnen und Autoren der Hin- weis angebracht, dass die Beiträge als überarbeitete Fassungen der 2001 ge- haltenen Vorträge nicht unbedingt der Sichtweise entsprechen, die sich von Stand der Erkenntnisse des Erscheinungsjahres ergeben könnte. Die an den lebhaften Diskussionen um den Nordosteuropabegriff ge- meinsam mit seinem Urheber Teilnehmenden hatten das durchaus be- glückende Gefühl, dass die Tagung zum 100jährigen Geburtstag Paul Johansens — faktisch, wenn auch unintendiert — zugleich zu einem inof- fiziellen Festkolloquium für den damals 70jährigen Klaus Zerhack geriet. Das verspätete Erscheinen gibt aber nun Gelegenheit, Klaus Zerhack die- sen Band in aller Form zu seinem 75. Geburtstag zu widmen. Paul Johansen wäre sicher damit einverstanden gewesen.
Lübeck, im Herbst 2006 Die Herausgeber
25 Urmas Oolup Paul Johansen und Estland Es ist etwas ganz Besonderes, eben hier, im Rathaus der Hansestadt Re- val, bei einer Tagung anlässlich des 100. Geburtstages von Prof. Dr. Paul Jo- hansen, an Paul Johansen zu erinnern. Zu der historischen Bedeutung und der hohen Symbolkraft des Hauses für diese Stadt, deren Geschichte Johansen als Historiker sein ganzes Leben lang beschäftigte, kommt ein weiteres Moment hinzu, das unmittelbar mit Johansens Wirken in Tallinn zusammenhängt. Von seiner privaten Umwelt und dem Familienkreis abgesehen, hat der Revalenser Johansen unter diesem Dach wohl mehr Zeit verbracht als ir- gendwo anders in seiner Vaterstadt. Dreizehn Jahre lang, von 1924 bis 1937, war es seine Arbeitsstätte als Archivar — die ersten zehn Jahre als stellver- tretender Leiter, seit 1934 als Leiter des Stadtarchivs. Wir befinden uns in dem Gebäude, dessen Erdgeschoss bis 1937 das alte Ratsarchiv beherbergte und als Hauptsitz des Stadtarchivs diente. Nebenbei bemerkt, zu Johansens „kleinen" Schriften jener Jahre gehört auch eine 1935 veröffentlichte Studie über die Geschichte und die Kunstschätze des Rathauses (zusammen mit Hugo Peets). Das Revaler Archiv, das aus dem Lebenswerk Johansens nicht wegzudenken ist, hatte er als Archivar noch bis 1939, bis zu seiner Umsied- lung aus Estland, im neuen Domizil des Stadtarchivs in der Ritterstraße, der St. Nikolaikirche gegenüber, komplett um sich herum. In einem emotionsgeladenen Brief an seinen dänischen Fachkollegen Svend Aakjaer vom 18. Oktober 1939, knapp zwei Wochen vor seiner Abrei- se nach Stettin, ruft er aus: „Mir zerbricht das Herz vor Kummer um all das, was ich hier zurücklassen muss. Mein Lebenswerk, das erneuerte Archiv, das neugegründete Museum, meine historischen Forschungen — alles bleibt hier." Knapp fünf Jahre nach diesem großen Einschnitt in seinem Leben — sei- nem Abschied vom Archiv und von Estland — kam es zu einer Spaltung des- selben Archivs: 1944 veranlasste die deutsche Besatzungsmacht den Ab- transport eines beachtlichen Teils der älteren Bestände nach Ostpreußen, später weiter nach Westdeutschland. Die Rückführung des Archivgutes kam erst 1990 zustande. Im Frühling 1963 schreibt Paul Johansen, der ordentliche Professor für hansische und osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg, an einen alten Bekannten in Tallinn, den einstigen Direktor des Estnischen Postmuseums: „Es ist viel zu tun, manchmal denke ich mit Wehmut an meine Zeit als Archivar zurück, als ich noch recht ungestört wissenschaft- lich arbeiten konnte." Wo wäre Paul Johansen im Jahre 1963 gewesen, wenn es den Weltkrieg, die schicksalsschweren Ereignisse von 1939 bis 1945 nicht gegeben hätte? 26 Paul Johansen und Estland
Was wäre er gewesen? Noch beim Archiv in seiner Heimatstadt? Oder in Tartu als Professor an der estnischen Universität? In Skandinavien? Oder in Deutschland? Welche weiteren Wege hätten sich dem Historiker, der bereits in den dreißiger Jahren in Fachkreisen weit über die Grenzen Estlands hinaus großes Ansehen genoss, eventuell noch geöffnet? Diese Fragen sollen un- beantwortet bleiben. Im Hinblick auf die Umwelt, die äußeren Lebensumstände sowie die beruf- liche Tätigkeit bedeutete die Umsiedlung für Johansen wie auch Tausende seiner deutschbaltischen Schicksalsgenossen tatsächlich eine Wende. De- mentsprechend zerfällt sein Leben in zwei verschiedene Kapitel: die Arbeit als Archivar in Tallinn bis 1939 und die Lehrtätigkeit als Professor an der Universität Hamburg von 1940 bis zu seinem frühen Tode im Jahre 1965 sind zwei verschiedene Welten. Sein Werk als Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber, das noch während seines Studiums in Leipzig (von 1921 bis 1924) begann und in An- betracht der postumen Veröffentlichungen aus seinem Nachlass nicht mit seinem Ableben endete, bildet dagegen ein Ganzes. Johansen als Historiker in Hamburg bleibt im wesentlichen bei denselben Forschungsgebieten und Themen wie früher in Tallinn. Obgleich sich seine Forschungen zur Sied- lungsgeschichte, Agrargeschichte, Stadtgeschichte, Kulturgeschichte und. hansischen Geschichte auf den gesamten mittelalterlichen und frühneuzeit- lichen Ostseeraum erstrecken, gilt sein besonderes wissenschaftliches Inter- esse in diesem breiten Rahmen doch dem alten Livland mit Schwerpunkt auf Nordestland und seiner Heimatstadt Reval. Die Titel wie „Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter" (Dis- sertation, 1924), „Die Estlandliste der Liber Census Daniae" (1933), „Die Bedeutung der Hanse für Livland" (1941), „Nordische Mission, Revals Gründung und Schwedensiedlung in Estland" (1951), „Deutsch und Un- deutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval" (1973, zusam- men mit Heinz von zur Mühlen) oder „Balthasar Rüssow als Humanist und Geschichtsschreiber" (1996, ergänzt und herausgegeben von Heinz von zur Mühlen) sprechen für sich selbst. Viele seiner Schriften gelten als Stan- dardwerke und unentbehrliche Handbücher. Auf der anderen Seite wird bis heute über so manche von ihm aufgestellte Hypothese weiter diskutiert, z. B. über die estnische Herkunft von Balthasar Rüssow. Mit Recht hat man behauptet, dass Paul Johansen in der Tat als erster den Esten in der Stadt und auf dem Lande gezielt aus den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Archivquellen „herausholte". In diesem Zusammenhang sollen auch seine philologischen Interessen erwähnt werden. Durch mehrere Quellenveröffentlichungen und Darstellungen hat er einen wertvollen Bei- trag zur Kenntnis der frühen estnischen Schriftsprache geleistet. In Ham- 27 Urmas Oolup
burg engagierte er sich für die Gründung eines Finnisch-Ugrischen Semi- nars und leitete dieses bis zu seinem Tode. Paul Johansen — ein aus Reval gebürtiger Däne, wurde durch seine estnisch-deutsch-russische Vaterstadt sowie durch seine deutsche Ausbildung mitgeprägt. Räumlich von seiner Heimatstadt getrennt, blieb er durch sein Werk doch mit dieser verbunden. Sein Werk gehört zur estnischen Geschichtsschreibung sowie zur deutschbaltischen und deutschen wie auch europäischen Geschichtssch- reibung. Abschließend möchte ich an den Untertitel des ersten Tallin- ner Symposiums von 1995 erinnern. Dieser lautete: „Wandern und Wirken deutschsprachiger Menschen im europäischen Nordosten." Er passt wohl auch zu Paul Johansen — einem herausragenden Historiker des europäischen Nordostens.
28 Klaus Zernack Im Zentrum Nordosteuropas*
Über die Vorstellungen von einer Geschichtsregion Nordosteuropa / Ost- seeraum ist eine lebhafte Diskussion entstanden. Der Begriff, seine äußere Reichweite und innere Tragfähigkeit, seine Konstituentien und deren Kontra- indikatoren, die Kritik der Forschungsgeschichte, die Hierarchie der Kriterien, der Vergleich mit anderen Großregionen Europas — vor allem mit Ostmittel- europa als „einem Teil Europas von spezifischer Eigenart" (Werner Conze) — alles das findet immer mehr Interesse. Ein lebendiges Beispiel dafür bot die internationale Konferenz in Tallinn im September 2001, aus deren Anlass die nachstehenden Betrachtungen an- gestellt worden sind. Zugleich war diese Tagung dem Gedenken an Paul Jo- hansen gewidmet, dessen Geburtstag sich 2001 zum hundertsten Mal jährte. Um in solcher doppelten Programmatik über Begriff und Probleme einer hi- storischen Region Nordosteuropa zu diskutieren, konnte es kaum einen ge- eigneteren Platz geben als das historische Ensemble von Reval. So war es der Konferenz durch ihren Tagungsort atmosphärisch vorgegeben, sich im Zen- trum Nordosteuropas zu befinden. Dem genius loci fügte sich auch der Eröffnungsvortrag. Anstatt ein wei- teres Mal zu zeigen, was die Vorstellung von Nordosteuropa eigentlich aus- macht, sollte die Geschichtsregion durch das Prisma von Reval — Estland — Livland betrachtet werden. Dabei tritt deren Charakter als Zentrallandschaft unter vielen Aspekten hervor. Von einigen — neun an der Zahl — soll im fol- genden die Rede sein. Große Fragen der Forschung Für den Nordosteuropa-Historiker beginnt das Besondere an Reval (estn. Tallinn) mit heiß umstrittenen Interpretationen über das Alter des Handels- platzes. Wenn wir an keiner Stelle des Nordostens sonst so gute Einblicke in die vorkoloniale, vorhansische Frühgeschichte an der Ostsee haben wie in Reval und Estland, dann verdanken wir das zu einem großen Teil Paul Johansens Forschungen zur Siedlungs-, Handels- und Verkehrsgeschichte.'
* Der vorstehende Text gibt den Vortrag wieder, der am 20. September 2001 im Rathaus von Tallinn aus Anlass des 100. Geburtstages von Paul Johansen bei der festlichen Eröffnung des Symposiums gehalten wurde. Die Literaturhinweise beschränken sich auf die im Text namentlich erwähnten Autoren. 1 Genannt seien hier: Paul Johansen: Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter: ein Beitrag zul- estnischen Kulturgeschichte, Dorpat 1925 (Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dor- pat; 23); ders.: Die Estlandliste des Liber Census Daniae. Kopenhagen-Reval 1933; ders.: Die Bedeutung der Hanse für Livland, in: Hansische Geschichtsblätter 65/66 (1941), S. 1-55; ders.: Nordische Mission, Revals Gründung und die Schwedensiedlung in Estland, Stockholm 1951 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens handlingar; 74); ders.: Novgorod und die Hanse, in: Städtewesen und Bürgertum
29 Klaus Zernack
Aus dem Revaler und nordestländischen Kern hat Johansen eine Vorstel- lung vom mittelalterlichen Ostseeraum entwickelt, die alle unsere Diskussi- onen bis heute begleitet. In eindrucksvoller Weise stellt sich ihm, dem Mittelalterforscher, mit einem frühneuzeitlichen Aspekt Gunnar Mickwitz (1906-1940) an die Seite. Der Finnländer kam 1936 nach Reval und entdeckte mit Archivdirektor Jo- hansens Hilfe, was er folgendermaßen ausdrückte: „An keiner zweiten Stel- le Europas kann der vorkapitalistische Handel in solch einer lebensnahen Fülle von Dokumenten studiert werden."2 Die Rechnungsbücher der Reva- ler Kaufleute des 16. Jahrhunderts sowie die Kaufmannskorrespondenzen eröffneten Mickwitz ganz einzigartige Einblicke in die Betriebsweise der großen Handelshäuser. So kam er der „Technik des Ostseehandels" im 16. Jahrhundert und damit dessen wirtschaftlicher Systematik und regionaler Spezifik im Ostseeraum auf die Spur. Für die Forschung in hansehisto- rischer Tradition war das — wie Jüri Kivimäe gesagt hat — eine „sehr innova- tive" Perspektive.' Artur Attman hat sie in seinen Arbeiten weitergeführt.4 Diese nordosteuropäische Zentralität, die ihm somit in Mittelalter und Früher Neuzeit zugeschrieben wird, kann das heutige Tallinn mit seinem Stadtarchiv und als Hauptstadt des freien Estland auch als Stand- ort der Forschung wieder für sich in Anspruch nehmen — Grund genug, der Stadt und dem Land die Hommage der Historiker des europäischen Nordosten darzubringen. als geschichtliche Kräfte: Gedächtnisschrift für Fritz Rörig / hrsg. v. Ahasver von Brandt u.a. Lübeck 1953, S. 121-148; ders.: Die Kaufmannskirche, in: Die Zeit der Stadtgründung im Ostseeraum / hrsg. v. Märten Stenberger (Visby-Symposiet für historiska vetenskaper 1963), Uppsala 1965 (Acta Visbyensia; Bd. 1), S. 85-134; ders. und Heinz von zur Mühlen: Deutsch und Undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeit- lichen Reval, Köln u. Wien 1973 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; Bd. 15). 2 Gunnar Mickwitz: Aus Revaler Handelsbüchern: zur Technik des Ostseehandels in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Helsingfors 1938 (Societas Scientiarum Fennica. Commentationes Humanarum Lit- terarum; 9,8), S. 8. 3 Jüri Kivimäe: Papyrer och senmedeltida köpmansböcker: Linjer i Gunnar Mickwitz' livswerk, in: Hi- storisk Tidskrift für Finland 78 (1993), S. 3-15, hier S. 10. 4 Artur Attman: Den ryska marknaden i femtonhundratalets baltiska politik 1558 -1595, Lund 1944; ders.: Til det svenska östersjöväldets problematik, in: Studier tillägnade Curt Weibull den 19 augusti 1946, Göteborg 1946, S. 57-87; ders.: Freden i Stolbova 1617: en aspekt, in: Scandia 19 (1948/49), S. 36- 47; ders.: Ryssland och Europa: en handelshistorisk översikt, Göteborg 21973 (Meddelanden frän ekono- misk-historiska Institutionen vid Göteborgs Universitet; Bd. 27); ders.: The Russian and Polish Markets in International Trade 1500-1650, Göteborg 1973 (Meddelanden frän Ekonomisk-historiska Institutionen vid Göteborgs Universitet; Bd. 26); ders.: The struggle for the Baltic Market: Powers in Conflict 1558 -1618, Göteborg 1979 (Acta Regiae Societatis Scientiarum et Litterarum Gothoburgensis. Humaniora; Bd. 14); ders.: Swedish Aspirations to the Russian Market during the 17th Century, Göteborg 1985 (Acta, regiae Societatis Scientiarum et Litterarum Gothoburgensis. Humaniora; Bd. 24); ders.: Den svenska ös- tersjöpolitikens arkitekt, in: Vetenskap och omvärdering: Till Curt Weibull pä hundraärsdagen 19 augusti 1986, Göteborg 1986, S. 19-31.
30 Im Zentrum Nordosteuropas
Estland und mare Balticum Auch der älteren Forschung war schon immer aufgefallen, dass dem öst- lichen Ostseeufer um den Finnischen Meerbusen die Funktion einer Dreh- scheibe in dem frühen Kommunikationsgefüge zukam. Das lässt sich zum Beispiel erkennen in dem produktiven Anteil dieses estnisch-ostseefinnischen Siedlungsgebietes an der Handelsnomenklatur der Frühzeit. Es braucht nur an die Herkunft des Namens Rus ' Rootsi ) oder an den Ortsnamen Turku sowie an die Ausbreitung des Handelsterminus torg erinnert zu werden, um die frühe Ausstrahlung des estnisch-ostseefinnischen Milieus und dessen große Bedeutung als Vermittler des Ostseeverkehrs bezeugt zu sehen. Der Norden der Aestiorum gentes, wie Tacitus alle Küstenbewohner am östlichen Ufer der Ostsee nennt, war also ähnlich aktiv wie der südliche Teil der baltischen Küstenregion. Hier — im prußisch-litauischen Sprachgebiet — ist ja vermutlich der ursprüngliche Name der- Ostsee entstanden, auf den sich die gelehrte Konstruktion — nämlich mare Bal- ticum — gründet. Adam von Bremen hat sie in der zweiten Hälfte des 11. Jahr- hunderts zuerst benutzt. Im übrigen gibt er uns im 4. Buch seiner Hamburgischen Kirchengeschichte den ersten Entwurf einer landeskundlichen Beschreibung Nordosteuropas. Und wenn man bedenkt, welche Karriere seine Namensschöp- fung mare Balticum — bis hin zu Baltic Sea und Morze Baltyckie / Strefa Baltycka — im semantischen Verständnis als Ostseeraum gemacht hat, dann steht Adam auch am Anfang unserer bis heute andauernden Begriffsdiskussion. Zu dieser so verstandenen „Baltischen" Sphäre gehörten Rävala und die Esten von Anfang an hinzu — d.h. ihr historisch-kulturelles, nicht sprachlich-ethnisch begründetes „Baltentum" ist für die Nordosteuropa-Betrachtung wichtig, ja konstitutiv. Estland gewinnt früh Konturen als Ostseeland, und diese sind nicht zuletzt an Revals alter Bedeutung und Ausstrahlung als Handelsplatz abzule- sen. Allerdings hegen die Archäologen Zweifel an Johansens Einsichten. Indes war im 11. und 12. Jahrhundert, als es eine gotländisch-schwedische Handelsnie- derlassung hier gab, der Name Revals schon in mehreren Sprachen — im Altnor- dischen, im Finnischen und im Russischen — bekannt. Im ganzen hat es Reval auf 17 fremdsprachige Varianten gebracht, in Europa und sogar in Sibirien. Man kann diese Befunde zu systematisieren versuchen und zu folgender Hypothese kommen: Mit seiner ausgeprägten vorrechtstädtischen Geschichte gehört Reval als ein bekannter Handelsplatz in einen nordosteuropäischen Ho- rizont besonderer frühstädtischer Geschichte. Diese hat sich vom 11. bis 13. Jahrhundert, also zwischen der Vikingerzeit (mit ihren großen Seehandels- plätzen) und der Hanse-Epoche (mit ihren deutschrechtlichen Lokationsstäd- ten) an allen Ufern der Ostsee entfaltet. Wiederum ist es Paul Johansen, der uns die Wege der Interpretation bahnt: Neben der tiefschürfenden Erforschung der Frühgeschichte Revals gelang ihm gleichsam die Entdeckung eines epo- chal-regionalen Stadttypus. Es ist der im Stadtbild von der Kaufmannskirche 31 Klaus Zernack
geprägte Fernhandelsmarkt. Auf dem mitteleuropäischen Kontinent kann man eine Parallele in den sogenannten Nikolaisiedlungen sehen. Es ist nicht ausge- schlossen, dass dieser stadtgeschichtliche Horizont im Ostseegebiet mit kau- pangr / kaupungr / kaupunki / köping sogar einen eigenen — vorhansischen — Stadtbegriff hervorgebracht hat. Visby, Reval und Novgorod waren heraus- ragende Repräsentanten dieser Frühstadt. Sie markierten zugleich eine nord- osteuropäische Verkehrsachse, die — wie der Orionsstab das Sternbild zusam- menhält — ein Netz international frequentierter Handelsmärkte durchzog. An diesen Plätzen herrschte Multikulturalität. Das erinnert an eben jene großen nordosteuropäischen Emporien der vorangegangenen vikingischen Epoche, wie Birka und Haithabu, Wiskiauten und Truso. Keineswegs gab es also zwischen der Wikingerzeit und der Hanse-Epoche ein handelsgeschicht- liches Vakuum, wie man es früher in Deutschland gelesen hat.
Christentum — Kolonisation — Feudalisierung Mit der Eroberung und Zwangsbekehrung der nördlichen Küstenlandschaften Estlands durch König Waldemar II. von Dänemark 1219 ergab sich zwischen den Trägern der Mission — dem König, den Bischöfen, dem Orden der Schwertbrüder und dem päpstlichen Legaten Wilhelm von Modena — eine komplizierte Ausei- nandersetzung um den äußeren, gleichsam völkerrechtlichen Status der Wohnge- biete der Esten (Estlandia, Estonia bei Heinrich von Lettland, 1226). Die innere Herrschafts- und Sozialordnung, die uns ebenfalls Paul Johan- sen erschlossen hat, blieb zwar vorerst intakt. Aber die Ältesten der „Land- schaften" — dieser Geburtsadel mit „fürstlichem" Status — bekamen nun Va- sallen der dänischen Krone, meist deutscher Herkunft, an die Seite gestellt. Mit dem Ausbau der Bistümer blieben immer mehr deutsche ritterliche Lehn- sträger, die im Gefolge der Bischöfe gekämpft hatten, im Land. Und diese ritterliche Herrenschicht gewann sehr schnell, nämlich bis zum Abschluss der Eroberung ganz Livlands — gegen Ende des 13. Jahrhunderts — die Ober- hand. Nach der Niederschlagung des großen Bauernaufstands 1343-1345 ge- gen die kirchlich legitimierte Willkürherrschaft der ritterlichen Vasallen auf dem Lande war deren Stellung vollends gesichert. Der Deutsche Orden be- stätigte 1346 beim Kauf Nordestlands die adligen Privilegien und befestigte damit auch für Estland die europaweit wirkende feudale Transformation und den kulturellen Ausbau in einer estländisch-livländischen Spielart. Zwar war dieser adlige Feudalisierungsprozess hier wie überall im Kolonisationsge- biet von der Niederlassung deutscher Kaufleute in den Städten begleitet. Was aber ausblieb, das war die bäuerliche Einwanderung aus dem Westen, wie sie in den westslavischen Siedlungsgebieten so zahlreich stattfand. Da- bei hat es immerhin 1261 einen Aufruf des Deutschen Ordens in Livland ge- geben, zu günstigsten Ansiedlungsbedingungen nach Livland zu kommen.
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Aber, wie vermutet worden ist, das Klima, der Boden, die unsicheren po- litischen Verhältnisse, der Kapitalmangel — alles das wirkte kontraproduk- tiv. Ob das ausreicht zur Erklärung dieser bedeutsamen Abweichung, die im Horizont der hochmittelalterlichen deutschen Ostsiedlung die baltischen Lande bieten, steht dahin. Denn ähnliche Vorbedingungen galten ja auch für die schwedischen Bauern, die sich sehr wohl am Strand und auf den kleinen Inseln Estlands niederließen. In altestnischer Zeit waren diese zwar wirt- schaftlich erschlossen worden, aber ohne feste Besiedlung geblieben. Bei einem Landesausbau ohne größere bäuerliche Zuwanderung hielt sich freilich auch die Städtekolonisation in Grenzen. Es kam zu keiner systema- tischen Stadt-Land-Erschließung, wie wir sie aus Schlesiens Weichbildern und von Kleinpolen kennen. Auch große deutsche „hermetische" Sondergemeinden, also hochprivilegierte Einwandererkommunen — wie Krakau oder Posen —, ka- men nicht zustande; auch in den anderen Ländern an der Ostsee nicht. Mithin waren hier in Nordosteuropa — von der Südküste der Ostsee abgesehen — auch die sozialen Trennlinien nicht so markant wie in den Städten zu deutschem Recht in Ostmitteleuropa. Es war schon ein sehr eigener Weg, den die livländischen Städte gingen. Zur Stadtgemeinde gehörte jeder freie Einwohner, der den Bür- gereid leistete, Bürgergeld bezahlte und einer „bürgerlichen Nahrung" nachging. In diesem Begriff waren Handel und Handwerk zusammengefasst. Ursprünglich konnte sich jeder nach eigenem Vermögen im Handel betätigen und beliebigen Gewerben nachgehen. Aber die Deutschen waren — bei etwa gleicher Bewoh- nerzahl wie die Undeutschen und Schweden zusammen genommen — den ande- ren an Wirtschaftskraft und Vermögen doch überlegen. Vom Bürgerrecht ausge- schlossen waren Gesellen, Knechte, einfache Dienstleute und Arbeiter, denn sie waren außerstande Bürgergeld zu zahlen. Die großen, klassischen Handwerke des Kommerzgewerbes waren in deutscher Hand, und die Undeutschen mussten sich mit den niederen Handwerken begnügen. An diese bekannten Dinge sei hier nur erinnert, damit die Unterschiede zu Ostmitteleuropa beachtet werden. Man kann also konstatieren: Der Nordosten ist unter dem Dach seiner alten verkehrslandschaftlichen Zusammengehörig- keit rund um die Ostsee in seinen Bauelementen vielfältig und heterogen. Das müsste mikroregional und komparativ noch genauer erforscht werden. Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an werden die sozialen und wirtschaft- lichen Unterschiede, die unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit bestanden hatten, gesellschaftlich politisiert, d.h. man sieht jetzt, wie die Undeutschen am sozialen Aufstieg gehindert werden. So gab es im 15. Jahrhundert deut- sche Zünfte und einzelne Handwerksmeister, die sich weigerten, undeutsche Lehrlinge aufzunehmen. Assimilierungschancen in der Stadt eröffneten aber weiterhin das Pastorenamt und gehobenen Dienstleistungen. Die Kirche war sehr interessiert an Priesternachwuchs aus der einheimischen Bevölkerung.
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Hingegen kam bei der ritterlichen Vasallenschaft Aufstieg von Undeut- schen kaum je in Betracht. Von den wenigen Prozent der Esten, die den einge- borenen „Adel" ausgemacht hatten, waren einige Familien als Kleinvasallen assimiliert worden, die anderen starben als estnische Geschlechter aus. Doch gewann das nordestnische Harrien / Wierland (estn. Harjumaa / Virumaa) für den einwandernden Lehnsadel eine besondere Anziehungskraft durch die günstigen erbrechtlichen Konditionen für die Vasallensiedlung. Das Land war auch der Vorreiter bei der korporativen Interessenwahrung und führend auf dem Weg der ganzen Livländischen Konföderation in die innere Angleichung der Besitz- und Rechtsverhältnisse des Adels. Eine solche „Adelsdemokratie" bekam mit dem Aufschwung der Guts- herrschaft im 16. Jahrhundert ökonomisch Grund unter den Füßen; die Rit- terschaften stiegen auf zu den „maßgeblichen Faktoren"5 im Land. In den Prozess ritterschaftlicher Verständischung sind die Undeutschen — wie gesagt — nicht einbezogen worden. Nicht Germanisation und Assimilation war also ihr Schicksal, sondern die soziale und kulturelle Konservierung ihres Esten- und Lettentums in „ständischer Verpuppung",6 in Gestalt einer nichtständischen Sozialqualität durch Autochthonie. Wenngleich also „Gutsherrschaft" öko- nomisch das Antlitz des ganzen östlichen und nordöstlichen Koloniallandes bestimmte, weisen doch die ethnisch-sozialen Strukturen im Nordosten wiederum starke Unterschiede auf gegenüber dem östlichen Mitteleuropa: In Nordosteuropa fehlt die für die kontinentale Nachbarregion der Germania Slavica so typische „Neustammbildung", die wir auch — wiederum macht die südlichen Ostseeküste eine Ausnahme — in Pommern beobachten. Hanse und Russlandhandel Deutlich ist die Nordosteuropaspezifik auch beim Blick auf das Hanse-Pro- blem. Angesichts der nur bescheidenen kolonialen Urbanisierung des Landes entwickelte sich zur entscheidenden Frage für den wirtschaftlichen Aufstieg der livländischen Städte, welche Position sie im Russlandhandel erreichen konnten. Dessen Vermittlung mit dem Westen war ja seit alters konstitutiv für Nordost- europa. Aber in der Wahrnehmung dieser Aufgabe hat sich die ursprüngliche Zentralortsfunktion Gotland / Visbys, wo die städtische Organisierung des Han- dels ihren Anfang genommen hatte, an die östliche Ostseeküste verlagert. Re- val, Dorpat (estn. Tartu) und Riga konnten freilich diese zentrale Rolle erst übernehmen, nachdem das Christentum fest etabliert war und die Schiffstech- nologie die nötige Reichweite der Handelsfahrten ermöglichte. Das hat sich
5 Mühlen, Heinz von zur: Siedlungskontinuität und Rechtslage der Esten in Reval von der vordeutschen Zeit bis zum Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Ostforschung 18 (1969), S. 630-654 6 Reinhard Wittram: Peter I., Czar und Kaiser: zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit. 2 Bde. Göttingen 1964.
34 Im Zentrum Nordosteuropas im 14. Jahrhundert eingespielt. Dorpats Russlandhandel hat dabei anfangs of- fenbar den der anderen Städte übertroffen. Aber das Verhältnis kehrte sich um, als gerade Dorpat seit dem späten 15. Jahrhundert zum Objekt der mächtepolitischen Politisierung der russisch- livländischen Beziehungen gemacht wurde. Damit machten sich externe — genuin osteuropäische — Geschichtsmächte in Nordosteuropa bemerkbar. Sie kamen von jenseits des Wirkungskreises, den „Novgorod und die Hanse" — erneut ein Johansensches Thema — umgreifen. Und zwar begann es mit den Turbulenzen, die im Machtgefüge des Moskauer Reiches durch die Verselb- ständigung Pleskaus (russ. Pskov) in dem der Ostsee zugewandten Nordwesten Russlands ausgelöst wurden. Das führte zur Zerschlagung der Novgoroder Autonomie (1478) und endete bei dem Livländischen Krieg Ivan Groznyjs (1558-1582) und dem Untergang der livländischen Selbständigkeit. Reformation und Baltische Frage Obwohl die eben angedeuteten Vorgänge die Demontage der nordost- europäischen Mitte in Alt-Livland herbeiführten, gingen von dieser kriege- rischen Epoche dennoch — durch die zeitliche Koinzidenz mit der Reformation — geschichtsraumbildende Kräfte aus. Die alte Kirche selbst hatte sich im 15. Jahrhundert immer mehr ihre Versäumnisse gegenüber den Undeutschen vor Augen gehalten. Auf den Provinzialsynoden beklagte man in wachsen- dem Maß, dass die kirchliche Landesordnung von Walk (estn. Valga) von 1422 nicht erfüllt werde. Vor allem erregte die Vernachlässigung des Estnischen in Predigt und Seelsorge Kritik. Immerhin gab es „undeutsche Predigtstühle" in den Städten. Indes hielten sich auf dem Lande vorchristliche Sitten und Ge- wohnheiten, und der Klerus war verwildert. Der Erzbischof von Riga wollte darum eine Lateinschule für den Priesternachwuchs im ganzen Land einrichten, doch die ritterlichen Kirchenpatrone sperrten sich zunächst gegen Reformen. Sie fürchteten die Aufruhrstimmung, die sich bei den Bauern auszubreiten be- gann, nachdem die Städte schnell zur evangelischen Lehre gefunden hatten. Doch überzeugte deren Beispiel schon bald die estländischen und livländischen Ritterschaften. Man erkennt eine eigene baltenländische Dynamik. Aber es muss auch die politisch-kulturelle Dialektik dieser weltbewegenden Vorgänge gesehen worden: Die Reformation hat zwar mit ihrer raschen Aus- breitung von Livland und Preußen aus im Reich wie in ganz Nordosteu-ropa ein Gefühl der Zusammengehörigkeit der deutschen und nichtdeutschen Ost- seeländer und ihrer Völker geweckt. Volksbildung und Volkssprachen er- fuhren einen enormen Aufschwung. Gleichzeitig ist aber die politische Vor- herrschaft des Reiches in den Baltischen Landen beendet worden. Aber was mit dem Rise of the Baltic Question an ihre Stelle trat, war die mächtepolitische Aktivierung der Energien der großen Staaten rund um die
35 Klaus Zernack estländisch-livländische Mitte Nordosteuropas. Man muss von einer Einfü- gung Nordosteuropas in die Politikstrukturen des europäischen Staatensy- stems sprechen. Damit brach für den Nordosten ein Zeitalter der Nordischen Kriege an, das als sein frühneuzeitliches Epochenmerkmal angesehen wer- den kann. In dieser „neuen Zeit" waren die Baltischen Lande zweifellos am wenigsten dazu ausgestattet, in der schneidenden Luft der neuzeitlichen Ge- schichte (Ranke) zu bestehen. Schwedenzeit und Dominium maris Baltici Aus der alten Livländischen Konföderation war ein zur Intervention an- reizendes Machtvakuum geworden, interessant für die Sicherungs- und Ex- pansionsbedürfnisse der größeren Nachbarn. Schwedens Selbstverständnis als Großmacht mit imperialem Machtgebot über die Ostseeregion — also das Konzept des Dominium maris Baltici — hat hier mit dem Ausgriff auf Nord- estland seinen Anfang genommen. Dagegen geriet das Moskauer Reich, das mit dem Vorstoß nach Narva und Dorpat 1558 den Anlass zu den Staaten- konflikten gegeben hatte, mit dem Scheitern im Livländischen Krieg in die größte Krise seiner Geschichte. Seine Aufteilung drohte. Die unmittelbar be- troffenen baltischen Länder wurden unter diesen Auspizien in der „Schwe- dischen Epoche" zu passiven Objekten eines geradezu hemmungslosen Pri- mats von Außenpolitik. Am signifikantesten spiegelt sich die Misere der Epoche in der gut er- forschten Bevölkerungsgeschichte Estlands. In der Mitte der 1620er Jahre war — nach erneuten Kriegshandlungen — nur noch die Hälfte der Einwohner- schaft des 16.Jahrhunderts — sie wird auf 250.000 — 300.000 berechnet — am Leben. Sie soll zwar Mitte des 17. Jahrhunderts wieder angestiegen sein. Aber die Hungersnot von 1695-1697, der große Nordische Krieg (1700-1721) — mit den systematischen Verwüstungen der baltischen Provinzen Schwedens als Mittel der Kriegführung Peters des Großen — und die Pestwelle von 1710/11 forderten erneut große Opfer. Die Bevölkerungszahl Estlands war 1721 auf 150.000-170.000 abgesunken. Dennoch scheint im 17. Jahrhundert die Zustimmung der estländischen Bevölkerung zu der schwedischen Herrschaft über das östliche Ufer der Ost- see gewachsen zu sein. Es ist schwer zu sagen, ob das etwas mit Hoffnungen auf ein anderes, bauernfreundlicheres Sozialsystem schwedisch-finnländischer Tradition zu tun hatte, ob es gar eine Zustimmung zu der antilibertären Stoß- richtung des schwedischen Absolutismus bedeutete. Immerhin, es bahnte sich — worauf Juhan Kahk7 hingewiesen hat — im Schwedischen Ostseereich ein Dreiecksverhältnis von Gutsherr, Bauer und Monarch an. Offenbar hat die
7 Juhan Kahk: Bauer und Baron im Baltikum: Versuch einer historisch-phänomenologischen Studie zum Thema „Gutsherrschaft in den Ostseeprovinzen", Tallinn 1999, S. 93f. 36 Im Zentrum Nordosteuropas
„wachsende Durchorganisation des Feudalismus" im 17. Jahrhundert mit ih- rer steigenden staatlichen Kontrolle und dem Aufbau von „rechtsfordernden Instituten"' vertrauensbildend gewirkt. Das schwedische Gerichtswesen be- zeichnet Matti Klinge als „Ventil gesellschaftlicher Streitigkeiten".9 Damit soll nicht geleugnet werden, dass das System der Gutsherrschaft / Gutswirt- schaft als ein solches auch in den baltischen Ländern — wie schon angedeu- tet — seiner eher kontinentalen Grundstruktur verhaftet blieb. Zu diesem allgemein wichtigen Thema seien einige spezifische Beobach- tungen an estnischen Forschungen erlaubt. Stark gefördert wurde die Guts- bildung auch in Estland durch die Säkularisation von Ordensland nach 1561 und die Verlehnung an ehemalige Würdenträger. Die Gutsbildung hatte hier sogar früher eingesetzt als in Livland, aber im ganzen gelangte sie zwischen der Mitte des 16. und des 17. Jahrhunderts auf den Höhepunkt. Der exil-est- nische Historiker Arnold Soom hat in seinem opus magnum „Der Herrenhof in Estland im 17. Jahrhundert" 1954 herausgearbeitet, wie anfangs des 17. Jahrhunderts die Abgaben der Bauern noch immer der größere Einnahmepos- ten auf den meisten Gütern gewesen sind.10 Erst nach 1650 übertreffen nach Soom die Einnahmen aus der Gutswirtschaft die Abgaben. Demgegen-über hat Juhan Kahk schon vor 1560 in Nord-Estland den größeren Anteil der Ge- treideproduktion, nämlich 58 %, bei den Gütern gesehen?' Aber das Bild dürfte sich von Gut zu Gut verschieben. Wichtig und ein Fortschritt für die internationale Debatte ist es, dass an einem so quellenreichen Forschungs- gegenstand gezeigt worden ist: von einer kapitalistischen Produktionsweise kann keine Rede sein. Die große Transformation des Ritteradels zum kapi- talistischen Agrarunternehmer hat es nicht gegeben. Nur die kostenfreie Ar- beitskraft der Fronbauern ließ für die Gutswirtschaft relativ großen Gewinne entstehen. Kapitalistisch, nach Lohnkosten kalkuliert, wären die Güter nicht lebensfähig gewesen. Das stimmt in vollem Umfang mit den Einsichten der modernen polnischen Forschung für Ostmitteleuropa überein. Und Christoph Schmidt hat bei seinem Versuch einer Typologie der Leibeigenschaft Nord- osteuropa und Ostmitteleuropa gar als Schnittmenge „Ostseeraum" zusammen gezogen.12 Indes waren Reichtümer, wie auf den kronpolnischen Latifundien in Süd- westrussland, in Estland nicht zu erwirtschaften. Nicht um florierende kapi- talistische Agrarbetriebe war es den Gutsherren also zu tun, sondern um eine
8 Clemens Zimmermann: Bäuerlicher Traditionalismus und agrarischer Fortschritt in der frühen Neuzeit, in: Gutsherrschaft als soziales Modell: Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften / hrsg. v. Jan Peters, München 1995 (Historische Zeitschrift. Beiheft; Bd.19), S. 219-238. 9 Matti Klinge: Die Ostseewelt. Helsinki 1994. 10 Arnold Soom: Der Herrenhof in Estland im 17. Jahrhundert, Lund 1954. 11 Kahk (wie Anm. 7). 12 Christoph Schmidt: Leibeigenschaft im Ostseeraum: Versuch einer Typologie, Köln 1997.
37 Klaus Zernack standesgemäße feudale Lebensweise, um das adlige Landleben. Die Ausbil- dung der Gutswirtschaft war vor allem getragen von der großen Getreidekon- junktur seit dem 16. Jahrhundert, an der im übrigen auch die Bauern partizi- pierten. Sie konnten dies als Handelspartner der städtischen Kaufmannschaft, die ihrerseits dem gutsherrlichen Getreideexport im 17. Jahrhundert Konkur- renz machte. Es eröffneten sich also auch in der Epoche der Gutswirtschaft — ökonomisch gesehen — gewisse Spielräume für die Bauern, wenigstens auf dem inneren Markt. Wir erkennen hier wiederum nordosteuropäische Varian- ten zu einem grand thime. Russlands „Ostseeprovinzen" In dem mächtepolitischen Horizont des „Zeitalters der nordischen Kriege" blieben die baltischen Lande Estland, Livland und Kurland weiterhin die um- kämpfte Zentralregion Nordosteuropas. Wittram hat in diesem Zusammenhang von Livland als der „Kernfrage des Nordischen Krieges" gesprochen.13 Er hatte dabei den dritten, den Großen Nordischen Krieg, im Auge. In dessen Verlauf gelangten Estland und Livland nach Jahren der Verwüstung in Russ- lands Hände. Peter der Große stellte sofort den alten Rechtszustand wieder her, wie er im Schwedischen Reich vor den Güterreduktionen bestanden hatte, durch welche in Estland 1689 zwei Fünftel aller Güter in Domänenbesitz überführt worden waren. Der Zar aber restituierte nicht nur, sondern gewährte darüber hinaus reichende Besitzgarantien. Zugleich bestätigte er die Stände staatlichen Einrichtungen des vorabsolutistischen Verfassungsstaats mit dem Macht- und Ämtermonopol der Ritterschaften. Die Bauern blieben infolgedessen im Zu- stand ihrer ständischen Qualitätslosigkeit. Mit dem Blick auf sein rückstän- diges Reich mochte Zar Peter immerhin schon ein Stück Modernisierung in der Einbeziehung der durchgeformten Selbstverwaltungskorpora der Ritter- schaften sehen. Und beim Aufbau eines überrussischen Imperiums war die Gewinnung reichsloyaler Eliten anderer Kulturkreise jedenfalls ein Gewinn. So war die absolutistische Politik- und Sozialreform Schwedens über aus- senpolitische Verstrickungen in ihr Gegenteil umgeschlagen. Aber trotz der Privilegienrestitution nahm eine zutiefst russisch-imperial geprägte Epoche in der alten Kernzone Nordosteuropas ihren Anfang. Verglichen mit den Ge- sellschaften in ihrer Umgebung und ihrem Beziehungsumkreis traten die Bal- tischen Lande nach der Wiederherstellung des alten Privilegienstandes sozial- geschichtlich gleichsam auf der Stelle. Trotz der Verschiedenheit ihrer Genese nahmen sich in der Außensicht die agrarsozialen Systeme Russlands und seiner Ostseeprovinzen ähnlich aus. Re- aliter erreichte die Zahl der Güter und Beigüter im 18. Jahrhundert ihrer ma-
13 Wittram (wie Anm.6).
38 Im Zentrum Nordosteuropas ximale Höhe. Die innere Differenzierung der Gutswirtschaften wurde stark vorangetrieben, und die letzten Jahrzehnten standen im Zeichen nochmals verschärfter Fronexploitation. Mit dem Fall der Zollgrenzen nach Russland 1766 wurde wegen des Petersburger Absatzgebiets die Branntweinbrennerei für die estländischen Gutsherren attraktiv. Auch hier produzierte man mit ko- stenfreier Fronarbeit. Bis Ende des 18. Jahrhundert konnten enorme Gewinne erzielt werden. Doch trat im 19. Jahrhundert allgemein in dieser Branche Preisverfall ein, so dass die Produktion zurückging. Aber in Estland — so nahe an Petersburg — wurde noch immer mehr als ein Drittel der Getreideernte zu Branntwein verarbeitet. Da auch der größere Rest des Getreides guten Absatz fand, festigte sich die einseitige Feldbauökonomie — im Baltikum ganz ähn- lich wie in Polen. Literatur und Bauernbefreiung Wenn man indes Estland, Livland und Kurland, den drei Ostseeprovin- zen Russlands, gleichzeitig mit ihrem hochkonservativen Ständetum dort eine Vorreiterrolle zuerkennen muss, wo es um die Diskussion über die Bauern- befreiung ging, so ist das in erster Linie ein Verdienst und eine Wirkung der Literatur, bis hin zur agitatorischen Publizistik am Anfang und während der Ära Alexanders I. Dem aufrüttelnden Letten-Buch Johann Gottlieb Merkels14 folgte bald das Pendant Johann Christoph Petris über die Esten.15 Die Lage der Bauern wurde hier scharf kritisiert, und im Echo auf die Bücher war von der „600jährigen Schuld der Grundherren" die Rede. Auch von gutsherrlicher Sei- te gab es jetzt Stimmen mit ähnlichem Tenor. Dabei war es nicht unbedeutend, was seit 1803/04, seit den Regulierungen der Frondienste, bis zur juristischen Aufhebung der Leibeigenschaft 1816/18 erreicht wurde. Aber es gab auch im- mer wieder Anlass zu Protest und Unruhen, weil die weiter geforderten Fron- dienste in ihrer Höhe — von 1804 — als ungerecht empfunden wurden. Im ganzen gesehen haben die schwache Reformtradition Russlands und der Reaktionskurs auf den polnischen Novemberaufstand die Reformbestre- bungen in den Ostseeprovinzen erheblich gebremst. Die orthodoxe Kirche begann um Übertritte zu werben, indem sie Erwartungen auf Land bei den Bauern weckte. Immerhin sind 20 % der estnischen Bauern zur „Kirche des Kaisers" konvertiert — in Livland waren es 12 %. War also Russifizierung ein Weg in die Zukunft? Wenn ja, dann hätte nicht zuletzt der Vollzug der Landreform in den fünfziger Jahren ihn verlegt. Die Bauern konnten von nun an ihr Land von den Gutsbesitzern kaufen. Da-
14 Garlieb Merkel: Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts: ein Beitrag zur Volks- und Menschenkunde, Leipzig 1797. 15 Johann Christoph Petri: Ehstland und die Ehsten, oder historisch-geographisch-statistisches Gemälde von Ehstland: ein Seitenstück zu Merkel über die Letten, Bd. 1-3, Gotha 1802.
39 Klaus Zernack mit ging die Gutsherrschaft — schlagartig — zu Ende. Der Weg war geöffnet für die kapitalistische Entwicklung auf großem wie auf kleinem Grundbesitz. Emanzipation und Selbstbestimmung In der Geschichtsregion Nordosteuropa repräsentieren die Esten — zusam- men mit den Letten und den Finnen — den Typus der „kleinen Völker". Das ist ein gut erforschtes Problem und es ist wohlbekannt, worauf ihre Eman- zipationskräfte beim Aufbrechen der „ständischen Verpuppung" und worauf die Chancen bei der Gewinnung ihrer nationalen Identität beruhten. Für un- sere Nordosteuropa-Betrachtung durch das Prisma Estland ist indes auch der Ausbruch aus dem mächtepolitischen status quo von Gewicht, denn es war der Ausbruch aus der „overwhelming power and ambition of Russia" (Ed- mund Burke) als Beherrscherin der Ostsee. In dieser Beziehung hat gerade die spannungsreiche deutsch-russische Auseinandersetzung um die „Grenz- marken" an der Ostsee Spielraum für die Emanzipation der Esten als moderne Nation geöffnet. Weniger ging eine solche Wirkung von dem revolutionären Zusammen- bruch des Zarenreiches und von dessen Nachfolger aus, dem kommunistischen Sowjetstaat. Zwar gab es einen verheißungsvollen Start nationaler Selbstbe- stimmung im Rahmen einer nationalstaatlich gegliederten Nordosteuropa-Re- gion von „Baltic and Scandinavian Countries", wie man sich verstand. Estland hat sie gewiss nach Kräften auszubauen und zu stabilisieren sich bemüht. Doch dieser Ansatz ist zerschellt an der Schwerkraft der imperialen Sicherungsbe- dürfnisse Russlands, damit an jenem kruden Primat von Außenpolitik, wie er Nordosteuropa seit dem Beginn der Neuzeit überzogen hat. In dem Pakt der Tyrannen vom August 1939 war wiederum die vollständige Aufhebung aller Selbstbestimmung in ihren Interessensphären programmiert. Triumphiert hat nach dem Zusammenbruch des Hitlerreiches 1945 zu- nächst Stalins imperialer und hegemonialer Anspruch auf die gesamte Ost- hälfte Europas. Aber dieser Imperialgedanke mit seinem Pseudo-Internati- onalismus war trotz aller Gewaltanwendung nicht in der Lage, die einmal geweckten emanzipativen und widerständigen Kräfte der kleinen Völker vollständig zu „sowjetisieren". Im Gegenteil, den baltischen Völkern war, wie Georg von Rauch gesagt hat, in der Sowjetunion eine Funktion zuge- wachsen, die sich mit der der baltischen Deutschen in der Zeit Peters des Großen und danach vergleichen lässt. Von Leningrad aus gesehen, waren selbst die baltischen Sowjet-Republiken ein Stück Westeuropa. Es blieb dies ein Potential, das 1989/91 überall mächtig hervorbrach und das neuzeitliche System der großmächtigen Überlagerung Nordosteuropas an sein Ende führte. Der letzte Platzhalter des Ancien Regime an der Ostsee, die imperialistische Sowjetunion, löste sich einfach auf.
40 Im Zentrum Nordosteuropas
Estland freilich — das ist die andere Seite — war durch den Zweiten Welt- krieg und seine Folgen auch in tiefgreifende Revolutionen gestürzt worden. Das waren einmal die demographischen Eingriffe: - die von Hitler und Stalin vereinbarte Umsiedlung der deutschen Minderheit, - die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Estlands, - die Vertreibung in die Emigration und schließlich die großmaßstäbig, staat- lich gelenkte Industrie-Wanderung (bis zu 30 %). Zum anderen gab es die gesellschaftliche Sowjetisierung. Beide Revoluti- onen sind in ihren Folgen noch immer präsent bei allen Transformationspro- blemen. Es sind aber heute Probleme, die großes internationales Interesse und viel Anteilnahme an Estland als ein Stück wiedergewonnenes Europa finden. Estland braucht dabei nicht zuletzt Halt an festen politischen Nordosteuropa- strukturen — an der engen Zusammenarbeit der Ostseeländer — einschließlich Russlands. So mögen unsere kurzen Überlegungen an Estlands Geschichte gezeigt haben, dass von Reval / Estland aus Pfade zu einem umfassenderen und diffe- renzierteren Verständnis Nordosteuropas laufen. Vielleicht könnten sich auch die Konzepte der Geschichtsforschung sich auf diesem Weg näherkommen. Das ist nicht nur für die Diskussion unter den Fachleuten wichtig. Auch in den nationalen Gesellschaften Europas heute sollte der Blick in die Geschich- te eines „kleinen Volkes" im Zentrum einer Großregion orientierend wirken können, wenn dieser Blick nicht in Schwärmerei und Nostalgie stecken bleibt. Nachzutrauern besteht kein Anlass — historisch nicht wie actualiter nicht - weder der Hanse — dem großen Organisator des Ostsee-Mittelalters, - schon gar nicht der kriegerischen Neuzeit, - noch dem Experiment des vorigen Jahrhunderts, dem Sowjetreich mit seinem hegemonial gemeinten Konzept von der Ostsee als einem „Meer des Friedens". Vielmehr muss dieser Blick gerichtet sein auf die europäische Zukunft freier und gleicher Völker.
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PAUL JOHANSEN
BEITRÄGE ZU SEINER BIOGRAPHIE UND SEINEN FORSCHUNGEN ZUR GESCHICHTE NORDOSTEUROPAS
Lea Köiv Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn
Paul Wulff Johansen wurde am 23. Dezember (nach dem julianischen Kalender am 10. Dezember) 1901 als Sohn des dänischen Meliorations- und Agronomieingenieurs und späteren dänischen Generalkonsuls in Estland, Jens Christian Johansen, in Reval geboren. 1919 absolvierte er die Revaler Dom- schule. 1920 begann sein Studium an der Universität Kopenhagen; anschlie- ßend studierte er kurz, bis 1921, an der Landwirtschaftlichen Hochschule von Hohenheim. Im selben Jahr nahm er das Geschichtsstudium in Leipzig auf Mit seiner Dissertation „Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter", die unter der wissenschaftlichen Betreuung von Professor Rudolf Kötzsch- ke entstand, promovierte er 1924 ebenda zum Dr. phil. Von 1924 bis 1934 war Johansen stellvertretender Leiter des Stadtarchivs Reval; 1934 wur- de er zum Stadtarchivar ernannt. 1939 verließ Johansen als Umsiedler Est- land. Von 1940 bis zu seinem Tode im Jahre 1965 arbeitete er als Professor für Hansische Geschichte (seit 1956 ordentlicher Professor für Hansische und Osteuropäische Geschichte) an der Universität Hamburg. Von 1959 bis 1965 leitete er außerdem das von ihm mitbegründete Finnisch-Ugrische Seminar an derselben Universität. In Estland wie auch später in Deutschland gehörte Johansen den leitenden Gremien mehrerer akademischer Vereine an (in Est- land u. a. der Estländischen Literärischen Gesellschaft, des Vereins Estnischer Archivare, des Vereins für die Geschichte Tallinns, und in Deutschland des Hansischen Geschichtsvereins und der Baltischen Historischen Kommission). Sein Gesamtwerk umfasst Abhandlungen zur Siedlungs-, Agrar-, Kultur- und Stadtgeschichte Estlands sowie zur hansischen Geschichte. Insbesondere sind seine Untersuchungen über die Esten und die estnische Sprache im Mittelal- ter und in der Frühneuzeit zu erwähnen.' Man darf wohl behaupten, dass zum Thema „Paul Johansen und das Re- valer Stadtarchiv" und zur Rolle Johansens in der Geschichte des Stadtarchi- vs Johansens wissenschaftlicher Nachlass selbst am besten Auskunft gibt. Ein großer Teil der Forschungen von Paul Johansen beruht ja eben auf Quellen aus dem Revaler Stadtarchiv; dank Johansen wurde das Stadtarchiv Reval ein 1 Zur Biographie Paul Johansens siehe z.B.: Deutschbaltisches Biographisches Lexikon 1710-1960, hrsg. von Wilhelm Lenz, Neudr. Wedemark 1998, S. 358; Norbert Angermann, Wolfgang Veenker und Hugo Weczerka: Gedenken zum 80. Geburtstag von Paul Johansen, in: Zeitschrift für Ostforschung 31 (1982), S. 559-592, hier S. 559-561 (Vorbemerkung von H. Weczerka); Ulla Johansen: Kindheit und Ju- gend Paul Johansens, in: Reden und Vorträge auf der Festveranstaltung am 14. Dezember 2001 aus Anlaß des 100. Geburtstages von Prof. Dr. Paul Johansen (23.12.1901-19.04.1965) / hrsg. von Eugen Helimski, unter red. Mitarb. von Nur5en Gülbeyaz, Hamburg 2002, S. 9-17.
45 Lea Köiv wichtiges Zentrum für die Geschichtsforschung in Estland in den 1920 und 1930er Jahren; durch seine Forschungen und Quellenveröffentlichungen wur- den die Bestände des Archivs auch außerhalb Estlands bekannt.2 Im Hinblick auf die wissenschaftliche Produktion könnte man die Ver- bindung zwischen Johansen und dem Stadtarchiv Reval also als harmonisch bezeichnen. Hier sollen jedoch vorwiegend nicht so erfreuliche Gesichts- punkte betrachtet werden. Diese kommen in seinen Forschungsergebnissen nicht zum Ausdruck, erscheinen aber angesichts seines Lebens und Wirkens im Stadtarchiv — sowie während seiner Jahre in Estland im Allgemeinen — doch nicht als belanglos.3 Johansens Lebenswerk begann noch während eines Umbruchs in Est- land: Die Gründung eines selbständigen estnischen Staates im Jahre 1918 be- deutete für die Esten, die von einem „geschichtslose[n] Volk" zum „sein Schicksal nunmehr selbst bestimmenden Subjekt" geworden waren,4 eine He- rausforderung. Dabei kam auch der Geschichtsschreibung eine wichtige Rolle zu. Es ging darum, mit den Argumenten aus der Vergangenheit die junge Ei- genstaatlichkeit zu untermauern und ihre Lebenskraft zu beweisen. Die aka- demische Geschichtsforschung blieb jedoch für einige Jahre noch Domäne deutschbaltischer Historiker. Dieses Erbe war ohne Zweifel gewichtig, aber — wie die führenden Köpfe der estnischen Geschichtsforschung es 1930 ein- schätzten — „als Arbeitsleistung der fremden Nationen angehörigen Forscher entsprach es nicht den Interessen der estnischen Gesellschaft und der est- nischen Nation",5 und als solches hat es „die Bedürfnisse und Interessen des zum nationalen Leben erwachten estnischen Volkes" nicht befriedigen kön- nen. „Geleitet von gewissen engen Sonderinteressen schenkten diese Forscher der historischen Vergangenheit des estnischen Volkes nicht genügend Auf- merksamkeit und neigten überhaupt dazu, den Anteil der Esten (und Letten) an der historischen Vergangenheit des Baltikums zu unterschätzen und den Anteil des deutschen Elements oft grundlos zu verherrlichen."' 2 Die bisher ausführlichsten Schriftenverzeichnisse von Johansen sind Friederich-Karl Proehl: Schrif- tenverzeichnis von Paul Johansen, in: Rossica Extema: Studien zum 15.-17. Jahrhundert; Festgabe für Paul Johansen zum 60. Geburtstag / hrsg. von Hugo Weczerka, Marburg 1963, S. 179-188; sowie Hugo Weczerka: Verzeichnis der Veröffentlichungen Paul Johansens seit 1962 (mit Nachträgen) und der ihm gewidmeten Beiträge , in: Angermann, Veenker und Weczerka (wie Anm. 1), S. 589-592. Später ist noch erschienen: Paul Johansen: Balthasar Rüssow als Humanist und Geschichtsschreiber / aus dem Nachlass ergänzt und herausgegeben von Heinz von zur Mühlen, Köln u.a. 1996 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; 14). 3 Teilweise sind dieselben Umstände behandelt worden in: Lea Köiv: Rudolf Kenkmaa — eestlane Tallinna Linnaarhiivis [Rudolf Kenkmaa — ein Este im Stadtarchiv Reval], in: Tuna 2 (1999), S. 48-66. 4 Hans Kruus: Grundriss der Geschichte des Estnischen Volkes, Tartu 1932, S. 5 f. 5 Hans Kruus: A. R. Cederberg 50-aastane [A.R. Cederberg 50 Jahre], in: Eesti Kirjandus 6 (1935), S. 251-255, hier S. 251-252. 6 Peeter Treiberg (seit 1935 Tarvel): Akadeemiline Ajaloo-Selts aastail 1920-1930 [Der Akademische Geschichtsverein in den 1920-30er Jahren], in: Ajalooline Ajakiri 9 (1930), S. 1-10, hier S. 1.
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Zum eigentlichen Zentrum der estnischen nationalen Geschichtsforschung wurde Dorpat (estn. Tartu) — der Sitz der Universität sowie des Staatsarchi- vs und des Akademischen Geschichtsvereins. Die neueröffnete estnische Uni- versität Dorpat hielt es bei den sogenannten nationalen Wissenschaften nicht angebracht, auf deutschbaltische Gelehrte Bezug zu nehmen und orientierte sich an finnisch-skandinavischen Kräften und Vorbildern. Zum Professor der estnischen und skandinavischen Geschichte wurde Arno Rafael Cederberg aus Helsinki (schwed. Helsingfors) berufen. Unter seiner Anleitung und un- mittelbaren Beteiligung wurden in Dorpat das Zentralarchiv des Estnischen Staates (1921) gegründet und die Grundsätze des estnischen Archivwesens erarbeitet.' Die erste Generation von estnischen Historikern, die in Dorpat be- reits an der estnischen Universität ausgebildet worden waren, trat um die Mit- te der 1920er Jahre in Erscheinung. Ihre Mission sahen sie darin, die bisherige „fremde Auffassung" von der estnischen Geschichte durch ein „neues, Es- ten-orientiertes Bild" zu ersetzen. Während der Schwerpunkt der deutschbal- tischen Geschichtsforschung auf der „gesellschaftspolitische[n] Creme und ihre[n] Institutionen" lag, sollten die estnischen Historiker diesen auf die „breite Volksmasse, ihren Alltag und Selbstäußerungen" legen.' Unter den deutschbaltischen Historikern gab die Schule der Universtät Dorpat aus der Zeit vor der Russifizierung, deren Kontinuität sich in den aka- demischen Gesellschaften, die das Jahr 1918 überlebt hatten und bis 1939 tätig
7 Arno Rafael Cederberg (1885-1948) — 1913-1919 Dozent der skandinavischen Geschichte an der Uni- versität Helsinki; Lektor an der Universität Dorpat 1919-1928, 1924-1928 Professor der Weltgeschichte. 1920-1928 Vorsitzender des Akademischen Geschichtsvereins, 1920-1924 Vorstand des Estnischen Ar- chivrates, 1920-1928 Vorsitzender des Geschichtsausschusses der Gesellschaft für Estnische Literatur; 1935-1948 Professor an der Universität Helsinki. Cederberg initiierte auch die Herausgabe einer est- nischen historischen Zeitschrift „Ajalooline Ajakiri" (1922). Über seine Tätigkeit in Estland siehe: Tiit Rosenberg: Professor Arno Rafael Cederberg — Eesti ajaloo uurimise koolkonna rajaja Tartu Ülikoolis [Arno Rafael Cederberg — Der Begründer der Erforschung der Geschichte Estlands an der Universität Dorpat], in: Ajalooline Ajakiri 2 (1999), S. 79-90. 8 Hans Kruus: Ärkamisaja pärandus Eesti ajaloo uurimisele [Die Erbschaft des Zeitalters des nationalen Erwachens für die Erforschung der estnischen Geschichte], in: Ajalooline Ajakiri 9 (1930), S. 129-138, hier S. 136 f. Über die Entwicklung der estnischen akademischen Geschichtswissenschaft in der Zwischenkriegs- zeit siehe: Sirje und Jüri Kivimäe: Estnische Geschichtsforschung an der Universität Tartu 1920-1940: Ziele und Ergebnisse, in: Die Universitäten Dorpat/Tartu, Riga und Wilna/Vilnius 1579-1979, hrsg. von Gert von Pistohlkors u.a. Köln, Wien 1987 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; 9), S. 277-291; Sirje und Jüri Kivimäe, Hans Kruus und die deutsch-estnische Kontroverse, in: Zwischen Konfrontation und Kom- promiss: Oldenburger Symposium „Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er Jahre" / hrsg. von Michael Garleff, München 1995 (Schriften des Bundesinsti- tuts für ostdeutsche Kultur und Geschichte; Bd. 8), S. 155-170; Rein Helme: Die estnische Historiographie, ebda., S. 139-154, hier S. 146; Toivo U. Raun: The Image of the Baltic German Elites in Twentieth-Century Estonian Historiography: the 1930s vs. the 1970s, in: Journal of Baltic Studies 30 (1999), S. 338-351, hier 338-345; Jörg Hackmann, Ethnos oder Region? Probleme der baltischen Historiographie im 20. Jahrhun- dert, in: Zeitschrift für Ostforschung 50 (2001), S. 531-556, hier 542-546, 550-552.
47 Lea Köiv waren, sowie in ihren Publikationen widerspiegelte, den Ton an.9 Die Reprä- sentanten dieser Schule belegten in den Anfangsjahren der Republik Estland führende Ämter bei mehreren wichtigen Institutionen — in den Stadtarchiven von Reval, Dorpat und Narva und in der Universitätsbibliothek Dorpat.1° Die veränderten politischen Zustände gaben auch den deutschbaltischen Histori- kern Anlass zu lebhaften Diskussionen und bewogen sie dazu, die Ausgangs- punkte und Ziele ihrer Forschung zu formulieren. Die von nationalen Emp- findlichkeiten bestimmte Atmosphäre wirkte sich unvermeidbar auch auf die Betrachtungsweise der deutschbaltischen Geschichtsforschung aus.' Trotz einer gewissen Polarisierung auf nationaler Ebene gab es zwischen der estnischen und deutschbaltischen Geschichtsforschung jedoch zahl- reiche Berührungspunkte. Die Veröffentlichung ihrer Schriften in deutsch- prachigen Publikationen machte estnische Wissenschaftler auch außerhalb der muttersprachlichen Umgebung bekannt. Eine gegenseitige sachkundige Kritik kam der in Estland gepflegten Geschichtsforschung in ihrer Ganzheit zugute, und die damalige berufliche Atmosphäre hat man im Großen und Ganzen als fruchtbar bezeichnet» Paul Johansen pflegte Umgang mit den 9 Die wichtigsten von diesen waren: die Estländische Literärische Gesellschaft mit der Publikation „Bei- träge zur Kunde Estlands" (vor 1923 „Beiträge zur Kunde Est-, Liv- und Kurlands") in Reval, die Gelehrte Estnische Gesellschaft in Dorpat mit ihren „Sitzungsberichten der Gelehrten Estnischen Gesellschaft"; die Altertumsforschende Gesellschaft zu Pernau und „Sitzungsberichte der Altertumsforschenden Gesell- schaft zu Pärnu/Pernau". 10 Otto Greiffenhagen war Leiter des Stadtarchivs Reval, Arnold Hasselblatt und Eduard Dieckhoff be- kleideten den gleichen Posten im den Stadtarchiven von Dorpat und Narva; Otto Freymuth war Leiter der Baltica-Abteilung der Universitätsbibliothek Dorpat. 11 Über die Problematik der deutschbaltischen Geschichtswissenschaft in den 1920er und 1930er Jah- ren siehe: Heinz von zur Mühlen: Die deutschbaltische Geschichtsforschung 1918-1939/45 in Estland, in: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung / hrsg. von Georg von Rauch, Köln, Wien, 1986 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; 20) S. 339-369; Heinz von zur Mühlen: Kontinuität und neue Anstöße der deutschbaltischen Geschichtsforschung in Estland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Die Universitäten (wie Anm. 8), S. 293-304; Indrek Jürjo: Die Versammlung deutscher Historiker in Reval/Tal- linn am 10. und 11. April 1933 — Ergebnis und Wirkungen, in: Zwischen Konfrontation und Kompromiss (wie Anm. 8), S. 171-183; Jörg Hackmann, Ethnos oder Region, (wie Anm. 8); Eduard Mühle, Deutsch- baltische Geschichtsschreibung zum Livländischen Mittelalter im Kontext der politischen Entwicklungen der 1920er bis 1950er Jahre: zwei werkorientierte Fallstudien, in: Journal of Baltic Studies (wie Anm. 8), S. 352-390. 12 Darin hat man u. a. den positiven Einfluss von Arno Rafael Cederberg gesehen, der dazu beigetragen habe, dass die estnische Geschichtswissenschaft nicht in „breite chauvinistische Bahnen" abgeglitten war; vgl. v. z. Mühlen: Deutschbaltische Geschichtsforschung (wie Anm. 11), S. 343. Ganz andere Bedingungen entwickelten sich beispielsweise in Lettland, wo die regierenden Kreise besonders in den 1930er Jahren eine ignorierende und zugleich agressive Haltung gegenüber der deutschbaltischen Geschichtsforschung zeigten. (Jürgen von Hehn: Die deutschbaltische Geschichtsforschung 1918-1939/45 in Lettland, in: Geschichte der deutschbaltischen Ge- schichtsschreibung (wie Anm. 11), S. 372-398, hier S. 388; Inesis Feldmanis: Die lettische Historiographie, in: Zwischen Konfrontation und Kompromiss (wie Anm. 11), S. 133-138.) - Das Werk der estnischen Historiker fand auch bei deutschen Fachgelehrten hohe Anerkennung; die lettische Geschichtsschreibung hingegen ist bei ihnen auf scharfe Kritik gestoßen. Vgl.: Arved Baron Taube: Estnische Geschichtsforschung und Geschichts- schreibung, in: Jomsburg 2 (1938), S. 45-61; und Ludwig Karstens (= Jürgen von Hehn): Die Entwicklung und
48 Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn beiden Lagern: Er wirkte bei den deutschbaltischen akademischen Vereinen und Veröffentlichungen mit, beteiligte sich aber auch an wichtigen estnischen Proj ekten.13 Bis zur Einsetzung Johansens als stellvertretender Leiter des Archivs 1924 beschränkte sich das wissenschaftliche Personal des Stadtarchivs in Reval auf eine einzige Stelle — die des Stadtarchivars. Diesen Posten hatte seit 1900 Otto Greiffenhagen, Sohn des einstigen Revaler Stadthauptes, inne.14 Johan- sen tat sich neben seinem erfahrenen, beruflich jedoch möglicherweise etwas resignierten Chef schnell als die eigentliche führende Kraft in mehreren wich- tigen Teilbereichen der Archivarbeit hervor. Er wurde und blieb zuständig für die Publikationen, für die Organisation der sogenannten neueren Abteilung beim Archiv," für Kontakte mit den anderen Archiven Estlands sowie für verschiedene laufende Aufgaben. Selbstverständlich kam seine eigene For- schungsarbeit noch dazu. Allem Anschein nach war er damals, ungeachtet der großen Belastung durch die Arbeit, mit seinem Leben zufrieden. 1930 schrieb Johansen an seinen dänischen Kollegen Svend Aakjxr, er sei doch sehr froh, dass er in einer kleinen Provinzstadt wohne und nicht in einer Stadt, die die Menschen töte, wie Kopenhagen oder Stockholm. Reval, obgleich eine Hauptstadt, sei ja immerhin eine Provinzstadt. Hier könne er in aller Ruhe arbeiten und auch als Familienvater leben. Seine Rolle als Vater nehme er gerade mit besonderem Enthusiasmus wahr, da der kleine Jens Christian schon zu kriechen und zu lallen beginne.16 Auf Grund der Archivquellen gewinnt man jedoch den Eindruck, dass die Atmosphäre innerhalb des Archivs, die anfangs wahrscheinlich recht friedlich war, zu Beginn der 1930er Jahre nach und nach schlechter wurde. Im Jahre 1928 vergrößerte sich das Personal: Zum Leiter der bereits erwähnten „neu- eren" Abteilung des Stadtarchivs wurde der Este Rudolf Kenkmaa ernannt. Er hatte sein Studium als Historiker und Archivar an der estnischen Univer-
der Charakter der lettischen Geschichtswissenschaft, in: Jomsburg 3 (1939), S. 45-72. 13 Johansen gehörte den leitenden Gremien u. a. der Estländischen Literärischen Gesellschaft, des Ver- eins Estnischer Archivare und des Vereins für die Geschichte Tallinns an; er war einer der Autoren der Ge- samtdarstellung der estnischen Geschichte (Eesti ajalugu [Estnische Geschichte] / hrsg. von Hans Kruus, 3 Bde., Tartu 1935-1940). 14 Otto Greiffenhagen (1871-1938), Sohn von Thomas Wilhelm Greiffenhagen, dem Revaler Stadthaupt 1883-1885, studierte 1889-1891 an der Universität Dorpat, 1891-1895 der Universität Bonn. Er war Leiter des Stadtarchivs 1900-1934, 1922-1936 Präsident des Estländischen Literärischen Gesellschaft. 1936 sie- delte er nach Deutschland um; er starb in Hameln 1938. 15 Die neuere Abteilung des Stadtarchivs wurde 1927 eingerichtet im Zusammenhang mit der Übernah- me sämtlicher älterer Archivalien von den Abteilungen der Revaler Stadtverwaltung. In die neuere Abtei- lung wurden z. B. auch die Archive der Revaler Gilden, die dem Gesetz über die Aufhebung der Stände zufolge 1920 aufgelöst worden waren, aufgenommen. 16 Aus dem Brief von Paul Johansen an Svend Aakjar vom 15.10.1930. Referiert nach: Vello Helk: Arhivaaride koostöö üle Läänemere. [Zusammenarbeit von Archivaren über die Ostsee] (Über die Briefe von Paul Johansen an Svend Aakjxr, L.K.), in: Tuna 4 (2001), S. 92-108, hier S. 96. 49 Lea Köiv
sität Dorpat absolviert.'' So kamen im Stadtarchiv drei verschiedene Histori- ker, drei verschiedene Schulen zusammen: Kenkmaa, der die junge estnische Geschichtswissenschaft repräsentierte, Greiffenhagen, der noch die „prä-est- nische" deutschbaltische Tradition vertrat, und Johansen, der ja direkt keinem dieser beiden damaligen „Historikerlager" Estlands angehörte. Zum Jahre 1931 schlug die Koexistenz der drei Kräfte unter dem Dach des Stadtarchivs in eine ernsthafte Konfrontation um. Der Konflikt scheint anfangs darauf zu- rückgegangen zu sein, dass Kenkmaas Ambitionen als Forscher auf einen — seiner eigenen Meinung nach — zu engen und einseitigen Rahmen stießen, der ihm von der Archivleitung vorgegeben wurde. In einem Brief an seinen ehe- maligen Lehrer an der Universität Dorpat, den oben schon erwähnten Arno Rafael Cederberg, klagte er, dass die Möglichkeit, sich wissenschaftlich zu betätigen, ihm fast verschlossen bleibe. Sämtliche Forschungsaufgaben hätten der Leiter des Archivs sowie sein Stellvertreter für sich monopolisiert. Eben Dr. Johansen sei fest der Meinung, dass Kenkmaa mit seinen Ansprüchen auf die Forschungsarbeit unerhörte Privilegien für sich verlange und einen An- schlag auf das Ressort von Greiffenhagen und Johansen verübe.18 Bald nahm die Kontroverse im Stadtarchiv aber viel breitere Dimensionen an: Es ging nicht mehr (oder nicht nur) um die Selbstverwirklichung der Mit- arbeiter, sondern konkret um eine geplante estnischsprachige Gesamtdarstel- lug zur Geschichte der Stadt Reval.19 Johansen soll die Meinung geäußert ha-
17 Rudolf Kenkmaa (bis 1935 Kenkman; 1899-1975) studierte 1920-1929 an der Universität Dorpat unter der wissenschaftlichen Betreuung A.R. Cederbergs. Seine Karriere als Historiker begann er mit seiner Ma- gisterarbeit über die historische Topographie Mittelestlands (1933) sowie Abhandlungen zur Geschichte der Kirchspiele in den Landkreisen Werro (estn. Vöru) und Walk (estn. Valga). Ab 1928 fiel sein Betätigungs- feld vor allem in den Bereich der Geschichte Revals und demzufolge in die Stadtgeschichte im Allgemeinen. Das im Ergebnis einer jahrelangen Forschungsarbeit von Kenkmaa am Vorabend des Zweiten Weltkrieges abgeschlossene Manuskript über die Geschichte Revals fiel dem Brand des Stadtarchivs während des so- wjetischen Luftangriffs auf Reval im März 1944 zum Opfer. (Nach dem Auszug aus der Autobiographie von Rudolf Kenkmaa 1968, in: Tallinn tules. Dokumente ja materjale Tallinna pommitamisest 9./10. märtsil 1944 [Reval in Feuer. Dokumente und Materialien über den Luftangriff auf Reval am 9./10. März 1944], hrsg. von Jüri Kivimäe und Lea Köiv, Tallinn, 1997 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Reval; 2), S. 125). 1934-1939 war Kenkmaa stellvertretender Leiter des Stadtarchivs, 1939-1944 Stadtarchivar, 1944-1945 stellvertretender Direktor des staatlichen Zentralarchivs der Estnischen S SR; seit 1945 Direktor. 1947-1957 lehrte er als Dozent für Geschichte und Archivwesen an der Universität Dorpat, 1957-1963 war er wissen- schaftlicher Mitarbeiter am Institut für die Geschichte der Akademie der Wissenschaften der Estnischen Sowjetrepublik. Über das Leben und Wirken Kenkmaas s. Rudolf Kenkmaa 1898-1975, hrsg. von Peep Pillak, Tallinn 1998. 18 Nationalarchiv Finnlands: Nachlass Arno Rafael Cederberg 5, 1931/1. Brief von Rudolf Kenkmaa an Cederberg vom 14.09.1931. Für die Materialien in Helsinki bin ich Herrn Peep Pillak sehr zu Dank verpflichtet. 19 Briefwechsel des Stadtarchivs Reval mit der Stadtverwaltung und der Universität Dorpat betreffend. die Herausgabe des Sammelbandes „Tallinn." Stadtarchiv Reval (im folgenden: TLA), fond 82 (Stadtver- waltung Reval), nimistu 1, säilik 1287 (im folgenden zitiert als 82-1-1287), Bl. 1-28. Wie 1932 vereinbart, wurde die Stadtgeschichte nach Perioden zwischen Johansen, Juhan Vasar, Otto Liiv, Hans Kruus und
50 Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn ben, dass man gar keine besonderen Vorbereitungen zur Herausgabe einer neuen Stadtgeschichte treffen müsse, denn das bekannte Werk von Eugen Nottbeck und Wilhelm Neumann, „Geschichte und Kunstdenkmäler der Stadt Reval",2° könne sowieso nicht übertroffen werden. Kenkmaa stellte in einem seiner Briefe fest, „dass die estnische Geschichtsforschung durch solche Äu- ßerungen offen verunglimpft wird, dass sie als kraftlos und unmündig ange- sehen wird."2' Er machte den Herausgeber der geplanten Veröffentlichung sogar darauf aufmerksam, dass es angesichts der Interessen des estnischen Volkes und Staates nicht wünschenswert wäre, „der jetzigen nicht-estnischen Leitung des Stadtarchivs, deren Angehörige mit militantem deutschem Na- tionalismus und Hitlerismus sympathisieren, die Möglichkeit zu geben, bei der Festlegung der Gesamtkonzeption und Struktur des Werkes maßgeblich mitzureden. Denn sonst würden wir zwangsläufig Lobgesang und Weihräu- chern [...] auf die hohe deutsche Kultur hören, sowie Verherrlichung der Or- dens- und Hansezeit; unvermeidlich würden die entsprechenden Kapitel über- mäßig lang werden, während die neuere Zeit, die für das Verständnis unserer heutigen Lage doch unendlich viel wichtiger ist, wohl oder übel gleich einem Waisenkind vernachlässigt werden würde." Um seinen Ausführungen mehr Nachdruck zu verleihen, führte er als warnendes Beispiel Johansens negati- ve Einstellung zu einer landesweit durchgeführten Aktion zur Sammlung von Erinnerungen an die Ereignisse während der russischen Revolution von 1905 an, als es in Estland zu Brandschatzungen und Plünderungen der Herrenhäu- ser durch estnische Bauern gekommen war. Johansen habe gesagt, dass eine solche Sammlungsaktion keinen Sinn mache und für die Forschung ohnehin gar keinen Wert habe. Eigentlich dürfe man so etwas nicht machen, denn da- mit würde man alte Wunden wieder aufreißen und die Esten erneut gegen die Deutschen aufhetzen. Kenkmaa bestand jedoch nicht darauf, dass Johansen als Mitarbeiter an der geplanten Veröffentlichung völlig verdrängt oder aus- geschlossen werden sollte. Er gab zu, dass Johansen als Kenner mittelalter- licher Quellen wohl unentbehrlich sei. Bei dem gegebenen Projekt müsse man die Arbeit Johansens jedoch sorgfältig beaufsichtigen.22
Kenkmaa aufgeteilt. Die Redaktion des historischen Teils übernahm Kruus, der 1937 von Johansen ab- gelöst wurde. Nachdem der Letztere 1939 Estland verlassen hatte, wurden die Pflichten des Redakteurs Kenkmaa übertragen. 1940 war das Manuskript fertig, aber in der veränderten politischen Lage konnte es nicht mehr veröffentlicht werden. 20 Eugen Nottbeck, Wilhelm Neumann: Die Geschichte und Kunstdenkmäler der Stadt Reval, Bd.1-2, Reval, 1896-1906. 21 Kenkmaa an Cederberg, 14.9.1931 (wie Anm. 18). 22 Referiert nach der Abschrift im Nachlass R. Kenkmaas, 14.5.1932, TLA, R-285-1-408, Bl. 2-4. Der Brief trägt keinen Namen des Empfängers, aber offenbar handelt es sich um Hans Kruus (1891-1976). Kruus war ab 1927 Dozent für Geschichte an der Universität Dorpat, 1931-1934 außerordentlicher und ab 1934 ordentlicher Professor der estnischen und skandinavischen Geschichte.
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Aus dem Vorangehenden lässt sich bereits erkennen, dass Kenkmaa tiefes Misstrauen gegen die Träger der deutschen Forschung zur Geschichte Est- land hegte. Zu diesen zählte er auch Paul Johansen. In einem Brief an Pro- fessor Cederberg gestand Kenkmaa, dass er zunächst den Eindruck hatte, dass Johansen im Gegensatz zu Greiffenhagen von „Überheblichkeit und. Hochmut germanischer Prägung" frei sei. Jetzt scheine ihm aber, dass Jo- hansen seinen wahren, gar nicht so Esten-freundlichen Kern verberge und nur zur Sicherung seiner Karriere geschickt zwischen den zwei Blöcken, dem estnischen und dem deutschen, laviere.23 Kenkmaas recht unfreundliches Verhalten gegen Johansen kann in ge- wissem Maße von der Tatsache mit geprägt worden sein, dass er sich im Stadtarchiv verdrängt oder eingeengt fühlte. Doch erregte Johansen, obgleich er als Wissenschaftler im Allgemeinen hochgeschätzt wurde, auch bei man- chen anderen estnischen Archivaren und Historikern Misstrauen. So fand auch Arnold Soom, der Stadtarchivar von Narva, dass sich Johansen zwar um Kontakte zu den estnischen Historikern bemühe und bestrebt sei, die aus est- nischer Sicht relevanten Forschungsthemen zu behandeln, jedoch sei er nicht in dem Maße ein Historiker estnischer Prägung, um ihn künftig als einen ge- eigneten Kandidaten für den Posten des Stadtarchivars von Reval anzusehen. Diese Stelle musste nach Sooms Meinung unbedingt mit einem estnischen Historiker besetzt werden. Soom war der Ansicht, dass die Revaler Stadtvä- ter entweder zu passiv gegenüber ihrem Archiv waren oder die „baltischen Funktionäre" zu hoch einschätzten. Dem Archiv der Hauptstadt mache sein Personalbestand keine besondere Ehre. Johansen sei als Wissenschaftler wohl anzuerkennen, und man sollte auch künftighin versuchen, ihn den estnischen Historikerkreisen näher zu bringen, aber die führende Rolle in einem der größten und bedeutendsten Archive Estlands sollte doch einem anderen zu- kommen. Soom fand, dass man diesen Standpunkt auch in „gewissen Krei- sen" zu betonen habe, und „dies nicht in letzter Minute". Von einem öffent- lichen Angriff wäre doch abzusehen; man müsste auf eine andere Art Einfluss auszuüben versuchen.24 Vor diesem Hintergrund ist zu ersehen, dass im Stadtarchiv Reval und um das Stadtarchiv herum ein recht komplexer Konflikt gereift war, bei dem das unterschiedliche Verhalten der Beteiligten zur Geschichte und Geschichts- schreibung eine wichtige Quelle der Meinungsverschiedenheiten bildete. In den Auseinandersetzungen im Stadtarchiv spiegelte sich zugleich — bedingt durch die Unvereinbarkeit nationaler Ausgangspunkte — gegenseitiges Misstrauen zwischen der estnischen und der deutschen Geschichtsfor-
23 Kenkmaa an Cederberg, 14.09.1931 (wie Anm. 18). 24 TLA, R-285-1-403, B1.2-2v. A. Soom an Kenkmaa am 1.3.1931.
52 Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn schung wider." Ungeachtet aller verborgenen Konfrontationen schien es je- doch ganz sicher, dass Johansen als bisheriger Stellvertreter des Leiters und hervorragender Wissenschaftler zum nächsten Stadtarchivar werden würde. Als der entscheidende Augenblick dann kam, waren seine Aussichten, den Posten zu bekommen, plötzlich aber nicht mehr so gut. Der Abschied Greif- fenhagens (der bis heute der Stadtarchivar mit dem längsten Dienstalter ist) vom Archiv 1934 war jedoch mit einem öffentlichen Skandal verbunden, von dem auch Paul Johansen nicht unberührt blieb. Hier kann diese Krise nur kurz umrissen werden. Auf den ersten Blick ganz unerwartet, bei den Besprechungen über das Budget des Stadtarchivs im Jahre 1934, übte die Stadtverwaltung - als Träger des Stadtarchivs scharfe Kritik an der Archivleitung. Die führenden Kräfte des Archivs seien nicht frei von Tendenz, ihre Haltung entspreche nicht den Interessen und kulturellen Bestrebungen der Mehrheit der Bevölkerung der Stadt Reval und der Republik Estland; die bisherigen Veröffentlichungen des Archivs richteten sich auf die deutschbaltischen Kreise und beleuchteten nicht genügend die Rolle und das Werk der Esten in der Geschichte ihres Landes. Diese Mängel könnten nur beseitigt werden, indem der amtierende Archi- vchef durch eine neue, zeitgemäße Kraft ersetzt werde?' Durch die Presse wurde die Kritik auch der Öffentlichkeit bekannt." Rudolf Kenkmaa gesell- te sich ganz offen zu den Kritikern. In einer estnischen Zeitung behauptete ei- unter anderem: „den estnischen Archivbeamten wird keine Möglichkeit ge- geben, sich an den Publikationen des Archivs zu beteiligen"; „die Lage der estnischen Archivbeamten ist im Vergleich zu den Nichtesten weniger gün-
25 So wie für Johansen in der Frage des Jahres 1905 war das ablehnende Verhalten gegenüber den von estnischen Historikern in der Art von Kampagnen veranstalteten nationalen Aktionen charakteristisch für die deutschbaltischen Historiker im allgemeinen: Auch in den Ergebnissen der von dem Akademischen Geschichtsverein und dem Geschichtsausschuss der Gesellschaft für Estnische Literatur veranstalteten Sammlung der historischen Überlieferung wurde antideutsches „Hetzmaterial" gesehen. 1923-1932 wan- derten Geschichtsstudenten als Stipendiaten durch die Kirchspiele, um mündliche Volksüberlieferungen aufzuzeichnen. Die auf dieser Grundlage abgefassten schriftlichen Zusammenfassungen wurden später in den Nachschlagewerken über die estnischen Landkreise benutzt, s. Jürjo (wie Anm. 11), S. 178. 26 TLA, 82-1-1450, Bl. 2. Brief der Abteilung für Bildungswesen der Revaler Stadtverwaltung an die Stadtverwaltung am 12.1.1933. In früheren Unterlagen der Stadtverwaltung lässt sich keine Kritik an den Veröffentlichungen des Archivs finden; Die Jahresberichte des Archivs und somit die gesamte Arbeit hatten bisher nur Zustimmung gefunden; s. Otto Greiffenhagen an die Abteilung für Bildungswesen am 20.1.1934, Ebda., Bl. 6. 27 10.1.1934 brachte die Rubrik „Revaler Chronik" der „Revalschen Zeitung" die Nachricht, dass das Budget der Publikationen des Stadtarchivs gekürzt worden sei, weil diese auf die deutschbaltischen Kreise gerichtet wären und nicht genügend die Rolle des angestammten Volkes in der Geschichte beleuchteten. Gleichzeitig wurde das baldige Erscheinen einer erläuternden Schrift aus „sachkundiger Feder" in Aus- sicht gestellt. Man behielt eine von Greiffenhagen geschriebene Erklärung im Auge, aber diese erschien nicht, weil der Zeitungsredakteur davon abgeraten hatte. TLA 82-1-1450, Bl. 7v.-8. Aus dem Brief von Kenkmaa an die Abteilung für Bildungswesen vom 22.1.1934.
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stig [...], die Archivführung beherrscht selbst im 16. Lebensjahr der Republik die Staatssprache nicht in dem Maße, dass sie Schriftverkehr in dieser Spra- che pflegen kann". 28 In seinen Stellungnahmen machte Kenkmaa ganz deut- lich, dass der stellvertretende Leiter im Archiv eine maßgebliche Rolle spiele. Selbstverständlich musste Johansen sich durch diese Angriffe gestört fühlen. Offensichtlich verlangte er von Kenkmaa, dass dieser eine Erklärung zu seinen Äußerungen abgeben sollte. Zur Schlichtung des Streites wurden letztendlich sogar „Schiedsrichter" herangezogen, in deren Anwesenheit die beiden Parteien dann ein „Versöhnungsprotokoll" unterzeichneten. In diesem bedauerte Kenk- maa, Johansen gekränkt zu haben. Er bekräftigte, „dass er keine Absicht habe, Dr. Johansen die Ausübung seines jetzigen Amtes im Archiv im weiteren zu erschweren oder zu verhindern sowie Dr. Johansen aus seinem Dienst zu ent- fernen mit dem Ziel, für sich selbst eine Möglichkeit zum Aufstieg im Beruf vorzubereiten".29 Jedoch sah Johansen seine Position in dieser Situation all- gemeiner Nervosität weiterhin gefährdet. Im März 1934 schrieb er an Svend Aakjaer, dass es zweifelhaft sei, ob die Esten nach dem Abschied eines Deut- schen als Stadtarchivar ausgerechnet ihn, Johansen, als dessen Nachfolger se- hen wollen: Ein Este an der Spitze des Stadtarchivs wäre ihnen doch lieber. Jedoch sei seine Ernennung zum Stadtarchivar für ihn eine Prestigefrage: Er arbeite ja bereits seit zehn Jahren als stellvertretender Archivleiter. Sein Urteil über den Stand der Dinge ist schlicht und lakonisch: „Mit diesen verdammten nationalen Fragen geht man schon zu weit!"3° Öffentlich wurde Johansen als geeigneter Kandidat für das Amt des Stadt- archivars von der Stadtverwaltung, soweit ersichtlich, wohl nie in Frage ge- stellt. Wie bekannt, ging die Sache für Johansen letztendlich doch positiv aus. Am 9. Mai 1934 wurde er estnischer Staatsangehöriger.31 Seiner Ernennung stand nichts mehr im Wege. Am 1. Juni wurde er als Stadtarchivar bestätigt.32 Hat es denn für die Kritik, die im Frühjahr 1934 dem Archiv zuteil wur- de, ernstzunehmende Gründe gegeben? Im Mittelpunkt der öffentlich an das Archiv gestellten Ansprüche stand die Frage der Quellenveröffentlichungen.
28 R[udolf] Kenkman: Linna arhiivi ühekülgne töö: Eestlastest ametnikel ei vöimaldata osavöttu arhiivi wäl- jaannete toimetamisest. [Die einseitige Arbeit des Stadtarchivs: den estnischen Archivbeamten wird keine Möglichkeit gegeben, sich an den Veröffentlichungen des Archivs zu beteiligen], in: Hommikleht, 11, 15. Januar 1934. Weiterhin: R[udolf] Kenkman: Linnaarhiivis ei osata eesti keelt. Üks arhiivi väljaannete toimeta- jaist Balti vendluse liige [Im Stadtarchiv beherrscht man kein Estnisch. Einer der Herausgeber der Veröffentli- chungen des Archivs Mitglied der Baltischen Brüderschaft], in: Hommikleht 14-18. Januar 1934. 29 TLA, R-285-1-408, Bl. 9. Das Dokument ist ohne Titel und auf den 29. Januar 1934 datiert. Auf dem Schreiben findet sich ein Vermerk II eks. (Ausfertigung II). 30 Aus dem Brief Johansens an Aakjer vom 15.4.1934. Referiert nach Helk (wie Anm. 16), S. 98. 31 Vom Innenministerium an Paul Johansen ausgestelltes Zeugnis vom 9.4.1934 über seine Aufnahme in die estnische Staatsangehörigkeit (Abschrift). TLA, 52 (Archiv der Abteilung für Bildungswesen der Stadtverwaltung Reval)-2-510 (Dienstlicher Werdegang von P. Johansen), Bl. 5. 32 Ebda., Bl. 23v.
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Dabei bleibt unklar, welche Veröffentlichungen konkret gemeint waren und warum. Nach Ausweis der estnischen wissenschaftlichen Periodika jener Zeit verdiente die Arbeit des Stadtarchivs in diesen Bereichen ausschließlich Lob, und einige Veröffentlichungen des Stadtarchivs wurden noch ganz besonders als wertvolle Beiträge zur „estnischen Thematik" herausgehoben." Die Vor- würfe mussten direkt auch Johansen betreffen: eben er gab ja bei Forschung und Publikation den Ton an. Als Anlass für den Streit scheint jedoch eine konkrete Begebenheit in Betracht zu kommen, und das strenge Urteil über die Publikationspolitik des Stadtarchivs kann kaum auf etwas anderes als auf die- sen Fall zurückgeführt werden. Das Stadtarchiv plante nämlich 1934 die He- rausgabe eines Revaler Bürgerbuches, das von dem ehemaligen Richter Ge- org Waldemar Adelheim zur Veröffentlichung vorbereitet worden war und an dem auch Paul Johansen unmittelbar mitwirkte.34 Dann wurde aber die Tatsache bekannt, dass Adelheim Mitglied der „Baltischen Brüderschaft", einer in Estland verbotenen Vereinigung war. Deshalb hatte man ihn 1933 aus seinem Amt als Richter entlassen.35 Die Stadtverwaltung weigerte sich, eine Veröffentlichung zu finanzieren, an der der politisch verdächtige Adel- heim beteiligt war, und der Archivleitung wurde die Zusammenarbeit mit ei- ner dermaßen dubiosen Person verübelt. 36 Natürlich fiel bei Johansen persönlich sein herausragender Beitrag zur Er- forschung der estnischen Geschichte und Sprachgeschichte positiv ins Ge-
33 Otto Liiv, Nikolai Treumuth (seit 1935 Nigolas Loone): Allikpublikatsioonidest Eesti iseseisvuseaegses aja- lookirjanduses [Über die Quellenveröffentlichungen in der Geschichtsliteratur während der Zeit der estnischen Selbständigkeit], in: Ajalooline Ajakiri 9 (1930), S. 76-90; hier S. 77-78,80, 85, 86, 90; Hans Kruus, Eestin histo- riantutkimuksen kehitys ja nykyinen tila [Die Entwicklung und die gegenwärtige Lage der estnischen Geschichts- schreibung], in: Historiallinen Aikakauskirja 3, (1933), S. 232-243, hier S. 239; Otto Liiv: Ülevaade Tallinna lin- naarhiivi tegevusest, eriti viimase kiimne aasta jooksul [Über die Tätigkeit des Stadtarchivs Reval, insbesondere während der letzten zehn Jahre], in: Ajalooline Ajakiri 7 (1928), S. 25-40; hier S. 36-37, 40. 34 Schon 1933 wurde in der Reihe der Publikationen des Stadtarchivs „Das Revaler Bürgerbuch 1624-1690 (nebst Fortsetzung bis 1710)" veröffentlicht, das ebenfalls von Georg Adelheim bearbeitet worden war. 35 Die von der Ideologie des Nationalsozialismus beeinflusste „Baltische Brüderschaft" wurde 1929 in Deutschland ins Leben gerufen; sie vereinigte die dortigen Deutschbalten aus Estland und Lettland. Georg Waldemar von Adelheim (1884-1952) — Jurist und Genealoge - war 1921-1922 Rechtsanwalt in Reval, 1922-1933 Mitglied des Bezirksgerichts, 1934-1939 Rechtsanwalt. 1931-1934 Direktor, 1935 Ehrenprä- sident der Sektion für Genealogie der Estländischen Literärischen Gesellschaft, 1937-1939 Direktor der Sektion für Rechtswissenschaft. 1936 saß er wegen Zugehörigkeit zur Baltischen Brüderschaft zwei Monate in Haft; s. Deutschbaltisches Biographisches Lexikon (wie Anm. 1), S. 1. 36 Aus dem Brief R. Kenkmaas an die Abteilung für Bildungswesen der Revaler Stadtverwaltung vom 22. Januar 1934. TLA, R-285-1-29v. Das Bürgerbuch wurde in demselben Jahr von der Estländischen Literä- rischen Gesellschaft herausgegeben: Das Revaler Bürgerbuch 1710-1785 / hrsg. von Georg Adelheim, Tallinn/ Reval 1934 (Beiträge zur Kunde Estlands; Bd. 19). Im Vorwort schreibt Adelheim: „Aus Gründen, die mich überraschen mussten, denn sie scheinen mir so wenig im Einklange zu stehen mit dem wissenschaftlichen Charakter dieser Publikation, wurden die bereits bewilligten Kredite am Tage, da der Druck beginnen sollte, von der Stadtverwaltung gesperrt." Gleichzeitig bedankt er sich persönlich auch bei Paul Johansen für seine Mitarbeit (Vorwort, S. XIV).
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wicht?' Angesichts seiner „nichtestnischen" Herkunft und der Tatsache, dass er eng mit den deutschbaltischen Kreisen verbunden war, hatte er jedoch Grund, an seinem Aufstieg zum Stadtarchivar zu zweifeln. Es bleibt unge- wiss, ob 1934 auch Kenkmaa — der erste Este im Stadtarchiv — als Kandidat für diesen Posten in Erwägung gezogen wurde. In einer Zeit und einer Situa- tion, wo wichtige Entscheidungen nicht zuletzt von nationalen und nationalis- tischen Überlegungen geprägt wurden, wäre es an sich ganz logisch gewesen — sei hier z. B. an die Stellungnahmen des Stadtarchivars von Narva, Arnold Soom, in bezug auf die Leitung des Stadtarchivs Reval erinnert. Es sind also die Widersprüche, Probleme und Trends, die für Estland und die junge estnische Gesellschaft während der Zwischenkriegszeit im Allge- meinen kennzeichnend waren, auch beim Thema „Paul Johansen und das Stadtarchiv" nicht zu übersehen. Abgesehen davon, dass Johansen als Histo- riker hohes Ansehen genoss, weckte er als „Nichteste" mit „Kern und Welt- anschauung, die ihm in der Revaler Domschule zu eigen gemacht wurde"," Misstrauen bei estnischen Historikern. Am stärksten kam das Befremden, dass Johansen seitens der estnischen Kreise zuteil wurde, im Jahre 1938 zum Vorschein, als er sich erfolglos um eine Professur in Dorpat bewarb. Bei der Tatsache, dass einige estnische Historiker damals bestritten, dass der von Jo- hansen in Leipzig erlangte Doktorgrad den Anforderungen der Universität Dorpat gerecht werde, ist anzunehmen, dass Kompetenz und objektiver Tat- bestand unter anderem auch den nationalen Präferenzen unterlagen.39 Der Abschied Johansens vom Stadtarchiv im Herbst 1939 war zugleich sein Abschied von der Heimat. Knapp zwei Wochen vor seiner Abreise ins Reich schrieb er an Svend Aakjaer: „Die Dänen sind gleichzeitig mit den Deutschen hierher gekommen, deshalb muss ich als Dänenbalte das Schick- sal der Deutschbalten teilen. Was bleibt mir denn sonst übrig? Meine Frau ist eine Deutsche, die Kinder sprechen Deutsch; nur die Tochter Ulla kann auch ein bißchen Dänisch." Also kann die Familie nicht länger hier bleiben: „Mein Herz zerbricht vor Kummer über all das, was man hier zurücklassen muss.
37 Johansen hatte mehrere Quellen und Abhandlungen zu den ältesten estnischen Sprachdenkmälern und zur estnischen Einwohnerschaft Revals veröffentlicht: Z.B. Eestikeelsed palved Kullamaalt. Estnische Gebete aus Goldenbeck (Tallinna linnaarhiivi väljaanded / Veröffentlichungen des Stadtarchivs Tallinn Nr. 1), Tallinn, 1923; Eestikeelsed märkmed kahes dominiiklaste kloostri raamatus [Die estnischspra- chigen Notizen in zwei Büchern des Dominikanerklosters], in: Eesti Keel, 5-6 (1929), S. 89-97; Teateid vanimast eesti katekismusest [Nachrichten über den ältesten estnischsprachigen Katechismus], ebda., 5/6 (1927); Ohne Johansens Studien zur Siedlungs- und Agrargeschichte der Esten wäre dieser Bereich in Estland damals noch ein ziemliches Brachland gewesen. Für seine Monographie „Die Estlandliste der Liber Census Daniae" (Kopenhagen, 1933) erhielt Johansen 1934 den Jahrespreis des Eesti Ajaloo Kapital (Stiftung für estnische Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung), s. TLA, 82-1-130, Bl. 73v. 38 Kenkmaa an Cederberg (wie Anm. 19). 39 Darüber siehe näher: Jüri und Sirje Kivimäe (wie Anm. 8), hier S. 288, sowie den Beitrag von Jüri Kivimäe in diesem Band.
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Mein Lebenswerk, das erneuerte Archiv, das neugegründete Museum, meine historische Forschungen, alles bleibt hier. Ich muss es wegen der Kinder ma- chen, ihre Zukunft ist mir wichtiger."4° Am 28. Oktober wurde Johansen seines Amtes als Stadtarchivar entho- ben;41 am 31. Oktober verließ er mit seiner Familie Estland. So mancher von den in Estland Zurückgebliebenen hatte kein Verständnis für seinen Ab- schied. Dies kommt z. B. in einigen Briefen von Rudolf Kenkmaa zum Aus- druck: „Dr. Johansen, der selbst ein geborener Däne und dessen Frau keine echte Deutsche ist, ist dem Rufe des Führers gefolgt und aus Klein-Estland. nach Groß-Deutschland [...] umgesiedelt";42 „Herr Dr. P. Johansen hat, ob- wohl selber ein geborener Däne, seinen bisherigen Amtsposten freiwillig auf- gegeben und unser Land verlassen."43 Ähnlich wie die Umsiedlung Johansens muss auch der Abtransport eines großen Teils des alten Revaler Archivs 1944 nach Deutschland als eine Folge der „großen Politik" angesehen werden.' Noch kurz vor seinem Tode äußerte Johansen — er tat es auf eine dringende Bitte von Rudolf Kenkmaa hin — sei- ne Meinung zum gespaltenen Archiv. Kenkmaa hatte den ehemaligen Kol- legen aufgefordert, von sich aus zur Rückführung des Archivs nach Estland beizutragen.' Die Stellungnahme Johansens befindet sich in einem Brief an Julius Bleyer (1901-1980), den einstigen Leiter des Estnischen Postmuse- ums in Reval, der in den 1930er Jahren ein eifriger Benutzer des Stadtarchi- vs gewesen war und der die beiden ehemaligen Archivare kannte. (Eine di- rekte Korrespondenz mit Johansen wollte Kenkmaa nicht führen.)46 Johansen schrieb, dass seine Meinung in dieser Sache nichts bedeute und dass niemand
40 Johansen an Aakjxr aus Reval, 18.10.1939; zitiert nach Helk (wie Anm. 16), S. 99-100. 41 TLA, 52-2-510 , Bl. 43. 42 Kenkmaa an Bertil Boethius (Stockholm), 10.11.1939. TLA, 88 (Das Archiv des Stadtarchivs Reval)- 1-13, Bl. 149. 43 Kenkmaa an Artur Jönsson am 15.07.1940. TLA 88-1-16, Bl. 5-5v. Paul Johansen besuchte das Stad- tarchiv noch im Frühling 1942. Im Zeitraum vom 18.3. bis zum 7.4.1942 war er beinahe jeden Tag im Archiv (siehe seine eigenhändige Eintragungen im Gästebuch des Stadtarchivs: TLA ,88-1-103. Während dieses Besuchs schenkte er der Archivbibliothek den Sonderdruck von den Hansischen Geschichtsblättern (65./66. Jahrgang, 1940/41) mit seinem Aufsatz „Die Bedeutung der Hanse für Livland" (Laut Eintrag im Gesamtverzeichnis der Bibliothek des Stadtarchivs III, Bl. 145v-146) und entlieh das Buch „Peter der Große" von Alexander Brückner aus der Archivbibliothek. Zum letzten Mal war Johansen in Reval im Jahre 1944 (siehe: Ulla Johansen: Meenutusi. Paul Johanseni elutee Teises maailmasöjas [Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg], in: Tallinna Kunstiülikooli toimetised 1 (2). Tallinn, 1992, S. 74-87; hier S. 82; deutsche Fassung in diesem Band. 44 Siehe dazu: Wilhelm Lenz, Die Verlagerung des Revaler Stadtarchivs im Rahmen des „Archivschutz- es" während des Zweiten Weltkrieges, in: Reval. Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert / hrsg. von Norbert Angermann und Wilhelm Lenz (Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 8), Lüneburg 1997, S. 397-443. 45 Aus dem Brief von Kenkmaa an Bleyer vom 29.4.1964 (Abschrift). TLA,1264 (Nachlass Julius Bley- er)-1-57, Bl. 59-60. 46 Aus dem Brief von Johansen an Bleyer vom 10.5.1964. TLA, 1264-1-57, Bl. 63.
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ihn um seine Meinung gebeten habe — genauso wie beim Abtransport des Ar- chivs während des Krieges. Er sei in Deutschland nur ein fast ganz unbe- kannter Professor; er sei jedoch bereit, etwas für die Rückgabe zu tun. Aber was? Seiner Meinung nach sollte zunächst von der Sowjetunion ein Auslie- ferungsersuchen an die Bundesrepublik gestellt werden: „Sorgen Sie in Tal- linn dafür, daß endlich die Herren Diplomaten sich auch für Archivfragen interessieren! Ich glaube, daß bei einem begründeten Auslieferungsersuchen, durch die Sowjetunion die Rückführung des Archivs von der Bundesregie- rung bewilligt werden wird." Laut Johansen hätte hauptsächlich die Frage des Eigentümers Schwierigkeiten bereiten können: „Jetzt gehört das Archiv in Tallinn ja nicht mehr der Stadt, sondern dem Staat. Man müsste von Tal- linn aus Garantie bekommen, dass das Archiv dort in einem geeigneten Raum untergebracht wird, auch sollte man Beweise zeigen, daß man bereit ist, aus- ländischen Benutzern entgegenzukommen — bisher sind fast nur negative Er- fahrungen gemacht worden. Wahrscheinlich gibt es da eine unüberwindliche Bürokratie [hier hat Julius Bleyer die Notiz „und Ideologie" hinzugefügt — L.K.], die jede wissenschaftliche Arbeit erstickt."47 Im Nachhinein liegt auf der Hand, dass Johansen die Realitäten in gewissem Maße verkannte, bewusst oder unbewusst. Wie schon Julius Bleyer bemerkt hatte, hing von der „Bürokratie in Reval" damals kaum etwas ab. Zugleich scheint Johansen den Aspekt des Eigentümers (staatli- ches oder Kommunaleigentum) bei der Rückführung des Revaler alten Ar- chivs überschätzt zu haben: während der sowjetischen Zeit gab es keinen Gemeindebesitz im klassischen Sinne; es handelte sich um einen einheit- lichen sowjetischen „staatlichen Archivbestand". Auch hätte Johansen mir gutem Grund die Eigentumsfrage eigentlich auch anders beurteilen kön- nen: die Archivalien Revals konnten nicht mehr an den ehemaligen Be- sitzer, an die Republik Estland, zurückgeführt werden, denn Estland war besetzt. Ihre Übergabe an die Sowjetunion hätte mit der Politik der Bun- desrepublik Deutschland, die sowjetische Besatzung Estlands nicht anzu- erkennen, nicht in Einklang gestanden.48 Zum Schluss soll ein Traum wiedergegeben werden, den Rudolf Kenkmaa in der Nacht zum 27. März 1965 hatte und den der bereits genannte Julius Bleyer aufgezeichnet hat: „Kenkmaa erblickt Johansen bei der Heiligengeistkirche in Reval. Johansen, mit einer weißen Kopfbe- deckung, einen Kinderwagen schiebend, zieht gerade an der Kirche vorbei.
47 Johansen an Bleyer am 10. Mai 1964 (wie Anm. 45). 48 Vgl. auch.: Wilhelm Lenz, Verlagerung wie Anm. 44), S. 426; Lea Köiv, Kümme aastat Tallinna Lin- naarhiivi varade Saksamaalt tagasitoomisest (Ülevaade 27. oktoobril 2000 Linnaarhiivis toimunud meenutu- ste-päevast) [Zehn Jahre Rückführung der Revaler Archivalien aus Deutschland (Übersicht über die Erinne- rungsfeier im Stadtarchiv Tallinn am 27. Oktober 2000)], in: Vana Tallinn 12 <16> (2002), S. 195-199.
58 Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn
Kenkmaa ist beim Anblick Johansens sehr überrascht, denn dieser wohnt doch jetzt in Hamburg. Mit einem Gruß eilt er auf Johansen zu. Dieser reagiert auf seinen Gruß gar nicht und geht mit dem Kinderwagen weiter. An dieser Stel- le brach der Traum ab." Kenkmaa gestand bei der Erzählung seines Traumes an Bleyer, dass er seit Jahrzehnten nicht mehr geträumt habe. Er glaube auch gar nicht, dass ein Traum etwas bedeuten kann. Dazu meinte Bleyer, dass die- ser Traum für Johansen nichts Gutes bedeute.49 Paul Johansen verstarb am 19. April 1965, drei Wochen später.
49 Rudolf Kenkmaas eigenartiger und bedeutungsvoller Traum in der Nacht zum 27. März 1965 über Prof. Dr. P. Johansen. TLA, 1264-1-57, Bl. 77.
59 Jüri Kivimäe Fremdenangst und/oder akademische Intrige? Paul Johansens Bewerbung um die Professur für mittelalterliche Geschichte an der Universität Tartu
„Weihnachtsphantasie" und Amtskarriere Am Weihnachtsabend des Jahres 1934 konnte Dr. Paul Johansen in Re- val (estn. Tallinn) auf seinen bisherigen Lebensgang mit voller Zufrieden- heit zurückzublicken. Am Vortag war er 33 Jahre alt geworden — für ihn als Gelehrten, als Historiker und Archivar, war es ein glückliches Alter, voller Erwartungen, Arbeitsfreude, hoher Ideen und Energie. Als Hausvater konnte er ebenso freudig sein, rund um den Weihnachtsbaum herum standen unru- hig die siebenjährige Tochter Ulla und der noch nicht vierjährige Sohn Chri- stian. Hinter diesem idyllischen Phantasiebild steckt aber eine für uns frem- de Welt, mit einem anderen mentalen Klima, mit fremden und komplizierten Lebenshaltungen, einer fremden Werthierarchie und Gedankenwelt. Trotz aller wissenschaftlichen Methoden und trotz der Bearbeitung der „alten Pa- piere", die die Geschichtsforschung in ihrer Schatzkammer zusammenträgt, bleibt uns die Enträtselung, die adäquate Interpretation und das Verständnis dieser „fremden Welt" immer begrenzt. Bevor wir eine Irrfahrt in dieser Welt unternehmen, kehren wir noch ein- mal zurück zu dem Zeitpunkt der „Weihnachtsphantasie". Mehr als zehn Jahre seines bisherigen Lebens hatte Paul Johansen der wissenschaftlichen Forschung im Stadtarchiv Reval gewidmet. Den Beginn dieser Zeitperio- de markieren seine Promotion über „Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter" an der Universität Leipzig bei Rudolf Kötzschke im Jahre 19241 und die Veröffentlichung der Dissertation als Monographie in Dorpat (estn. Tartu) 1925.2 Am Ende dieser Periode steht Johansens 1933 veröffentlichtes opus magnum „Die Estlandliste des Liber Census Daniae"3 und die Beför- derung im Amte im Jahre 1934.
1 Tallinna Linnaarhiiv [Stadtarchiv Tallinn] (im Folgenden: TLA), fond [Bestand] 52, nimistu [Ver- zeichnis] 2, säilik [Akte] 510 (im folgenden zitiert nach dem Muster: 52-2-510): Dienstliste von Paul Johansen, Bl. 8: Kopie der Urkunde über die Promotion zum Dr. phil., Leipzig, 20. Juni 1924. Sechs Tage danach hat der Bildungsrat der Revaler Stadtverwaltung Paul Johansen zum Gehilfen des Stadtarchivars gewählt; ebda., Dienstliste von Paul Johansen, Bl. 9-10. 2 Paul Johansen: Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter: ein Beitrag zur estnischen Kultur- geschichte, . Dorpat 1925 (Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft; Bd. 23). 3 Paul Johansen: Die Estlandliste des Liber Census Daniae, Kopenhagen und Reval 1933. 60 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?
Zehn Jahre, von 1924 bis 1933, war Paul Johansen als Mitarbeiter des Revaler Stadtarchivs, zuletzt als Stellvertreter des Stadtarchivars, tätig ge- wesen. Nachdem der bisherige Stadtarchivar, der Deutschbalte Otto Greif- fenhagen, im Mai 1934 diplomatisch in den Ruhestand verabschiedet wor- den war,4 ernannte die Revaler Stadtverwaltung Paul Johansen mit Wirkung vom 1. Juni 1934 zum Stadtarchivar. Diese Ernennung war aber für Johan- sen keineswegs ein selbstverständlicher und leichter Aufstieg im Amt. Am 20. April 1934 hatte die Stadtverwaltung erklärt, dass es trotz der bemer- kenswerten Leistungen in der Entwicklung des Stadtarchivs nicht möglich sei, Johansen zum Stadtarchivar zu ernennen, weil er ein „ausländischer Untertan" sei.' Außerdem war seine Arbeitsgenehmigung nur bis zum 19. Juli 1934 gültig.' Die einzige Lösung war die Bewerbung um die estnische Staatsbürgerschaft, die Johansen ohne Zweifel eingereicht hat. Man kann natürlich fragen, warum er nicht früher an dieses juristische Hindernis gedacht hat? Man soll hier vielleicht nicht übertreiben und diese Frage damit erklären, dass er eigentlich aus einer dänischen Diplomatenfa- milie stammte. Sein Vater Jens Christian Johansen war bis zu seinem Tode im Jahre 1929 als dänischer Generalkonsul in Estland tätig gewesen.' Bei ei- ner offiziellen dänischen Staatsbürgerschaft darf man natürlich eine dänische Identität annehmen. Im Fall Paul Johansens kann man vermuten, dass seine Identität eine delikate Frage war; obwohl dänischer Herkunft, war er in der Vielvölkerstadt Reval 1901 geboren, 1919 hatte er die Revaler Domschule, immerhin eine deutsche Eliteschule, absolviert,' dann aber in Dänemark und Deutschland studiert und war nach der Promotion in Leipzig letztendlich nach Estland zurückgekehrt. Als gebildeter Historiker konnte er mit einer akade- mischen Karriere in seiner Heimat und besonders in Reval höchstwahrschein-
4 Otto Greiffenhagen war 1900-1934 Leiter des Revaler Stadtarchivs. Näheres über ihn siehe: Peep Pillak: Otto Greiffenhagen — muusikust linnaarhivaar [Otto Greiffenhagen — Stadtarchivar und Musiker], in: Tuna 2000, Nr. 2, S. 150-156. 5 TLA, 52-2-510 (wie Anm. 1), Bl. 17 (Auszug aus dem Protokoll der Revaler Stadtverwaltung vom 20. April 1934). 6 Ebda., Bl. 16. Die Ausländerbehörde der Polizeiverwaltung des Innenministeriums in Reval hat am 22. Juli 1933 die Arbeitsgenehmigung von Johansen auf ein Jahr verlängert. 7 Näheres s. Sirje Kivimäe: Ein Däne in Estland: Jens Christian Johansen, in: Zwischen Lübeck und Novgorod. Wirtschaft, Politik und Kultur im Ostseeraum vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Norbert Angermann zum 60. Geburtstag / hrsg. von Ortwin Pelc und Gertrud Pickhan, Lüneburg 1996, S. 373-389. 8 Im Frühjahr 1919 hat er als Freiwilliger am Estnischen Freiheitskrieg teilgenommen; s. Die Tagebuch- aufzeichnungen des dänischen Generalkonsuls in Reval Jens Christian Johansen 13.12.1918 — 29.5.1919, in: Kalervo Hovi: Estland in den Anfängen seiner Selbständigkeit. Die Tagebuchaufzeichnungen des dä- nischen Generalkonsuls in Reval Jens Christian Johansen 13. 12. 1918 — 29. 5. 1919, Vammala 1976 (Pu- blikationen des Instituts für Geschichte. Allgemeine Geschichte. Universität Turku, Finnland; . 8), S. 53- 143, hier S. 73, 93; Eesti Ajalooarhiiv [Historisches Archiv Estlands] (im Folgenden zitiert als: EAA), 2100-5-405, Bl. 12.
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lich nicht rechnen. Vom Standpunkt der Forschungsmöglichkeiten können wir die Stellung des Archivars für Paul Johansen als eine seinem Ideal nahe kom- mende betrachten. Diese Vermutung wird durch die zunehmende Anzahl von Johansens Veröffentlichungen in den 1920er und 193 0er Jahren bekräftigt. Johansens wissenschaftliche Leistung brachte ihm ziemlich schnell hohe Anerkennung, besonders in ausländischen Gelehrtenkreisen, und in einem gewissen Maß auch in der Heimat. Die regelmäßig erscheinenden Veröffent- lichungen des Revaler Stadtarchivs weckten bei ausländischen Forschem und Archivaren das Interesse an dessen reichen Sammlungen. Diese und andere Aspekte wurden traditionell betont, wenn man „Johansens Zeit" in der Ge- schichte des Revaler Stadtarchivs umreißen will. Die inneren Arbeitsverhältnisse im Stadtarchiv waren aber kaum so idyl- lisch, wie das von der wissenschaftlichen Leistung geprägte Image nach außen. Ich möchte behaupten, dass das alte Bild vom Stadtarchiv als deutschbaltischem Stützpunkt im Herzen der Hauptstadt der Republik Est- land in der Zwischenkriegszeit im Kreisen der national geprägten estnischen Öffentlichkeit noch aktuell war. Die nationalen Spannungen rundum und innerhalb des Stadtarchivs in den frühen 1930er Jahren hat Lea Köiv ein- leuchtend dargestellt.9 Im Fall Rudolf Kenkmaas und seines Widerstands gegen den alten Stadtarchivar Otto Greiffenhagen ging es um einen klaren deutsch-estnischen Konflikt, der durch das Interesse estnischer Akademiker an der Übernahme des Archivs motiviert war. Interessant dabei ist die Tat- sache, dass Paul Johansen plötzlich zur zentralen Figur dieser Kontroverse wurde. Man qualifizierte ihn neben Greiffenhagen als Anhänger und Vertre- ter der deutschbaltischen Geschichtsschreibung, was er nicht verdient hatte. Der Konflikt zwischen Johansen und Kenkmaa erreichte seinen Höhepunkt im Januar 1934, was zeitlich offensichtlich mit der Vorbereitung zur Ernen- nung des neuen Stadtarchivars zusammenhing, und die Gegensätze wurden letztendlich von einem „Ehrengericht" geschlichtet; dennoch hat der Zwi- schenfall auf Paul Johansens Reputation einigen Schatten geworfen. Die Stadtverwaltung von Reval hatte sich von diesem Konflikt jedoch nicht be- einflussen lassen: Otto Greiffenhagen wurde ab 1. Mai 1934 beurlaubt und zum 1. Juni pensioniert; nachdem die Bitte von Johansen betreffend der est- nischer Staatsbürgerschaft am 9. Mai positiv entschieden wurde, wurde die- ser zum 1. Juni als Stadtarchivar von Reval bestätigt.'° Damit begann die zweite Amtsperiode Johansens im Stadtarchiv, sie dauerte fünf Jahre und vier Monate und wird manchmal als echte Blüte- zeit des Revaler Stadtarchivs dargestellt. Wenige Quellen gewähren einen
9 Lea Köiv: Rudolf Kenkmaa — eestlane Tallinna Linnaarhiivis [Rudolf Kenkmaa — Ein Este im Revaler Stadtarchiv], in: Tuna 1999, Nr. 2, S. 48-66. 10 TLA, 52-2-510 (wie Anm. 1), Bl. 18, 19, 21, 23.
62 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?
Einblick in die persönliche Einstellung Johansens in dieser Zeit. Die Fra- gen nach seiner Zufriedenheit mit dem Posten des Stadtarchivars, mit dem alltäglichen Arbeitsklima und der politischen Atmosphäre bleiben leider unbeantwortet. Dass er als hoher städtischer Beamter am 1. Juni 1938 den Treueid auf die Republik Estland ablegte und den entsprechenden Text un- terzeichnete,1' sagt wenig über seine innere Gedankenwelt und Präferenzen,. dennoch kann man seine Loyalität zum damaligen Regime und zur Regie- rung nicht bezweifeln. Trotz aller Forschungsmöglichkeiten und -ergebnisse im Revaler Stadt- archiv stellt sich uns doch die Frage, ob Paul Johansen sich selbst in diesen Jahren mehr als Archivar oder als Mediävist und Forscher fühlte. Mit diesem Zweifel sei darauf hingewiesen, dass man im Fall Johansens beide Aspekte auseinanderhalten muss. Meine Hypothese geht davon aus, dass Johansen seine stets wachsenden Forschungsinteressen dem Beamtenalltag des Archi- vars vorzog. Dass diese Vermutungen nicht bloße Spekulationen sind, lässt sich mit der fast unbekannten Geschichte seiner Bewerbung um die Professur für mittelalterliche Geschichte an der Universität Dorpat belegen.
Ein neuer Lehrstuhl an der Universität Dorpat Nach der Gründung der estnischen Universität in Dorpat im Herbst 1919 teilte die Philosophische Fakultät dem Geschichtsstudium zwei Professuren — für Allgemeine Geschichte und für Estnische und nordische Geschichte — sowie drei Dozenturen zu?' Der Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte zählt zu den ältesten Lehrstühlen an der Universität Dorpat. Zum ersten Profes- sor für dieses Fach wurde an die estnische Universität der 1909 in Wien promovierte Mediävist Hans Oldekop, ein geborener Revalienser, ernannt. Dozent für allgemeine Geschichte wurde 1926 cand. hist. Peeter Treiberg (später Tarvel), den man 1930 zum Professor für Allgemeine Geschichte wählte. Damit blieb aber die Dozentur für Allgemeine Geschichte bis 1931 vakant, als der im gleichen Jahre promovierte estnische Historiker Juhan Vasar diese Position übernahm. Die Lage veränderte sich, als Vasar im Jah- re 1938 zum ersten Ordinarius für Wirtschaftsgeschichte an der Wirtschafts- fakultät der Universität Dorpat ernannt wurde. Damit waren die Lehrkräfte im Bereich des Faches Allgemeine Geschichte, das damals mehr oder weni- ger dem Fachbereich Europäische Geschichte (ohne Nord- und Osteuropa)
11 Ebda., Bl. 39. 12 Die folgenden Grunddaten sind entnommen aus: Sirje und Jüri Kivimäe: Estnische Geschichtsfor- schung an der Universität Tartu 1920 — 1940. Ziele und Ergebnissse, in: Die Universitäten Dorpat/Tartu, Riga und Wilna/Vilnius 1579 — 1979 / hrsg. v. Gert von Pistohlkors, Toivo U. Raun, Paul Kaegbein, Köln, Wien 1987 (Quellen und Studien zur Baltischen Geschichte; Bd. 9), S. 277-292.
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entsprach, geschwächt. Der Schwerpunkt der Lehrtätigkeit und ebenso die Forschungsinteressen von Professor Tarvel lagen hauptsächlich in der Ge- schichte der Neuzeit, besonders in der Geschichte der Französischen Revo- lution, aber auch in der Historiographie und Ideengeschichte:3 Die neuen Lehrbeauftragten für allgemeine Geschichte, Mag. phil. Evald Blumfeldt, der Archivleiter Dr. Otu Liiv und später auch Mag. phil. Erik Tender konn- ten aber die Nachfrage nach Lehrveranstaltungen für mittelalterliche Ge- schichte kaum abdecken. Die Entscheidung für die Eröffnung einer zweiten Professur für Allge- meine Geschichte fiel auf den Sitzungen der Philosophischen Fakultät nicht einstimmig. Obwohl die führenden Geschichtsprofessoren Hans Kruus und. Peeter Tarvel die Eröffnung eines neuen Lehrstuhls für Allgemeine (mit- telalterliche) Geschichte vorgeschlagen und begründet hatten, bezweifelten sie selbst, ob man in Estland gute Kandidaten finden könne. Die Univer- sitätsverwaltung und das Bildungsministerium in Reval genehmigten den Vorschlag der Philosophischen Fakultät im Prinzip und bestätigten, dass man mit der akademischen Prozedur am 14. Oktober 1938 beginnen solle.14 Trotzdem intervenierte aber die Fakultät auf einer Sitzung am 4. Mai 1938. Die Akademiker stellten die Frage nochmals zur Diskussion und schlugen vor, die Besetzung der neuen Professur bis zum 1. September 1939 zu ver- schieben.15 Zuerst präzisierten die Professoren das Profil der neuen Profes- sur: es sollte durch eine Verbindung von mittelalterlicher Geschichte mit den historischen Hilfswissenschaften, besonders aber der Quellenkunde, be- stimmt werden. Eine solche spezifische Begrenzung entsprach höchstwahr- scheinlich den Interessen den beiden Lehrstuhlinhaber, Hans Kruus und Peeter Tarvel, obwohl man vermuten kann, dass die hilfswissenschaftlichen und quellenkundlichen Aspekte mehr dem praktischen Bedarf des Lehrplans der Estnischen und nordischen Geschichte dienen sollten. Weil nach der Einschätzung der estnischen akademischen Kräfte in einem so zugeschnit- tenen Bereich der Kreis der kompetenten Kandidaten zu klein war, wie Tar- vel und Kruus meinten, sei es notwendig, die neue Stelle vakant zu lassen und mit Lehrbeauftragten weiterzuarbeiten.16 Was eigentlich hinter diesem Vorschlag lag, bleibt in Details leider unbekannt. Höchstwahrscheinlich dachten die Geschichtsprofessoren an einen eventuellen Kandidaten aus dem estnischen akademischen Nachwuchs.
13 Über Peeter Tarvel siehe Jüri Kivimäe: Peeter Tarveli elu ja töö [Das Leben und Werk von Peeter Tarvel], in: Akadeemia 1989, S. 1913-1941; 1990, S. 89-112. 14 EAA, . 2100-5-160, Bl. 43v. 15 EAA, 2100-5-405, B1.2. 16 Ebda., B1.2. 64 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?
Das Bildungsministerium wies den letztgenannten Vorschlag am 21. Juni 1938 zurück.17 Damit war aber der Widerstand in der Fakultät nicht ge- brochen. Am 12. Oktober 1938 unterstützte die Mehrheit der Fakultätssit- zung den Vorschlag von Professor Kruus, den Anfang den akademischen Prozedur bis zum 15. Februar 1939 zu verschieben; aber diesmal genehmi- gte die Universitätsverwaltung, gestützt auf das Universitätsgesetz, den Be- schluss der Fakultät nicht?' Erst dann folgte die offizielle Ausschreibung, die am 28. Oktober 1938 in „Riigi Teataja" (Staatsanzeiger) bekannt ge- macht wurde. Die Ausschreibung klingt heute unerwartet knapp und sogar unverständlich: eine Professur für Allgemeine Geschichte wurde für vakant erklärt, und die Bewerber sollten ihre Unterlagen bis zum 11. Dezember ein- reichen.19 Die offizielle Bekanntmachung beinhaltet keine nähere Beschrei- bung des Profils des neuen Lehrstuhls, wie etwa mittelalterliche Geschichte und Hilfswissenschaften.
Zwei Bewerber, drei Gutachter Der Dekan der Philosophischen Fakultät, Professor Julius Mark, infor- mierte mit seinem Rundschreiben vom 15. Oktober 1938 alle Fakultätsmit- glieder, dass sie das Recht hätten, innerhalb von zwei Wochen Vorschläge zur Berufung bekannter Gelehrter auf die vakante Stelle einzureichen.20 Wir wissen leider nicht, ob dieses Verfahren wirklich so funktioniert hat. Zwei Monate später jedoch, am 15. Dezember 1938, konnte Dekan Mark seine Kollegen auf der Fakultätssitzung informieren, dass Mag. Evald Blumfeldt und Dr. Paul Johansen sich um die Professur bewarben. Der Antrag von Paul Johansen (datiert vom 25. November) und die üblichen Unterlagen wie curriculum vitae und eine Liste der Veröffentli- chungen kamen am 9. Dezember in Dorpat an. In seinem Publikationsver- zeichnis hatte er 51 veröffentlichte wissenschaftliche Beiträge angegeben, darunter zwei Monographien: die Doktorarbeit (1925) und "Die Estlandliste des Liber Census Daniae" (1933). Drei Publikationen von Johansen befan- den sich in dieser Zeit im Druck. Sein Mitbewerber war Mag. phil. Evald Blumfeldt (1902-1981), damals als Leiter des Estnischen Kulturhistorischen Archivs (estn.: Eesti Kultuuri- looline Arhiiv) und ab 1938 gleichzeitig als Lehrbeauftragter an der Uni- versität Dorpat tätig.21 Mit der Untersuchung „Der Erzbischof von Lund,
17 Ebda., Bl. 1. 18 Ebda., Bl. 3, 5. 19 Ebda., Bl. 7. 20 Ebda., Bl. 6 21 Lea Köiv: Evald Blumfeldt Eesti ajaloo uurijana [Evald Blumfeldt als Erforscher der estnischen Ge-
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Andreas Sunonis in Estland" (1927) hatte er 1930 den Magistergrad erwor- ben; bekannt geworden ist er aber durch die in Zusammenarbeit mit Nigolas Treumuth-Loone 1933 bis 1939 erschienene „Bibliotheca Estoniae Histori- ca".22 Blumfeldts Forschungsschwerpunkt lag in den 1930er Jahren auf der Agrar- und Sozialgeschichte des Mittelalters, und er arbeitete an der Dok- torarbeit über die Agrar- und Siedlungsgeschichte des Bistums Ösel-Wiek im Mittelalter.23 Blumfeldt hatte eine Publikationsliste von insgesamt 35 Nummern eingereicht, darunter seine unveröffentlichte Magisterarbeit, aber keine als Buch veröffentlichte Monographie. Am 15. Dezember benannte die Fakultätssitzung drei Gutachter ein — die Professoren Peeter Tarvel und Hans Kruus, beide von der Philosophischen Fakultät der Universität Dorpat, und als dritten, ausländischen Gutachter Pro- fessor Arno Rafael Cederberg aus Helsinki. Den letztgenannten Historiker kannten fast alle Dorpater Kollegen persönlich, denn Cederberg hatte in den Jahren von 1919 bis 1928 als Professor für Estnische und nordische Geschich- te gearbeitet, und fast alle jüngeren estnischen Historiker hatten damals sei- ne Vorlesungen und Seminarübungen besucht.' Tatsächlich, wer konnte im Ausland über die akademische Verhältnisse in Dorpat, die Bestrebungen der Universität und auch die wissenschaftliche Literatur besser informiert sein als Cederberg? Dennoch hielt die Fakultätssitzung fest, dass, wenn Professor Ce- derberg mit seiner Benennung nicht einverstanden sei, Dr. Arvi Korhonen aus Helsinki gebeten werden sollte. Die beiden estnischen Professoren gaben so- fort ihre Zusage, wobei aber Professor Kruus eine Verlängerung der Begutach- tungsfrist erbat, weil er während der Winterferien 1938/1939 zu Forschungs- zwecken ins Ausland reisen wollte. Letztendlich hat die Universitätsverwaltung die Bitte von Professor Kruus aber zurückgewiesen. Als auswärtiger Fachkenner reichte Professor Cederberg sein Gutachten, datiert vom 4. Februar, am schnellsten ein.25 Am 28. Februar folgte das Gut- achten von Professor Tarvel, und am 1. März gab dann Professor Kruus sein Gutachten ab. Es ist hochinteressant, diese drei fachlichen Expertisen heute wieder zu lesen. Cederbergs Gutachten über die zwei Bewerber ist heute noch eine akademisch solide und objektive Aussage. Seine Expertise war gut ein- gegliedert. Im Fall Johansens zog er eine klare Grenze zwischen Quellenver- schichte], (unveröffentliches Manuskript im Besitz des Verfassers), S. 2ff. 22 Bibliotheca Estoniae Historica. Eesti Ajaloo Bibliograafia 1877-1917, Bd. 1-4, Tartu, 1933-1939. 23 Köiv: Evald Blumfeldt (wie Anm.21). 24 Siehe näher Timo Rui: Eesti ja Pöhjamaade ajaloo professor A. R. Cederberg [Der Professor der Estnischen und nordischen Geschichte, A. R. Cederberg], in: Arno Rafael Cederberg — Kansainvälinen historiantutkija ja organisaattori / hrsg. v. Ari Vallius, Joensuu 1997 (Pohjois-Karjalan historiallisen yh- distyksen vuosikirja; 5), S. 113-144. 25 Prof. Cederbergs Gutachten war auf Finnisch verfasst, dann aber in Dorpat ins Estnische übersetzt worden; vgl. EAA, 2100-5-405, Bl. 39-63.
66 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?
öffentlichungen und eigentlichen Forschungen. Er analysierte beide Gruppen und lobte die Qualität der Quellenveröffentlichungen mit ihren wissenschaft- lichen Einführungen. Die Doktorarbeit von Johansen, so meinte Cederberg, sei keineswegs eine übliche deutsche Dissertation, die, wenn überhaupt, den üblichen Laudatur-Arbeit in Dorpat oder Helsinki entspräche. Cederberg be- tonte aufgrund der beiden Monographien die positive Fähigkeiten von Johan- sen als Geschichtsforscher: gute und gründliche Kenntnisse der Fachliteratur und Archivquellen, ausgezeichnete Synthese und kritische Analyse. Dabei bemerkte er, dass Johansens opus magnum manche Hypothesen und phanta- siereiche Fragestellungen enthalte, die letztendlich aber nur positive Impulse für die weitere Forschung auch in Finnland und Skandinavien geben könnten. Magister Blumfeldt hatte Cederberg in seiner Zeit in Tartu persönlich kennengelernt, weil der junge Historiker seine Seminarübungen besuchte. Die Meinung Cederbergs von der wissenschaftlichen Leistung Blumfeldts war positiv. Er meinte eben, dass man für seine Magisterarbeit an irgendei- ner deutschen Universität sogar den Doktorgrad hätte erwerben können. Trotzdem bleibt Cederberg in seinem Gutachten fest bei der Meinung, dass Dr. Johansen als Bewerber kompetent für die Professur sei, Blumfeldt aber die Kompetenzgrenze noch nicht erreicht habe. Professor Tarvels Gutachten26 sollte eigentlich im Fachbereich der All- gemeinen Geschichte maßgebend sein, denn er selbst war sicher motiviert, einen guten und kompetenten Kollegen in seinem eigenen Fachbereich zu bekommen. Er war gleichzeitig ein gründlicher Kenner der estnischen Ge- schichtsschreibung und hatte selbst gute Forschungsergebnisse über die Ge- schichte Dorpats vorgelegt. Er betont aber am Anfang seines Gutachtens, dass der zukünftige Professor in seiner Lehrtätigkeit den Schwerpunkt auf die mittelalterliche Geschichte von Deutschland, Frankreich und England legen solle. Er beurteilte zunächst Blumfeldt und hob seine Magisterarbeit als eine besondere Leistung hervor, wobei er über die Tatsache hinwegging, dass diese Arbeit nur als unveröffentlichtes Manuskript in der Universitäts- bibliothek Tartu vorlag. Tarvel betonte die gute methodische Schulung Bl- umfeldts, die ihm gute Möglichkeiten für die weitere Forschung im Bereich der Geschichte des westeuropäischen Mittelalters biete. Bei der Expertise der Veröffentlichungen von Johansen aus der Feder von Tarvel klangen hingegen kritische Töne an. Tarvel meinte, dass die Doktor- arbeit eine Übersicht gebe und dass der Verfasser bewusst den weiteren Hin- tergrund und die Verbindungen der Esten mit den anderen finno-ugrischen Völkern außer Acht gelassen habe. Professor Tarvel schätzte die „Estland- liste" sehr hoch — als eine der grundlegenden Arbeiten über das Mittelalter
26 EAA, 2100-5-405, Bl. 25-28.
67 Jüri Kivimäe in Estland — ein, aber zugleich kritisiert er die Struktur des Buches und die ballastartigen Teile der Monographie. Seinem Grundprinzip treu bleibend, meinte Tarvel, dass Johansens Veröffentlichungen wenig mit westeuropä- ischen Themen verbunden seien. Beim Vergleich beider Bewerber betonte Tarvel die guten pädagogischen Erfahrungen von Blumfeldt, wohingegen über Johansens pädagogische Fä- higkeiten nach seiner Meinung nichts bekannt sei. Zusammenfassend for- mulierte er vorsichtig, dass es vernünftig wäre, anfangs nur einen stellvertre- tenden Professor ernennen - und in diesem Fall habe Johansen dank seiner größeren wissenschaftlichen Produktion ein gewisses Übergewicht. Professor Hans Kruus begann mit seinem Urteil über Paul Johansen.27 Es ist die Doktorarbeit betreffend-zurückhaltend, hebt aber die Problem- stellung und Methodik dieser Monographie positiv hervor, kritisiert jedoch sofort, dass die anderen finno-ugrischen Völker und andere Nachbarvölker wenig beachtet werden und dass dieses Buch überhaupt schon einigermaßen veraltet sei. Bekannter war für Kruus die „Estlandliste", denn er hatte die- se Monographie schon in „Ajalooline Ajakiri" 1934 kritisch besprochen.28 In seinem Gutachten wiederholte Kruus ähnliche kritische Bemerkungen. Er betonte die Wichtigkeit der Monographie, aber er äußerte sich kritisch über Johansens phantasievollen Hypothesen. Es scheint auch, dass Kruus die Kritik des schon damals in Skandinavien maßgebenden dänischen For- schers Erik Kroman kannte. Sein Urteil über Blumfeldts Arbeiten war dagegen milder und unter- stützend. Kruus betonte, dass Blumfeldt ein ausgezeichneter Forscher sei, tiefgehend in der Analyse, vorsichtig in den Schlussfolgerungen - was das ausgezeichnete wissenschaftliche Ethos des Bewerbers demonstriere. Zu- sammenfassend konstatierte Kruus, dass Johansen seinen Doktorgrad an der Universität Leipzig erworben habe, während Blumfeldt seinen Magistergrad im Fach Allgemeine Geschichte an der Universität Dorpat erhalten, dort be- reits das mündliche Doktorexamen abgelegt habe und zur Zeit seine Dok- torarbeit vollende. Nach dieser Feststellung folgte der schwerste Einwand von Kruus: Er sei nicht kompetent zu beurteilen, ob Johansens Doktorgrad überhaupt dem Doktorgrad der Universität Dorpat entspreche Diese Frage benötige aber eine besondere Entscheidung, für die er keine ausreichende Grundlage habe. Damit kommt Kruus zur Entscheidung — er kann leider beide Bewerber nicht für die ordentliche Professur empfehlen. Deswegen meint er, dass es besser wäre, einen Kandidaten, und er gibt hier Johansen gewissen Vorzug, für drei Jahre zu einem Adjunktprofessor zu wählen.
27 Ebda., B1.29-38. 28 Ajalooline Ajakiri 1934, S. 37-46.
68 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?
Kontroverse um Paul Johansen Alle drei Gutachten wurden von der Fakultät akzeptiert, aber interessan- terweise kam es nie zu einer inhaltlichen Diskussion über positive und kri- tische Seiten der beiden Bewerber. Das akademische Verfahren um die Pro- fessur für Allgemeine Geschichte konzentrierte sich ab März 1939 nur auf eine Frage: auf die Gültigkeit des Leipziger Doktorgrades von Paul Johan- sen für die Universität Dorpat. Die Fakultätssitzung vom 8. März diskutierte diese Frage und entschied, dass eine akademische Kommission (die Profes- soren Tarvel, Hendrik Sepp und Harri Moora) nach zehn Tagen eine Ant- wort geben solle.29 Höchstwahrscheinlich hat Dekan Mark selbst mit Paul Johansen telefoniert oder korrespondiert, um weitere Unterlagen wie dessen Leipziger Studienbuch zu bekommen. Jedenfalls wurde das Studienbuch von der Kommission herangezogen, und die drei Professoren stellten fest, dass Johansens Studien und seine wissenschaftliche Ausbildung in Leipzig mehr oder weniger mit dem Studienplan in Dorpat übereinstimmten. Die zweite Frage, die die Untersuchungskommission beantworten sollte, betraf den Doktorgrad von Johansen. Die Antwort am 17. März 1939 war folgende: „Bisher hat die Philosophische Fakultät der Universität Dorpat den Doktorgrad einer deutschen Universität als ersten wissenschaftlichen Grad dem Doktorgrad unserer Fakultät nicht gleichgestellt, denn der deut- sche Grad beruht gewöhnlich auf Arbeiten von deutlich geringerem Umfang als dem von Dissertationen an der Philosophischen Fakultät der Universi- tät Dorpat. In Bezug auf die bisherigen Präzedenzfälle kann man auch den Doktorgrad von Herrn Johansen formal nicht als dem Doktorgrad der Philo- sophischen Fakultät der Universität Dorpat gleichwertig anerkennen."3° Die Kommission befand aber, dass die Publikationsliste von Johansen auch ei- nige längere Veröffentlichungen beinhalte, was nach der Erfüllung gewisser Formalitäten für die Anerkennung von Johansens Doktorgrad als mit dem Grad eines Dr. phil. in Dorpat gleichwertig behilflich sein könnte.31 Diese Wende im akademischen Verfahren führte zu scharfen Diskussi- onen. Schon Professor Sepp äußerte als Kommissionsmitglied eine ande- re Meinung und überreichte sie schriftlich dem Dekan. Natürlich kritisierte Sepp diese lächerliche und widersprüchliche Argumentation. Aber er stand damit nicht allein unter den Akademikern: auch der deutschstämmige Pro- fessor für Folkloristik, Walter Anderson, hatte ein längeres Memorandum zugunsten Johansen in die Diskussion gebracht.32
29 EAA, 2100-5-405, Bl. 79. 30 Ebda., Bl. 81. 31 Ebda. 32 Ebda., Bl. 83, 85-87.
69 Jüri Kivimäe
Dekan Mark war vermutlich von Anfang an über diese Kontroverse infor- miert. Neben den drei Gutachtern hatte er ziemlich früh dem finnischen Histo- riker und Fachkenner Dr. Arvi Korhonen geschrieben; der Auszug des Ant- wortbriefes von Korhonen ist dem Protokoll der Fakultätssitzung beigefügt.33 Arvi Korhonen, der Verfasser der für die estnische Geschichtsforschung wichtigen Monographie „Vakkalaitos" („Wacken-Institution") hatte die Dok- torarbeit von Johansen 1927 in der finnischen historischen Zeitschrift „Histo- riallinen Aikakauskirja" besprochen. Korhonen hatte damals betont, dass die Untersuchung Johansens dauernden Wert habe. Im März 1939 fügte er hinzu, dass dieses Urteil während der Jahre sich bestätigt habe. Die scharfen Diskus- sionen haben wenig geholfen. Am 22. März bestätigte die Fakultätssitzung mit einer Stimmenmehrheit von zehn gegen vier die Entscheidung der Kom- mission; zehn estnische Professoren waren somit gegen die Anerkennung des Leipziger Doktorgrades an der Universität Dorpat.34 Die Stimme von Dekan Mark gehörte nicht dazu; deswegen delegierte er die Entscheidung in der strittigen Frage an die Universitätsverwaltung. Damit wurde eine neue Phase des Kompetenzstreites eingeleitet. Die Uni- versitätsführung antwortete kurz und klar, dass sie aufgrund des Universi- tätsgesetzes in diesem Fall die Funktionen der Fakultätssitzung übernehmen könne, und damit wurde der Doktorgrad von Johansen anerkannt." Trotz- dem ging der Streit weiter: die Fakultätssitzung appellierte in der Frage am 1. April an das Bildungsministerium. Damit wurden die Diskussionen ver- mutlich absichtlich bis zum Anfang des Herbstsemesters 1939/1940 ver- schoben. Noch am 2. Juni informierte Dekan Mark Professor Cederberg über die Sachlage und meinte, dass eine Lösung der Frage erst im Herbst er- reicht werde.36 Erst am 15. September 1939 folgte die Entscheidung des Bil- dungsministers; sie betonte im Prinzip die Rolle des Dekans und der Uni- versitätsverwaltung und unterstützte somit indirekt die Anerkennung des Doktorgrades von Johansen.37 Am 4. Oktober versammelten sich die Fakul- tätsprofessoren wieder, aber leider findet sich in den Sitzungsprotokoll nur eine kurze Meldung, dass nach einer dreistündigen Diskussion in der Frage Johansens, die bestimmt noch drei weitere Stunden dauern könnte, die gan- ze Frage auf die nächste Sitzung verschoben werde; eine Woche später wur- de die Diskussion nochmals verschoben.38 Es scheint uns, dass die Akade- miker keine Lösung dieser Kontroverse finden konnten.
33 Ebda., Bl. 83. 34 Ebda., Bl. 88. 35 Ebda., Bl. 77. 36 Ebda., Bl. 90. 37 Ebda., Bl. 67-68. 38 EAA, 2100-5-161, Bl. 107, 112.
70 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?
Entsagung und Umsiedlung Wir wissen wenig über den Standpunkt von Paul Johansen selbst wäh- rend all dieser Monate der heftigen Diskussionen; dafür fehlen uns die Quel- len. Höchstwahrscheinlich hat Dekan Mark mit Johansen telefoniert oder auch korrespondiert, aber entsprechende Unterlagen finden sich nicht in den Fakultätsakten. Mitte September 1939 hat Johansen eine kurze Reise nach Helsinki beantragt." Am 11. Oktober hat er mit Dekan Mark telefoniert und ihn informiert, dass er beabsichtige, Estland während der Umsiedlung der Deutschen verlassen.40 Am 17. Oktober hat Dekan Mark ihn schriftlich ge- beten, eine endgültige Entscheidung über seine Bewerbung an die Univer- sität Dorpat mitzuteilen. Vom gleichen Tag datiert ein kurzer Brief Paul Jo- hansens an Dekan Mark, in dem er seine Kandidatur zurücknahm.41 Am 25. Oktober wurde Mag. phil. Evald Blumfeldt zum Adjunktprofessor der Uni- versität Dorpat gewählt, und damit fand ein langes akademisches Verfahren sein Ende.42 Wir wissen auch, dass einen Tag später Paul Johansen seinen Posten als Stadtarchivar von Reval gekündigt hat, und wir finden die ganze Familie Johansen in der langen Liste der Umsiedler43 die Estland im Herbst 1939 verlassen haben.
39 TLA, 52-2-510, B1.41. 40 EAA, 2100-5-405, Bl. 65. 41 EAA, 2100-5-405, Bl. 64. 42 EAA, 2100-5-405, Bl. 115. 43 TLA, 52-2-510, Bl. 42; Riigi Teataja Lisa, Nr. 14, (15 Februar 1940): E. V. Kodakondsusest lahkunud isikute nimestik [Verzeichnis der aus der Staatsbürgerschaft der Republik Estland entlassenen Personen], S. 114.
71 Eugen Helimski Paul Johansen als Etymologe Jetzt, da wir imstande sind, aus dem neuen Jahrhundert und Jahrtausend auf die Entwicklung der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert zurückzu- blicken, läßt sich feststellen, dass es nur wenige professionelle Sprachwissen- schaftler gab, deren Beitrag zur estnischen und ostseefinnischen Philologie so grundlegend und unanfechtbar war, wie der des Historikers Paul Johansen. Es gehört zur Standardinformation fast aller Handbücher der estnischen Sprach- und Literaturgeschichte,' dass das früheste bewahrte Sprachdenkmal mit einem zusammenhängenden estnischen Text die sogenannten Gebete aus Goldenbeck (Kullamaa), notiert zwischen 1524 und 1528, sind und dass der erste uns bekannte Druck der Katechismus von S. Wanradt und J. Koell ist, gedruckt 1535 in Wittenberg. Die Entdeckung dieser beiden Sprachdenkmä- ler aus den letzten Jahren der katholischen Zeit in Estland ist Paul Johansen zu verdanken. Noch als Leipziger Student identifiziert er als Ergebnis seiner Stu- dien im Revaler Stadtarchiv die Goldenbeckschen Gebete und veröffentlicht sie als seine erste wissenschaftliche Arbeit (Johansen 1923); schon im selben Jahr wird diese bahnbrechende Publikation von Albert Saareste, dem damals führenden estnischen Linguisten, in der Zeitschrift „Eesti Keel" ausführlich kommentiert (Saareste 1923). Wenige Jahre später gelingt es Johansen zusam- men mit Hellmuth Weiss, dank einer gezielten Suche (Johansen 1927) auch auf die Spuren des ersten gedruckten Katechismus zu kommen (Johansen und Weiss 1930, 1935); auch die Bedeutung dieses Fundes sowie die Ergebnisse von Johansens paläographischer und sprachhistorischer Analyse wurden gleich anerkannt (Saareste 1930; Mägiste 1930a, b), und führten zu weiteren Untersu- chungen zur Entstehungsgeschichte und Sprache des Denkmals. Auch ohne Paul Johansens Forschungen zu estnischen und livischen Orts- und Personennamen im „Liber Census Daniae" (Johansen 1933) und in meh- reren anderen mittelalterlichen Quellen (Johansen 1939a, 1950, 1951, 1952, 1956, 1965, 1974; Johansen und von zur Mühlen 1973) wären die Grundla- gen für die Erforschung der ostseefinnischen Sprachgeschichte in uns heute unvorstellbarer Weise ärmer. Es ist allerdings eine andere Frage, ob das Ge- samtpotential dieser unanfechtbaren Werke heute in ausreichendem Umfang genutzt wird. Paul Johansen hat seine wissenschaftliche Tätigkeit gleichzeitig als Ar- chivar, als Nordosteuropa-Historiker und als Philologe (mit den Schwer-
1 Siehe z. B. Jänes (1965: 21), Kurman (1968: 3-4); Erelt u.a. (1997: 10); Ehasalu u.a. (1997); anderer Ansicht ist erstaunlicherweise Kasik (1999). — Wegen der sprachwissenschaftlichen Untersuchungen eige- nen Zitierkultur sind in diesem Beitrag neben Fußnoten auch Kurztitelbelege im Text verwendet, die auf das Literarturverzeichnis am Ende des Beitrags verweisen.
72 Paul Johansen als Etymologe punkten Ostseefennistik, Germanistik, Nordistik, aber auch Russistik und Baltistik) begonnen. Dieser Interessenvielfalt blieb er immer treu: auch in sei- nen letzten und posthumen Werken werden soziale Geschichte und Wort- geschichte unzertrennlich miteinander verbunden. Wäre Johansen nicht vor hundert, sondern vor dreihundert Jahren geboren, wäre dies eigentlich kein Wunder und sogar kaum eine Ausnahme gewesen, und dann hätte er den verdienten Platz eines professionellen Polyhistors einnehmen können, in der Gesellschaft von Kollegen wie August Ludwig von Schlözer oder Gerhard Friedrich Mueller. Aber der spezialisierten, strukturierenden Mentalität vie- ler Geisteswissenschaftler — jedenfalls einer ganzen Reihe von Sprachwis- senschaftlern — des 20. Jahrhunderts war der Geist des Polyhistorismus schon fremd und wenig verständlich. Mindestens einmal stellte sogar Johansen selber — nur scherzhaft — eigene etymologische Übungen aus der Position seiner quel- lenkritischen Tätigkeit als Historiker in Frage. Der Darstellung einer glanz- vollen und m. E. einwandfreien Etymologie wurde folgender Kommentar zu- gefügt: „Aber bei solchen philologischen Interpretationen ist den Historikern vielleicht nicht ganz wohl zu Mute. Zu unsicher ist das alles: eine geistreiche Etymologie kann von der eines anderen Sprachforschers abgelöst werden; das ist keine sichere quellenkritische Grundlage" (Johansen 1974: 632). Wie bekannt, hatte die Zweiteilung oder, besser gesagt, polyhistorische Vielfalt der wissenschaftlichen Interessen Paul Johansens auch andere Fol- gen, die für die Einrichtung, die ich vertrete, von ganz besonderer, grundle- gender Bedeutung sind. Viele Jahre — ab 1940 bis zu seinem Tod im Jahre 1965 — Professor für Hansische und Osteuropäische Geschichte an der Uni- versität Hamburg, wurde Paul Johansen auch zum ersten Leiter des Finnisch- Ugrischen Seminars dieser Universität (heute Institut für FinnougristildUra- listik). Am 6. Dezember 1952 hat er in einem Schreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät den „lange gehegten Plan der Gründung eines Se- minars für finnisch-ugrische Sprachen und Finnlandkunde" eröffnet und zugleich den Gründungsantrag mit konkreten Wünschen hinsichtlich der Ausstattung des Seminars gestellt. Obwohl dieser Antrag schon im selben Monat von der Fakultät bewilligt und Johansen zum Leiter des neuen Se- minars ernannt wurde, konnte die Entscheidung wegen den „damit in Zu- kunft zu erwartenden persönlichen und sachlichen Folgewirkungen" da- mals nur in Form einer Zwischenlösung realisiert werden: ab 1953 leitete Johansen als Finnougrist nicht ein selbständiges Seminar, sondern nur eine Abteilung für Finnisch-Ugrische Sprachen und Finnlandkunde beim Orienta- lischen Seminar. Erst 1959 wurde die Abteilung in den Rang eines Seminars erhoben, dessen weiteren allmählichen Ausbau zu fördern und zu verfolgen Paul Johansen bis zum Jahre 1965 vergönnt gewesen ist. Auf eine detail- liertere Darlegung der Gründungsgeschichte kann hier verzichtet werden;
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Paul Johansens Vorstellungen über die zukünftigen Wege der Finnougristik in Hamburg, seine Bemühungen um die philologische Profilierung der neu gegründeten Einrichtung sowie die Ergebnisse seiner Lehrtätigkeit spiegeln sich in seinen Berichten ( z.B. Johansen 1960) und insbesondere in Wolf- gang Veenkers Aufsatz „Paul Johansen und die Gründung des Finnisch-Ug- rischen Seminars der Universität Hamburg" (Veenker 1988) und bereits in dem Nachruf Webermanns (Webermann 1966) ausführlich wider. Aber auch eine mehr oder weniger detaillierte Erörterung des Beitrags von Johansen zur etymologischen Forschung würde den Rahmen eines Konferenzbeitrags sprengen. Er hat nur wenige Schriften hinterlassen, in denen keine etymologischen Lösungen dargelegt wurden, und bestimmt keine einzige, in der er seine etymologischen Kenntnisse nicht irgendwie angewendet hätte. Um die Rolle der Etymologie in Paul Johansens Forschungen zu deu- ten, möchte ich als erstes Beispiel seinen Ösel- (Saaremaa-)Aufsatz anfüh- ren (Johansen 1950). Veröffentlicht in der Festschrift für den Hamburger Rechtshistoriker Karl Haff, trägt dieser Aufsatz den Titel „Der altnordische Name Ösels als verfassungsgeschichtliches Problem". Die Verfassungsge- schichte, d.h. Fragen der altnordischen administrativen Verfassung, steht aber nur auf drei der 16 Seiten des Aufsatzes tatsächlich im Zentrum der Aufmerksamkeit des Autors, und auch auf diesen beschäftigen Johansen hauptsächlich skandinavische und ostseefinnische Bezeichnungen für Be- zirke und für Landeinteilung, d. h. Wörter. Kaum mehr Platz und Bedeutung wird der Frage beigemessen, ob die Insel Ösel (Saaremaa) im Frühmittelal- ter eine norwegische Eroberung gewesen war; auf der Grundlage der Nach- richten aus der Wikingerzeit findet dies der Verfasser für durchaus mög- lich, verweigert aber jegliche definitive Schlußfolgerungen. Eigentlich wird dem Leser klar, dass dieser Festschrift-Beitrag in erster Linie der Etymo- logie des Namens Ösel und der anderssprachigen Namen der Insel gewid- met ist. In seiner ortsnamengeschichtlichen Suche stützt sich der Verfasser auf eine Vermutung, die früher von Carl Russwurm (1855: § 67) gemacht wurde. Dank der durch Johansen neu entdeckten Formen und Fakten er- wirbt jedoch diese vorläufige, unsichere Vermutung große Überzeugungs- kraft aufgrund der detailliert und glänzend entwickelten Etymologie. Ich er- laube mir, Paul Johansens Erklärungen in der von mir geliebten Form eines etymologischen Stemmas zu veranschaulichen.
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