t M A NSI NORDOSTEUROPA ALS GESCHICHTSREGION NORDOSTEUROPA ALS GESCHICHTSREGION Aue-Säätiön julkaisuj a Skrifter utgivna av Aue-Stiftelsen Veröffentlichungen der Aue-Stiftung

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NORDOSTEUROPA ALS GESCHICHTSREGION NORDOSTEUROPA ALS GESCHICHTSREGION

Beiträge des III. Internationalen Symposiums zur deutschen Kultur und Geschichte im europäischen Nordosten

vom 20.-22. September 2001 in (Estland)

Veranstalter: Aue-Stiftung (Helsinki) Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Universität Greifswald Stadtarchiv Tallinn

Herausgegeben von

Jörg Hackmann und Robert Schweitzer

Redaktion: Uta-Maria Liertz

Aue-Stiftung • Helsinki Verlag Schmidt-Römhild • Lübeck 2006 Unter dem Serientitel Aue-Säätiön julkaisuja / Skrifter utgivna av Aue-Stiftelsen / Veröffentlichungen der Aue-Stiftung wird seit der Namensänderung des Urhebers die Schriftenreihe Saksalaisen kulttuurin edistämissäätiön julkaisuja / Skrifter utgivna av Stiftelsen för främjande av tysk kultur / Veröffentli- chungen der Stiftung zur Förderung deutscher Kultur ab Stück 10 fortgesetzt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 10: 3-7950-7042-2 ISBN 13: 978-3-7950-7042-7 ISSN: 1237-7422

© 2006 Aue-Stiftung und die Herausgeber Jörg Hackmann Robert Schweitzer

Umschlaggestaltung: Werner Knopp unter Verwendung von Reproduktionen der ältesten gedruckten Karte der Welt aus dem Rudimentum novitiorum, Lübeck 1475 (Lukas Brandfis) und der Verkehrskarte der Ostseeländer, Berlin: Flemming & Wiskott (ca. 1930) (mit Genehmigung der Bibliothek der Hansestadt Lübeck)

Druck: Schmidt-Römhild, Lübeck

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der oben genannten Inhaber des Copyrights unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi- kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Klaus Zernack zum 75. Geburtstag

Inhalt

Zur Einführung

Jörg Hackmann, Robert Schweitzer Nordosteuropa als Geschichtsregion — ein neuer Blick auf den Ostseeraum? 13

Urmas Oolup Paul Johansen und Estland 26

Klaus Zernack Im Zentrum Nordosteuropas 29

Paul Johansen — Beiträge zu seiner Biographie und seinen Forschungen zur Geschichte Nordosteuropas

Lea Köiv Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn 45

Jüri Kivimäe Fremdenangst und/oder akademische Intrige? Paul Johansens Bewerbung um die Professur für mittelalterliche Geschichte an der Universität Tartu 60

Eugen Helimski Paul Johansen als Etymologe 72

Ulla Johansen Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg 85

Heinz von zur Mühlen (1) Paul Johansen und die sogenannten Undeutschen in Reval/Tallinn (Aus der Sicht eines Beteiligten) 103

Norbert Angermann Paul Johansen und Leonid Arbusow jun. 112

7 Enn Tarvel Paul Johansen als Siedlungshistoriker Estlands 119

Klaus Friedland Erinnerungen an Paul Johansen 126

Elemente der Raumkonstitution Nordosteuropas

Ralph Tuchtenhagen Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas 133

Manfred Gläser Die mittelalterliche Großstadt Lübeck — Vorbild und Muster für die Ostseestädte? 172

Ulrich Müller Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums" 193

Jens E. Olesen Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union. Dänische Versuche zur Revindikation Estlands 223

Tiit Rosenberg Zur Raumkonstitution in den Briefen eines livländischen Magnaten Ende des 18. Jahrhunderts 241

Valters gYerbinskis Die Entwicklung der technischen Kommunikations- und Verkehrsmittel zwischen Lettland und den nordischen Ländern 1918-1940 254

Außen- und Binnengrenzen Nordosteuropas

Jukka Korpela Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kardis 1323-1660: Kirchengrenze, politische Grenze oder Kulturgrenze? Eine Region des Ost-West-Gegensatzes? 267

8 Anti Selart Russen und Rus' in den livländischen Quellen um die Wende des 13. zum 14. Jahrhundert 287

Jürate Kiaupien Das Großfürstentum Litauen und Nordosteuropa 297

Aleksandr Myl 'nikov (t) Nordosteuropa — Raum ethnokultureller Synthese: Vom Frühmittelalter bis in die Frühe Neuzeit 308

Janis Kreslins Konfessionelles Engagement und Historische Identität: Religion, Kommunikationskultur und „Nordosteuropa als Geschichtsregion" 321

Nordosteuropa als Objektraum

Jürgen Heyde Die Livlandpolitik der polnisch-litauischen Adelsrepublik 333

Boguslaw Dybas Polen-Litauen und Livland im 17. und 18. Jahrhundert — drei Formen ihrer Verbindung 343

Kristian Gerner Nordosteuropa und schwedische Großmachtpolitik: Reflektionen zum historischen Bewusstsein 353

Michael North Die Niederlandisierung des Ostseeraumes 368

Robert Schweitzer Nordosteuropa: Ergebnis „unvollendeter Penetration" oder „korrekten Nachfolgestaatsverhaltens"? 378

Karsten Brüggemann Das Baltikum im russischen Blick: Rußland und sein Anspruch auf die baltischen Staaten in der Perspektive des 19. Jahrhunderts 392

9 Reinhard Nachtigal Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet (bis 1941) 412

Olaf Mertelsmann Sowjetisierung als Faktor nordosteuropäischer Geschichte. Das Beispiel Estland 433

Nordosteuropa als Subjektraum

Kalervo Hovi Nordosteuropa als Akteur: War die „Randstaatenpolitik" eine Illusion oder versäumte Chance? 447

Michael Garleff Deutschbalten als Träger eines nordosteuropäischen Identitätsgedankens? 452

Jörg Hackmann Vom Objekt zum Subjekt. Kleine Nationen als konstituierender Faktor der Geschichte Nordosteuropas 458

Schlussbetrachtung

Matti Klinge Der Ostseeraum als Kulturraum 487

Manko Lehti Paradigmen ostseeregionaler Geschichte: Von Nationalgeschichten zur multinationalen Historiographie 494

Anhang Kurzbiographien der Autoren und Herausgeber 513

10 Paul Johansen

Jörg Hackmann, Robert Schweitzer Nordosteuropa als Geschichtsregion — ein neuer Blick auf den Ostseeraum?

Es ist längst ein Gemeinplatz, dass sich die Ostseeregion im neuen Völ- kerfrühling von 1989 bis 1991, der das Eis des Kalten Krieges und der sowje- tischen Hegemonie im östlichen Europa abgeschmolzen hat, als erfahrbarer Raumzusammenhang und als politischer Aktionsraum neu konstituiert hat. Po- litisch, geographisch und kulturell wird der Ostseeraum heute als eine Einheit angesehen. Während es aus einem politischen Blickwinkel noch recht einfach sein mag, die Region abzugrenzen,' so führt die wissenschaftliche Annäherung an diese Frage dagegen zu zahlreichen, recht unterschiedlichen Ansätzen. Der heutige Diskurs über die Ostseeregion macht sich in erster Linie an solchen Politikfeldern wie wirtschaftliche Integration, Sicherheit, Um- weltschutz, Aufbau einer Zivilgesellschaft usw. fest. In diesem Kontext wird die Geschichte in der Regel als Grundlage einer gemeinsamen kultu- rellen Identität herangezogen. In Anknüpfung an die Gedenkschrift für Hugh Seton-Watson2 ließe sich behaupten, dass Historiker in diesem Kontext nicht mehr die Rolle der nation-builder spielen, sondern nun region-builder wer- den. Auch wenn der Stellenwert solcher Beiträge zu einer gemeinsamen Ge- schichte des Ostseeraums im Verhältnis zu den nach wie vor gefragten Na- tionalgeschichten noch näher zu bestimmen wäre, so ist doch zu erkennen, dass sich die geschichtswissenschaftliche Produktion seit der Epochen- wende von 1989 nicht mehr nur auf die Dekonstruktion nationaler oder in anderer Weise ideologisch gefärbter Geschichtsbilder beschränkt. Viel- mehr findet die Forderung nach der historischen Unterfütterung einer ge- meinsamen Identität ihr Pendant in der postmodernen Auffassung, dass Historiker mit Narrativen operieren und dass Geschichtsschreibung im- mer auf Konstruktionen basiert. Das heißt freilich nicht, dass solche Kon- struktionen gänzlich beliebig sind, beruht doch die Stärke ihrer Glaubwür- digkeit nicht zuletzt auch auf wissenschaftlicher Haltbarkeit. Daraus folgt also, dass man auf eine wissenschaftliche Diskussion von Geschichts- raumbildungen nicht wird verzichten können und dass die Frage, wel- che Determinanten für die Postulierung einer Geschichtsregion als konsti-

1 Allerdings umfasst der Ostseerat als Zusammenschluss der Ostseeanrainerstaaten neben Norwegen auch noch Island, und zeigt damit, dass es sich auch dort nicht um ein einfaches Abbild geographischer Gegeben- heiten handelt. 2 Historians os Nation-Builders: Central and South-East Europe / hrsg. v. Dennis Deletant, Harry Hanak, London 1988.

13 Jörg Hackmann, Robert Schweitzer tutiv betrachtet werden können, über den akademischen Raum hinausweist.

Das neue Interesse an kultur- und geschichtsräumlichen Zusammenhängen jenseits vermeintlich klarer nationaler oder staatlicher Abgrenzungen geht einher mit einer vertieften Diskussion über die Rolle räumlicher Aspekte in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hatte Reinhart Koselleck 1986 noch konstatiert, dass die Historiker, vor die Wahl zwischen Raum und Zeit als Leitkategorien gestellt, sich eher für die Dimension der Zeit entscheiden,' so lassen die Diskussionen der letzten Jahre über den spatial oder topographi- cal turn eine deutliche Akzentverschiebung, nicht zuletzt mit Blick auf das östliche Europa und den Ostseeraum, erkennen.4 Eine solche Neubewertung der Kategorie des Raums' ist zwar nicht unumstritten, allerdings kann man diese Ansätze keineswegs mit dem Argument vom Tisch wischen, die osteu- ropäischen Regionalstudien hätten angesichts des Zerfalls der sowjetischen Hemisphäre versagt. Vielmehr sehen wir eine fächerübergreifende Entwick- lung, in der die historischen Wissenschaften keine unwichtige Rolle spielen. Ostsee und Mare Balticum — semantische Differenzen und regionale Kohärenzen Dass die Ostsee seit etwa zwei Jahrzehnten wieder als Definitionsrah- men für die Konstitution einer Region herangezogen wird, hat nicht allein mit neuen wissenschaftlichen Paradigmen oder der veränderten politischen Großwetterlage zu tun, sondern ebenso mit einer langen historischen Traditi- on. Der von dem Chronisten Adam von Bremen im 11. Jahrhundert verbrei- tete oder geprägte Begriff des mare balticum ist eine in vielen Sprachen an den Küsten der Ostsee gängige Benennung.' Ähnlich weitverbreitet ist die

3 Reinhart Koselleck: Raum und Geschichte, in: Zeitschichten: Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; Bd. 1656), S. 78-96. 4 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit: über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003; Sigrid Weigel: Zum „topographical turn": Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2 (2002), Nr. 2, S. 151-165; s. jetzt auch: Norbert Götz, Jörg Hack- mann, Jan Hecker-Stampehl: Die Karte im Kopf. Einleitung, in: Die Ordnung des Raums: mentale Karten in der Ostseeregion / hrsg. v. dens., Berlin [2006, im Druck] (The Region: Nordic Dimensions — European Perspectives; Bd. 5); S. 9-23. 5 So hieß es in einem Gutachten des Wissenschaftsrates aus dem Jahr 2000: „Die Kategorie ,Raum' oder ,Region' steht indessen in keiner Beziehung zu wissenschaftlichen Disziplinen, Methoden oder zur Theoriebildung der betroffenen Fächer. Eine Region bietet letztlich nur kontingente Zusammenhänge von Gegenständen wissenschaftlicher Untersuchung, deren fachsystematische Beziehungen unscharf bleiben." (Wissenschaftsrat, Drucksache 4560/00. Stellungnahme zur Strukturplanung der Hochschulen in Berlin. 12.5.2000, S. 88. http://www.wissenschaftsrat.de/texte/4560-00.pdf [18. April 2006]). 6 Ob mare balticum mit litauisch baltijos jüra ursprünglich zusammenhängt, darüber gehen die sprach- wissenschaftlichen Ansichten auseinander, entscheidend ist hier jedoch, dass der Zusammenhang seit dem

14 Nordosteuropa als Geschichtsregion zweite Bezeichnung als „östliches Meer" („Ostsee", schwed. Östersjö, auch finn. Itämeri). Die einzige Ausnahme machen die Esten, die von der "West- see" (estn. Läänemeri) sprechen.' Wenn es von dieser Beobachtung ausgehend nahe liegt, in Geschich- te und Kultur der Ostseevölker die Basis für die Vorstellung einer gemein- samen regionalen Ostseeraum-Identität zu sehen, so gibt es jedoch zumin- dest zwei kritische Einwände. Zum einen stiftet der semantische Unterschied zwischen baltic im Englischen und seinen Entsprechungen im Deutschen, Schwedischen und anderen Sprachen' mitunter immer noch Verwirrung bei Übersetzungen. Bis um 1850 verband sich mit „baltisch" noch die gesamte Ostseeregion, sowie es heute noch mit baltic oder polnisch ballycki der Fall ist. Aus diesem Grund wurden auch das Litauische und Lettische von Georg Heinrich Ferdinand Nesselmann 1845 als „baltische Sprachen" bezeichnet. In Folgezeit verengte sich aber die Bezeichnung „baltisch" im Deutschen auf die „Ostseeprovinzen" des Russländischen Reiches — wie man Estland, Liv- land und Kurland zusammenfassend zu nennen begann. Abgesehen von dieser terminologischen Verwirrung begegnen wir zum anderen auch noch Missver- ständnissen hinsichtlich der kulturellen Homogenität der Region. Vor allem in der deutschen Diskussion von Anton von Etzel über Friedrich Ratzel zu Fritz Rörig war man überzeugt, dass der Ostseeraum ein deutsch geprägter Kulturraum war und leitete daraus Hegemonieansprüche in der Gegenwart ab.' In den 1930er Jahren trat eine germanisch-nordische Komponente hin-

19. Jahrhundert vielfach hergestellt und nicht in Zweifel gezogen wurde; zur Diskussion s. Jörg Hackmann: Was bedeutet „baltisch"? Zum semantischen Wandel des Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert: ein Beitrag zur Erforschung von mental maps, in: Buch und Bildung im Baltikum: Festschrift für Paul Kaegbein / hrsg. v. Heinrich Bosse u.a., Münster 2005 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 13), S. 15-40 mit weiteren Nachweisen, sowie aus der älteren Literatur mit einem Plädoyer für die Genese von „balticum" aus den baltischen Sprachen: Herbert Ludat: Ostsee und Mare Balticum, in: Deutsch-slavische Frühzeit und modernes polnisches Geschichtsbewußtsein: ausgewählte Aufsätze / hrsg. v. Herbert Ludat, Köln, Wien 1969, S. 222-248. 7 S. die Einträge bei Ferdinand Johann Wiedemann, Jakob Hurt: Estnisch-deutsches Wörterbuch. Eesti- saksa Sönaraamat, Tallinn 4. Aufl. 1973; allerdings taucht das Lemma in der Erstausgabe dieses Werkes (Ferdinand Johann Wiedemann: Ehstnisch-deutsches Wörterbuch, St. Petersburg 1869, hier S. 527) noch nicht auf, so dass es sich um eine Neubildung handeln könnte. Daneben begegnet partiell auch Balti meri. 8 Eingehender hierzu Hackmann: Was bedeutet „baltisch"? (wie Anm. 6). 9 Anton von Etzel: Die Ostsee und ihre Küstenländer, geographisch, naturwissenschaftlich und histo- risch geschildert, Leipzig 1859 , S. V; Friedrich Ratzel: Das Meer als Quelle der Völkergröße. Eine po- litisch-geographische Skizze, München, Berlin 2. Aufl. 1911; Fritz Rörig: Die Erschließung des Ostsee- raumes durch das deutsche Bürgertum, in: Vorträge zur 700-Jahrfeier der Deutschordens- und Hansestadt Elbing, Elbing 1937, S. 5-24; vgl. auch Ralph Tuchtenhagen: Die Rolle des Nordens in der deutschen historischen Osteuropaforschung, in: Nordost-Archiv N.F. 9 (2000), Nr. 1, S. 11-49, und Jörg Hackmann: Mare germanicum? Anmerkungen zur deutschen Geschichtsschreibung über den Ostseeraum, in: Mare Balticum (1995), S. 31-40.

15 Jörg Hackmann, Robert Schweitzer zu, nach 1945 war es dann das Schreckgespenst des Bolschewismus, ge- gen das alle anderen Ostseeanrainer sich zusammenschließen sollten?' Als Gegenmodell zu deutschen, aber auch russischen" Hegemonieansprü- chen wurde im 20. Jahrhundert mehrfach eine gemeinsame Ostseeidentität der kleinen Völker beschworen, und nach 1945 setzte sich das Konzept des „Nordens" als Gemeinschaft der nordeuropäischen Staaten durch?' Solche Konzeptionen von kultureller Hegemonie oder Harmonie als Konstrukti- onen darzustellen, fällt nicht allzu schwer; wichtiger freilich ist die Frage nach den solchen mental maps zugrunde liegenden historischen Strukturen. Paul Johansen, Klaus Zernack und Nordosteuropa Eine kritische Bewertung der skizzierten Konzeptionen zur Geschich- te des Ostseeraums und das Nachdenken über die Rolle von Regionen in der europäischen Geschichte öffneten den Weg zu einem geschichtswis- senschaftlichen Diskurs über die Ostseeregion, und zwar lange bevor sich der erste Silberstreif der Wende von 1989 am Horizont abzeichnete. Wäh- rend lange Zeit Staaten und Nationen die Einheiten waren, die das Interes- se der Historiker auf sich zogen, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Geschichte von Regionen — von sub-nationalen, unterstaatlichen ebenso wie übernationalen — immer wichtiger.13 In dieser Hinsicht wurde von deut- schen Historikern immer wieder betont, dass insbesondere Ostmitteleuropa eine Region war, die durch intensive wechselseitige Beziehungen zwischen den betreffenden Nationen und zwischen den sie bildenden sozialen Grup- pen geformt wurde. Auf diese Weise wandelte sich die Vorstellung eines regionalen Geschichtsraums von einem politisch bestimmten Begriff eines deutsch geprägten Gebiets oder eines deutschen „Schicksalsraums" hin zu einem wohlbegründeten wissenschaftlichen Konzept.14

10 Erich Maschke: Das germanische Meer: Geschichte des Ostseeraums, Berlin u. Stuttgart 1935 (Schriften zur Volkswissenschaft; Bd. 11); Walther Hubatsch: Im Bannkreis der Ostsee. Grundriss einer Geschichte der Ostseeländer in ihren gegenseitigen Beziehungen, Marburg 1948; Johannes Paul: Europa im Ostseeraum, Göttingen 1961 11 Die Idee eines historisch von den Slaven dominierten Raumes an der Südküste der Ostsee findet sich bei Aleksandr F. Gil'ferding: Ostatki Slavjan na juinom beregu Baltijskago morja [Die Reste der Slaven an der Südküste der Ostsee], Sanktpeterburg 1862; s. auch den Beitrag von Karsten Brüggemann in diesem Band. 12 S. dazu die Beiträge von Jörg Hackmann und Marko Lehti in diesem Band. 13 Zur Entstehung der internationalen Diskussion über Geschichtsregionen s. Stefan Troebst: Introduc- tion: What% in a Historical Region? A Teutonic Perspective, in: European Review of History 10 (2003), Nr. 2, S. 173-188, s. jetzt auch ders.: Region und Epoche statt Raum und Zeit — „Ostmitteleuropa" als prototypische geschichtsregionale Konzeption, in: Themenportal Europäische Geschichte (2006) (30.9.2006). 14 Klaus Zernack: Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, S. 33f.

16 Nordosteuropa als Geschichtsregion

Aufbauend auf diese Voraussetzungen entwickelte Klaus Zerhack eine neue historiographische Annäherung an den Ostseeraum. In seinem wir- kungsmächtigen Buch von 1977 regte er an, Nordosteuropa in Entsprechung zu Ostmitteleuropa, Südosteuropa und Russland als ein langfristiges histo- risches Regionskonzept anzusehen?' Dieser neue Regionalbegriff sollte so- mit einen weiteren konstitutiven Teilraum einer umfassend verstandenen Osteuropäischen Geschichte bilden, deren Objekt somit aus vier sich über- schneidenden Großregionen mit ihren jeweils spezifischen Charakteristika bestand. Dass Zerhack dabei nicht auf den traditionellen Begriff des Ost- seeraums zurückgriff, hatte nicht nur mit seiner Systematik osteuropäischer Regionalbegriffe und der Distanzierung von den deutschen Raumdiskursen zu tun, sondern es ging ihm in seinen Worten um den „höchsten Grad von historischer Artifizialität", die zu einer „rezente[n] Prägung in der Absicht historischer Anwendbarkeit" führte.16 Bei diesem Versuch, den Ostseeraum in das Zentrum einer neuen regio- nalgeschichtlichen Sehweise zu rücken, berief sich Zerhack — wie er wie- derholt betonte — auf das Werk des Historikers Paul Johansen (1901-1965). Johansens Eltern waren Dänen, die sich 1901 im damals noch zaristischen Estland niedergelassen hatten. Der Vater war dort Direktor eines landwirt- schaftlichen Meliorationsbüros und wurde nach dem Ersten Weltkrieg erster dänischer Konsul in der nun selbständigen Republik Estland. Paul Johansen wuchs in einer multikulturellen dänisch-estnisch-deutsch-russischen Umge- bung in Reval (estn. Tallinn) auf, und nach Beendigung seines Studiums bei Rudolf Kötzschke in Leipzig 1924 wurde das Revaler Stadtarchiv seine wissenschaftliche Domäne bis 1939. Seit 1934 war er Direktor des Archivs, aber nach dem Molotov-Ribbentrop-Pakt sah er keine Alternative zur Emi- gration zusammen mit den deutschen „Umsiedlern".17 Seit 1940 lehrte er an der Universität Hamburg, wo er bis zu seinem Tode 1965 einen Lehrstuhl für Osteuropäische und Hansegeschichte innehatte. Von seinen grundlegenden Beiträgen zur politischen, Sozial- und Wirt- schaftsgeschichte des Ostseeraums im Mittelalter seien seine Dissertation über Siedlung und Agrarwesen der Esten,'8 die Edition der „Estlandliste" 15 Ebda., S. 51-59; s. außerdem: Klaus Zerhack: Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschich- te der Ostseeländer, Lüneburg 1993. 16 Klaus Zerhack: Der europäische Nordosten als Geschichtsregion, in: Bibliotheca Baltica: Symposi- um vom 15. bis 17 Juni 1992 in der Bibliothek der Hansestadt Lübeck im Rahmen der Initiative ARS BALTICA / hrsg. v. Jörg Fligge, Robert Schweitzer, München 1994 (Beiträge zur Bibliothekstheorie und Bibliotheksgeschichte; Bd. 10), S. 26-34, hier S. 26. 17 S. die Beiträge von Lea Köiv und Jüri Kivimäe in diesem Band. 18 Paul Johansen: Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter: ein Beitrag zur estnischen Kul- turgeschichte, Dorpat 1925 (Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat; Bd. 23).

17 Jörg Hackmann, Robert Schweitzer

des dänischen Steuerregisters,19 seine Untersuchungen zur Bedeutung der Hanse für Livlanc12° sowie zur Gründung Revals21, sein Aufsatz über Nov- gorod und die Hanse' und schließlich das posthum erschienene Werk über „Deutsch und undeutsch im mittelalterlichen Reval"23 erwähnt. Es waren insbesondere Johansens Untersuchungen sowohl zur Tragweite der rus- sischen, skandinavischen und deutschen Einwirkung auf die Ostküste der Ostsee als auch zu den indigenen historischen Faktoren, die Zernack als Ba- sis für die Formulierung eines neuen historischen Raumkonzepts dienten. Als Hauptcharakteristika, die Nordosteuropa zu einem Geschichts- raum machen, hat Zernack zum einen die Existenz eines Fernhandels und die damit einhergehende Herausbildung entsprechender politischer Struk- turen schon in vorhansischer Zeit sowie zum anderen die wirtschaftliche, soziale und politische Transformierung dieses Raums im Hoch- und Spät- mittelalter, durch Landesausbau und Stadtgründungen, die Hanse und die großen Unionen von Krewo und Kalmar angeführt. Ein drittes prägendes Merkmal war der Aufstieg Schwedens im Rahmen der Rivalität um das dominium maris baltici seit dem sechzehnten Jahrhundert und schließ- lich der Aufstieg Russlands zur dominierenden Macht im Ostseeraum. Mit der „zweiten Teilung Schwedens" 1809 sah Zernack jedoch das Ende der geschichtsregionalen Einheit Nordosteuropa und dessen Unter- ordnung unter das europäische System der Großen Mächte gekommen. Mittelmeer Ostsee Eine ähnliche zeitliche Begrenzung hatte bereits Fernand Braudel in seiner epischen Schilderung der Mittelmeerwelt formuliert:24 dort war es der Ge-

- Genaueres in Klaus Zernacks Beitrag in diesem Band. Eine Bibliographie der Veröffentlichungen Paul Johansens findet sich in: Rossica Externa: Studien zum 15.- 17. Jahrhundert; Festgabe für Paul Johansen / hrsg. v. Hugo Weczerka, Marburg 1963, S. 179-188. 19 Paul Johansen: Die Estlandliste des Liber Census Daniae, Kopenhagen und Reval 1933. 20 Ders.: Die Bedeutung der Hanse für Livland, in: Hansische Geschichtsblätter Bd. 65/66 (1940/41), S. 1-55. 21 Ders.: Nordische Mission: Revals Gründung und die Schwedensiedlung in Estland, 1951 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens handlingar; Bd. 74). 22 Ders.: Novgorod und die Hanse, in: Städtewesen und Bürgertum als geschichtliche Kräfte: Gedächt- nisschrift für Fritz Rörig. Lübeck 1953, S. 121-148. 23 Ders. und Heinz von zur Mühlen: Deutsch und Undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval, Köln u. Wien 1973 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; Bd. 15). 24 Fernand Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II, 3 Bde., Frank- furt/Main 1990 (zuerst frz. u.d.T.: La m&literran& et le monde m&literran&n ä Npoque de Philippe II, Paris 1949). Mittlerweile hat sich zum Mittelmeerraum eine intensive Auseinandersetzung mit dem Braudel- schen Ansatz entwickelt, s. Peregrine Horden, Nicholas Purcell: The corrupting sea: a study of Mediterra- nean history, Oxford 2000; und Rethinking the Mediterranean / hrsg. v. W.V. Harris, Oxford 2005; Details dazu bei Troebst: Region und Epoche (wie Anm. 13).

18 Nordosteuropa als Geschichtsregion gensatz zwischen christlichem Abendland und osmanischem Orient, die die vom Meer konstituierte räumliche Einheit auflöste. Mit dem Ende der Tei- lung des Ostseeraums sind nicht nur historischen Beziehungen und Paral- lelen zur Mittelmeerwelt in den Blick geraten, sondern Braudels Darstellung galt insbesondere als Vorbild für die neu zu schreibende Geschichte der Ost- seewelt. Anspielungen an Braudel finden sich in den Titeln der Bücher von David Kirby25 und Matti Klinge26. Darüber hinaus ist bei einem genaueren Blick auch zu sehen, dass die Anfänge zur Konzeptualisierung historischer Räume um diese Binnenmeere in die Zwischenkriegszeit zurückführen — also in einer Zeit, in der auch die ersten Schritte zur Konstruktion einer Geschichts- region Ostseeraum unternommen wurden.27 Trotz aller Unterschiede im Detail wäre daher zu fragen, ob sich nicht ähnliche Perspektiven auf den Gegen- stand und etwa in den Überlegungen zu Zivilisationen und supra-nationalen Regionen, zu Kontakten zwischen verschiedenen Kulturen wie auch zu den Dichotomien von Land und Meer sowie Stadt und Land Ansatzpunkte für eine vergleichende Betrachtung ausmachen lassen. Zudem wird man auch Indizien für die Vorstellung einer longue dure in Zernacks Ansatz als In- strument zur Beschreibung Nordosteuropas bzw. des Ostseeraums ausma- chen können, wenngleich die naturräumlichen Gegebenheiten — die ja den ersten Band von Braudels Werk ausmachen — zweifellos weniger Beachtung gefunden haben als im Fall des Mittelmeerraums. Wenn diese Aspekte dafür sprechen, den Ostseeraum als Geschichts- region neu zu denken, so ist jedoch auch zu beobachten, dass der Begriff Nordosteuropa in den vergangenen Jahren eine zuvor unbekannte Kon- junktur erfahren hat.28 Daraus resultiert nicht allein die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen beiden Bezeichnungen zu erörtern, sondern ins- besondere auch die Frage, welchen geschichtswissenschaftlichen Mehr- wert der von Nordosteuropa als Geschichtsregion ausgehende Ansatz bietet. Nordosteuropa als Geschichtsregion Paul Johansens 100. Geburtstag im Jahre 2001 bot eine ideale Gelegenheit, die Erinnerung an den Revaler Historiker an seiner alten Wirkungsstätte im Re-

25 David Kirby: The Baltic World 1772-1993: Europe's Northern Periphery in an Age of Change, London 1995. 26 Matti Klinge: Die Ostseewelt, Helsinki 1995. 27 S. Troebst:: Introduction (wie Anm. 13). 28 Der Begriff wurde in der deutschen Diskussion von Stefan Troebst: Klaus Zemack als Nordosteuropahi- storiker, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 50 (2001), S. 572-586, und zuletzt von Ralph Tuchten- hagen (wie Anm. 9) und Jörg Hackmann aufgegriffen, s. außerdem aus der angelsächsischen Historiographie: Robert Frost: The Northem Wars: War, State und Society in Northeastem Europe, 1558-1721, London 2000.

19 Jörg Hackmann, Robert Schweitzer

valer Stadtarchiv mit der Diskussion über „Nordosteuropa als Geschichts- region" zu verbinden. Folgende Fragen wurden in einem internationalen Kreis von Historikern zur Diskussion gestellt: Gibt oder gab es eine Geschichtsregion Nordosteu- ropa? Welches sind ihre geographischen Voraussetzungen und Charakteri- stika? Welche äußeren Einwirkungsfaktoren waren für Nordosteuropa als „Objektraum" konstitutiv? Welche Binnenfaktoren haben ihn als „Subjek- traum" geprägt? Gibt es Binnengrenzen, die die Postulierung eines kohä- renten Raumzusammenhangs in Frage stellen? Wo verlaufen die Außen- grenzen von Nordosteuropa? In welcher Beziehung steht Nordosteuropa zu anderen Regionalbegriffen wie Ostseeraum, Nordeuropa oder dem Norden und — last not least — zu Osteuropa und Ostmitteleuropa? Mit diesem induktiven Vorgehen sollte vermieden werden, dass den Dis- kussionen die Frage nach eindeutiger Abgrenzung des Raumes im Sinne mo- derner Grenzlinien übergestülpt wird. Vielmehr sollten zunächst verschie- dene historische Phänomene beleuchtet werden, deren Relevanz für einen nordosteuropäischen Raum im Sinne einer Arbeitsdefinition als unbestritten angesehen werden konnte. Aus der Betrachtung dieser Phänomene und der Zusammenschau mit den Ergebnissen aus der Betrachtung anderer Aspekte war dann erst zu prüfen, ob und inwieweit die jeweiligen Abgrenzungen zu Umrissen eines Geschichtsraums konvergieren. Das Ziel der Tagung war es nun freilich nicht, alle von Zerhack und an- deren Autoren genannten Aspekte der Geschichtsregion Nordosteuropa auf den Prüfstand zu stellen. Vielmehr waren es zwei Aspekte, die die Konzep- tion der hier dokumentierten Tagung beeinflusst haben. Zum einen ging es um die Artifizialität der wissenschaftlichen Begriffsbildung. Ein solcher An- satz war zum Zeitpunkt seiner Prägung, wo an einen aktuellen räumlichen Zusammenhang über die Blockgrenzen hinaus kaum mehr zu denken war, gewiss nahe liegender als nach der Epochenwende von 1989, als die Ostsee- region als historischer Raumzusammenhang in einer breiten Öffentlichkeit wiederentdeckt wurde und politisches Gewicht erhielt. Ungeachtet dieser Zeitumstände kann Zernacks Nordosteuropakonzept allerdings als ein wis- senschaftliches Korrektiv in der Beschäftigung mit alten und neuen mental maps dienen, die so nicht nur auf ihre narrativen Muster, sondern auch auf ihre Nähe zu historischen Tatsachen und Strukturen geprüft werden können. Angesichts der Tatsache, dass es eine lange Tradition gibt, namentlich Rus- sland von der Zugehörigkeit zur Ostseeregion auszugrenzen, war das Bezie- hen eines distanzierten Standpunkts ein wesentliches Anliegen der Tagung. Die zweite für die Tagung richtungsweisende Perspektive im Ansatz Zer- nacks liegt in seiner expliziten Einbeziehung des Geschichtsraums Nord-

20 Nordosteuropa als Geschichtsregion osteuropa in den Gesamtzusammenhang der osteuropäischen Geschichte. Das besondere dabei ist, diese Teilräume nicht exklusiv zu setzen, sondern zu prüfen, wie viel Inklusion notwendig ist, um erklärungsmächtige Raum- und Epochenkonstellationen zu schaffen: Geschichte Nordosteuropas zu be- treiben setzt nach Zerhack einen sicheren Blick auf die Hanse, Schweden, Polen und Russland — und auch auf die Niederlande29 - voraus. Geschichts- regionen sind keine Kampfbegriffe, deren Kraft auf ihrer Ausgrenzungsfä- higkeit beruht, sondern analytische, die ihr Erklärungspotential der wohlab- gewogenen Einbeziehung des Relevanten verdanken. Ein weiterer Punkt in der Beschäftigung mit Zernacks Konzeption spielte auf der Tagung ebenfalls eine Rolle: Die räumliche und zeitliche Erweite- rung des Raumzusammenhangs. In der räumlichen Dimension ging es vor allen um die Ausdehnung auf die Barentsseeregion und das nordwestliche Russland;" in der zeitlichen Perspektive dominierte die Frage, inwieweit in der Neuzeit von einem geschichtsregionalen Zusammenhang gesprochen werden kann. Diese Diskussion ging von der bereits oben skizzierten Ein- sicht aus, dass Geschichtsregionen keine Regionen per se seien. Die Vorstel- lung von einem Geschichtsraum war für Zerhack nur berechtigt, solange sie sich in historischen Prozessen und aufeinander bezogenen, auf diese Regi- on fokussierten Kraftlinien manifestierte. Daher sah Zerhack mit der "zwei- ten Teilung Schwedens" 1809 und seinem nachfolgenden Rückzug auf das eigentliche Skandinavien einerseits sowie der Hegemonie der Großmächte über den Ostseeraum andererseits den Niedergang Nordosteuropas als Ge- schichtsraum gekommen. 1977 erschien Zerhack die Zwischenkriegszeit nur noch als ein Epilog des älteren nordosteuropäischen Zusammenhangs?' Auf der Tagung in Tallinn freilich wurde daraus ein Bindeglied, das das Wieder- aufleben des Raumzusammenhangs nach dem annus mirabilis ermöglichte. Nachdem einige Beiträge der Konferenz bereits — teilweise auf Englisch — in einem Themenheft des Journal of Baltic Studies erschienen sind,32 ent- hält nun dieser Band alle auf dem Symposium gehaltenen Vorträge in ihrer vollständigen, teils ins Deutsche übersetzten Fassung. Beide Publikationen überprüfen die Konzeption von Nordosteuropa als Geschichtsregion nach einem Jahrzehnt intensiven Publizierens über diese Region und versuchen auch, bis dahin differierende nationale Traditionen im Geschichtsdenken

29 Vgl. den Beitrag von Michael North in diesem Band. 30 S. dazu bereits Stefan Troebst: Nordosteuropa: Geschichtsregion mit Zukunft, in: NORDEUROPAforum (1999), Nr. 1, S. 53-69; sowie die Beiträge von Ralph Tuchtenhagen und Reinhard Nachtigal in diesem Band. 31 Zernack: Nordosteuropa (wie Anm. 15), S. 9-21. 32 Journal of Baltic Studies 33 (2002), No. 4 (Special Issue: Mapping Baltic History: the Concept of North Eastern Europe / hrsg. von Jörg Hackmann), S. 361-446.

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miteinander zu verbinden. Um einen kurzen Überblick über die thematische Einbettung der folgenden Beiträge zu geben, seien hier die zentralen Diskus- sionspunkte der Tagung genannt. Bezüglich der Außengrenzen Nordosteuropas sollte man nicht mit festen und klaren Grenzlinien operieren. Vielmehr scheint es angemessener, den Blick auf Grenzräume mit wechselnder Zugehörigkeit und sich überschnei- dende territoriale Kartierungen zu lenken." Somit gibt es keinen Weg zu- rück zu Konzepten, die die orthodoxe, slavische, russische Welt per se vom Ostseeraum abgrenzen wollen. Über die Binnengrenzen der Region sind weitere Diskussionen notwen- dig. Somit stehen bisher weitgehend unbestrittene Abgrenzungen — z.B. von schwedischem Protestantismus und polnischem Katholizismus — nunmehr auf dem Prüfstand» Hier ist auch die Frage erlaubt, ob nicht Unterschiede innerhalb der Region - beispielsweise Leibeigenschaft vs. Freibauerntum, Orthodoxie vs. westliches Christentum — letztlich für sie als Ganzes wiede- rum konstitutiv sind. Hier kann Braudels Operieren mit strukturellen Dicho- tomien als Modell dienen, das von Matti Klinge in seinem Schlussbeitrag aufgegriffen wurde. Es ist nicht nur so, dass Grenzen einer Region sich im Laufe der Zeit ändern; es können vielmehr permanente Überschneidungen mit anderen Ge- schichtsräumen bestehen — besonders mit dem „Norden", aber auch mit dem „Westen" und Osteuropa. Wenn auch der „Osten" im Sinne der politischen Geographie in den letzten Jahrzehnten häufig negativ konnotiert wurde, so greift die Vorstellung von Nordosteuropa dieses jedenfalls nicht auf, sondern stellt diese einseitige Perspektive in Frage. Auch bringt sie keine neue Rhe- torik hervor, die die ganze Region als Grenzraum gegen den Osten aufbau- en oder ganz für den Westen reklamieren würde." So geht es historisch ge- sprochen keineswegs um die Abgrenzung eines „Baltischen Russland" mit den Zentren Novgorod und St. Petersburg von einem „orientalischen" Mos- kauer Russland, wie manche — unter traditionellen ideologischen Perspekti- ven — unterstellen möchten. Vielmehr ist es darum zu tun, die Bedeutung der Ostsee und des Ostseeraums für Russland und seine Regionen auszuloten." Der Begriff Nordwestrussland erscheint hier als ein zu Nordosteuropa kom- plementärer Begriff

33 Vgl. insbesondere den Beitrag von Jukka Korpela in diesem Band. 34 Die verdeutlicht vor allem der Beitrag von Jänis Krsliiiig in diesem Band. 35 Dazu nehmen vor allem Kristian Gerner und Marko Lehti in ihren Beiträgen Stellung. 36 Der Beitrag von Nachtigal macht die ungleich höhere Attraktivität des Ostseeraums für Russland durch das Aufzeigen der geringen Würdigung der Nordmeeralternative sichtbar.

22 Nordosteuropa als Geschichtsregion

Diese Diskussionen verdeutlichen, dass die Beziehungen dieses Raumes zu Russland entscheidend bleiben. Anstelle neuer Ausgrenzungen soll je- doch auch ausgelotet werden, inwieweit es in Russlands Politik gegenüber dem nordosteuropäischen Raum spezielle „ostseeraumbezogene" Charak- teris-tika gegeben hat. Die Vorstellung von einer „unvollendeten Penetrati- on", wie sie sich als gemeinsamer Zug der polnischen, schwedischen und russischen Herrschaft in der Region herauskristallisiert hat, könnte hypothe- tisch sogar auf die Baltischen Sowjetrepubliken angewendet werden. Man kann so weit gehen, auf Züge eines „korrekten Nachfolgestaatsverhaltens" Russlands in den neu eroberten Gebieten hinzuweisen, die gerade durch die Schaffung des autonomen Finnland eine Kontinuität Nordosteuropas auch über 1809 hinaus während der Großmächtehegemonie ermöglichten." Ein weiterer wichtiger, aber bis jetzt unterschätzter Punkt ist die Rolle der baltischen Region — Livland (poln. Inflanty) und Kurland — für die polnisch- litauische rzeczpospolita bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die traditionell negative Einschätzung der Einwirkung Polens auf die Nachbarländer in die- sem Gebiet könnte durch weitere Erforschungen der frühneuzeitlichen Be- ziehungen eine Korrektur erfahren." Ein letzter Punkt betrifft die Transformation des Ostseeraums seit dem 19. Jahrhundert. Während Zernack ursprünglich davon überzeugt war, dass die Kontinuität eines Geschichtsraums Nordosteuropa nicht weiter als bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts postuliert werden könne,39 zeigte die Tagung, dass endogene Prozesse Züge einer andauernden Kontinuität hervorbrachten. Besonders die kleinen Nationen, deren hartnäckiger Aufstieg unter den Be- dingungen zweifacher Hegemonie durchaus als ein weiteres konstitutives Charakteristikum von Nordosteuropa angesehen werden könnte,4° entwi- ckelten neue Sichtweisen auf die Identität der Region. In der Tat versuchten die „Randstaaten" in den ersten Jahren nach 1918 eine Ostseeraumidentität zu schaffen, die sich — wenn auch eher gezwungenermaßen denn anfänglich in- tendiert — vom älteren Konzept des Nordens oder der Nordischen Länder löste. Anfangs griff das Bemühen um eine solche regionale Identität durchaus über die gegenwärtigen Baltischen Staaten hinaus. Nicht zuletzt die Wichtigkeit maritimer Symbole für Polen — die sich noch im ideologischen Arsenal der

37 So pointiert Robert Schweitzers Beitrag in diesem Band. 38 Erste Ansätze bieten in diesem Band die sich ergänzenden Beiträge von Jürgen Heyde und Boguslaw Dyba; bemerkenswert auch die Hinweise auf die wenig beachtete Orientierung des mittelalterlichen Li- tauen auf die baltische Küstenregion durch Jürate Kiaupien. 39 Allerdings nahm Zernack auch 1977 „über die Grenzen der Systemblöcke hinweg [...] Spuren älterer geschichtsregionaler Zusammenhänge" wahr: Zernack: Osteuropa (wie Anm. 14), S. 52. 40 Dazu der Beitrag von Jörg Hackmann in diesem Band.

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Solidarnosc erhalten hat — verdeutlicht die Einwirkung des Ostseeraum- gedankens auf Polen sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg.' Schlussbemerkungen Die Reihe der hier erwähnten Themen wirft noch einmal die Frage auf, inwiefern es sinnvoll ist, den Kunstbegriff Nordosteuropa als Geschichtsre- gion anstelle des Begriffs Ostseeraum zu verwenden.42 Obwohl die Auffas- sungen von Nordosteuropa zugegebenermaßen kein unzweideutiges Kon- zept über dessen Bedeutung als Geschichtsregion bieten, so sind doch zwei Aspekte hervorzuheben. Die hier dokumentierte Tagung war konzipiert als eine kritische Sichtung und Neubewertung von historischen Regionalbegrif- fen. Insofern kann die Dekonstruktion älterer Vorstellungen von einem ein- deutig abgegrenzten, homogenen Ostseeraum als ein fruchtbares Ergebnis dieser Herangehensweise bezeichnet werden. Zweitens zeigt der Nordosteuropabegriff durch die damit verbundene Fokussierung der Grenzräume und Überlagerungszonen, dass man keines- falls die oben dargestellte Begriffsverengung des Epithetons balt- auf die Baltischen Sprachen oder die Baltischen Staaten mental in den Diskurs um den Ostseeraum (oder englisch Baltic Sea Area / Baltic Region) einfließen lassen darf. Nordosteuropa hat deutlich mehr mit dem schwedischen Reich der Großmachtzeit zu tun, aber nicht einmal darauf darf man diesen Regio- nalbegriff geographisch oder historisch einschränken. Heutzutage scheint es, dass die Bezeichnung baltic im weiten Sinne und mit ihr die oben genannten Entsprechungen mit Ostsee-/Östersjö- etc. sich in ihrem abgrenzenden Charakter gegenüber dem „Osten" bereits abschwä- chen und neuen Vorstellungen Raum geben. Sehen wir einmal einen Au- genblick von den Namen für die Region ab, dann ist zu erkennen, dass po- litische Konzeptionen wie die „Nördliche Dimension" der Europäischen Union oder z.B. Zbigniew Brzezinskis transatlantisches Sicherheitskon- zept' mit einem ganz ähnlichen Raumbegriff arbeiten, der seinen Brenn- punkt im Nordwesten Russlands und in den Baltischen Staaten hat.

41 Stefan Troebst: „Intermarium" und „Vermählung mit dem Meer": kognitive Karten und Geschichts- politik in Ostmitteleuropa., in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), Nr. 3, S. 435-469; s. auch: Jörg Hackmann: „Zugang zum Meer": Die Ostsee in der polnischen Historiographie, in: Nordeuropaforum (2004), Nr. 2, S. 43-66. 42 Dessen Ambivalenzen werden ausführlich in dem Beitrag von Marko Lehti in diesem Band darge- stellt. 43 Zbigniew Brzezinski: U.S. Policy Toward Northeastern Europe. Independent Task Force Report Spon- sored by the Council an Foreign Relations. Released April 1999, . - Die Verfasser danken Stefan Troebst für den Hinweis auf diese Quelle.

24 Nordosteuropa als Geschichtsregion

In der Tat kann man den diesen Aspekt des Nordosteuropabegriffs sogar zur Erklärung für die Attraktivität des Ostseeraumgedankens heranziehen, denn es sind die starken Traditionen von Demokratie und Wohlfahrtsstaat des Nordens, die die Übergangsgesellschaften dieser Regionen anziehen, ganz abgesehen von den zahlreichen Bestrebungen, hier Zonen von soft security zu schaffen, die auch nach den Umwälzungen des 11. September 2001 nicht an Bedeutung verloren haben. Die Herausgeber hoffen, in diesem Band einen Begriff thematisiert zu ha- ben, der die wissenschaftliche wie auch die politische Diskussion anregt. Ob- wohl es nicht die Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft ist, eine regionale Identität zu schaffen, so mag doch langfristig dies einen Beitrag zur Stär- kung der Identität einer Region darstellen, die sich auf Freiheit und Gleichheit stützt, wie Zerhack in der Schlussbemerkung seines Festvortrags betonte. Die Tagung wurde gemeinsam vom Stadtarchiv Tallinn, der Aue-Stiftung (Helsinki) und der Universität Greifswald mit großzügiger Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln, veranstaltet. Die Herausgeber bedanken sich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtarchivs Tallinn, allen vo- ran Archivdirektor Urmas Oolup, sowie Frau Waltraud Bastman-Bühner als Geschäftsführender Vizedirektorin der Aue-Stiftung für die organisatorische Unterstützung sowie bei Frau Dr. Uta-Maria Liertz (Aue-Stiftung, Helsinki) und Wolfgang Knopp (Verlag Schmidt-Römhild, Lübeck) für die geduldige und umsichtige Begleitung der Drucklegung des Kongressbandes. Angesichts der Tatsache, dass sich das Erscheinen aus vielfältigen Grün- den hinausgezögert hat, ist im Interesse der Autorinnen und Autoren der Hin- weis angebracht, dass die Beiträge als überarbeitete Fassungen der 2001 ge- haltenen Vorträge nicht unbedingt der Sichtweise entsprechen, die sich von Stand der Erkenntnisse des Erscheinungsjahres ergeben könnte. Die an den lebhaften Diskussionen um den Nordosteuropabegriff ge- meinsam mit seinem Urheber Teilnehmenden hatten das durchaus be- glückende Gefühl, dass die Tagung zum 100jährigen Geburtstag Paul Johansens — faktisch, wenn auch unintendiert — zugleich zu einem inof- fiziellen Festkolloquium für den damals 70jährigen Klaus Zerhack geriet. Das verspätete Erscheinen gibt aber nun Gelegenheit, Klaus Zerhack die- sen Band in aller Form zu seinem 75. Geburtstag zu widmen. Paul Johansen wäre sicher damit einverstanden gewesen.

Lübeck, im Herbst 2006 Die Herausgeber

25 Urmas Oolup Paul Johansen und Estland Es ist etwas ganz Besonderes, eben hier, im Rathaus der Hansestadt Re- val, bei einer Tagung anlässlich des 100. Geburtstages von Prof. Dr. Paul Jo- hansen, an Paul Johansen zu erinnern. Zu der historischen Bedeutung und der hohen Symbolkraft des Hauses für diese Stadt, deren Geschichte Johansen als Historiker sein ganzes Leben lang beschäftigte, kommt ein weiteres Moment hinzu, das unmittelbar mit Johansens Wirken in Tallinn zusammenhängt. Von seiner privaten Umwelt und dem Familienkreis abgesehen, hat der Revalenser Johansen unter diesem Dach wohl mehr Zeit verbracht als ir- gendwo anders in seiner Vaterstadt. Dreizehn Jahre lang, von 1924 bis 1937, war es seine Arbeitsstätte als Archivar — die ersten zehn Jahre als stellver- tretender Leiter, seit 1934 als Leiter des Stadtarchivs. Wir befinden uns in dem Gebäude, dessen Erdgeschoss bis 1937 das alte Ratsarchiv beherbergte und als Hauptsitz des Stadtarchivs diente. Nebenbei bemerkt, zu Johansens „kleinen" Schriften jener Jahre gehört auch eine 1935 veröffentlichte Studie über die Geschichte und die Kunstschätze des Rathauses (zusammen mit Hugo Peets). Das Revaler Archiv, das aus dem Lebenswerk Johansens nicht wegzudenken ist, hatte er als Archivar noch bis 1939, bis zu seiner Umsied- lung aus Estland, im neuen Domizil des Stadtarchivs in der Ritterstraße, der St. Nikolaikirche gegenüber, komplett um sich herum. In einem emotionsgeladenen Brief an seinen dänischen Fachkollegen Svend Aakjaer vom 18. Oktober 1939, knapp zwei Wochen vor seiner Abrei- se nach Stettin, ruft er aus: „Mir zerbricht das Herz vor Kummer um all das, was ich hier zurücklassen muss. Mein Lebenswerk, das erneuerte Archiv, das neugegründete Museum, meine historischen Forschungen — alles bleibt hier." Knapp fünf Jahre nach diesem großen Einschnitt in seinem Leben — sei- nem Abschied vom Archiv und von Estland — kam es zu einer Spaltung des- selben Archivs: 1944 veranlasste die deutsche Besatzungsmacht den Ab- transport eines beachtlichen Teils der älteren Bestände nach Ostpreußen, später weiter nach Westdeutschland. Die Rückführung des Archivgutes kam erst 1990 zustande. Im Frühling 1963 schreibt Paul Johansen, der ordentliche Professor für hansische und osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg, an einen alten Bekannten in Tallinn, den einstigen Direktor des Estnischen Postmuseums: „Es ist viel zu tun, manchmal denke ich mit Wehmut an meine Zeit als Archivar zurück, als ich noch recht ungestört wissenschaft- lich arbeiten konnte." Wo wäre Paul Johansen im Jahre 1963 gewesen, wenn es den Weltkrieg, die schicksalsschweren Ereignisse von 1939 bis 1945 nicht gegeben hätte? 26 Paul Johansen und Estland

Was wäre er gewesen? Noch beim Archiv in seiner Heimatstadt? Oder in Tartu als Professor an der estnischen Universität? In Skandinavien? Oder in Deutschland? Welche weiteren Wege hätten sich dem Historiker, der bereits in den dreißiger Jahren in Fachkreisen weit über die Grenzen Estlands hinaus großes Ansehen genoss, eventuell noch geöffnet? Diese Fragen sollen un- beantwortet bleiben. Im Hinblick auf die Umwelt, die äußeren Lebensumstände sowie die beruf- liche Tätigkeit bedeutete die Umsiedlung für Johansen wie auch Tausende seiner deutschbaltischen Schicksalsgenossen tatsächlich eine Wende. De- mentsprechend zerfällt sein Leben in zwei verschiedene Kapitel: die Arbeit als Archivar in Tallinn bis 1939 und die Lehrtätigkeit als Professor an der Universität Hamburg von 1940 bis zu seinem frühen Tode im Jahre 1965 sind zwei verschiedene Welten. Sein Werk als Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber, das noch während seines Studiums in Leipzig (von 1921 bis 1924) begann und in An- betracht der postumen Veröffentlichungen aus seinem Nachlass nicht mit seinem Ableben endete, bildet dagegen ein Ganzes. Johansen als Historiker in Hamburg bleibt im wesentlichen bei denselben Forschungsgebieten und Themen wie früher in Tallinn. Obgleich sich seine Forschungen zur Sied- lungsgeschichte, Agrargeschichte, Stadtgeschichte, Kulturgeschichte und. hansischen Geschichte auf den gesamten mittelalterlichen und frühneuzeit- lichen Ostseeraum erstrecken, gilt sein besonderes wissenschaftliches Inter- esse in diesem breiten Rahmen doch dem alten Livland mit Schwerpunkt auf Nordestland und seiner Heimatstadt Reval. Die Titel wie „Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter" (Dis- sertation, 1924), „Die Estlandliste der Liber Census Daniae" (1933), „Die Bedeutung der Hanse für Livland" (1941), „Nordische Mission, Revals Gründung und Schwedensiedlung in Estland" (1951), „Deutsch und Un- deutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval" (1973, zusam- men mit Heinz von zur Mühlen) oder „Balthasar Rüssow als Humanist und Geschichtsschreiber" (1996, ergänzt und herausgegeben von Heinz von zur Mühlen) sprechen für sich selbst. Viele seiner Schriften gelten als Stan- dardwerke und unentbehrliche Handbücher. Auf der anderen Seite wird bis heute über so manche von ihm aufgestellte Hypothese weiter diskutiert, z. B. über die estnische Herkunft von Balthasar Rüssow. Mit Recht hat man behauptet, dass Paul Johansen in der Tat als erster den Esten in der Stadt und auf dem Lande gezielt aus den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Archivquellen „herausholte". In diesem Zusammenhang sollen auch seine philologischen Interessen erwähnt werden. Durch mehrere Quellenveröffentlichungen und Darstellungen hat er einen wertvollen Bei- trag zur Kenntnis der frühen estnischen Schriftsprache geleistet. In Ham- 27 Urmas Oolup

burg engagierte er sich für die Gründung eines Finnisch-Ugrischen Semi- nars und leitete dieses bis zu seinem Tode. Paul Johansen — ein aus Reval gebürtiger Däne, wurde durch seine estnisch-deutsch-russische Vaterstadt sowie durch seine deutsche Ausbildung mitgeprägt. Räumlich von seiner Heimatstadt getrennt, blieb er durch sein Werk doch mit dieser verbunden. Sein Werk gehört zur estnischen Geschichtsschreibung sowie zur deutschbaltischen und deutschen wie auch europäischen Geschichtssch- reibung. Abschließend möchte ich an den Untertitel des ersten Tallin- ner Symposiums von 1995 erinnern. Dieser lautete: „Wandern und Wirken deutschsprachiger Menschen im europäischen Nordosten." Er passt wohl auch zu Paul Johansen — einem herausragenden Historiker des europäischen Nordostens.

28 Klaus Zernack Im Zentrum Nordosteuropas*

Über die Vorstellungen von einer Geschichtsregion Nordosteuropa / Ost- seeraum ist eine lebhafte Diskussion entstanden. Der Begriff, seine äußere Reichweite und innere Tragfähigkeit, seine Konstituentien und deren Kontra- indikatoren, die Kritik der Forschungsgeschichte, die Hierarchie der Kriterien, der Vergleich mit anderen Großregionen Europas — vor allem mit Ostmittel- europa als „einem Teil Europas von spezifischer Eigenart" (Werner Conze) — alles das findet immer mehr Interesse. Ein lebendiges Beispiel dafür bot die internationale Konferenz in Tallinn im September 2001, aus deren Anlass die nachstehenden Betrachtungen an- gestellt worden sind. Zugleich war diese Tagung dem Gedenken an Paul Jo- hansen gewidmet, dessen Geburtstag sich 2001 zum hundertsten Mal jährte. Um in solcher doppelten Programmatik über Begriff und Probleme einer hi- storischen Region Nordosteuropa zu diskutieren, konnte es kaum einen ge- eigneteren Platz geben als das historische Ensemble von Reval. So war es der Konferenz durch ihren Tagungsort atmosphärisch vorgegeben, sich im Zen- trum Nordosteuropas zu befinden. Dem genius loci fügte sich auch der Eröffnungsvortrag. Anstatt ein wei- teres Mal zu zeigen, was die Vorstellung von Nordosteuropa eigentlich aus- macht, sollte die Geschichtsregion durch das Prisma von Reval — Estland — Livland betrachtet werden. Dabei tritt deren Charakter als Zentrallandschaft unter vielen Aspekten hervor. Von einigen — neun an der Zahl — soll im fol- genden die Rede sein. Große Fragen der Forschung Für den Nordosteuropa-Historiker beginnt das Besondere an Reval (estn. Tallinn) mit heiß umstrittenen Interpretationen über das Alter des Handels- platzes. Wenn wir an keiner Stelle des Nordostens sonst so gute Einblicke in die vorkoloniale, vorhansische Frühgeschichte an der Ostsee haben wie in Reval und Estland, dann verdanken wir das zu einem großen Teil Paul Johansens Forschungen zur Siedlungs-, Handels- und Verkehrsgeschichte.'

* Der vorstehende Text gibt den Vortrag wieder, der am 20. September 2001 im Rathaus von Tallinn aus Anlass des 100. Geburtstages von Paul Johansen bei der festlichen Eröffnung des Symposiums gehalten wurde. Die Literaturhinweise beschränken sich auf die im Text namentlich erwähnten Autoren. 1 Genannt seien hier: Paul Johansen: Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter: ein Beitrag zul- estnischen Kulturgeschichte, Dorpat 1925 (Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dor- pat; 23); ders.: Die Estlandliste des Liber Census Daniae. Kopenhagen-Reval 1933; ders.: Die Bedeutung der Hanse für Livland, in: Hansische Geschichtsblätter 65/66 (1941), S. 1-55; ders.: Nordische Mission, Revals Gründung und die Schwedensiedlung in Estland, Stockholm 1951 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens handlingar; 74); ders.: Novgorod und die Hanse, in: Städtewesen und Bürgertum

29 Klaus Zernack

Aus dem Revaler und nordestländischen Kern hat Johansen eine Vorstel- lung vom mittelalterlichen Ostseeraum entwickelt, die alle unsere Diskussi- onen bis heute begleitet. In eindrucksvoller Weise stellt sich ihm, dem Mittelalterforscher, mit einem frühneuzeitlichen Aspekt Gunnar Mickwitz (1906-1940) an die Seite. Der Finnländer kam 1936 nach Reval und entdeckte mit Archivdirektor Jo- hansens Hilfe, was er folgendermaßen ausdrückte: „An keiner zweiten Stel- le Europas kann der vorkapitalistische Handel in solch einer lebensnahen Fülle von Dokumenten studiert werden."2 Die Rechnungsbücher der Reva- ler Kaufleute des 16. Jahrhunderts sowie die Kaufmannskorrespondenzen eröffneten Mickwitz ganz einzigartige Einblicke in die Betriebsweise der großen Handelshäuser. So kam er der „Technik des Ostseehandels" im 16. Jahrhundert und damit dessen wirtschaftlicher Systematik und regionaler Spezifik im Ostseeraum auf die Spur. Für die Forschung in hansehisto- rischer Tradition war das — wie Jüri Kivimäe gesagt hat — eine „sehr innova- tive" Perspektive.' Artur Attman hat sie in seinen Arbeiten weitergeführt.4 Diese nordosteuropäische Zentralität, die ihm somit in Mittelalter und Früher Neuzeit zugeschrieben wird, kann das heutige Tallinn mit seinem Stadtarchiv und als Hauptstadt des freien Estland auch als Stand- ort der Forschung wieder für sich in Anspruch nehmen — Grund genug, der Stadt und dem Land die Hommage der Historiker des europäischen Nordosten darzubringen. als geschichtliche Kräfte: Gedächtnisschrift für Fritz Rörig / hrsg. v. Ahasver von Brandt u.a. Lübeck 1953, S. 121-148; ders.: Die Kaufmannskirche, in: Die Zeit der Stadtgründung im Ostseeraum / hrsg. v. Märten Stenberger (Visby-Symposiet für historiska vetenskaper 1963), Uppsala 1965 (Acta Visbyensia; Bd. 1), S. 85-134; ders. und Heinz von zur Mühlen: Deutsch und Undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeit- lichen Reval, Köln u. Wien 1973 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; Bd. 15). 2 Gunnar Mickwitz: Aus Revaler Handelsbüchern: zur Technik des Ostseehandels in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Helsingfors 1938 (Societas Scientiarum Fennica. Commentationes Humanarum Lit- terarum; 9,8), S. 8. 3 Jüri Kivimäe: Papyrer och senmedeltida köpmansböcker: Linjer i Gunnar Mickwitz' livswerk, in: Hi- storisk Tidskrift für Finland 78 (1993), S. 3-15, hier S. 10. 4 Artur Attman: Den ryska marknaden i femtonhundratalets baltiska politik 1558 -1595, Lund 1944; ders.: Til det svenska östersjöväldets problematik, in: Studier tillägnade Curt Weibull den 19 augusti 1946, Göteborg 1946, S. 57-87; ders.: Freden i Stolbova 1617: en aspekt, in: Scandia 19 (1948/49), S. 36- 47; ders.: Ryssland och Europa: en handelshistorisk översikt, Göteborg 21973 (Meddelanden frän ekono- misk-historiska Institutionen vid Göteborgs Universitet; Bd. 27); ders.: The Russian and Polish Markets in International Trade 1500-1650, Göteborg 1973 (Meddelanden frän Ekonomisk-historiska Institutionen vid Göteborgs Universitet; Bd. 26); ders.: The struggle for the Baltic Market: Powers in Conflict 1558 -1618, Göteborg 1979 (Acta Regiae Societatis Scientiarum et Litterarum Gothoburgensis. Humaniora; Bd. 14); ders.: Swedish Aspirations to the Russian Market during the 17th Century, Göteborg 1985 (Acta, regiae Societatis Scientiarum et Litterarum Gothoburgensis. Humaniora; Bd. 24); ders.: Den svenska ös- tersjöpolitikens arkitekt, in: Vetenskap och omvärdering: Till Curt Weibull pä hundraärsdagen 19 augusti 1986, Göteborg 1986, S. 19-31.

30 Im Zentrum Nordosteuropas

Estland und mare Balticum Auch der älteren Forschung war schon immer aufgefallen, dass dem öst- lichen Ostseeufer um den Finnischen Meerbusen die Funktion einer Dreh- scheibe in dem frühen Kommunikationsgefüge zukam. Das lässt sich zum Beispiel erkennen in dem produktiven Anteil dieses estnisch-ostseefinnischen Siedlungsgebietes an der Handelsnomenklatur der Frühzeit. Es braucht nur an die Herkunft des Namens Rus ' Rootsi ) oder an den Ortsnamen sowie an die Ausbreitung des Handelsterminus torg erinnert zu werden, um die frühe Ausstrahlung des estnisch-ostseefinnischen Milieus und dessen große Bedeutung als Vermittler des Ostseeverkehrs bezeugt zu sehen. Der Norden der Aestiorum gentes, wie Tacitus alle Küstenbewohner am östlichen Ufer der Ostsee nennt, war also ähnlich aktiv wie der südliche Teil der baltischen Küstenregion. Hier — im prußisch-litauischen Sprachgebiet — ist ja vermutlich der ursprüngliche Name der- Ostsee entstanden, auf den sich die gelehrte Konstruktion — nämlich mare Bal- ticum — gründet. Adam von Bremen hat sie in der zweiten Hälfte des 11. Jahr- hunderts zuerst benutzt. Im übrigen gibt er uns im 4. Buch seiner Hamburgischen Kirchengeschichte den ersten Entwurf einer landeskundlichen Beschreibung Nordosteuropas. Und wenn man bedenkt, welche Karriere seine Namensschöp- fung mare Balticum — bis hin zu Baltic Sea und Morze Baltyckie / Strefa Baltycka — im semantischen Verständnis als Ostseeraum gemacht hat, dann steht Adam auch am Anfang unserer bis heute andauernden Begriffsdiskussion. Zu dieser so verstandenen „Baltischen" Sphäre gehörten Rävala und die Esten von Anfang an hinzu — d.h. ihr historisch-kulturelles, nicht sprachlich-ethnisch begründetes „Baltentum" ist für die Nordosteuropa-Betrachtung wichtig, ja konstitutiv. Estland gewinnt früh Konturen als Ostseeland, und diese sind nicht zuletzt an Revals alter Bedeutung und Ausstrahlung als Handelsplatz abzule- sen. Allerdings hegen die Archäologen Zweifel an Johansens Einsichten. Indes war im 11. und 12. Jahrhundert, als es eine gotländisch-schwedische Handelsnie- derlassung hier gab, der Name Revals schon in mehreren Sprachen — im Altnor- dischen, im Finnischen und im Russischen — bekannt. Im ganzen hat es Reval auf 17 fremdsprachige Varianten gebracht, in Europa und sogar in Sibirien. Man kann diese Befunde zu systematisieren versuchen und zu folgender Hypothese kommen: Mit seiner ausgeprägten vorrechtstädtischen Geschichte gehört Reval als ein bekannter Handelsplatz in einen nordosteuropäischen Ho- rizont besonderer frühstädtischer Geschichte. Diese hat sich vom 11. bis 13. Jahrhundert, also zwischen der Vikingerzeit (mit ihren großen Seehandels- plätzen) und der Hanse-Epoche (mit ihren deutschrechtlichen Lokationsstäd- ten) an allen Ufern der Ostsee entfaltet. Wiederum ist es Paul Johansen, der uns die Wege der Interpretation bahnt: Neben der tiefschürfenden Erforschung der Frühgeschichte Revals gelang ihm gleichsam die Entdeckung eines epo- chal-regionalen Stadttypus. Es ist der im Stadtbild von der Kaufmannskirche 31 Klaus Zernack

geprägte Fernhandelsmarkt. Auf dem mitteleuropäischen Kontinent kann man eine Parallele in den sogenannten Nikolaisiedlungen sehen. Es ist nicht ausge- schlossen, dass dieser stadtgeschichtliche Horizont im Ostseegebiet mit kau- pangr / kaupungr / kaupunki / köping sogar einen eigenen — vorhansischen — Stadtbegriff hervorgebracht hat. Visby, Reval und Novgorod waren heraus- ragende Repräsentanten dieser Frühstadt. Sie markierten zugleich eine nord- osteuropäische Verkehrsachse, die — wie der Orionsstab das Sternbild zusam- menhält — ein Netz international frequentierter Handelsmärkte durchzog. An diesen Plätzen herrschte Multikulturalität. Das erinnert an eben jene großen nordosteuropäischen Emporien der vorangegangenen vikingischen Epoche, wie Birka und Haithabu, Wiskiauten und Truso. Keineswegs gab es also zwischen der Wikingerzeit und der Hanse-Epoche ein handelsgeschicht- liches Vakuum, wie man es früher in Deutschland gelesen hat.

Christentum — Kolonisation — Feudalisierung Mit der Eroberung und Zwangsbekehrung der nördlichen Küstenlandschaften Estlands durch König Waldemar II. von Dänemark 1219 ergab sich zwischen den Trägern der Mission — dem König, den Bischöfen, dem Orden der Schwertbrüder und dem päpstlichen Legaten Wilhelm von Modena — eine komplizierte Ausei- nandersetzung um den äußeren, gleichsam völkerrechtlichen Status der Wohnge- biete der Esten (Estlandia, bei Heinrich von Lettland, 1226). Die innere Herrschafts- und Sozialordnung, die uns ebenfalls Paul Johan- sen erschlossen hat, blieb zwar vorerst intakt. Aber die Ältesten der „Land- schaften" — dieser Geburtsadel mit „fürstlichem" Status — bekamen nun Va- sallen der dänischen Krone, meist deutscher Herkunft, an die Seite gestellt. Mit dem Ausbau der Bistümer blieben immer mehr deutsche ritterliche Lehn- sträger, die im Gefolge der Bischöfe gekämpft hatten, im Land. Und diese ritterliche Herrenschicht gewann sehr schnell, nämlich bis zum Abschluss der Eroberung ganz Livlands — gegen Ende des 13. Jahrhunderts — die Ober- hand. Nach der Niederschlagung des großen Bauernaufstands 1343-1345 ge- gen die kirchlich legitimierte Willkürherrschaft der ritterlichen Vasallen auf dem Lande war deren Stellung vollends gesichert. Der Deutsche Orden be- stätigte 1346 beim Kauf Nordestlands die adligen Privilegien und befestigte damit auch für Estland die europaweit wirkende feudale Transformation und den kulturellen Ausbau in einer estländisch-livländischen Spielart. Zwar war dieser adlige Feudalisierungsprozess hier wie überall im Kolonisationsge- biet von der Niederlassung deutscher Kaufleute in den Städten begleitet. Was aber ausblieb, das war die bäuerliche Einwanderung aus dem Westen, wie sie in den westslavischen Siedlungsgebieten so zahlreich stattfand. Da- bei hat es immerhin 1261 einen Aufruf des Deutschen Ordens in Livland ge- geben, zu günstigsten Ansiedlungsbedingungen nach Livland zu kommen.

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Aber, wie vermutet worden ist, das Klima, der Boden, die unsicheren po- litischen Verhältnisse, der Kapitalmangel — alles das wirkte kontraproduk- tiv. Ob das ausreicht zur Erklärung dieser bedeutsamen Abweichung, die im Horizont der hochmittelalterlichen deutschen Ostsiedlung die baltischen Lande bieten, steht dahin. Denn ähnliche Vorbedingungen galten ja auch für die schwedischen Bauern, die sich sehr wohl am Strand und auf den kleinen Inseln Estlands niederließen. In altestnischer Zeit waren diese zwar wirt- schaftlich erschlossen worden, aber ohne feste Besiedlung geblieben. Bei einem Landesausbau ohne größere bäuerliche Zuwanderung hielt sich freilich auch die Städtekolonisation in Grenzen. Es kam zu keiner systema- tischen Stadt-Land-Erschließung, wie wir sie aus Schlesiens Weichbildern und von Kleinpolen kennen. Auch große deutsche „hermetische" Sondergemeinden, also hochprivilegierte Einwandererkommunen — wie Krakau oder Posen —, ka- men nicht zustande; auch in den anderen Ländern an der Ostsee nicht. Mithin waren hier in Nordosteuropa — von der Südküste der Ostsee abgesehen — auch die sozialen Trennlinien nicht so markant wie in den Städten zu deutschem Recht in Ostmitteleuropa. Es war schon ein sehr eigener Weg, den die livländischen Städte gingen. Zur Stadtgemeinde gehörte jeder freie Einwohner, der den Bür- gereid leistete, Bürgergeld bezahlte und einer „bürgerlichen Nahrung" nachging. In diesem Begriff waren Handel und Handwerk zusammengefasst. Ursprünglich konnte sich jeder nach eigenem Vermögen im Handel betätigen und beliebigen Gewerben nachgehen. Aber die Deutschen waren — bei etwa gleicher Bewoh- nerzahl wie die Undeutschen und Schweden zusammen genommen — den ande- ren an Wirtschaftskraft und Vermögen doch überlegen. Vom Bürgerrecht ausge- schlossen waren Gesellen, Knechte, einfache Dienstleute und Arbeiter, denn sie waren außerstande Bürgergeld zu zahlen. Die großen, klassischen Handwerke des Kommerzgewerbes waren in deutscher Hand, und die Undeutschen mussten sich mit den niederen Handwerken begnügen. An diese bekannten Dinge sei hier nur erinnert, damit die Unterschiede zu Ostmitteleuropa beachtet werden. Man kann also konstatieren: Der Nordosten ist unter dem Dach seiner alten verkehrslandschaftlichen Zusammengehörig- keit rund um die Ostsee in seinen Bauelementen vielfältig und heterogen. Das müsste mikroregional und komparativ noch genauer erforscht werden. Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an werden die sozialen und wirtschaft- lichen Unterschiede, die unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit bestanden hatten, gesellschaftlich politisiert, d.h. man sieht jetzt, wie die Undeutschen am sozialen Aufstieg gehindert werden. So gab es im 15. Jahrhundert deut- sche Zünfte und einzelne Handwerksmeister, die sich weigerten, undeutsche Lehrlinge aufzunehmen. Assimilierungschancen in der Stadt eröffneten aber weiterhin das Pastorenamt und gehobenen Dienstleistungen. Die Kirche war sehr interessiert an Priesternachwuchs aus der einheimischen Bevölkerung.

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Hingegen kam bei der ritterlichen Vasallenschaft Aufstieg von Undeut- schen kaum je in Betracht. Von den wenigen Prozent der Esten, die den einge- borenen „Adel" ausgemacht hatten, waren einige Familien als Kleinvasallen assimiliert worden, die anderen starben als estnische Geschlechter aus. Doch gewann das nordestnische Harrien / Wierland (estn. Harjumaa / Virumaa) für den einwandernden Lehnsadel eine besondere Anziehungskraft durch die günstigen erbrechtlichen Konditionen für die Vasallensiedlung. Das Land war auch der Vorreiter bei der korporativen Interessenwahrung und führend auf dem Weg der ganzen Livländischen Konföderation in die innere Angleichung der Besitz- und Rechtsverhältnisse des Adels. Eine solche „Adelsdemokratie" bekam mit dem Aufschwung der Guts- herrschaft im 16. Jahrhundert ökonomisch Grund unter den Füßen; die Rit- terschaften stiegen auf zu den „maßgeblichen Faktoren"5 im Land. In den Prozess ritterschaftlicher Verständischung sind die Undeutschen — wie gesagt — nicht einbezogen worden. Nicht Germanisation und Assimilation war also ihr Schicksal, sondern die soziale und kulturelle Konservierung ihres Esten- und Lettentums in „ständischer Verpuppung",6 in Gestalt einer nichtständischen Sozialqualität durch Autochthonie. Wenngleich also „Gutsherrschaft" öko- nomisch das Antlitz des ganzen östlichen und nordöstlichen Koloniallandes bestimmte, weisen doch die ethnisch-sozialen Strukturen im Nordosten wiederum starke Unterschiede auf gegenüber dem östlichen Mitteleuropa: In Nordosteuropa fehlt die für die kontinentale Nachbarregion der Germania Slavica so typische „Neustammbildung", die wir auch — wiederum macht die südlichen Ostseeküste eine Ausnahme — in Pommern beobachten. Hanse und Russlandhandel Deutlich ist die Nordosteuropaspezifik auch beim Blick auf das Hanse-Pro- blem. Angesichts der nur bescheidenen kolonialen Urbanisierung des Landes entwickelte sich zur entscheidenden Frage für den wirtschaftlichen Aufstieg der livländischen Städte, welche Position sie im Russlandhandel erreichen konnten. Dessen Vermittlung mit dem Westen war ja seit alters konstitutiv für Nordost- europa. Aber in der Wahrnehmung dieser Aufgabe hat sich die ursprüngliche Zentralortsfunktion Gotland / Visbys, wo die städtische Organisierung des Han- dels ihren Anfang genommen hatte, an die östliche Ostseeküste verlagert. Re- val, Dorpat (estn. Tartu) und konnten freilich diese zentrale Rolle erst übernehmen, nachdem das Christentum fest etabliert war und die Schiffstech- nologie die nötige Reichweite der Handelsfahrten ermöglichte. Das hat sich

5 Mühlen, Heinz von zur: Siedlungskontinuität und Rechtslage der Esten in Reval von der vordeutschen Zeit bis zum Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Ostforschung 18 (1969), S. 630-654 6 Reinhard Wittram: Peter I., Czar und Kaiser: zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit. 2 Bde. Göttingen 1964.

34 Im Zentrum Nordosteuropas im 14. Jahrhundert eingespielt. Dorpats Russlandhandel hat dabei anfangs of- fenbar den der anderen Städte übertroffen. Aber das Verhältnis kehrte sich um, als gerade Dorpat seit dem späten 15. Jahrhundert zum Objekt der mächtepolitischen Politisierung der russisch- livländischen Beziehungen gemacht wurde. Damit machten sich externe — genuin osteuropäische — Geschichtsmächte in Nordosteuropa bemerkbar. Sie kamen von jenseits des Wirkungskreises, den „Novgorod und die Hanse" — erneut ein Johansensches Thema — umgreifen. Und zwar begann es mit den Turbulenzen, die im Machtgefüge des Moskauer Reiches durch die Verselb- ständigung Pleskaus (russ. Pskov) in dem der Ostsee zugewandten Nordwesten Russlands ausgelöst wurden. Das führte zur Zerschlagung der Novgoroder Autonomie (1478) und endete bei dem Livländischen Krieg Ivan Groznyjs (1558-1582) und dem Untergang der livländischen Selbständigkeit. Reformation und Baltische Frage Obwohl die eben angedeuteten Vorgänge die Demontage der nordost- europäischen Mitte in Alt-Livland herbeiführten, gingen von dieser kriege- rischen Epoche dennoch — durch die zeitliche Koinzidenz mit der Reformation — geschichtsraumbildende Kräfte aus. Die alte Kirche selbst hatte sich im 15. Jahrhundert immer mehr ihre Versäumnisse gegenüber den Undeutschen vor Augen gehalten. Auf den Provinzialsynoden beklagte man in wachsen- dem Maß, dass die kirchliche Landesordnung von Walk (estn. Valga) von 1422 nicht erfüllt werde. Vor allem erregte die Vernachlässigung des Estnischen in Predigt und Seelsorge Kritik. Immerhin gab es „undeutsche Predigtstühle" in den Städten. Indes hielten sich auf dem Lande vorchristliche Sitten und Ge- wohnheiten, und der Klerus war verwildert. Der Erzbischof von Riga wollte darum eine Lateinschule für den Priesternachwuchs im ganzen Land einrichten, doch die ritterlichen Kirchenpatrone sperrten sich zunächst gegen Reformen. Sie fürchteten die Aufruhrstimmung, die sich bei den Bauern auszubreiten be- gann, nachdem die Städte schnell zur evangelischen Lehre gefunden hatten. Doch überzeugte deren Beispiel schon bald die estländischen und livländischen Ritterschaften. Man erkennt eine eigene baltenländische Dynamik. Aber es muss auch die politisch-kulturelle Dialektik dieser weltbewegenden Vorgänge gesehen worden: Die Reformation hat zwar mit ihrer raschen Aus- breitung von Livland und Preußen aus im Reich wie in ganz Nordosteu-ropa ein Gefühl der Zusammengehörigkeit der deutschen und nichtdeutschen Ost- seeländer und ihrer Völker geweckt. Volksbildung und Volkssprachen er- fuhren einen enormen Aufschwung. Gleichzeitig ist aber die politische Vor- herrschaft des Reiches in den Baltischen Landen beendet worden. Aber was mit dem Rise of the Baltic Question an ihre Stelle trat, war die mächtepolitische Aktivierung der Energien der großen Staaten rund um die

35 Klaus Zernack estländisch-livländische Mitte Nordosteuropas. Man muss von einer Einfü- gung Nordosteuropas in die Politikstrukturen des europäischen Staatensy- stems sprechen. Damit brach für den Nordosten ein Zeitalter der Nordischen Kriege an, das als sein frühneuzeitliches Epochenmerkmal angesehen wer- den kann. In dieser „neuen Zeit" waren die Baltischen Lande zweifellos am wenigsten dazu ausgestattet, in der schneidenden Luft der neuzeitlichen Ge- schichte (Ranke) zu bestehen. Schwedenzeit und Dominium maris Baltici Aus der alten Livländischen Konföderation war ein zur Intervention an- reizendes Machtvakuum geworden, interessant für die Sicherungs- und Ex- pansionsbedürfnisse der größeren Nachbarn. Schwedens Selbstverständnis als Großmacht mit imperialem Machtgebot über die Ostseeregion — also das Konzept des Dominium maris Baltici — hat hier mit dem Ausgriff auf Nord- estland seinen Anfang genommen. Dagegen geriet das Moskauer Reich, das mit dem Vorstoß nach und Dorpat 1558 den Anlass zu den Staaten- konflikten gegeben hatte, mit dem Scheitern im Livländischen Krieg in die größte Krise seiner Geschichte. Seine Aufteilung drohte. Die unmittelbar be- troffenen baltischen Länder wurden unter diesen Auspizien in der „Schwe- dischen Epoche" zu passiven Objekten eines geradezu hemmungslosen Pri- mats von Außenpolitik. Am signifikantesten spiegelt sich die Misere der Epoche in der gut er- forschten Bevölkerungsgeschichte Estlands. In der Mitte der 1620er Jahre war — nach erneuten Kriegshandlungen — nur noch die Hälfte der Einwohner- schaft des 16.Jahrhunderts — sie wird auf 250.000 — 300.000 berechnet — am Leben. Sie soll zwar Mitte des 17. Jahrhunderts wieder angestiegen sein. Aber die Hungersnot von 1695-1697, der große Nordische Krieg (1700-1721) — mit den systematischen Verwüstungen der baltischen Provinzen Schwedens als Mittel der Kriegführung Peters des Großen — und die Pestwelle von 1710/11 forderten erneut große Opfer. Die Bevölkerungszahl Estlands war 1721 auf 150.000-170.000 abgesunken. Dennoch scheint im 17. Jahrhundert die Zustimmung der estländischen Bevölkerung zu der schwedischen Herrschaft über das östliche Ufer der Ost- see gewachsen zu sein. Es ist schwer zu sagen, ob das etwas mit Hoffnungen auf ein anderes, bauernfreundlicheres Sozialsystem schwedisch-finnländischer Tradition zu tun hatte, ob es gar eine Zustimmung zu der antilibertären Stoß- richtung des schwedischen Absolutismus bedeutete. Immerhin, es bahnte sich — worauf Juhan Kahk7 hingewiesen hat — im Schwedischen Ostseereich ein Dreiecksverhältnis von Gutsherr, Bauer und Monarch an. Offenbar hat die

7 Juhan Kahk: Bauer und Baron im Baltikum: Versuch einer historisch-phänomenologischen Studie zum Thema „Gutsherrschaft in den Ostseeprovinzen", Tallinn 1999, S. 93f. 36 Im Zentrum Nordosteuropas

„wachsende Durchorganisation des Feudalismus" im 17. Jahrhundert mit ih- rer steigenden staatlichen Kontrolle und dem Aufbau von „rechtsfordernden Instituten"' vertrauensbildend gewirkt. Das schwedische Gerichtswesen be- zeichnet Matti Klinge als „Ventil gesellschaftlicher Streitigkeiten".9 Damit soll nicht geleugnet werden, dass das System der Gutsherrschaft / Gutswirt- schaft als ein solches auch in den baltischen Ländern — wie schon angedeu- tet — seiner eher kontinentalen Grundstruktur verhaftet blieb. Zu diesem allgemein wichtigen Thema seien einige spezifische Beobach- tungen an estnischen Forschungen erlaubt. Stark gefördert wurde die Guts- bildung auch in Estland durch die Säkularisation von Ordensland nach 1561 und die Verlehnung an ehemalige Würdenträger. Die Gutsbildung hatte hier sogar früher eingesetzt als in Livland, aber im ganzen gelangte sie zwischen der Mitte des 16. und des 17. Jahrhunderts auf den Höhepunkt. Der exil-est- nische Historiker Arnold Soom hat in seinem opus magnum „Der Herrenhof in Estland im 17. Jahrhundert" 1954 herausgearbeitet, wie anfangs des 17. Jahrhunderts die Abgaben der Bauern noch immer der größere Einnahmepos- ten auf den meisten Gütern gewesen sind.10 Erst nach 1650 übertreffen nach Soom die Einnahmen aus der Gutswirtschaft die Abgaben. Demgegen-über hat Juhan Kahk schon vor 1560 in Nord-Estland den größeren Anteil der Ge- treideproduktion, nämlich 58 %, bei den Gütern gesehen?' Aber das Bild dürfte sich von Gut zu Gut verschieben. Wichtig und ein Fortschritt für die internationale Debatte ist es, dass an einem so quellenreichen Forschungs- gegenstand gezeigt worden ist: von einer kapitalistischen Produktionsweise kann keine Rede sein. Die große Transformation des Ritteradels zum kapi- talistischen Agrarunternehmer hat es nicht gegeben. Nur die kostenfreie Ar- beitskraft der Fronbauern ließ für die Gutswirtschaft relativ großen Gewinne entstehen. Kapitalistisch, nach Lohnkosten kalkuliert, wären die Güter nicht lebensfähig gewesen. Das stimmt in vollem Umfang mit den Einsichten der modernen polnischen Forschung für Ostmitteleuropa überein. Und Christoph Schmidt hat bei seinem Versuch einer Typologie der Leibeigenschaft Nord- osteuropa und Ostmitteleuropa gar als Schnittmenge „Ostseeraum" zusammen gezogen.12 Indes waren Reichtümer, wie auf den kronpolnischen Latifundien in Süd- westrussland, in Estland nicht zu erwirtschaften. Nicht um florierende kapi- talistische Agrarbetriebe war es den Gutsherren also zu tun, sondern um eine

8 Clemens Zimmermann: Bäuerlicher Traditionalismus und agrarischer Fortschritt in der frühen Neuzeit, in: Gutsherrschaft als soziales Modell: Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften / hrsg. v. Jan Peters, München 1995 (Historische Zeitschrift. Beiheft; Bd.19), S. 219-238. 9 Matti Klinge: Die Ostseewelt. Helsinki 1994. 10 Arnold Soom: Der Herrenhof in Estland im 17. Jahrhundert, Lund 1954. 11 Kahk (wie Anm. 7). 12 Christoph Schmidt: Leibeigenschaft im Ostseeraum: Versuch einer Typologie, Köln 1997.

37 Klaus Zernack standesgemäße feudale Lebensweise, um das adlige Landleben. Die Ausbil- dung der Gutswirtschaft war vor allem getragen von der großen Getreidekon- junktur seit dem 16. Jahrhundert, an der im übrigen auch die Bauern partizi- pierten. Sie konnten dies als Handelspartner der städtischen Kaufmannschaft, die ihrerseits dem gutsherrlichen Getreideexport im 17. Jahrhundert Konkur- renz machte. Es eröffneten sich also auch in der Epoche der Gutswirtschaft — ökonomisch gesehen — gewisse Spielräume für die Bauern, wenigstens auf dem inneren Markt. Wir erkennen hier wiederum nordosteuropäische Varian- ten zu einem grand thime. Russlands „Ostseeprovinzen" In dem mächtepolitischen Horizont des „Zeitalters der nordischen Kriege" blieben die baltischen Lande Estland, Livland und Kurland weiterhin die um- kämpfte Zentralregion Nordosteuropas. Wittram hat in diesem Zusammenhang von Livland als der „Kernfrage des Nordischen Krieges" gesprochen.13 Er hatte dabei den dritten, den Großen Nordischen Krieg, im Auge. In dessen Verlauf gelangten Estland und Livland nach Jahren der Verwüstung in Russ- lands Hände. Peter der Große stellte sofort den alten Rechtszustand wieder her, wie er im Schwedischen Reich vor den Güterreduktionen bestanden hatte, durch welche in Estland 1689 zwei Fünftel aller Güter in Domänenbesitz überführt worden waren. Der Zar aber restituierte nicht nur, sondern gewährte darüber hinaus reichende Besitzgarantien. Zugleich bestätigte er die Stände staatlichen Einrichtungen des vorabsolutistischen Verfassungsstaats mit dem Macht- und Ämtermonopol der Ritterschaften. Die Bauern blieben infolgedessen im Zu- stand ihrer ständischen Qualitätslosigkeit. Mit dem Blick auf sein rückstän- diges Reich mochte Zar Peter immerhin schon ein Stück Modernisierung in der Einbeziehung der durchgeformten Selbstverwaltungskorpora der Ritter- schaften sehen. Und beim Aufbau eines überrussischen Imperiums war die Gewinnung reichsloyaler Eliten anderer Kulturkreise jedenfalls ein Gewinn. So war die absolutistische Politik- und Sozialreform Schwedens über aus- senpolitische Verstrickungen in ihr Gegenteil umgeschlagen. Aber trotz der Privilegienrestitution nahm eine zutiefst russisch-imperial geprägte Epoche in der alten Kernzone Nordosteuropas ihren Anfang. Verglichen mit den Ge- sellschaften in ihrer Umgebung und ihrem Beziehungsumkreis traten die Bal- tischen Lande nach der Wiederherstellung des alten Privilegienstandes sozial- geschichtlich gleichsam auf der Stelle. Trotz der Verschiedenheit ihrer Genese nahmen sich in der Außensicht die agrarsozialen Systeme Russlands und seiner Ostseeprovinzen ähnlich aus. Re- aliter erreichte die Zahl der Güter und Beigüter im 18. Jahrhundert ihrer ma-

13 Wittram (wie Anm.6).

38 Im Zentrum Nordosteuropas ximale Höhe. Die innere Differenzierung der Gutswirtschaften wurde stark vorangetrieben, und die letzten Jahrzehnten standen im Zeichen nochmals verschärfter Fronexploitation. Mit dem Fall der Zollgrenzen nach Russland 1766 wurde wegen des Petersburger Absatzgebiets die Branntweinbrennerei für die estländischen Gutsherren attraktiv. Auch hier produzierte man mit ko- stenfreier Fronarbeit. Bis Ende des 18. Jahrhundert konnten enorme Gewinne erzielt werden. Doch trat im 19. Jahrhundert allgemein in dieser Branche Preisverfall ein, so dass die Produktion zurückging. Aber in Estland — so nahe an Petersburg — wurde noch immer mehr als ein Drittel der Getreideernte zu Branntwein verarbeitet. Da auch der größere Rest des Getreides guten Absatz fand, festigte sich die einseitige Feldbauökonomie — im Baltikum ganz ähn- lich wie in Polen. Literatur und Bauernbefreiung Wenn man indes Estland, Livland und Kurland, den drei Ostseeprovin- zen Russlands, gleichzeitig mit ihrem hochkonservativen Ständetum dort eine Vorreiterrolle zuerkennen muss, wo es um die Diskussion über die Bauern- befreiung ging, so ist das in erster Linie ein Verdienst und eine Wirkung der Literatur, bis hin zur agitatorischen Publizistik am Anfang und während der Ära Alexanders I. Dem aufrüttelnden Letten-Buch Johann Gottlieb Merkels14 folgte bald das Pendant Johann Christoph Petris über die Esten.15 Die Lage der Bauern wurde hier scharf kritisiert, und im Echo auf die Bücher war von der „600jährigen Schuld der Grundherren" die Rede. Auch von gutsherrlicher Sei- te gab es jetzt Stimmen mit ähnlichem Tenor. Dabei war es nicht unbedeutend, was seit 1803/04, seit den Regulierungen der Frondienste, bis zur juristischen Aufhebung der Leibeigenschaft 1816/18 erreicht wurde. Aber es gab auch im- mer wieder Anlass zu Protest und Unruhen, weil die weiter geforderten Fron- dienste in ihrer Höhe — von 1804 — als ungerecht empfunden wurden. Im ganzen gesehen haben die schwache Reformtradition Russlands und der Reaktionskurs auf den polnischen Novemberaufstand die Reformbestre- bungen in den Ostseeprovinzen erheblich gebremst. Die orthodoxe Kirche begann um Übertritte zu werben, indem sie Erwartungen auf Land bei den Bauern weckte. Immerhin sind 20 % der estnischen Bauern zur „Kirche des Kaisers" konvertiert — in Livland waren es 12 %. War also Russifizierung ein Weg in die Zukunft? Wenn ja, dann hätte nicht zuletzt der Vollzug der Landreform in den fünfziger Jahren ihn verlegt. Die Bauern konnten von nun an ihr Land von den Gutsbesitzern kaufen. Da-

14 Garlieb Merkel: Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts: ein Beitrag zur Volks- und Menschenkunde, Leipzig 1797. 15 Johann Christoph Petri: Ehstland und die Ehsten, oder historisch-geographisch-statistisches Gemälde von Ehstland: ein Seitenstück zu Merkel über die Letten, Bd. 1-3, Gotha 1802.

39 Klaus Zernack mit ging die Gutsherrschaft — schlagartig — zu Ende. Der Weg war geöffnet für die kapitalistische Entwicklung auf großem wie auf kleinem Grundbesitz. Emanzipation und Selbstbestimmung In der Geschichtsregion Nordosteuropa repräsentieren die Esten — zusam- men mit den Letten und den Finnen — den Typus der „kleinen Völker". Das ist ein gut erforschtes Problem und es ist wohlbekannt, worauf ihre Eman- zipationskräfte beim Aufbrechen der „ständischen Verpuppung" und worauf die Chancen bei der Gewinnung ihrer nationalen Identität beruhten. Für un- sere Nordosteuropa-Betrachtung durch das Prisma Estland ist indes auch der Ausbruch aus dem mächtepolitischen status quo von Gewicht, denn es war der Ausbruch aus der „overwhelming power and ambition of Russia" (Ed- mund Burke) als Beherrscherin der Ostsee. In dieser Beziehung hat gerade die spannungsreiche deutsch-russische Auseinandersetzung um die „Grenz- marken" an der Ostsee Spielraum für die Emanzipation der Esten als moderne Nation geöffnet. Weniger ging eine solche Wirkung von dem revolutionären Zusammen- bruch des Zarenreiches und von dessen Nachfolger aus, dem kommunistischen Sowjetstaat. Zwar gab es einen verheißungsvollen Start nationaler Selbstbe- stimmung im Rahmen einer nationalstaatlich gegliederten Nordosteuropa-Re- gion von „Baltic and Scandinavian Countries", wie man sich verstand. Estland hat sie gewiss nach Kräften auszubauen und zu stabilisieren sich bemüht. Doch dieser Ansatz ist zerschellt an der Schwerkraft der imperialen Sicherungsbe- dürfnisse Russlands, damit an jenem kruden Primat von Außenpolitik, wie er Nordosteuropa seit dem Beginn der Neuzeit überzogen hat. In dem Pakt der Tyrannen vom August 1939 war wiederum die vollständige Aufhebung aller Selbstbestimmung in ihren Interessensphären programmiert. Triumphiert hat nach dem Zusammenbruch des Hitlerreiches 1945 zu- nächst Stalins imperialer und hegemonialer Anspruch auf die gesamte Ost- hälfte Europas. Aber dieser Imperialgedanke mit seinem Pseudo-Internati- onalismus war trotz aller Gewaltanwendung nicht in der Lage, die einmal geweckten emanzipativen und widerständigen Kräfte der kleinen Völker vollständig zu „sowjetisieren". Im Gegenteil, den baltischen Völkern war, wie Georg von Rauch gesagt hat, in der Sowjetunion eine Funktion zuge- wachsen, die sich mit der der baltischen Deutschen in der Zeit Peters des Großen und danach vergleichen lässt. Von Leningrad aus gesehen, waren selbst die baltischen Sowjet-Republiken ein Stück Westeuropa. Es blieb dies ein Potential, das 1989/91 überall mächtig hervorbrach und das neuzeitliche System der großmächtigen Überlagerung Nordosteuropas an sein Ende führte. Der letzte Platzhalter des Ancien Regime an der Ostsee, die imperialistische Sowjetunion, löste sich einfach auf.

40 Im Zentrum Nordosteuropas

Estland freilich — das ist die andere Seite — war durch den Zweiten Welt- krieg und seine Folgen auch in tiefgreifende Revolutionen gestürzt worden. Das waren einmal die demographischen Eingriffe: - die von Hitler und Stalin vereinbarte Umsiedlung der deutschen Minderheit, - die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Estlands, - die Vertreibung in die Emigration und schließlich die großmaßstäbig, staat- lich gelenkte Industrie-Wanderung (bis zu 30 %). Zum anderen gab es die gesellschaftliche Sowjetisierung. Beide Revoluti- onen sind in ihren Folgen noch immer präsent bei allen Transformationspro- blemen. Es sind aber heute Probleme, die großes internationales Interesse und viel Anteilnahme an Estland als ein Stück wiedergewonnenes Europa finden. Estland braucht dabei nicht zuletzt Halt an festen politischen Nordosteuropa- strukturen — an der engen Zusammenarbeit der Ostseeländer — einschließlich Russlands. So mögen unsere kurzen Überlegungen an Estlands Geschichte gezeigt haben, dass von Reval / Estland aus Pfade zu einem umfassenderen und diffe- renzierteren Verständnis Nordosteuropas laufen. Vielleicht könnten sich auch die Konzepte der Geschichtsforschung sich auf diesem Weg näherkommen. Das ist nicht nur für die Diskussion unter den Fachleuten wichtig. Auch in den nationalen Gesellschaften Europas heute sollte der Blick in die Geschich- te eines „kleinen Volkes" im Zentrum einer Großregion orientierend wirken können, wenn dieser Blick nicht in Schwärmerei und Nostalgie stecken bleibt. Nachzutrauern besteht kein Anlass — historisch nicht wie actualiter nicht - weder der Hanse — dem großen Organisator des Ostsee-Mittelalters, - schon gar nicht der kriegerischen Neuzeit, - noch dem Experiment des vorigen Jahrhunderts, dem Sowjetreich mit seinem hegemonial gemeinten Konzept von der Ostsee als einem „Meer des Friedens". Vielmehr muss dieser Blick gerichtet sein auf die europäische Zukunft freier und gleicher Völker.

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PAUL JOHANSEN

BEITRÄGE ZU SEINER BIOGRAPHIE UND SEINEN FORSCHUNGEN ZUR GESCHICHTE NORDOSTEUROPAS

Lea Köiv Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn

Paul Wulff Johansen wurde am 23. Dezember (nach dem julianischen Kalender am 10. Dezember) 1901 als Sohn des dänischen Meliorations- und Agronomieingenieurs und späteren dänischen Generalkonsuls in Estland, Jens Christian Johansen, in Reval geboren. 1919 absolvierte er die Revaler Dom- schule. 1920 begann sein Studium an der Universität Kopenhagen; anschlie- ßend studierte er kurz, bis 1921, an der Landwirtschaftlichen Hochschule von Hohenheim. Im selben Jahr nahm er das Geschichtsstudium in Leipzig auf Mit seiner Dissertation „Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter", die unter der wissenschaftlichen Betreuung von Professor Rudolf Kötzsch- ke entstand, promovierte er 1924 ebenda zum Dr. phil. Von 1924 bis 1934 war Johansen stellvertretender Leiter des Stadtarchivs Reval; 1934 wur- de er zum Stadtarchivar ernannt. 1939 verließ Johansen als Umsiedler Est- land. Von 1940 bis zu seinem Tode im Jahre 1965 arbeitete er als Professor für Hansische Geschichte (seit 1956 ordentlicher Professor für Hansische und Osteuropäische Geschichte) an der Universität Hamburg. Von 1959 bis 1965 leitete er außerdem das von ihm mitbegründete Finnisch-Ugrische Seminar an derselben Universität. In Estland wie auch später in Deutschland gehörte Johansen den leitenden Gremien mehrerer akademischer Vereine an (in Est- land u. a. der Estländischen Literärischen Gesellschaft, des Vereins Estnischer Archivare, des Vereins für die Geschichte Tallinns, und in Deutschland des Hansischen Geschichtsvereins und der Baltischen Historischen Kommission). Sein Gesamtwerk umfasst Abhandlungen zur Siedlungs-, Agrar-, Kultur- und Stadtgeschichte Estlands sowie zur hansischen Geschichte. Insbesondere sind seine Untersuchungen über die Esten und die estnische Sprache im Mittelal- ter und in der Frühneuzeit zu erwähnen.' Man darf wohl behaupten, dass zum Thema „Paul Johansen und das Re- valer Stadtarchiv" und zur Rolle Johansens in der Geschichte des Stadtarchi- vs Johansens wissenschaftlicher Nachlass selbst am besten Auskunft gibt. Ein großer Teil der Forschungen von Paul Johansen beruht ja eben auf Quellen aus dem Revaler Stadtarchiv; dank Johansen wurde das Stadtarchiv Reval ein 1 Zur Biographie Paul Johansens siehe z.B.: Deutschbaltisches Biographisches Lexikon 1710-1960, hrsg. von Wilhelm Lenz, Neudr. Wedemark 1998, S. 358; Norbert Angermann, Wolfgang Veenker und Hugo Weczerka: Gedenken zum 80. Geburtstag von Paul Johansen, in: Zeitschrift für Ostforschung 31 (1982), S. 559-592, hier S. 559-561 (Vorbemerkung von H. Weczerka); Ulla Johansen: Kindheit und Ju- gend Paul Johansens, in: Reden und Vorträge auf der Festveranstaltung am 14. Dezember 2001 aus Anlaß des 100. Geburtstages von Prof. Dr. Paul Johansen (23.12.1901-19.04.1965) / hrsg. von Eugen Helimski, unter red. Mitarb. von Nur5en Gülbeyaz, Hamburg 2002, S. 9-17.

45 Lea Köiv wichtiges Zentrum für die Geschichtsforschung in Estland in den 1920 und 1930er Jahren; durch seine Forschungen und Quellenveröffentlichungen wur- den die Bestände des Archivs auch außerhalb Estlands bekannt.2 Im Hinblick auf die wissenschaftliche Produktion könnte man die Ver- bindung zwischen Johansen und dem Stadtarchiv Reval also als harmonisch bezeichnen. Hier sollen jedoch vorwiegend nicht so erfreuliche Gesichts- punkte betrachtet werden. Diese kommen in seinen Forschungsergebnissen nicht zum Ausdruck, erscheinen aber angesichts seines Lebens und Wirkens im Stadtarchiv — sowie während seiner Jahre in Estland im Allgemeinen — doch nicht als belanglos.3 Johansens Lebenswerk begann noch während eines Umbruchs in Est- land: Die Gründung eines selbständigen estnischen Staates im Jahre 1918 be- deutete für die Esten, die von einem „geschichtslose[n] Volk" zum „sein Schicksal nunmehr selbst bestimmenden Subjekt" geworden waren,4 eine He- rausforderung. Dabei kam auch der Geschichtsschreibung eine wichtige Rolle zu. Es ging darum, mit den Argumenten aus der Vergangenheit die junge Ei- genstaatlichkeit zu untermauern und ihre Lebenskraft zu beweisen. Die aka- demische Geschichtsforschung blieb jedoch für einige Jahre noch Domäne deutschbaltischer Historiker. Dieses Erbe war ohne Zweifel gewichtig, aber — wie die führenden Köpfe der estnischen Geschichtsforschung es 1930 ein- schätzten — „als Arbeitsleistung der fremden Nationen angehörigen Forscher entsprach es nicht den Interessen der estnischen Gesellschaft und der est- nischen Nation",5 und als solches hat es „die Bedürfnisse und Interessen des zum nationalen Leben erwachten estnischen Volkes" nicht befriedigen kön- nen. „Geleitet von gewissen engen Sonderinteressen schenkten diese Forscher der historischen Vergangenheit des estnischen Volkes nicht genügend Auf- merksamkeit und neigten überhaupt dazu, den Anteil der Esten (und Letten) an der historischen Vergangenheit des Baltikums zu unterschätzen und den Anteil des deutschen Elements oft grundlos zu verherrlichen."' 2 Die bisher ausführlichsten Schriftenverzeichnisse von Johansen sind Friederich-Karl Proehl: Schrif- tenverzeichnis von Paul Johansen, in: Rossica Extema: Studien zum 15.-17. Jahrhundert; Festgabe für Paul Johansen zum 60. Geburtstag / hrsg. von Hugo Weczerka, Marburg 1963, S. 179-188; sowie Hugo Weczerka: Verzeichnis der Veröffentlichungen Paul Johansens seit 1962 (mit Nachträgen) und der ihm gewidmeten Beiträge , in: Angermann, Veenker und Weczerka (wie Anm. 1), S. 589-592. Später ist noch erschienen: Paul Johansen: Balthasar Rüssow als Humanist und Geschichtsschreiber / aus dem Nachlass ergänzt und herausgegeben von Heinz von zur Mühlen, Köln u.a. 1996 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; 14). 3 Teilweise sind dieselben Umstände behandelt worden in: Lea Köiv: Rudolf Kenkmaa — eestlane Tallinna Linnaarhiivis [Rudolf Kenkmaa — ein Este im Stadtarchiv Reval], in: Tuna 2 (1999), S. 48-66. 4 Hans Kruus: Grundriss der Geschichte des Estnischen Volkes, Tartu 1932, S. 5 f. 5 Hans Kruus: A. R. Cederberg 50-aastane [A.R. Cederberg 50 Jahre], in: Eesti Kirjandus 6 (1935), S. 251-255, hier S. 251-252. 6 Peeter Treiberg (seit 1935 Tarvel): Akadeemiline Ajaloo-Selts aastail 1920-1930 [Der Akademische Geschichtsverein in den 1920-30er Jahren], in: Ajalooline Ajakiri 9 (1930), S. 1-10, hier S. 1.

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Zum eigentlichen Zentrum der estnischen nationalen Geschichtsforschung wurde Dorpat (estn. Tartu) — der Sitz der Universität sowie des Staatsarchi- vs und des Akademischen Geschichtsvereins. Die neueröffnete estnische Uni- versität Dorpat hielt es bei den sogenannten nationalen Wissenschaften nicht angebracht, auf deutschbaltische Gelehrte Bezug zu nehmen und orientierte sich an finnisch-skandinavischen Kräften und Vorbildern. Zum Professor der estnischen und skandinavischen Geschichte wurde Arno Rafael Cederberg aus Helsinki (schwed. Helsingfors) berufen. Unter seiner Anleitung und un- mittelbaren Beteiligung wurden in Dorpat das Zentralarchiv des Estnischen Staates (1921) gegründet und die Grundsätze des estnischen Archivwesens erarbeitet.' Die erste Generation von estnischen Historikern, die in Dorpat be- reits an der estnischen Universität ausgebildet worden waren, trat um die Mit- te der 1920er Jahre in Erscheinung. Ihre Mission sahen sie darin, die bisherige „fremde Auffassung" von der estnischen Geschichte durch ein „neues, Es- ten-orientiertes Bild" zu ersetzen. Während der Schwerpunkt der deutschbal- tischen Geschichtsforschung auf der „gesellschaftspolitische[n] Creme und ihre[n] Institutionen" lag, sollten die estnischen Historiker diesen auf die „breite Volksmasse, ihren Alltag und Selbstäußerungen" legen.' Unter den deutschbaltischen Historikern gab die Schule der Universtät Dorpat aus der Zeit vor der Russifizierung, deren Kontinuität sich in den aka- demischen Gesellschaften, die das Jahr 1918 überlebt hatten und bis 1939 tätig

7 Arno Rafael Cederberg (1885-1948) — 1913-1919 Dozent der skandinavischen Geschichte an der Uni- versität Helsinki; Lektor an der Universität Dorpat 1919-1928, 1924-1928 Professor der Weltgeschichte. 1920-1928 Vorsitzender des Akademischen Geschichtsvereins, 1920-1924 Vorstand des Estnischen Ar- chivrates, 1920-1928 Vorsitzender des Geschichtsausschusses der Gesellschaft für Estnische Literatur; 1935-1948 Professor an der Universität Helsinki. Cederberg initiierte auch die Herausgabe einer est- nischen historischen Zeitschrift „Ajalooline Ajakiri" (1922). Über seine Tätigkeit in Estland siehe: Tiit Rosenberg: Professor Arno Rafael Cederberg — Eesti ajaloo uurimise koolkonna rajaja Tartu Ülikoolis [Arno Rafael Cederberg — Der Begründer der Erforschung der Geschichte Estlands an der Universität Dorpat], in: Ajalooline Ajakiri 2 (1999), S. 79-90. 8 Hans Kruus: Ärkamisaja pärandus Eesti ajaloo uurimisele [Die Erbschaft des Zeitalters des nationalen Erwachens für die Erforschung der estnischen Geschichte], in: Ajalooline Ajakiri 9 (1930), S. 129-138, hier S. 136 f. Über die Entwicklung der estnischen akademischen Geschichtswissenschaft in der Zwischenkriegs- zeit siehe: Sirje und Jüri Kivimäe: Estnische Geschichtsforschung an der Universität Tartu 1920-1940: Ziele und Ergebnisse, in: Die Universitäten Dorpat/Tartu, Riga und Wilna/ 1579-1979, hrsg. von Gert von Pistohlkors u.a. Köln, Wien 1987 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; 9), S. 277-291; Sirje und Jüri Kivimäe, Hans Kruus und die deutsch-estnische Kontroverse, in: Zwischen Konfrontation und Kom- promiss: Oldenburger Symposium „Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er Jahre" / hrsg. von Michael Garleff, München 1995 (Schriften des Bundesinsti- tuts für ostdeutsche Kultur und Geschichte; Bd. 8), S. 155-170; Rein Helme: Die estnische Historiographie, ebda., S. 139-154, hier S. 146; Toivo U. Raun: The Image of the Baltic German Elites in Twentieth-Century Estonian Historiography: the 1930s vs. the 1970s, in: Journal of Baltic Studies 30 (1999), S. 338-351, hier 338-345; Jörg Hackmann, Ethnos oder Region? Probleme der baltischen Historiographie im 20. Jahrhun- dert, in: Zeitschrift für Ostforschung 50 (2001), S. 531-556, hier 542-546, 550-552.

47 Lea Köiv waren, sowie in ihren Publikationen widerspiegelte, den Ton an.9 Die Reprä- sentanten dieser Schule belegten in den Anfangsjahren der Republik Estland führende Ämter bei mehreren wichtigen Institutionen — in den Stadtarchiven von Reval, Dorpat und Narva und in der Universitätsbibliothek Dorpat.1° Die veränderten politischen Zustände gaben auch den deutschbaltischen Histori- kern Anlass zu lebhaften Diskussionen und bewogen sie dazu, die Ausgangs- punkte und Ziele ihrer Forschung zu formulieren. Die von nationalen Emp- findlichkeiten bestimmte Atmosphäre wirkte sich unvermeidbar auch auf die Betrachtungsweise der deutschbaltischen Geschichtsforschung aus.' Trotz einer gewissen Polarisierung auf nationaler Ebene gab es zwischen der estnischen und deutschbaltischen Geschichtsforschung jedoch zahl- reiche Berührungspunkte. Die Veröffentlichung ihrer Schriften in deutsch- prachigen Publikationen machte estnische Wissenschaftler auch außerhalb der muttersprachlichen Umgebung bekannt. Eine gegenseitige sachkundige Kritik kam der in Estland gepflegten Geschichtsforschung in ihrer Ganzheit zugute, und die damalige berufliche Atmosphäre hat man im Großen und Ganzen als fruchtbar bezeichnet» Paul Johansen pflegte Umgang mit den 9 Die wichtigsten von diesen waren: die Estländische Literärische Gesellschaft mit der Publikation „Bei- träge zur Kunde Estlands" (vor 1923 „Beiträge zur Kunde Est-, Liv- und Kurlands") in Reval, die Gelehrte Estnische Gesellschaft in Dorpat mit ihren „Sitzungsberichten der Gelehrten Estnischen Gesellschaft"; die Altertumsforschende Gesellschaft zu Pernau und „Sitzungsberichte der Altertumsforschenden Gesell- schaft zu Pärnu/Pernau". 10 Otto Greiffenhagen war Leiter des Stadtarchivs Reval, Arnold Hasselblatt und Eduard Dieckhoff be- kleideten den gleichen Posten im den Stadtarchiven von Dorpat und Narva; Otto Freymuth war Leiter der Baltica-Abteilung der Universitätsbibliothek Dorpat. 11 Über die Problematik der deutschbaltischen Geschichtswissenschaft in den 1920er und 1930er Jah- ren siehe: Heinz von zur Mühlen: Die deutschbaltische Geschichtsforschung 1918-1939/45 in Estland, in: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung / hrsg. von Georg von Rauch, Köln, Wien, 1986 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; 20) S. 339-369; Heinz von zur Mühlen: Kontinuität und neue Anstöße der deutschbaltischen Geschichtsforschung in Estland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Die Universitäten (wie Anm. 8), S. 293-304; Indrek Jürjo: Die Versammlung deutscher Historiker in Reval/Tal- linn am 10. und 11. April 1933 — Ergebnis und Wirkungen, in: Zwischen Konfrontation und Kompromiss (wie Anm. 8), S. 171-183; Jörg Hackmann, Ethnos oder Region, (wie Anm. 8); Eduard Mühle, Deutsch- baltische Geschichtsschreibung zum Livländischen Mittelalter im Kontext der politischen Entwicklungen der 1920er bis 1950er Jahre: zwei werkorientierte Fallstudien, in: Journal of Baltic Studies (wie Anm. 8), S. 352-390. 12 Darin hat man u. a. den positiven Einfluss von Arno Rafael Cederberg gesehen, der dazu beigetragen habe, dass die estnische Geschichtswissenschaft nicht in „breite chauvinistische Bahnen" abgeglitten war; vgl. v. z. Mühlen: Deutschbaltische Geschichtsforschung (wie Anm. 11), S. 343. Ganz andere Bedingungen entwickelten sich beispielsweise in Lettland, wo die regierenden Kreise besonders in den 1930er Jahren eine ignorierende und zugleich agressive Haltung gegenüber der deutschbaltischen Geschichtsforschung zeigten. (Jürgen von Hehn: Die deutschbaltische Geschichtsforschung 1918-1939/45 in Lettland, in: Geschichte der deutschbaltischen Ge- schichtsschreibung (wie Anm. 11), S. 372-398, hier S. 388; Inesis Feldmanis: Die lettische Historiographie, in: Zwischen Konfrontation und Kompromiss (wie Anm. 11), S. 133-138.) - Das Werk der estnischen Historiker fand auch bei deutschen Fachgelehrten hohe Anerkennung; die lettische Geschichtsschreibung hingegen ist bei ihnen auf scharfe Kritik gestoßen. Vgl.: Arved Baron Taube: Estnische Geschichtsforschung und Geschichts- schreibung, in: Jomsburg 2 (1938), S. 45-61; und Ludwig Karstens (= Jürgen von Hehn): Die Entwicklung und

48 Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn beiden Lagern: Er wirkte bei den deutschbaltischen akademischen Vereinen und Veröffentlichungen mit, beteiligte sich aber auch an wichtigen estnischen Proj ekten.13 Bis zur Einsetzung Johansens als stellvertretender Leiter des Archivs 1924 beschränkte sich das wissenschaftliche Personal des Stadtarchivs in Reval auf eine einzige Stelle — die des Stadtarchivars. Diesen Posten hatte seit 1900 Otto Greiffenhagen, Sohn des einstigen Revaler Stadthauptes, inne.14 Johan- sen tat sich neben seinem erfahrenen, beruflich jedoch möglicherweise etwas resignierten Chef schnell als die eigentliche führende Kraft in mehreren wich- tigen Teilbereichen der Archivarbeit hervor. Er wurde und blieb zuständig für die Publikationen, für die Organisation der sogenannten neueren Abteilung beim Archiv," für Kontakte mit den anderen Archiven Estlands sowie für verschiedene laufende Aufgaben. Selbstverständlich kam seine eigene For- schungsarbeit noch dazu. Allem Anschein nach war er damals, ungeachtet der großen Belastung durch die Arbeit, mit seinem Leben zufrieden. 1930 schrieb Johansen an seinen dänischen Kollegen Svend Aakjxr, er sei doch sehr froh, dass er in einer kleinen Provinzstadt wohne und nicht in einer Stadt, die die Menschen töte, wie Kopenhagen oder Stockholm. Reval, obgleich eine Hauptstadt, sei ja immerhin eine Provinzstadt. Hier könne er in aller Ruhe arbeiten und auch als Familienvater leben. Seine Rolle als Vater nehme er gerade mit besonderem Enthusiasmus wahr, da der kleine Jens Christian schon zu kriechen und zu lallen beginne.16 Auf Grund der Archivquellen gewinnt man jedoch den Eindruck, dass die Atmosphäre innerhalb des Archivs, die anfangs wahrscheinlich recht friedlich war, zu Beginn der 1930er Jahre nach und nach schlechter wurde. Im Jahre 1928 vergrößerte sich das Personal: Zum Leiter der bereits erwähnten „neu- eren" Abteilung des Stadtarchivs wurde der Este Rudolf Kenkmaa ernannt. Er hatte sein Studium als Historiker und Archivar an der estnischen Univer-

der Charakter der lettischen Geschichtswissenschaft, in: Jomsburg 3 (1939), S. 45-72. 13 Johansen gehörte den leitenden Gremien u. a. der Estländischen Literärischen Gesellschaft, des Ver- eins Estnischer Archivare und des Vereins für die Geschichte Tallinns an; er war einer der Autoren der Ge- samtdarstellung der estnischen Geschichte (Eesti ajalugu [Estnische Geschichte] / hrsg. von Hans Kruus, 3 Bde., Tartu 1935-1940). 14 Otto Greiffenhagen (1871-1938), Sohn von Thomas Wilhelm Greiffenhagen, dem Revaler Stadthaupt 1883-1885, studierte 1889-1891 an der Universität Dorpat, 1891-1895 der Universität Bonn. Er war Leiter des Stadtarchivs 1900-1934, 1922-1936 Präsident des Estländischen Literärischen Gesellschaft. 1936 sie- delte er nach Deutschland um; er starb in Hameln 1938. 15 Die neuere Abteilung des Stadtarchivs wurde 1927 eingerichtet im Zusammenhang mit der Übernah- me sämtlicher älterer Archivalien von den Abteilungen der Revaler Stadtverwaltung. In die neuere Abtei- lung wurden z. B. auch die Archive der Revaler Gilden, die dem Gesetz über die Aufhebung der Stände zufolge 1920 aufgelöst worden waren, aufgenommen. 16 Aus dem Brief von Paul Johansen an Svend Aakjar vom 15.10.1930. Referiert nach: Vello Helk: Arhivaaride koostöö üle Läänemere. [Zusammenarbeit von Archivaren über die Ostsee] (Über die Briefe von Paul Johansen an Svend Aakjxr, L.K.), in: Tuna 4 (2001), S. 92-108, hier S. 96. 49 Lea Köiv

sität Dorpat absolviert.'' So kamen im Stadtarchiv drei verschiedene Histori- ker, drei verschiedene Schulen zusammen: Kenkmaa, der die junge estnische Geschichtswissenschaft repräsentierte, Greiffenhagen, der noch die „prä-est- nische" deutschbaltische Tradition vertrat, und Johansen, der ja direkt keinem dieser beiden damaligen „Historikerlager" Estlands angehörte. Zum Jahre 1931 schlug die Koexistenz der drei Kräfte unter dem Dach des Stadtarchivs in eine ernsthafte Konfrontation um. Der Konflikt scheint anfangs darauf zu- rückgegangen zu sein, dass Kenkmaas Ambitionen als Forscher auf einen — seiner eigenen Meinung nach — zu engen und einseitigen Rahmen stießen, der ihm von der Archivleitung vorgegeben wurde. In einem Brief an seinen ehe- maligen Lehrer an der Universität Dorpat, den oben schon erwähnten Arno Rafael Cederberg, klagte er, dass die Möglichkeit, sich wissenschaftlich zu betätigen, ihm fast verschlossen bleibe. Sämtliche Forschungsaufgaben hätten der Leiter des Archivs sowie sein Stellvertreter für sich monopolisiert. Eben Dr. Johansen sei fest der Meinung, dass Kenkmaa mit seinen Ansprüchen auf die Forschungsarbeit unerhörte Privilegien für sich verlange und einen An- schlag auf das Ressort von Greiffenhagen und Johansen verübe.18 Bald nahm die Kontroverse im Stadtarchiv aber viel breitere Dimensionen an: Es ging nicht mehr (oder nicht nur) um die Selbstverwirklichung der Mit- arbeiter, sondern konkret um eine geplante estnischsprachige Gesamtdarstel- lug zur Geschichte der Stadt Reval.19 Johansen soll die Meinung geäußert ha-

17 Rudolf Kenkmaa (bis 1935 Kenkman; 1899-1975) studierte 1920-1929 an der Universität Dorpat unter der wissenschaftlichen Betreuung A.R. Cederbergs. Seine Karriere als Historiker begann er mit seiner Ma- gisterarbeit über die historische Topographie Mittelestlands (1933) sowie Abhandlungen zur Geschichte der Kirchspiele in den Landkreisen Werro (estn. Vöru) und Walk (estn. Valga). Ab 1928 fiel sein Betätigungs- feld vor allem in den Bereich der Geschichte Revals und demzufolge in die Stadtgeschichte im Allgemeinen. Das im Ergebnis einer jahrelangen Forschungsarbeit von Kenkmaa am Vorabend des Zweiten Weltkrieges abgeschlossene Manuskript über die Geschichte Revals fiel dem Brand des Stadtarchivs während des so- wjetischen Luftangriffs auf Reval im März 1944 zum Opfer. (Nach dem Auszug aus der Autobiographie von Rudolf Kenkmaa 1968, in: Tallinn tules. Dokumente ja materjale Tallinna pommitamisest 9./10. märtsil 1944 [Reval in Feuer. Dokumente und Materialien über den Luftangriff auf Reval am 9./10. März 1944], hrsg. von Jüri Kivimäe und Lea Köiv, Tallinn, 1997 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Reval; 2), S. 125). 1934-1939 war Kenkmaa stellvertretender Leiter des Stadtarchivs, 1939-1944 Stadtarchivar, 1944-1945 stellvertretender Direktor des staatlichen Zentralarchivs der Estnischen S SR; seit 1945 Direktor. 1947-1957 lehrte er als Dozent für Geschichte und Archivwesen an der Universität Dorpat, 1957-1963 war er wissen- schaftlicher Mitarbeiter am Institut für die Geschichte der Akademie der Wissenschaften der Estnischen Sowjetrepublik. Über das Leben und Wirken Kenkmaas s. Rudolf Kenkmaa 1898-1975, hrsg. von Peep Pillak, Tallinn 1998. 18 Nationalarchiv Finnlands: Nachlass Arno Rafael Cederberg 5, 1931/1. Brief von Rudolf Kenkmaa an Cederberg vom 14.09.1931. Für die Materialien in Helsinki bin ich Herrn Peep Pillak sehr zu Dank verpflichtet. 19 Briefwechsel des Stadtarchivs Reval mit der Stadtverwaltung und der Universität Dorpat betreffend. die Herausgabe des Sammelbandes „Tallinn." Stadtarchiv Reval (im folgenden: TLA), fond 82 (Stadtver- waltung Reval), nimistu 1, säilik 1287 (im folgenden zitiert als 82-1-1287), Bl. 1-28. Wie 1932 vereinbart, wurde die Stadtgeschichte nach Perioden zwischen Johansen, Juhan Vasar, Otto Liiv, Hans Kruus und

50 Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn ben, dass man gar keine besonderen Vorbereitungen zur Herausgabe einer neuen Stadtgeschichte treffen müsse, denn das bekannte Werk von Eugen Nottbeck und Wilhelm Neumann, „Geschichte und Kunstdenkmäler der Stadt Reval",2° könne sowieso nicht übertroffen werden. Kenkmaa stellte in einem seiner Briefe fest, „dass die estnische Geschichtsforschung durch solche Äu- ßerungen offen verunglimpft wird, dass sie als kraftlos und unmündig ange- sehen wird."2' Er machte den Herausgeber der geplanten Veröffentlichung sogar darauf aufmerksam, dass es angesichts der Interessen des estnischen Volkes und Staates nicht wünschenswert wäre, „der jetzigen nicht-estnischen Leitung des Stadtarchivs, deren Angehörige mit militantem deutschem Na- tionalismus und Hitlerismus sympathisieren, die Möglichkeit zu geben, bei der Festlegung der Gesamtkonzeption und Struktur des Werkes maßgeblich mitzureden. Denn sonst würden wir zwangsläufig Lobgesang und Weihräu- chern [...] auf die hohe deutsche Kultur hören, sowie Verherrlichung der Or- dens- und Hansezeit; unvermeidlich würden die entsprechenden Kapitel über- mäßig lang werden, während die neuere Zeit, die für das Verständnis unserer heutigen Lage doch unendlich viel wichtiger ist, wohl oder übel gleich einem Waisenkind vernachlässigt werden würde." Um seinen Ausführungen mehr Nachdruck zu verleihen, führte er als warnendes Beispiel Johansens negati- ve Einstellung zu einer landesweit durchgeführten Aktion zur Sammlung von Erinnerungen an die Ereignisse während der russischen Revolution von 1905 an, als es in Estland zu Brandschatzungen und Plünderungen der Herrenhäu- ser durch estnische Bauern gekommen war. Johansen habe gesagt, dass eine solche Sammlungsaktion keinen Sinn mache und für die Forschung ohnehin gar keinen Wert habe. Eigentlich dürfe man so etwas nicht machen, denn da- mit würde man alte Wunden wieder aufreißen und die Esten erneut gegen die Deutschen aufhetzen. Kenkmaa bestand jedoch nicht darauf, dass Johansen als Mitarbeiter an der geplanten Veröffentlichung völlig verdrängt oder aus- geschlossen werden sollte. Er gab zu, dass Johansen als Kenner mittelalter- licher Quellen wohl unentbehrlich sei. Bei dem gegebenen Projekt müsse man die Arbeit Johansens jedoch sorgfältig beaufsichtigen.22

Kenkmaa aufgeteilt. Die Redaktion des historischen Teils übernahm Kruus, der 1937 von Johansen ab- gelöst wurde. Nachdem der Letztere 1939 Estland verlassen hatte, wurden die Pflichten des Redakteurs Kenkmaa übertragen. 1940 war das Manuskript fertig, aber in der veränderten politischen Lage konnte es nicht mehr veröffentlicht werden. 20 Eugen Nottbeck, Wilhelm Neumann: Die Geschichte und Kunstdenkmäler der Stadt Reval, Bd.1-2, Reval, 1896-1906. 21 Kenkmaa an Cederberg, 14.9.1931 (wie Anm. 18). 22 Referiert nach der Abschrift im Nachlass R. Kenkmaas, 14.5.1932, TLA, R-285-1-408, Bl. 2-4. Der Brief trägt keinen Namen des Empfängers, aber offenbar handelt es sich um Hans Kruus (1891-1976). Kruus war ab 1927 Dozent für Geschichte an der Universität Dorpat, 1931-1934 außerordentlicher und ab 1934 ordentlicher Professor der estnischen und skandinavischen Geschichte.

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Aus dem Vorangehenden lässt sich bereits erkennen, dass Kenkmaa tiefes Misstrauen gegen die Träger der deutschen Forschung zur Geschichte Est- land hegte. Zu diesen zählte er auch Paul Johansen. In einem Brief an Pro- fessor Cederberg gestand Kenkmaa, dass er zunächst den Eindruck hatte, dass Johansen im Gegensatz zu Greiffenhagen von „Überheblichkeit und. Hochmut germanischer Prägung" frei sei. Jetzt scheine ihm aber, dass Jo- hansen seinen wahren, gar nicht so Esten-freundlichen Kern verberge und nur zur Sicherung seiner Karriere geschickt zwischen den zwei Blöcken, dem estnischen und dem deutschen, laviere.23 Kenkmaas recht unfreundliches Verhalten gegen Johansen kann in ge- wissem Maße von der Tatsache mit geprägt worden sein, dass er sich im Stadtarchiv verdrängt oder eingeengt fühlte. Doch erregte Johansen, obgleich er als Wissenschaftler im Allgemeinen hochgeschätzt wurde, auch bei man- chen anderen estnischen Archivaren und Historikern Misstrauen. So fand auch Arnold Soom, der Stadtarchivar von Narva, dass sich Johansen zwar um Kontakte zu den estnischen Historikern bemühe und bestrebt sei, die aus est- nischer Sicht relevanten Forschungsthemen zu behandeln, jedoch sei er nicht in dem Maße ein Historiker estnischer Prägung, um ihn künftig als einen ge- eigneten Kandidaten für den Posten des Stadtarchivars von Reval anzusehen. Diese Stelle musste nach Sooms Meinung unbedingt mit einem estnischen Historiker besetzt werden. Soom war der Ansicht, dass die Revaler Stadtvä- ter entweder zu passiv gegenüber ihrem Archiv waren oder die „baltischen Funktionäre" zu hoch einschätzten. Dem Archiv der Hauptstadt mache sein Personalbestand keine besondere Ehre. Johansen sei als Wissenschaftler wohl anzuerkennen, und man sollte auch künftighin versuchen, ihn den estnischen Historikerkreisen näher zu bringen, aber die führende Rolle in einem der größten und bedeutendsten Archive Estlands sollte doch einem anderen zu- kommen. Soom fand, dass man diesen Standpunkt auch in „gewissen Krei- sen" zu betonen habe, und „dies nicht in letzter Minute". Von einem öffent- lichen Angriff wäre doch abzusehen; man müsste auf eine andere Art Einfluss auszuüben versuchen.24 Vor diesem Hintergrund ist zu ersehen, dass im Stadtarchiv Reval und um das Stadtarchiv herum ein recht komplexer Konflikt gereift war, bei dem das unterschiedliche Verhalten der Beteiligten zur Geschichte und Geschichts- schreibung eine wichtige Quelle der Meinungsverschiedenheiten bildete. In den Auseinandersetzungen im Stadtarchiv spiegelte sich zugleich — bedingt durch die Unvereinbarkeit nationaler Ausgangspunkte — gegenseitiges Misstrauen zwischen der estnischen und der deutschen Geschichtsfor-

23 Kenkmaa an Cederberg, 14.09.1931 (wie Anm. 18). 24 TLA, R-285-1-403, B1.2-2v. A. Soom an Kenkmaa am 1.3.1931.

52 Paul Johansen und das Stadtarchiv Reval / Tallinn schung wider." Ungeachtet aller verborgenen Konfrontationen schien es je- doch ganz sicher, dass Johansen als bisheriger Stellvertreter des Leiters und hervorragender Wissenschaftler zum nächsten Stadtarchivar werden würde. Als der entscheidende Augenblick dann kam, waren seine Aussichten, den Posten zu bekommen, plötzlich aber nicht mehr so gut. Der Abschied Greif- fenhagens (der bis heute der Stadtarchivar mit dem längsten Dienstalter ist) vom Archiv 1934 war jedoch mit einem öffentlichen Skandal verbunden, von dem auch Paul Johansen nicht unberührt blieb. Hier kann diese Krise nur kurz umrissen werden. Auf den ersten Blick ganz unerwartet, bei den Besprechungen über das Budget des Stadtarchivs im Jahre 1934, übte die Stadtverwaltung - als Träger des Stadtarchivs scharfe Kritik an der Archivleitung. Die führenden Kräfte des Archivs seien nicht frei von Tendenz, ihre Haltung entspreche nicht den Interessen und kulturellen Bestrebungen der Mehrheit der Bevölkerung der Stadt Reval und der Republik Estland; die bisherigen Veröffentlichungen des Archivs richteten sich auf die deutschbaltischen Kreise und beleuchteten nicht genügend die Rolle und das Werk der Esten in der Geschichte ihres Landes. Diese Mängel könnten nur beseitigt werden, indem der amtierende Archi- vchef durch eine neue, zeitgemäße Kraft ersetzt werde?' Durch die Presse wurde die Kritik auch der Öffentlichkeit bekannt." Rudolf Kenkmaa gesell- te sich ganz offen zu den Kritikern. In einer estnischen Zeitung behauptete ei- unter anderem: „den estnischen Archivbeamten wird keine Möglichkeit ge- geben, sich an den Publikationen des Archivs zu beteiligen"; „die Lage der estnischen Archivbeamten ist im Vergleich zu den Nichtesten weniger gün-

25 So wie für Johansen in der Frage des Jahres 1905 war das ablehnende Verhalten gegenüber den von estnischen Historikern in der Art von Kampagnen veranstalteten nationalen Aktionen charakteristisch für die deutschbaltischen Historiker im allgemeinen: Auch in den Ergebnissen der von dem Akademischen Geschichtsverein und dem Geschichtsausschuss der Gesellschaft für Estnische Literatur veranstalteten Sammlung der historischen Überlieferung wurde antideutsches „Hetzmaterial" gesehen. 1923-1932 wan- derten Geschichtsstudenten als Stipendiaten durch die Kirchspiele, um mündliche Volksüberlieferungen aufzuzeichnen. Die auf dieser Grundlage abgefassten schriftlichen Zusammenfassungen wurden später in den Nachschlagewerken über die estnischen Landkreise benutzt, s. Jürjo (wie Anm. 11), S. 178. 26 TLA, 82-1-1450, Bl. 2. Brief der Abteilung für Bildungswesen der Revaler Stadtverwaltung an die Stadtverwaltung am 12.1.1933. In früheren Unterlagen der Stadtverwaltung lässt sich keine Kritik an den Veröffentlichungen des Archivs finden; Die Jahresberichte des Archivs und somit die gesamte Arbeit hatten bisher nur Zustimmung gefunden; s. Otto Greiffenhagen an die Abteilung für Bildungswesen am 20.1.1934, Ebda., Bl. 6. 27 10.1.1934 brachte die Rubrik „Revaler Chronik" der „Revalschen Zeitung" die Nachricht, dass das Budget der Publikationen des Stadtarchivs gekürzt worden sei, weil diese auf die deutschbaltischen Kreise gerichtet wären und nicht genügend die Rolle des angestammten Volkes in der Geschichte beleuchteten. Gleichzeitig wurde das baldige Erscheinen einer erläuternden Schrift aus „sachkundiger Feder" in Aus- sicht gestellt. Man behielt eine von Greiffenhagen geschriebene Erklärung im Auge, aber diese erschien nicht, weil der Zeitungsredakteur davon abgeraten hatte. TLA 82-1-1450, Bl. 7v.-8. Aus dem Brief von Kenkmaa an die Abteilung für Bildungswesen vom 22.1.1934.

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stig [...], die Archivführung beherrscht selbst im 16. Lebensjahr der Republik die Staatssprache nicht in dem Maße, dass sie Schriftverkehr in dieser Spra- che pflegen kann". 28 In seinen Stellungnahmen machte Kenkmaa ganz deut- lich, dass der stellvertretende Leiter im Archiv eine maßgebliche Rolle spiele. Selbstverständlich musste Johansen sich durch diese Angriffe gestört fühlen. Offensichtlich verlangte er von Kenkmaa, dass dieser eine Erklärung zu seinen Äußerungen abgeben sollte. Zur Schlichtung des Streites wurden letztendlich sogar „Schiedsrichter" herangezogen, in deren Anwesenheit die beiden Parteien dann ein „Versöhnungsprotokoll" unterzeichneten. In diesem bedauerte Kenk- maa, Johansen gekränkt zu haben. Er bekräftigte, „dass er keine Absicht habe, Dr. Johansen die Ausübung seines jetzigen Amtes im Archiv im weiteren zu erschweren oder zu verhindern sowie Dr. Johansen aus seinem Dienst zu ent- fernen mit dem Ziel, für sich selbst eine Möglichkeit zum Aufstieg im Beruf vorzubereiten".29 Jedoch sah Johansen seine Position in dieser Situation all- gemeiner Nervosität weiterhin gefährdet. Im März 1934 schrieb er an Svend Aakjaer, dass es zweifelhaft sei, ob die Esten nach dem Abschied eines Deut- schen als Stadtarchivar ausgerechnet ihn, Johansen, als dessen Nachfolger se- hen wollen: Ein Este an der Spitze des Stadtarchivs wäre ihnen doch lieber. Jedoch sei seine Ernennung zum Stadtarchivar für ihn eine Prestigefrage: Er arbeite ja bereits seit zehn Jahren als stellvertretender Archivleiter. Sein Urteil über den Stand der Dinge ist schlicht und lakonisch: „Mit diesen verdammten nationalen Fragen geht man schon zu weit!"3° Öffentlich wurde Johansen als geeigneter Kandidat für das Amt des Stadt- archivars von der Stadtverwaltung, soweit ersichtlich, wohl nie in Frage ge- stellt. Wie bekannt, ging die Sache für Johansen letztendlich doch positiv aus. Am 9. Mai 1934 wurde er estnischer Staatsangehöriger.31 Seiner Ernennung stand nichts mehr im Wege. Am 1. Juni wurde er als Stadtarchivar bestätigt.32 Hat es denn für die Kritik, die im Frühjahr 1934 dem Archiv zuteil wur- de, ernstzunehmende Gründe gegeben? Im Mittelpunkt der öffentlich an das Archiv gestellten Ansprüche stand die Frage der Quellenveröffentlichungen.

28 R[udolf] Kenkman: Linna arhiivi ühekülgne töö: Eestlastest ametnikel ei vöimaldata osavöttu arhiivi wäl- jaannete toimetamisest. [Die einseitige Arbeit des Stadtarchivs: den estnischen Archivbeamten wird keine Möglichkeit gegeben, sich an den Veröffentlichungen des Archivs zu beteiligen], in: Hommikleht, 11, 15. Januar 1934. Weiterhin: R[udolf] Kenkman: Linnaarhiivis ei osata eesti keelt. Üks arhiivi väljaannete toimeta- jaist Balti vendluse liige [Im Stadtarchiv beherrscht man kein Estnisch. Einer der Herausgeber der Veröffentli- chungen des Archivs Mitglied der Baltischen Brüderschaft], in: Hommikleht 14-18. Januar 1934. 29 TLA, R-285-1-408, Bl. 9. Das Dokument ist ohne Titel und auf den 29. Januar 1934 datiert. Auf dem Schreiben findet sich ein Vermerk II eks. (Ausfertigung II). 30 Aus dem Brief Johansens an Aakjer vom 15.4.1934. Referiert nach Helk (wie Anm. 16), S. 98. 31 Vom Innenministerium an Paul Johansen ausgestelltes Zeugnis vom 9.4.1934 über seine Aufnahme in die estnische Staatsangehörigkeit (Abschrift). TLA, 52 (Archiv der Abteilung für Bildungswesen der Stadtverwaltung Reval)-2-510 (Dienstlicher Werdegang von P. Johansen), Bl. 5. 32 Ebda., Bl. 23v.

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Dabei bleibt unklar, welche Veröffentlichungen konkret gemeint waren und warum. Nach Ausweis der estnischen wissenschaftlichen Periodika jener Zeit verdiente die Arbeit des Stadtarchivs in diesen Bereichen ausschließlich Lob, und einige Veröffentlichungen des Stadtarchivs wurden noch ganz besonders als wertvolle Beiträge zur „estnischen Thematik" herausgehoben." Die Vor- würfe mussten direkt auch Johansen betreffen: eben er gab ja bei Forschung und Publikation den Ton an. Als Anlass für den Streit scheint jedoch eine konkrete Begebenheit in Betracht zu kommen, und das strenge Urteil über die Publikationspolitik des Stadtarchivs kann kaum auf etwas anderes als auf die- sen Fall zurückgeführt werden. Das Stadtarchiv plante nämlich 1934 die He- rausgabe eines Revaler Bürgerbuches, das von dem ehemaligen Richter Ge- org Waldemar Adelheim zur Veröffentlichung vorbereitet worden war und an dem auch Paul Johansen unmittelbar mitwirkte.34 Dann wurde aber die Tatsache bekannt, dass Adelheim Mitglied der „Baltischen Brüderschaft", einer in Estland verbotenen Vereinigung war. Deshalb hatte man ihn 1933 aus seinem Amt als Richter entlassen.35 Die Stadtverwaltung weigerte sich, eine Veröffentlichung zu finanzieren, an der der politisch verdächtige Adel- heim beteiligt war, und der Archivleitung wurde die Zusammenarbeit mit ei- ner dermaßen dubiosen Person verübelt. 36 Natürlich fiel bei Johansen persönlich sein herausragender Beitrag zur Er- forschung der estnischen Geschichte und Sprachgeschichte positiv ins Ge-

33 Otto Liiv, Nikolai Treumuth (seit 1935 Nigolas Loone): Allikpublikatsioonidest Eesti iseseisvuseaegses aja- lookirjanduses [Über die Quellenveröffentlichungen in der Geschichtsliteratur während der Zeit der estnischen Selbständigkeit], in: Ajalooline Ajakiri 9 (1930), S. 76-90; hier S. 77-78,80, 85, 86, 90; Hans Kruus, Eestin histo- riantutkimuksen kehitys ja nykyinen tila [Die Entwicklung und die gegenwärtige Lage der estnischen Geschichts- schreibung], in: Historiallinen Aikakauskirja 3, (1933), S. 232-243, hier S. 239; Otto Liiv: Ülevaade Tallinna lin- naarhiivi tegevusest, eriti viimase kiimne aasta jooksul [Über die Tätigkeit des Stadtarchivs Reval, insbesondere während der letzten zehn Jahre], in: Ajalooline Ajakiri 7 (1928), S. 25-40; hier S. 36-37, 40. 34 Schon 1933 wurde in der Reihe der Publikationen des Stadtarchivs „Das Revaler Bürgerbuch 1624-1690 (nebst Fortsetzung bis 1710)" veröffentlicht, das ebenfalls von Georg Adelheim bearbeitet worden war. 35 Die von der Ideologie des Nationalsozialismus beeinflusste „Baltische Brüderschaft" wurde 1929 in Deutschland ins Leben gerufen; sie vereinigte die dortigen Deutschbalten aus Estland und Lettland. Georg Waldemar von Adelheim (1884-1952) — Jurist und Genealoge - war 1921-1922 Rechtsanwalt in Reval, 1922-1933 Mitglied des Bezirksgerichts, 1934-1939 Rechtsanwalt. 1931-1934 Direktor, 1935 Ehrenprä- sident der Sektion für Genealogie der Estländischen Literärischen Gesellschaft, 1937-1939 Direktor der Sektion für Rechtswissenschaft. 1936 saß er wegen Zugehörigkeit zur Baltischen Brüderschaft zwei Monate in Haft; s. Deutschbaltisches Biographisches Lexikon (wie Anm. 1), S. 1. 36 Aus dem Brief R. Kenkmaas an die Abteilung für Bildungswesen der Revaler Stadtverwaltung vom 22. Januar 1934. TLA, R-285-1-29v. Das Bürgerbuch wurde in demselben Jahr von der Estländischen Literä- rischen Gesellschaft herausgegeben: Das Revaler Bürgerbuch 1710-1785 / hrsg. von Georg Adelheim, Tallinn/ Reval 1934 (Beiträge zur Kunde Estlands; Bd. 19). Im Vorwort schreibt Adelheim: „Aus Gründen, die mich überraschen mussten, denn sie scheinen mir so wenig im Einklange zu stehen mit dem wissenschaftlichen Charakter dieser Publikation, wurden die bereits bewilligten Kredite am Tage, da der Druck beginnen sollte, von der Stadtverwaltung gesperrt." Gleichzeitig bedankt er sich persönlich auch bei Paul Johansen für seine Mitarbeit (Vorwort, S. XIV).

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wicht?' Angesichts seiner „nichtestnischen" Herkunft und der Tatsache, dass er eng mit den deutschbaltischen Kreisen verbunden war, hatte er jedoch Grund, an seinem Aufstieg zum Stadtarchivar zu zweifeln. Es bleibt unge- wiss, ob 1934 auch Kenkmaa — der erste Este im Stadtarchiv — als Kandidat für diesen Posten in Erwägung gezogen wurde. In einer Zeit und einer Situa- tion, wo wichtige Entscheidungen nicht zuletzt von nationalen und nationalis- tischen Überlegungen geprägt wurden, wäre es an sich ganz logisch gewesen — sei hier z. B. an die Stellungnahmen des Stadtarchivars von Narva, Arnold Soom, in bezug auf die Leitung des Stadtarchivs Reval erinnert. Es sind also die Widersprüche, Probleme und Trends, die für Estland und die junge estnische Gesellschaft während der Zwischenkriegszeit im Allge- meinen kennzeichnend waren, auch beim Thema „Paul Johansen und das Stadtarchiv" nicht zu übersehen. Abgesehen davon, dass Johansen als Histo- riker hohes Ansehen genoss, weckte er als „Nichteste" mit „Kern und Welt- anschauung, die ihm in der Revaler Domschule zu eigen gemacht wurde"," Misstrauen bei estnischen Historikern. Am stärksten kam das Befremden, dass Johansen seitens der estnischen Kreise zuteil wurde, im Jahre 1938 zum Vorschein, als er sich erfolglos um eine Professur in Dorpat bewarb. Bei der Tatsache, dass einige estnische Historiker damals bestritten, dass der von Jo- hansen in Leipzig erlangte Doktorgrad den Anforderungen der Universität Dorpat gerecht werde, ist anzunehmen, dass Kompetenz und objektiver Tat- bestand unter anderem auch den nationalen Präferenzen unterlagen.39 Der Abschied Johansens vom Stadtarchiv im Herbst 1939 war zugleich sein Abschied von der Heimat. Knapp zwei Wochen vor seiner Abreise ins Reich schrieb er an Svend Aakjaer: „Die Dänen sind gleichzeitig mit den Deutschen hierher gekommen, deshalb muss ich als Dänenbalte das Schick- sal der Deutschbalten teilen. Was bleibt mir denn sonst übrig? Meine Frau ist eine Deutsche, die Kinder sprechen Deutsch; nur die Tochter Ulla kann auch ein bißchen Dänisch." Also kann die Familie nicht länger hier bleiben: „Mein Herz zerbricht vor Kummer über all das, was man hier zurücklassen muss.

37 Johansen hatte mehrere Quellen und Abhandlungen zu den ältesten estnischen Sprachdenkmälern und zur estnischen Einwohnerschaft Revals veröffentlicht: Z.B. Eestikeelsed palved Kullamaalt. Estnische Gebete aus Goldenbeck (Tallinna linnaarhiivi väljaanded / Veröffentlichungen des Stadtarchivs Tallinn Nr. 1), Tallinn, 1923; Eestikeelsed märkmed kahes dominiiklaste kloostri raamatus [Die estnischspra- chigen Notizen in zwei Büchern des Dominikanerklosters], in: Eesti Keel, 5-6 (1929), S. 89-97; Teateid vanimast eesti katekismusest [Nachrichten über den ältesten estnischsprachigen Katechismus], ebda., 5/6 (1927); Ohne Johansens Studien zur Siedlungs- und Agrargeschichte der Esten wäre dieser Bereich in Estland damals noch ein ziemliches Brachland gewesen. Für seine Monographie „Die Estlandliste der Liber Census Daniae" (Kopenhagen, 1933) erhielt Johansen 1934 den Jahrespreis des Eesti Ajaloo Kapital (Stiftung für estnische Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung), s. TLA, 82-1-130, Bl. 73v. 38 Kenkmaa an Cederberg (wie Anm. 19). 39 Darüber siehe näher: Jüri und Sirje Kivimäe (wie Anm. 8), hier S. 288, sowie den Beitrag von Jüri Kivimäe in diesem Band.

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Mein Lebenswerk, das erneuerte Archiv, das neugegründete Museum, meine historische Forschungen, alles bleibt hier. Ich muss es wegen der Kinder ma- chen, ihre Zukunft ist mir wichtiger."4° Am 28. Oktober wurde Johansen seines Amtes als Stadtarchivar entho- ben;41 am 31. Oktober verließ er mit seiner Familie Estland. So mancher von den in Estland Zurückgebliebenen hatte kein Verständnis für seinen Ab- schied. Dies kommt z. B. in einigen Briefen von Rudolf Kenkmaa zum Aus- druck: „Dr. Johansen, der selbst ein geborener Däne und dessen Frau keine echte Deutsche ist, ist dem Rufe des Führers gefolgt und aus Klein-Estland. nach Groß-Deutschland [...] umgesiedelt";42 „Herr Dr. P. Johansen hat, ob- wohl selber ein geborener Däne, seinen bisherigen Amtsposten freiwillig auf- gegeben und unser Land verlassen."43 Ähnlich wie die Umsiedlung Johansens muss auch der Abtransport eines großen Teils des alten Revaler Archivs 1944 nach Deutschland als eine Folge der „großen Politik" angesehen werden.' Noch kurz vor seinem Tode äußerte Johansen — er tat es auf eine dringende Bitte von Rudolf Kenkmaa hin — sei- ne Meinung zum gespaltenen Archiv. Kenkmaa hatte den ehemaligen Kol- legen aufgefordert, von sich aus zur Rückführung des Archivs nach Estland beizutragen.' Die Stellungnahme Johansens befindet sich in einem Brief an Julius Bleyer (1901-1980), den einstigen Leiter des Estnischen Postmuse- ums in Reval, der in den 1930er Jahren ein eifriger Benutzer des Stadtarchi- vs gewesen war und der die beiden ehemaligen Archivare kannte. (Eine di- rekte Korrespondenz mit Johansen wollte Kenkmaa nicht führen.)46 Johansen schrieb, dass seine Meinung in dieser Sache nichts bedeute und dass niemand

40 Johansen an Aakjxr aus Reval, 18.10.1939; zitiert nach Helk (wie Anm. 16), S. 99-100. 41 TLA, 52-2-510 , Bl. 43. 42 Kenkmaa an Bertil Boethius (Stockholm), 10.11.1939. TLA, 88 (Das Archiv des Stadtarchivs Reval)- 1-13, Bl. 149. 43 Kenkmaa an Artur Jönsson am 15.07.1940. TLA 88-1-16, Bl. 5-5v. Paul Johansen besuchte das Stad- tarchiv noch im Frühling 1942. Im Zeitraum vom 18.3. bis zum 7.4.1942 war er beinahe jeden Tag im Archiv (siehe seine eigenhändige Eintragungen im Gästebuch des Stadtarchivs: TLA ,88-1-103. Während dieses Besuchs schenkte er der Archivbibliothek den Sonderdruck von den Hansischen Geschichtsblättern (65./66. Jahrgang, 1940/41) mit seinem Aufsatz „Die Bedeutung der Hanse für Livland" (Laut Eintrag im Gesamtverzeichnis der Bibliothek des Stadtarchivs III, Bl. 145v-146) und entlieh das Buch „Peter der Große" von Alexander Brückner aus der Archivbibliothek. Zum letzten Mal war Johansen in Reval im Jahre 1944 (siehe: Ulla Johansen: Meenutusi. Paul Johanseni elutee Teises maailmasöjas [Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg], in: Tallinna Kunstiülikooli toimetised 1 (2). Tallinn, 1992, S. 74-87; hier S. 82; deutsche Fassung in diesem Band. 44 Siehe dazu: Wilhelm Lenz, Die Verlagerung des Revaler Stadtarchivs im Rahmen des „Archivschutz- es" während des Zweiten Weltkrieges, in: Reval. Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert / hrsg. von Norbert Angermann und Wilhelm Lenz (Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 8), Lüneburg 1997, S. 397-443. 45 Aus dem Brief von Kenkmaa an Bleyer vom 29.4.1964 (Abschrift). TLA,1264 (Nachlass Julius Bley- er)-1-57, Bl. 59-60. 46 Aus dem Brief von Johansen an Bleyer vom 10.5.1964. TLA, 1264-1-57, Bl. 63.

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ihn um seine Meinung gebeten habe — genauso wie beim Abtransport des Ar- chivs während des Krieges. Er sei in Deutschland nur ein fast ganz unbe- kannter Professor; er sei jedoch bereit, etwas für die Rückgabe zu tun. Aber was? Seiner Meinung nach sollte zunächst von der Sowjetunion ein Auslie- ferungsersuchen an die Bundesrepublik gestellt werden: „Sorgen Sie in Tal- linn dafür, daß endlich die Herren Diplomaten sich auch für Archivfragen interessieren! Ich glaube, daß bei einem begründeten Auslieferungsersuchen, durch die Sowjetunion die Rückführung des Archivs von der Bundesregie- rung bewilligt werden wird." Laut Johansen hätte hauptsächlich die Frage des Eigentümers Schwierigkeiten bereiten können: „Jetzt gehört das Archiv in Tallinn ja nicht mehr der Stadt, sondern dem Staat. Man müsste von Tal- linn aus Garantie bekommen, dass das Archiv dort in einem geeigneten Raum untergebracht wird, auch sollte man Beweise zeigen, daß man bereit ist, aus- ländischen Benutzern entgegenzukommen — bisher sind fast nur negative Er- fahrungen gemacht worden. Wahrscheinlich gibt es da eine unüberwindliche Bürokratie [hier hat Julius Bleyer die Notiz „und Ideologie" hinzugefügt — L.K.], die jede wissenschaftliche Arbeit erstickt."47 Im Nachhinein liegt auf der Hand, dass Johansen die Realitäten in gewissem Maße verkannte, bewusst oder unbewusst. Wie schon Julius Bleyer bemerkt hatte, hing von der „Bürokratie in Reval" damals kaum etwas ab. Zugleich scheint Johansen den Aspekt des Eigentümers (staatli- ches oder Kommunaleigentum) bei der Rückführung des Revaler alten Ar- chivs überschätzt zu haben: während der sowjetischen Zeit gab es keinen Gemeindebesitz im klassischen Sinne; es handelte sich um einen einheit- lichen sowjetischen „staatlichen Archivbestand". Auch hätte Johansen mir gutem Grund die Eigentumsfrage eigentlich auch anders beurteilen kön- nen: die Archivalien Revals konnten nicht mehr an den ehemaligen Be- sitzer, an die Republik Estland, zurückgeführt werden, denn Estland war besetzt. Ihre Übergabe an die Sowjetunion hätte mit der Politik der Bun- desrepublik Deutschland, die sowjetische Besatzung Estlands nicht anzu- erkennen, nicht in Einklang gestanden.48 Zum Schluss soll ein Traum wiedergegeben werden, den Rudolf Kenkmaa in der Nacht zum 27. März 1965 hatte und den der bereits genannte Julius Bleyer aufgezeichnet hat: „Kenkmaa erblickt Johansen bei der Heiligengeistkirche in Reval. Johansen, mit einer weißen Kopfbe- deckung, einen Kinderwagen schiebend, zieht gerade an der Kirche vorbei.

47 Johansen an Bleyer am 10. Mai 1964 (wie Anm. 45). 48 Vgl. auch.: Wilhelm Lenz, Verlagerung wie Anm. 44), S. 426; Lea Köiv, Kümme aastat Tallinna Lin- naarhiivi varade Saksamaalt tagasitoomisest (Ülevaade 27. oktoobril 2000 Linnaarhiivis toimunud meenutu- ste-päevast) [Zehn Jahre Rückführung der Revaler Archivalien aus Deutschland (Übersicht über die Erinne- rungsfeier im Stadtarchiv Tallinn am 27. Oktober 2000)], in: Vana Tallinn 12 <16> (2002), S. 195-199.

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Kenkmaa ist beim Anblick Johansens sehr überrascht, denn dieser wohnt doch jetzt in Hamburg. Mit einem Gruß eilt er auf Johansen zu. Dieser reagiert auf seinen Gruß gar nicht und geht mit dem Kinderwagen weiter. An dieser Stel- le brach der Traum ab." Kenkmaa gestand bei der Erzählung seines Traumes an Bleyer, dass er seit Jahrzehnten nicht mehr geträumt habe. Er glaube auch gar nicht, dass ein Traum etwas bedeuten kann. Dazu meinte Bleyer, dass die- ser Traum für Johansen nichts Gutes bedeute.49 Paul Johansen verstarb am 19. April 1965, drei Wochen später.

49 Rudolf Kenkmaas eigenartiger und bedeutungsvoller Traum in der Nacht zum 27. März 1965 über Prof. Dr. P. Johansen. TLA, 1264-1-57, Bl. 77.

59 Jüri Kivimäe Fremdenangst und/oder akademische Intrige? Paul Johansens Bewerbung um die Professur für mittelalterliche Geschichte an der Universität Tartu

„Weihnachtsphantasie" und Amtskarriere Am Weihnachtsabend des Jahres 1934 konnte Dr. Paul Johansen in Re- val (estn. Tallinn) auf seinen bisherigen Lebensgang mit voller Zufrieden- heit zurückzublicken. Am Vortag war er 33 Jahre alt geworden — für ihn als Gelehrten, als Historiker und Archivar, war es ein glückliches Alter, voller Erwartungen, Arbeitsfreude, hoher Ideen und Energie. Als Hausvater konnte er ebenso freudig sein, rund um den Weihnachtsbaum herum standen unru- hig die siebenjährige Tochter Ulla und der noch nicht vierjährige Sohn Chri- stian. Hinter diesem idyllischen Phantasiebild steckt aber eine für uns frem- de Welt, mit einem anderen mentalen Klima, mit fremden und komplizierten Lebenshaltungen, einer fremden Werthierarchie und Gedankenwelt. Trotz aller wissenschaftlichen Methoden und trotz der Bearbeitung der „alten Pa- piere", die die Geschichtsforschung in ihrer Schatzkammer zusammenträgt, bleibt uns die Enträtselung, die adäquate Interpretation und das Verständnis dieser „fremden Welt" immer begrenzt. Bevor wir eine Irrfahrt in dieser Welt unternehmen, kehren wir noch ein- mal zurück zu dem Zeitpunkt der „Weihnachtsphantasie". Mehr als zehn Jahre seines bisherigen Lebens hatte Paul Johansen der wissenschaftlichen Forschung im Stadtarchiv Reval gewidmet. Den Beginn dieser Zeitperio- de markieren seine Promotion über „Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter" an der Universität Leipzig bei Rudolf Kötzschke im Jahre 19241 und die Veröffentlichung der Dissertation als Monographie in Dorpat (estn. Tartu) 1925.2 Am Ende dieser Periode steht Johansens 1933 veröffentlichtes opus magnum „Die Estlandliste des Liber Census Daniae"3 und die Beför- derung im Amte im Jahre 1934.

1 Tallinna Linnaarhiiv [Stadtarchiv Tallinn] (im Folgenden: TLA), fond [Bestand] 52, nimistu [Ver- zeichnis] 2, säilik [Akte] 510 (im folgenden zitiert nach dem Muster: 52-2-510): Dienstliste von Paul Johansen, Bl. 8: Kopie der Urkunde über die Promotion zum Dr. phil., Leipzig, 20. Juni 1924. Sechs Tage danach hat der Bildungsrat der Revaler Stadtverwaltung Paul Johansen zum Gehilfen des Stadtarchivars gewählt; ebda., Dienstliste von Paul Johansen, Bl. 9-10. 2 Paul Johansen: Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter: ein Beitrag zur estnischen Kultur- geschichte, . Dorpat 1925 (Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft; Bd. 23). 3 Paul Johansen: Die Estlandliste des Liber Census Daniae, Kopenhagen und Reval 1933. 60 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?

Zehn Jahre, von 1924 bis 1933, war Paul Johansen als Mitarbeiter des Revaler Stadtarchivs, zuletzt als Stellvertreter des Stadtarchivars, tätig ge- wesen. Nachdem der bisherige Stadtarchivar, der Deutschbalte Otto Greif- fenhagen, im Mai 1934 diplomatisch in den Ruhestand verabschiedet wor- den war,4 ernannte die Revaler Stadtverwaltung Paul Johansen mit Wirkung vom 1. Juni 1934 zum Stadtarchivar. Diese Ernennung war aber für Johan- sen keineswegs ein selbstverständlicher und leichter Aufstieg im Amt. Am 20. April 1934 hatte die Stadtverwaltung erklärt, dass es trotz der bemer- kenswerten Leistungen in der Entwicklung des Stadtarchivs nicht möglich sei, Johansen zum Stadtarchivar zu ernennen, weil er ein „ausländischer Untertan" sei.' Außerdem war seine Arbeitsgenehmigung nur bis zum 19. Juli 1934 gültig.' Die einzige Lösung war die Bewerbung um die estnische Staatsbürgerschaft, die Johansen ohne Zweifel eingereicht hat. Man kann natürlich fragen, warum er nicht früher an dieses juristische Hindernis gedacht hat? Man soll hier vielleicht nicht übertreiben und diese Frage damit erklären, dass er eigentlich aus einer dänischen Diplomatenfa- milie stammte. Sein Vater Jens Christian Johansen war bis zu seinem Tode im Jahre 1929 als dänischer Generalkonsul in Estland tätig gewesen.' Bei ei- ner offiziellen dänischen Staatsbürgerschaft darf man natürlich eine dänische Identität annehmen. Im Fall Paul Johansens kann man vermuten, dass seine Identität eine delikate Frage war; obwohl dänischer Herkunft, war er in der Vielvölkerstadt Reval 1901 geboren, 1919 hatte er die Revaler Domschule, immerhin eine deutsche Eliteschule, absolviert,' dann aber in Dänemark und Deutschland studiert und war nach der Promotion in Leipzig letztendlich nach Estland zurückgekehrt. Als gebildeter Historiker konnte er mit einer akade- mischen Karriere in seiner Heimat und besonders in Reval höchstwahrschein-

4 Otto Greiffenhagen war 1900-1934 Leiter des Revaler Stadtarchivs. Näheres über ihn siehe: Peep Pillak: Otto Greiffenhagen — muusikust linnaarhivaar [Otto Greiffenhagen — Stadtarchivar und Musiker], in: Tuna 2000, Nr. 2, S. 150-156. 5 TLA, 52-2-510 (wie Anm. 1), Bl. 17 (Auszug aus dem Protokoll der Revaler Stadtverwaltung vom 20. April 1934). 6 Ebda., Bl. 16. Die Ausländerbehörde der Polizeiverwaltung des Innenministeriums in Reval hat am 22. Juli 1933 die Arbeitsgenehmigung von Johansen auf ein Jahr verlängert. 7 Näheres s. Sirje Kivimäe: Ein Däne in Estland: Jens Christian Johansen, in: Zwischen Lübeck und Novgorod. Wirtschaft, Politik und Kultur im Ostseeraum vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Norbert Angermann zum 60. Geburtstag / hrsg. von Ortwin Pelc und Gertrud Pickhan, Lüneburg 1996, S. 373-389. 8 Im Frühjahr 1919 hat er als Freiwilliger am Estnischen Freiheitskrieg teilgenommen; s. Die Tagebuch- aufzeichnungen des dänischen Generalkonsuls in Reval Jens Christian Johansen 13.12.1918 — 29.5.1919, in: Kalervo Hovi: Estland in den Anfängen seiner Selbständigkeit. Die Tagebuchaufzeichnungen des dä- nischen Generalkonsuls in Reval Jens Christian Johansen 13. 12. 1918 — 29. 5. 1919, Vammala 1976 (Pu- blikationen des Instituts für Geschichte. Allgemeine Geschichte. Universität Turku, Finnland; . 8), S. 53- 143, hier S. 73, 93; Eesti Ajalooarhiiv [Historisches Archiv Estlands] (im Folgenden zitiert als: EAA), 2100-5-405, Bl. 12.

61 Jüri Kivimäe

lich nicht rechnen. Vom Standpunkt der Forschungsmöglichkeiten können wir die Stellung des Archivars für Paul Johansen als eine seinem Ideal nahe kom- mende betrachten. Diese Vermutung wird durch die zunehmende Anzahl von Johansens Veröffentlichungen in den 1920er und 193 0er Jahren bekräftigt. Johansens wissenschaftliche Leistung brachte ihm ziemlich schnell hohe Anerkennung, besonders in ausländischen Gelehrtenkreisen, und in einem gewissen Maß auch in der Heimat. Die regelmäßig erscheinenden Veröffent- lichungen des Revaler Stadtarchivs weckten bei ausländischen Forschem und Archivaren das Interesse an dessen reichen Sammlungen. Diese und andere Aspekte wurden traditionell betont, wenn man „Johansens Zeit" in der Ge- schichte des Revaler Stadtarchivs umreißen will. Die inneren Arbeitsverhältnisse im Stadtarchiv waren aber kaum so idyl- lisch, wie das von der wissenschaftlichen Leistung geprägte Image nach außen. Ich möchte behaupten, dass das alte Bild vom Stadtarchiv als deutschbaltischem Stützpunkt im Herzen der Hauptstadt der Republik Est- land in der Zwischenkriegszeit im Kreisen der national geprägten estnischen Öffentlichkeit noch aktuell war. Die nationalen Spannungen rundum und innerhalb des Stadtarchivs in den frühen 1930er Jahren hat Lea Köiv ein- leuchtend dargestellt.9 Im Fall Rudolf Kenkmaas und seines Widerstands gegen den alten Stadtarchivar Otto Greiffenhagen ging es um einen klaren deutsch-estnischen Konflikt, der durch das Interesse estnischer Akademiker an der Übernahme des Archivs motiviert war. Interessant dabei ist die Tat- sache, dass Paul Johansen plötzlich zur zentralen Figur dieser Kontroverse wurde. Man qualifizierte ihn neben Greiffenhagen als Anhänger und Vertre- ter der deutschbaltischen Geschichtsschreibung, was er nicht verdient hatte. Der Konflikt zwischen Johansen und Kenkmaa erreichte seinen Höhepunkt im Januar 1934, was zeitlich offensichtlich mit der Vorbereitung zur Ernen- nung des neuen Stadtarchivars zusammenhing, und die Gegensätze wurden letztendlich von einem „Ehrengericht" geschlichtet; dennoch hat der Zwi- schenfall auf Paul Johansens Reputation einigen Schatten geworfen. Die Stadtverwaltung von Reval hatte sich von diesem Konflikt jedoch nicht be- einflussen lassen: Otto Greiffenhagen wurde ab 1. Mai 1934 beurlaubt und zum 1. Juni pensioniert; nachdem die Bitte von Johansen betreffend der est- nischer Staatsbürgerschaft am 9. Mai positiv entschieden wurde, wurde die- ser zum 1. Juni als Stadtarchivar von Reval bestätigt.'° Damit begann die zweite Amtsperiode Johansens im Stadtarchiv, sie dauerte fünf Jahre und vier Monate und wird manchmal als echte Blüte- zeit des Revaler Stadtarchivs dargestellt. Wenige Quellen gewähren einen

9 Lea Köiv: Rudolf Kenkmaa — eestlane Tallinna Linnaarhiivis [Rudolf Kenkmaa — Ein Este im Revaler Stadtarchiv], in: Tuna 1999, Nr. 2, S. 48-66. 10 TLA, 52-2-510 (wie Anm. 1), Bl. 18, 19, 21, 23.

62 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?

Einblick in die persönliche Einstellung Johansens in dieser Zeit. Die Fra- gen nach seiner Zufriedenheit mit dem Posten des Stadtarchivars, mit dem alltäglichen Arbeitsklima und der politischen Atmosphäre bleiben leider unbeantwortet. Dass er als hoher städtischer Beamter am 1. Juni 1938 den Treueid auf die Republik Estland ablegte und den entsprechenden Text un- terzeichnete,1' sagt wenig über seine innere Gedankenwelt und Präferenzen,. dennoch kann man seine Loyalität zum damaligen Regime und zur Regie- rung nicht bezweifeln. Trotz aller Forschungsmöglichkeiten und -ergebnisse im Revaler Stadt- archiv stellt sich uns doch die Frage, ob Paul Johansen sich selbst in diesen Jahren mehr als Archivar oder als Mediävist und Forscher fühlte. Mit diesem Zweifel sei darauf hingewiesen, dass man im Fall Johansens beide Aspekte auseinanderhalten muss. Meine Hypothese geht davon aus, dass Johansen seine stets wachsenden Forschungsinteressen dem Beamtenalltag des Archi- vars vorzog. Dass diese Vermutungen nicht bloße Spekulationen sind, lässt sich mit der fast unbekannten Geschichte seiner Bewerbung um die Professur für mittelalterliche Geschichte an der Universität Dorpat belegen.

Ein neuer Lehrstuhl an der Universität Dorpat Nach der Gründung der estnischen Universität in Dorpat im Herbst 1919 teilte die Philosophische Fakultät dem Geschichtsstudium zwei Professuren — für Allgemeine Geschichte und für Estnische und nordische Geschichte — sowie drei Dozenturen zu?' Der Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte zählt zu den ältesten Lehrstühlen an der Universität Dorpat. Zum ersten Profes- sor für dieses Fach wurde an die estnische Universität der 1909 in Wien promovierte Mediävist Hans Oldekop, ein geborener Revalienser, ernannt. Dozent für allgemeine Geschichte wurde 1926 cand. hist. Peeter Treiberg (später Tarvel), den man 1930 zum Professor für Allgemeine Geschichte wählte. Damit blieb aber die Dozentur für Allgemeine Geschichte bis 1931 vakant, als der im gleichen Jahre promovierte estnische Historiker Juhan Vasar diese Position übernahm. Die Lage veränderte sich, als Vasar im Jah- re 1938 zum ersten Ordinarius für Wirtschaftsgeschichte an der Wirtschafts- fakultät der Universität Dorpat ernannt wurde. Damit waren die Lehrkräfte im Bereich des Faches Allgemeine Geschichte, das damals mehr oder weni- ger dem Fachbereich Europäische Geschichte (ohne Nord- und Osteuropa)

11 Ebda., Bl. 39. 12 Die folgenden Grunddaten sind entnommen aus: Sirje und Jüri Kivimäe: Estnische Geschichtsfor- schung an der Universität Tartu 1920 — 1940. Ziele und Ergebnissse, in: Die Universitäten Dorpat/Tartu, Riga und Wilna/Vilnius 1579 — 1979 / hrsg. v. Gert von Pistohlkors, Toivo U. Raun, Paul Kaegbein, Köln, Wien 1987 (Quellen und Studien zur Baltischen Geschichte; Bd. 9), S. 277-292.

63 Jüri Kivimäe

entsprach, geschwächt. Der Schwerpunkt der Lehrtätigkeit und ebenso die Forschungsinteressen von Professor Tarvel lagen hauptsächlich in der Ge- schichte der Neuzeit, besonders in der Geschichte der Französischen Revo- lution, aber auch in der Historiographie und Ideengeschichte:3 Die neuen Lehrbeauftragten für allgemeine Geschichte, Mag. phil. Evald Blumfeldt, der Archivleiter Dr. Otu Liiv und später auch Mag. phil. Erik Tender konn- ten aber die Nachfrage nach Lehrveranstaltungen für mittelalterliche Ge- schichte kaum abdecken. Die Entscheidung für die Eröffnung einer zweiten Professur für Allge- meine Geschichte fiel auf den Sitzungen der Philosophischen Fakultät nicht einstimmig. Obwohl die führenden Geschichtsprofessoren Hans Kruus und. Peeter Tarvel die Eröffnung eines neuen Lehrstuhls für Allgemeine (mit- telalterliche) Geschichte vorgeschlagen und begründet hatten, bezweifelten sie selbst, ob man in Estland gute Kandidaten finden könne. Die Univer- sitätsverwaltung und das Bildungsministerium in Reval genehmigten den Vorschlag der Philosophischen Fakultät im Prinzip und bestätigten, dass man mit der akademischen Prozedur am 14. Oktober 1938 beginnen solle.14 Trotzdem intervenierte aber die Fakultät auf einer Sitzung am 4. Mai 1938. Die Akademiker stellten die Frage nochmals zur Diskussion und schlugen vor, die Besetzung der neuen Professur bis zum 1. September 1939 zu ver- schieben.15 Zuerst präzisierten die Professoren das Profil der neuen Profes- sur: es sollte durch eine Verbindung von mittelalterlicher Geschichte mit den historischen Hilfswissenschaften, besonders aber der Quellenkunde, be- stimmt werden. Eine solche spezifische Begrenzung entsprach höchstwahr- scheinlich den Interessen den beiden Lehrstuhlinhaber, Hans Kruus und Peeter Tarvel, obwohl man vermuten kann, dass die hilfswissenschaftlichen und quellenkundlichen Aspekte mehr dem praktischen Bedarf des Lehrplans der Estnischen und nordischen Geschichte dienen sollten. Weil nach der Einschätzung der estnischen akademischen Kräfte in einem so zugeschnit- tenen Bereich der Kreis der kompetenten Kandidaten zu klein war, wie Tar- vel und Kruus meinten, sei es notwendig, die neue Stelle vakant zu lassen und mit Lehrbeauftragten weiterzuarbeiten.16 Was eigentlich hinter diesem Vorschlag lag, bleibt in Details leider unbekannt. Höchstwahrscheinlich dachten die Geschichtsprofessoren an einen eventuellen Kandidaten aus dem estnischen akademischen Nachwuchs.

13 Über Peeter Tarvel siehe Jüri Kivimäe: Peeter Tarveli elu ja töö [Das Leben und Werk von Peeter Tarvel], in: Akadeemia 1989, S. 1913-1941; 1990, S. 89-112. 14 EAA, . 2100-5-160, Bl. 43v. 15 EAA, 2100-5-405, B1.2. 16 Ebda., B1.2. 64 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?

Das Bildungsministerium wies den letztgenannten Vorschlag am 21. Juni 1938 zurück.17 Damit war aber der Widerstand in der Fakultät nicht ge- brochen. Am 12. Oktober 1938 unterstützte die Mehrheit der Fakultätssit- zung den Vorschlag von Professor Kruus, den Anfang den akademischen Prozedur bis zum 15. Februar 1939 zu verschieben; aber diesmal genehmi- gte die Universitätsverwaltung, gestützt auf das Universitätsgesetz, den Be- schluss der Fakultät nicht?' Erst dann folgte die offizielle Ausschreibung, die am 28. Oktober 1938 in „Riigi Teataja" (Staatsanzeiger) bekannt ge- macht wurde. Die Ausschreibung klingt heute unerwartet knapp und sogar unverständlich: eine Professur für Allgemeine Geschichte wurde für vakant erklärt, und die Bewerber sollten ihre Unterlagen bis zum 11. Dezember ein- reichen.19 Die offizielle Bekanntmachung beinhaltet keine nähere Beschrei- bung des Profils des neuen Lehrstuhls, wie etwa mittelalterliche Geschichte und Hilfswissenschaften.

Zwei Bewerber, drei Gutachter Der Dekan der Philosophischen Fakultät, Professor Julius Mark, infor- mierte mit seinem Rundschreiben vom 15. Oktober 1938 alle Fakultätsmit- glieder, dass sie das Recht hätten, innerhalb von zwei Wochen Vorschläge zur Berufung bekannter Gelehrter auf die vakante Stelle einzureichen.20 Wir wissen leider nicht, ob dieses Verfahren wirklich so funktioniert hat. Zwei Monate später jedoch, am 15. Dezember 1938, konnte Dekan Mark seine Kollegen auf der Fakultätssitzung informieren, dass Mag. Evald Blumfeldt und Dr. Paul Johansen sich um die Professur bewarben. Der Antrag von Paul Johansen (datiert vom 25. November) und die üblichen Unterlagen wie curriculum vitae und eine Liste der Veröffentli- chungen kamen am 9. Dezember in Dorpat an. In seinem Publikationsver- zeichnis hatte er 51 veröffentlichte wissenschaftliche Beiträge angegeben, darunter zwei Monographien: die Doktorarbeit (1925) und "Die Estlandliste des Liber Census Daniae" (1933). Drei Publikationen von Johansen befan- den sich in dieser Zeit im Druck. Sein Mitbewerber war Mag. phil. Evald Blumfeldt (1902-1981), damals als Leiter des Estnischen Kulturhistorischen Archivs (estn.: Eesti Kultuuri- looline Arhiiv) und ab 1938 gleichzeitig als Lehrbeauftragter an der Uni- versität Dorpat tätig.21 Mit der Untersuchung „Der Erzbischof von Lund,

17 Ebda., Bl. 1. 18 Ebda., Bl. 3, 5. 19 Ebda., Bl. 7. 20 Ebda., Bl. 6 21 Lea Köiv: Evald Blumfeldt Eesti ajaloo uurijana [Evald Blumfeldt als Erforscher der estnischen Ge-

65 Jüri Kivimäe

Andreas Sunonis in Estland" (1927) hatte er 1930 den Magistergrad erwor- ben; bekannt geworden ist er aber durch die in Zusammenarbeit mit Nigolas Treumuth-Loone 1933 bis 1939 erschienene „Bibliotheca Estoniae Histori- ca".22 Blumfeldts Forschungsschwerpunkt lag in den 1930er Jahren auf der Agrar- und Sozialgeschichte des Mittelalters, und er arbeitete an der Dok- torarbeit über die Agrar- und Siedlungsgeschichte des Bistums Ösel-Wiek im Mittelalter.23 Blumfeldt hatte eine Publikationsliste von insgesamt 35 Nummern eingereicht, darunter seine unveröffentlichte Magisterarbeit, aber keine als Buch veröffentlichte Monographie. Am 15. Dezember benannte die Fakultätssitzung drei Gutachter ein — die Professoren Peeter Tarvel und Hans Kruus, beide von der Philosophischen Fakultät der Universität Dorpat, und als dritten, ausländischen Gutachter Pro- fessor Arno Rafael Cederberg aus Helsinki. Den letztgenannten Historiker kannten fast alle Dorpater Kollegen persönlich, denn Cederberg hatte in den Jahren von 1919 bis 1928 als Professor für Estnische und nordische Geschich- te gearbeitet, und fast alle jüngeren estnischen Historiker hatten damals sei- ne Vorlesungen und Seminarübungen besucht.' Tatsächlich, wer konnte im Ausland über die akademische Verhältnisse in Dorpat, die Bestrebungen der Universität und auch die wissenschaftliche Literatur besser informiert sein als Cederberg? Dennoch hielt die Fakultätssitzung fest, dass, wenn Professor Ce- derberg mit seiner Benennung nicht einverstanden sei, Dr. Arvi Korhonen aus Helsinki gebeten werden sollte. Die beiden estnischen Professoren gaben so- fort ihre Zusage, wobei aber Professor Kruus eine Verlängerung der Begutach- tungsfrist erbat, weil er während der Winterferien 1938/1939 zu Forschungs- zwecken ins Ausland reisen wollte. Letztendlich hat die Universitätsverwaltung die Bitte von Professor Kruus aber zurückgewiesen. Als auswärtiger Fachkenner reichte Professor Cederberg sein Gutachten, datiert vom 4. Februar, am schnellsten ein.25 Am 28. Februar folgte das Gut- achten von Professor Tarvel, und am 1. März gab dann Professor Kruus sein Gutachten ab. Es ist hochinteressant, diese drei fachlichen Expertisen heute wieder zu lesen. Cederbergs Gutachten über die zwei Bewerber ist heute noch eine akademisch solide und objektive Aussage. Seine Expertise war gut ein- gegliedert. Im Fall Johansens zog er eine klare Grenze zwischen Quellenver- schichte], (unveröffentliches Manuskript im Besitz des Verfassers), S. 2ff. 22 Bibliotheca Estoniae Historica. Eesti Ajaloo Bibliograafia 1877-1917, Bd. 1-4, Tartu, 1933-1939. 23 Köiv: Evald Blumfeldt (wie Anm.21). 24 Siehe näher Timo Rui: Eesti ja Pöhjamaade ajaloo professor A. R. Cederberg [Der Professor der Estnischen und nordischen Geschichte, A. R. Cederberg], in: Arno Rafael Cederberg — Kansainvälinen historiantutkija ja organisaattori / hrsg. v. Ari Vallius, Joensuu 1997 (Pohjois-Karjalan historiallisen yh- distyksen vuosikirja; 5), S. 113-144. 25 Prof. Cederbergs Gutachten war auf Finnisch verfasst, dann aber in Dorpat ins Estnische übersetzt worden; vgl. EAA, 2100-5-405, Bl. 39-63.

66 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?

öffentlichungen und eigentlichen Forschungen. Er analysierte beide Gruppen und lobte die Qualität der Quellenveröffentlichungen mit ihren wissenschaft- lichen Einführungen. Die Doktorarbeit von Johansen, so meinte Cederberg, sei keineswegs eine übliche deutsche Dissertation, die, wenn überhaupt, den üblichen Laudatur-Arbeit in Dorpat oder Helsinki entspräche. Cederberg be- tonte aufgrund der beiden Monographien die positive Fähigkeiten von Johan- sen als Geschichtsforscher: gute und gründliche Kenntnisse der Fachliteratur und Archivquellen, ausgezeichnete Synthese und kritische Analyse. Dabei bemerkte er, dass Johansens opus magnum manche Hypothesen und phanta- siereiche Fragestellungen enthalte, die letztendlich aber nur positive Impulse für die weitere Forschung auch in Finnland und Skandinavien geben könnten. Magister Blumfeldt hatte Cederberg in seiner Zeit in Tartu persönlich kennengelernt, weil der junge Historiker seine Seminarübungen besuchte. Die Meinung Cederbergs von der wissenschaftlichen Leistung Blumfeldts war positiv. Er meinte eben, dass man für seine Magisterarbeit an irgendei- ner deutschen Universität sogar den Doktorgrad hätte erwerben können. Trotzdem bleibt Cederberg in seinem Gutachten fest bei der Meinung, dass Dr. Johansen als Bewerber kompetent für die Professur sei, Blumfeldt aber die Kompetenzgrenze noch nicht erreicht habe. Professor Tarvels Gutachten26 sollte eigentlich im Fachbereich der All- gemeinen Geschichte maßgebend sein, denn er selbst war sicher motiviert, einen guten und kompetenten Kollegen in seinem eigenen Fachbereich zu bekommen. Er war gleichzeitig ein gründlicher Kenner der estnischen Ge- schichtsschreibung und hatte selbst gute Forschungsergebnisse über die Ge- schichte Dorpats vorgelegt. Er betont aber am Anfang seines Gutachtens, dass der zukünftige Professor in seiner Lehrtätigkeit den Schwerpunkt auf die mittelalterliche Geschichte von Deutschland, Frankreich und England legen solle. Er beurteilte zunächst Blumfeldt und hob seine Magisterarbeit als eine besondere Leistung hervor, wobei er über die Tatsache hinwegging, dass diese Arbeit nur als unveröffentlichtes Manuskript in der Universitäts- bibliothek Tartu vorlag. Tarvel betonte die gute methodische Schulung Bl- umfeldts, die ihm gute Möglichkeiten für die weitere Forschung im Bereich der Geschichte des westeuropäischen Mittelalters biete. Bei der Expertise der Veröffentlichungen von Johansen aus der Feder von Tarvel klangen hingegen kritische Töne an. Tarvel meinte, dass die Doktor- arbeit eine Übersicht gebe und dass der Verfasser bewusst den weiteren Hin- tergrund und die Verbindungen der Esten mit den anderen finno-ugrischen Völkern außer Acht gelassen habe. Professor Tarvel schätzte die „Estland- liste" sehr hoch — als eine der grundlegenden Arbeiten über das Mittelalter

26 EAA, 2100-5-405, Bl. 25-28.

67 Jüri Kivimäe in Estland — ein, aber zugleich kritisiert er die Struktur des Buches und die ballastartigen Teile der Monographie. Seinem Grundprinzip treu bleibend, meinte Tarvel, dass Johansens Veröffentlichungen wenig mit westeuropä- ischen Themen verbunden seien. Beim Vergleich beider Bewerber betonte Tarvel die guten pädagogischen Erfahrungen von Blumfeldt, wohingegen über Johansens pädagogische Fä- higkeiten nach seiner Meinung nichts bekannt sei. Zusammenfassend for- mulierte er vorsichtig, dass es vernünftig wäre, anfangs nur einen stellvertre- tenden Professor ernennen - und in diesem Fall habe Johansen dank seiner größeren wissenschaftlichen Produktion ein gewisses Übergewicht. Professor Hans Kruus begann mit seinem Urteil über Paul Johansen.27 Es ist die Doktorarbeit betreffend-zurückhaltend, hebt aber die Problem- stellung und Methodik dieser Monographie positiv hervor, kritisiert jedoch sofort, dass die anderen finno-ugrischen Völker und andere Nachbarvölker wenig beachtet werden und dass dieses Buch überhaupt schon einigermaßen veraltet sei. Bekannter war für Kruus die „Estlandliste", denn er hatte die- se Monographie schon in „Ajalooline Ajakiri" 1934 kritisch besprochen.28 In seinem Gutachten wiederholte Kruus ähnliche kritische Bemerkungen. Er betonte die Wichtigkeit der Monographie, aber er äußerte sich kritisch über Johansens phantasievollen Hypothesen. Es scheint auch, dass Kruus die Kritik des schon damals in Skandinavien maßgebenden dänischen For- schers Erik Kroman kannte. Sein Urteil über Blumfeldts Arbeiten war dagegen milder und unter- stützend. Kruus betonte, dass Blumfeldt ein ausgezeichneter Forscher sei, tiefgehend in der Analyse, vorsichtig in den Schlussfolgerungen - was das ausgezeichnete wissenschaftliche Ethos des Bewerbers demonstriere. Zu- sammenfassend konstatierte Kruus, dass Johansen seinen Doktorgrad an der Universität Leipzig erworben habe, während Blumfeldt seinen Magistergrad im Fach Allgemeine Geschichte an der Universität Dorpat erhalten, dort be- reits das mündliche Doktorexamen abgelegt habe und zur Zeit seine Dok- torarbeit vollende. Nach dieser Feststellung folgte der schwerste Einwand von Kruus: Er sei nicht kompetent zu beurteilen, ob Johansens Doktorgrad überhaupt dem Doktorgrad der Universität Dorpat entspreche Diese Frage benötige aber eine besondere Entscheidung, für die er keine ausreichende Grundlage habe. Damit kommt Kruus zur Entscheidung — er kann leider beide Bewerber nicht für die ordentliche Professur empfehlen. Deswegen meint er, dass es besser wäre, einen Kandidaten, und er gibt hier Johansen gewissen Vorzug, für drei Jahre zu einem Adjunktprofessor zu wählen.

27 Ebda., B1.29-38. 28 Ajalooline Ajakiri 1934, S. 37-46.

68 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?

Kontroverse um Paul Johansen Alle drei Gutachten wurden von der Fakultät akzeptiert, aber interessan- terweise kam es nie zu einer inhaltlichen Diskussion über positive und kri- tische Seiten der beiden Bewerber. Das akademische Verfahren um die Pro- fessur für Allgemeine Geschichte konzentrierte sich ab März 1939 nur auf eine Frage: auf die Gültigkeit des Leipziger Doktorgrades von Paul Johan- sen für die Universität Dorpat. Die Fakultätssitzung vom 8. März diskutierte diese Frage und entschied, dass eine akademische Kommission (die Profes- soren Tarvel, Hendrik Sepp und Harri Moora) nach zehn Tagen eine Ant- wort geben solle.29 Höchstwahrscheinlich hat Dekan Mark selbst mit Paul Johansen telefoniert oder korrespondiert, um weitere Unterlagen wie dessen Leipziger Studienbuch zu bekommen. Jedenfalls wurde das Studienbuch von der Kommission herangezogen, und die drei Professoren stellten fest, dass Johansens Studien und seine wissenschaftliche Ausbildung in Leipzig mehr oder weniger mit dem Studienplan in Dorpat übereinstimmten. Die zweite Frage, die die Untersuchungskommission beantworten sollte, betraf den Doktorgrad von Johansen. Die Antwort am 17. März 1939 war folgende: „Bisher hat die Philosophische Fakultät der Universität Dorpat den Doktorgrad einer deutschen Universität als ersten wissenschaftlichen Grad dem Doktorgrad unserer Fakultät nicht gleichgestellt, denn der deut- sche Grad beruht gewöhnlich auf Arbeiten von deutlich geringerem Umfang als dem von Dissertationen an der Philosophischen Fakultät der Universi- tät Dorpat. In Bezug auf die bisherigen Präzedenzfälle kann man auch den Doktorgrad von Herrn Johansen formal nicht als dem Doktorgrad der Philo- sophischen Fakultät der Universität Dorpat gleichwertig anerkennen."3° Die Kommission befand aber, dass die Publikationsliste von Johansen auch ei- nige längere Veröffentlichungen beinhalte, was nach der Erfüllung gewisser Formalitäten für die Anerkennung von Johansens Doktorgrad als mit dem Grad eines Dr. phil. in Dorpat gleichwertig behilflich sein könnte.31 Diese Wende im akademischen Verfahren führte zu scharfen Diskussi- onen. Schon Professor Sepp äußerte als Kommissionsmitglied eine ande- re Meinung und überreichte sie schriftlich dem Dekan. Natürlich kritisierte Sepp diese lächerliche und widersprüchliche Argumentation. Aber er stand damit nicht allein unter den Akademikern: auch der deutschstämmige Pro- fessor für Folkloristik, Walter Anderson, hatte ein längeres Memorandum zugunsten Johansen in die Diskussion gebracht.32

29 EAA, 2100-5-405, Bl. 79. 30 Ebda., Bl. 81. 31 Ebda. 32 Ebda., Bl. 83, 85-87.

69 Jüri Kivimäe

Dekan Mark war vermutlich von Anfang an über diese Kontroverse infor- miert. Neben den drei Gutachtern hatte er ziemlich früh dem finnischen Histo- riker und Fachkenner Dr. Arvi Korhonen geschrieben; der Auszug des Ant- wortbriefes von Korhonen ist dem Protokoll der Fakultätssitzung beigefügt.33 Arvi Korhonen, der Verfasser der für die estnische Geschichtsforschung wichtigen Monographie „Vakkalaitos" („Wacken-Institution") hatte die Dok- torarbeit von Johansen 1927 in der finnischen historischen Zeitschrift „Histo- riallinen Aikakauskirja" besprochen. Korhonen hatte damals betont, dass die Untersuchung Johansens dauernden Wert habe. Im März 1939 fügte er hinzu, dass dieses Urteil während der Jahre sich bestätigt habe. Die scharfen Diskus- sionen haben wenig geholfen. Am 22. März bestätigte die Fakultätssitzung mit einer Stimmenmehrheit von zehn gegen vier die Entscheidung der Kom- mission; zehn estnische Professoren waren somit gegen die Anerkennung des Leipziger Doktorgrades an der Universität Dorpat.34 Die Stimme von Dekan Mark gehörte nicht dazu; deswegen delegierte er die Entscheidung in der strittigen Frage an die Universitätsverwaltung. Damit wurde eine neue Phase des Kompetenzstreites eingeleitet. Die Uni- versitätsführung antwortete kurz und klar, dass sie aufgrund des Universi- tätsgesetzes in diesem Fall die Funktionen der Fakultätssitzung übernehmen könne, und damit wurde der Doktorgrad von Johansen anerkannt." Trotz- dem ging der Streit weiter: die Fakultätssitzung appellierte in der Frage am 1. April an das Bildungsministerium. Damit wurden die Diskussionen ver- mutlich absichtlich bis zum Anfang des Herbstsemesters 1939/1940 ver- schoben. Noch am 2. Juni informierte Dekan Mark Professor Cederberg über die Sachlage und meinte, dass eine Lösung der Frage erst im Herbst er- reicht werde.36 Erst am 15. September 1939 folgte die Entscheidung des Bil- dungsministers; sie betonte im Prinzip die Rolle des Dekans und der Uni- versitätsverwaltung und unterstützte somit indirekt die Anerkennung des Doktorgrades von Johansen.37 Am 4. Oktober versammelten sich die Fakul- tätsprofessoren wieder, aber leider findet sich in den Sitzungsprotokoll nur eine kurze Meldung, dass nach einer dreistündigen Diskussion in der Frage Johansens, die bestimmt noch drei weitere Stunden dauern könnte, die gan- ze Frage auf die nächste Sitzung verschoben werde; eine Woche später wur- de die Diskussion nochmals verschoben.38 Es scheint uns, dass die Akade- miker keine Lösung dieser Kontroverse finden konnten.

33 Ebda., Bl. 83. 34 Ebda., Bl. 88. 35 Ebda., Bl. 77. 36 Ebda., Bl. 90. 37 Ebda., Bl. 67-68. 38 EAA, 2100-5-161, Bl. 107, 112.

70 Fremdenangst und/oder akademische Intrige?

Entsagung und Umsiedlung Wir wissen wenig über den Standpunkt von Paul Johansen selbst wäh- rend all dieser Monate der heftigen Diskussionen; dafür fehlen uns die Quel- len. Höchstwahrscheinlich hat Dekan Mark mit Johansen telefoniert oder auch korrespondiert, aber entsprechende Unterlagen finden sich nicht in den Fakultätsakten. Mitte September 1939 hat Johansen eine kurze Reise nach Helsinki beantragt." Am 11. Oktober hat er mit Dekan Mark telefoniert und ihn informiert, dass er beabsichtige, Estland während der Umsiedlung der Deutschen verlassen.40 Am 17. Oktober hat Dekan Mark ihn schriftlich ge- beten, eine endgültige Entscheidung über seine Bewerbung an die Univer- sität Dorpat mitzuteilen. Vom gleichen Tag datiert ein kurzer Brief Paul Jo- hansens an Dekan Mark, in dem er seine Kandidatur zurücknahm.41 Am 25. Oktober wurde Mag. phil. Evald Blumfeldt zum Adjunktprofessor der Uni- versität Dorpat gewählt, und damit fand ein langes akademisches Verfahren sein Ende.42 Wir wissen auch, dass einen Tag später Paul Johansen seinen Posten als Stadtarchivar von Reval gekündigt hat, und wir finden die ganze Familie Johansen in der langen Liste der Umsiedler43 die Estland im Herbst 1939 verlassen haben.

39 TLA, 52-2-510, B1.41. 40 EAA, 2100-5-405, Bl. 65. 41 EAA, 2100-5-405, Bl. 64. 42 EAA, 2100-5-405, Bl. 115. 43 TLA, 52-2-510, Bl. 42; Riigi Teataja Lisa, Nr. 14, (15 Februar 1940): E. V. Kodakondsusest lahkunud isikute nimestik [Verzeichnis der aus der Staatsbürgerschaft der Republik Estland entlassenen Personen], S. 114.

71 Eugen Helimski Paul Johansen als Etymologe Jetzt, da wir imstande sind, aus dem neuen Jahrhundert und Jahrtausend auf die Entwicklung der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert zurückzu- blicken, läßt sich feststellen, dass es nur wenige professionelle Sprachwissen- schaftler gab, deren Beitrag zur estnischen und ostseefinnischen Philologie so grundlegend und unanfechtbar war, wie der des Historikers Paul Johansen. Es gehört zur Standardinformation fast aller Handbücher der estnischen Sprach- und Literaturgeschichte,' dass das früheste bewahrte Sprachdenkmal mit einem zusammenhängenden estnischen Text die sogenannten Gebete aus Goldenbeck (Kullamaa), notiert zwischen 1524 und 1528, sind und dass der erste uns bekannte Druck der Katechismus von S. Wanradt und J. Koell ist, gedruckt 1535 in Wittenberg. Die Entdeckung dieser beiden Sprachdenkmä- ler aus den letzten Jahren der katholischen Zeit in Estland ist Paul Johansen zu verdanken. Noch als Leipziger Student identifiziert er als Ergebnis seiner Stu- dien im Revaler Stadtarchiv die Goldenbeckschen Gebete und veröffentlicht sie als seine erste wissenschaftliche Arbeit (Johansen 1923); schon im selben Jahr wird diese bahnbrechende Publikation von Albert Saareste, dem damals führenden estnischen Linguisten, in der Zeitschrift „Eesti Keel" ausführlich kommentiert (Saareste 1923). Wenige Jahre später gelingt es Johansen zusam- men mit Hellmuth Weiss, dank einer gezielten Suche (Johansen 1927) auch auf die Spuren des ersten gedruckten Katechismus zu kommen (Johansen und Weiss 1930, 1935); auch die Bedeutung dieses Fundes sowie die Ergebnisse von Johansens paläographischer und sprachhistorischer Analyse wurden gleich anerkannt (Saareste 1930; Mägiste 1930a, b), und führten zu weiteren Untersu- chungen zur Entstehungsgeschichte und Sprache des Denkmals. Auch ohne Paul Johansens Forschungen zu estnischen und livischen Orts- und Personennamen im „Liber Census Daniae" (Johansen 1933) und in meh- reren anderen mittelalterlichen Quellen (Johansen 1939a, 1950, 1951, 1952, 1956, 1965, 1974; Johansen und von zur Mühlen 1973) wären die Grundla- gen für die Erforschung der ostseefinnischen Sprachgeschichte in uns heute unvorstellbarer Weise ärmer. Es ist allerdings eine andere Frage, ob das Ge- samtpotential dieser unanfechtbaren Werke heute in ausreichendem Umfang genutzt wird. Paul Johansen hat seine wissenschaftliche Tätigkeit gleichzeitig als Ar- chivar, als Nordosteuropa-Historiker und als Philologe (mit den Schwer-

1 Siehe z. B. Jänes (1965: 21), Kurman (1968: 3-4); Erelt u.a. (1997: 10); Ehasalu u.a. (1997); anderer Ansicht ist erstaunlicherweise Kasik (1999). — Wegen der sprachwissenschaftlichen Untersuchungen eige- nen Zitierkultur sind in diesem Beitrag neben Fußnoten auch Kurztitelbelege im Text verwendet, die auf das Literarturverzeichnis am Ende des Beitrags verweisen.

72 Paul Johansen als Etymologe punkten Ostseefennistik, Germanistik, Nordistik, aber auch Russistik und Baltistik) begonnen. Dieser Interessenvielfalt blieb er immer treu: auch in sei- nen letzten und posthumen Werken werden soziale Geschichte und Wort- geschichte unzertrennlich miteinander verbunden. Wäre Johansen nicht vor hundert, sondern vor dreihundert Jahren geboren, wäre dies eigentlich kein Wunder und sogar kaum eine Ausnahme gewesen, und dann hätte er den verdienten Platz eines professionellen Polyhistors einnehmen können, in der Gesellschaft von Kollegen wie August Ludwig von Schlözer oder Gerhard Friedrich Mueller. Aber der spezialisierten, strukturierenden Mentalität vie- ler Geisteswissenschaftler — jedenfalls einer ganzen Reihe von Sprachwis- senschaftlern — des 20. Jahrhunderts war der Geist des Polyhistorismus schon fremd und wenig verständlich. Mindestens einmal stellte sogar Johansen selber — nur scherzhaft — eigene etymologische Übungen aus der Position seiner quel- lenkritischen Tätigkeit als Historiker in Frage. Der Darstellung einer glanz- vollen und m. E. einwandfreien Etymologie wurde folgender Kommentar zu- gefügt: „Aber bei solchen philologischen Interpretationen ist den Historikern vielleicht nicht ganz wohl zu Mute. Zu unsicher ist das alles: eine geistreiche Etymologie kann von der eines anderen Sprachforschers abgelöst werden; das ist keine sichere quellenkritische Grundlage" (Johansen 1974: 632). Wie bekannt, hatte die Zweiteilung oder, besser gesagt, polyhistorische Vielfalt der wissenschaftlichen Interessen Paul Johansens auch andere Fol- gen, die für die Einrichtung, die ich vertrete, von ganz besonderer, grundle- gender Bedeutung sind. Viele Jahre — ab 1940 bis zu seinem Tod im Jahre 1965 — Professor für Hansische und Osteuropäische Geschichte an der Uni- versität Hamburg, wurde Paul Johansen auch zum ersten Leiter des Finnisch- Ugrischen Seminars dieser Universität (heute Institut für FinnougristildUra- listik). Am 6. Dezember 1952 hat er in einem Schreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät den „lange gehegten Plan der Gründung eines Se- minars für finnisch-ugrische Sprachen und Finnlandkunde" eröffnet und zugleich den Gründungsantrag mit konkreten Wünschen hinsichtlich der Ausstattung des Seminars gestellt. Obwohl dieser Antrag schon im selben Monat von der Fakultät bewilligt und Johansen zum Leiter des neuen Se- minars ernannt wurde, konnte die Entscheidung wegen den „damit in Zu- kunft zu erwartenden persönlichen und sachlichen Folgewirkungen" da- mals nur in Form einer Zwischenlösung realisiert werden: ab 1953 leitete Johansen als Finnougrist nicht ein selbständiges Seminar, sondern nur eine Abteilung für Finnisch-Ugrische Sprachen und Finnlandkunde beim Orienta- lischen Seminar. Erst 1959 wurde die Abteilung in den Rang eines Seminars erhoben, dessen weiteren allmählichen Ausbau zu fördern und zu verfolgen Paul Johansen bis zum Jahre 1965 vergönnt gewesen ist. Auf eine detail- liertere Darlegung der Gründungsgeschichte kann hier verzichtet werden;

73 Eugen Helimski

Paul Johansens Vorstellungen über die zukünftigen Wege der Finnougristik in Hamburg, seine Bemühungen um die philologische Profilierung der neu gegründeten Einrichtung sowie die Ergebnisse seiner Lehrtätigkeit spiegeln sich in seinen Berichten ( z.B. Johansen 1960) und insbesondere in Wolf- gang Veenkers Aufsatz „Paul Johansen und die Gründung des Finnisch-Ug- rischen Seminars der Universität Hamburg" (Veenker 1988) und bereits in dem Nachruf Webermanns (Webermann 1966) ausführlich wider. Aber auch eine mehr oder weniger detaillierte Erörterung des Beitrags von Johansen zur etymologischen Forschung würde den Rahmen eines Konferenzbeitrags sprengen. Er hat nur wenige Schriften hinterlassen, in denen keine etymologischen Lösungen dargelegt wurden, und bestimmt keine einzige, in der er seine etymologischen Kenntnisse nicht irgendwie angewendet hätte. Um die Rolle der Etymologie in Paul Johansens Forschungen zu deu- ten, möchte ich als erstes Beispiel seinen Ösel- (Saaremaa-)Aufsatz anfüh- ren (Johansen 1950). Veröffentlicht in der Festschrift für den Hamburger Rechtshistoriker Karl Haff, trägt dieser Aufsatz den Titel „Der altnordische Name Ösels als verfassungsgeschichtliches Problem". Die Verfassungsge- schichte, d.h. Fragen der altnordischen administrativen Verfassung, steht aber nur auf drei der 16 Seiten des Aufsatzes tatsächlich im Zentrum der Aufmerksamkeit des Autors, und auch auf diesen beschäftigen Johansen hauptsächlich skandinavische und ostseefinnische Bezeichnungen für Be- zirke und für Landeinteilung, d. h. Wörter. Kaum mehr Platz und Bedeutung wird der Frage beigemessen, ob die Insel Ösel (Saaremaa) im Frühmittelal- ter eine norwegische Eroberung gewesen war; auf der Grundlage der Nach- richten aus der Wikingerzeit findet dies der Verfasser für durchaus mög- lich, verweigert aber jegliche definitive Schlußfolgerungen. Eigentlich wird dem Leser klar, dass dieser Festschrift-Beitrag in erster Linie der Etymo- logie des Namens Ösel und der anderssprachigen Namen der Insel gewid- met ist. In seiner ortsnamengeschichtlichen Suche stützt sich der Verfasser auf eine Vermutung, die früher von Carl Russwurm (1855: § 67) gemacht wurde. Dank der durch Johansen neu entdeckten Formen und Fakten er- wirbt jedoch diese vorläufige, unsichere Vermutung große Überzeugungs- kraft aufgrund der detailliert und glänzend entwickelten Etymologie. Ich er- laube mir, Paul Johansens Erklärungen in der von mir geliebten Form eines etymologischen Stemmas zu veranschaulichen.

74

Paul Johansen als Etymologe c7) 0

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75 76

Mit dem Inselnamen korrelative Bezeichnungen des estnischen Festlandes: 7:3 0

Mit dem Inselnamen korrelative Gesamtbezeichnungen: Eugen Helimski

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Falsche Etymologien : :0

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Paul Johansen als Etymologe

Anders in der Form und nicht immer ebenso ausführlich, aber dennoch nicht weniger überzeugend sind die ortsnamengeschichtlichen, philolo- gischen und etymologischen Angaben in der Kurzmonographie „Kurlands Bewohner zu Anfang der historischen Zeit" (1939a), einer Monographie, die hauptsächlich von sprachwissenschaftlichen Angaben ausgeht. Das Gleiche gilt auch für Johansens Werk „Nordische Mission, Revals Gründung und die Schwedensiedlung in Estland" (1951), wo der toponomastische „Spe- zielle Teil" wieder einmal mehr als die Hälfte des Gesamttextes ausmacht, oder das posthum 1973 erschienene Buch „Deutsch und Undeutsch im mit- telalterlichen und frühneuzeitlichen Reval", das er zusammen mit Heinz von zur Mühlen schrieb. Die umfangreichen Materialien dieses Buches ver- dienen die große Aufmerksamkeit der Linguisten, Ostseefennisten, Germa- nisten und Skandinavisten. Dies betrifft insbesondere die von Paul Johansen stammenden Abschnitte des VII. Kapitels mit den Titeln „Skandinavische und russische Lehnwörter im Deutschen" (gemeint: im baltischen Deut- schen), „Livische Lehnwörter allgemeiner Geltung", „Estnische allgemeine und spezielle Lehnwörter", „Estnische Redewendungen" sowie das Register der nach ihrer Etymologie systematisierten Familiennamen aus den unteren sozialen Schichten Revals mit Deutungen und das Wortregister (mit latei- nischen, niederdeutschen, halbdeutschen, schwedischen, estnischen, halb- estnischen, livischen Glossen). Der Philologe Johansen hat die Vorteile seiner Erfahrung als Stadtar- chivar sowie den ganzen Reichtum der ihm bekannten historischen Quel- len in nachahmungswürdiger Weise genutzt. Zum Glück hat die bürgerliche Schriftlichkeit in den hansischen Ländern, wie auch in mehreren anderen Ländern Nord- und Mitteleuropas, eine große Anzahl von ordentlich be- wahrten Urkunden hinterlassen — im Unterschied z. B. zur Kirchenschrift- lichkeit Rußlands, mit der bekannten Ausnahme von Groß Novgorod. Nicht zufällig waren die russistischen Interessen Paul Johansens auf die Novgo- roder Thematik konzentriert, wie die Aufsätze „Novgorod und die Hanse" (1953) oder die Publikation des Fragments eines niederdeutsch-(novgoro- disch-)russischen Sprachführers vom 16. Jahrhundert (1955) belegen. Welchen Wert Johansen den in seinem opus magnum „Die Estlandliste des Liber Census Daniae" gesammelten und größtenteils auch etymologisch er- klärten Ortsnamenmaterialien beilegte, kann aus vielen Passagen in seinen Schriften gefolgert werden. Jeder der rund 490 um 1240 belegten Ortsna- men wurde mit einer ausführlichen Liste der aus den Urkunden der späteren Jahrhunderte exzerpierten Formvarianten versehen, so dass man zusam- men mit der Ortsgeschichte auch die Prozesse der Lautgeschichte verfolgen kann. Es gibt m. E. keine andere Quelle, die für die Erforschung und so- gar für die genaue Datierung der Sprachentwicklungen im Estnischen — wie

77 Eugen Helimski z. B. der Lenition, der Synkope oder der Apokope — so geeignet ist, vgl. z. B. die Artikel über Akiolce » Aila, Hirwce » Iru, Howympce » Hai- ba, Jukal >> Joa, Ketherce >> Kehra, Kipunkcelce >> Keoküla usw. (Jo- hansen 1933: 311-2, 364-5, 374, 390-1, 424, 429). „Für die Namenvergleichung gibt es [...] ein rechtes „Standardwerk" [...], nämlich Paul Johansen, Die Estlandliste des Liber Census Daniae'", - schrieb Lauri Kettunen in seiner Monographie „Etymologische Untersu- chung über estnische Ortsnamen". — „Ich habe mich mit dem Teil von Jo- hansens Werk, der die Namen behandelt, genau vertraut gemacht und darin in mancher Hinsicht eine Grundlage für meine Untersuchung gefunden, in die ich die Ortsnamen aus dem Liber Census Daniae fast vollständig aufge- nommen habe" (Kettunen 1955: IX). „Verdienstvoll hat Paul Johansen diese Namensformen betrachtet", - betonte er im Zusammenhang mit den Varianten des Stadtnamens Tartu und, ohne die Frage erneut etymologisch zu behan- deln, beschränkte er sich dabei — wie auch in etlichen anderen Fällen auf ein direktes Zitat aus Johansen (1952: 9): Tartu < altestn. *Tarbatu > lat. Tarbatum, de. Tarbate, Tarbete, Darbete, Derpte, Dörpt, sekundär (durch gelehrte Rekonstruktion) auch Dörpat, Dorpat. Als „Nachträge" zur selben Monographie veröffentlichte Kettunen mit Dankbarkeit die Randbemer- kungen, welche Paul Johansen, Julius Mägiste und Andrus Saareste beim Lesen der Korrektur gemacht hatten (Kettunen 1955: 325-45); man sieht, dass ein Löwenanteil dieser Bemerkungen von Johansen stammt und dass seine Nachträge meistens wichtiger und viel präziser sind als die der beiden verdienten estnischen Linguisten. In solch einem Kontext und in Anbetracht des freundschaftlichen Verhältnisses2 klingt Kettunens zwar vor allem ehr- erbietige, aber auch die Berufsfremde betonende Äußerung: „Ohne eigent- lich Sprachforscher zu sein, beherrscht er [Johansen] doch gut die estnische Sprache, da er aus Tallinn (Reval) gebürtig ist und dort lange Zeit als städ- tischer Archivar gewirkt hat, und sein Wissen ist auch auf dem Gebiet der Philologie recht bedeutend" (Kettunen 1955. IX) ein bißchen gönnerhaft. Leider ist mir unbekannt, ob und wie Johansen das Lob Kettunens ak- zeptiert hat. Im Fall des korporativen Chauvinismus seitens des Sprach- wissenschaftlers Valentin Kiparsky, der in Johansens Werken keinen „lin- guistischen Einschlag" fand, war Johansens Reaktion irritiert und empört: „Warum er dann meine ,Estlandliste des Liber Census Daniae` so ausgiebig benutzt, wenn sie ohne ,linguistischen Einschlag' ist, bleibt allerdings un- verständlich. Vielleicht sind ihm meine Ortsnamenverzeichnisse und -deu- tungen dort entgangen? dass er andere Sachen von mir mit ‚linguistischen Einschlag' nicht kennt, Texteditionen, wie z. B. den estnisch-niederdeut-

2 Persönliche Mitteilung von Frau Prof. Dr. Ulla Johansen. 78 Paul Johansen als Etymologe schen Katechismus von 1535, die auch die Anerkennung von Spezialisten gefunden haben, ist bei seiner Stellungnahme zur Geschichte nicht verwun- derlich" (Johansen 1939b: 455). Irritiert oder nicht, verwirft Paul Johansen mit diesen Worten ganz deut- lich die inkorrekt gestellte alternative Frage, ob er ein Historiker oder ein Philologe war. Leider stellt sich solch eine Frage, bewußt oder unbewußt, immer wieder, und diese oder jene Beantwortung der Frage bleibt nicht ohne Folgen. Nicht selten läßt sich eine Vernachlässigung der Arbeiten, die als „historische" Untersuchungen bezeichnet sind, seitens der Linguisten kon- statieren (sowie auch umgekehrt). Nicht zuletzt deshalb wurden die von Jo- hansen mühselig gesammelten sprachgeschichtlichen Angaben sowie seine Etymologien, obwohl im Prinzip den Ostseefennisten bekannt, bisher noch nicht systematisch in ein Handbuch der estnischen Lautgeschichte oder in ein historisch-etymologisches Wörterbuch eingegliedert. Lauri Kettunens „Eestin kielen äännehistoria" (2. Aufl. 1929) ist auch heute die vollstän- digste lautgeschichtliche Beschreibung des Estnischen. Es bleibt ein Desi- deratum, dass diese Beschreibung durch die Beispiele der geschichtlich be- legten Entwicklungsstufen (wie die oben angeführten Belege aus Johansens Bearbeitung des „Liber Census Daniae") und durch absolute Datierungen die- ser Stufen wesentlich vervollständigt und vervollkommnet werde. Es ist be- dauerlich, dass wir noch immer kein vollständiges historisches Wörterbuch des Estnischen besitzen — obwohl die meisten Voraussetzungen für solch ein Lexikon dank Paul Johansen und seiner Zeitgenossen erfüllt sind. In den existierenden etymologischen Wörterbüchern von Julius Mägiste und von Alo Raun sind die Angaben der Sprachdenkmäler so gut wie nie berück- sichtigt, und, was noch trauriger ist, es wird Johansens „Estlandliste" zu- sammen mit anderen wichtigsten sprachhistorischen Quellen nicht einmal in der Liste der bei der Zusammenstellung dieser Wörterbücher benutzten Literatur erwähnt. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, auch die hohe Qualität der von Paul Johansen vorgeschlagenen etymologischen Lösungen zu unter- streichen. Die Perfektion wurde nicht durch Benutzung der linguistischen Fachterminologie (die Johansen meistens vermied) erreicht, sondern durch common sense und Verständnis — nicht selten dank persönlicher Erfahrung — für Begriffe und für die Eigenschaften der Untersuchungsobjekte sowie durch umfangreiche Sprachkenntnisse und ständige Berücksichtigung der Angaben aus allen Sprachen, die mit den ostseefinnischen benachbart sind bzw. waren. Es wäre eine lohnende Aufgabe, diese Untersuchungen, deren Autoren sich und der Etymologie zum Teil verschiedene Aufgaben stell- ten, zu vergleichen und gegenüberzustellen. Aber beim Lesen von Johan- sens Schriften kommt immer wieder der Gedanke: wie schade, dass dieser

79 Eugen Helimski

Forscher sich fast ausschließlich auf die estnisch-livische Namenforschung beschränkte und dass diese philologische Tiefe und Breite der Analyse der uralischen (finnisch-ugrischen) Etymologie im großen und ganzen relativ wenig bekannt ist! Nicht nur dass die Materialien der uralischen Sprachen (einschließlich Finnisch und Ungarisch) bei weitem nicht so vollständig philologisch und etymologisch bearbeitet werden, wie diejenigen mehrerer indogermanischer Sprachen Europas schon Ende des 19. Jahrhunderts be- arbeitet worden sind. Sogar die neueren und neuesten etymologischen Stu- dien zur Indogermanistik, und um so mehr zur Uralistik, sind zu selten von der enzyklopädischen Sachkenntnis der Forscher der „Blütezeit der Philolo- gie" gekennzeichnet. Paul Johansen gehörte jedoch zur guten alten philolo- gischen Schule. Diese Zugehörigkeit läßt sich auch deutlich in der Fassung seiner etymo- logischen Vorschläge — oder in seiner Kritik an denen anderer — erkennen. Nur ein kleines Beispiel ist die lakonische Bemerkung mit einem den Oppo- nenten vernichtenden Ausrufungszeichen in der schon zitierten Rezension Johansens von Valentin Kiparskys „Kurenfrage": „Erklärung des PN Fus- zentappe als ,Fußtapfen' — um 1350 halbhochdeutsch!" (Johansen 1939b: 455). Eine echte Fundgrube für jeden Kenner der ars etymologica sind die im Aufsatz „Volksetymologie und Ortsnamenkunde, erläutert am Beispiel Liv- lands" (Johansen 1952) großzügig verstreuten Beobachtungen.' Nicht ohne Eleganz stellt der Verfasser seine die ganze Ostseeregion lückenlos um- fassenden Sprachkenntnisse sowie Orts- und Sachkenntnisse zur Schau. In diesem Teil meines Konferenzbeitrags befinde ich mich in einer besonders günstigen Lage, da man praktisch mit jedem Bestandteil des von Johansen gesammelten Materials die Zuhörer ebenso amüsieren könnte, wie es ver- mutlich 1951 der Fall war, als Paul Johansen den Vortrag zu diesem Thema vor der Finnisch-Ugrischen Gesellschaft in Helsinki gehalten hat. Faszinie- rend ist z. B. die Episode mit der symbolisch-christlichen Umgestaltung des livischen Ortsnamens Ykeskülä (Uexküll, das erste Bistum in Livland) bei Heinrich von Lettland, der in seiner Chronik diesen Namen stets nur Ykesco- la schreibt. Obwohl die Bedeutung des Wortes külä „Dorf" dem Chronisten bekannt gewesen sein muß, schwebte ihm hier — so Johansen — das latei- nische Wort scola vor, dazu dann das livische Wort iga (finn. ikä), welches „Leben" bedeutete; „Lebensschule" war wohl ein geeigneter Name für den Ort Uexküll als erste christliche Keimzelle (der Autor erwähnt, dass auch in Dänemark der Name des 1158 gegründeten Klosters Vitskol zu Vitae Scho- la umgeändert wurde) (1952: 4). Die Erklärung des Elements -beck, das in

3 Mehrere von den hier angeführten Erklärungen stammen aus Johansen (1930).

80 Paul Johansen als Etymologe deutschen Ortsnamen Estlands häufig anstelle des estnischen -mägi oder - maa auftritt (Goldenbeck: altestn. Kulldamegky, heute Kullamaa), hat Jo- hansen in westfälischen Flurnamen des Typs Schwartmecke (aus *Schwar- tenbeke „Schwarzenbach") gefunden; durch die Substitution von -mägi mit diesem -mecke und die nachfolgende hyperkorrekte Ersetzung von -mecke mit -n-beck(e) ergab sich die paradoxe Umwandlung eines estnischen Berges zu einem deutschen Bach (1952: 4; 1930: 15-16). Die lebhafte Sprache, die für diese und für andere etymologische Studi- en Johansens typisch ist, gibt die vom Autor selbst empfundene Entdecker- freude wieder, eine Freude, die leider nicht allen Wissenschaftlern bekannt ist. Ich kann nicht ausschließen, dass die Vorbereitung einiger Schriften für Paul Johansen eher ein Muß als ein Vergnügen war; dies können jedoch die Leute, die ihn persönlich gekannt haben, besser beurteilen. Die etymolo- gischen und überhaupt sprachwissenschaftlichen Werke betrifft dies jeden-. falls nicht; weniger zahlreich, sind sie alle offensichtlich der geistigen In- spiration zu verdanken. Deshalb läßt Johansen gerne den Leser eine verwickelte Intrige verfol- gen oder ihm bei der Suche nach der Lösung eines Rätsels beistehen. Hier möchte ich das letzte Beispiel anführen und auf Johansens Aufsatz „Saxo Grammaticus und das Ostbaltikum" (1965, 1974) hinweisen. Noch ein- mal gerät eine etymologische Entdeckung, deren Präsentation langsam und sorgfältig vorbereitet wird, ins Zentrum einer formell quellenkritischen Un- tersuchung: „Saxos Vorstellungen über Finnland sind ganz schematisch und zumeist aus Adams von Bremen Werk ,Gesta Hammaburgensis ecclesiae Pontificum' übernommen [...]. Saxo hat auch keine finnischen Gewährs- leute gehabt, die ihm etwas Neues erzählen konnten. Etwas anders als mit Finnland liegt es mit dem Ostbaltikum. Hier erwähnt Saxo Ortsnamen und Völker, die in den Sagas nicht vorkommen, so die Liven und Semgaller. Ösel nennt er merkwürdigerweise Oelandia, was eine genaue Übersetzung des estnischen Namens Saaremaa ist. Dann aber kennt er eine sagenhafte Gegend mit Königen und mit einer Hauptstadt Duna, die er den Hellespon- tus nennt. Wer war das? Der klassische Hellespont am Mittelmeer [...]?" (Johansen 1974: 631). Durch die Bemerkung über Oelandia/Saaremaa wird die vorgeschlagene Lösung vorbereitet: „Alle Stellen, die von dieser Ge- gend sprechen, beziehen sich immer wieder nur auf Livland und das Düna- gebiet: es gibt da z. B. einen Sohn des Königs der Liven, eine Burg Duna, Esten und Kuren sind die nächsten Nachbarn [...] Des Rätsels Lösung geht über die livische Sprache. Die Düna heißt livisch, estnisch und finnisch Väi- nä; Heinrich von Lettland nannte die Dünaliven latinisiert Veinalenses. Was aber bedeutet „väin"? Das bedeutet Meerenge, Meeresarm, also, man be- achte, genau dasselbe wie das klassische griechisch-lateinische Wort Helles- 81 Eugen Helimski

pontus, das man sonst meist für die Dardanellen verwendete." Ein Beweis dafür, dass jemand Saxo erzählt hat, „daß Düna livisch Väinä heißt und dass „väin" Meerenge bedeutet. Denn anders konnte er doch gar nicht auf die Übersetzung Hellespontus kommen, etwas ganz Ungewöhnliches, das sich sonst in keiner anderen Quelle findet." (1974: 632). Ich möchte das Fazit ziehen: Paul Johansen stand in seinen etymolo- gischen Forschungen zum Ostseefinnischen fest auf dem höchsten von der Philologie der klassischen Sprachwissenschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erreichten Niveau, und deshalb häufig eine prinzipiell wich- tige Stufe höher, als die — von der Philologie entfernte — „berufliche" ost- seefinnische und finnisch-ugrische Etymologie der zweiten Hälfte des vori- gen Jahrhunderts.

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4 In der Literaturliste sind einige in diesem Beitrag nicht speziell behandelte sprachwissenschaftliche Werke Paul Johansens eingeschlossen; eine vollständige Bibliographie Johansens findet man in Proehl (1963) und Weczerka (1982), s. auch Webermann (1966).

82 Paul Johansen als Etymologe

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83 Eugen Helimski

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84 Ulla Johansen Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg*

Dieser Aufsatz kann nicht die wissenschaftliche Arbeit meines Vaters behandeln, da ich nicht wie er Historikerin bin und den Zweiten Weltkrieg auch nur als Kind erlebt habe. Ich vermag nur individuelle kindliche Er- innerungen niederzuschreiben, von denen ich hoffe, dass sie seinen Erfah- rungshintergrund beleuchten und ein kleines Dokument des Schicksals der aus Estland stammenden deutschen Minderheit nach ihrem Abschied vom Heimatland sein können. Als der Zweite Weltkrieg begann, war ich zwölf Jahre alt. Ich würde mich nicht an diesen Tag erinnern, wenn mein Vater, als er gegen halb fünf zum Mittagessen kam, nicht eine Zeitung geschwenkt und meiner Mutter aufgeregt den Beginn des Krieges mitgeteilt hätte. Er schloss seinen Be- richt: „Donnerwetter! Jetzt kommen schwere Zeiten. Jetzt fange ich auch an zu rauchen." Von diesem Tag an rauchte nicht nur meine Mutter, son- dern ich sah auch in der Hand meines Vaters gelegentlich die in Estland üb- lichen Papyros (Zigaretten mit Pappmundstück) oder deutsche Zigaretten. Bei Kriegsende hörte mein Vater wieder damit auf. In meiner Erinnerung änderte sich unser Leben aber in den ersten Wochen danach überhaupt nicht. Es wur- de damals zuhause kaum von Politik gesprochen; mein Vater erzählte mei- ner Mutter von seiner Arbeit und beschrieb manchmal auch uns Kindern, wie man in vergangenen Zeiten in Reval (estn. Tallinn) gelebt hatte. Am Ende dieses Monats trat aber mit einem Schlag die große Politik in der Gestalt der deutsch-sowjetischen Umsiedlungsabkommen auch in un- sere Familie. Meine Eltern entschlossen sich, wie wohl der größere Teil der Deutschbalten, nicht sogleich zur Umsiedlung. Ich erinnere mich, wie sich die Deutschen in diesen Tagen, wenn sie sich in der Stadt begegneten, nicht wie gewöhnlich mit „Guten Tag!" begrüßten, sondern aufeinander zueilten, sich die Hand reichten und fragten: „Fahren Sie?" Das war so stereotyp, dass wir Kinder es nachäfften: wir schüttelten uns die Hand und fragten: „Fah- ren Sie?" Nicht alle Deutschbalten kannten sich. Das wäre in Anbetracht der Zahlenstärke dieser Minderheit unmöglich gewesen. Sie waren aber dennoch über ein soziales Netzwerk verbunden, das heißt, dass zumindest die in Estland lebenden alle gemeinsame Bekannte hatten und viele auch irgendwie verwandt oder verschwägert waren. Nun standen auf der Straße auch jene zusammen, die sich sonst nur kurz grüßten oder nur vom Ansehen * Dieser Aufsatz erschien erstmalig 1992 in estnischer Sprache: Paul Johanseni elutee Teises maailmasöjas, in: Tallinna Kunstiülikooli Toimetised, Seeria: Arhitektuur, Nr.1 (2), Tallinn 1992, S.74-87 u. 107f.

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her kannten, und fragten nach, welche Entscheidung der andere getroffen hatte. Meine Mutter rief als erstes ihre Eltern in Sagnitz (estn. Sangaste) in Südestland an, um ihren Standpunkt zu erfahren. Wenige Tage später riefen diese zurück und teilten mit, dass sie schweren Herzens ihre Landapotheke aufgeben wollten, denn beide Schwestern meiner Mutter hatten beschlos- sen, mit ihren Familien umzusiedeln. Zunächst wollte mein Vater nicht gehen, denn seine Mutter und sein Bruder lehnten es ab, nach Deutschland zu ziehen, und wollten bleiben. In unserem Bekanntenkreis fanden sich keine Nazis, und die deutschen Lehrer und Pastoren verhielten sich dem estnischen Staat gegenüber loyal, eine Haltung, die sie uns Kindern weiter vermittelten. Der Grund, warum wir und auch unsere Bekannten nach kurzer Zeit beschlossen auszuwandern, war die Tatsache, dass das russische Militär schon begann, Estland zu ok- kupieren. Wir wohnten in Hiiu, einem Stadtteil der Revaler Trabantenstadt Nömme, in der Nähe der Bahn, und jede Nacht, wenn die Eltern wegen der Schwere der Entscheidung schlaflos lagen, hörten sie die endlosen Militärzü- ge in Richtung auf die estnische Westküste vorüberfahren. Tagsüber fuhren diese Züge nicht. Die russischen Züge waren aber auch im Dunkeln dadurch zu unterscheiden, dass ihre Türen nicht so fest schlossen wie bei estnischen Waggons. An ihrem Klappern konnten die Bewohner Nömmes sie auch im Dunkeln erkennen. Die Deutschbalten hatten am Ende des Ersten Welt- krieges durch die Bolschewisten Furchtbares erlitten; viele waren einfach er- schossen worden. Die Erinnerung daran war noch frisch — erst zwanzig Jahre alt. Auch ich hatte schon in den ersten Schuljahren gelernt, dass das Leben unter den Bolschewisten der Hölle auf Erden gleichkam, und einige Bücher über das Martyrium der Deutschbalten in dieser Zeit gelesen. Nun waren sie wieder im Lande, und jeder denkende Mensch musste begreifen, dass die Einnahme der Stützpunkte nur der Anfang war, dass die Bolschewisten nicht Ruhe geben würden, ehe die Macht voll in ihren Händen lag. Mein Vater hätte auch nach Dänemark auswandern können. Meine El- tern äußerten solche Überlegungen auch in Gegenwart von uns Kindern. Aber wir hatten deutsche Schulen besucht und unsere Umgangssprache war deutsch. Nur ich als die Älteste hatte schon dänisch gelernt. Wenn mein Va- ter überhaupt eine Stelle als Historiker in Dänemark gefunden hätte, wür- de er sich nicht weiter mit der Geschichte Estlands beschäftigen können, sondern über die Geschichte des dänischen Reiches arbeiten müssen. Wenn er aber mit den Deutschbalten ging, hatte er Aussicht auf eine Stelle, auf der er auch in Zukunft die Geschichte des Baltikums erforschen konnte — und sie gingen alle, wie sich bald herausstellte, keiner unserer deutschen Bekannten blieb im Lande. So machten sich schließlich auch meine Eltern zur „Kulturverwaltung" der deutschen Minderheit des Estnischen Freistaats 86 Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg auf und meldeten sich zur Umsiedlung an. Nur wenige Tage später erschien Herr Dondorf bei uns und teilte uns mit, er sei unser Blockwart und habe die Aufgabe, uns über die Bedingungen der Umsiedlung zu informieren. Vor allem gab er uns die Anweisung weiter, dass wir so wenig wie mög- lich mitnehmen sollten. Schon die nur sechs ausgewählten Möbelstücke aus unserem großen Haushalt und der große Buchara-Teppich, das Hochzeits- geschenk meines Großvaters, die meine Eltern neben dem Handgepäck auf- geben wollten, hielt er für zu viel. Unter all den zurückbleibenden Möbeln konnte unsere auch aus Sagnitz stammende Hausangestellte, Rosi Härk, sich aussuchen, was ihr gefiel, denn sie hatte den Wunsch, sich bald zu verheiraten. Sie hatte sich neben ihren anderen Aufgaben besonders der Pflege meiner jüngsten Schwester gewid- met und liebte sie hingebungsvoll. Wir redeten mit Rosi estnisch, so dass wir diese Sprache schon bei Schuleintritt mühe- wenn auch nicht ganz fehler- los sprachen. Wir Kinder durften jeder nur ein einziges Spielzeug behalten. Alle anderen verschenkten wir an die im unteren Stockwerk unseres Zweifa- milien-Hauses wohnenden estnischen Nachbarskinder, Asta und Udo. Die- se wirkten wie betrunken angesichts der Stapel neuer Spielsachen, aber ihre Mutter blickte etwas säuerlich drein. Mag sein, dass sie ahnte, dass auch ihre Familie als wohlhabende Bürger das Land bald fluchtartig verlassen würde. Trotz der Hochstimmung, in die uns Kinder die allgemeine Veränderung versetzte, tat es uns etwas leid, uns von unserem Besitz zu trennen. Was aber mochten die Gefühle meines Vaters sein, der die meisten seiner Bücher zu- rücklassen musste? Er konnte nur die für seine Arbeiten wichtigsten behal- ten. So lebten wir denn bald nur noch zwischen Koffern und Kisten und war- teten. Ich sehe noch die Szene vor mir, wie mein Vater auf einer niedrigeren Kiste saß und eine größere als Tisch vor sich gestellt hatte, um irgendet- was von Zetteln, die mit seiner kleinen Schrift bedeckt waren, auf einen größeren Bogen Papier zu übertragen. Er war ja ein Meister im Ausnutzen kleinster Zeitspannen. Wenn z.B. meine Mutter zu Tisch rief, was sie im Allgemeinen gut fünf Minuten bevor die Speisen aufgetragen wurden, tat, damit wir Zeit zum Händewaschen hätten, konnte mein Vater in der ihm ei- genen Konzentration noch einen neuen Absatz in seinem Manuskript begin- nen und bis zur Hälfte fertig stellen. So saß er denn, ungestört vom Toben der ohne Spielsachen und Schulunterricht beschäftigungslosen Kinder und dem nervösen Packen der letzten Sachen durch Rosi und meine Mutter und schrieb einen neuen Artikel, bis meine Mutter aufgeregt rief: „Wir arbeiten hier. Und was machst Du? Die Welt könnte untergehen, und Du würdest immer noch schreiben." Mein Vater erhob sich nachgiebig und half ihr ir- gendwie. Danach ging er fort, vermutlich um irgendwo anders seine Arbeit fortzusetzen.

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Ich erinnere mich dunkel, dass in diese Zeit auch die Diskussion um seine Berufung auf einen Lehrstuhl an der Universität Dorpat (estn. Tartu) fiel. Jedenfalls blieb das nun in Anbetracht der politischen Lage eine Epi- sode, und der Tag der Abfahrt rückte näher. Am Tag davor kaufte mein Vater zwei Liter Schlagsahne und sagte Rosi, sie solle alles mit Zucker aufschlagen. Dann forderte er uns auf, wir sollten so viel Schlagsahne es- sen, wie wir irgend könnten, und noch mehr. In Deutschland im Kriege würden wir keine Schlagsahne mehr bekommen, deshalb sollten wir uns daran überessen, so dass sie uns in Deutschland widerlich wäre und wir nichts vermissen würden. Unter den zweifelnden Blicken meiner Mutter stopften wir denn auch so viel in uns hinein, dass schon das Atmen schwer fiel. Aber es hat nichts geholfen. Keinem von uns, auch meinem Vater sel- ber, war später in Deutschland Schlagsahne zuwider. Am 30. Oktober verabschiedeten wir uns von meiner Großmutter. Sie gab uns meine 14-jährige Cousine mit, die sie bis dahin erzogen hatte, und blieb in ihrem Haus im Revaler Stadtteil Katharinental (estn. Kadriorg) zu- rück. Erst viele Jahre danach habe ich begriffen, welchen Schmerz dieser Abschied meiner warmherzigen, aber stets beherrschten Großmutter zufü- gen musste, die sich nicht nur von allen ihren Enkelkindern, sondern auch von ihrem jüngsten Sohn — vielleicht auf Lebenszeit — trennen musste, und wie schwer das auch für meinen Vater war. Am nächsten Tag gingen wir an Bord des großen weißen Schiffes „Sierra Cordoba". Vor dem Schiff standen einige Journalisten, die meinen Vater fragten, warum auch er ginge. „Die Dänen kamen mit den Deutschen, die Dänen gehen auch wieder mit den Deutschen", war seine Antwort. Er konnte nicht umhin, auch sein persön- liches Schicksal in historischem Zusammenhang zu betrachten. Meine Mut- ter hatte Rosi gebeten, uns nicht zu begleiten, um bei meiner Schwester den Eindruck zu erwecken, dass es sich nur um eine kurzfristige Reise handel- te, und ihr den Schock der Erkenntnis zu ersparen, dass sie sich für immer von der geliebten Pflegerin trennen müsse. Am Kai standen aber viele an- dere Menschen und weinten, und auch an der Reling weinten viele der Rei- senden, als das Schiff ablegte. Wir drei größeren Kinder konnten nicht wei- nen. Das riesige Schiff war zu interessant. Wir liefen treppauf und treppab durch alle Gänge und Salons. Es dämmerte schon, als wir wieder an die frische Luft kamen. Auf den Decks stand ein großer Teil der erwachsenen Reisenden, auch mein Vater, und schauten zurück auf Reval. Man konn- te die Deutschbalten schon von weitem daran erkennen, dass sie lebhafter waren als die meisten Esten und oft mehrere Menschen gleichzeitig spra- chen, so dass sie an der Lautstärke der Gespräche zu unterscheiden wa- ren. Die Hunderte von Menschen, die hier standen, waren aber still wie in der Kirche. Viele Damen hielten sich Taschentücher vor das Gesicht. So

88 Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg verschwand allmählich die Silhouette Revals im Meer, bis nur noch der Domberg sichtbar war und zum Schluss, kaum noch erkennbar, die Spit- ze des Olai-Kirchturms. Dann versank auch er in den Wellen, und nur das Licht des Leuchtturms auf dem Laaksberg (estn. Lasnamägi) begleitete uns noch ein Stück weiter. Die erste Überraschung für uns Kinder war, dass wir die deutschen Ma- trosen nicht verstanden. Ich weiß nicht, ob sie sächsisch oder vielleicht schwäbisch sprachen. Jedenfalls klang das wie eine fremde Sprache für uns deutschbaltische Kinder, und dies Problem setzte sich fort, als wir am 2. No- vember in Stettin (poln. Szczecin) von Bord gingen. Wir wurden in ein als Lager eingerichtetes Schulgebäude in Posen (poln. Poznaii) gebracht. In den Klassenräumen war der Fußboden mit einer hohen Schicht Stroh bedeckt und in jeden wurden fünf bis zehn Frauen mit ihren Kindern eingewiesen. Die Männer, auch mein Vater, schliefen in einem anderen Teil der Schule. Das war nun wieder ein Spaß für uns Kinder. Am Abend lagen etwa 15 Kin- der im Stroh, plauderten, tollten sogar herum und hinderten die kleinen da- ran, einzuschlafen. Meine kleine Schwester weinte jeden Abend, aber uns größeren erschien das als ein herrliches Leben. Was daran jedoch überhaupt nicht schmeckte, war das Essen der „Reichsdeutschen". Den Eltern wurden nun Wohnungen angeboten. Wenn sie von Woh- nungsbesichtigungen zurückkehrten, waren sie still und seltsam bedrückt. Von einigen ihrer Erlebnisse erzählten sie auch uns. Die „Braunen" oder „Goldfasanen", wie man die in braunen Uniformen herumgehenden Partei- funktionäre nannte, trieben die Polen aus ihren Wohnungen. Zum Packen ihrer wichtigsten Sachen gab man ihnen gerade zwei Stunden, und sie mussten alle Möbel stehen lassen. Diese Wohnungen wurden dann den Deutschbalten an- geboten, die ihrerseits ihre Möbel hatten zurücklassen müssen. Einmal be- sichtigten meine Mutter und mein Vater eine Wohnung, in der das Früh- stück der polnischen Familie noch auf dem Tisch stand und die Spielsachen der Kinder auf dem Fußboden verteilt waren. Ein anderes Mal brachte man sie in eine hübsche Wohnung, wo der schwarze Mantel eines katholischen Geistlichen noch im Vorzimmer hing und die Bücher für die Vorbereitung des Gottesdienstes aufgeschlagen auf dem Tisch lagen. So konnte sich mein Vater nicht dazu entschließen, eine der angebotenen Wohnungen zu neh- men, und wir blieben über drei Wochen im Lager. Leere Wohnungen wa- ren nicht zu bekommen. Schließlich breiteten sich im Lager Epidemien von Kinderkrankheiten aus. Die erkrankten Kinder mussten die Eltern ins Krankenhaus geben, wo sie aber meist nicht verstanden, was die „reichs- deutschen" Schwestern ihnen sagten. Auch meine Schwester erkrankte an Masern. Meine Eltern konnten es nicht lange verbergen, wollten aber das sensible dreijährige Kind nicht allein in einem Krankenhaus lassen. So griffen 89 Ulla Johansen

sie am nächsten Tage rasch zu, als ihnen eine 4 1/2 -Zimmer-Wohnung ange- boten wurde, und wir verließen so schnell wie möglich das Lager. Vor der Tür dieser Wohnung saß jeden Tag stundenlang ein kleiner schwarz-weißer Terrier. Wir versuchten, ihn zu vertreiben, aber er kam immer wieder zurück. Wir Kinder wollten ihn gerne hereinholen, aber meine Mutter erklärte, hier gäbe es schon Wanzen, es wäre nicht nötig, noch Flöhe dazu zu holen. Am Abend des neunten Tages, etwa 10 Minuten vor 8 Uhr, dem Be- ginn der Polizeistunde für alle Polen, von der ab sie sich nicht mehr auf der Straße aufhalten durften, klingelte es an unserer Wohnung. Vor der Tür stand ein erschöpfter Mann in verknüllter Kleidung, der meinen Vater verwirrt an- sah und auf deutsch mit polnischem Akzent höflich sagte: „Ich bin der Lehrer Sniegocki, und dies ist meine Wohnung. Wer sind Sie?" Mein Vater bat den Gast sofort herein. Der Herr erklärte, die deutsche Polizei hätte ihn verhaftet unter dem Verdacht, dass er in der Zeit vor der Okkupation einen Angehöri- gen der deutschen Volksgruppe Polens umgebracht habe. Es wäre ihm aber gelungen nachzuweisen, dass er im Gegenteil verfolgten Deutschen geholfen hätte. So wäre er nach zehn Tagen wieder freigelassen worden. In dieser Zeit war nun seine Familie aus ihrer Wohnung vertrieben worden. Wir zeigten ihm das Hündchen, das wieder vor der Tür erschienen war. Dem Herrn kamen die Tränen, als er sagte: „Ja, das ist mein Hund". Daran war auch kein Zweifel möglich, denn der Hund war außer sich vor Freude, als er Herrn Sniegocki sah. Mein Vater heizte sogleich den Badezimmer-Ofen an, damit der arme Mann sich säubern konnte, und meine Mutter kochte schnell eine ordentliche Mahlzeit für ihn. Er bekam in seiner eigenen Wohnung wenigstens ein frisches Bett in dem kleinen Zimmer. Meine Eltern konnten aber in dieser Nacht nicht schlafen, wie sie am Morgen durchblicken ließen, als Herr Sniegocki fortge- gangen war, um seine Familie zu suchen, nicht nur aus Scham über die Lage, in der sie sich nun befanden, sondern auch aus Angst. Es war nämlich verbo- ten, Polen bei sich aufzunehmen und, wenn irgendein „Brauner" zur Betreu- ung bei uns aufgetaucht wäre, hätte mein Vater eine Strafe bekommen. Herr Sniegocki fand seine Familie in einem Lager wieder, wo sie auf die Umsied- lung in das damalige polnische Generalgouvernement warten musste. Er kam wieder, und meine Eltern halfen ihm, noch mehr von seinem Eigentum einzu- packen. Dabei zeigte sich aber, dass einige Braune schon vor unserem Einzug Wertgegenstände aus der Wohnung mitgenommen hatten, so wie auch aus unserem großen Umsiedlungsgepäck die wertvollsten Sachen gestohlen wor- den waren. Als Herr Sniegocki das letzte Mal kam, brachte er seinen mit mir etwa gleichaltrigen Sohn und eine polnische Nachbarin mit. Der Junge grüßte nicht; er betrat die Wohnung mit hassglänzenden Augen. Nachdem die Nach- barin ihm dreifache Unterwäsche und auch mehrfache Überkleidung angezo- gen hatte, war der schlanke Knabe ganz dick geworden. Er nahm auch die Es- 90 Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg sensvorräte, die meine Mutter ihm zusammengepackt hatte, wortlos entgegen. Später erfuhren wir von einer polnischen Nachbarin, dass die deutsche Polizei ihm an der Pforte des Lagers alles wieder fortgenommen hatte. Zur selben Zeit passierte es einer uns entfernt bekannten Dame, dass ihr eine elegante Polin in der Straßenbahn gegenübersaß. Nach damaliger Mode trug sie einen Hut mit Schleier. Auf einmal hob die ihr unbekannte Dame den Schleier und spuckte der erschrockenen baltischen Dame ins Gesicht, worauf sie sofort die Straßenbahn verließ. Es war also kein Wunder, dass meine El- tern sich in einer gedrückten Stimmung befanden, während wir Kinder vol- ler Vorfreude kleine Weihnachtsgeschenke bastelten und die aufregende neue Schule besuchten. Schon vom Lager aus war mein Vater in das Posener Ar- chiv gegangen. Dort hatten Historiker aus Deutschland das Heft in die Hand genommen. Die polnischen Mitarbeiter, die das Archiv wirklich gut kannten, bekamen niedrigere Positionen. Für meinen Vater fand sich dort keine Ar- beit. Dafür traf aus Thorn (poln. Toruii) ein Brief ein, dass der aus Deutsch- land abgeordnete Archivdirektor eine Hilfe brauche. Mein Vater war in Reval selbst Archivdirektor gewesen, aber es war ihm klar, dass sich in Deutsch- land kaum eine gleichrangige Stelle für ihn finden würde. In Thorn hatte auch sein Freund, der Dorpater Bibliotheksdirektor Otto Freymuth, eine Stelle er- halten. So fuhr er zu einem Vorstellungsgespräch nach Thorn und erfuhr, dass durchaus Hoffnung für ihn bestand, die Stelle zu bekommen. Sie sollte frei- lich im Laufe der nächsten zwei bis drei Monate erst bewilligt werden. So lange mussten wir nun von der Übergangshilfe leben, welche den Umsiedlern gezahlt wurde. Am Tag vor dem Weihnachtsabend kehrte mein Vater aus Thorn zurück, und meine Eltern mussten sich nun beeilen, für jedes Kind ein kleines Ge- schenk, einen Weihnachtsbaum und Kerzen zu kaufen. In der Dunkelheit konnten sie die Umrisse des Baumes kaum noch erkennen, aber eine Weih- nachtsstimmung wollte sich bei ihnen sowieso nicht einstellen. Das Schmü- cken des Weihnachtsbaumes war stets Aufgabe meines Vaters gewesen, eine Arbeit, der er sich jeweils am 24. Dezember vor dem Kirchgang stundenlang mit wissenschaftlicher Akribie gewidmet hatte. Wir Kinder durften den ge- schmückten Baum nicht vor dem Abend sehen. An diesem Vormittag erkann- te er nun, dass die in der Dunkelheit in großer Eile gekaufte, billige Tanne ein so schön gewachsener Baum war, wie wir ihn noch nie gehabt hatten. Im Kerzenschimmer mit dem von uns Kindern aus Bonbonpapier gefertigten Schmuck war er ein strahlender Weihnachtsbaum. Wir fünf sangen die al- ten Weihnachtslieder, nur meine Mutter konnte nicht singen, kannte dafür aber die Texte mit allen Versen, die mein Vater jedes Jahr von neuem ver- gaß, denn in seinem dänischen Elternhaus waren diese Weihnachtslieder ja nicht üblich gewesen. Danach freuten wir uns über unsere Geschenke und 91 Ulla Johansen

auch noch einmal über diejenigen, die wir uns gegenseitig und für die El- tern genäht und geklebt hatten. Besonders meine dreijährige Schwester ju- belte vor Freude über das Bauernhaus mit Tieren und einer Bauersfrau, die meine Cousine und ich in den vergangenen Wochen aus fester Pappe und Farben für sie gebastelt hatten. Auf einmal bemerkte ich, dass mein Vater während der ganzen Aufregung auf einem Schemel hinter dem Weihnachts- baum gesessen hatte mit den Händen vor dem Gesicht. Weinte er etwa? Ich sah, wie meine Mutter zu ihm ging und mit ihm sprach. Danach erhob er sich und trat in den fröhlichen Kreis seiner Kinder. Im Januar fuhr mein Vater vom „Warthegau" ins „Altreich", wie es da- mals hieß. Seine Kollegen vom Hansischen Geschichtsverein hatten ihm eine Vortragsreise durch einige Hansestädte organisiert. Ein besonders großer Zuhörerkreis erwartete ihn in Hamburg. Er wunderte sich, dass nicht nur die Kollegen aus dem Archiv gekommen waren, sondern auch alle Historiker von der Universität und der Dekan der philosophischen Fa- kultät. Auch der Rektor der Universität war damals ein Historiker. Als mein Vater von dieser Reise zurückkehrte, begannen für meine Eltern noch sor- genvollere Zeiten. Mein Bruder erkrankte an TBC, und sie mussten den zehnjährigen Jungen in einem Kindersanatorium im Schwarzwald allein lassen. Ich bekam eine „Kopfgrippe", wie damals eine Meningitis genannt wurde. Sie mag sich auch dadurch entwickelt haben, dass beim BdM, bei dem wir nun antreten mussten, verlangt wurde, dass wir alle auch im Winter barhäuptig stundenlang marschieren und singen sollten und dabei zumindest uniformähnliche, für die Jahreszeit viel zu leichte Kleidung tragen mussten, in der wir entsetzlich froren, zumal wir es von Estland her gewohnt wa- ren, uns an Kopf und Körper warm anzuziehen. Ich bekam sehr hohes Fie- ber und verlor das Bewusstsein, so dass meine Eltern fürchteten, dass ich es nicht überleben oder doch schwere Hirnschäden davontragen würde. Auch meine Schwester war mager und kraftlos in dieser Zeit. Im März wendete sich unser Schicksal jedoch: von meinem Bruder war zu hören, dass die Ärzte seine Tuberkulose nicht für sehr gefährlich hielten und er zum Herbst wieder nach Hause dürfte, ich wurde vollständig ge- sund, und mein Vater erhielt die Nachricht, dass seine Stelle in Thorn be- willigt worden sei. Zur selben Zeit kam aber auch aus Hamburg der Ruf auf eine Dozentur schon für das kommende Sommersemester, die nach einem Jahr in die Stelle eines „planmäßigen außerordentlichen Professors für han- sische und osteuropäische Geschichte" umgewandelt werden sollte. Obwohl es in Thorn damals eine mehrheitlich deutsche Bevölkerung gab, wollten meine Eltern nur eines: fort aus dem besetzten Polen. Auch deshalb nahm mein Vater den Ruf an die Universität Hamburg sofort an und reiste schon zu Anfang April dorthin, um seine Arbeit aufzunehmen und für uns eine 92 Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg eigene Wohnung zu suchen. So zogen wir denn im Frühherbst 1940 nach Hamburg in eine schöne Sechseinhalb-Zimmer-Wohnung, die bis auf unse- re sechs Möbelstücke leer war, denn meine Eltern wollten Sniegockis Mö- bel nicht mitnehmen, obwohl sie, wie die „Braunen" erklärten, nun uns ge- hörten. Statt dessen kauften sie so viele neue oder gebrauchte Möbel, dass wir das Nötigste hatten. Mir ist der Eindruck geblieben, dass die ersten zwei Jahre in Hamburg sich für meinen Vater so glücklich gestalteten, wie in jener Zeit überhaupt möglich. Wir mussten zwar oft nachts in den Keller gehen, aber die Ge- fahr der Luftangriffe erschien noch nicht so groß. Mein Vater machte viele neue Bekanntschaften in Hamburg, und sein Verhältnis zu den Kollegen war freundschaftlich. Er hatte eine Gruppe interessierter und begabter Stu- denten, unter denen sich späterhin so namhafte Persönlichkeiten befanden wie der nachmalige Hamburger Archivdirektor Dr. Bolland, die Numis- matikerin Dr. Hatz, Dr. Katterfeld, die danach den bekannten Journalisten Dr. Nielsen-Stokkeby heiratete, die Kustodin am historischen Museum Dr. Schindler-Schwemer und der Germanist Professor Stackmann. Wie da- mals üblich, wurden sie am Semesterende auch zu uns nach Hause eingela- den. Die Lehre war eine neue Herausforderung für meinen Vater. Er berei- tete sich mit großer Sorgfalt auf seine Vorlesungen vor. Für seine Seminare fälschte er sogar mittelalterliche Urkunden-Texte, und die Studenten, die herausbekamen, dass der Text gefälscht war, und erklären konnten, warum er so nicht stimmen könne, bekamen die besten Noten. Zudem konnte er in den Semesterferien seine wissenschaftlichen Arbeiten zur hansischen und estländischen Geschichte weiterführen. Mit den Nazis hatten meine Eltern anfangs kaum zu tun. Es wurde zwar von meinem Vater verlangt, dass er Parteimitglied werden solle, aber er entgegnete, dass er die grundlegenden Schriften der Partei noch nicht gründlich habe lesen können und überlegen müsse. Mit seiner Einberufung zur Wehrmacht zwei Jahre später schien sich diese Frage auch erledigt zu haben. Zudem hatte er ja drei „arische" Kinder. Das reichte vorerst. Er musste nur zwei bis dreimal im Semester zu den Versammlungen des „N.S. Dozentenbundes" erscheinen, von denen er abends, verärgert über die Zeit- verschwendung, heimkehrte und am Abendbrottisch einiges von dem Un- sinn zum Besten gab, den der Vorsitzende, Professor Anschütz, dort ver- zapft hatte. Im Sommersemester 1942 wurde die Situation ernster. Der Syndikus der Universität war zu jener Zeit natürlich ein überzeugter Nationalsozia- list. Ich kann mich nicht daran erinnern, welches der Grund für die Span- nungen zwischen ihm und meinem Vater war. Jedenfalls hatte mein Vater irgendetwas geäußert, das aufwies, dass die Ansichten meines Vaters in vie-

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ler Hinsicht nicht mit dem Nationalsozialismus übereinstimmten. „Wenn Sie Ihre Meinung nicht ändern", soll der Syndikus gesagt haben, „dann hebe ich Ihre u.k.- Stellung auf." (u.k. = unabkömmlich und damit vom Wehrdienst befreit). Mein Vater war nicht von seiner Meinung abgewichen und hatte hin- zugesetzt, dass es ohnehin nicht recht wäre, dass die jungen und gesunden un- ter den Professoren zuhause bleiben dürften, wenn alle anderen Männer zum Wehrdienst eingezogen würden. Da er ja auch nicht in der Partei war, folgte nun im Spätsommer die Einberufung. Die weißen Leinen-Uniformen, welche die Rekruten damals für die ers- te Zeit anziehen mussten, waren 1942 bei der allgemeinen Textilknappheit oft schon vom vielen Waschen stark eingelaufen, und mein Vater war 1,80 m lang. Deshalb bedeckten die Ärmel und Hosenbeine dieser ohnehin wenig kleidsamen Uniformteile nur etwa Dreiviertel seiner Gliedmaßen. Bevor mein Vater nach den ersten sechs Wochen in der Kaserne zum ersten Mal Besuch empfangen durfte, rief er deshalb meine Mutter an und bat sie, die lachende Kinderschar zuhause zu lassen und erst einmal allein zu kommen. Als sie an der Pforte bat, den Rekruten Johansen herauszurufen, antwortete der Unter- offizier höflich: "Einen Augenblick, meine Dame, Ihr Sohn kommt gleich." Mein Vater verlor trotzdem nicht seinen eigensinnigen Humor. Er hatte un- gleiche Augen, das eine war schon weitsichtig, mit dem anderen sah er auch nahe Dinge noch ganz scharf. Deshalb hatte er sich in einem der Altwaren- läden, die er gelegentlich durchstreifte, ein Monokel gekauft. Dieses Mono- kel nahm er nun mit in die Kaserne und klemmte es sich in das schwächere Auge, wenn er in der zerknüllten Leinenuniform seine dicken Wollstrümpfe stopfen oder sein Gewehr reinigen musste. Damals war aber das Monokel- tragen nur bei den älteren Offizieren der höchsten Ränge üblich, obwohl in den Dienstordnungen der Wehrmacht nirgends stand, dass es einfachen Sol- daten nicht gestattet wäre. So machten die Unteroffiziere zwar bissige Bemer- kungen meinem Vater gegenüber, konnten es ihm aber nicht verbieten. Nach etwa drei Monaten, im Spätherbst, war seine Rekrutenzeit zu Ende, und er wurde nach Berlin in die Dolmetscher-Kompanie versetzt. So mussten wir zum ersten Mal ohne meinen Vater Weihnachten feiern. Danach begannen die Bombenangriffe auf deutsche Städte und damit die Kinderlandverschi- ckung. Um die Eltern zu zwingen, ihre Kinder in die Schul-Lager auf dem Lande mit fortzugeben, wurden auch im Hamburger Stadtgebiet alle Schulen geschlossen. So kamen mein Bruder und ich in die Kinderlandverschickung. Nur meine inzwischen sechsjährige Schwester blieb bei meiner Mutter, die sich wegen des Schulunterrichts gezwungen sah, nach Posen zurückzukeh- ren, wo ihre beiden Schwestern nach der Umsiedlung ihren Wohnsitz genom- men hatten. Auch ich kam nach einem halben Jahr dort unter, aber für meinen Bruder war kein Platz mehr. Die besetzten polnischen Städte wurden von den 94 Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg

Engländern und Amerikanern nicht bombardiert, so dass der Schulunterricht dort unbeeinträchtigt weitergehen konnte. Mein Vater war in dieser Zeit als Dolmetscher in die , nach Rovno, kommandiert und zum „Sonderführer" ernannt worden. Das war in der deut- schen Wehrmacht ein zeitweiliger Dienstrang, der Akademikern mit beson- deren Kenntnissen, aber ohne Offiziersausbildung oder dem Streben danach verliehen wurde, um ihnen das nötige Ansehen bei den anderen Offizieren zu geben, wenn man ihnen sehr verantwortungsvolle Aufgaben übertrug. Wenn diese beendet waren, wurden sie auf ihren eigentlichen Dienstgrad zurückge- stuft, der auch derjenige eines einfachen Soldaten sein konnte. Die deutsch- baltischen Männer, die fast alle keine Wehrausbildung, aber oft sehr gute Russischkenntnisse besaßen, wurden zu einem großen Teil „Sonderfüh- rer", wenn sie im Zweiten Weltkrieg deutschen Wehrdienst leisten mussten. Mein Vater hatte sich zwar am Beginn des Russland-Feldzuges freiwillig zur Wehrmacht gemeldet mit der Erklärung: „Nun geht es gegen den alten Erbfeind Livlands", war jedoch nicht genommen worden. In der Ukraine fiel ihm aber nun der Umgang mit der örtlichen Bevölkerung viel leichter als mit den anderen Wehrmachtsangehörigen, deren Unverständnis für das Land, in dem sie lebten, und ihr Nicht-Verstehen-Wollen er mit Fassungslosigkeit beobachtete. Als mein Vater zum ersten Mal von dort auf Urlaub kam, sah er zwar immer noch so jung aus, dass ich, wenn ich allein mit ihm ging, im- mer hoffte, einer Klassenkameradin zu begegnen, die mich um meinen schi- cken Kavalier beneiden würde — ich hätte ja nicht gesagt, dass es mein Vater war — aber er war doch viel ernster geworden und sang nicht mehr mit kräf- tiger, melodischer Stimme seine dänischen und Leipziger Studentenlieder wie früher, machte nicht mehr seine kleinen, naiven Zeichnungen zu Erzählungen über das Leben im alten Reval. Mein Vater hatte Urlaub bekommen, um in Hamburg seinen Besitz zu si- chern. Vor Antritt seines Wehrdienstes hatte er einen großen Teil seiner aus Estland mitgebrachten oder in Deutschland neu angeschafften Bücher zusam- men mit seinen Manuskripten aus unserer Wohnung in das historische Semi- nar gebracht. Darunter waren auch viele Aktenordner mit Exzerpten, die er in den 15 Jahren seines Revaler Archivdienstes gemacht hatte. Im Seminar wa- ren diese Materialien ja besser gesichert, weil es auch nachts dort Brandwa- chen gab, die im Falle, dass das Gebäude von Brandbomben getroffen wurde, löschen und die darin befindlichen Werte bergen sollten. Unveröffentlich- te Manuskripte wurden zudem in einem feuerfesten Panzerschrank aufbe- wahrt. Da mein Vater der jüngste unter den Professoren war, wählte er sich das unterste Fach dieses Schrankes, das den Nachteil hatte, dass er auf dem Fußboden kniend sich noch bücken musste, um an seine Manuskripte zu kommen. Nach den Bombenangriffen auf Hamburg im Juli 1943, die in drei

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Nächten fast 80 % der Gebäude der Stadt zerstörten oder beschädigten, war unser Haus zufällig noch erhalten, aber das Gebäude des historischen Semi- nars vollkommen heruntergebrannt. Die beiden wachhabenden Frauen wa- ren angesichts der Sprengbomben und des Feuers in den Häusern ringsum in Panik geraten und ohne Löschversuche oder Bergungsarbeiten nach Hau- se gerannt. Auch Professor Vehse, der Kollege, den mein Vater am besten kennengelernt hatte, und seiner Familie war es nicht gelungen, aus einem Bunker herauszukommen, dessen Stahltüren sich in der Hitze der Riesen- brände nicht mehr öffnen ließen so, dass sie darin wie in einem Ofen geba- cken worden waren. Der schwere Panzerschrank war durch die vom Feuer angegriffenen Decken des dreistöckigen Hauses in das Kellergeschoß und mit der Unterseite in nicht mehr glühende Trümmer gefallen, während es um seinen oberen Teil noch brannte. Als er im Beisein der überlebenden Professoren ausgegraben und mit großer Mühe geöffnet wurde, zeigte sich, dass er zwar dem Feuer widerstanden hatte, aber die Manuskripte darin braun und unleserlich geworden waren und bei jeder Berührung zerfielen. Nur aus dem untersten Teil, der schon von Schutt umgeben gewesen war, kamen zwar hellbraune und brüchige, aber noch leserliche Manuskripte zu- tage. So waren meinem Vater die Unterlagen für die nach dem Kriege er- schienenen Aufsätze zur Geschichte Estlands und die Bücher „Nordische Mission" und „Deutsch und Undeutsch" (zusammen mit Heinz von zur Mühlen) erhalten geblieben. Im Frühjahr 1944 wurde mein Vater ins Baltikum kommandiert, aber nicht nach Estland, sondern in die lettische Stadt Wenden (lett. Cesis). Mein Vater erklärte dem dort kommandierenden Oberst, dass er leider nicht dol- metschen könne, denn die Menschen sprächen hier lettisch und er verstünde nur estnisch. Darauf wurde der hohe Offizier zornig und schrie ihn an: „Est- nisch, lettisch! Mann, das ist doch alles dasselbe." Schließlich begriff er aber doch, dass es da irgendwelche kleine Sprachunterschiede geben musste. Des- halb befahl er meinem Vater dann in Gottes Namen in zwei bis drei Monaten diese lettische Sprache zu lernen. Mein Vater hatte schon in Berlin die Er- fahrung gemacht, dass es keinen Zweck hatte, mit hohen Offizieren lange zu argumentieren. Er suchte sich einen Lehrer, mit dem er jeden Tag mehre- re Stunden lettisch lernte, und benutzte den Rest der Zeit, um seine wissen- schaftlichen Arbeiten fortzuführen. Dazu, dass er als lettischer Dolmetscher tätig wurde, kam es aber nicht. Die Rote Armee stand schon an den Ost- grenzen Estlands, und mein Vater wurde an die Front bei Narva geschickt. Dabei kam er auch durch Reval und konnte Rosi besuchen, die inzwi- schen mit einem Eisenbahner verheiratet war. Mein Vater wurde Pate ihres kleinen Sohnes Jüri. Er durfte auch nach Söttküll (estn. Sötküla) fahren, um mehr über das Schicksal seines von den Sowjets deportierten Bruders und 96 Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg seiner Schwägerin zu erfahren. Meine Großmutter war auf Anraten der dä- nischen Botschaft noch rechtzeitig vor den Hinrichtungen und Deportati- onen und dem deutschen Überfall auf Russland nach Kopenhagen überge- siedelt, aber sein ältester Bruder hatte sich nicht von dem von Husen'schen Restgut seiner Frau trennen wollen, an dem er hing und das er zusammen mit ihr erfolgreich bewirtschaftet, sogar viele seiner Felder selbst gepflügt hatte. Den Ersten Weltkrieg hatte er in Dänemark erlebt und bei unserem Abschied erklärt: „Ich bin dänischer Staatsbürger. Zwischen den Dänen und Russen hat immer Frieden geherrscht. Was sollen mir denn die Rus- sen tun?!" Mein Vater erfuhr, dass er am 28. Juni 1941 zusammen mit sei- ner Frau verschleppt worden war. Damals war er schon mehr als anderthalb Jahre tot, am Hungertyphus in einem Lager in Karaganda verstorben, aber das war in Estland noch nicht bekannt. An der Narva-Front begannen einige Wochen später schwere Kampf- handlungen. Bei den zahlenmäßig unterlegenen Deutschen waren Waffen und Munition knapp. Dennoch gelang der Durchbruch den Russen in den ersten Tagen nicht. Bei dem starken Beschuss explodierte eine Granate hin- ter meinem Vater. Er hätte das nicht überlebt, wenn er nicht am Rande eines Sumpfes gestanden hätte. So sank das Geschoß tief in den Boden ein und verwundete ihn nur am Nacken. Er musste zurück zum Hauptverbandplatz, konnte aber nach vier Tagen wieder an die Front. Aber die Front, an der ei- sich befunden hatte, gab es nicht mehr und alle seine Kameraden dort wa- ren gefallen. Wäre er nicht verwundet worden, hätte ihn das gleiche Schick- sal ereilt. Nun musste er den deutschen Rückzug mitmachen. Eines der trau- rigsten Erlebnisse dabei war für ihn, von ferne zu beobachten, wie die schöne Altstadt von Narva in Schutt und Asche sank. Die deutsche Front zog sich bis nach Kurland zurück. Weiter nach Südwesten war der Weg durch den Durchbruch der Roten Armee bis zur Ostsee versperrt. Mein Vater gehörte also im Herbst 1944 zu den im sogenannten Kurlandkessel Eingeschlos- senen. Die höheren Offiziere konnten sich mit den wendigen Flugzeugen vom Typ „Fieseler Storch" in Sicherheit bringen, aber mein Vater hatte es seinem eigentlichen Dienstgrad nach gerade bis zum Unteroffizier gebracht und musste bleiben. Einer der Generäle hatte bereits ein neues Kommando bekommen, er sollte die Reste der russischen freiwilligen Vlasov-Armee in Holland im Kampf gegen die Engländer und Amerikaner kommandieren. Dafür brauchte er dringend einen guten russischen Dolmetscher in Holland und nahm meinen Vater mit. So konnte er mit einem der wenigen Flugzeuge den Kurlandkessel verlassen. Es gelang ihm danach, auch zu den armen, von ihrer Heimat, die sie hatten befreien wollen, isolierten und angstvoll das Ende des Krieges erwartenden Russen der Vlasov-Armee ein gutes Verhältnis auf- zubauen, auch nachdem sie noch einen verzweifelten Aufstand gegen die

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Deutschen unternommen hatten. Bei ihnen steckte er sich am Jahresende mit einer schweren Gelbsucht an. Mitte Januar 1945 erhielt er deshalb Urlaub, um seine Krankheit zuhau- se auszukurieren und kam zu uns nach Posen. Meine Eltern waren so über- glücklich darüber, dass sie wieder beisammen sein konnten und mein Vater alle Lebensgefahren überstanden hatte, dass sie von ihrer näheren Umgebung in den ersten Tagen nicht viel Notiz nahmen. Nur mein Bruder fehlte noch, und er wurde aus dem Kinderlandverschickungs-Lager im damaligen Protek- torat Böhmen und Mähren herbei telegrafiert. Am dritten Tage — es war der 20. Januar 1945 — erschien auf einmal die jüngste Schwester meiner Mutter und riss sie aus ihren Glücksgefühlen, indem sie fragte, ob wir denn nicht flie- hen wollten. Die Rote Armee stünde vor Posen. Es erwies sich schnell, dass wir mit dem Zuge die Stadt offenbar nicht mehr verlassen konnten. Schon der Platz vor dem Bahnhof war überfüllt von vielen Zehntausend aufgeregter Menschen, die alle noch fort wollten. Die andere Schwester meiner Mutter hatte aber Bekannte, die Familie eines Holzgroßhändlers, der einen noch nicht von der Wehrmacht beschlagnahmten Traktor mit Holzgas-Motor und zwei Anhängern besaß. Mit diesem verließen wir — zwölf in Steppdecken und Fe- derbetten gewickelte Menschen mit ein paar Koffern — bei 20° Frost die Stadt in der Abenddämmerung in Richtung Westen. Mein Vater musste dableiben, nicht nur um abzuwarten, ob mein Bruder, dem er mit einem zweiten Telegramm die Absage geschickt hatte, nicht doch noch kommen würde, sondern auch, weil der Kommandant von Posen ei- nen Tagesbefehl erlassen hatte, der alle wehrfähigen Männer, auch die Wehr- machtsangehörigen von anderen Standorten, zur Verteidigung der Stadt ver- pflichtete und ihnen verbot, sie zu verlassen. Damit war klar, dass mein Vater nicht lebend aus der Stadt kommen konnte. Wäre er bei den dichten Kontrol- len aber in unserem Fahrzeug entdeckt worden, wäre er wohl als Deserteur er- schossen worden. Der Abschied von ihm war unbeschreiblich schwer. Viel- leicht war es gut, dass er so schnell vonstatten gehen musste. Nach unserer Abfahrt ging mein Vater in die Stadt um zu sehen, ob auch seine Bekannten fortgekommen waren. Einen von ihnen, einen alten alleinstehenden Kollegen aus Lettland, sah er im Zentrum an einer Straße sitzen. Als er ihn begrüßte, fragte dieser verwirrt: "Lieberchen, was soll ich denn jetzt machen?" Mein Vater brachte ihn nach Hause, packte ihm einen nicht zu schweren Koffer mit dem Wichtigsten, auch den vorhandenen Lebensmitteln, und begleitete ihn zum Bahnhof. Dort stellte er fest, dass die Zahl der wartenden Menschen sich entscheidend verringert hatte, weil die Bahn in der Zwischenzeit viele Son- derzüge eingesetzt hatte, um die Deutschen nach Westen abzutransportieren. Daraufhin entwickelte mein Vater einen Plan zu seiner Rettung: Jeder Sol- dat weiß, dass die Wache frühmorgens, etwa von 2 bis 4 Uhr die schwerste

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ist. Die Wachen sind dann am verschlafensten. Mein Vater trug damals die beeindruckende Sonderführer-Uniform im zeitweiligen Majorsrang. In dieser schritt er am Morgen gegen 3 Uhr, als die deutschen Zivilisten bereits evaku- iert waren und im Bahnhof nur noch wenige Reisende warteten, mit dem vom General unterschriebenen Papier über seine Kommandierung nach Holland in der Hand mit strammem Gruß durch die Militärsperre zu den Gleisen. Sein Kalkül ging auf: der Wachhabende eines niedrigen Dienstgrades traute sich nicht, ihn aufzuhalten, und so setzte er sich in einen der letzten, fast leeren Züge Richtung Berlin und war noch am selben Abend in Hamburg. Unsere Fahrt ging nicht so schnell. Nach nicht einmal 200 km, in Lands- berg an der Warthe (poln. Gorzöw), versagte der Motor unseres Traktors. Die Werkstätten der Kleinstadt waren überlastet mit Reparaturen einer Un- zahl der jämmerlichen Fahrzeuge, welche mit dem Flüchtlingsstrom herein- gespült wurden. Wir erhielten die Auskunft, dass unser Traktor frühestens in zwei bis drei Tagen überholt werden könne, wenn er denn überhaupt repara- turfähig wäre. Der Bahnhof von Landsberg war genauso umlagert von angst- vollen Menschen, wie es der Posener gewesen war, aber hier — schon auf dem Territorium des „Altreichs" — wurden keine Sonderzüge zur Evakuierung der Bevölkerung eingesetzt, so dass ein Großteil der Menschen in der Eiseskäl- te dieses Januars tage- und nächtelang vergebens wartete, wobei viele kleine Kinder erfroren. Einer der beiden polnischen Chauffeure, die der Holzgroß- händler bezahlt und verpflichtet hafte, uns zu fahren, war am nächsten Mor- gen bereits verschwunden, und der andere wollte eigentlich auch nach Hause. Deshalb luden die Tochter des Holzgroßhändlers und ich ihn ständig in das nur noch halbgefüllte Kino der Stadt ein und ließen ihn zwischen uns Platz nehmen, damit er nicht fort könnte. So vergingen vier Tage und die Front rückte immer näher. In ihrer Verzweiflung machten sich die Flüchtlinge und viele Einwohner der Stadt in der Kälte zu Fuß auf den Weg nach Westen. Das war uns aber unmöglich, denn wir hatten drei kleine Kinder und meine geh- behinderte Großmutter dabei. Auf der Suche nach einem Ausweg schickte meine Mutter meinem Vater ein Telegramm nach Hamburg, obwohl sie an- nehmen musste, dass er nicht aus Posen herausgekommen war. Er hatte aber inzwischen einen schweren Rückfall seiner Gelbsucht mit hohem Fieber er- liften. Dessen ungeachtet, holte er sich sofort eine Genehmigung, fuhr mit einem der halbleeren Züge Richtung Osten und kam am nächsten Tage mit einer großen Schnapsflasche bei uns an. Seine Uniform und die gefüllte Fla- sche bewirkten, dass unser Traktor in nur zwei Stunden wieder ganz gesund wurde. Nun blieb mein Vater bei uns und setzte sich neben den Fahrer, wäh- rend wir anderen uns unter den Federbetten und dem sonstigen Gepäck ver- steckten, als wir — wieder in den kritischen Nachtstunden — die für Zivilfahr- zeuge bereits gesperrte Oderbrücke passierten. Mein Vater hafte auch diesmal

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Glück. Er zeigte seine Kommandierung nach Holland, und niemand kontrol- lierte den Inhalt des Fahrzeugs, sonst hätte er wohl mit einer schweren Stra- fe rechnen müssen. So kamen wir endlich nach Hamburg, aber die Krankheit, auf die mein Vater keine Rücksicht genommen hatte, bewirkte, dass sein vor- her schon eingeschränktes Gehör erheblich nachließ. Vor Kriegsende wurde die militärische Einheit meines Vaters in den deut- schen Teil Frieslands verlegt, wo sie vor den Engländern kapitulierte. Von dort bekamen wir im Juni 1945 eine Postkarte mit der frohen Botschaft, dass mein Vater am folgenden Tag entlassen werden sollte und nach Hause kommen wür- de. Wir putzten die zwei Zimmer unserer großen Wohnung, die wir selbst noch bewohnen durften, während in den übrigen drei ausgebombte oder geflüchte- te Familien in unseren neuen Möbeln lebten. Jedes Mal, wenn es klingelte, lie- fen wir alle zur Eingangstür, um ihn zu begrüßen, aber mein Vater kam nicht. So verging eine Woche, zwei Wochen, ein ganzer Monat, zwei Monate. Nun tauchten Gerüchte auf — etwa, dass alle aus dem Baltikum stammenden Solda- ten den Sowjets übergeben werden sollten, die sie bestrafen wollten. Es wurde schließlich Herbst, ohne dass wir irgendetwas über den Verbleib meines Va- ters gehört hätten. In der Universität begann mit dem Wintersemester wieder die Lehre, und der Dekan fragte an, warum mein Vater die Arbeit nicht aufge- nommen hätte. Wenn er nicht käme, könne ihm auch das Gehalt nicht ausge- zahlt werden. Meine Mutter litt an manchen Tagen an Depressionen aus Angst um meinen Vater und natürlich auch wegen des Hungers, der 1945-1948 in den Städten Deutschlands herrschte. Gegen Ende Oktober schließlich traf die Post- karte eines Unbekannten aus Oldenburg ein mit der Kurznachricht, dass mein Vater lebe und gesund sei. Reguläre Züge nach Oldenburg verkehrten noch nicht, aber ich fuhr nachts mit einem leeren Kohlenzug hin, denn es war ja of- fensichtlich, dass der Absender der Karte mehr wusste, aber schriftlich nicht mitteilen wollte. Was war geschehen? Die Engländer waren zu jener Zeit überzeugt davon, dass alle, deren Berufsbezeichnung das Wort „-rat" angefügt war, hohe Posi- tionen innehatten und folglich auch bei den Nazis eine wichtige Rolle gespielt haben mussten. Sie wurden nicht aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, bevor festgestellt war, was sie eventuell verbrochen hatten. Die Wehrmachtsangehö- rigen hatten bald heraus, dass sich die Engländer mit der deutschen Titelsucht nicht auskannten, und gaben nun bei der Entlassung statt des feinen „Studien- rats" „Lehrer", statt „Justizrat" „Richter" usw. an, was ja auch seine Richtigkeit hatte. Dies wiederum hatten die Engländer nach einer Weile begriffen, und die Entlassungskommission im Lager meines Vaters verlangte nun nicht mehr An- gaben zur Berufsbezeichnung, sondern zur Gehaltsgruppe und insbesondere, ob eine hohe Gehaltsgruppe zwischen 1933 und 1945 erreicht worden wäre. War dies der Fall, schlossen sie daraus, dass es sich um einen großen Nazi handeln

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müsse, und für ihn galt „automatischer Arrest". Hätten sie diese Annahme ge- äußert, hätte mein Vater sagen können, dass er ein Professorengehalt bezogen hatte und, dass er vor 1940 — vor dessen erstmaligem Erhalt — ja gar nicht in Deutschland gelebt hatte. Als Grund, weshalb er nun festgehalten wurde, stell- te sich aber erst 13 Monate später seine relativ hohe Gehaltsgruppe heraus, als sein Fall erstmalig überprüft und er danach am selben Tage entlassen wurde. Nun aber brachte man ihn ohne eine Erklärung in das Gefängnis von Aurich und danach in das Konzentrationslager Esterwegen, das die Engländer in den ersten Nachkriegsjahren, nun aber für diejenigen, die sie für Nazis hielten, wei- ter benutzten. Im folgenden Jahr wurde er von dort in das gleichartige Lager Fallingbostel verlegt. Mein Vater erzählte uns später, dass die ersten zehn Tage seiner Gefangen- schaft die schlimmsten waren, weil er nicht wusste, was mit ihm geschehen sollte. Würden ihn die ehemaligen Feinde erschießen? Aber warum ausgerech- net ihn? Mit ihm in der gleichen Zelle saß ein Staatsanwalt, der wegen seiner Erniedrigung weinte. Danach im Lager, wo Tausende aus dem gleichen Grund gefangen gehaltener Männer zusammenkamen, wurde bald klar, dass sie nicht erschossen werden sollten, sondern nur die Entscheidung der Engländer übel- ihre Schuld oder Unschuld abwarten mussten. Dennoch waren sie in Lebensge- fahr. Zwar quälte sie niemand mit Zwangsarbeit, im Gegenteil, die Beschäfti- gungslosigkeit wurde den Männern zur Belastung, aber ganz Deutschland hun- gerte damals, und es wurde ein großes Problem für die Engländer, aus dem vom Krieg zerstörten Land so viele Lebensmittel herauszuholen, dass nicht nur sie selbst genug zu essen hatten, sondern auch die vielen Tausende ausgehungerter Männer. Vielleicht spielte auch die Einstellung eine Rolle, dass ein wenig Hun- ger diesen Nazis nur recht geschähe. Jedenfalls begann im Lager nach drei Mo- naten das Sterben. Anfangs starben nur die Alten und Kränklichen am Hunger, dann auch diejenigen, die ihr Hungergefühl dadurch zu beruhigen versuchten, dass sie in großen Mengen den Kaffee-Ersatz tranken, den es als einziges reich- lich gab. Sie entwickelten dadurch große Ödeme, mit denen ihre vom Hunger geschwächten Herzen nicht fertig wurden. Am Jahresende wurde erlaubt, an die Angehörigen zu schreiben und um Lebensmittelpakete zu bitten. Auch wir er- hielten 1946 etwa alle zwei Monate eine kurze Karte und schickten meinem Va- ter zwei Pakete. Der größte Teil der Familien hungerte aber selbst. Schließlich starb in einem dieser Lager einer der deutschen Verwandten des britischen Kö- nigshauses, und die Zustände wurden offenbar. Nun kamen aus England große Pakete mit Fett, Ei- und Milchpulver, die reichlich verteilt wurden. Viele der verhungernden Männer verschlangen diese Verpflegung sofort, aber ihre ge- schwächten Verdauungsorgane konnten sie nicht verarbeiten. So schnellte da- durch die Todesrate noch weiter in die Höhe. Die Periode der überreichlichen Verpflegung war aber schnell vorüber.

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So wie mein Vater bei unserer Flucht aus Posen bewiesen hatte, dass er nicht nur ein weltfremder, in der Vergangenheit des Baltikums lebender Ge- lehrter, sondern eine praktische und rational abwägende Persönlichkeit war, plante er sein Vorgehen auch in der Situation des Kriegsendes sorgsam. Bevor er sich in die Kriegsgefangenschaft begab, kaufte er sich als Notverpflegung noch eine Liter-Feldflasche voll Rapsöl. Als er bei der Gefangennahme gefragt wurde, was in der Feldflasche sei, entgegnete er, das wäre Wasser, und ließ einige Tropfen der farblosen Flüssigkeit, die nicht roch, herunterfallen. „Das können Sie behalten", entschied der englische Offizier. Im Lager ließ er nun Tag für Tag einen Esslöffel voll von dem Öl in seine Wassersuppe oder auf sein Brotstückchen laufen. Das half ihm, die ersten paar Monate zu überleben. Auch beherrschte er sich und trank den Kaffee-Ersatz nicht, solange es nichts dazu zu essen gab. Dennoch wog er, als er nach 13 Monaten zu uns kam bei einer Länge von 1,80 m nur noch knapp 45 kg, so wenig, dass er kein Gesäß mehr hatte. Mein Vater hat in seiner Lagerzeit kein Kochbuch geschrieben wie viele Männer seiner Umgebung. Es half ihm aber über die Zeit hinweg, dass er ein Exemplar der Chronik Heinrichs von Lettland hatte behalten können, das er zur wissenschaftlichen Arbeit in der dienstfreien Zeit bei seinem Komman- do nach Holland mitgenommen hatte. Dazu schrieb er nun in seiner winzigen Handschrift Kommentare auf das im Lager äußerst knappe Papier. So entstan- den die 1952 und 1953 veröffentlichten Aufsätze über diese Chronik. Dane- ben gab er auch Unterricht in Geschichte und Sprachen, hörte Vorträge und hielt solche auch selbst. Einer der Mitgefangenen war Studienrat mit dem Fach Kunst. Er zeichnete ein Portrait meines Vaters mit seiner Gefangenenmütze in dieser Zeit des Hungers. Als ich an einem der letzten Tage vor den Sommerferien 1946 aus der Schule nach Hause kam, öffnete mir meine Mut- ter die Haustür mit den Worten: „Geh ins Zimmer, da wirst Du was sehen!" und einem so merkwürdigen Gesichtsausdruck, dass ich sofort nachzudenken begann, mit welchem Fehlverhalten ich sie wohl er- zürnt haben könnte. Im Zimmer saß mit dem Rücken zum Fenster ein grauhaariger älterer Mann mit einem weißen Bart. Ich schaute befremdet zu ihm hinüber, bis sein Gesicht etwas zu lächeln begann. Da er- kannte ich ihn und schrie: "Papa!" Wortlos umarmte er mich. Von da an waren für uns die schweren Kriegsjahre vorüber.

102 Heinz von zur Mühlen (1-) Paul Johansen und die sogenannten Undeutschen in Reval / Tallinn (Aus der Sicht eines Beteiligten) Das Thema dieses Beitrages ist eine Frucht jahrelanger Tätigkeit Paul Jo- hansens als stellvertretender Leiter, seit 1934 Direktor des Revaler Stadtarchivs (estn. Tallinna Linnaarhiiv) und später Universitätsprofessor in Hamburg, an der der Verfasser einige Jahre Anteil hatte. Gegenstand dieser Tätigkeit waren vorwiegend Fragen der Geschichte Revals, wenn auch nicht ausschließlich. Das Leben der Revaler „Undeutschen" muss vielmehr in einem weiteren geogra- phischen Zusammenhang gesehen werden und bekommt gerade dadurch seine eigene Bedeutung. Johansens Forschungen zu diesem Thema haben sich nicht in einem einzelnen Hauptwerk niedergeschlagen, sondern treten innerhalb ver- schiedener Beziehungsfelder in Erscheinung. Am 10./23. Dezember 1901 in Reval als Sohn dänischer Eltern geboren, war Paul Johansen mit seinen Interessen besonders stark in seiner Geburts- stadt, zugleich aber im Lande seiner Herkunft und damit auch im ganzen skandinavischen Raum verwurzelt. Für ihn lag es nahe, historische Quellen da auszuschöpfen, wo sie für ihn am nächsten zu erreichen waren, vorwie- gend in Reval und Estland. Unter „Undeutschen" wurden im Mittelalter ganz allgemein die ange- stammten, nichtdeutschen Bewohner Livlands verstanden, wie das Balti- kum damals hieß. Johansen war nicht der erste baltische Historiker, der sich mit den sozialen Verhältnissen in Stadt und Land befasste. Ein starker An- stoß für das Interesse an Sozialgeschichte war aus Deutschland durch August Meitzens Siedlungsforschung' gekommen, die auch die baltischen und fin- nischen Völker einschloss. Als Schüler von Rudolf Kötzschke an der Uni- versität Leipzig, der diesen Forschungszweig ausbaute und systematisierte, knüpfte Johansen an Methoden und Gedanken seines Lehrers an. Auf seine Forschungen zur Siedlung der Esten wird in einem anderen Beitrag in diesem Band eingegangen. Bei der Behandlung der städtischen Sozialverhältnisse hat- ten die Geschichtsschreiber, auch die baltischen Historiker, sich hauptsächlich auf die Gewerbe und das Zunftwesen konzentriert. Die „Undeutschen" als be- sondere ethnisch-soziale Erscheinung fanden erst seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts flüchtige Beachtung.2 Das änderte sich nach dem Ersten Welt-

1 August Meitzen: Wanderungen, Anbau und Agrarrecht der Völker Europas nördlich der Alpen. Abt. 1: Siedlung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen, 3 Bde. u Atlas, Berlin 1895. 2 Constantin Mettig: Über Undeutsche, in: Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte und Alter-

103 Heinz von zur Mühlen krieg, als Leonid Arbusow jun. das Thema speziell auf Riga bezogen auf- griff und sodann in seinem Hauptwerk über die Reformation in Livland das Schicksal der Esten und Letten behandelte.' Bald darauf fand Johansens Beschäftigung mit den Bewohnern Revals ihren ersten Niederschlag in einigen Publikationen des Revaler Stadtarchi- vs4 über zahlreiche estnische Namen und Esten zugeordnete Gewerbe. Das war der Ausgangspunkt für die Behandlung der Stadtbevölkerung nach eth- nischen Gesichtspunkten. Der erste zusammenfassende Aufsatz über die Revaler Esten erschien 1934 in estnischer Sprache, 1936 dann auf deutsch unter dem Titel „Der Este im Spiegel der Quellen des Revaler Stadtarchivs".5 Reval, so führte Jo- hansen aus, bot das Bild einer rein deutschen Stadt mit deutschem Recht, deutscher Sitte, deutscher Kultur und Baukunst und sogar deutscher Bür- gerschaft. Aber bei näherer Betrachtung trat ein buntes Völkergemisch von Esten, Schweden und Finnen, sogar Russen ins Blickfeld des Anreisenden; Fischerhäuschen, Trankochereien (selboden), Holzschauer und Vorstadtgär- ten machten einen fremdartigen Eindruck. Was frühere baltische Geschichts- schreiber als Proletariat der Städte aufgefasst hatten, zeigte nach Johansen eine erstaunliche Mannigfaltigkeit der Berufe. Wenig später folgte ein wei- terer Aufsatz „Deutsch und Undeutsch in Alt-Reval"6, womit die hier zu be- handelnde Thematik bereits im Titel angesprochen wurde. Da Johansen bei der Behandlung der Geschichte der Revaler Esten stets über den städtischen Schwerpunkt hinaus auch das Land im Auge behielt, muss in diesem Zusammenhang eines seiner Hauptwerke über die Geschich- te Estlands genannt werden: „Die Estlandliste des Liber Census Daniae".7 Stand hier die Vasallenschaft im dänischen Estland im Vordergrunde, so mussten doch auch die Stadt Reval und die dänische Herrschaft zwangsläufig mit einbezogen werden. Hier soll nur erwähnt werden, dass auch einige est- tumskunde der Ostseeprovinzen Russlands 1896, S. 61-65. 3 Leonid Arbusow jun.: Studien zur Geschichte der lettischen Bevölkerung Rigas im Mittelalter und im 16. Jahrhundert, Riga 1921 (Acta Universitatis Latviensis; Bd. 1); ders.: Die Einführung der Reformation in Liv-, Est- und Kurland, Leipzig 1921 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte; 3). 4 Die ältesten Kämmereibücher der Stadt Reval (1363 bis 1374) / hrsg. von Otto Greiffenhagen, Tallinn/ Reval 1927 (Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv; 3); Revaler Geleitsbuch-Bruchstücke 1365-1458 / hrsg. von Paul Johansen, Tallinn/Reval 1929 (Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv; Bd. 4); Libri de diversis articulis 1333-1374 / hrsg. von Paul Johansen, Tallinn/Reval 1935 (Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv; Bd. 8); Das Revaler Geleitsbuch 1515-1626 / hrsg. von Paul Johansen, Tallinn/Reval 1939 (Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv; Bd. 9); Arthur Plaesterer: Das Alt-Revaler Gewerbe der Piste- maker, in: Beiträge zur Kunde Estlands 13 (1927), S. 1-47. 5 Paul Johansen: Eestlane Tallinna Linnaarhiivi allikate kajastuses, in: Ajalooline Ajakiri 13 (1934), S. 180-188; auf deutsch: Der Este im Spiegel der Quellen des Revaler Stadtarchivs, in: Sitzungsberichte (wie Anm. 2) 1936, S. 10-20. 6 Paul Johansen: Deutsch und Undeutsch in Alt-Reval, in: Volksforschung 3 (1939), S. 41-59. 7 Paul Johansen: Die Estlandliste des Liber Census Daniae, Kopenhagen u. Reval 1933.

104 Paul Johansen und die Undeutschen in Reval nische Älteste von Gauen oder Dorfverbänden als Vasallen vom dänischen König belehnt wurden. Ihre Nachkommen gingen aber in der deutschen Va- sallenschaft auf, wenn sie nicht ausstarben, während andere in der Stadt bür- gerlicher Nahrung nachgingen. *** Durch die Umsiedlung im Herbst 1939 war Johansens Beschäftigung mit Reval und Estland nicht beendet, sie wurde aber doch für längere Zeit unter- brochen. Er hatte in den anderthalb Jahrzehnten von 1924 bis 1939 Materi- al in Form von Exzerpten in so reichlichem Maße gesammelt, dass sich da- raus geradezu zwingend die wissenschaftliche Auswertung ergeben musste. Vielleicht hatte er auch Andeutungen über solche Absichten verlauten lassen, spätestens nach Kriegsende. Jedenfalls waren unter ausländischen Kollegen gespannte Erwartungen geweckt worden, so bei dem finnischen Historiker Vilho Niitemaat, der sich selbst für die „undeutsche Frage" interessierte. Nach der Umsiedlung wurde Paul Johansen Professor für hansische und Osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg. Er blieb es mit kriegsbedingter Unterbrechung bis zu seinem Tod am 19. April 1965. Seine Materialsammlung hatte den Brand Hamburgs überlebt und war, vergilbt und angesengt, nach abenteuerlichen Irrfahrten wieder in seine Hände gelangt. Als erste Frucht aus diesem Boden reifte sein Werk „Nordische Mission, Revals Gründung und die Schwedensiedlung in Estland"9 heran. Hier wurden nicht nur drei scheinbar gesonderte Themen in einen inneren Zusammenhang gebracht, sondern zugleich auch Quellen zur Landes- und Stadtgeschichte und zur Revaler Einwohnerschaft im Mittelalter verarbeitet, die für die schwe- dischen und estnischen sozialen Schichten von Bedeutung waren. Reval war zeitweise „Einfalls- und Ausfallstor des Schwedentums an der Südseite des Finnischen Meerbusens"1° und beschäftigte zahlreiche schwedische Gewerbe- treibende. Aber für die Undeutschen waren die Quellen bei weitem noch nicht ausgeschöpft, sondern harrten noch der Auswertung. Für ein solches Vorhaben ließ der Universitätsbetrieb dem Hamburger Ordinarius nicht die nötige Zeit. Er brauchte also eine Hilfskraft, konnte aber auf seine Studenten nicht zurückgreifen, weil sie weder estnische Sprach- noch Landeskenntnisse hatten. So konnte ich, nach Beendigung des Studi- ums um Arbeit bemüht und als gebürtiger Revalenser über die erforderlichen Sprach- und Ortskenntnisse verfügend, eine Aufgabe übernehmen, die mich lange Zeit beschäftigen sollte.

8 Vilho Niitemaa: Die undeutsche Frage in der Politik der livländischen Städte, Helsinki 1949. 9 Paul Johansen: Nordische Mission, Revals Gründung und die Schwedensiedlung in Estland, Stock- holm 1951 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens Handlingar; 74). 10 Ebda., S. 7.

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Seit 1951 stand ich mit Paul Johansen in enger Verbindung. Gerade damals war das erwähnte Buch über die nordische Mission erschienen. Er überreichte mir ein Exemplar mit der Widmung: „Deutsch und undeutsch zugleich empfin- den zu können, in dieser Kunst wollen wir uns üben." Damit sollte zum Aus- druck gebracht werden, dass wir das Wort „undeutsch" wie im Mittelalter ohne herabsetzende Bedeutung als Sammelbezeichnung für Esten, Liven und Letten verstehen sollten. Das Motto entsprach auch der für den Historiker selbstver- ständlichen Forderung nach Unvoreingenommenheit und Objektivität. Die Arbeitsteilung ergab sich nach und nach aus Konzeption und Ausfüh- rung. Wie erwähnt, sollte das Thema in einen weiträumigen Zusammenhang gestellt werden. Die Einleitung über „die mittelalterliche deutsche Ostbewe- gung und die Völker des Ostens", über die „nichtdeutschen Bewohner ost- deutscher und nordischer Städte" und über „die sogenannten Undeutschen in Livland" wurde mir anvertraut (Kapitel I). Der Darstellung der allgemeinen Geschichte Revals von der Dänenzeit bis zum Ende der Herrschaft des Deut- schen Ordens (1561) diente ein Manuskript von Johansen, dessen Veröffentli- chung in den 1930er Jahren vorgesehen, aber nicht zustande gekommen war. Ihm wurde als Motto ein Wort des Stadtschreibergehilfen Ludolfus Winne- gale vom Jahr 1533 vorangestellt: Revalia est optima civitas in tota . In diesem Kapitel wird Reval in baugeschichtlicher Beleuchtung, seine Ver- fassung und Verwaltung (Rat, Gilden und Innungen), ein Überblick über Fi- nanzen, Handel und Handwerk sowie über die Kirche und das geistige Leben dargestellt. In einem dritten Kapitel hatte ich die Bewohnerschaft Revals im Mittel- alter, ihre Zahl, Herkunft, ihre soziale Gliederung und die nationale Schich- tung zu untersuchen und darzustellen sowie mit Kartenskizzen und Graphiken zu illustrieren. Zu Beginn unserer gemeinsamen Tätigkeit entwickelte Johan- sen mir seine Vorstellung von der Einwohnerschaft Revals als Pyramide mit deutscher Spitze und Oberschicht und vorwiegend ebenfalls deutscher bür- gerlicher Mittelschicht über den zahlenmäßig starken, in sich differenzierten sozialen niederen Schichten sogenannter „Einwohner" (invaner), meist Esten, zu einem geringeren Teil Schweden, auch Dänen und Finnen und einzelne Deutsche. Dies war die Konzeption eines wichtigen Hauptteils des geplanten Buches, der mir zur freien Gestaltung überlassen wurde. Als wichtigste Quelle diente mir eine Schossliste vom Jahr 1538, die Jo- hansen im Göttinger Archivlager, wo große Teile des Revaler Stadtarchivs aufbewahrt wurden, gefunden und kopiert hatte. In dieser Liste wurden die Schosspflichtigen, nach Straßen geordnet und mit Angabe ihrer Wohnver- hältnisse als Hauswirte, Vermieter oder Hausgenossen, mit Namen und Ge- werbe aufgeführt. Es fehlten nur die vom Schoss befreiten Geistlichen und nicht selbständigen Gesellen und häuslichen Dienstboten, deren Anzahl nach 106 Paul Johansen und die Undeutschen in Reval der Zahl ihrer Brotgeber — Kaufleute und Handwerker — nur geschätzt wer- den konnten. Die Familienstrukturen und damit die Gesamtheit der Einwoh- nerschaft konnten durch den Vergleich mit genaueren Zählungen aus späterer Zeit annähernd ermittelt werden. Es ergab sich mit rund 5.000 Einwohnern eine mit anderen hansischen Mittelstädten dieser Zeit vergleichbare Größen- ordnung. Hinzu kamen nach anderen Quellen ungefähr 700 Vorstädter au- ßerhalb der Stadtmauer und in Fischermay sowie rund 1000 Bewohner der Domstadt mit Ordensschloss, Bischofssitz, Vasallensitzen und Dombürgern, die rechtlich von der Hansestadt Reval getrennt waren. In den zwei inner- städtischen Kirchspielen St. Nikolai und St. Olai verteilten sich nach der er- wähnten Schossliste die Bewohner je nach Beruf und Gewerbe auf die Haupt- straßen und Nebengassen der Stadt. Auch das folgende, vierte Kapitel über „die Undeutschen in Wirtschaft, Verwaltung und Sozialleben der Stadt" gehörte zu meinem Anteil. Hier er- wies sich Johansens Materialsammlung aus der Revaler Zeit, zusammen mit gedruckten Urkunden und anderen Publikationen, als äußerst ergiebige Quelle. Den Anfang machte die Geschichte der Fischerei und der Vorstadt Fischermay, die hauptsächlich von Fischern und Bootsleuten bewohnt war. Am örtlichen Handel waren zahlreiche Angehörige der niederen Schichten beteiligt: Schmuck- und Kramhändler, Makler, Dolmetscher, Pferdehändler, Schiffer und andere. Zum Transportgewerbe gehörten Träger und Fuhrleute, die erwähnten Bootsleute und Mündriche (Leichterführer, zum großen Teil Schweden). Ein sehr bedeutendes Gewerbe war das Bauhandwerk, vor allem die Steinbrecher als Produzenten des für Reval so wichtigen Kalksteins und. die Steinwerter, die ihn für den Bau oder für den Export bearbeiteten. Zu ih- rer Innung, in Reval Amt genannt, gehörten auch eingewanderte Bildhauer, doch die meisten waren Einheimische. Die übrigen Handwerker, die man zur Mittelschicht zählen kann, waren meist Deutsche, zu einem geringeren Teil Schweden, während Esten vorwiegend als Hanfspinner das als Exportartikel wichtige Kabelgarn herstellten, in anderen Handwerken aber nur ausnahms- weise vertreten waren. Zur untersten Schicht gehörten Arbeiter in Manufak- turen, im Hafen und Handel. Es waren meist Esten, ebenso wie im häuslichen Dienstleistungsgewerbe, wo jedoch zu einem Drittel auch Schweden und Dä- nen beschäftigt waren. Zur Bewohnerschaft Revals gehörten schließlich noch die im Gesundheits- und Wohlfahrtswesen Beschäftigten sowie die Insassen von Spitälern und Siechenhäusern sowie Landstreicher und Dirnen. Im fünften Kapitel wird das Rechtswesen in Bezug auf die Undeutschen behandelt. Es gehörte ebenfalls zu meinem Arbeitsbereich. Gegenstand der Untersuchung sind das Bürgerrecht, das den Esten anfangs ungehindert ge- währt wurde und das Besitz- und Erbrecht an Immobilien mit einschloss. Im ausgehenden Mittelalter verschlechterten sich jedoch die Möglichkeiten 107 Heinz von zur Mühlen

für die Esten. Ebenfalls wurden das Straf- und Strafprozessrecht, der Geleit- schutz und die Frage der Behandlung der Läuflinge untersucht, die zu Kon- flikten zwischen der Stadt und der Harrisch-Wierischen Ritterschaft führte. Der Rechtsschutz, den Reval als Stadt lübischen Rechts seinen Einwohnern gewährte, war gewiss auch durch das Interesse an ihrer Arbeitskraft bedingt. Kapitel VI behielt sich Johansen selbst vor. Gegenstand dieses Teils ist die estnische Predigt und das kirchliche Leben in katholischer Zeit und während der Reformation, das estnische kirchliche Schrifttum, der Kirchen- gesang und die Betreuung der „Armen Schuljungen": eine durch Ratsbe- schluss ins Leben gerufene Institution (1550). Als Kabinettstück ist Johan- sens Darstellung der geistigen und materiellen Umwelt des Stadtesten nach Pastor Müllers Predigten (um 1600) in einer Rezension von Manfred Hell- mann gewürdigt worden. An Kapitel VII über „Trennung und Vermischung von Deutsch und Un- deutsch" beteiligten sich beide Autoren. Johansen befasste sich mit den sprachlichen Besonderheiten in Reval, mit Lehnwörtern und Redewen- dungen und mit dem Unterricht zur Erlernung der undeutschen Sprache. Ein Abschnitt handelt von estnisch-deutschem Waren- und Sachgüteraustausch: Spezialwaren für Esten und Spezialprodukte estnischer Herkunft. Mir blieb ein Abschnitt über „soziale und nationale Angleichung zwischen Deutschen und Esten", unter anderem Möglichkeiten zu sozialem Aufstieg und natio- naler Assimilierung, über die „Halbdeutschen" (katensassen, heute estn.: ka- dakasaksad), über „familiäre Beziehungen und deutsch-estnische Blutsmi- schung" und sozial abgesunkene Adelige, also mehr Einzelerscheinungen, die indessen nicht ausreichten, um Reval als Schmelztiegel der Nationalitäten zu bezeichnen. Anhänge über ausgewählte Quellen wie Burspraken, Hausordnung des Siechenhauses zu St. Johannis, Geburtsbriefe, Eidesformeln und anderes so- wie eine Auswahl von Familiennamen aus den unteren sozialen Schichten Revals bilden den inhaltlichen Abschluss des XXIV und 555 Seiten, ein- schließlich ausgiebiger Register, umfassenden Werkes. Doch damit habe ich der Entwicklung vorausgegriffen. * ** Unsere Zusammenarbeit in Hamburg, an die ich noch heute gerne zurück- denke, währte nur bis zum Herbst 1956. Ich habe in dieser Zeit viel von Jo- hansens Methoden gelernt und von seinen Kenntnissen und Anregungen pro- fitiert. Die Folge seiner starken Belastung als Universitätslehrer und Dekan war, dass er mir mehr zuschanzte, als er vielleicht ursprünglich beabsichtigt hatte. Da ich Hamburg 1956 aus beruflichen Gründen verließ, mussten wir uns auf den Schriftweg beschränken. Meine Ausarbeitungen schickte ich ihm per Post zu, er beantwortete meine Schreiben mit der „undeutschen" Anrede 108 Paul Johansen und die Undeutschen in Reval

„kallis Möölna härra" und ging, wo nötig, auf Einzelheiten ein. Johansens Ar- beitskraft wurde durch seine Krankheit seit den 1960er Jahren mehr und mehr beeinträchtigt. Durch seinen Tod im April 1965 war das halbfertige Werk ganz mir überlassen. Es dauerte ungefähr noch vier Jahre, bis ich das Buch in nebenberuflicher Tätigkeit vollenden konnte und weitere vier Jahre bis zur Auslieferung durch den Verlag und den Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat, in dessen Auf- trag und Reihe das Buch endlich 1973 erschien." Zahlreiche Rezensionen und persönliche Äußerungen zeigten recht positive Reaktionen. Hervorgeho- ben wurde das farbige Bild der sozialen und kulturellen Verflechtung der Na- tionalitäten, das reichliche namens- und personenkundliche Material und das Interessen- und Solidaritätsbewusstsein der Stadtbewohner. Ein umfangreicher Nachlass von Paul Johansen befindet sich heute im Lü- becker Stadtarchiv. Dazu gehören die Quellen und Vorarbeiten zu Johansens Publikationen, unter anderem zu den hier erwähnten Werken. Darüber hinaus enthält der Nachlass ein beim Tode Johansens unvollendet gebliebenes Werk über den Chronisten Balthasar Rüssow (ca. 1535-1600) und seine Chronik. In einem Vortrag in Stockholm im Jahr 1964, der in estnischer Übersetzung (durch Evald Blumfeldt) unter dem Titel „Balthasar Rüssowi päritolu ja mil- jöö"12 veröffentlicht wurde, hatte Johansen die Hypothese vertreten, dass der evangelische Pastor an der undeutschen Gemeinde der Revaler Heiligengeist- kirche estnischer Abstammung sei. Er sei der Sohn des städtischen estnischen Fuhrmannes Simon Rissa aus dem Dorf Kurla in der Nähe der Stadt. Baltha- sar sei durch sein Studium in Stettin sozial aufgestiegen und als Pastor in die deutsche städtische Gesellschaft integriert. Von einigen Adeligen wurde Rüs- sow als Bauernfreund und Undeutscher scharf angegriffen, doch fand er Rück- halt beim Revaler Rat. Seine Chronik fand weite Verbreitung, auch in Deutsch- land, und wurde mehrfach aufgelegt.13 Bei einigen estnischen Historikern stieß die Hypothese der estnischen Herkunft Rüssows auf Widerstand, was Johansen indessen nicht mehr erlebt hat. Er hatte ein größeres Werk über den Chronisten und seine Quellen in Ar- beit, um seine Ansicht eingehender mit Argumenten zu belegen. Dieser Plan lag ihm sehr am Herzen, und er hoffte zuletzt, dass einer seiner Schüler oder Nachfolger die Arbeit beenden würde. Es sollte nicht dazu kommen, obwohl die Auseinandersetzungen zwischen estnischen Kollegen und dem Schrift-

11 Paul Johansen und Heinz von zur Mühlen: Deutsch und Undeutsch im mittelalterlichen und frühneu- zeitlichen Reval, Köln, Wien 1973 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; 15). 12 Paul Johansen: Kronist Balthasar Rüssowi päritolu ja miljöö [Herkunft und Umgebung des Chronisten Balthasar Rüssow], in: Tulimuld 4 (1964), S. 252-260. 13 Chronica Der Prouintz Lyfflandt / Korth vnde loffwerdich beschreuen Deorch Balthasar Reussouwen Reualiensem. Rostock Anno MDLXXVIII. (Titel der ersten und der dritten Auflage von 1584).

109 Heinz von zur Mühlen

steller Jaan Kross, der in dem Roman „Das Leben des Balthasar Rüssow"14 Johansens These übernahm, eine wissenschaftliche Vertiefung des Problems geradezu erforderten. Jahre später trat der Wunsch der Witwe von Paul Johansen, Frau Erna Jo- hansen, an mich heran, die Arbeit über Rüssow zu übernehmen. Doch wegen anderer Arbeiten war ich dazu längere Zeit nicht in der Lage. Erst 1994 konn- te ich den Auftrag übernehmen. Dankenswerter Weise hatte Norbert Anger- mann, Schüler Johansens und später sein Nachfolger, bereits damit begonnen, das Manuskript mit Anmerkungen zu versehen. Mir fiel nun die Aufgabe zu, weitere Ergänzungen und Nachweise einzuarbeiten, vor allem die Biographie betreffend, und die Verbreitung der Chronik sowie die zeitgenössischen Re- aktionen darzustellen. Als das fertige Buch schließlich 199615 erschien, konn- te auch Frau Johansen die Erfüllung ihres Wunsches nicht mehr erleben. Zu meinem Anteil an diesem Buch muss ich noch bemerken, dass ich Jo- hansens Hypothese unverändert gelassen habe, nicht nur aus Pietät, sondern auch weil sie mich durchaus überzeugte. Dafür sprechen parallele Beziehungen von Vater und Sohn zum erwähnten Dorf, besondere Kenntnisse von Fischermay, dem Wohnort Simon Rissas, Vertrautheit mit dem Revaler Fuhrwesen und an- deres mehr. Dennoch konnten die Vorbehalte einiger estnischer Kollegen nicht ganz ausgeräumt werden. Somit bleibt die Ansicht Johansens als Hypo- these bestehen. Johansens Interesse an der Geschichte seiner Heimat hatte sich auf die Zeit bis zum Untergang Alt-Livlands 1561 und auf die ersten Jahrzehnte der Schwedenzeit konzentriert. Wenn trotzdem der Blick über diese Zeit hinaus gerichtet wurde, so geschah das zur Wahrung der Kontinuität und aus metho- dischen Gründen. Das gilt besonders für die Geschichte Revals und der Reva- ler Undeutschen, für die diese Bezeichnung noch bis zur Zeit der Aufklärung üblich war. Hierzu bietet das Revaler Stadtarchiv gerade für die frühe Neu- zeit noch reichliches Material, insbesondere auch statistisches über die Ein- wohnerschaft. Um Lücken zwischen Ergebnissen unserer gemeinschaftlichen Arbeit und anderen Untersuchungen zur Bevölkerungsstruktur Revals16 zu schließen, habe ich in den letzten Jahren versucht, den Ursprung der Reva-

14 Jaan Kross: Das Leben des Balthasar Rüssow. Roman, München 1999; Originaltitel estn.: Kolme katku vahel [Zwischen drei Pestepidemien]. Zur Kontroverse vgl. u.a. Küllike Kaplinski: Veel Balthasar Rüssowi päritolust [Noch einmal zur Herkunft des Balthasar Rüssow], in: Keel ja Kirjandus 2 (1988), S. 74-82. 15 Paul Johansen: Balthasar Rüssow als Humanist und Geschichtsschreiber. Aus dem Nachlass ergänzt und herausgegeben von Heinz von zur Mühlen, Köln, Weimar, Wien 1996 (Quellen und Studien zur bal- tischen Geschichte; Bd. 14). 16 Csaba Jänos Ken&: Beiträge zur Bevölkerungsstruktur von Reval in der zweiten Hälfte des 18. Jahr- hunderts, Marburg/Lahn 1978.

110 Paul Johansen und die Undeutschen in Reval ler (und Rigaer) Gilden zu erforschen,17 und bisher unveröffentlichte Quellen aus dem Revaler Stadtarchiv und aus dem Stockholmer Kriegsarchiv-18 ediert und kommentiert, um eine Übersicht über die gesamte Entwicklung der Ein- wohnerschaft Revals zu gewinnen. Es hat sich eine durchgehende Tendenz gezeigt, nachweisbar seit den ältesten kompletten Schosslisten (1369/72)19 bis hin zum Ende des 18. Jahrhunderts: Stetes Wachstum der Bevölkerung und zugleich eine weit mehr als proportionale Zunahme des estnischen Anteils, die im 17. Jahrhundert zur Entstehung ausgedehnter Vorstädte führte. Die Initiative zur Revaler Sozialgeschichtsschreibung, die Entwicklung der methodischen Quellenauswertung, die Bewertung ethnischer und gewerb- licher Verhältnisse, die Einbeziehung des Rechtswesens und kirchlicher Unterrichtung sowie religiöser Auffassung der Stadtesten in einen Ge- samtzusammenhang waren Anliegen von Paul Johansen und bildeten die Substanz seines Verständnisses der Sozialforschung, das in mancher Hin- sicht auch unter späteren Autoren Schule gemacht hat.

17 Heinz von zur Mühlen: Zur Frühgeschichte der Revaler Gilden, in: Reval. Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert / hrsg. von Norbert Angermann und Wilhelm Lenz, Lüneburg 1997 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 8), S. 15-42. 18 Die Revaler Munster-Rolle Anno 1688. Ein Verzeichnis der Bürger und Einwohner. Ediert und einge- leitet von Heinz von zur Mühlen, Lüneburg 1992 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 4); Heinz von zur Mühlen: Die Revaler Undeutschen im Nordischen Krieg nach 1710, in: Reval. Handel und Wandel (wie Anm. 16), S. 261-296; ders.: Zwischen Fischermay und Laksberg: eine siedlungs- und sozialgeschichtliche Studie über die Revaler Vorstadt im 17. und 18. Jahrhundert, in: Nordost-Archiv, N.F. 7 (1998), S. 97-137. 19 Heinz von zur Mühlen: Schosslisten der Stadt Reval 1369-1372. Ein Querschnitt durch die Bevöl- kerungsentwicklung Revals von der Frühzeit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel und Ostdeutschlands 48 (2002). S. 117-218.

111 Norbert Angermann Paul Johansen und Leonid Arbusow jun. Bei der Einstellung auf das Symposium in Tallinn erinnerte sich der Verfasser dieser Zeilen wieder besonders oft an seinen Lehrer Paul Johansen, dessen letzter Assistent er gewesen war. Zu diesen Erinnerungen gehören Besuche im Hambur- ger Universitätskrankenhaus, wo der schwer erkrankte Gelehrte seine letzte Le- benszeit verbrachte. Dort hing am Fuße seines Bettes an einer Schrankwand ein großes Bild mit einem Blick auf die märchenhaften Giebel und Dächer der Reva- ler Altstadt. Das mittelalterliche Reval hatte er so vor Augen und im Herzen, wäh- rend damals, im Jahre 1965, das reale Tallinn unerreichbar fern lag. Paul Johansen war der bedeutendste Mediävist Estlands, während für Leonid Arbusow dasselbe hinsichtlich Lettlands gilt. Dies dürfte es sinnvoll erscheinen lassen, einmal das historiographische Werk beider zusammen zu betrachten, wo- bei der Vergleich auch zu einer deutlicheren Erkenntnis der jeweiligen Eigenart der beiden Gelehrten führen könnte. Im Falle von Johansen und Arbusow liegt die Sache aber noch anders. Beide kannten sich gut, ja waren freundschaftlich miteinander verbunden. Zugleich kam es zu wissenschaftlichen Kontroversen zwischen ihnen, namentlich einer solchen nach dem Erscheinen von Johansens großem Aufsatz „Die Bedeutung der Hanse für Livland" in den „Hansischen Ge- schichtsblättern" von 19412 Die bekannte Reaktion Arbusows darauf bildet eine Gegenschrift, die unter dem Titel „Die Frage nach der Bedeutung der Hanse für Livland" 1944 in der Zeitschrift „Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelal- ters" erschien.2 Im folgenden möchte ich die Beziehungen zwischen diesen bei- den großen Forschern und besonders die genannte Kontroverse beleuchten. Ein Vergleich zwischen Johansen und Arbusow als Historiker wird von mir nicht di- rekt angestrebt, indirekt wird aber Wesentliches von dem deutlich werden, was sie unterschied. Ihre Gemeinsamkeiten, zu denen auch eine begrenzte Abhängig- keit von Begriffen ihrer Zeit gehört, müssen hier der Kürze halber zurückstehen. Mein Quellenmaterial besteht abgesehen von den genannten Veröffentli- chungen hauptsächlich aus einer Einheit des Depositums Paul Johansen im Lü- becker Stadtarchiv. In diesem Ordner befinden sich Materialzusammenstellungen Johansens zum Thema seines Aufsatzes von 1941, ferner diesbezügliche Briefe von Arbusow und Briefkonzepte von Johansen mit Thesen und Gegenthesen so- wie eine ungedruckte Variante der Gegenschrift von Arbusow mit dem Titel „Die Bedeutung der staatsbildenden und politischen Kräfte für Livland."' Erwartungs- 1 Paul Johansen: Die Bedeutung der Hanse für Livland, in: Hansische Geschichtsblätter 65/66 (1941), S. 1-55. 2 Leonid Arbusow: Die Frage nach der Bedeutung der Hanse für Livland, in: Deutsches Archiv fiir Ge- schichte des Mittelalters 7 (1944), H. 1, S. 212-239. 3 Archiv der Hansestadt Lübeck, Depositum Paul Johansen, Abt. I, Nr. 11. Vgl. Sulev Vahtre: Paul Jo- hanseni küsikirjaline pärand Lüübeki linnaarhiivis [Der Nachlaß Paul Johansens im Lübecker Stadtarchiv], in: Ajalooline Ajakiri 1998, H. 4 (100), S. 101-105, hier S. 103 f.

112 Paul Johansen und Leonid Arbusow jun. gemäß bot auch der Nachlass Arbusows im Marburger Herder-Institut Material über das Verhältnis zwischen den beiden Gelehrten.4 Darüber hinaus standen mir weitere Briefe und Postkarten von Arbusow an Johansen aus den Jahren 1943- 1950 zur Verfügung.' Während ich Paul Johansen an dieser Stelle nicht vorzustellen brauche, da er im Mittelpunkt weiterer Beiträge dieses Symposions steht, sei einiges über Leo- nid Arbusow junior gesagt.' Er wurde 1882 in Bauske/Bauska geboren als Sohn des bedeutenden Mediävisten Leonid Arbusow, der russischer Herkunft, aber bereits völlig im baltischen Deutschtum aufgegangen war. Arbusow der Jüngere schloss in Dorpat ein Theologiestudium ab, genoss dort aber auch bereits eine Schulung bei dem Historiker Richard Hausmann und ließ ein Geschichtsstudium in Göttingen folgen. Der junge Historiker nahm dann Tätigkeiten in Berlin sowie Riga auf und wurde im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 1917 mit der Abfassung einer Reformationsgeschichte der baltischen Provinzen beauftragt. Nach kriegs- bedingten Verzögerungen erschien 1921 seine viele Aspekte des livländischen Lebens berücksichtigende „Einführung der Reformation in Liv-, Est- und Kur- land." Wie man Johansens „Estlandliste des Liber Census Daniae" „wohl als [...] hervorragendstes Werk" der baltischen Geschichtsschreibung bezeichnet hat,7 apostrophierte Reinhard Wittram das Buch von Arbusow als „wohl die bedeu- tendste Einzeldarstellung der baltischen Geschichte."' Seine große Monographie öffnete dem Autor den Weg zu einer Geschichtspro- fessur an der neuen Lettischen Staatsuniversität in Riga. Aus diesem Amt wur- de Arbusow 1936 vertrieben, nachdem er gegen eine deutschfeindliche lettische Veröffentlichung zugunsten der Kulturhöhe des mittelalterlichen Livland und sei- ner deutschen Führungsschichten Stellung bezogen hatte. Arbusow war dann am deutschen Herderinstitut in Riga und nach der Umsiedlung der Deutschbalten an der sogenannten „Reichsuniversität" Posen tätig. In der Nachkriegszeit nahm er einen historischen Lehrauftrag an der Göttinger Universität wahr. Er starb 1951. Obwohl sich also im Jahre unseres Symposions sein Todestag zum 50. Mal jährt, hätte ein eigenständiges Gedenken an ihn, das ihm an sich zweifellos ge- bührt, insofern nicht in den Rahmen unserer nordosteuropageschichtlichen Ta- gung gepasst, als sein Werk nicht die räumliche Horizontweite aufweist wie

4 Herder-Institut Marburg, DSHI 100, Nachlaß Leonid Arbusow d. J., 33 (Korrespondenz 1923-1951). 5 Diese Schreiben übereignete mir Frau Erna Johansen. In absehbarer Zeit werde ich sie dem Archiv der Hansestadt Lübeck für das Depositum Paul Johansen übergeben. 6 Vgl. zum Folgenden Reinhard Wittram: Leonid Arbusow (1882-1951), in: Zeitschrift für Ostforschung 1 (1952), S. 109-114; Eduard Mühle: Deutschbaltische Geschichtsschreibung zum livländischen Mittelalter im Kontext der politischen Entwicklungen der 1920er bis 1950er Jahre. Zwei werkorientierte Fallstudien, in: Journal of Baltic Studies 30 (1999), S. 352-390 (über Arbusow S. 354-371, 382-384). 7 Olaf Welding, in: Katalog der Baltica Bibliothek von 0.Welding / hrsg. von Steen 0. Welding, Stade 1962, S. VI. 8 Reinhard Wittram: Die deutsche Geschichtsforschung in den baltischen Landen. Wandlungen, Ergebnisse, Aufgaben, in: Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg / hrsg. von Hermann Aubin u.a., Bd. 2, Leipzig 1943 (Deutschland und der Osten; 21), S. 447-460, hier S. 452.

113 Norbert Angermann dasjenige von Johansen mit seinen dänischen, schwedischen, finnischen, rus- sischen und vor allem hansischen Komponenten. Arbusows Arbeiten kon- zentrierten sich im Anschluss an das genannte reformationsgeschichtliche Buch auf Wolter von Plettenberg und behandelten dann die lettische Be- völkerung des mittelalterlichen Riga, die frühe deutsche Zuwanderung nach Livland sowie dessen mittelalterliche Schriftüberlieferung. Besonders inten- siv beschäftigte sich der Gelehrte mit der Chronik Heinrichs von Lettland, deren Neuherausgabe in einer Reihe der Monumenta Germaniae Historica vor allem ihm zu verdanken ist. Eine erste Auseinandersetzung zwischen Johansen und Arbusow hatte sich bereits 1933 ergeben. Johansen rezensierte damals Arbusows soeben er- schienenes Buch „Frühgeschichte Lettlands" (Riga 1933), wobei er auf knap- pem Raum eine große Zahl von Einwänden vorbrachte.9 In einer Stellung- nahme dazu widersprach der zwei Dezennien ältere Arbusow seinem jungen Opponenten in mancher Hinsicht, doch äußerte er auch, dass dieser „unzwei- felhafte Korrekturen" zu seiner Darstellung biete.1° Dieser Dialog verdeutlich- te, wie Johansen aufgrund seiner Ausbildung bei Rudolf Kötzschke in Leipzig der baltischen Forschung mit neuen Forderungen gegenübertrat. Er hielt Arbu- sow vor: „Die Siedlungsgeschichte, so jung sie als Wissenschaft auch ist, hätte wohl eine weitergehende Berücksichtigung verdient." Ferner bedauerte er, dass Arbusow „die Ortsnamenforschung zu wenig berücksichtigt" habe." Gerade auf dem Gebiet der Siedlungsgeschichte und hinsichtlich der Namenkunde hatte Jo- hansen in Leipzig wesentliche Anregungen erhalten» Wie erwähnt, erschien 1941 Johansens Aufsatz über die Bedeutung der Hanse für Livland, die, so der Verfasser, bisher „nicht hoch genug einge- schätzt" worden sei.13 Ein Schwergewicht der Johansenschen Darstellung liegt auf den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts, doch führt der Autor darüber hinaus für die Zeit bis ins 16. Jahrhundert Material an, das den großen Einfluss der Hanse, der livländischen Kaufmannschaft und der livländischen Städte auf die Geschicke des Landes belegen soll. Auf den ersten Seiten des Aufsatzes heißt es: „Man hat sich daran gewöhnt, Livland als Schöpfung wesentlich Bischof Alberts und seiner geistlichen und ritterlichen Mitarbeiter, vor allem auch des Schwertbrüderordens, anzusehen."14 Johansen dagegen meint, es sei „Livlands Erwerb in erster Linie das Verdienst der seetüchtigen deutschen Bürger und Kaufleute. Die deutsche Stadt, vor allem Riga, war die le-

9 Paul Johansen: Zur baltischen Frühgeschichte, in: Baltische Monatshefte 1933, S. 709-713. 10 Leonid Arbusow, in: Baltische Monatshefte 1933, S. 714-717. 11 Johansen, Frühgeschichte (wie Anm. 9), S. 710 f. 12 Vgl. Norbert Angermann: Paul Johansen als Historiker des alten Livland, in: Zeitschrift für Ostfor- schung 31 (1982), S. 561-573, hier S. 562. 13 Johansen, Bedeutung (wie Anm. 1), S. 2. 14 Ebda., S. 5.

114 Paul Johansen und Leonid Arbusow jun. bensspendende Mutter der Kolonie; mit ihr stand und fiel die ganze Existenz des livländischen Deutschtums."' Die Belege und Gedankengänge, mit denen der Autor seine Auffassung be- gründet, kann ich hier nur auswahlsweise anführen. Er legt dar, dass die früh- hansischen Kaufleute, die von Gotland aus das Gebiet des späteren Livland aufsuchten, das Ziel hatten, „einen Stützpunkt an der ostbaltischen Küste zu ge- winnen [...] um unabhängig von den schwedischen Gotländern Handel im Osten treiben zu können. Voraussetzung dafür war die Heidenmission; so stützten die Kaufleute das neue Unternehmen Meinhards nicht nur, es wird auch von ihnen ausgegangen sein."16 Johansen belegt sodann, dass Kaufleute in der Zeit Bischof Alberts an der Verteidigung Rigas und am Kampf gegen die Esten teilnahmen, um fortzufahren: „Das sind Einzelfälle der ausdrücklichen Erwäh- nung, wir dürfen aber annehmen, dass die Kaufleute und Bürger Rigas an allen größeren Kriegszügen der Livländer regelmäßig beteiligt waren."17 Zu Johan- sens Bild gehört ferner, dass die im 13. Jahrhundert jeweils für ein Jahr nach Livland zum Heidenkampf anreisenden sogenannten „Pilger" zu einem Groß- teil aus Bürgern deutscher Städte bestanden.18 Er verweist außerdem auf die Abhängigkeit Livlands von der hansischen Schiffahrt.19 Bei den inneren Aus- einandersetzungen in Livland sei es um die Herrschaft über Riga gegangen; dabei agierten nach Johansen „die Spieler auf der Szene", nämlich der Riga- er Erzbischof und der Deutschordensmeister, „oft wie spukhafte Schatten ne- ben dem ruhenden Pol des Landes, der mächtigen Handelsstadt Riga."2° Dies alles sollte allerdings nicht für die Neuzeit gelten, denn „ausschlaggebend war nun nicht mehr der Bürger, sondern der in Ritterschaften zusammenge- schlossene Adel".21 Leonid Arbusow reagierte auf diesen Aufsatz mit einem Brief aus Posen vom 13. April 1942, in dem Johansen, auf das unangenehmste überrascht, las: „Ich will in diesen Zeilen ganz freimütig sein. Der Aufsatz in den H.Gbl. [Han- sischen Geschichtsblättern] macht mir seit seinem Erscheinen ununterbrochen Kummer. Ich befürchte nur schlimme Folgen von ihm in der Heimat [...] wäh- rend er den Wirrwarr in den Köpfen der betreffs livl[ändischer] Gesch[ichte] ja schon sowieso unwissenden hiesigen Gelehrten und zahllosen Scribenten bis auf ein unerträglich Maß steigern wird." Des weiteren heißt es in dem Schreiben: „Wiss[enschaftlich] ist der Aufsatz in seinen Hauptbehauptungen gar nicht zu halten. [...] So beginne ich mit einer schriftlichen Aussprache zu Zweien, indem

15 Ebda., S. 4. 16 Ebda., S. 6. 17 Ebda., S. 8. 18 Ebda., S. 8 f. 19 Ebda. bes. S. 9 f. 20 Ebda., S. 43. 21 Ebda., S. 54.

115 Norbert Angermann ich Ihnen meine ärgsten Verletzungen schriftlich zustelle. [...] Ihr sehr trauriger, sehr erbitterter [...] L. Arbusow."22 Zu diesem Brief gehört eine erhaltene Ausar- beitung Arbusows, in der in nicht weniger als 25 Punkten Einwände gegen Jo- hansens Aufsatz erhoben werden, die zum Teil sehr scharf formuliert sind. Johansen antwortete bereits am 19. April 1942, wobei er zwei von drei Brief- anfängen durchstrich, was für seine innere Erregung spricht. Er nahm zu den 25 Punkten Arbusows Stellung und konfrontierte diesen mit weiteren 13 Fragen. Dies führte zu erneuten Reaktionen Arbusows. Bei den Kontakten zwischen beiden kam dann aber auch ein anderer Ton zur Geltung, und 1943 duzten sie sich. In der nicht mehr so aggressiven Druckfassung seiner Gegenschrift be- rücksichtigte Arbusow bereits Bemerkungen von Johansen, ohne dass die Gegensätzlichkeit der Meinungen verschleiert wurde. Die Position Arbusows lässt sich folgendermaßen auf das knappste zusam- menfassen: Bei der Missionierung und Eroberung Livlands waren die Bischöfe samt dem Ordens- und dem weltlichen Rittertum die eigentlichen Träger; die Kaufleute unterstützten das Vorhaben nur.23 Als weitere Gebiete, auf denen die Landesherren, der Klerus und die Ritter „entweder alles geleistet, oder viel größere, oder doch frühere Leistungen als der Kaufmann und die Städte voll- bracht haben", nennt Arbusow „Burgen-, Bistums-, Staatsgründungen, Regelung der Beziehungen zu Papst und Kaiser, geistige Kultur samt Geschichtsschreibung, Organisation der Besiedlung und der gesamten (einmal ausschlaggebenden) Wirt- schaft des flachen Landes, Grenzschutz und Landesverteidigung, oberste Führung des Ganzen."' Dies alles ist sehr bedenkenswert, bedarf aber einer Relativierung. Leider ist es hier nicht möglich, die vielen Einzelphänomene der altlivlän- dischen Geschichte ins Blickfeld zu ziehen, zu denen Johansen und Arbusow von ihrer jeweiligen Grundkonzeption her unterschiedliche Deutungen und Ge- wichtungen vornehmen. Man wird sagen können, dass Arbusow im Gegen- satz zu Johansen eine traditionelle Grundposition vertritt. Dies sieht in unseren ungedruckten Texten auch Johansen so. Er hält Arbusow in seinem Briefkon- zept vom 19.4.1942 vor: „Alle Ihre Schriften fließen über von Geistlichkeit und Orden, gerade wie Ihre Lehrer es taten."25 Dieser Satz erschien Johansen dann aber offenbar als zu scharf formuliert, er hat ihn im Konzept gestrichen. Auch. die Art der Geschichtsbetrachtung ist bei Arbusow traditioneller. Zu einer Äuße- rung von letzterem über die „Führerstellung gerade und stets der Nichtkauf- leute" schreibt Johansen „Daß die Führer zumeist Geistliche und Adlige wa- ren, habe ich nie bestritten. Das konnte im Mittelalter gar nicht anders sein. Mich interessieren aber auch die inneren Triebkräfte Livlands, nicht seine äu-

22 Archiv der Hansestadt Lübeck, Depositum Paul Johansen, Abt I, Nr. 11, unpaginiert (auch zum Folgenden). 23 Arbusow, Frage (wie Anm. 2), S. 213 ff. 24 Ebda., S. 238. 25 Wie Anm. 22 (auch zum Folgenden).

116 Paul Johansen und Leonid Arbusow jun.

ßere Fassade allein." Mit „inneren Triebkräften" sind nach dem Kontext sozi- ale Kräfte gemeint. Johansens Worte konnten auch in recht bissiger Weise ironisch werden. Er schrieb: „Riga war die Hauptstadt des Landes, ob Sie es wahr haben wollen oder nicht." Und dann heißt es durchgestrichen: „Aber Sie wünschen vermut- lich eine bürokratisch genaue Urkunde zu sehen, in welcher Riga dieser Titel verliehen wird? Damit kann ich allerdings nicht dienen." Im Druck ist keine Antireplik von Johansen erschienen, Arbusows Aufsatz von 1944 blieb sozusagen das letzte Wort. Doch ließ Johansen später erkennen, dass er mindestens im wesentlichen bei seiner Meinung geblieben war. So heißt es in einem Beitrag von ihm aus dem Jahre 1958: „Pioniere waren in Livland die Bürger, sie kamen als erste ins Land, ihnen dankt Livland den Grundaus- bau der deutschen Siedlung, welche Kraft zog und Leben schöpfte aus der Stadt und ihrem Handel."" Eine weitere Äußerung Johansens, bereits aus dem Jah- re 1950, lautet, „der ,Überspitzung'" in seinen Formulierungen stehe „eine ge- wisse Voreingenommenheit Arbusows gegenüber, was den Wunsch wach wer- den läßt, ein drittes, objektiveres Urteil über diese Frage zu hören."" Dieser Wunsch Johansens ist nicht in Erfüllung gegangen. Ein prädesti- nierter Dritter wäre wohl Manfred Hellmann gewesen, der sich zu der Johan- sen-Arbusow-Kontroverse aber nur folgendermaßen äußerte: „Der Streit da- rüber, wem die größere Bedeutung bei dem Werden Alt-Livlands zukomme, den Kaufleuten oder andern Kräften, ist insofern gegenstandslos, als die ei- nen ohne die anderen nicht zu denken sind."28 Im Lichte dieses Passus sehen beide Streiter nicht gut aus. Der Aussage, dass für das Werden Livlands alle Kräfte zusammenwirken mussten, wird freilich kaum jemand widersprechen, nur könnte man die Rolle der am Schicksal Livlands beteiligten Kräfte mit Johansen oder Arbusow un- terschiedlich gewichten, auch nach der scheinbaren Auflösung des Problems durch die kurze Formel Hellmanns. Aus meiner Sicht erscheint bei diesem Streit über eine vielschichtige, be- sonders schwer zu beantwortende Frage doch Johansen als der stärkere. Sein in der Literatur oft zitierter Aufsatz bot einen wesentlichen Anstoß zur Berück- sichtigung des hansisch-bürgerlichen Faktors in der livländischen Geschichte,29

26 Paul Johansen: Westfälische Wesenszüge in der Geschichte und Kultur Alt-Livlands, in: Der Raum Westfalen, Bd. IV: Wesenszüge seiner Kultur, Teil 1 / hrsg. von Hermann Aubin, Franz Petri, Herbert Schlenger, Münster 1958, S. 267-293, hier S. 270. 27 Paul Johansen, in: Hansische Geschichtsblätter 69 (1950), S. 162 (Anzeige des Aufsatzes von Arbusow). 28 Manfred Hellmann: Die Anfänge christlicher Mission in den baltischen Ländern, in: Studien über die Anfänge der Mission in Livland / hrsg. von dems., Sigmaringen 1989 (Vorträge und Forschungen; Son- derbd. 37), S. 7-36, hier S. 34. 29 Vgl. u.a. die Rezeption der Auffassungen Johansens bei Vilho Niitemaa: Der Binnenhandel in der Politik der livländischen Städte im Mittelalter, Helsinki 1952, S. 28 ff.

117 Norbert Angermann und ich stimme seiner Gewichtung dieses Faktors weitgehend zu. Für mich war es befriedigend, in der ungedruckten Replik Johansens auf die 25 Punkte Arbusows einen nachdrücklichen Hinweis auf die kulturgeschichtliche Rol- le der Hanse bzw. der livländischen Stadt zu finden. Johansen fragt, abermals durchgestrichen, jedoch durch Unterstreichung mit punktierter Linie wieder in den Text aufgenommen: „Sagen Sie nun bloß: wer hat denn nur alle diese Kulturwerte produziert, diese herrlichen Kirchen in den Städten bauen lassen, wer hat die erstrangigen Künstler und Kunstwerke ins Land geschafft, wer hat die Hospitäler (Schulen), die Gildstuben errichten lassen? [...] Welchem Stan- de verdankt Livland die Einführung der Reformation? Wer war mehr Welt- bürger, der Kaufmann, welcher in Deutschland, Skandinavien, Flandern, Eng- land usw. gelebt und gearbeitet hatte, oder der livl[ändische] Landadelige?" Unter Anwendung eines umfassenden Kulturbegriffs ließe sich die Argumen- tation in dieser Richtung erweitern. Zum Schluss noch einige Worte zum persönlichen Verhältnis zwischen den beiden Gelehrten. Selbst im Konfliktjahr 1942 kam neben scharfer Pole- mik gegen Johansen brieflich zum Ausdruck, dass Arbusow die „persönliche und wiss[enschaftliche] Gemeinschaft" mit dem Jüngeren „ungestört" aufrecht- erhalten wollte; und sogar im Hinblick auf den Aufsatz in den Hansischen Ge- schichtsblättern äußerte Arbusow: „ [...] dass ich, wie stets bei Ihnen, das aus- gebreitete Wissen, auch über ganz abgelegene Dinge, und den Bieneneifer beim erfolgreichen Materialfinden bewundere, dazu den Schwung Ihrer Worte." Die Briefe Arbusows aus den folgenden Jahren zeugen von einem herz- lichen Verhältnis, obwohl es in ihnen hauptsächlich um fachliche Themen geht. „Lieber alter Johansen" lautet dort oft die Anrede, und Frau Johansen erzählte mir, dass sich ihr Mann und Arbusow als „Lieberchen" anzureden pflegten. In einem Brief Johansens an den todkranken Freund vom 28. Janu- ar 1951 finden sich die bewegenden Worte: „Lieber Arbusow! Zu meiner Freude höre ich [...], dass es Dir jetzt besser geht. Das war ja eine sehr schwere Operation, Gott sei innigst gedankt, dass Du sie gut überstanden hast und Gott schenke Dir Deine Gesundheit wieder! Mich hat die Lebensgefahr, in welcher Du geschwebt hast, tief betroffen; ich habe so richtig bemerkt, was Du mir bedeutest. [...] Du bist der Einzige, der meine Elaborate wirklich beurteilen kann, der Einzige, auf dessen Kritik ich allerhöchsten Wert lege [...].' Und in einem letzten Brief vom 3. Februar 1951 heißt es: „Recht von Herzen wünsche ich Dir baldige Besserung und die Rückkehr zur geliebten Muse, der Clio li- vonica." Noch im selben Monat aber musste Johansen bei der Beerdigung Ar- busows in Göttingen von dem Freunde endgültig Abschied nehmen.

30 Wie Anm. 4, unpaginiert (auch zum Folgenden). 118 Enn Tarvel Paul Johansen als Siedlungshistoriker Estlands

Ich habe Paul Johansen öfters als den größten Historiker Estlands aller Zeiten gerühmt. Desto leichter ist es, ihn als Ahnen und Urheber der Sied- lungsgeschichte Estlands zu titulieren. Dies gilt umso mehr, als seine ersten wissenschaftlich schöpferischen Jahrzehnte in das Jugendalter der Siedlungs- geschichte als einer selbständigen Disziplin fallen. Die Siedlungsgeschichte als Disziplin innerhalb der Geschichtswissenschaft wurde im Jahre 1895 geboren — mit einem Schlage wie Pallas Athene aus dem Kopf des Zeus — durch die Veröffentlichung von August Meitzens kapitalem Werk „Sied- lung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Rö- mer, Finnen und Slawen". Meitzen selbst verwendete die Benennung Sied- lungsgeschichte nicht, und noch weniger war er bestrebt, diese Erscheinung zu definieren. Er verstand seine Forschungsaufgaben als agrarhistorisch und sah sein Ziel in der Feststellung der allgemeinen historischen und eth- nischen Zusammenhänge der vielfältigen Erscheinungen der agrarischen Welt.' Zu diesem Zweck betrachtete er alle Besonderheiten der Siedlung in Raum und Zeit. Übrigens wurde Meitzen noch 1932 im „Großen Brock- haus" bloß als Statistiker tituliert. Dieselbe 15. Auflage vermied auch noch eine Definition der Siedlungsgeschichte und nannte sie nur einen wichtigen Zweig der Siedlungskunde. Die Siedlungskunde aber wird dort als die Wis- senschaft beschrieben, die mit den Fragen der menschlichen Siedlung von dem historischen, volkskundlichen, sprachlichen, geographischen, landwirt- schaftlichen, volkswirtschaftlichen und bautechnischen Standpunkte be- schäftigt ist.2 Paul Johansen, der erste Siedlungshistoriker Estlands, ging jedoch wei- ter. In der „Estnischen Enzyklopädie" definiert er im Jahre 1932 die Sied- lungsgeschichte als einen der jüngsten Zweige der Geschichtswissenschaft, die aus der Heimatkunde und historischen Geographie entsprossen sei und heutzutage „das Gesamtgebiet der Beziehungen zwischen Mensch und Bo- den, Land und Volk begreift."3 Eine solche Definition klang damals mo- dern.

1 August Meitzen: Wanderungen, Anbau und Agrarrecht der Völker Europas nördlich der Alpen, Abt. 1: Siedlung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen, Bd. 1, Berlin 1895, S. 29. 2 Der große Brockhaus: Handbuch des Wissens in 20 Bänden, 15. Aufl., Leipzig 1928-1935, Bd. 12, 1932, s.v. Meitzen, sowie Bd. 17, 1934, Sp. 385. 3 Eesti Entsüklopeedia, Bd. 1, Tartu 1932, Sp. 627.

119 Enn Tarvel

Die Siedlungsgeschichte war also in Deutschland geboren und sie blieb lange, gewissermaßen bis zum heutigen Tage, ein Spezifikum für Mittel- und Nordeuropa. Die russische Geschichtswissenschaft etwa kennt die Sied- lungsgeschichte nicht. Die spezifischen Probleme der Siedlungsgeschichte — die Gestaltung, Anpassung und Ausformung der Siedlung parallel zur der Entwicklung der Kulturlandschaft — werden im Rahmen der historischen Geographie behandelt oder als Komponente der Agrargeschichte. Ebenso blieben in der sowjetestnischen Historiographie die Grenzen der Siedlungs- geschichte und der historischen Geographie meistens unbestimmt. August Meitzen war immer das große methodologische Vorbild für Paul Johansen in seinen siedlungsgeschichtlichen Forschungen. Er betrachtete seine Inauguraldissertation als ein Gegenstück oder vielleicht — wenn man es so sagen kann — als eine Ergänzung zum Meitzens Werk. Meitzen schrieb über „Siedelung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen", Johansen titulierte sein Werk „Sied- lung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter: ein Beitrag zur estnischen Kulturgeschichte".4 Es war ein Gegenstück, nicht nur dem Namen nach. Johansen entlehnte von Meitzen das Verständnis von dem entscheidenden Einfluss der ethnischen Momente auf Siedlungsformen und Landnutzung, von Meitzen her kommt auch das Unterstreichen der umstürzenden Wich- tigkeit der germanischen Kultureinflüsse. Weit wichtiger ist jedoch Meitzens methodologischer Einfluss auf Johansen. Von Meitzen her kommt die Ach- tung vor den Karten der landwirtschaftlichen Nutzflächen, von ihm übernahm er die Methode der komplexen Auswertung der Quellen. Johansens beson- deres Interesse an Flur- und Dorfformen geht ebenfalls auf Meitzen zurück. Die andere große Gestalt am Anfang der Laufbahn Paul Johansens als Siedlungshistoriker war sein akademischer Lehrer Rudolf Kötzschke (1867- 1949), der seit 1905 Professor in Leipzig und ein eifriger Förderer der Sied- lungskunde war. Bei ihm studierte Johansen, nachdem er zuvor ein Semester Geschichte in Kopenhagen gehört hatte. Kötzschke war der Meinung, dass die Siedlungsforschung imstande sei, eine einheitliche Gesamtanschauung der „Volksgeschichte" herauszuarbeiten.5 In gleicher Weise dachte Paul Jo- hansen, dass den Esten und Letten die Ortsgeschichte mit besonderer Beto- nung der siedlungsgeschichtlichen Grundlagen mehr bieten könne als die politische Geschichte oder Kulturgeschichte.6 Er war der Meinung, dass die

4 Paul Johansen: Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter: ein Beitrag zur estnischen Kulturge- schichte, Dorpat 1925 (Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat; Bd. 23) 5 Walter Uhlemann: Gegenwartsaufgaben vergleichender Siedlungsforschungen auf deutschem Volks- boden, in: Deutsche Siedlungsforschungen: Rudolf Kötzschke zum 60. Geburtstage dargebracht von Freunden, Fachgenossen und Schülern, Leipzig, Berlin 1927, S. 1-20, hier S. 4. 6 Paul Johansen: Siedlungsforschung in Estland und Lettland, in: Deutsche Siedlungsforschungen (wie Anm. 5), S. 217-234, hier S. 218, 223, 235; Paul Johansen: Eesti asustusuurimise ülesandeist [Von den

120 Paul Johansen als Siedlungshistoriker Estlands

Probleme der estnischen und lettischen Siedlungsgeschichte parallel und vergleichend behandelt werden sollten, um ihre historische und allgemeine Bedeutung besser hervorzuheben. Das war eigentlich dasselbe Bestreben, die Siedlungsforschung über alles politische Geschehen und den aus ihm her- rührenden Partikularismus zu heben, den Kötzschke auf dem politisch zer- splitterten deutschen „Volksboden" so ausgeprägt sah. Rudolf Kötzschke war ein anerkannter Ortsnamenforscher, Kenner des slavischen Namenmateri- als, welcher den Wert des toponomastischen Materials für die Siedlungs- geschichte und andere Disziplinen hoch schätzte. Dieser Spur folgte Paul Johansen, wenn er sich eingehender mit dem Ortsnamenmaterial des „Li- ber Census Daniae" beschäftigte. Er schrieb, dass er das Ortsnamenmaterial gruppiere, ohne sprachlich tiefer einzudringen.? Seine allgemeinen Beobach- tungen und die Ortsnamenbelege in der alphabetischen Reihe des Dörfer- verzeichnisses der Estlandliste sind meiner Überzeugung nach jedoch von bleibendem Wert und höher zu schätzen als einige onomastische Spezialun- tersuchungen. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erweiterte sich der Interessenkreis der Siedlungsgeschichte in Deutschland und Skan- dinavien auch auf bodenkundliche, klimakundliche und prähistorische For- schungen. Diese blieben jedoch deutlich entfernt von Paul Johansens In- teressen. Als er im Jahre 1930 die für siedlungshistorische Forschungen notwendigen Disziplinen aufzählte, nannte er Kartographie, Namenkunde, Archäologie, historische Geographie und Topographie, Genealogie, aber kei- ne naturwissenschaftliche Disziplinen.' Ich möchte glauben, er tat das nicht deshalb, weil er ein Forscher der geschriebenen Geschichte war, sondern vor allem wegen des Fehlens jeglicher entsprechender Vorarbeiten in Estland. Von Francis Bacon stammt der Sinnspruch, dass ein Gelehrter nicht einer Ameise gleichen darf, die bloß emsig Kram zusammenträgt, auch nicht einer Spinne, die nur endlose schwebende Spitzenkonstruktionen webt, sondern der Biene, die rastlos von allen Blüten Nektar sammelt und ihn danach zum duf- tenden, nährenden Honig umarbeitet. Paul Johansen war meiner Meinung nach eine sehr gelungene Kombination dieser drei gottgefälligen Geschöpfe, eine wirkliche „Arachnomyrmekomelissa". Wie eine emsige Ameise hat er bei seinen Archivforschungen, vor allem im Revaler Stadtarchiv, wert- volles Material gesucht und gefunden. Von seinen zahlreichen Quellenpu- blikationen sind mehrere mit der Siedlungsgeschichte Estlands verbunden.9

Aufgaben der estnischen Siedlungsforschung], in: Ajalooline Ajakiri 9 (1930), H. 1/2, S. 11-18, hier S. 11. 7 Paul Johansen: Die Estlandliste des Liber Census Daniae, Reval u. Kopenhagen 1933, S. 280. 8 Johansen, Eesti asustusuurimise (wie Anm. 6), S. 11. 9 Paul Johansen: Bruchstücke des Landbuches der Ordensmeister für Rujen und Helmet, in: Beiträge zur Kunde Estlands 21 (1937), S. 43-61; ders.: Beiträge zur älteren estnischen Agrargeschichte, ebda. 13 (1927/1928), S. 144-157, und 14 (1928/1929), S. 16-38; ders.: Analecta estonica, in: Ajalooline Ajakiri 9 (1930), S. 145-154 u. 207-215. 121 Enn Tarvel

Seine tiefgehenden Kenntnisse auf dem Gebiete der Hilfswissenschaften — Sprachwissenschaft, Paläographie, Heraldik, Sphragistik, Diplomatik u.a. — waren dabei sehr von Nutzen. Er selbst beutete seine Archivfunde bie- nenhaft aus, und oft gab ein Archivfund Impulse zu neuen Studien. Schon die Inauguraldissertation des 23-jährigen Forschers demonstriert eine funda- mentale Materialkenntnis. In dieser Arbeit überwog das publizierte Quellenma- terial, aber jede These wurde durch mehrere Quellenzitate belegt. Diese Belege zusammenzutragen war eine Riesenarbeit. Ebenso schreibt Hellmuth Weiss über die Monographie „Nordische Mission": „Die Fülle des Materials, das in diesem Buch vorgelegt und interpretiert wird, legt ein beredtes Zeugnis ab für den Fleiß und Sammeleifer eines für wissenschaftliche Problemstellungen aufgeschlossenen Archivars."1° Ein Zug von Paul Johansens Forschergestalt war jedoch auch die Nei- gung zum Konstruieren von schwach begründeten Hypothesen, oder ge- nauer: die Anwendung von nicht verifizierten Hypothesen als Argumente zur Begründung folgender Hypothesen. Das ist eigentlich leicht zu verstehen, warum und wozu. Außerordentlich reiche Kenntnisse, Drang der Ideen, üppige Phantasie, reichliches Quellenmaterial drängten bei jedem Faktum dazu, nach Verbindungen zu suchen. In der Gedankenarbeit entstanden neue Kontakte und Verbindungen. Nicht immer konnte der kritische Sinn des Forschers bei der Erwägung und weiteren Ausbeutung der Hypothesen hinreichend stark bremsen. Ich habe anderenorts entsprechende Beispiele vorgeführt, etwa anhand der Frage, ob der Haken zu Beginn des 13. Jahrhunderts schon eine Flächeneinheit nach der Aussaatmenge war." Paul Johansen bestimmte auf- grund dreier nicht bewiesener Hypothesen die jährliche Aussaatmenge mit einem Haken (vier bis sechs Tonnen), aufgrund einer vierten unverifizierten Hypothese folgerte er, dass diese Menge auf einem der zwei Dorffelder aus- gesät wurde, weiter aber wollte er damit die Vergrößerung des Hakens (auf eine Aussaatfläche von 8 bis 12 Tonnen) und die Einführung des Dreifelder- systems im 13. Jahrhundert beweisen. Viel bekannter und viel frappanter ist jedoch Paul Johansens Hypothe- senkomplex von der Entstehung des mittelalterlichen Reval (estn. Tallinn) aus drei Bestandteilen: einer Siedlung skandinavischer Kaufleute, einer Siedlung russischer Kaufleute sowie der Burg und dem Marktplatz der alten Esten. Paul Johansen trat mit dieser Theorie mündlich schon 1936 in Re- val hervor;12 im seinem Buch „Nordische Mission", publiziert 1951, wurde 10 Hellmuth Weiss: Paul Johansen, in: Der Archivar 19 (1966), S. 3; vgl. Paul Johansen: Nordische Mis- sion, Revals Gründung und die Schwedensiedlung in Estland, Stockholm 1951 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens handlingar; 74). 11 Enn Tarvel: Der Haken, Tallinn 1983, S.81-93. 12 Heinz von zur Mühlen: Zur wissenschaftlichen Diskussion über den Ursprung Revals, in: Zeitschrift für Ostforschung 33 (1984), S. 508-533, hier S. 509.

122 Paul Johansen als Siedlungshistoriker Estlands sie dann weiterentwickelt?' Zum Beweis rekonstruierte Paul Johansen den Stadtplan des alten Reva1,14 konnte aber keine mittelbaren (und desto weni- ger unmittelbare) Belege von der Existenz der Siedlungen der schwedischen und russischen Kaufleute im 11. oder 12. Jahrhundert, vor der dänischen Er- oberung vorführen, insbesondere nicht von dem Marktplatz der alten Esten. Die Hypothese wird von keiner glaubwürdigen schriftlichen Quelle und ebenso nicht von den bisherigen Resultaten der archäologischen Ausgra- bungen unterstützt.15 Paul Johansen verwendete zuerst vorsichtigere, hypothetische Formu- lierungen, z.B. „Alle diese Vermutungen über eine vordänische, christliche Gemeinde in Reval finden eine weitere Stütze in der späteren Ausdehnung des Landkirchspiels St. Olai."16 Oder: „Es müssen nämlich zur Handelsnie- derlassung der Gotländer in Reval auch gewisse Weiderechte gehört ha- ben.' Allerdings müsste man zuerst beweisen, dass es überhaupt solch eine Handelsniederlassung gab. Oder: „Schlagender sind eigentlich die Par- allelen zwischen Nowgorod und Reval."18 Danach aber werden diese Hypo- thesen vom Verfasser selbst schon als verifiziert akzeptiert: „Das Ergebnis unserer Stadtplanforschung für das St. Nikolai-Kirchspiel war die Fest- stellung einer prähistorischen Handelsstätte an der Wegkreuzung des Al- ten Markts."19 Oder: „Die Übereinstimmung der Ergebnisse aller vorge- brachten Forschungsreihen scheint mir doch so zwingend, dass die Existenz einer gotländisch-schwedischen Handelsniederlassung mit Kirche in Reval für das 11. und 12. Jahrhundert als beglaubigt gelten kann."2° Hier finden wir eine augenscheinliche Akkumulation tendenziöser Hypothesen vor, die letzten Endes nichts beweist. Dass der Hypothesen- komplex von Revals vordänischer Entstehung so positiv aufgenommen worden ist, war durch die nationalromantische Einstellung der estnischen Historiographie bedingt. Es ist nicht meine Absicht, weitere analoge Beispiele vorzuführen, da so ein falsches Bild von Paul Johansens bienenhafter, fruchtbarer Riesenarbeit auf dem Felde der Siedlungsgeschichte entstehen könnte. Seine Dissertation „Siedlung und Agrarwesen" ist heute noch ein großartiges Meisterstück und ein Nachschlagewerk; man kann sich vorstellen, was es vor 76 Jahren be-

13 Johansen: Nordische Mission (wie Anm. 10), S. 29-111. 14 Ebda, S. 29-48. 15 Enn Tarvel: Genesis of the Livonian town in the 13th century, in: Prusy — Polska — Europa: Studia z dziej6w sredniowiecza i czas6w wczenonowo2ytnych / hrsg. von Andrzej Radzimifiski und Janusz Tan- decki, Torure 1999, S. 291-297. 16 Johansen: Nordische Mission (wie Anm. 10), S. 106. 17 Ebda., S. 111. 18 Ebda., S. 84. 19 Ebda., S. 48. 20 Ebda., S. 87. 123 Enn Tarvel

deutete. So hatte noch keiner von der Siedlungs- und Agrargeschichte und überhaupt von der Geschichte der Esten geschrieben. Die deutschbaltischen Forscher hatten in ihren Werken, sogar in agrarhistorischen Forschungen, die Probleme der Siedlungsgeschichte völlig beiseite gelassen, die estnischen His- toriker aber waren der Aufgabe noch nicht gewachsen. Paul Johansen realisierte in seiner Studie seine Idee von der Bedeutung der Ortsgeschichte, der Sied- lungsgeschichte für die Völker, die lange Jahrhunderte einer eigenen aktiven politischen Geschichte entbehrt haben. In dieser siedlungs- und agrarge- schichtlichen Forschung wurde der estnische Bauer zu einem aktiven Fak- tor der Geschichte. Johansen zeigte die Ursprünglichkeit verschiedener In- stitutionen, etwa des Marksystems und der Landnutzungseinheiten. Die Einwirkung der Deutschen auf die estnische Siedlung, beispielsweise auf Dorfformen, Flurformen, den inneren Landesausbau (Neugründungen) ist im Licht der neueren Forschungen wohl übertrieben dargestellt - und ebenso auch der skandinavische Einfluss bei der Gestaltung der Kirchspielinstitu- tion. Andererseits hat Johansen in seinem Buch als erster in der Historiogra- phie Estlands Flurkarten als historische Quelle untersucht. Mit noch größerer Brillanz tritt Paul Johansens großes Analysevermö- gen und sein noch größeres Synthesevermögen sowie seine unermüdlicher Bienenfleiß in seinem Werk „Die Estlandliste des Liber Census Daniae" her- vor. Es ist ein Musterbeispiel. Das Pergamentoriginal der Estlandliste enthält 14 lose beschriebene Blätter, vielleicht anderthalb tausend Wörter, aber Paul Johansen schrieb darüber ein großes, inhaltsreiches Buch von tausend Seiten. Brevern, Bunge, sogar Schirren — ganz zu schweigen von Knüpffer oder Paucker — hatten vor ihm aus der Quelle kaum etwas ausfindig machen können. Johansens Buch ist jedoch nicht bloß eine siedlungsgeschichtliche Untersuchung. Gegenstand der Untersuchung Johansens ist, wie der Titel sagt, vorerst die Quelle selbst.21 In diesem Werk kommen politische Ge- schichte, Sozial- und Siedlungsgeschichte gleichermaßen zu ihrem Recht. Das Buch ist aus drei Teilen zusammengesetzt: erstens einem text- kritischen, zweitens einem siedlungsgeschichtlichen und drittens einem adelsgeschichtlichen Teil. Im siedlungsgeschichtlichen Teil ist die ganze siedlungsgeschichtliche Problematik des 13. Jahrhunderts bis ins einzelne analysiert, die späteren schriftlichen Quellen mit inbegriffen und erschöpfend genutzt. Johansen gibt eine grundlegende Analyse von den Landes- und Gau- grenzen von Harrien-Wierland (estn. Harjumaa-Virumaa), den Handels- und Heerwegen und dem Verkehr, von Siedlungsdichte und Siedlungsart, der Besiedlung des Strandes, von der Entstehung der Gutshöfe, von Wüstun-

21 Heinz von zur Mühlen: Die deutschbaltische Geschichtsschreibung 1918-1939/45 in Estland, in: Ge- schichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung / hrsg. von Georg von Rauch, Köln, Wien 1986, S. 339-369, hier S. 352.

124 Paul Johansen als Siedlungshistoriker Estlands gen, von Ortsnamen etc. Bis zum heutigen Tage ist in der estnischen Sied- lungsforschung nichts Vergleichbares geschaffen worden. Besonders schät- zenswert ist das Verzeichnis der Dörfer der Estlandliste, welches eigentlich beinahe 500 kurze Geschichten dieser Dörfer enthält, darunter deren Sied- lungsgeschichten vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Johansen schrieb im Jahre 1930, dass die Hauptaufgabe der estnischen Siedlungsforschung gleichzeitig eine wichtige nationale Aufgabe sei, nämlich das Schreiben der Geschichte des estnischen Dorfes, d.h. einer vielseitigen Untersuchung eines konkreten estnischen Dorfes.22 Man könnte behaupten, dass er drei Jahre später selbst die gestellte Aufgabe vielhundertfach erfüllt hat. Das Dörferverzeichnis ist nicht nur vom Standpunkt des „Liber Census Daniae" oder der Ortsge- schichte, sondern für die ganze Geschichtsforschung Estlands von grundle- gender Bedeutung. Das Buch „Die Estlandliste des Liber Census Daniae" ist wohl nicht fehlerfrei in Details, wie es anders ja auch nicht sein kann. Das ändert aber nichts. Wenn es etwas Bleibendes gibt, so soll dieses Werk in der Geschichte der estnischen Geschichtsforschung für alle Zeiten beste- hen. Und dasselbe muss man zum Schluss über das ganze Schaffen von Paul Johansen auf dem Gebiet der Siedlungsgeschichte Estlands sagen.

22 Johansen: Eesti asustusuurimise (wie Anm. 6), S. 18. 125 Klaus Friedland Erinnerungen an Paul Johansen Wissenschaft und Universitätsbildung in Deutschland sind durch den Einbruch kurz vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts, das Ende der Hitler- Diktatur und die Kriegsniederlage, auf unterschiedliche Weise getroffen wor- den. Der älteren, noch weiter amtierenden Professorenschaft, die vor allem unter völlig unzureichenden, weil zerstörten räumlichen und materiellen Aus- stattungen ihrer Lehrstühle litt, standen Studenten und jüngere Dozenten ge- genüber, beide durch kriegsdienstbedingte Altersverschiebungen etwa in einer Altersklasse und, nach Zahl und sozialer Herkunft, sehr verschieden vom Typ des Jungakademikers der bürgerlich-nationalen Bildungsträgerschicht früherer Zeiten. Dazu zerbrachen die Besatzungsmächte durch ihre Vier-Zonen-Grenz- ziehung und dann vor allem die deutschen politischen Parteien durch die Ost- West-Spaltung die für das Humboldtsche Universitätssystem unerlässlichen Verbindungen der Hochschulen, ihrer Professoren und Studenten miteinander. Paul Johansen, geboren am 23. Dezember 1901, gehörte weder zur Gene- ration der Altprofessoren noch zu den Neuakademikern der Nachkriegsjah- re. Sein wissenschaftlicher Werdegang ist durch eine frühere Zäsur markiert, eine für ihn auch nachhaltigere: die Zwangsumsiedlung der Deutschen aus den baltischen Staaten 1939. Eine Zäsur, kein Bruch. Johansen hat Wesent- liches herübergebracht und als charakterisierende Merkmale seiner weiteren Laufbahn beibehalten — er wurde in Hamburg ordentlicher Professor für ost- europäische Geschichte neben hansischer Geschichte und betreute Finnisch- Ugrisch, also die philologische Grundlage der Sprache seines estnischen Hei- matlandes, ganz abgesehen von den Quellenabschriften aus dem Revaler Archiv, die er zu späterer wissenschaftlicher Verwendung mitnahm.' In der Erinnerung der Freunde, Kollegen und Schüler sind diese beiden Lebensab- schnitte in der Persönlichkeit Paul Johansen beruflich und privat integriert. „Wir denken nicht einmal in erster Linie an den Gelehrten von europä- ischem Ruf', so empfand das Ahasver von Brandt 1965 bei seinen Worten des Gedenkens zur Hansischen Pfingsttagung in Magdeburg,2 „auch nicht so sehr an den Organisator und Träger wissenschaftlicher Arbeit [...]. Ein anderes [...] ist und bleibt für uns [...] doch wichtiger: die menschliche Wirkung, die Paul Johansen [...] auf den Kreis seiner Kollegen und Schüler und auf viele andere ausgeübt hat. Er strahlte eine freundschaftliche Wärme aus, der man sich schwer entziehen konnte. Dabei war er der bescheidenste Mensch."

1 Paul Johansen, Heinz v. zur Mühlen: Deutsch und Undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval, Köln u. Wien 1973 (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; Bd. 15), S. XXIII. 2 Ahasver von Brandt: Worte des Gedenkens an Paul Johansen, Magdeburg 9. Juni 1965, in: Hansische Geschichtsblätter 83 (1965), S. V-X, hier S. IX.

126 Erinnerungen an Paul Johansen

Nun ist es freilich eher ungewöhnlich, wenn bei einem Wissenschaftler Freundschaft, Bescheidenheit und Wirkung auf die Mitmenschen eher des Nachruhms für würdig erachtet werden als internationales Renommee, Orga- nisationsgabe und berufliches Ansehen. Offenbar war diese Charakteristik aber berechtigt, gerade auch was den Nachruhm anlangt. Denn täuschen wir uns nicht, dann haben sich die Qualitäten des Lehrers auch bei den Schülern nie- dergeschlagen, wenn man denn die in diesem Kreis ungewöhnlich zahlreichen freundschaftlich-persönlichen Beziehungen im Verbund mit dauerhaften Ge- meinsamkeiten wissenschaftlicher Arbeit in Vorständen, Ausschüssen, Insti- tutionen auf solche Ursprünge zurückführen darf.3 Auch Paul Johansens eigene Arbeiten spiegeln im Gesamtbild viel Per- sönliches. Von den knapp 150 Veröffentlichungen verschiedenartigsten Umfangs und Gewichts, angefangen bei Rezensionen und kurzen Erschlie- ßungsnotizen für Archivalien bis hin zu den monumentalen Werken der Editi- on des „Liber Census Daniae" und der methodischen Wegweisung der „Han- sischen Siedlungsgeschichte und Kartographie"4 konzentrieren sich die ethnischen und siedlungsgeschichtlichen Arbeiten auf den Revaler Lebens- abschnitt und die Jahre im Archiv, und in dem knappen Vierteljahrhundert an der Universität Hamburg betreffen die meisten — etwa 15, darunter die umfangreichsten — die Hanse. Inmitten, 1941, sozusagen als Einstiegswerk für die Hamburger Zeit, steht der umfangreiche Aufsatz über die Bedeu- tung der Hanse für Livland.5 Die wissenschaftliche Auswertung des Aufsatzes über Hanse und Liv- land hat, besonders der Nachkriegsschülerschaft, die Methodik, die Her- meneutik und das humanitäre Ethos Paul Johansens ins Bewusstsein ge- bracht und dazu verholfen, die Chancen historischer Erkenntnis mit mehr Zuversicht aufzunehmen als in den zwölf Jahren zuvor. Der Aufsatz ist wegen seiner neuartigen methodischen Ansätze begrüßt worden, er wur- de aber auch getadelt wegen Mängeln, die gemeinhin bei einem wissen- schaftlichen Beitrag nicht durchgehen. Man lobte, Johansen, der 1924 von Rudolf Kötzschke in Leipzig mit der Dissertation "Siedlung und Agrar- wesen der Esten im Mittelalter"' promoviert wurde, habe die „siedlungsge- 3 Verzeichnis der Schülerarbeiten in: Rossica Externa: Festgabe für Paul Johansen zum 60. Geburtstag / hrsg. v. Hugo Weczerka, Hamburg 1963, S. 187 f. 4 Schriftenverzeichnis, zusammengestellt von Friedrich-Karl Proehl in: Rossica Externa (ebda., S. 178- 186; zu ergänzen für 1962-1965 mit den Angaben bei Ahasver von Brandt (wie Anm. 2), S. VII, Anm. 1, sowie mit der vollständigen Zusammenstellung aller Publikationen seit 1962 von Hugo Weczerka: Ver- zeichnis der Veröffentlichungen Paul Johansens seit 1962, mit Nachrufen und ihm gewidmeten Beiträgen, in: Norbert Angermann, Wolfgang Veenker, Hugo Weczerka: Gedenken zum 80. Geburtstag von Paul Johansen, in: Zeitschrift für Ostforschung 31 (1982), S. 589-592. 5 Die Bedeutung der Hanse für Livland, in: Hansische Geschichtsblätter 65/66 (1940/41), S. 1-55. 6 Gedruckt als: Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter: ein Beitrag zur estnischen Kulturge- schichte, Dorpat 1925 (Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft; Bd. 23).

127 Klaus Friedland

schichtliche Methodik bester Kötzschke-Schule" herangezogen und sei durch „die Fülle der Fakten, Quellenhinweise und neuen Gesichtspunkte" zu einem "echten Neuansatz hansischer Forschung" vorgedrungen.? In der Tat: Johan- sen hat dann, über fast zwei Jahrzehnte, von diesem Ansatz her und mit dieser Methodik seine Forschungen fortsetzen und erweitern können und sie schließ- lich auf den ganzen hansischen Raum ausgedehnt in den „Umrissen und Auf- gaben der hansischen Siedlungsgeschichte und Kartographie', der genialen Verbindung des Archivar-Instrumentariums mit dem Erkenntnisobjekt von Forschung und Lehre, eine zumal dem Stand der Quellenkunde damals und noch bis heute voraus-eilende Leistung. Andererseits wurde am Livland-Aufsatz von 1941 getadelt, der „hansische Anteil am Werden und Sein von Altlivland" sei thesenhaft überspitzt, sogar bewusst einseitig betont worden. Johansen habe sein „thematisches Grund- anliegen an das von Fritz Rörig erregte neue Verständnis der hansischen Ur- sprünge" angelehnt. Rörigs neues Verständnis der hansischen Ursprünge, for- muliert in dem Aufsatz „Reichssymbolik auf Gotland"' war eine spekulative Übersteigerung der geschichtlichen Rolle einer Kaufmannsgruppe, die von Rörig zu. Repräsentanten der Einheit des deutschen Kaufmanns von der Ijs- sel bis ans baltische Ufer erhoben worden war und die für ihn als die „vereh- rungswürdige Ursubstanz hansischer Geschichte" galt. Kaufleute des Reichs seien sie gewesen, so Rörig an anderer Stelle, Auftragnehmer des Kaisers für die wirtschaftspolitische Erschließung des europäischen Ostens. Rörigs Formeln waren fünf Jahre später überständig, auch wissenschaftlich nicht mehr ergiebig. Für die Zeitgenossen, Kollegen und Schüler ist dieses Gestaltungsmodell der Hanse aber zunächst unumgänglich gewesen. Dass es kritisch bewältigt werden konnte, hat neben Anderen Paul Johansen einge- leitet, behutsam zunächst und durchaus abgesetzt von dem damals, Anfang der vierziger Jahre, noch gewohnten Thesenschwall. Man braucht, dies zu fin- den, eine womöglich feinere Sensibilität, kann aber in dem Livland-Aufsatz lesen, „daß man die deutsche Hanse nicht nach ihrer grundsätzlichen Stel- lung im Reich, viel eher nach ihrer tatsächlichen Entwicklung im Auslande von Fall zu Fall beurteilen" müsse, das entsprach gar nicht Rörigs reichs- geschichtlicher Kaufmannswertung. Und eingeleitet ist der Livland-Aufsatz mit einem Worte des Chronisten Heinrich von Lettland über die Deutschen Kaufleute: "Soli mercatores theutonici celestia sibi desiderant mercari"1° wie mit einem Motto, in seiner Wirkung auf den Leser zunächst auch als ein solches beabsichtigt. Aber im Text geht es dem Leitmotiv dann kritisch zu 7 So die zusammenfassende Wertung durch Ahasver von Brandt (wie Anm. 2), S. VIII. 8 In: Hansische Geschichtsblätter 73 (1955), S. 1-105. 9 In: Hansische Geschichtsblätter 64 (1940), S. 1-67. 10 Heinrich von Lettland: Livländische Chronik = Chronicon Livoniae, Darmstadt 1975 (Ausgewählte Quellen zur deutsche Geschichte des Mittelalters; 24), XXX 1 (1227).

128 Erinnerungen an Paul Johansen

Leibe: Detailnachrichten erweisen, dass Heinrichs Lobpreisungen vorbela- stet sind durch die Auffassung, die Kaufleute seien nur dazu da, dem Bischof treue Gefolgschaft zu leisten und ihm Waffen und Pferde zu liefern, was die ande- ren — Gotländer und Dänen — nicht taten." Johansen hat die Überprüfung und Bewährung seiner Methode in der Auseinandersetzung mit überkommenen Auffassungen fortgesetzt in den „Umrissen und Aufgaben der hansischen Siedlungsgeschichte und Kartogra- phie"» Er machte Hinweise, Belegstellen, Fundstätten für kartographisch- topographisches Material verfügbar für die Geschichte eines bis dahin nur auf seinen „communalen Geist", seine Rolle für die deutsche Seegeltung, seine „wirtschaftsgeschichtliche Machtentfaltung" untersuchten Verbandes, gewonnen aus den Ergebnissen der historischen Geographie, Kartographie, Siedlungskunde und insonderheit den boden- und bautenkundlichen Ergeb- nissen der Stadtarchäologie. Er hat das schriftliche Quellengut, die uner- schütterte Basis der klassischen, der historisch-philologischen Methode kei- neswegs verachtet, es vielmehr auf Platz und Raum bezogen. Er war sich im Klaren, dass er damit „bestimmt nicht (den) Zweck des Verbandes [...], wel- cher sich Deutsche Hanse nannte", verfolgen und erreichen konnte, glaubte jedoch zuversichtlich, „angesichts der schweren Faßbarkeit des inneren und äußeren Wesens der Hanse" auch mit seinem ungewöhnlichen Versuch zur „Klärung ihrer Eigenart" beitragen zu können. Noch im selben Aufsatz hat Johansen an Einzelbeispielen gezeigt, wie aus historischen Manifestationen menschliches Verhalten und Gestalten erkennbar wird. Im Abschnitt „Die Kaufmannskirchen" ist zusammenge- stellt, wo bestehende oder ehemalige Kirchen mit dem Bedürfnis von rei- senden Kaufleuten nach einem eigenen Gotteshaus in Verbindung gebracht werden können: Kirchen im Bereich des hansischen Wirtschaftssystems — Alt-Lübeck, Alt-Rostock, Livland —, an seinem Rande — Magdeburg, Er- furt —, und außerhalb — in den nordischen Ländern, auch Portugal; sie lassen sich deuten als Kristallisationspunkte für Identitäten, als Überlagerungen, als Ausgrenzungen. In gleichgerichteten Bemühungen hat Johansen das Be- ziehungs- und Funktionengeflecht „Deutsch und Undeutsch im mittelalter- lichen und frühneuzeitlichen Reval" erarbeitet und auf wertungsfreie Ge- genüberstellung von Deutschen auf der einen und Esten, Letten, Liven auf der anderen Seite zurückgeführt. Er hat sich dabei auch das Fass mit „ge- druckten deutschen und undeutschen Messen" nicht entgehen lassen — das waren lutherische Schriften in deutscher, livischer, lettischer und estnischer Sprache, die 1525 für Riga bestimmt waren.13 Sie sind unterwegs beschlag-

11 Johansen: Bedeutung (wie Anm. 5), S. 1, 5, 7. 12 So Johansen selbst in: Umrisse und Aufgaben (wie Anm. 8), S. 1. 13 Paul Johansen: Gedruckte deutsche und undeutsche Messen für Riga 1525, in: Zeitschrift für Ostforschung

129 Klaus Friedland nahmt worden, was für die Entwicklung undeutscher Literatursprachen ein empfindlicher Schlag war. Anders wäre, hundert Jahre später, wohl auch Paul Fleming nicht derart in Verlegenheit gekommen, als er sich in Reval die mehrsprachige Klage einer ängstlichen Braut anhören musste, sie aber nur teilweise verstand:

„Die Braut, bald rot, bald blaß, fing endlich an zu reden: ,wat schal ich arme kind? Gott wet, wat sy my deden! ' Das ander ,Ycks-kacks-kol' hub sie auf undeutsch an, das ich noch nicht versteh, und auch kein Gott nicht kann".14

Paul Johansen habe, so sahen das Freunde und Kollegen, „das Hansische in [...] einmaliger Weise [...] verkörpert", als Sohn „einer der größten und echtesten Hansestädte, [...] Reval", habe sich auch "in dem großen Ostsee- bereich [...] wohl und zu Hause gefühlt [...] und [...] eine echte Liebe zu den Volkstümern der baltischen Küsten empfunden".15 Paul Johansen hätte das wohl angenommen, sich aber gewiss nicht als den Repräsentanten eines Verbandes oder als Mitglied eines Vereins ver- standen. Er war Freund, Gefährte und Kollege von Hanseaten gleich Paul Fleming, dem Barockdichter (1609-1640), der den grünen Belt besang, nicht weil er die Seefahrt sonderlich liebte, sondern weil die Ostsee — das ist der „grüne Belt" — ihn mit Hamburger Freunden und mit Reval verband. Paul Johansen hat seine Sehnsucht nach Reval mitempfunden und in einem feinsinnigen Beitrag gewürdigt16 und ist wie er schließlich in Hamburg ge- blieben.

8 (1959), S. 523-532; besprochen von Hugo Weczerka in: Hansische Geschichtsblätter 78 (1960), S.181. 14 Zitiert nach: Paul Johansen: Der Dichter Paul Fleming und der Osten, in: Hamburger Mittel- und Ost- deutsche Forschungen 2, 1960, S. 9-46, hier S. 40. 15 Brandt (wie Anm. 2), S. V f. 16 Johansen: Der Dichter (wie Anm. 15).

130 ELEMENTE DER RAUMKONSTITUTION NORDOSTEUROPAS

Ralph Tuchtenhagen Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas Eine historische Verkehrsgeographie als Wille und Vorstellung existiert — so weit ich sehe — bisher weder bei Historikern noch Geographen — es sei denn, im Rahmen der allgemeinen historischen Geographie und als Teil der allgemei- nen, stark gegenwartsbezogenen Verkehrsgeographie.' Und natürlich gibt es eine Geschichte der Verkehrsgeographie, die spätestens mit der Loslösung von Verkehrsphänomenen aus der Handelsgeographie im Werk von Johann Ge- org Kohl über den „Verkehr und die Ansiedlung der Menschen in ihrer Abhän- gigkeit von der Gestaltung der Erdoberfläche" aus dem Jahre 1841 erkennbar wird.2 Dies alles ersetzt jedoch nicht eine dezidierte und systematische histo- rische Verkehrsgeographie als Disziplin sui generis. Umso riskanter ist es, eine spezielle Verkehrsgeographie Nordosteuropas zum Thema eines Aufsatzes zu machen — ist doch keineswegs klar, ob eine solche überhaupt existiert und wel- che Kriterien zu ihrer Konstituierung angelegt werden können. Es kann andererseits nicht verhehlt werden, dass einzelne Arbeiten, die Bausteine zu einer historischen Verkehrsgeographie Nordosteuropas bilden könnten, bereits vorliegen. Sie berühren vor allem Aspekte des Urbildes aller Beschäftigung mit der Geschichtsregion Nordosteuropa: um den Verkehr der Hanse im Ostseeraum. So hat Friedrich Bruns bereits 1896 einen Aufsatz über das spätmittelalterliche hansische Verkehrsnetz veröffentlicht. In der Zwischen- kriegszeit erforschten Leopold Karl Goetz, Paul Johansen und Gunnar Mick- witz die deutsch- bzw. dänisch-russischen Handelswege. In der Nachkriegszeit setzten Johansen, Vilho Niitemaa, Bruns und Hugo Weczerka diese Linie fort.' Daneben nahm die gegenwartsbezogene Forschungsliteratur über Verkehrs- fragen des Ostseeraumes in den 1930er Jahren in signifikanter Weise zu —

1 Vgl. z.B. Gustav Fochler-Hauke: Verkehrsgeographie, Braunschweig 41976, S. 124-130. 2 Johann Georg Kohl: Der Verkehr und die Ansiedlung der Menschen in ihrer Abhängigkeit von der Gestaltung der Erdoberfläche, Darmstadt u. Leipzig 1841; vgl. Jörg Maier und Heinz-Dieter Atzkern: Verkehrsgeographie: Verkehrsstrukturen, Verkehrspolitik, Verkehrsplanung, Stuttgart 1992, S. 14-22. 3 Friedrich Bruns: Lübecks Handelsstraßen am Ende des Mittelalters, in: Hansische Geschichtsblät- ter 2 (1896), S. 43-87, hier S. 80-87; Leopold Karl Goetz: Deutsch-russische Handelsverträge des Mit- telalters, Hamburg 1916 (Abhandlungen des Hamburger Kolonialinstituts; 37); ders.: Deutsch-russische Handelsgeschichte des Mittelalters, Lübeck 1922 (Hansische Geschichtsquellen; N.F. 5); Paul Johansen: Die Estlandliste des Liber Census Daniae, Kopenhagen u. Reval 1933; Gunnar Mickwitz: Aus Revaler Handelsbüchern: zur Technik des Ostseehandels in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Helsingfors 1938 (Commentationes humanarum litterarum; IX, 8); Paul Johansen: Novgorod und die Hanse, in: Städ- tewesen und Bürgertum als geschichtliche Kräfte: Gedächtnisschrift für Fritz Rörig, Lübeck 1953, S. 121- 148; ders.: Umrisse und Aufgaben der hansischen Siedlungsgeschichte und Kartographie, in: Hansische Geschichtsblätter 63 (1955), S. 1-105; Vilho Niitemaa: Der Binnenhandel in der Politik der livländischen Städte im Mittelalter, Helsinki 1952 (Annales Academiae Scientiarum Fennicae; Ser. B, 76.2); Friedrich Bruns und Hugo Weczerka: Hansische Handelsstraßen, 2 Bde.: Textband. Atlas, Köln u. Graz 1962 (Quel- len und Darstellungen zur hansischen Geschichte; N.F. 13:1/2).

133 Ralph Tuchtenhagen

allerdings vor allem unter damals aktuellen nationalstaatlichen Aspekten im polnisch-deutschen Verhältnis.4 Auffallend zurückhaltend blieb dagegen bis heute die skandinavische (mit Ausnahme der finnischen) und die baltische Forschungsliteratur. Sie verharrte ebenso wie deutsche, polnische und rus- sische Beiträge für andere als die merkantilen Aspekte in der Darstellung von Teilbereichen des historischen Verkehrs innerhalb der nationalstaatli- chen Räume des 19. und 20. Jahrhunderts. Transnationale Perspektiven einer historischen Verkehrsgeographie Nordosteuropas jenseits des Hanseverkehrs bleiben somit ein Desiderat, das freilich auch durch den vorliegenden Beitrag nicht beseitigt, sondern nur als Thema in seinen unterschiedlichen Aspekten umrissen werden kann. Soll ein spezifischer historischer Verkehrsraum und ein spezifisches histo- risches Verkehrssystem Nordosteuropa entdeckt werden, so ist vor allem die Frage zu stellen, wie diese strukturiert und von anderen Verkehrsräumen und -systemen abgrenzbar und unterscheidbar sind. Wenn außerdem der histo- rische Aspekt solcher Verkehrsräume und -systeme betont werden soll, müs- sen vor allem Probleme der Raum- und Systemevolution, d.h. Veränderungen der Raumgrenzen und der Systemstrukturen bzw. des Systemwandels von Verkehr hervorgehoben werden. Was Verkehr eigentlich sei, ist eine grundlegende Frage, an deren grund- sätzlicher Beantwortung nicht vorbeigegangen werden kann. Sie soll hier je- doch nicht theoretisch diskutiert werden. Es ist vielmehr das Anliegen des vorliegenden Beitrags, Verkehr in seinen unterschiedlichen zeitlichen und strukturellen Erscheinungen darzustellen und seine Funktion für die Konsti- tuierung eines historischen Raums Nordosteuropa zu. verdeutlichen. In die- sem Zusammenhang verweise ich auf den Verkehrsgeographen John Michael Thomson: „Der wichtigste Aspekt des Verkehrs ist seine Verbindungsfunkti- on. Verkehr ist ein Mittel zum Zweck und nur selten Selbstzweck; das ange- strebte Ziel ist die Raumüberwindung, die Ortsveränderung von Personen und Gütern"5; und ich darf hinzufügen: von Informationen, sofern diese nicht als Güter angesehen werden sollen. Daraus ergibt sich die Frage, wie Räume konstituiert sind und welche Mit- tel der Raumüberwindung zur Verfügung stehen. Grundsätzlich ist zum Ver- hältnis von Raum und Verkehr mit dem Wirtschafts- und Sozialgeographen Götz Voppel festzustellen, dass die „Wirkungen des Verkehrs auf den Raum [...] ambivalent" sind: „Der Verkehr erfüllt einerseits ihm gestellte Aufgaben der Entfernungsüberbrückung und folgt damit bestehender Nachfrage nach

4 Vgl. Peter-Heinz Seraphim: Verkehrsfragen der Ostsee in deutscher und polnischer Darstellung, in: Jomsburg 1 (1937), S. 82-88. 5 John Michael Thomson: Modern transport economics, London 1974 (dt.: Grundlagen der Verkehrspo- litik, Bern u. Stuttgart 1978); Zitat nach der deutschen Ausgabe, S. 23.

134 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Verkehrsleistungen; andererseits vermag er räumliche Prozesse strukturellen Wandels und raumfunktionaler Beziehungen in Gang zu bringen und löst da- mit zusätzliche Nachfrage nach Verkehrsleistungen aus."' Ob wir es beim historischen Nordosteuropa tatsächlich mit einem Verkehrsraum und einem spezifischen Verkehrssystem oder nur mit Verkehr innerhalb eines gegebenen oder gesetzten historischen Raum Nordosteuropa zu tun haben und mit wel- chen Mitteln Distanzen innerhalb eines solchen Raumes und darüber hinaus überwunden werden konnten, ist die zentrale Frage meines Beitrags.

Nordosteuropa als heuristische Konstruktion Um einen solchen Diskurs operabel zu machen, möchte ich einen histo- rischen Raum Nordosteuropa zunächst setzen, ohne seine Grenzen zeitlos scharf zu ziehen. In seiner Maximalausdehnung soll er den gesamten Ostsee- raum und die Eismeerregion, in seiner Minimalausdehnung nur den politisch- historischen Diffusionsraum zwischen Nord- und Osteuropa umfassen. Zwi- schen diesen beiden Margen kann seine Ausdehnung je nach historischem Zeitpunkt und geographischer und struktureller Ausdehnung bestimmter Ver- kehrsphänomene variieren.' Bei der Analyse des Verkehrs beschränke ich mich auf den regelmäßigen Verkehr. Außerreguläre Verkehrsphänomene wie Migration, sporadische Reisen, Sondertransporte, militärische Operationen und dgl. mehr bleiben au- ßer Betracht. Auch auf die Verkehrsgüter möchte ich nicht vertieft eingehen. Sie blieben auf einer abstrakten Ebene über die Jahrhunderte im großen und ganzen konstant. Die Verkehrsmittel wurden jedoch ständig erweitert und durchliefen einen Prozess der Differenzierung und steten Beschleunigung. Sie bilden den Mittelpunkt meiner Darstellung. Für die chronologische Analyse lassen sich sinnvoller Weise zwei große Abschnitte: die Vormoderne und die Moderne unterscheiden. Unter Vormo- derne verstehe ich einen Zeitabschnitt, der durch Quellen erfassbar und durch eine verhältnismäßig hohe Stabilität der Verkehrsmittel und -geschwindig- keiten gekennzeichnet ist. Moderne soll eine noch andauernde Periode hei- ßen, deren Kennzeichen eine beschleunigte Differenzierung der Verkehrsmit- tel und eine exponentiale Beschleunigung der Verkehrsgeschwindigkeiten ist und wie sie vor allem in den Werken von Paul Viriliot beschrieben wird.

6 Götz Voppel: Verkehrsgeographie, Darmstadt 1980 (Erträge der Forschung; 135), S. 2. 7 Zur Definitionsvarianz vgl. meinen Beitrag: Nordosteuropa, in: Studienhandbuch östliches Europa, Bd. 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas / hrsg. von Harald Roth, Köln u.a. 1999, S. 73-80. 8 Vgl. insbesondere Paul Virilio: L'horizon n4atif, Paris 1984 (dt. u.d.T.: Der negative Horizont: Bewe- gung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, München u. Wien 1989, (als Taschenb. Frankfurt/M. 1995).

135 Ralph Tuchtenhagen

Vormoderne Der primäre Verkehr im vormodernen Nordosteuropa bezog sich wie im übrigen Europa auf Menschen und Güter. Nachrichten blieben zunächst au- ßerhalb des regelmäßigen Verkehrs. Sie wurden mit den Menschen trans- portiert, gelangten aber doch eher zufällig von einem Ort zum anderen. Ein systematisches Informationsnetz kam erst im mit den hansestädtischen Post- boten und dem Buchdruck im 15. Jahrhundert auf.

Wasserverkehr Menschen und Güter wurden zu Wasser und zu Lande transportiert. Doch war das Wasser, zumal in einem geographischen Raum, der vom Meer und seinen Zuflüssen geprägt war, das natürliche und leichter zu beherrschende Medium der Raumüberwindung. Die am häufigsten benutzten Verkehrswege führten daher zu- nächst auf und über das Wasser, und das wichtigste Verkehrsmittel waren Wasser- fahrzeuge aller Art. Aufgrund archäologischer Befunde ist bekannt, dass Goten, Gepiden, Vandalen und Burgunder die Ostsee und die Flusssysteme im südlichen Ostseeraum bereits vor der Zeitenwende befuhren. Der römische Historiker Tacitus berichtet, dass die Suionen im nördlichen Ozean durch ihre Männer, Waffen und Kriegsflotten mäch- tig seien.' Und in der Zeit nach Tacitus folgten Rugier und Heruler den Kriegs- und Handelswegen ihrer germanischen Vorläufer. Vom 6. bis 8. Jahrhundert lassen sich häufigere Vorstöße von Skandinaviern aus Skäne (Schonen) auf die dänischen In- seln und von Uppland (Schweden) und Gotland aus an die finnländische Südwest- küste und in die Gegend des Frischen und Kurischen Haffs nachweisen.1° Der zunächst ebenfalls nur archäologisch, seit der zweiten Hälfte des 9. Jahr- hunderts dann auch schriftlich dokumentierte Wikingerhandel entwickelte sich auf den gleichen Routen. Die wichtigsten Zentren des Wikingerhandels — Haithabu (alt- nordisch — im folgenden: (an.) — Hedeby, bei Schleswig), Kaupang (Oslofjord), Bir- ka (Mälarsee), Alt-Ladoga (an. Aldajgjuborg, russ.: Staraja-Ladoga, am Ladogasee), Novgorod und Gorodikie (in der Ru„§), Grobin (lett. Grobina, an der kurländischen Westküste), Wiskiauten (Samland), Truso (poln. Drain°, dt. Drausenhof, am Frischen Haff), Wohin (auch Julin, Jomne, Vineta, an. Jömsborgr, Odermündung) — markierten Knotenpunkte eines Handelsnetzes, das mit der Zeit an Dichte zunahm.'

9 Vgl. Elmar Potter und Chester W. Nimitz: Seemacht: Eine Seekriegsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1974, S. 12. 10 Vgl. Herbert Jankuhn: Haithabu: Ein Handelsplatz der Wikingerzeit, Neumünster 61976, S. 46-61; Pirkko-Liisa Lehtosalo-Hilander: Finland, in: Viking og Hvidekrist: Norden og Europa 800-1200 / hrsg. von Else Roesdal, Kobenhavn 21993, S. 62-71. 11 Vgl. Alexander Bugge: Die nordeuropäischen Verkehrswege im frühen Mittelalter und die Bedeutung der Wikinger für die Entwicklung des europäischen Handels und der europäischen Schiffahrt, in: Vierteljahresschrift

136 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Der nordosteuropäische Wikingerhandel war über diese Knotenpunkte an drei andere große wikingische Handelsräume angeschlossen. Die wichtigsten Anschluss- wege nach Osten hin (an. austrvegr) waren die Raubhandelsrouten der Waräger (an. vceringjar) von Schweden (Birka) und Dänemark (Haithabu) aus über das Ostbal- tikum auf der Wolga-Kaukasusroute ins Chazarenreich (Altajgjuborg-Bolgar-Itil), auf dem „Weg von den Warägem zu den Griechen", d.h. über den Dnepr (Alta- jgjuborg-Novgorod-Kiev) und auf der Weichselroute von Truso über das Schwarze Meer nach Byzanz (an. Miklagardr). Nach Norden und Nordwesten hin schlossen sich die Norwegen-Weißmeer- und die Shetland-, Färöer- und Island-Grönland- Route, nach Westen das Handelsnetz der norddeutschen, nordfranzösischen, bri- tischen, irischen und nordspanischen Küsten an.12 Als die Waräger-Züge in die nordöstlichen Flusssysteme des Ostseeraumes in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts langsam verebbten, nutzten Esten und Kuren das Machtvakuum, um ihrerseits Raubhandelszüge nach Schweden und. Skäne zu unternehmen.' Und um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert steu- erten die nördlichen Kreuzzüge das ihre zu einer gewissen Regelmäßigkeit der Seeverbindungen Nordosteuropas bei. Hier standen vor allem Finnland und die Länder der südöstlichen Ostseeküste im Mittelpunkt des Verkehrsgeschehens.14

für Social- und Wirtschaftsgeschichte 4 (1906), S. 227-277; Walther Vogel: Zur nord- und westeuropäischen See- schiffahrt im früheren Mittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 13 (1907), S. 153-205; ders.: Geschichte der deutschen Seeschiffahrt, Bd. 1: Von der Urzeit bis zum Ende des XV. Jahrhunderts, Berlin 1915, S. 17-145; Otto Lienau: Die Bootsfunde von Danzig-Ohra aus der Wikinger-Zeit, Danzig 1934; Felix Genzmer: Germanische Seefahrt und Seegeltung, München 1944, S. 99-106; Detlef Ellmers: Frühmittelalterliche Handelsschiffahrt in Mittel- und Nordeuropa, Neumünster 1972, S. 227-254; Paul Heinsius: Die Seefahrt in Nordeuropa bis zum Ende der Hansezeit, in: Potter und Nimitz (wie Anm. 9), S. 12-23; Jankuhn (wie Anm. 10), S. 152-215. Ole Crumlin- Pedersen, Mogens Schou Jorgensen und Torsten Edgren: Skibe og samfxrdsel, in: Viking og Hvidekrist (wie Alen. 10), S. 42-51. Lech Leciejewicz: Normanowie nad Odrq i Wislqw IX-XI wieku, in: Kwartalnik Historycz- ny 100 (1993), S. 49-62. 12 Die Literatur über die Wikingerzüge ist Legion. Hier seien nur die wichtigsten neueren Titel genannt: Ingmar Jansson und Evgenij N. Nosov: Österled, in: Viking og Hvidekrist (wie Anm. 10), S. 74-81; Evgenij N. Nosov: Staraja Ladoga, Gorodike och Novgorod, ebda., S. 82f.; Joachim Herrmann: De vestslaviske lande og Norden, ebda., S. 84-87; Thör Magnüsson, Simun V. Arge und Jette Arneborg, Jette: Nya länder i Nordatlanten, ebda., S. 52-61.; Lucien Musset, Lucien: Skandinaveme og det vesteuropeiske kontinent, ebda., S. 88-95. David M. Wilson und Richard Hall: Skandinavema och Brittiska öama, ebda., S. 96- 105; Mats G.Larsson: Väringar. Nordbor hos kejsaren i Miklagärd, Stockholm 1991; ders.: Rusemas rike: Nordborna och Rysslands födelse, Stockholm 1993; Anatoly Kirpichnikov, Vladimir Nazarenko, Eugenie Nosov, Elena Ribina, Valentin Janin u.a.: Vikingernes Rusland — Staraja Ladoga og Novgorod, Roskilde 1993; J. Jansson: Communications between Scandinavia and Eastem Europe in the Viking age: the archa- eological evidence, in: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr.186, Göttingen 1987, S. 773-807; ders.: Skandinavien, Baltikum och Rus' under vikingatiden, in: Norden og Baltikum, Oslo 1994 (Det 22. nordiske historikermote, Oslo 13.-18. august 1994), S. 5-25; ders.: Rus' and the Varangians, in: Vikingi i slavjane: 1.&tenie,. politiki, diplomaty o russko-skandinavskich otnogenijach, Sankt-Peterburg 1998, S. 19-30. 13 Vgl. Potter und Nimitz (wie Anm. 9), S. 16. 14 Vgl. Vogel: Geschichte (wie Anm. 11), S. 147-180; Bernhard Stasiewski: Missionsbestrebungen im Ostseeraum im 13. Jahrhundert, in: Der Ostseeraum im Blickfeld der deutschen Geschichte, Köln 1970,

137 Ralph Tuchtenhagen

Von der Völkerwanderungszeit bis zu den Waräger-, Esten- und Kurenzü- gen lassen sich Schwerpunkte des Seeverkehrs auf einer Linie vom südlichen Skandinavien, also vom Nordwesten des Ostseeraumes, entlang der Küsten — seltener übers offene Meer — in das südöstliche Hinterland der Ostsee feststellen. Sowohl der Nordosten mit Finnland als auch der Südwesten mit der Lübecker und Kieler Bucht blieben somit zunächst im Windschatten des regelmäßigen Seeverkehrs. Sie wurden verkehrsgeographisch erst erfasst, als die Kreuzzüge auch diese Räume in das Seeverkehrsnetz der Ostsee integrierten.' Sie ermöglichten den Einstieg in die verkehrsgeographische Ausdehnung der Hanse. Deren regelmäßig befahrene Handelsrouten erstreckten sich späte- stens zu Beginn des 15. Jahrhunderts auf den gesamten Ostseeraum mit Aus- nahme des Bottnischen Meerbusens. Übliche Routen verliefen zwischen Ska- gen (Nordspitze von Jütland) und Warnow (Rostock); zwischen Skagen und Bornholm (durch den Öresund) und von dort weiter zur Weichsel (Danzig, poln. Gdaiisk) oder nach Livland (Reval, estn. Tallinn); oder zwischen Got- land (Visby) und Reval. Der hansische Seeverkehr verdichtete sich besonders zwischen Lübeck und den Hansestädten an der Südküste der Ostsee unter Ein- beziehung der Inseln Bornholm und Gotland.' Neuerungen im Schiffbaus' machten einen erweiterten Schiffsverkehr auf der Ostsee und entlang der Ostsee-Flusssysteme möglich. Das Aufkommen der Karavelle im 15. Jahrhundert mit der Einführung des Rahsegels und der Mehrmaster mit der Verteilung der Segelfläche auf mehrere Einheiten, die Einführung des holländischen Bojer mit Sprietsegel für die Nord- und Ostsee- schifffahrt, besonders aber der Fleute, die eine Senkung der Transportkosten S. 17-37; Hain Rebas: Internationella medeltida kommunikationer till och genom Baltikum, in: Historisk tidskrift (S) 98 (1978), S. 156-185, hier S. 158-160; Jürgen Petersohn: Der südliche Ostseeraum im kirch- lichen-politischen Kräftespiel des Reiches, Polens und Dänemarks vom 10. bis 13. Jahrhundert: Mission — Kirchenorganisation — Kultpolitik, Köln u. Wien 1979; Eric Christiansen: The northern crusades, London u. Basingstoke 1980, London 21997. 15 Vgl. Ernst Daenell: Der Ostseeverkehr und die Hansestädte von der Mitte des 14. bis zur Mitte 15. Jahrhunderts, in: Hansische Geschichtsblätter 10 (1903), S. 3-47; Paul Johansen: Umrisse und Aufgaben der hansischen Siedlungsgeschichte und Kartographie, in: Hansische Geschichtsblätter 73 (1955), S. 1-105; Johann Goetze: Hansische Schiffahrtswege in der Ostsee, in: ebda. 93 (1975), S. 71-88; Rebas (wie Anm. 14), S. 158-168. 16 Insbesondere Danzig, Riga, Reval; ferner Wismar, Rostock, Stralsund, Stettin (poln. Szczecin) und die kleineren Städte Greifswald, Kolberg (poln. Kolobrzeg), Königsberg (russ. Kaliningrad), Peruau (estn. Pärnu), Novgorod; an der Nordküste der Ostsee auch Kalmar, Söderköping, Stockholm, Abo (finn. Turku). S. die Literatur in Fußnote 1. Vgl. außerdem: Vogel: Geschichte (wie Anm. 11); Gunnar Mickwitz: Handelsverbin- dungen der späthansischen Zeit, in: Conventus primus historicorum Balticorum Rigae, 16.-20.VIII.1937: Acta et relata, Riga 1938, S. 376f.; Peter Heinsius: Das Schiff der hansischen Frühzeit, Weimar 1956.; Leo Tiik: Keskaegsest mereliiklusest Balti merel ja Soome lahel [Mittelalterliche Seeverbindungen in der Ostsee und im finnischen Raum], in: Eesti Geograafiaseltsi aastaraamat 1957, Tallinn 1957, S. 207-230; Walter Ried: Deut- sche Segelschiffahrt seit 1470, München 1974; Rebas (wie Anm. 14); ders.: Keskaegsed mereteed Baltikumi [Mittelalterliche Seewege ins Baltikum], Stockholm 1980; Wilhelm Koppe: Lübeck-Stockholmer Handelsge- schichte im 14. Jahrhundert, Neumünster i.H. 1933. 17 Vgl. Richard Watson Unger: Dutch shipbuilding before 1800, Assen 1978. 138 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas ermöglichte und durch Standardisierung zum meistverbreiteten Handelsschiff Europas im 17. Jahrhundert wurde, machten die Niederlande im Schiffverkehr überlegen. Diese beherrschten im 17. Jahrhundert 60-70% des Frachtaufkom- mens im Ostseehandel'', gaben aber auch anderen Unternehmern die Mög- lichkeit, sich in den Ostseeverkehr einzukoppeln. Mit dem 16. Jahrhundert kamen die kleinen dänischen und schwedischen, mit dem 17. Jahrhundert die größeren englischen und niederländischen Handels-19, Kriegs-20 und Postflot- ten' als neue Protagonisten des nordosteuropäischen Verkehrsraumes hin- 18 Vgl. Axel Christensen: Dutch trade to the Baltic about 1600: Studies in the Sound toll register and Dutch shipping records, Kopenhagen 1941; Hermann van der Wee: The growth of the Antwerp market and the European economy, 3 Bde., Den Haag 1963; Charles Ralph Boxer: The Dutch seaborne empire 1600-1800, London 1965; Jonathan Irvine Israel: Dutch primacy in world trade 1585-1740, Oxford 1990; Pierre Jeannin: Marchands du Nord: espaces et trafics a 1' eoque moderne (hrsg. von Philippe Braunstein, und Jochen Hoock), Paris 1996. 19 Vgl. Seehandel und Wirtschaftswege Nordeuropas im 17. und 18. Jahrhundert / hrsg. von Klaus Fried- land und Franz Irsigler, Ostfildern 1981; Hans Christian Johansen: Shipping and trade between the Baltic area and Western Europe 1784-1795, Odense 1983; The interactions of Amsterdam and Antwerp with the Baltic region 1400-1800: pres. at the 3rd< international conference of the Association internationale d'histoire des mers nordiques de l'Europe, Leiden 1983. Zur brandenburgisch-preußischen Seefahrt in die- ser Zeit vgl. Kurt Petsch: Seefahrt für Brandenburg-Preussen 1650-815, Osnabrück 1986. Zur europäischen Dimension vgl. Walter Vogel: Zur Größe der europäischen Handelsflotten im 16. und 17. Jahrhundert: ein historisch-statistischer Versuch, in: Forschungen und Versuche zur Geschichte der Neuzeit: Festschrift Dietrich Schäfer zum 70. Geburtstag, Jena 1919, S.268-333; Philippe Haudrre: Le grand commerce ma- ritime au XVIIIe Europ&ns et espaces maritimes, Paris 1997; Jarmo T. Kotilaine: The significance of Russian transit trade for the Swedish eastern Baltic ports in the seventeenth century, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 49 (2000), S. 556-589. 20 Sie brachten auch die Einrichtung neuer Häfen (z.B. Karlskrona 1683, Rogerwiek (Baltischport, estn. Paldiski) 1718). Vgl. Johann Cornelius Tuxen: Den Danske og Norske Somagt fra de atldste Tider indtil vore Dage, Kobenhavn 1875; Carl Rise Hansen: Den danske skibsfart gennem tiderne, Kobenhavn 1941; Per Olof Bäckström: Svenska flottans historia, Stockholm 1884; Axel L.Zettersten: Svenska flottans historia [bis 1680], 2 Bde., Stockholm 1890-1903; Svenska flottans historia, 3 Bde., Malmö 1942-1945; Äke Sandström: Mel- lan Torneä och Stockholm: en undersökning av roll som förmedlare av varor i regional- och utrikeshandel 1600-1650, Stockholm 1990; Jan Glete: Bridge and bulwark: the Swedish navy and the Baltic, 1500-1809, in: In quest of trade and security: the Baltic in power politics 1500-1990, Bd. 1: 1500-1890 / hrsg. von Göran Rystad, Klaus-R. Böhme und Wilhelm Carlgren, Lund 1994, S. 9-59; Anja Tjaden: The Dutch in the Baltic, 1544-1721, ebda., S. 61-136: Knud J.V. Jespersen: Rivalry without victory: Denmark, and the struggle for the Baltic, 1500-1720, ebda., S. 137-176; Stephen P. Oakley: Trade, peace and the balance of power: Britain and the Baltic, 1603-1802, ebda., S. 221-256; Boxer (wie Anm. 18); Helge bei der Wieden: Die kaiserliche Ostseeflotte 1627 bis 1632, in: Aus tausend Jahren mecklenburgischer Geschichte: Festschrift für Georg Tessin, Köln u. Wien 1979 (Schriften zur mecklenburgischen Geschichte, Kultur und Landeskunde; 4), S. 67-96; From Dunkirk to Danzig: Shipping and trade in the North Sea and the Baltic 1350-1850; essays in honour of J.A. Faber / hrsg. von W.G. Heeres u.a., Hilversum 1988; Israel (wie Anm. 18); Baltic affairs: relations between the and North-Eastern Europe 1500-1800 / hrsg. von Jacques Ph. S. Lemmink und Johannus S. A. M. van Koningsbrugge, Nijmegen 1990; Laurent Lucchini und Michel A. Voelckel: Les Etats et la mer, Paris 1978; Jill Lisk: The struggle for supremacy in the Baltic 1600-1725, London 1979. 21 Vgl. Johann Rudbeck: Svenska postverkets fartyg och sjöpostförbindelser under trehundra är, Stock- holm 1933; Arvo Tering: Ülikoolidesse söitvate eesti- ja liivimaalaste reisiolud 17.-18. sajandil [Über die Reiseverhältnisse der an die Universitäten reisenden Est- und Livländer im 17.-18. Jh.], in: Kultuurilooli- sed ekskursid / hrsg. von Enn Küng, Tartu 2000 (Eesti ajalooarhiivi toimetised = Acta et commentationes

139 Ralph Tuchtenhagen zu. Sie verbanden vor allem die großen Hafenstädte und trugen so zur Entstehung eines interurbanen Aktionsnetzes bei, das nicht nur die Städte selbst, sondern über ihr Hinterland und den Transportraum der Schiffe den Ostseeraum mit seinen Menschen und Gütern als Ganzes strukturierte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg bildeten sich zwei deutlich unterscheidbare Verdichtungsräume im Ostseeverkehr heraus. Im Osten zogen die baltischen Städte, allen voran Riga, die meisten Handelsschiffe an; im Westen markierten der Öresund und abgeschwächt auch Lübeck den Verdichtungsraum zur See. Die Verdichtungsräume des frühen hansischen Schiffsverkehrs im Ostseeraum, Got- land und Danzig, verloren hingegen aufgrund des Niedergangs des Hansekon- tors in Visby im 13. Jahrhundert, der nachlassenden Nachfrage nach Getreide in Westeuropa und des allgemeinen Verfalls der Agrarpreise in Danzig im frühen 17. Jahrhundert stark an Intensität.22 Im Vorhergehenden war vor allem von den großen Unternehmungen des nordosteuropäischen Seeverkehrs die Rede. Es ist jedoch nicht zu vergessen, dass neben den Routen der großen Handelsflotten die Bauernschifffahrt, die einen an Umfang bescheideneren Handel über kleinere Distanzen betrieb, an allen Küsten der Ostsee ein zeitlich durchgängiges Verkehrselement bildete und mit den Bin- nengewässern eng verbunden war. In diesem Zusammenhang ist auch der Schlit- ten- und Schlittschuhverkehr über das Eis der Ostsee im Winter zu erwähnen.23 Die Binnengewässer bildeten teils ein abgesondertes Verkehrsnetz, teils dienten sie als Verlängerung des Ostseeverkehrs ins Binnenland hinein. Besonders charakteristisch für die nordosteuropäische Verkehrsmöglichkeiten sind bis heute die zahlreichen schiffbaren Flüsse und Seen, besonders in den Gebieten des heutigen Polen — die Systeme der Oder, Warthe, Netze und Weichsel (poln. Odra, Warta, Note, Wisla)24 —, Lettlands — Windau, Kurländische Aa, Düna und Livländische Aa (lett. Venta, Lielupe, Daugava, Gauja) —, Est- lands — Embach, Peruau, Narwe (estn. Emajögi, Pärnu, Narva) —, des heu- tigen Nordwestrussland — Pregel (russ. Pregolja), Memel (russ. Neman, lit. archivi historici Estoniae; 6 (13)), S. 67-117, hier S. 70-84. 22 Vgl. Marie-Louise Pelus[-Kaplan]: Lübeck au milieu du 17e si&le, in: Revue d'histoire diplomatique 92 (1978), S. 189-209; Elisabeth Harder-Gersdorff: Lübeck, Danzig und Riga am Ende des 17. Jahrhun- derts, in: Hansische Geschichtsblätter 96 (1978), S. 106-138; Maria Bogucka: Das alte Danzig, Leipzig 1980; Klaus Zemack: Der Ostseehandel der frühen Neuzeit und seine sozialen und politischen Wirkungen; Jan M. Malecki: Der Außenhandel und die Spezifik der sozialökonomischen Entwicklung Polens im 16. und 17. Jahrhundert; Marian Drozdowski: Der Handel zwischen Großpolen und Mitteleuropa im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts; alle in: Schichtung und Entwicklung der Gesellschaft in Polen und Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert / hrsg. von Klaus Zemack und Marian Biskup, Wiesbaden 1983, S. 1-20, 21-41, 55-58. 23 Vgl. Peasant seafaring an the Baltic: seminar in the city of Kotka 2.-4.8.1984 / hrsg. von Raimo Päiviö, Kotka 1986 (Publications / Provincial Museum of Kymenlaakso; 6). 24 Vgl. — allerdings aus stark deutsch-nationaler Perspektive — Detlef Krannhals: Die Rolle der Weichsel in der Wirtschaftsgeschichte des Ostens, in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung 2 (1938), S. 59-86, 352-379.

140 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Nemunas), Pljussa, Velikaja, Volchov — und den Systemen des Ladoga- und Onegasees. Sie wurden teilweise seit den frühesten Zeiten als Verkehrsrou- ten genutzt, insbesondere vom Wikingerhandel und vom Handel derjenigen Hansestädte im Gebiet des Deutschen Ordens (Preußen, Livland), die nicht direkt am Meer lagen — Thorn (poln. Torufr), Goldingen (lett. Kuldiga), Ko- kenhusen (lett. Kokenese), Wenden (lett. Cdsis), Wolmar (lett. Valmiera), Straupe (auch Roop, lett. Lielstraupe), Lemsal (lett. Limbaii), Dorpat (estn. Tartu), Fellin (estn. Viljandi). Das bestehende Netz natürlicher Binnenge- wässer wurde in der frühen Neuzeit durch ein System von Kanälen erwei- tert, wobei das 18. Jahrhundert zum grand si&le europäischer Kanalbauten (Niederlande, Frankreich), in Nordosteuropa besonders in Russland (Lado- ga 1737, Vygnij d. h. Wolga-Volchov-Kanal 1725)25, Polen und Preußen (z.B. Oder, Pregel), im weiteren auch in Ostfinnland (Kymi-Ge- biet), Mittelschweden (Strömsholms-, Södertälje- und Göta-Kanal, 1776- 1832) sowie den norddeutschen Küsten- und küstennahen Gebieten wurde. So entstand beispielsweise unter Kurfürst Friedrich Wilhelm von Preußen (1640-1688) der Elbe-Donau-Kanal (1668-1934), der den Handel von den pommerschen Städten nach Hamburg umleitete und Berlin zu einer wich- tigen Stapelstadt machte. Er wurde 1934 durch den Oder-Spree-Kanal er- setzt. Ebenso stellte der Bau des Müllroser Kanals unter demselben „Groß- en Kurfürsten" die Verbindung zwischen Breslau und Berlin her. 1697 wurden unter Friedrich III. (1688-1713) die zwei Friedrichsgräben fertig- gestellt, die in Ostpreußen unter Umgehung des Kurischen Haffs die Flüs- se Gilge und Deime (heute russ. Matrosovka und Dejma) miteinander ver- banden. Unter Friedrich II. (1740-1786) folgten die Verbindung von Oder- und Elbe durch den Plauer (Berlin-Magdeburg, 1743) und den Finow-Ka- nal (1743-1746), die Einleitung des Finow-Kanals in die Havel (1746), der Bromberger Kanal (Oder-Netze-Brahe (poln. Brda)-Weichsel-Frisches Haff (poln. Zalew Wigany, russ. Vislinskij/Kaliningradskij zaliv)-Pregel- Kurisches Haff (russ. Kurgskij zaliv, lit. Kurgig mars) -Memel, seit 1773), der Klodnitz-Kanal (Cosel-Gleiwitz (poln. Koile, Gliwice), vollendet 1800, 1939 größtenteils durch den Adolf-Hitler-Kanal ersetzt), der Hohenzollern- Kanal (Oder-Berlin, 1914 vollendet) und der masurische Schifffahrtskanal (Allenburg (heute russ. Druiba)-Rehsauer See (poln. Jezioro Rydzowka)-Mau- ersee (poln. Jezioro Mamry), 1764-1767, 1844-1848 erneuert).26 25 Zu den russischen Wasserstraßen im Inland vgl. Friedrich Christian Weber: Das neue Rußland, 3 Bde., Hannover 1739-1740 (Faksimile-Neudr. Hildesheim u.a. 1992), hier Bd. 2, S. 13-18, 74E, 92f., 127-135, 161; Bd. 3, S. 44, 75f., 100, 145; Janet M. Hartley: A social history of the , 1650-1825, London- New York 1999, S. 159; M.P. Djaä'kova und S.L. Makarova: Kanceljarija Ladoiskogo kanala [Die Kanzlei des Ladoga-Kanals], in: Gosudarstvennost' Rossii: slovar' -spravoC"nik, Bd. 2, Moskva 1999, S. 205f. 26 Vgl. August Ambrassat: Die Provinz Ostpreußen: ein Handbuch der Heimatkunde, Frankfurt/M. 21912 (Neudr. Frankfurt/M. 1978), S. 109-114; Walther Franz: Geschichte der Stadt Königsberg, München 1934

141 Ralph Tuchtenhagen

Als Einfallstor in das nordosteuropäische See- und Binnengewässer- netz von Westen her können neben dem Skagerrak der zwischen Elbe und Ostsee von der Stadt Lübeck 1391 angelegte Stecknitz-Kanal zwischen Elbe und Ostsee (Lauenburg-Mölln-Lübeck) und der in Konkurrenz dazu von Dänemark gebaute Alster-Trave-Kanal (begonnen 1525) interpretiert werden. Hamburg entwickelte sich um 1500 zur zentralen Wasser- und Landschleuse des Ostseeraumes.27 Als Einfallstor von Osten her dienten die Fluss- und Kanalsysteme Russlands mit ihren Verbindungen zum Kas- pischen und zum Schwarzen Meer.28 Beide erreichten für sich genommen nicht die Verkehrsintensität zur See und auf den Binnengewässern wie im küstennahen Bereich der Ostsee. Im Norden und Süden fehlten Ka- nalverbindungen in die benachbarten Wasserräume wegen starker topo- graphischer Riegel und hydrotechnisch unüberwindbarer Wasserscheiden (norwegisch-schwedisches Grenzgebirge, Maanselkä/Finnland). Für die Schifffahrt war die Ostsee als Transitmeer deshalb nur in Ost-West-Rich- tung (und umgekehrt) zu nutzen. Der Ostseeverkehr, der seinerseits eng mit dem Verkehr auf den Binnengewässern in seiner Peripherie verbun- den war, bildete somit ein konstituierendes Element eines nordosteuropä- ischen Raumes amphibischer Verkehrsverdichtung, der cum grano salis mit dem erweiterten Ostseebecken gleichgesetzt und von seinen west- lichen und östlichen Nachbarräumen als in seinen Grenzen zwar offenes, aber doch erkennbar abgegrenztes System aus zusammenhängenden Ver- kehrsstrukturen abgegrenzt werden kann.

(Neudr. Frankfurt/M. 1979), S. 166; Alec W. Skempton: Canals and river navigation before 1750, in: A history of technology / hrsg. von Charles Singer u.a., Bd. 3: From the Renaissance to the industrial revolution c 1500 — c 1750, Oxford 1958, S. 454f.; Ludwig Hüttl: Der grosse Kurfürst. Friedrich Wilhelm von Brandenburg, München 1981, S. 328-331; Emil Richter: Die Entwicklung der Verkehrs-Grundlagen. Eisenbahnen, Flüsse, Kanäle und Landstraßen, Leipzig 1873, S. 133-141; Alfred Wieske: Elbhandel und Elbhandelspolitik, Halberstadt 1927; Fritz Markmann und Johann Thies: Die deutschen Flüsse und Kanäle, Leipzig 1942, S. 63-75, 128-146; Heinz Schilling: Höfe und Allianzen. Deutschland 1648-1763, Berlin 1989 (Siedler Deutsche Geschichte; 6), S. 427-428. 27 Vgl. Skempton (wie Anm. 26), S. 443f; Hamburg: Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung / hrsg. von Hans-Dieter Loose, Hamburg 1982, S. 202-205; Enno Vering: Bahnen, Häfen und Kanäle: die Arbeitsgebiete von Carl und Hermann Vering, den Pionieren des Verkehrswegebaus im 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1996, S. 292f. 28 1701 wurde eine Kanalverbindung von der Wolga zum Don begonnen, aber nicht vollendet. Die Ver- bindung von der Ostsee zum Kaspischen Meer lief im 18. Jahrhundert über Neva-Ladogasee-Volga, den Vygnij Voloä'ek-Kanal, im 19. Jahrhundert über den Tichvin-Kanal (Neva-Wolga, 1808), den Marijnsk- Kanal (Neva-Ladogasee-Onegasee, 1811) und die Route Rigaer Bucht-Beresina-Düna-Schwarzes Meer (1805). Vgl. E.F. de [Emil August Ferdinand von] Hoerschelmann [Emilij F. Gergerman]:Aper9u histo- rique du &veloppement des voies navigables de l'Empire de Russie, Kiev 1894; Roger Pilkington: Canals: inland waterways outside Britain, in: A history of technology, Bd.4: The industrial revolution c. 1750 to c. 1850, Oxford 1958, S. 548-473, hier S. 553f.

142 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Landverkehr Der Verkehr zu Lande blieb zunächst sporadisch und beschränkte sich auf die lokalen Verbindungen (Dorf- und lokale Landstraßen, Wege und Pfade) und schubartige Bewegungen im Zuge der deutschen und schwedischen Ostkoloni- sation. Eine Ausnahme bildeten allein die spätestens seit dem 14. Jahrhundert bestehenden Handelsstraßen zwischen den größeren Städten, die in ihrem Be- stand bis ins 18. Jahrhundert hinein im Wesentlichen unverändert blieben.29 Erst das Aufkommen der monarchischen Zentralgewalt sorgte für ei- nen massiven Ausbau und eine sichtbare Verbesserung der Überlandsverbin- dungen. Bestehende Straßen wurden vermessen, reguliert, befestigt, verbrei- tert und miteinander vernetzt, Brücken und Gasthäuser staatlicher Kontrolle unterworfen. Diese Aktivitäten spiegelten in hohem Maße die Interessen des Staates in Nordosteuropa wieder, der versuchte, eine Verdichtung seiner mili- tärischen und politischen Herrschaft über die von ihm beanspruchten Territo- rium durch eine Herrschaft über die Kommunikationsstrukturen zu erreichen. Die Heeres- und Postwege und die Wege zwischen den Gerichts- und Kirchor- ten sowie den befestigten Städten genossen deswegen das besondere Augen- merk der staatlichen Behörden. Nur die kleineren Wege zwischen den Dörfern, Flecken und kleineren Handelsstädten blieben in der Hand der lokalen Bevöl- kerung. In den Königreichen Schweden, Dänemark und Norwegen begann die- ser Prozess bereits im 13. Jahrhundert, im Großfürstentum Moskau (russ. Mo- skva) und in Brandenburg-Preußen erst im 17. Jahrhundert.3° Das Königreich 29 Im östlichen Ostseeraum z.B. Abo, Wiborg (finn. Viipuri, schwed. Viborg, russ. ), Narva, Nov- gorod, Pleskau (russ. Pskov), Dorpat, Fellin, Pernau, Reval, Hapsal (estn. ), Wolmar, Wenden und Riga. Vgl. Rebas (wie Anm. 11) S. 168-182; Ajaloo atlas Gümnaasiumile [Geschichtsatlas für das Gymnasium], Tallinn 2000, S. 10. 30 Russland begann den Straßenbau im großen Stil unter Peter I. und erlebte dann eine intensive Phase der Entstehung von Landstraßen zwischen 1720 und 1746. Am Ende dieser Periode besaß Russland über 300 Werst (ca. 300 km) Straßen, vor allem zwischen Moskau, Novgorod, und St. Petersburg mit den nahe gele- genen Carskoe Selo und Gatälna sowie auf der Sibirienroute (Moskau-Perm'-Tobolsk-Irkutsk). In Schweden wurden solche Projekte im 18. Jahrhundert ebenfalls versucht, scheiterten jedoch an der klaren Dominanz des Verkehrs zur See und auf den Binnengewässern. Erst im 19. Jahrhundert erhielt Schweden ein nennenswertes Landwegenetz. Preußen besaß zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1816) immerhin ca. 500, 1869 ca. 56.000 eng- lische Meilen (ca. 800 bzw. ca. 89.600 km) gute Straßen. Vgl. Weber (wie Anm. 25), Bd.3, S. 135-141; Robert James Forbes: Roads to c. 1900, in: A history of technology, Bd. 4 (wie Anm. 28), S. 520-547, hier S. 528-529, 535; Lars Levander: Landsväg, krog och marknad, Stockholm 1935; Per Hartman: Svenskt gästgiveri genom tiderna, Stockholm 1947; Uno Lindgren: Glimtar frän 1600-talets vägväsende, in: Svenska Vägföreningens tidskrift 54 (1967), S.9-16; Bengt Frithiofsson: Klassiska krogar: en kulinarisk resa i Sverige, Stockholm 1977; Resa i Sverige: om vära resor i 500 är / hrsg. von Elisabet Hidemark und Annette Rosengren, Stockholm 1978 (Fataburen; 1978); Annette Rosengren: När resan var ett äventyr: om resor i Sverige under tusen är, Stockholm 1979; Dietrich Denecke: Straßen, Reiserouten und Routenbücher (Itinerare) im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit / hrsg. von Xenja von Ertzdorff, und Dieter Neukirch, Amsterdam u. Atlanta 1992, S. 227-253; Hartley (wie Anm. 25), S. 158; Ing- mar Edvardsson: Hästskjuts: vägar, fordon och människor förr i tiden, Stockholm 2001.

143 Ralph Tuchtenhagen

Schweden erlebte im 17. und 18. Jahrhundert einen wahren Boom des Wege- baus, der dazu führte, dass das heutige Netz der Landverkehrswege in Schwe- den bereits um 1740 in seinen Grundzügen aufgespannt war. Um diese Zeit exi- stierten im eigentlichen Schweden rund 2.000 Meilen (= ca. 20.000 km) Straßen. Trotz dieser für die Zeit erstaunlichen Bemühungen blieb das Landwegenetz in Schweden wie im gesamten nordosteuropäischen Raum bis ins 19. Jahrhundert hinein im Vergleich zu West- und Südeuropa (vor allem Großbritannien, Fran- kreich, Deutschland) rückständig. Nordosteuropa, definiert als territorialer Rand des Ostseebeckens, blieb in dieser Hinsicht eine Peripherie Gesamteuropas.

Postwesen Neben den mehr oder weniger regelmäßig befahrenen Handels- und Mili- tärrouten war das Postwesen seit dem 16. Jahrhundert die stabilste Struktur des nordosteuropäischen Verkehrsraumes. Auch hier griff der Staat regulierend ein. Noch im 16. Jahrhundert dominierte das Botenwesen des Adels, der Städte und der Kirche den Ostseeraum. So bedienten beispielsweise Boten von Ostpreußen aus die Städte Wilna (lit. Vilnius), Thom, Marienburg (poln. Malbork), Elbing (poln. Elblag), Danzig, Rostock, Schwerin, Lübeck und Hamburg, und darüber hinaus das Ermland, Livland, Kurland, Pommern, Mecklenburg, Holstein, Däne- mark und Schweden mit geschriebenen Nachrichten.31 Anders als im mitteleuropäischen Raum spielte das private Postsystem der Thum und Taxis, das Ende des 15. Jahrhunderts entstand, im 16. Jahrhundert auf ein Monopol zustrebte und bis 1867 bestand, in Nordosteuropa keine Rolle. Im 17. Jahrhundert kam jedoch der Staat als Konkurrent der adligen, städtischen und kirchlichen Botenorganisationen ins Spiel. Wie in England, Frankreich und an- deren Staaten erlebte auch Nordosteuropa im 17. Jahrhundert die Errichtung zen- tralisierter staatlicher Postsysteme — so in Dänemark, Schweden32, im Moskauer 31 Esther-Beate Körber: Botenwesen im Herzogtum Preußen 1525 bis 1618, in: Nachrichten- und Kommu- nikationswesen im Preußenland / hrsg. von Udo Arnold, Lüneburg 1994, S.29-46, hier 35f. ; Horst Zänger: Der Aufbau des Post- und Telegrafenwesens in der Mecklenburg-Schweriner Postverwaltung: ein kurzer Streifzug über mehr als 350 Jahre, in: Stier und Greif 6 (1996), S. 53-58; Gerhard Brandtner und Ernst Vo- gelsang: Die Post in Ostpreußen: ihre Geschichte von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Lüneburg 2000 (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung; 19), S. 42. 32 Briefe und andere Nachrichten wurden in Schweden zunächst privat, seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts re- gelmäßig über das sogenannte Postwerk (postverket) transportiert. Ein umfassenderes Postwesen, das den gesamten Ostseeraum erfasste, kam im Schwedischen Reich jedoch erst in der zweiten Jahrhunderthälfte zum Durchbruch. Vgl. Teodor Holm: Sveriges allmänna postväsen, 5 Bde., Stockholm 1906-1929; Svenskt postväsen, Stockholm 1924; Nils Forsell: Svenskapostens historia, 2 Bde., Stockholm 1936; Ernst Grape: Svensk posthistoria, Stockholm 1941; Postkontor och postmästare, Stockholm 1951; Günter Weinhold: Die schwedische Feldpost während des Dreißigjährigen Krieges zwischen Frankfurt am Main und Hamburg, Braunschweig 1984 (Sonderdruck aus: Postgeschichtliche Blätter Hanno- ver-Braunschweig; 7). Georg Rennert: Die schwedische Post in Deutschland, in: Deutsche Postgeschichte 1938, H. 1, 5.188-195. Günter Barudio: Zu treuen Händen: Schwedens Postwesen im Teutschen Krieg 1618-1648, in: Deutsche Post- geschichte / hrsg. von Wolfgang Lotz, Berlin 1989, S.67-76. 144 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Großfürstentum", Kurbrandenburg und Mecklenburg. Diese orientierten sich im wesentlichen an den Botenrouten der Fürstenhäuser, der Hanse, Bistümer und Klöster. Sie wurden jedoch ausgebaut, und ihr Auftragsvolumen stieg sprung- haft an. Daneben blieb die Privatpost, also das Botenwesen des Adels, der Städ- te, der Kirche etc. erhalten, was in den Städten bisweilen zur Konkurrenz zwi- schen dem Staat auf der einen und Stadt, Kirche oder Adel auf der anderen Seite führte, manchmal aber auch Synergieeffekte erzeugte» So bestand beispielswei- se in Kopenhagen (dän. Käbenhavn) oder Danzig sowohl ein staatliches als auch ein städtisches Boten- bzw. Postwesen?' Die wichtigsten staatlichen Akteure des Postwesens im Ostseeraum im 17. Jahrhundert waren Schweden und Preußen. 1620 organisierte Schweden eine regelmäßige Postverbindung von Hamburg über Kopenhagen nach Stockholm. Von Stockholm gingen Postlinien entlang der schwedischen, finnischen, kare- lischen, ingerman- und estländischen und — nach der Eroberung und Besetzung Livlands (1629) — livländischen Küste bis nach Riga36 und Memel37. Nach dem Westfälischen Frieden (1648) kamen Verbindungen zwischen Stettin, Wis-

33 Vgl. Ivan Pavlovic Kozlovskij: Pervyja poCy i pervyja poMmejstery v Moskovskom gosudarstve [Die ersten Posten und Postmeister im Moskauer Staat], 2. Bde., Warschau 1913. 34 Vgl. Jan Piro2yfiski: Z dziejöw obiegu informacji w Europie XVI wieku: nowiny z Polski w kolekcji Jana Jakuba Wicka w Zurychu z lat 1560-1587 [Aus der Geschichte des Informationsumlaufs im Europa des 16. Jh.: Neuigkeiten aus Polen in der Sammlung des Johann Jakob Wick in Zürich aus den Jahren 1560-1587], Kraköw 1995 (Prace Historyczne; 115). 35 Das Routennetz und die Transportfrequenz nahmen zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ständig zu. Die Transportzeiten wurden kürzer: Einzelläufer- bzw. reiter wurden durch Läufer- und Reiterstafetten ergänzt oder ersetzt. Vgl. Thomas Brune: Von Nützlichkeit und Pünktlichkeit der ordinari-Post, in: Reisekultur: Von der Pil- gerfahrt zum modernen Tourismus / hrsg. von Hermann Bausinger, Klaus Breyer und Gottfried Korff, München 1991, S.79-87; Michael North: Nachrichtenübermittlung und Kommunikation in norddeutschen Hansestädten im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1991, H. 2, S. 8-16; ders.: Kom- munikation, Handel, Geld und Banken in der frühen Neuzeit, München 2000 (Enzyklopädie deutscher Geschich- te; 39), S. 3f.; Klaus Beyrer: Zeit der Postkutschen: ein Überblick, in: Zeit der Postkutschen: drei Jahrhunderte Reisen (1600-1900) / hrsg. von dems., Karlsruhe 1992, S. 9-23. 36 Von Riga gab es seit 1665 eine Postverbindung nach Pleskau und weiter nach Moskau. Vgl. Georg Jensch [J. Jengs, Georgij Arnol'dovi Eng]: Das Postwesen in Livland zur Schwedenzeit, in: Sitzungsbe- richte der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde zu Riga 1934; No Zviedrijas pasta v- sture [Aus der Geschichte der schwedischen Post], in: Pasta un Telegräfa Dzive 1934, Heft 7, S.9-12; 0. Matisons: Zviedrijas karaliskä pasta 300 gadu jubileja [Das 300jährige Jubiläum der schwedisch-königlichen Post], in: Pasta un Telegräfa Wstnesis 1936, 2, S. 7f.; J. Jengs: Pasta satiksmes v"sture Latvijas teritorijä lidz dzelzcelu atkläganai [Geschichte des Postverkehrs auf dem Territorium Lettlands bis zur Einführung der Eisenbahn], in: Pasta un Telegräfa Wstnesis 1937, H. 6, S. 13-17; Stig Nilebrant und Karl-Erik Sten- berg: Schwedische Post in den Baltischen Ländern, in: Stockholmia 74: internationell frimärksutställning, Stockholm 1974, S. 137-152; Schwedens Post im Balticum, in: Philatelia Baltica (Hamburg) Nr.48 (1967), S. 4f.; Parsla Paersone: Jacob Becker and the beginning of the horse post in Livonia in the seventeenth century, in: Mare Nostrum (Wilna) 1999, 1, S. 51-69. 37 Vgl. Karl-Friedrich Schwinger: Kurze Postgeschichte von Danzig, in: Nordost-Archiv 1 (1968), S. 14-18; Eerik Selli: Postijaamad riigi ja reisija teenistuses [Die Poststationen im Dienste des Staates und der Reisen- den], Tallinn 1976; Harry Hofmann: Postgeschichte des Baltikums: die Entwicklung des allgemeinen Postwe- sens bis 1858, in: Nordost-Archiv 17 (1984), 74, S. 19-36; Tering (wie Anm. 21), S. 85f.

145 Ralph Tuchtenhagen

mar und Hamburg bis in die schwedischen Herzogtümer Bremen und Ver- den" hinzu. 1636 erschien Schwedens erste Postordnung. Die schwedische Post wurde als reguläre staatliche Einrichtung (Postverket 1636-1994, seit 1994: Posten AB) etabliert. In allen größeren Städten amtierten Postmeister. Gastwirte an den Poststraßen übernahmen die Aufgabe einer regelmäßigen Postbeförderung zwischen den Städten.39 1685 war das schwedische Post- system so weit vereinheitlicht und das Liniennetz so gut ausgebaut, dass Briefe, Frachten und Personen von Stockholm aus zweimal pro Woche an alle Enden des Reiches und ins Ausland befördert werden konnten.4° Die meisten Postverbindungen verliefen dabei über Land. Nur zwischen Hel- singör und Helsingborg, Ystad (Schonen) und Stralsund, Helsingfors (finn. Helsinki) und Reval bestanden Seeverbindungen. Dies entsprach der allge- meinen Tendenz, Nachrichten nicht übers Wasser zu transportieren, weil di- ese zu wertvoll waren, um sie dem Risiko einer Havarie auszusetzen»

38 Von Hamburg aus gingen Anschlussverbindungen in die schwedischen Herzogtümer Bremen und Ver- den. Vgl. Förslag till Post-Ordning, in: Rikskansleren Axel Oxenstiernas skrifter och brefvexling / hrsg. von Kongl. Vitterhets-, Historie- och Antikvitets-Akademien. Förra afdelningen, Bd. 1, Stockholm 1888, S. 359-363; Rennert (wie Anm. 32), S. 35-39; H. Andrasch: Mit der Postjacht Stralsund-Wittow-Ystad, in: Archiv für deutsche Postgeschichte 1957, 1, S. 38-40; Hans Roessner: Postgeschichtliches aus den Herzog- tümern Bremen und Verden zur Schwedenzeit, in: ebda. 1964, H. 1, S. 47-53; Kurt Grintsch: Die Post der alten See- und Hansestadt Wismar, in: ebda. 1970, H. 2, S. 41-44; Ludwig Dube: Die Königlich Schwe- disch-Pommersche Post in Mecklenburg, in: ebda. 1977, H. 2, S. 45f. 39 Postordnung Kristinas vom 20.1.1636. Auszugsweise gedruckt in: Alf Aberg: Hur nyheterna kom till Sverige, in: Den svenska historien, hrsg. von Gunvor Grenholm, Jerker Rosa., Sten Carlsson, Jan Cornell, Stockholm 1984, S. 69. Stodollordning 1639. Ingrica Nr.7. Riksarkivet Stockholm. Vgl. Carl Öhlander: Bidrag till kännedom om Ingermanlands historia och förvaltning, Bd. 1: 1617-1645, Upsala 1898, S. 131; H.U. Bormann: Die pommerschen Postkurse gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Postgeschich- te 1938, 1, S. 205-209. 40 Die Nachrichtenübermittlung ging jedoch langsam vonstatten. Die Post von Stockholm bis an die Endpunkte des innerschwedischen Postnetzes konnte bei schlechter Witterung und anderen widrigen Ver- hältnissen nach 1685 bis zu 14 Tagen dauern. Vgl. Aberg (wie Anm. 39), S. 68. 41 Endpunkte des innerschwedischen Netzes waren (Hamburg), Wismar, Stettin, Riga, Dorpat, Narva, Nyen, Nyslott (finn. Savonlinna), Tavastehus (finn. Hämeenlinna), Kajana (finn. Kajaani), Torneä (finn. Tornio), Östersund, Falun, Nora, Filipstad und Strömstad. Vgl. die Karte in: Aberg (wie Anm. 39), S. 69; Außerdem Nils Forssell: Svenska postverkets historia, 2 Bde., Stockholm 1936; August Schou: Postens historie i Norge, Oslo 1947; Laurin Zilliacus: Det gula hornet: glimtar ur postens historia, Stockholm 1958; Stig Nilebrant und Sven Rune Johansson: Frän fjäderbrev till flygpost, Stockholm 1974; Erik Lindgren: Posten i samhället: Skildringar frän fyra sekler, Stockholm 1986; Bo Andersson, Louise Palme, Pia Öd- mark u.a.: Brevet: en resa genom sekler, Stockholm 1986; Axel von Gernet: Geschichte und System des bäuerlichen Agrarrechts in Estland, Reval 1901, S. 67; Yrjö Kaukiainen: Sea routes, land routes, routes of culture, in: The Baltic Sea: a cultural transmitter; Seminar in the City of Kotka 31.7.-2.8.1986 / hrsg. von Ella Karjalainen, Kotka 1988 (Publication / Provincial Museum of Kymenlaakso; 10), S. 55-61, hier S. 58-61. Zur Entwicklung der Postverordnungen vgl. die Instruktionen für die Postoberbehörde und das Stockholmer Postkontor vom 2.1.1643, 13.10.1669, 10.6.1673 und 9.8.1704. Gedruckt in: Samling af in- structioner för högre och lägre tjenstemän vid landt-regeringen i Sverige och Finnland, föranstaltad af K. Samfundet för utgifvande af handskrifter rörande Skandinaviens historia / hrsg. von Carl Gustaf Styffe, Stockholm 1852, S. 456-528.

146 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Die brandenburgisch-preußische Postorganisation deckte die Strecke an der südlichen Ostseeküste von der preußischen Ostgrenze bei Memel über die Poststraße auf der Kurischen Nehrung oder über das Kurische Haff nach Königsberg, von dort über Pillau (russ. Baltijsk) und die Frische Nehrung nach Danzig oder nach Elbing und von dort weiter durch alle preußischen Gebiete bis ins Herzogtum Kleve ab. Dabei wurde das Postwesen im Ge- gensatz zu anderen deutschen Territorien (z.B. Württemberg, Kurpfalz) ge- genüber privaten (Thurn und Taxis) oder kaiserlichen Versuchen einer Post- und Verkehrsorganisation konsequent vom brandenburgisch-preußischen Staat monopolisiert und flächendeckend über das gesamte vom Staat bean- spruchte Gebiet ausgebreitet und vernetzt.42 Die brandenburgisch-preußische Post erhielt im Osten eine Ergänzung durch die herzoglich-kurländische Post. Diese erwies sich aus schwedischer Sicht jedoch als Störfaktor, weil sie als unzuverlässig und langsam galt. Schweden versuchte deshalb, die „kurländische Lücke" aus eigener Kraft zu schließen, konnte dies jedoch gegenüber dem kurländischen Herzog nur teilweise durchsetzen. Kurland markierte auf diese Weise im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert eine Binnengrenze zwischen dem nordöstlichen und dem südwestlichen Postverkehr im Ostseeraum» Trotz dieser kleinen Unregelmäßigkeit wird man jedoch sagen können, dass die Ostsee am Ende des 17. Jahrhunderts zu einem postalischen und damit auch permanent be- fahrenen Landwege-Binnenmeer geworden war. Zum postgeographischen Einfallstor in den Ostseeraum von Westen her wurde neben den Verbindungen in die brandenburgisch-preußischen West- territorien44 Hamburg. Von hier ging seit 1620 nicht nur die Post über Dä-

42 Vgl. Anton Friedrich Büsching: Beschreibung seiner Reise von Berlin über Potsdam nach Rekuhn unweit Brandenburg, Leipzig 1775; Heinrich Stephan: Geschichte der Preußischen Post von ihren Ursprün- gen bis auf die Gegenwart, Berlin 1859; Franz (wie Anm. 34), S. 192; Heinrich von Stephan (neubearb. u. fortgef. von Karl Sautter): Geschichte der preußischen Post, Berlin 1928 (Geschichte der deutschen Post; 1); Albert Gallitsch: Danzigs ältere Postgeschichte, in: Archiv für Post und Telegraphie 64 (1936), S.89-105; ders.: Der Hamburg-Danziger (pommersche) Postkurs, ebda., S.106-114; ders.: Die Einführung der Staats- post in Kurbrandenburg, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 7 (1958), S. 207-228; Klaus Beyrer: Die Postkutschenreise, Tübingen 1985 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen; 66), S. 48-53, 85-96; Fritz Steinwasser: Berliner Post: Ereignisse und Denkwürdig- keiten seit 1237, Berlin 1988; Tering (wie Anm. 21), S. 85-96. 43 Vgl. Parsla Ntersone: Entwicklung und Modernisierung des Post- und Transportwesens im Baltikum im 17. Jahrhundert, in: Acta Baltica 35 (1997), S. 199-218; dies.: Kurzemes un Zemgales hercogistes pasta organizäcijas loma baltijas jüras reüiona sakaru attistibä 17. gadsimtä [Die Rolle der Post im Hzm. Kur- land und Semgallen bei der Entwicklung der Verbindungen im Ostseeraum im 17. Jh.], in: Acta historica Vindaviensia = Ventspils Muzeja raksti 1 (2001), S. 154-171 (Dt. Zfsg. S. 170f.). 44 So existierte beispielsweise 1649 eine Postreiterverbindung zwischen Kleve und Memel, die 1660 in eine Fahrpoststrecke verwandelt wurde. Eine Alternativstrecke bot die kaiserliche und die sächsische Post von Aachen über Köln, Frankfurt, Leipzig; von dort mit der polnischen Post über Warschau (poln. Warszawa) nach Rußland. Transportzeiten: minimal 10 Tage zwischen Kleve und Memel, vier Tage zwischen Berlin und Königsberg: durch

147 Ralph Tuchtenhagen nemark nach Schweden und nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) auch nach Bremen-Verden, Wismar und Schwedisch-Pommern, sondern hier erfolgte auch die Gründung eines brandenburgischen (1649), dänischen (1653), schwedischen (1671), braunschweigisch-lüneburgischen (1682) und mecklenburgischen (1701) Postamtes. Hamburg wurde so zur Drehscheibe für Nachrichten, Frachten und Personen zwischen dem Ostsee- raum und dem westlichen Europa.45 Im Osten entstanden erst im 18. Jahrhundert Postanschlüsse, die die Do- minanz und Geschlossenheit des schwedischen und brandenburgisch-preu- ßischen Postverkehrs aufbrechen konnten. Von St. Petersburg (russ. Sankt- peterburg, Petrograd, Leningrad) ging die russische Post im ausgehenden 18. Jahrhundert - außer nach Moskau und Wiborg bzw. Fredrikshamn (firn. Ha- mina) in Russisch-Finnland - vor allem nach Riga (lett. Riga, Livland) und Mitau (lett. Jelgava, Herzogtum Kurland) über die Route Novgorod-Pskov- P&ora-Walk (estn. Valka, lett. Valga)-Wolmar oder über Narva-Reval-Per- nau (estn. Pämu)-Wolmar. Außerdem bestanden Postlinien von Reval nach Hapsal und von Pernau nach Arensburg (estn. Kuressaare) auf Ösel (estn. Saaremaa). Von Riga und Mitau aus war die russische Post mit dem preu- ßischen und polnischen Postnetz verbunden.46 Mit dem Aufkommen regulärer Postrouten und eines staatlich regulierten. Postwesens war auch eine Beschleunigung des Postverkehrs und eine Zunah- me der Menge der beförderten Güter (Menschen, Waren, Nachrichten) ver- bunden. Handelte es sich anfangs ausschließlich um Reitpost, so erforderte der zunehmende Postverkehr bereits seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun- derts Fahrposten („Diligenzposten"). 1683 erfolgte die Erweiterung der bran- denburgisch-preußischen Staatsreiterpost zur Fahrpost für den Brief- und Per- sonenverkehr. Sie wurde mit der brandenburgisch-preußischen Postordnung von 1712 zum Staatsmonopol („Postregal"). Ende des 17. Jahrhunderts ka- men Fahrposten nach brandenburgisch-preußischem Muster auch in den Her- zogtümern Oldenburg und Mecklenburg auf In Schweden mündete die von staatlicher Seite betriebene Systematisierung der bäuerlichen Fuhrdienste (schwed. tjuts) in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in die Fahrpost, die auch kleinere Warenmengen transportieren konnte. Zu Beginn des 19. Jahr- hunderts gelang mit der Einführung der Schnellpost, d.h. dem Transport von häufige Pferdewechsel möglich; vgl. North: Kommunikation (wie Anm. 35), S. 4. 45 Vgl. Gerhard Ahrens: Das Botenwesen der Hamburger Kaufmannschaft 1517-1821, FrankFurt/M. 1962; Fritz Voigt: Verkehr, 2 Bde., Berlin 1965, hier Bd.2/2: Die Entwicklung der Verkehrssysteme, S. 844; Eckart Klessmann: Geschichte der Stadt Hamburg, Hamburg 2002, S. 185f; Heinrich Mehl: Acker-, Markt- und Reise- wagen: Unterwegs in Schleswig-Holsteins Vergangenheit, Heide 1996;. Wilhelm Sager: Postgeschichte Schles- wig-Holsteins, Heide 2002; Finn Erhard Johannessen: Alltid underveis: postverkets historie gjennom 350 är. Bd. 1: 1547-1920, Bd.2: 1920-1997 / hrsg. v. von Lars Thue, Oslo 1997. 46 Vgl. Ajaloo atlas (wie Anm. 29), S. 13.

148 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Personen im Waren- und Nachrichtentransporttempo eine weitere Beschleu- nigung. Ein staatliches Diligenzsystem wurde in Schweden jedoch erst in den 1860/70er Jahren eingeführt." In Russland existierte eine reguläre Post in Form der jamskaja gon'ba bereits seit dem 13. Jahrhundert. Sie blieb bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten. Von Moskau aus brachten Postreiter auf diese Weise geschriebene Nachrich- ten in alle Himmelsrichtungen. An den Poststraßen befanden sich Pferdewech- selstationen (jamskie dvory), die von einem speziellen Amt, dem jamskij prikaz beaufsichtigt wurden. Sie erhielten mit der Gründung des Postdepartements die Bezeichnung Poststationen (poctovye stancii). Mit dem Ostseeraum wurde das russische Postsystem 1665 durch die Einrichtung der Postroute zwischen Mos- kau und Riga und 1669 zwischen Moskau und Wilna verbunden.48 Mit dem staatlich regulierten schwedischen und preußischen Postsy- stem entstanden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts klar strukturierte binnen- und zwischenstaatliche Verkehrsräume zu Lande. Wichtige Post- stationen waren die großen Städte wie z.B. Kopenhagen, Abo, Helsingfors, Nyen (später St. Petersburg), Narva, Reval, Riga, Memel (lit. KlaipMa), Königsberg, Danzig, Stettin, Stralsund, Wismar, Lübeck — um nur die wich- tigsten zu nennen. Damit wurde das 17. Jahrhundert zu dem Jahrhundert der Systematisierung des vormodernen Landverkehrs in Nordosteuropa. Das 18. Jahrhundert stand dagegen im Zeichen der Verbesserung und Beschleu- nigung des Erreichten.49 So gelang zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Einführung der Schnellposten, d.h. dem Transport von Personen im Waren- und Nachrichtentransporttempo, eine Innovation hinsichtlich der Beschleu- nigung, nicht jedoch in Richtung auf eine Systematisierung.5° 47 Vgl. Joachim Ernst von Beust: Versuch einer ausführlichen Erklärung des Postregals, 3 Bde., Jena 1747/48; Johann Heinrich Liebeskind: Rückerinnerungen von einer Reise durch einen Theil von Teutschland, Preußen, Kurland und Liefland, während eines Aufenthaltes der Franzosen in Mainz und der Unruhen in Polen, Straßburg 1795; Carl Feyerabend: Kosmopolitische Wanderungen durch Preußen, Liefland, Kurland, Litthauen, Vollhy- nien, Podolien, Galizien und Schlesien in den Jahren 1795 bis 1798, Bd. 3, Germanien [= Danzig] 1801; Meer- mann, Johann: Reisen durch den Norden und Nordosten von Europa in den Jahren 1797 bis 1800, Teil 2, Weimar 1810; Christian Hieronymus Justus Schlegel: Reisen in mehrere russische Gouvernements in den Jahren 178... [sic!], 1801, 1807 und 1815, 2 Bde., Meiningen 1819-1823; Stephan (wie Anm. 42); Friedrich Wilhelm Tapfer: Die deutschen Privatstadtposten, Diss. Königsberg 1908; Christian Carl Ludwig Klee: Eines deutschen Hausleh- rers Pilgerschaft durch Land und Leben (1792-1818), Reval 1913;: Stephan und Sautter (wie Anm. 42); Deutsche Postgeschichte / hrsg. von im Auftrag des Reichspostministeriums, Bd.1, Leipzig 1939, S.325-328; Voigt (wie Anm. 45), Bd. 2/2, S. 848. 48 Vgl. Wolfram Grallert: Erdball ohne Grenzen: ein Buch von der Post, Leipzig 21965; Organizacija i planirovanie po&ovoj svjazi [Organisation und Planung der postalischen Kommunikation] / hrsg. v. Fedor Jur'evic Krupjanskij u.a., Moskva 1971; Lija Jakovlevna Dobyina: Organizacija poCovoj svjazi [Organi- sation der postalischen Kommunikation], Moskva 41971. 49 Vgl. North: Kommunikation (wie Anm. 35), S. 4. 50 Vgl. Beyrer: Postkutschenreise (wie Anm. 42); Zeit der Postkutschen (wie Anm. 35); Hermann Glaser und Thomas Werner: Die Post in ihrer Zeit: Eine Kulturgeschichte menschlicher Kommunikation, Heidel- berg 1990; G. North: Eine Revolution im Reiseverkehr — die Schnellpost, in: Reisekultur (wie Anm. 35),

149 Ralph Tuchtenhagen

Daneben ist festzuhalten, dass die Entwicklung der zentralisierten, syste- matisierten und erweiterten staatlichen Postsysteme nur für kurze Zeit ein konstituierendes Merkmal einer nordosteuropäischen Geschichtsregion blieb. Im Gleichschritt mit der Entwicklung entsprechender Postsysteme jenseits des Ostseeraums (westpreußische Territorien, dänisch-norwegische Post im Nord- seeraum, Russland, reichsdeutsche Posten, etc.) erwies sich die Post zugleich als ein den Ostseeraum überschreitendes Verkehrs- und Kommunikationssy- stem, das seine Grenze keineswegs an den Grenzen staatlicher Territorien und Postorganisationen rund um die Ostsee fand, sondern ständig expandierte, und das den Ostseeraum mit anderen postalischen Räumen zu einem gesamt- europäischen Postnetz zusammenschloss. Zusammenfassend kann somit fest- gehalten werden, dass der nordosteuropäische Verkehr vor dem Aufkommen des frühneuzeitlichen Staates wenig reguliert und die Verkehrsgeographie schwach konturiert blieb. Am ehesten noch waren die Seehandelsrouten der Hanse geeignet, einen Verkehrsraum Nordosteuropa zu konstituieren. Dieser besaß seine Zentren in den großen Handelsstädten der südlichen Ostseekü- ste zwischen Lübeck und Reval. An seiner Peripherie lagen die Handelsstädte der Königreiche Dänemark, Schweden und des Fürstentums Novgorod. Der frühneuzeitliche Staat in Dänemark und Schweden, später auch in Russland und in den norddeutschen Fürstentümern erweiterte die Seehandels- routen durch die Seewege der Kriegsflotten und Postorganisationen, die im wesentlichen der Verkehrsstruktur der Hanse folgten, ihre Zentren jetzt jedoch in den entstehenden Residenzstädten (Kopenhagen, Stockholm, St. Peters- burg, Berlin, Schwerin, Gottorf) hatten. Insbesondere der staatlich regulierte Postverkehr brachte schließlich auch die Landstraßen in den nordosteuropä- ischen Verkehrsraum ein, erweiterte ihn dadurch ins Binnenland und machte ihn gegenüber anderen Verkehrsräumen anschlussfähig.Funktionell handelte es sich jedoch bei all diesen trafikalen Aktivitäten um reinen Subsistenzver- kehr. Menschen reisten — trotz gelegentlicher Bildungs- und Kavalierreisen im 16. und 17. Jahrhundert - nur selten aus purer Reiselust. Der Transport von Waren und Nachrichten beschränkte sich in aller Regel auf das Notwendige. Die Bildungsreisen, der zunehmende Transport von Luxuswaren und Nach- richten der eher sentimentalen Art, wie er im 18. Jahrhundert modisch wurde, zeigt bereits den Übergang zur Moderne an.

Moderne Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde der Verkehr in Nordost- europa wie im übrigen Europa „modern" — vor allem deshalb, weil er von den

S. 291-297. ders.: Kommunikation (wie Anm. 35), S. 4f.

150 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Zeitgenossen als modern empfunden wurde. Die Aufhebung der Grenzen von Zeit und Raum durch Technik war der neue Götze der Zeit, wie ihm ein Jahr- hundert später die italienischen Futuristen unverhohlen huldigten und wie ihn die fortschrittskritischen Geister gleichzeitig verteufelten.5' Neue, schnellere Ver- kehrsmittel mit größerer Transportkapazität verdrängten die traditionellen Ver- kehrsmittel oder traten zumindest mit ihnen in Konkurrenz. Die Erfindung der Ei- senbahn, des Telegrafen und Telefons, des Autos und Flugzeugs und schließlich die Einführung der internationalen Computernetze und Satellitensysteme führten zu einer nie da gewesenen Beschleunigung und Verdichtung des Verkehrs — auch in Nordosteuropa und insbesondere hinsichtlich seiner verkehrsgeographischen Struktur.52 Das 19. Jahrhundert brachte neben der Weiterführung der staatlichen Projekte des 18. Jahrhunderts vor allem eine Verbesserung der Infrastruktur. Der Ausbau von Kanälen und Straßen, besonders aber der gegen das Jahrhundertende energisch vorangetriebene Eisenbahnbau ermöglichte eine effektivere inner- und interregionale Zusammenführung von Menschen, Produktions- und Absatzzen- tren, Nachrichtensendern und -empfängern.

Wasser- und Luftverkehr Der nordosteuropäische Verkehr wurde im 19. und 20. Jahrhundert mo- dern, seine geomorphologischen Grundlagen wurden es nicht. Das dominie- rende Raumelement, zu dessen Überwindung sich die Moderne anschickte, war und blieb das Wasser: das Ostseebecken, seine Zuflüsse und die Seen an seiner Peripherie. Auf diesem Hintergrund konnten sich die Verkehrs- mittel auch in der Moderne nicht grundsätzlich ändern. Allerdings wurden die Schiffe durch technische Neuerungen (Dampf-, Ölmotoren, Nuklearre- aktoren, Konstruktionsverbesserungen u.a.) schneller, sicherer und aufnah- mefähiger; und sie erhielten einen noch weit schnelleren, allerdings wetter- anfälligeren und kapazitätsärmeren Konkurrenten: das Flugzeug. Seeverkehr: Der Seeverkehr behielt somit seine frühere Bedeutung durch- aus bei. Allerdings wandelte sich seine Funktion mit dem Aufkommen der neuen landgebundenen Verkehrsmittel und besonders mit dem Aufbau von Eisenbahnnetzen. Diese entzogen den Seehäfen zum Teil Verkehr, führten ihnen aber auch neuen Verkehr zu, indem sie — wie die Kanal- und Straßen- systeme der Vormoderne - den Einzugsbereich der Seehäfen ins Binnenland hinein bedeutend erweiterten. In Finnland (Abo, Helsingfors, Kotka, Wi- borg), Estland (Narva, Reval), Livland (Riga, Windau, lett. Ventspils) und Kurland (Libau, lett. Liepäja) stieg die Bedeutung der Seehäfen in der zwei-

51 Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert / hrsg. von Michael Salewski und Ilona Stölken-Fitschen, Stuttgart 1994 (Historische Mitteilungen; Beih. 8). 52 Richard Hennig: Verkehrsgeschwindigkeiten in ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1936.

151 Ralph Tuchtenhagen ten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprunghaft an, weil sich die Menge der Tran- sitwaren im Zuge der Industrialisierung des Landes und infolge der neuen Transportmöglichkeiten über die Eisenbahnnetze ständig erhöhte. Nach dem Ersten Weltkrieg tauchte Polen als neuer Spieler im Ostseeschiffsverkehr auf." In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen verzeichneten die etwa gleich stark frequentierten Häfen in den genannten Ländern mehr Schiffe als Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien oder Portugal. Damit wurden sie im Gegensatz zu den weiter westlich gelegenen Staaten zu Hochfrequenzhä- fen. Anders lagen die Verhältnisse beim Transportvolumen. Dieses war z.B. in Lettland ca. dreimal niedriger als in Dänemark, viermal niedriger als in England, 14-mal niedriger als in den Niederlanden und 19-mal niedriger als in Norwegen. Beide Werte deuten auf eine Konzentration des Seeverkehrs im nordöstlichen Ostseeraum einerseits und in der Nordsee andererseits hin. Allerdings hat die Konzentration des Seeverkehrs im nordöstlichen Ostsee- raum, d.h. in den von der Sowjetunion kontrollierten Küstenabschnitten, nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der Nutzung verschiedener Häfen für militärische Zwecke (z.B. Windau oder Libau, Lettland) und des zuneh- menden Autoverkehrs stark abgenommen» Für den geographischen Raum des heutigen Dänemark, Schweden, Finn- land, Nordwestrussland, Estland und Lettland hatte der Seeverkehr im 19. und 20. Jahrhundert wie auch schon früher eine wesentlich höhere Bedeu- tung als für Litauen, Polen oder Deutschland, wo der Binnenverkehr zu. Lan- de und Wasser dominierte." Die Häfen von Memel (lit. KlaipMa), Königs- berg (russ. Kaliningrad), Gdingen (poln. Gdynia), Stettin (poln. Szczecin), Swinemünde (poln. Swinouj§cie), Stralsund, Wismar oder Rostock haben nie die Bedeutung erlangt wie die Häfen in den genannten Gebieten. Eine Ausnahme stellte allerdings Danzig dar, dessen Frachtgutaufkommen den ge- samten südlichen Ostseeraum beherrschte." Diese Zweiteilung des Ostseeraums 53 Vgl. Michael Roe: Polish shipping under Communism, Aldershot 2001. 54 Vgl. Hugo Heeckt: Die Seehäfen in Skandinavien und im übrigen Ostseeraum, Hamburg 1968 (Hand- buch der europäischen Seehäfen / hrsg. von Horst Sanmann; Bd.2), S. 11; Inga Balode und Juris Pajders: Ekonomieskaja geografija gosudarstv severnoj Evropy [Wirtschaftsgeographie der Staaten Nordeuropas], Riga 1996, S. 38f. 55 Hier sei nur das Beispiel Russland angeführt: Die Handelswege des äußeren Handelsverkehrs für das Russische Reich zeigten z.B. zum 1. Januar 1894 für die Ostsee einen Anteil von 34,9% (5.578 Schiffe, 3.343128 Tonnen) und für das Weiße Meer von 0,8% (683 Schiffe, 265.434 Tonnen) (vgl. Landgrenzen 32,7%, Schwarzes und Asowsches Meer 31,6%). Die wichtigsten Häfen für den Seehandel waren St. Pe- tersburg, Odessa, Riga, Libau, Reval und Archangel'sk. In zweiter Linie kamen Wiborg, Helsingfors, Abo, Narva, Baltischport, Pernau und Windau. Der Anteil der ausländischen Schiffe lag dabei bei über 90%. Davon fuhren die meisten unter britischer, andere unter skandinavischer, deutscher, griechischer und dä- nischer Flagge. St. Petersburg war der größte Umschlagplatz für den russischen Außenhandel. Vgl. Meyers Konversations-Lexikon, Bd.14, Leipzig u. Wien 51896, S. 1067. 56 Vgl. Kratkij istoriä'eskij &erk razvitija vodjanych i suchoputnych soobkenij i torgovych portov v Rossii [Kurzer historischer Abriss der Entwicklung der Wasser- und Landverkehrsverbindungen und der Handelshä-

152 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas spiegelt sich auch in der Entwicklung der Schiffskapazitäten. Zwar kamen mit dem Aufbau einer preußischen und schleswig-holsteinischen Kriegsflotte seit 1848 und der deutschen Handelsflotte im späten 19. Jahrhundert neue Mitspieler in der Ostseeschifffahrt hinzu» Andererseits konnten die tradi- tionellen maritimen Länder ihre Kapazitäten — nicht zuletzt durch das Auf- kommen der Dampfschifffahrt und den regulären Fährverkehr — ebenfalls weiter ausbauen." Überhaupt stellte der reguläre Fährverkehr ein modernes Element im Ostseeverkehr dar. Er wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur alltäglichen Erscheinung. An der Wende zum 20. Jahrhundert bestanden zwischen allen größeren Städten im Ostseeraum Fährverbindungen. Wäh- rend der Zeit des Kalten Krieges wurde der Fährverkehr zwischenzeitlich stark beeinträchtigt. Heutzutage hat er jedoch sein ehemaliges Niveau wie- der erreicht? Binnengewässer: Die Binnengewässer büßten mit der Modernisierung, vor allem mit dem Aufkommen der Eisenbahn und des Autos, ihre Funktion als Hauptwege des binnenländischen Verkehrs teilweise ein. Zum einen wur- den sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit regelmäßigen Fährverbin- dungen und Anbindung an den Straßenverkehr versehen, was eine Aufwer- tung der Landstraßen mit sich brachte. Zum anderen beschränkte sich die Binnenschifffahrt und die Flößerei seit den 1920er Jahren weitgehend auf Fährtransport und Tourismus. Dies gilt für die schiffbaren Seen, Flüsse und Kanäle, insbesondere in Finnland, Estland und Nordwestrussland gleicher- maßen. Doch haben einige Binnengewässer, vor allem die nordostdeutschen fen Russlands], Sanktpeterburg 1900; Johannes F. Tismer: Die Transportentwicklung im Industrialisierungs- prozess der Sowjetunion, Berlin 1963; Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 85, 237. 57 Vgl. Friedrich Harkort: Die deutsche und preußische Marine und ihre Häfen, Hagen 1863; Max Bär: Die deutsche Flotte von 1848-1852: nach den Akten der Staatsarchive zu Berlin und Hannover, Leipzig 1898. Heinrich Wendlandt: Die Gründung der deutschen Kriegsflotte im Jahre 1848 und ihre Entwick- lung bis 1854, Diss. Breslau 1928; Walther Hubatsch: Schweden, Russland und Preußen-Deutschland als Ostseemächte, in: Studien zur Geschichte des Preussenlandes: Festschrift für Erich Keyser, Marburg/L. 1963; ders.: Kaiserliche Marine: Aufgaben und Leistungen, München 1975; Gerd Stolz: Die Schleswig- Holsteinische Marine 1848-1852, Heide in Holstein 1978; Deutsche Marine: die erste deutsche Flotte / red. von Uwe Schall, Bremerhaven 1979 (Führer des Deutschen Schiffahrtsmuseums; 10); Helge bei der Wie- den: Die mecklenburgischen Häfen und die deutsche Flotte 1848/49, in: Beiträge zur mecklenburgischen Seefahrtsgeschichte / hrsg. von dems., Köln u. Wien 1981 (Schriften zur mecklenburgischen Geschichte, Kultur und Landeskunde; 5), S. 47-58. 58 Vgl. für Dänemark: I.C. Weber: Fra hjulskibenes dage, Kobenhavn 1919; für Russland: Richard Mow- bray Haywood: The beginnings of steamboats an the Volga river and its tributaries, 1817-1856, in: Re- search in Economic History 6 (1981), S. 127-192. 59 1965 entstand die Fährverbindung zwischen Reval und Helsingfors, 1975 folgte die zwischen Reval und Stockholm. Die wichtigsten Verbindungen heute bestehen zwischen St. Petersburg und Stockholm, Riga und Stockholm, Helsingfors und Reval, Helsingfors und Stockholm, Turku und Stockholm, Reval und Stockholm, Fehmarn und Rodby, Travemünde und Trelleborg, Travemünde und Riga, Rostock und Libau. Vgl. Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 68.

153 Ralph Tuchtenhagen

Kanalsysteme60, der Saimaa-Kanalm und der mit diesem verbundene See- und Flussweg von der Ostsee an die Wolga, ihre traditionelle Bedeutung für den Wirtschaftsverkehr beibehalten.' Bedeutung als Einfallstore in den Ostseeraum erlangten die Seekanä- le, von denen die wichtigsten in den Nordseeraum der Nord-Ostsee-Kanal und der Göta-Kanal, in den Eismeerraum der Weißmeer-Ostsee-Kanal sind. Als Vorstufe zum Nord-Ostsee-Kanal fungierte der seit 1391 zwischen Elbe und Ostsee bestehende Steckritz-Kanal, der ab 1896 zum Elbe-Trave-Kanal erweitert wurde. Das Konkurrenzprojekt, der Nord-Ostsee-Kanal, war kurz zuvor fertiggestellt worden. Erste Planungen zur Anlage eines solchen See- weges durch die schleswig-holsteinische Landenge hatten schon in der Mit- te des 18. Jahrhunderts bestanden und waren mit dem Eider-Kanal (Kieler Bucht-Obere Eiderseen) unter dem dänischen König Christian VII. (1766- 1808) teilweise in die Tat umgesetzt worden. Als Gesamtprojekt zur Ausfüh- rung kamen die Pläne jedoch erst in den Jahren 1888-1894.63

60 So z.B. der bei Magdeburg beginnende Mittellandkanal. Seit 1844 entstand der wegen seiner spektaku- lären Technik der geneigten Ebenen bekannt gewordene Oberländer Kanal (Elbing-Osterode, poln. Oströ- da), um den Transport von Schnittholz aus den oberländischen Wäldern an die Ostsee zu erleichtern. Durch das 1935 erlassene „Reichsgesetz zur Verbesserung der Schiffbarkeit der Elbe" entstanden weitere Kanäle wie der Göring-Kanal (Dahme-Spree, 1935), der Elbe-Havel-Kanal (1936). Der Plauer und der Ihle-Kanal (Magdeburger Raum-Berlin) wurden seit 1942 verbreitert. Vgl. Fritz Markmann und Johann Thies: Die deutschen Flüsse und Kanäle, Leipzig 1942; Peter Rehder: Bauliche und wirtschaftliche Entwickelung der lübeckischen Schiffahrtsstraßen und Hafenanlagen, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte 11 (1909), S. 339-373; Oskar Teubert: Die Binnenschiffahrt, Leipzig 1912; Richard Wreden: Vorläufer und Entstehen der Kammerschleuse, ihre Würdigung und Weiterentwicklung, in: Beiträge zur Geschich- te der Technik und Industrie. Jahrbuch des Vereins deutscher Ingenieure 9 (1919), S. 130-142; Martin Eckoldt: Deutsche Flüsse und Kanäle, in: Wasserwirtschaft 40 (1950), S. 255-260, 290-295. 61 Der „Belomorsko-Baltijskij Kanal imeni Stalina" entstand zwischen 1931 und 1934 und verbindet das Weiße Meer bei Soroka mit dem Vyg-, Onega- und Ladogasee und (via Svir' und Neva) der Ostsee. Vgl. Belomorsko-Baltijskij Kanal imeni Stalina: Istorija stroitel' stva 1931-1934 gg. / hrsg. von M. Gorskij, L. Averbach und S. Firin, o.O. 1934. 62 Für Russland lassen sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zwei Verdichtungsräume von Fluss- und Kanalnetzen unterscheiden. Bei den Flussnetzen der nordwestliche (Ladogasee, Svir, Dvina, Onegasee, Embach, Peipussee, Volchov, Ilmensee) und der südliche (Volga, Dnepr, Don, Asovsches, Schwarzes und Kaspisches Meer); bei den Kanalnetzen der nordwestliche und der südwestliche. Zur nord- westlichen mit Nanij Novgorod im Zentrum gehören die Systeme des Kaspischen Meeres, des Weißen Meeres und der Neva sowie der nördlichen Seen (23.086 km schiffbare Wege 1894). Zum südwestlichen mit Kiev im Zentrum gehören die Systeme des Dnepr, der Düna, der Memel und der Weichsel (2.308 km 1894).Vgl. Emilij F. Gergel'man [Emil August Ferdinand von Hoerschelmann]: Istorieskij &"erk vnutren- nych vodjanych soobgä'enij [Historischer Abriss der binnenlänischen Wasserstraßen], St. Petersburg 1892; Andrei Lebed und Boris Yakovlev: Soviet waterways: the development of the inland navigation system in the USSR, München 1956; Adam Rudzki: Roads, waterways, and seaports in captive Europe, New York 1954 (Mimeograph Series; 15); A. Videckij: R&"noj transport SSSR 1917-1957 gg. [Die Flußschiffahrt in der UdSSR 1917-1957], Moskva 1957; Johannes F. Tismer: Die Transportentwicklung im Industrialisie- rungsprozess der Sowjetunion, Berlin 1963; Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 68, 98, 218; Hartley (wie Anm. 25), S. 159. 63 Vgl. Wolfgang Michael: Das Project eines Nord-Ostsee-Kanals im Jahre 1748, in: Zeitschrift der 154 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Pläne für eine Verbindung von Nord- und Ostsee bzw. Göteborg und Stockholm zur Umgehung des für Schweden lästigen Öresundzolls an Däne- mark bestanden bereits seit 1526. Erste Schritte in diese Richtung waren mit der Kanalisierung des Eskilstuna-Flusses zwischen dem Hjälmar- und Mälar- See 1596-1610, der Verbindung des Hjälmar-Sees mit dem Arboga-Fluss 1629-1639 und Vorarbeiten zwischen Göteborg und dem Vätter-See unter- nommen worden. Ausbau, Verbesserung und Komplettierung der gesamten Strecke erfolgten jedoch erst zwischen 1808 und 1810.64 Der Weißmeer-Ostsee-Kanal (russ. Belomorsko-Baltijskij Kanal ime- ni Stalina) entstand zwischen 1931 und 1934 und verbindet das Weiße Meer bei Soroka über das Seensystem des Vyg, Onega und Ladoga (via Svir' und Neva) mit der Ostsee. 65 Trotz ihrer zahlreichen Kanalsysteme war die Peripherie des Ostsee- raumes bei weitem nicht die wichtigste Kanalregion Europas. Vielmehr führten Frankreich und die Niederlande noch im 19. Jahrhundert die Liste der am dichtesten vernetzten europäischen Kanalsysteme an.66 Heutzutage gehören Finnland, das ungefähr die gleiche Länge von Wasserstraßen be- sitzt wie Frankreich, und Polen, das in dieser Hinsicht den Niederlanden. entspricht (ca. 4.000 km), zu den führenden Ländern im Verkehr auf Bin- nengewässern.67 Flugverkehr: Gegen Ende der 1910er Jahre erhielt Nordosteuro- pa mit der Gründung der „Deutschen Luftreederei" (1917, umben- annt in „Deutsche Lufthansa" 1926) und der Bedienung der Rou- te Berlin-Hamburg (1919) seine erste reguläre Fluglinie (neben der Route Berlin-Weimar außerhalb des hier interessierenden geogra- phischen Raumes). Es folgte der Aufbau eines reichsweiten Luftfahrt- netzes bis 1939, das auch die nordöstlichen Teile des Deutschen Reiches, vor allem die Verbindung zwischen Ostpreußen und dem übrigen Preu- ßen umfasste.68 Seit Anfang der 1920er Jahre wurden in Dänemark69,

Gesellschaft für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte 19 (1889), S. 201-208, hier S. 206ff.; Der Nord-Ostsee-Kanal, Kiel 1955; Pilkington (wie Anm. 28), S. 561; Enno Vering: Bahnen, Häfen und Kanäle: die Arbeitsgebiete von Carl und Hermann Vering, den Pionieren des Verkehrswegebaus im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1996, S. 159-194, 292-304. 64 Vgl. Gustaf Nerman: Hjälmare kanals historia, Uppsala 1910; Skempton (wie Anm. 26); Pilkington (wie Anm. 28), S. 554. 65 Vgl. Belomorsko-Baltijskij Kanal (wie Anm. 61). 66 Vgl. Leveson Frances Vernon-Harcourt: Rivers and canals, 2 Bde., Oxford 21896; Pilkington (wie Anm. 28), S. 555-560. 67 Dennoch entfällt auf die Wasserstraßen in Polen nur ein Anteil von unter 1% des polnischen Transportwesens. 68 Vgl. Voigt (wie Anm. 45), Bd.2/2, S. 737, 743. 69 In Dänemark entstand die erste europäische Fluggesellschaft „Den Danske Luftfartselskab" (DDL) im Jahre 1918. Der internationale Flughafen Kopenhagen besteht seit 1925. Vgl. Poul Westphall: Kobenhavns lufthavn 1925-1975, Kobenhavn 1975.

155 Ralph Tuchtenhagen

- Russland", Schweden71, Norwegen72, Finnland', Estland'', 70 Die erste internationale Flugverbindung entstand 1922 auf der Route Moskau-Königsberg (später verlän- gert nach Berlin). Die erste russische (sowjetische) Fluggesellschaft „Aäpflot" entstand 1923. Zum Zentrum der jungen russischen Luftfahrt wurde GatC'ina bei St Petersburg, wo der erste russische Verkehrsflughafen entstand. Heute ist der internationale Flughafen von St. Petersburg „Pulkovo II" der wichtigste Flughafen für den russischen Flugverkehr mit Nordosteuropa. Daneben besitzen Novgorod und Pleskau wichtige Verkehrs- flughäfen in der Region. Vgl. Vadim Borisovi gavrov: Istorija konstrukcija samoletov v SSSR do 1938 goda [Geschichte des Flugzeugbaus in der UdSSR bis zum Jahre 1938], Moskva 1986; ders.: Istorija konstrukcija samoletov v SSSR ot 1938 do 1950 goda [Geschichte des Flugzeugbaus in der UdSSR bis von 1938 bis 1950], Moskva 1978; Vozduchoplavanie i aviacija v Rossii do 1907 goda: Sbornik dokumentov i materialov [Die Luftschifffahrt und Luftfahrt in Russland bis 1907: Dokumente und Materialien] / hrsg. von Vsevolod AlekseeviC' Popov, Moskva 1956; Rostislav Ivanovid Vinogradov und Aleksej Minaev: Samolety SSSR [Die Flugzeuge der UdSSR], Moskva 21961; Graidanskaja aviacija SSSR 1917-1967 [Die zivile Luft- fahr der UdSSR], Moskva 1968; Aviacija i kosmonautika SSSR [Luft- und Raumfahrt der UdSSR], Moskva 1968; Gerhard Wissmann: Geschichte der Luftfahrt, Berlin 1960; Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 98; . 71 Die erste schwedische Fluggesellschaft „ AB Aerotransport" (ABA) entstand 1924. 1929 begann der schwedische Linienluftverkehr mit Knotenpunkten in Stockholm, Göteborg und Malmö. 1943 wurde die schwedische Gesellschaft für internationale Flüge SILA gegründet. Ab den 1960er Jahren pluralisierte sich der Flugverkehr in mehreren Fluggesellschaften: WestAir (Karlstad, gegr. 1962), Falcon Air (Gö- teborg, gegr. 1966, heute vor allem Postflüge), Nordkalottflyg (Arlanda, gegr. 1974), Malmö Aviation (Malmö, gegr. 1981), International Business Air AB (Bromma, gegr. 1981), European (Karlstad, gegr. 1992), Goldenair (Lidköping, gegr. 1993), AB Värmlandsflyg (Torsby, gegr. 1997). Nach der Gründung von Scandinavian System (SAS, 1951) (s.u.) entstanden neue, nationale, Fluggesellschaften wie „Skyways" und „Air Botnia". Vgl. Björn] T[örnblo]m.: Lufttrafik, in: Svensk uppslagsbok, Bd.18, Malmö 21951, Sp .750-758; , . 72 Norwegen erhielt seine erste Fluggesellschaft „Det norske Luftfartsverket" (DNL) 1927. 1934 wurde die Fluggesellschaft „Widereie" ins Leben gerufen. Sie nahm in den 1950er Jahren einen beträchtlichen Aufschwung. Heute bedient sie in Nordosteuropa die Routen Sandefjord-Stockholm/Kopenhagen und Oslo-Göteborg/Billund; . 73 1923 begann die finnische Fluggesellschaft „Aeronaut" regelmäßige Flüge zwischen Helsingfors und Reval. Im gleichen Jahr wurde die finnische Fluggesellschaft „ 0/Y" (seit 1947: „Finnish Air Lines", seit 1968: Finnair Oy) gegründet, die 1924 die Route nach Reval übernahm und außerdem eine Verbindung nach Stockholm einrichtete. 1927 kam die Route Abo-Stockholm hinzu. Der Inlandsflugverkehr startete 1937. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bestanden Verbindungen zwischen Helsingfors und re- spektive (Inlandslinien) Abo, Wiborg, Tammerfors (finn. Tampere), Mariehamn (finn. Maarianhamina), Vasa (finn. Vaasa), Gamlakarleby (finn. Kokkola), Uleäborg (finn. Oulu), Kemi, Rovaniemi, Sodankylä, Petsamo (russ. P&'enga), Björneborg (finn. Pori), Hyvinge (finn. Hyvinkää), und Kuopio bzw. (Auslands- linien) Reval, Riga, Kaunas, Königsberg, Berlin und Stockhohn. Nach einer längeren Unterbrechung wäh- rend des Zweiten Weltkrieges nahm „Finnish Air Lines" seine nordosteuropäischen Verbindungen teilweise wieder auf (1947: Stockholm, Kopenhagen, 1961: Hamburg, Malmö (bis 1991/92), 1964-1991/92: Göte- borg, 1973: Ost-Berlin, 1988-2000: Lappeenranta-Leningrad). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden alte und neue Verbindungen aufgenommen (1990: Reval, 1994: Wilna, Petrozavodsk (finn. Petro- skoi), Oslo, 1995: Bergen, 1997: Tromso, 2001: Lakselv/Nordnorwegen). Vgl. Finnair — the art of flying, Helsinki 1983; . 74 Die erste estnische Fluggesellschaft wurde 1921 gegründet. Sie bediente die Strecken Reval-Stock- holm seit 1921, Reval-Helsingfors seit 1924. In der Folgezeit wurden auch die innerestnischen Verbin- dungen, insbesondere zwischen dem Festland und den Inseln (z.B. Pernau-Arensburg), aber auch zwischen den größeren Städten Estlands (Pernau, Dorpat, Narva, u.a.) ausgebaut. Der für Nordosteuropa wichtigste (internationale) Flughafen bleibt jedoch Reval. 1991 wurde „Estonian Air" gegründet. Innerhalb Nord- osteuropas nahm sie den Verkehr von Reval nach Helsingfors (1996), Riga (1998), Kopenhagen/Oslo/ 156 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Lettland", Litauen76 und Polen" Fluglinien für den Post-, Waren- und Per- sonenverkehr eingerichtet. Sie übernahmen neben der Eisenbahn die Funk- tion von Ferntransportmitteln, die teuer waren und gegenüber der Eisenbahn eine relativ beschränkte Transportkapazität besaßen, allerdings den mariti- men Ostseeverkehr an Geschwindigkeit im wahrsten Sinne des Wortes weit überflügelten. So wie die Eisenbahn zur beschleunigten Form des Überland- verkehrs wurde, stellte der Flugverkehr die beschleunigte Form des Seever- kehrs dar. Die ersten binationalen Flugverbindungen entstanden zwischen den Hauptstädten der Ostseeanrainerstaaten: Stockholm wurde mit Reval (1921), Kopenhagen (1925) und Helsingfors (1929) verbunden sowie Reval mit Riga (1922) und Helsingfors (1924). Die erste multinationale Verbin- dung (Berlin-Kopenhagen-Malmö) kam 1929, die erste multinationale Per- sonenfluglinie 1937 (Berlin-Riga-Helsingfors) zu Stande. Eine Vernetzung des Personen-Flugverkehrs mit dem Personen-Bahnverkehr erfolgte mit dem ersten internationalen Abkommen über den Flug-Eisenbahn-Personen- verkehr bereits 1928. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (1936/37) schließlich schickten sich die Fluggesellschaften an, die Verkehrsgrenzen Nordosteuropas und Europas überhaupt zu überwinden und die ersten re-

Stockholm (1999), Hamburg u. Wilna (2002) auf. Vgl. Ants Künnapuu: Teedel öhuavarustesse [Auf dem Weg in die Weiten des Himmels], Tallinn 1979; Endel Puusepp: Kaugeteel lennuteedel [Der lange Weg zum Fliegen], Tallinn 1973; Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 69; Fredrik Gerdessen, Toivo Kitvel und Johannes Tilk: Aeg, mehed, lennukid: Eesti lennundusa arengulugu kuni 1940. aastani [Zeit, Männer, Flugzeuge: Entwicklungsgeschichte der estnischen Luftfahrt bis 1940], Tallinn 2001; . 75 Die erste lettische Fluggesellschaft wurde 1921 gegründet. Sie bediente die Strecken Riga-Libau seit 1921, Riga-Reval seit 1922. Die heutige AirBaltic fliegt von Riga aus die nordosteuropäischen Flughäfen Reval, Helsingfors, Stockholm, Kopenhagen, Berlin, Warschau und Wilna an. Vgl. Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 219; . 76 Die erste litauische Fluggesellschaft entstand 1938 auf der Strecke Kaunas-Polangen (lit. Palanga). Seit 1991 besitzt Litauen erneut eine eigene Fluggesellschaft „Lithuanian Airlines". Sie bedient seit 1993/95 internationale Strecken innerhalb Nordosteuropas zwischen Wilna, Warschau, Stockholm und Kopenhagen. Flughäfen befin- den sich in Wilna, Kaunas, Schaulen (lit. iauliai), Ponewiesch (lit. Panevays), Druskininkai und Polangen. Vgl. Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 85; . 77 Die erste polnische Fluggesellschaft „Aerotarg" wurde 1921 gegründet. 1922 erfolgte die Gründung der „Aerolloyd", die die Strecke Danzig-Warschau-Lemberg (poln. Lwöw) bediente. Aus ihr ging 1924 die „Aerolot AG" (seit 1929: „Polskie Linje Lotnicze LOT") hervor. Diese nahm 1931 den internationalen Flugverkehr auf. In Nordosteuropa wurde sie 1932 mit den Linien Warschau-Helsingfors und Warschau- Wilna-Riga/Reval aktiv. Nach der Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg nahm sie in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre den nordosteuropäischen Flugverkehr (1945: Warschau-Stockholm/Berlin, 1949: Warschau-Kopenhagen) wieder auf. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eröffnete LOT weitere Routen (1991: Warschau-Wilna/Minsk, 1993: Warschau-Oslo (via Stockholm)/Riga, 1994: Warschau-Re- val, 1996: Posen (poln. Poznaii)-Kopenhagen). Außer den genannten existieren internationale Flughäfen in Krakau (poln. Kraköw), Stettin. Darüber hinaus gibt es weitere Verkehrsflughäfen in Grünberg (poln. Zielona Göra), Breslau (poln. Wroclaw), Bromberg (poln. Bydgoszcz), Lödi, Kattowitz (poln. Katowice), Rzeszöw. Vgl. Adam Rudzki: Organization of transportation in captive Europe, New York 21954 (Mid Eu- ropean Studies Center. Mimeograph Series; 10); Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 128; . 157 Ralph Tuchtenhagen gulären Überseeverbindungen einzurichten. Dieser Schritt markierte zu- gleich den Übergang von der Pionierzeit zum Weltluftverkehr, der mit der Gründung der Internationalen Luftverkehrs-Vereinigung (International Air Traffic Association, IATA; seit 1945: International Air Transport Associ- ation) bereits als Vision bestand. Heute existiert ein dichtes Netz von nati- onalen und internationalen Verbindungen, wobei Deutschland, Dänemark, Schweden und Russland, also Länder, die die Ostsee begrenzen, den Luft- raum über Nordosteuropa dominieren. Bei den Fluggesellschaften fanden im Laufe der Zeit Konzentrationsprozesse statt. So entstand 1951 „Scan- dinavian Airlines System" (SAS)78 als Gemeinschaftsprojekt von drei der fünf „Norden"-Staaten (Dänemark, Norwegen, Schweden). Zur wichtigsten Drehscheibe des Westens zwischen Nordosteuropa und West- bzw. Mittel- europa entwickelte sich der Flughafen von Kopenhagen, zur Drehscheibe des Ostens St. Petersburg.79

Überlandverkehr: Straßen und Eisenbahnen Straßenverkehr: Wie alle anderen Verkehrsarten erlebte auch der Über- landverkehr Nordosteuropas im ausgehenden 18. Jahrhundert einen Pro- zess der Verdichtung, Beschleunigung und Differenzierung. Das einschnei- dendste Ereignis war hier — wie in anderen Teilen Europas — die Erfindung der Eisenbahn. Zunächst jedoch wurde das bestehende Straßennetz bewahrt und im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter verdichtet." Etwas vereinfacht ausgedrückt wurden fast alle Landstraßen zu Poststraßen, und die „Chaus- see" entwickelte sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zur neu- en Zauberformel bei der Befestigung der Landwege. Eine Verdichtung des Landwegenetzes stellte auch die zunehmende Über-Brückung der Ostsee dar. Wichtige Brücken- und Dammverbindungen, angefangen mit dem Damm zwischen den Inseln Moon (estn. Muhu) und Ösel (Estland 1896) über den Rügendamm (1936) und die Ölandbrücke (1972) bis hin zur Brücke über

78 Vgl. Jens Christensen: IT and business: A history of Scandinavian airlines, Aarhus 2000. 79 Vgl. Hans Altmann: Die Zusammenarbeit des Luftverkehrs, Berlin 1939; Ilse Wolff: Die Verdichtung des Flugverkehrs und des Flugplanes unter Berücksichtigung des deutschen Flugverkehrs in der Zeit von 1919- 1939, Heidelberg 1941; Wsewolod Alexejewitsch Popow: Geschichte der Luftschiffahrt und des Flugwesens in der UdSSR, Moskva 1944; Wladimir Iwanowitsch Krylow: Die Geschichte der Luftfahrt, Berlin 1953; Heinz Röhm: Die Entwicklung des europäischen Luftverkehrs, in: Internationales Archiv für Verkehrswesen 9 (1957), 18, S. 409- 414; Voigt (wie Anm. 45), Bd.2/2, S. 743f. 748; . 80 So z.B. der große Weg von Dorpat über Walk und Wolmar nach Riga, die Poststraße von Reval und Dorpat über Narva nach St. Petersburg. S. Eesti Ajalooarhiiv (im folgenden: EAA), fond 291, nimistu 1, säilik 14369 (im folgenden nach dem Muster 291-1-14369), p. 2; EAA 291-1-13904, p. 86. Der alte „Königsweg" von Oslo über Stockholm, Abo, Helsingfors, Viborg nach Nyen (St. Petersburg). Vgl. Märta Posse von Vegesack: Kungsvägen, Stockholm 1936; C.J. Gardberg, und Kaj Dahl: Kungsvägen: frän Abo till Viborg, Helsingfors 1995.

158 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas den Großen Belt (Storebäeltsbro, Dänemark 1998) und zur Öresundbrücke" (2000), haben die Verbindungen zum „Kontinent" enger geknüpft. Der Straßenverkehr unterlag ebenfalls einem Prozess der Beschleu- nigung. Kutschen und Karren prägten im 19. Jahrhundert und bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, in manchen Regionen sogar bis vor kurzem, das Straßenbild. Aber spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg be- gannen PKWs — nachdem sie seit den 1920er Jahren massenhaft produziert wurden — die Straßen Nordosteuropas zu dominieren. Dabei zog allerdings die Entwicklung der politischen Systeme eine geographische Differenzie- rung des privaten und öffentlichen Autoverkehrs nach sich. Im nichtsowje- tischen Norden und Westen (Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Bundesrepublik Deutschland) wurde der private PKW neben dem Fahr- rad und den eigenen Füssen das Standardverkehrsmittel, im sowjetisch ge- prägten Süden und Osten prägten Fuhrwerke und öffentliche Kraftwagen weitaus länger das allgemeine Straßenbild. Die „Wende" um 1990 hat al- lerdings zu einer raschen Zunahme des Autoverkehrs auch in diesen Teilen Nordosteuropas geführt. In Lettland z.B. lag er zwar 1995 immer noch fünf- mal niedriger als in Deutschland und 16mal niedriger als in Großbritannien oder Dänemark, aber höher als z.B. in Litauen und Polen — wobei Polen zu den Ländern mit dem dichtesten Autoverkehr im Ostseeraum zählt.' Eisenbahnen: Die Eisenbahn stellte in Nordosteuropa für ein knappes Jahrhundert als beschleunigte Form des Überlandverkehrs die avancierteste Art der Raumüberwindung dar, bevor das Auto seinen Siegeszug auf den Landstraßen antrat. Nach dem Vorbild Nordwest- und Mitteleuropas, das in England Ende des 18. Jahrhunderts, in Frankreich, Belgien, Deutschland'', Österreich in den 1830er Jahren gegeben wurde,83 führten in den anschlie-

81 Vgl. Rudzki: Organization (wie Anm. 77); ders.: Roads (wie Anm. 62); Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 39, 68, 84, 127. 82 Nachdem 1835 die erste Eisenbahnstrecke eingerichtet worden war, entstanden in Deutschland zwischen 1838 (erste preußische Eisenbahn: Berlin-Potsdam) und 1848 Eisenbahnenstrecken, die mit Kiel, Lübeck, Wismar und Stettin auch den Ostseeraum erreichten. Zwischen 1849 und 1867 kamen Verbindungen nach Stralsund, Kolberg, Danzig, Elbing, Königsberg und der internationale Anschluss zwischen Hamburg und Dänemark über Flensburg hinzu. Danach wurden die deutschen Gebiete im Ostseeraum über die wichtigen Knotenpunkte Hamburg (nach Norden und Westen), Berlin (nach Süden und Osten) und Königsberg (nach Nordosten) weiter in die internationalen Eisenbahnnetze integriert. Vgl. Emil Richter: Die Entwicklung der Verkehrs-Grundlagen: Eisenbahnen, Flüsse, Kanäle und Landstraßen, Leipzig 1873, S. 141-146; Karl (Carl) Friedrich Wehrmann: Die Entstehung und Entwicklung der Eisenbahnverbindungen Lübecks, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde 5 (1888), S. 26-116; Otto Hedrich: Die Ent- wicklung des schleswig-holsteinischen Eisenbahnwesens, Diss. Kiel 1915; Die deutschen Eisenbahnen in ihrer Entwicklung 1835-1935, Berlin 1935; Helge bei der Wieden: Die Entwicklung des Eisenbahnnetzes bis zum Jahre 1952. (Karte) Mit Erläuterungen, Köln u. Wien 1974 (Historischer Atlas von Mecklenburg; 6); Harry Methling: Die Entwicklung des Eisenbahnnetzes in der ehemaligen Provinz Brandenburg bis zum Jahre 1939, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 10 (1959), S. 62-80. 83 Allgemein zu dieser Entwicklung vgl. Oswald S. Nock: Railways of Western Europe, London 1977.

159 Ralph Tuchtenhagen

ßenden drei Jahrzehnten auch die Länder Nordosteuropas, d.h. das eigentliche Russland84 (einschließlich der Ostseeprovinzen"), Dänemark", Norwegen",

84 Die ersten russischen Eisenbahnlinien entstanden auf den Strecken St. Petersburg-Carskoe Selo/Pavlovsk 1837, St. Petersburg-Moskau 1851, St. Petersburg-Warschau 1861. Bis 1916 entstanden: Moskau-Minsk- Wilna, St. Petersburg-Wilna-Kaunas-Königsberg, Wilna-Schaulen-Riga, Wilna-Memel, Kaigjadoris- Maieikiai (das fehlende Verbindungsstück zwischen den Strecken Wilna-Kaunas und Riga-Libau), Novgorod-Narva. Im Jahre 1914 besaß das Russische Reich 70.156 km Eisenbahnstrecke. Vgl. Pavel Efimovic Gronskij: Merk vozniknovenija i razvitija ieleznych dorog v Rossii [Abriss der Entstehung und Entwicklung der Eisenbahn in Russland], in: Zapiski moskovskogo otdelenija Imperatorskogo Russkogo Technideskogo Obk'estva 4 (1886), S. 7-37; Walter Buslepp: Die Entwicklung der russischen Eisenbahnen in Vergangenheit und Gegenwart, Würzburg 1926; Les chemins de fer en U.R.S.S., Paris 1946; E. Ames: A century of Russian railroad construction, 1837-1936, in: American Slavic and East European Review 6 (1947), S. 57-74; Voprosy razvitija ieleznodoroinogo transporta: Sbornik statej [Fragen der Entwicklung des Eisenbahntransportes], Moskva 1957; John N. Westwood: A history of Russian railways, London 1964 (dt. u.d.T.: Geschichte der russischen Eisenbahnen, Zürich 1966); Transport SSSR / hrsg. von A.L. Golovanov, Moskva 1967; 2eleznye dorogi [Eisenbahnen] / hrsg. von M.M. Filippov, Moskva 1968; Ge- ografija putei soobk'enija: IMebnik [Lehrbuch der Verkehrsgeographie], Moskva 1969; Ekonomieskaja geografija transporta SSSR [Wirtschaftgeographie des Transportwesens der UdSSR] / hrsg. von Sergej Konstantinovid Danilov, Moskva 1965; Alfred J. Rieber: The formation of La Grande Societe des Che- mins de Fer russes, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 21 (1973), S. 375-391; A.M. Solov'eva: 2eleznodoroznyj transport Rossii vo vtoroj polovine XIX v. [Der Eisenbahntransport Russlands in der zweiten Hälfte des 19. Jh.], Moskva 1975. Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 84, 219; Oswald S. Nock: Railways, in: A history of technology / hrsg. von Trevor I. Williams, Bd.7/2: The twentieth century, c. 1900 to c. 1950, Oxford 1978, S. 762-788, hier S. 787; Richard Mowbray Haywood: Russia enters the railway age 1842-1855, Boulder u. New York 1998. 85 In den Ostseeprovinzen setzte der Bau der Eisenbahn (Russko-Baltijskaja ieleznaja doroga) 1868 ein und wurde bis zum Ersten Weltkrieg im Wesentlichen abgeschlossen; im einzelnen sind zu nennen die Strecken Riga-Mitau (1868); St. Petersburg-Narva-Reval-Baltischport (1870); Dorpat-Taps (estn. Tapa)- (Reval/Narva) (1876); Walk-Dorpat (1887); St. Petersburg-Novgorod-Werro (estn. Vöru)-Walk-Wolmar- Dünaburg (lett. )-Riga (1889); Minsk-Walk (1889); Walk-Peruau (1896); Walk-Fellin (1897); Fellin-Reval/Weissenstein (estn. Paide) (1901); (Reval-)Kegel (estn. Keila)-Hapsal (1906); Novgorod- Narva (1916). Litauen und Lettland besitzen heutzutage eine Schienendichte von jeweils ca. 3-4 km auf 100 km2. Vgl. Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 128; Zigmantas Kjaupa u.a.: Istorija baltijskich stran [Geschichte der baltischen Länder], o.O. [Riga] 1999, S. 122; Sada aastat Eesti raudteet [Hundert Jahre Eisenbahnen Estlands] / hrsg. von V. Gussarova, Tallinn 1970; Ajaloo atlas (wie Anm. 29), S. 14; Alpo Juntunen: Valta ja rautatiet: Luoteis-Venäjän rautateiden rakentamista keskeisesti ohjanneet tekijät 1890- luvulta 2. maailmansotaan [Der Staat und die Eisenbahnen: die zentralen Leitfaktoren für den Ausbau der nordwestrussischen Eisenbahnen von der zweiten Hälfte der 1890er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg], Helsinki 1997. 86 1844 rollte die erste Eisenbahn („Christians VIII. Nord-Ostsee-Bahn") des Königreiches Dänemark auf der Strecke Altona-Kiel. 1847 kam die erste Strecke innerhalb Dänemarks in den heutigen Grenzen von Kopenhagen nach Roskilde hinzu. Vgl. De danske statsbaner 1847-1947 / hrsg. von Generaldirektoratet for Statsbanerne, Kobenhavn 1947. 87 Norwegen erhielt 1854 die erste Eisenbahnlinie („Hovedbanen") auf der Strecke Kristiania (seit 1905: Oslo)- Eidsvoll. Bis in die 1880er Jahre entstand eine Reihe von Strecken mit Kristiania im Zentrum, deren Zielpunkte jedoch neben Trondheim (1877) weiter im Norden vor allem in Schweden (Kristiania-Stock- holm 1871, Trondheim-Stockholm 1881) und Dänemark (Kristiania-Kopenhagen 1879) lagen. Vgl. E. Ostvedt: De norske jernbaners historie, Bd.1, Oslo 1954; Innenlands samfersel i Norge siden 1800, Bd.1: 1800-1850-tallet, Oslo 1977.

160 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Schweden", Polen", Finnland,90 und Eisenbahnen ein. Die ersten internatio- nalen Personenverkehrsverbindungen in Nordosteuropa entstanden seit den 1860er Jahren91. Auf diese Weise konstituierte sich für ein knappes halbes Jahrhundert eine spezifisch nordosteuropäische Eisenbahnregion. Sie zer- fiel jedoch schon bald wieder, indem sie in weiteren internationalen Netzen aufging und gleichzeitig die unterschiedlichen Spurweiten im Russischen Reich und in den anderen Ländern Europas integrationshemmend wirk- ten (nur der russländische Teil Polens stellte seine Spurweite in der Zwi- schenkriegszeit auf westliche Normen um, Finnland jedoch nicht). Nach der Gründung der „Unite Technique" zur Koordination der Eisenbahntechnik und -linien (1882) und der Berner Konvention über Voraussetzungen des Eisenbahntransports (1890) kam 1907 ein internationaler Vertrag über den Eisenbahnwarenverkehr zustande, den auch die meisten Staaten des Ost- seeraumes unterschrieben. Ein entsprechender Vertrag über den Personen- verkehr folgte 1928.92 Zudem waren die nordosteuropäischen Länder zwi- schenzeitlich der 1922 gegründeten Internationalen Eisenbahn-Union (UIC)

88 1855 wurde die schwedische Eisenbahnorganisation „Statens Järnvägar SJ" geschaffen. 1856 fuhr die erste Eisenbahn Schwedens auf der Strecke Örebro-Ervalla-Nora. 1862 wurde die Strecke Stockholm- Göteborg („stambanan") eingeweiht. Im Jahre 1900 besaß Schweden 11.304 km, 1920 14.869 km, 1940 16.610 km, 1960 15.219 km Eisenbahnstrecke. Statens järnvägar 1856-1906, 4 Bde., Stockholm 1906; Nock: Railways (wie Anm. 84), S. 787; Barbro Bursell: Järnvägama — en förutsättning för industrialiserin- gen, in: Fataburen 1984, S. 49-68; Järnväg, bygd och bebyggelse / hrsg. von Lennart Am&n und Margit Forsström, Stockholm 1987 (Bebyggelsehistorisk tidskrift; 12). 89 Im Rahmen der Einrichtung der Strecke St. Petersburg-Warschau im Jahre 1861. Heute besitzt Polen eine Schienendichte von 9 km auf 100 km2. Vgl. Gronskij (wie Anm. 84); Westwood (wie Anm. 84), S. 23; Solov'eva (wie Anm. 84); Hans von Krannhals: Verkehrsprobleme in der Republik Polen, in: Polen / hrsg. von Werner Markert, Köln u. Graz 1959, S. 98-102; Teresa Dohnalowa: Aus der Geschichte der Eisen- bahnverbindung zwischen Poznati und Warszawa, in: Studia Historiae Oeconomicae 16 (1981), S. 179- 193; Pawel Styk: Kolej nadwislaiiska 1874-1877: techniczne, spoleczne i gospodarcze problemy wielkiej inwestycji [Die Weichselbahn: technische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme], in: Kwartalnik Historii Kultury Materialnej 45 (1997), 2, S. 187-213; Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 128. 90 Finnland, obwohl Teil des Russischen Reiches, baute ein eigenes Eisenbahnnetz auf. Die erste finn- ländische Eisenbahn entstand 1857-1862 in Teilstrecken zwischen Helsingfors und Tammersfors. Sie fun- gierte als Ersatz für einen geplanten, jedoch nicht gebauten Kanal zwischen der Finnischen Bucht und den tavastländischen Seen. Eine Verbindung von Riihimäki, das an der Helsingfors-Tammersfors-Bahn lag, nach St. Petersburg entstand 1868-1870. Diese und die 1950 angeschlossene Bahnstrecke über Torneä- Haparanda (Schweden) waren und sind die einzigen internationalen Bahnverbindungen Finnlands. Vgl. Finska statsj ärnvägarne 1862-1912, 2 Bde., Helsingfors 1912, 1915; Valtionrautatiet 1912-1937 [Die Staatsbahnen 1912-1937], 2 Bde., Helsinki 1937; Valtionrautatiet 1937-1962 [Die Staatsbahnen 1937- 1962], Helsinki 1962; Valtionrautatiet 1862-1962 [Die Staatsbahnen 1892-1962] / hrsg. von Keijo Jo- hannes Immonen, Helsinki 1961; Tuomo Polvinen: Die finnischen Eisenbahnen in den militärischen und politischen Plänen Russlands, Helsinki 1962. 91 Schweden-Dänemark 1864, Schweden-Norwegen 1867, Dänemark-Deutschland 1865, Schweden- Deutschland 1909. Vgl. Lena Andersson-Skog: National patterns in the regulation of railways and telephony in the Nordic countries to 1950, in: Scandinavian Economic History Review 48 (2000), S. 47-71. 92 Kenneth M. Gwilliam: The development of the world transport market, in: A history of technology, Bd.7/2 (wie Anm. 84), S. 691-710, hier S. 703.

161 Ralph Tuchtenhagen beigetreten. Die Integration des nordosteuropäischen Eisenbahnnetzes lief — mit Ausnahme der Spurweiten - parallel zu diesen internationalen Koordina- tions- und Verflechtungsprozessen noch eine Zeit weiter. Als eine der letzten großen internationalen Eisenbahnverbindungen im Ostseeraum entstand 1950 der Anschluss der schwedischen Kiruna-Bahn (Boden-Kiruna-Narvik) an das finnische Eisenbahnnetz in Torneä93, wodurch erstmals eine Umrundung des Bottnischen Meerbusens und damit der gesamten Ostsee per Eisenbahn mög- lich wurde. Die Eisenbahn hatte damit rund 300 Jahre nach der Entstehung eines staatliche regulierten und stufenweise beschleunigten schwedisch-preu- ßischen Postliniennetzes den Landverkehr um das Ostseebecken herum um eine weitere Stufe systematisiert und beschleunigt. Eine Einbeziehung der Nordkalotte und der Barents-Region in das nordosteuropäische Eisenbahn- netz blieb jedoch aus. Dies gilt insbesondere für mögliche finnisch-russische Verbindungen nördlich der Strecke Helsingfors-St. Petersburg. Zwar ent- stand 1915-1916 die nordrussische Murman-Bahn, die den Ausbau des Ha- fens von Murmansk und die Ausbeutung der gewaltigen Bodenschätze der Kola-Halbinsel erleichtern sollte. Sie diente jedoch nicht der Vernetzung des russischen Nordens mit dem übrigen Nordosteuropa. Stichstrecken zur An- bindung an das finnische Eisenbahnnetz wurden aus militärischen Gründen bewusst vermieden.94 Auch zwischen Norwegen auf der einen und Finnland und Russland auf der anderen Seite kamen keine Eisenbahnverbindungen zu- stande. Nur zwischen Schweden und Finnland besteht seit 1919 eine Verbin- dung für den Personen- (bis 1988) und Güterverkehr über den Torase-Fluss (Tomiojoki), die allerdings wegen der unterschiedlichen Spurbreiten Umstän- de bereitet. Nordosteuropa als geographischer Eisenbahnraum blieb damit im Wesentlichen auf die Küstengebiete der Ostsee beschränkt. Anschlüsse an das

93 Eine Eisenbahnlinie auf finnischer Seite bis Tomeä war bereits 1903 in Betrieb genommen worden. 94 Vgl. Aleksandr Florovi Zajcev: Murmanskaja ieleznaja doroga i zadaä ekonomiceskoj politiki na severe Rossii [Die Murmanbahn und die Aufgaben der Wirtschaftspolitik im Norden Russlands], in: Russkaja mysl' 37 (1916), 8, S.1-16; ders. und N.R. Rodionov: Murmanskaja ieleznaja doroga i zadai konomiC'eskoj politiki na severe Rossii [Die Murmanbahn und die Aufgaben der Wirtschaftspolitik im Norden Russlands], Petrograd 1916; Raoul Labry: La ligne mourmane. Son trac, son importance co- nomique, les richesses minrales de la r4ion qu'elle traverse [...], Petrograd 1916; Ivan Diomodovi Michajlov: Evoljucija russkogo transporta 1913-1925 gg. [Die Entwicklung des Transportwesens in Russ- land 1913-1925], Moskva 1925; Samuil Venediktovi. Slavin: K istorii 2.d. stroitel' stva na severe v dore- volucionnoj Rossii [Aus der Geschichte des Eisenbahnbaus im Norden des vorrevolutionären Russland], in: Letopis' severa 2 (1953), S.188-204; Charles Maynard: The Murman venture, New York 1971; Ilja Motelevi. Solomek: Problema transporta v russko-finljandskich otnogenijach perioda pervoj mirovoj vo- jny [Das Transportproblem in den russisch-finnischen Beziehungen in der Zeit des Ersten Weltkriegs], in: Evropejskij sever: istorija i sovremennost'; tezisy dokladov Vserossijskoj nat&'noj konferencii / hrsg. von Aleksandra Ivanovna Afanas'eva u.a., Petrozavodsk 1990, S. 149-161, hier S.154; Reinhard Nachti- gal: Die Murmanbahn: die Verkehrsanbindung eines kriegswichtigen Hafens und das Arbeitspotential der Kriegsgefangenen (1915 bis 1918), Grunbach 2001, S.126-139; s. auch seinen Beitrag in diesem Band; Stalinism and Soviet rail transport 1928-1941 / hrsg. von Edward A. Rees, Basingstoke 1994.

162 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas russische und die mittel- und westeuropäischen Eisenbahnnetze bestanden al- lein über St. Petersburg und Hamburg bzw. Berlin. Auf Hamburg und Berlin als Drehscheiben des Eisenbahnverkehrs nach Polen, ins übrige Deutschland, nach Frankreich, Belgien und in die Nieder- lande braucht hier nicht näher eingegangen werden. Aus nordwesteuropä- ischer Sicht stellten diese Städte in der ersten Hälfte die vorläufigen End- punkte des europäischen Eisenbahnnetzes dar, und die nordosteuropäischen Eisenbahnen erschienen so als bloße Erweiterung des nordwesteuropä- ischen Netzes. Für unseren Zusammenhang ist die Entwicklung im Osten interessant, weil sie zur Verbindung der Eisenbahnstrecken im südlichen Ostseeraum führte. Für das nordwestliche Russland bildete St. Petersburg das wichtigste Zentrum für die Eisenbahnverbindungen. Von hier aus ex- pandierte das russische Eisenbahnnetz zunächst nach Zentralrussland (Mos- kau, 1851) und Polen (Warschau, über Pytalovo, Dünaburg, Riga, Kowno, 1861), wo es die Eisenbahnnetze des Westens erreichte. Weitere Strecken in den Nordwesten des Reiches folgten seit 1868.95 Der nordosteuropäische Raum blieb also den Vorreitern in Nordwest- europa hinsichtlich der Entwicklung des Eisenbahnverkehrs dicht auf den Fersen. Doch ist eine gewisse Differenzierung zu beobachten. Während Schweden, Estland und Lettland bis zum Zweiten Weltkrieg eine relativ hohe Netzdichte erreichten — nur ca. zwei- bis dreimal weniger dicht als in den industrialisierten Ländern des Westens —, blieb die Schienendichte in Finnland, Litauen, Norwegen und der Sowjetunion gering.96 Dort übernah- men die für den Inlandsverkehr so wichtigen Binnengewässer einen Groß- teil der Transportaufgaben der Eisenbahn. Sie verloren ihre Schlüsselfunk- tion für den binnenländischen Verkehr erst, als sich das Auto in den 1920er Jahren langsam durchsetzte. Abgesehen von dieser Binnendifferenzierung blieb Nordosteuropa trotz seines — gemessen an den Bedürfnissen der ein- zelnen Länder — zureichenden Schienennetzes im gesamteuropäischen Ver- gleich der Schienendichten eine europäische Peripherie und bildet so bis heute zwar nicht qualitativ, aber quantitativ eine europäische Sonderregion.

Kabel-, Funk- und Rohrverkehr

95 Bis zur Revolution von 1917 gingen von St. Petersburg sieben Eisenbahnlinien ab: nach Peterhof, Carskoe Selo (ab 1837), Polen/Ostseeprovinzen (ab 1861 bzw. 1868), Finnland (ab 1862), Mos- kau/Inneres Russland, Murmansk (1916). Heute sind es zwölf. Vgl. Meyers Konversations-Lexikon, Bd.14, Leipzig u. Wien 51896 (Karte zwischen S. 1050/1051); Nikolaj Vasil'ev: Transport Rossii v vojne 1914-1918 gg., Moskva 1939; Slavin: K istorii (wie Anm. 94); Solomek': Problema (wie Anm. 94); Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 68. Nachtigal: Murmanbahn (wie Anm. 94). 96 Vgl. Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 39.

163 Ralph Tuchtenhagen

Nach den Entwicklungen im See-, Luft- und Landverkehr bleibt am Ende eine weitere Kategorie neuerer Raumüberwindungsmittel in der Moderne zu betrachten, die für die nordosteuropäisChe Geschichtsregion von großer Be- deutung geworden ist. Sie wird in der Wahrnehmung des Verkehrs kaum sichtbar, spielt aber eine erhebliche Rolle im Rahmen der Hochbeschleu- nigungsrevolution des modernen Nachrichten- und Rohstofftransports. Die Rede ist von den modernen Formen des Kabel-, Funk- und Rohrverkehrs. Kabel- und Funkverbindungen: Die telematische Form der Nachrichten- übermittlung war keine Erfindung der Moderne, doch erfuhren die moder- nen Kommunikationsmittel im Gegensatz zu den akustischen und optischen Signalsystemen des vorindustriellen Zeitalters einen deutlichen Qualitäts- sprung hinsichtlich ihrer Reichweite und Präzision der Ver- und Entschlüs- selungstechniken, so dass für die — in unserem Fall — transmaritime Kom- munikation eine analytische Betrachtung ihren Platz sinnvollerweise im Rahmen einer Verkehrsgeographie der Moderne findet. Nach der Erfindung des elektrischen Schreibtelegrafen (Samuel F.B. Morse, 1835) und der Einführung des internationalen Morsecodes im Jahre 185197 entstanden die ersten Telegrafennetze Nordosteuropas in den 1850er Jahren. Sie waren in der Regel mit den bestehenden Eisenbahnnetzen, de- ren Stationen oft als Telegrafenstationen genutzt wurden, kongruent. In Schweden entstand 1853 eine erste Telegrafenverbindung zwischen Stock- holm und Uppsala. Mit ihr wurde gleichzeitig die erste schwedische Ver- waltungsorganisation für das künftige Telegrafienetz (Telegrafverket) ein- gerichtet. Entsprechend dem schwedischen Vorbild zog das mit Schweden in Personalunion verbundene Norwegen seit 1855 (Kristiania-Drammen) nach. Im gleichen Jahr wurden die beiden nationalen Netze in das europä- ische Telegrafennetz eingekoppelt. 1857 waren von Norden (Haparanda) bis Süden (Ystad) alle von der Eisenbahn erfassten Landesteile des schwe- disch-norwegischen Doppelreiches auch telegrafisch miteinander verbun- den.98 Kurze Zeit später zog auch Russland nach. In den 1850er und 60er Jahren entstanden überall im Russischen Reich Telegrafenstationen und -leitungen. 1855 bauten Siemens & Halske das längste Telegrafennetz Eu- ropas mit dem Zentrum St. Petersburg.99 Auch dieses war wie alle anderen

97 Vgl. The electric telegraph: a historical anthology / hrsg. von George Shiers, Oxford 1977. 98 Vgl. A. Schiefer: Post und Telegraphie, Berlin 1900; E. Hoffmann: Die Entwicklung des deutschen Reichs-Telegraphenwesens seit dem Jahre 1875, Berlin 1880; Svenska telegrafverket 1853-1903: min- nesskrift, hrsg. von Kungl. Telegrafstyrelsen, Stockholm 1903; Heimbürger, Hans: Svenska telegrafverket: historisk framställning. Bd 2: Det elektriska telegrafväsendet 1853-1902, Stockholm 1938. Thorolf Rafto: Telegrafverkets historie 1855-1955, Oslo 1955; Ludwig Horatz: Telegrafen- und Fernsprechverkehr, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd.10, Stuttgart u.a. 1959, S. 332; Einar Malmgren: Bilder ur svensk telehistoria. Televerkets centralförvaltning, Farsta 1972. 99 Die ersten Telegraphenlinien des Russischen Reiches waren: St. Petersburg-Carskoe Selo-Pleskau-

164 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas telegrafischen Verbindungen im wesentlichen entlang der Eisenbahnlinien angelegt und wurde einer neu geschaffenen „Abteilung für Telegrafen" (Te- legrafnyj departament) bei der „Hauptverwaltung für Post und Telegrafie" (Glavnoe upravlenie po& i telegrafov) des Innenministeriums unterstellt.'°° Mit der Schaffung von Telegrafienetzen im Deutschen, Schwedischen und Russischen Reich waren um 1870 alle Ostseeanrainer telegrafisch erfasst. Seit 1870 entstanden mit der Freileitung von London über Emden, Ber- lin und Warschau nach Odessa, an die auch die nordosteuropäischen Te- legrafennetze angeschlossen waren, die ersten Telegrafenverbindungen, die Nordosteuropa als telegrafischen Kommunikationsraum überschritten, bis die Telegrafenära mit der Einführung satellitengestützter Kommunikations- systeme in den 1970er Jahren auch in Nordosteuropa zuende ging.101 Die Erfindung des elektromagnetischen Telefons (Alexander Graham Bell, 1876)12 wurde in Nordosteuropa schneller adaptiert als der Telegraf, sollte letzteren ersetzen, existierte jedoch in der Folgezeit parallel zu ihm. Die ersten Fernsprechleitungen im Russischen, Deutschen und Schwe- dischen Reich entstanden bereits in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre, nachdem die Telefontechnik nach den USA und Kanada gerade erst West- und Mitteleuropa erreicht hatte.1°3 In der ersten Hälfte der 1880er Jahre exi-

Dünaburg-Warschau-Myslowitz (poln. Myslowice) (1854), St. Petersburg-Moskau-Kiev-Nikolaev-Odessa/ Sevastopol (1855), St. Petersburg-Narva-Reval (1855); Polangen-Pernau-Riga-Mitau-Libau-Memel (1856), Dorpat-Riga (1857), St. Petersburg-Wiborg-Villmanstrand (finn. Lappeenranta)-Helsingfors (1860). S. EAA 291-1-14240; EAA 291-1-14225; 291-1-14369; 291-1-11656. Vgl. Istorija telegrafa v Rossii [Geschichte des Telegrafenwesens in Russland], in: Elektriestvo 2 (1881), S. 208-210, 229-230; Poäla i telegraf v XIX stoletii: istorieskij cZerk [Post und Telegrafie im 19. Jh.: historischer Abriss] / hrsg. von Ministerstvo vnu- trennych del, Bd. 3, Sanktpeterburg 1901. Istorija energetiki, elektrotechniki i svjazi [Geschichte der Ener- getik, der Elektrotechnik und der Nachrichtenübertragung], Moskva 1962; Anatolij V. Jarockij: Osnovnye etapy razvitija telegrafii [Die Hauptentwicklung de Telegrafenwesens], Moskva 1963; Nikolaj Dem'janovid Psurcev: Svjaz' v devjatoj pjatiletke [Das Nachrichtenwesen im neunten Fünfjahresplan], Moskva 1972; Razvitie svjazi v SSSR 1917-1967 [Die Entwicklung des Nachrichtenwesens in der UdSSR], Moskva 1974; Svjaz' SSSR za 50 let. Statistie'eskij sbornik [50 Jahre Nachrichtenwesen in der UdSSR], Moskva 1968; A. Merilaid: Telegraaf, telefon, kaugenägemine [Telegrafie, Telefon und Fernsehen], Tallinn 1937; Sigfrid von Weiher und Herbert Goetzeler: Wege und Wirken der Siemens-Werke im Fortschritt der Elektrotechnik 1847-1980: ein Beitrag zur Geschichte der Elektroindustrie, 3., neubearb. u. erw. Aufl., Wiesbaden 1981. 100 Kratkij istorieskij &"erk razvitija i dejaternosti Vedomstva putej soobkenija za sto let ego sukestvovanija (1798-1898 gg.) [Kurzer historischer Abriss der Tätigkeit der Behörde Rh- die Kommunikationswege in den hudert Jahren ihres Bestehens 1798-1898] / hrsg. von Ministerstvo putej soobge'enija., Sanktpeterburg 1898; Sigvard Strandt: Teknik och uppfinningar 1866-1920, in: Den svenska historien, Bd.13: Emigrationen och det industriella genombrottet / hrsg. von Gunvor Grenholm, S. 185. 101 Vgl. Kurt Knebel: Telegraphen-, Land- und Seekabel, Fernsprech-Seekabel, Goslar 1960, S. 72; Voigt (wie Anm. 45), Bd.2/2, S. 871; Hans Christian Johansen: Denmark and the development of the inter- continental telegraph network in the XIXth century. in: Seminar an the globalisation of the world economy in the nineteenth century: Dokumenta de Trabajo, Buenos Aires 2000, S.234-241. 102 Vgl. A history of engineering and science in the Bell system / hrsg. von M.D. Fagen u.a., New York 1975. 103 Der Aufbau eines Fernsprechnetzes für das Deutsche Reich lag in den Händen des ehedem preußisch- en Generalpostdirektors und Staatssekretärs des Deutschen Reiches Heinrich von Stephan (1831-1897) und

165 Ralph Tuchtenhagen

stierten in Nordosteuropa zunächst Stadtnetze (z.B. Hamburg, Stockholm, Berlin 1881-1884). Die ersten internationalen Verbindungen kamen dann seit den 1890er Jahren mit den transmaritimen Kabeln von Warnemünde nach Gedser, Helsingor nach Helsingborg (1902), von Fehmarn nach Lälland (1903/07) und von Reval nach Helsingfors (1904) zustande. Da die Kabel- verbindungen im Meer den jeweils kürzesten Distanzen von Küste zu Kü- ste folgten, ergab sich eine Konzentration der internationalen Kabel im Fin- nischen Meerbusen und im Bereich zwischen dem Öresund und Bornholm sowie im Skagerrak und Kattegat1°4 Die einzigen Kabel, die längere Strecken unter See abdeckten, waren die beiden Seekabel zwischen Deutschland und Schweden (Deutschland-Schweden I bzw. II, 1919 bzw. 1921). Die Einführung des Telefons in Nordosteuropa deutete bereits eine Ten- denz an, die mit dem Aufkommen der nationalen und internationalen Funk- verbindungen (Radio in den 1920er Jahren, Fernsehen in den 1940er Jahren) und Computernetze (in den 1980er Jahren) weiter bestätigt wurde: Nordost- europa integrierte sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert so rasch in die internationalen Netze, dass sich eine spezifisch nordosteuropäische Region im Kabel- und Funkverkehr kaum noch konstituieren konnte.'"

Werner von Siemens (1816-1892). Im Russischen und Schwedischen Reich entstanden folgende Verbind- ungen bzw. Ortsnetze: Pemau-Arensburg (Ösel), Werder (est. Virtsu)-Moon-Orrisaar (estn. Orissaare), Arensburg-Kertel (estn. Kärdla) (alle 1875), Stockholm (1880), St. Petersburg-Gaina (1882), Helsingfors (1882), Abo (1882), Arensburg-Fellin, Arensburg-Windau (beide 1883), Reval (1886), St. Petersburg- Moskau (1898). Vgl. Erwin Horstmann: 75 Jahre Fernsprecher in Deutschland, Frankfurt/M. 1952; Erwin Müller-Fischer: Zeittafel zur Geschichte des Post- und Fernmeldewesens, Berlin 1953; Peter Andersson: Telekommunikation förr och nu, Norrköping 1987; L. M. Artur Attman, Jan Kuuse u. Ulf Olsson: L.M. Ericsson 100 years, Bd. 1: The pioneering years. Struggle for concessions. Crisis, 1876-1932, Stockholm 1977; Psurcev (wie Anm. 99); Razvitie svjazi (wie Anm. 99); Svjaz' SSSR (wie Anm. 99); Tommy Eriks- son: Hästskjuts- och diligenstrafik: äventyr, organisation och lag genom 650 är, Nyköping 1996 (Landstin- get Sörmland. Skriftserie; 14), S. 61-63; Helsingin Seudun Puhelinlaitos 1882-1982 [Das Telefonnetz der Region Helsinki 1882-1982] / hrsg. von Helsingin Puhelinyhdistys, Helsinki 1982; Juhani Saarinen: Kotkan Puhelinlaitos 1882-1982 [Das Telefonnetz von Kotka 1882-1982], Kotka 1982; Turun Puhelinlaitos 1882- 1982 [Das Telefonnetz von Turku 1882-1982], Turku 1982; Tallinna telefonivörk 1886-1936: Juubelialbum [Das Telefonnetz von Reval 1886-1936: Jubiläumsalbum], Tallinn 1936. Tallinna telefonivörk 1886-1986 = Tallinskaja gorodskaja telefonnnaja set' [Das Telefonnetz von Reval 1886-1986], Tallinn 1986; Vambola Kaasik-Aaslav und Heino Maripuu: Tallinna telefonivörk 110 aastat 1886-1996 [110 Jahre Revaler Tele- fonnetz], Tallinn 1999, S. 29-62; Pravitel'stvennaja Mektrosvjaz' v istorii Rossii [Die regierungseigenen elektrischen Nachrichtenverbindungen in der Geschichte Russlands], Bd.1: 1917-1945, Moskva 2001. 104 Weitere Seekabel im Umfeld des Ersten Weltkrieges: Korsor-Nyborg (1906), Norwegisches Staatskabel (1920), Ostpreußenkabel (1920), Dänisches Staatskabel (1920), Schwedisches Staatskabel (1920), Zarrenzin- Kampinge (1919/21), Leba (Pommern)-Tenldtten (russ. Letnoe, Ostpreußen) (1920), Leba-Pillau (Ostpreußen) (1922), Leba-Danzig (1922). Vgl. Schiefer (wie Anm. 98); Hoffmann (wie Anm. 98); Horatz (wie Anm. 98), S. 332-335; Knebel (wie Anm. 101), S. 72; Voigt (wie Anm. 45), Bd. 2/2, S. 890f. 105 Das 1895 erfundene Radio erreichte Nordosteuropa zuerst im Deutschen Reich (Berlin, Königsberg, Hamburg 1923/24). Von dort verbreitete es sich in den 1920er Jahren weiter in ganz Nordosteuropa. Das Fernsehen verbreitete sich ausgehend von Deutschland, Großbritannien, den USA und Frankreich aus seit den 1930er Jahren in Nordosteuropa. Vgl. Voigt (wie Anm. 45), Bd. 2/2, S. 907. 166 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Rohverkehr: Der Rohrverkehr spielte für Nordosteuropa erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rolle. Die Produktionszentren für die Transportgü- ter (Gas, Öl) befanden sich dabei in erster Linie in der Sowjetunion, daneben auch in Schweden. Eine erste Gasleitung, die vom estnischen Kohtla-Jär- ve nach Tallinn und weiter nach dem damaligen Leningrad führte, entstand Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre. Ihr folgten in den 1960er Jahren Gasleitungen von Russland (Leningrad) nach Finnland (Helsingfors) und aus der Ukraine nach Lettland (Riga, Mitau, Brotzen (lett. Brocni), Libau) und Litauen (Riga-Wilna-IvaceviZi-Dagava) und Polen. Gleichzeitig baute Schweden eine Gaspipeline durch den Öresund nach Dänemark, wo sie mit dem mitteleuropäischen Pipelinenetz verbunden ist.1°6 Mit der COMECON- Leitung entstanden in der ersten Hälfte der 1960er Jahre außerdem Ölpipe- lines von Kujbygev über Mosyr nach Plock (Polen) mit Verzweigungen: 1. in die DDR (Schwedt, Rostock, Leina, Berlin) (1963) und 2. nach Lettland (Ventspils) und Litauen (MaZeikiai).1" Diese Rohrverbindungen müssen je- doch — was die sowjetischen Leitungen angeht — stärker im wirtschaftspoli- tischen Kontext (COMECON) der osteuropäischen Staaten der Nachkriegs- zeit als innerhalb einer nordosteuropäischen Perspektive interpretiert werden. So gilt, was bereits für den Kabel- und Funkverkehr festgestellt wurde, in ähnlicher Form auch für den Rohrverkehr: Eine spezifische Verkehrsregion Nordosteuropa konnte sich deshalb nicht herausbilden, weil ihre gleichzeitige Einbindung in den übrigen europäischen Verkehr so schnell erfolgte, dass ein potentielles nordosteuropäisches Rohrnetz mit seiner gleichzeitigen Vernet- zung in den gesamteuropäischen Raum hinein bereits im Moment seiner Kon- stituierung seine Spezifik verlor.

Aktuelle Entwicklungen Bleibt zum Schluss ein Ausblick auf einige aktuelle Entwicklungen im nordosteuropäischen Verkehrsraum. Hier ist besonders der Bau der Öresund- Brücke (eingeweiht 2000) zu erwähnen. Sie hat Mitteleuropa dem Ostseeraum und insbesondere Nordeuropa wieder ein Stück näher gebracht. Dies war der erklärte Wille der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem EU-Bei- tritt Schwedens und Finnlands 1995 und der EU-Anwärterschaft der Bal- tischen Staaten und Polens seit Mitte der 1990er Jahre wieder näher zusam- 106 Vgl. Voigt (wie Anm. 45), Bd. 2/2, S. 983f.; Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 40, 69, 85, 128, 146, 237. 107 Heutzutage besitzen Lettland rund 1.000, Polen rund 12.000 Kilometer Pipeline für Öl und Gas. Vgl. Karlheinz Kleps: Die „Pipeline der Freundschaft" als Instrument der sowjetischen Ölexportpolitik, in: Rohre, Rohrleitungsbau, Rohrleitungstransport 2 (1963), H. 4, S. 183-191; Wassily Leontief: Die Bedeu- tung der Sowjetunion für die Welterdölwirtschaft von 1960-1975, Berlin 1963; Voigt (wie Anm. 45), Bd. 2/2, S. 983f.; Balode und Pajders (wie Anm. 54), S. 40, 69, 85, 128, 146, 237. 167 Ralph Tuchtenhagen menrückenden Ostseeanrainer-Staaten)" Das symbolische Aktionsfeld solch konkreter und zukunftsweisender Projekte ist die Beschwörung der Hansetra- dition.'°9 Sie bietet sich auch für künftige Projekte der verkehrsmäßigen Er- schließung Nordosteuropas als Referenzrahmen an. Zur besseren Anbindung der ostmittel- und nordosteuropäischen EU-Anwärter an die westlichen EU- Staaten sind z.B. die nachfolgenden sogenannten „Kreta-Korridore"110 ge- plant: eine Route von Helsingfors über Reval, Riga, Kaunas und Warschau („Via Baltica") mit der Abzweigung Riga-Königsberg („Via Hanseatica") und eine Route von Berlin über Warschau und Minsk nach Moskau. Im Rah- men der Entwicklung der Transeuropäischen Netze (TENs) sollen auch die Zollstationen und die telematischen (Informations- und Kommunikations-) Einrichtungen in den östlichen Ländern modernisiert und erweitert werden." Alle diese Maßnahmen stehen im Zeichen der Vernetzung, Verdichtung und Beschleunigung. Und sie schließen nicht nur Nordost- und Ostmitteleu- ropa, sondern nach Möglichkeit auch das nordöstliche Russland mit ein. Die gegenwärtige nordosteuropäische Verkehrsgeographie knüpft damit an histo- rische Muster aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit erweiterten tech- nischen Mitteln an. Die Überwindung des verkehrstechnischen und -geogra- phischen kalten Krieges bringt somit das historische Nordosteuropa wieder deutlicher zum Vorschein als dies für den größten Teil des 20. Jahrhunderts der Fall war. Gleichzeitig aber bedeutet die zunehmende Vernetzung mit den internationalen Verkehrssystemen Europas und darüber hinaus die Destituie- rung einer spezifischen nordosteuropäischen Verkehrsregion im Zuge der all- gemeinen Globalisierung aller Verkehrs- und Kommunikationssysteme.

Nordosteuropa als historische Verkehrsregion: Konstruktion, Rekonstruktion, Dekonstruktion Man ist aus dieser nomothetisch-progressistischen Perspektive heraus ge- neigt, die gesamte Geschichte des Verkehrs in Nordosteuropa, ja des Verkehrs überhaupt, als eine Geschichte der ständigen Systematisierung, Beschleuni- gung und Verdichtung mit den unweigerlichen Folgen einer „neuen Unüber- sichtlichkeit" und Komplexität, zunehmender Kontingenz und Entfremdung,

108 Vgl. Claus-Friedrich Laaser und Rüdiger Soltwedel: Verkehrsnetze im östlichen Ostseeraum, in: Welttrends Nr. 23, Sommer 1999. 109 Vgl. Urpo Kivikari: The legacy of the Hansa: the Baltic economic region, Keuruu 1996. 110 „Kreta-Korridore" werden die Verkehrslinien nach dem Ort der Konferenz der europäischen Ver- kehrsminister von 1994 genannt, auf der die Entscheidung für die nachfolgenden Projekte getroffen wurde. Vgl. Marie-Madelaine Damien: La politique europ&nne des transports, Paris 1999. 111 Vgl. Thomas Theuringer: Transport und Verkehr im Integrationsprozess der Ostseeregion, in: Ost- europa 51 (2001), S.16-26.

168 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas wie sie Paul Virilio bereits eindrücklich beschrieben hat, zu interpretieren. 112 Die Faktoren dieser Entwicklung waren jedoch zunächst individuell-zufälliger Art. Den auf der Sippe und den Dorfgemeinschaften basierenden Bootsge- folgschaften fehlte eine zentrale Institution, die einen frühzeitlichen Verkehr hätte steuern und systematisieren können. Dieser Befund passte freilich nicht in das Erklärungsraster der historischen „Forschungen" der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese mussten folglich das fehlende Steuerungszentrum durch eine „Geopolitik" von Blut und Boden ersetzen: Das vermeintliche Raunen der Rasse — und hier Selbst-verständlich, weil es sich vor allem um schwedische und deutsche Forschung handelte, der germanischen — oder der Ruf des Raumes trugen nach Ansicht der Propheten der Geopolitik die Bot- schaft einer angeblichen Mission, den Ostseeraum zu erschließen und besie- deln, von Generation zu Generation. Für den vorliegenden Zusammenhang ist jedoch zu betonen, dass Historiker auch ohne konsistente Modelle und „große Erzählungen" (Fran9ois Lyotard) leben können müssen: Nordosteu- ropa als Verkehrsraum von den frühesten Zeugnissen bis zur Hansezeit ist eine gelehrte Konstruktion a posteriori (was nicht heißen muss, dass ihr In- halt falsch ist). Erst mit den logistischen Leistungen der Hanse und später des absolutistischen Staates wird Nordosteuropa auch a priori und essenti- aliter eine historische Verkehrsregion. Die Hanse und die absolutistischen Staaten des Ostseeraumes haben hinsichtlich der Entstehung einer nordost- europäischen historischen Verkehrsregion eines gemeinsam: sie sind, soweit sie verkehrsfördernd und -strukturierend gewirkt haben, gleichzeitig die do- minanten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Akteure der Region. Insofern waren die historischen Verkehrsstrukturen Nordosteuropas immer auch Ausdruck eines Willens zur (ökonomischen, politischen und kultu- rellen) Macht. Und es wird wohl nicht übervermutet sein anzunehmen, dies gelte für historische Verkehrsstrukturen auch jenseits Nordosteuropas. Hanse und Staat erwiesen sich so als Konstrukteure von Verkehrsräumen und trugen so bewusst zur Entstehung einer nordosteuropäischen Verkehrs- region bei, über- bzw. unterschritten diese jedoch gleichzeitig: die Hanse, in- dem sie ihren Verkehr nicht auf das Ostseebecken und seine Küstengebiete beschränkte — obwohl sie hier einen Schwerpunkt ausbildete —, sondern ihn in die Nordsee und deren Zuflüsse, ja in Einzelfällen sogar in den Atlantik und das Mittelmeer ausweitete; der absolutistische Staat, indem er vor allem

112 Das Schlagwort von der „neuen Unübersichtlichkeit" wurde ursprünglich von Jürgen Habermas im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit — vor allem politisch-gesellschaftlichen — Erscheinungen des post- modernen Bewusstseins geprägt. Er beklagt damit den Orientierungsverlust, der mit der Komplexierung aller Lebensverhältnisse für das erkennende Subjekt einhergeht. Vgl. Jürgen Habermas: Die neue Unüber- sichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985. Virilio hat die Hauptideen seiner — kritischen — Beschleunigungs-Theorie vor allem in seinem Werk L'horizon n4atif (wie Anm. 8) entwickelt. 169 Ralph Tuchtenhagen am Verkehr innerhalb des von ihm beanspruchten Territoriums — das die Küsten und das Meer mit einschloss — interessiert war und den darüber hi- nausgehenden Verkehr als Schleusen der Kommunikation mit den Nachbar- staaten auffasste. Die Interpretation Nordosteuropas als Verkehrsraum der Hanse bzw. von Staatengemeinschaften ist also ebenfalls eine historiogra- phische Konstruktion, allerdings eine, die zu großen Teilen den tatsächlichen historischen Bezug der Ostseeanrainerstaaten zum See- und seenahen Ver- kehr nachzeichnet und somit die Grenze zur Rekonstruktion überschreitet. Die durch die Hanse und den absolutistischen Staat hervorgerufenen Zen- tralisierungs-, Regularisierungs- und Systematisierungsschübe des 15. bis 17. Jahrhunderts fanden ihr Gegenstück in den Beschleunigungs- und Verdich- tungsschüben des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese führten jedoch zur parti- ellen Dissoziation der inzwischen entstandenen nordosteuropäischen Ver- kehrsregion. Die beschleunigte Vernetzung aller Verkehrswege und -mittel in der Moderne tendierte zur Überwindung von Grenzen, Regionen und traditi- onellen Verkehrsräumen, so dass das vormoderne trafikale Nordosteuropa in den gesamteuropäischen Verkehr immer stärker integriert wurde. Mit der Auflösung der nordosteuropäischen Verkehrsregion im Zuge der technischen Modernisierungsprozesse im 19. Jahrhundert bestätigt sich Klaus Zernacks Einschätzung, dass Nordosteuropa seine Merkmale als historische Region aufgrund seiner Peripherielage und der unvollständigen Integration mit anderen Teilen Europas im Mittelalter und in der frühen Neuzeit deut- licher zeigt als im 19. und 20. Jahrhundert.113 Wenn sich auch für eine histo- rische Verkehrsgeographie Nordosteuropas eine hintere Epochengrenze um 1809, wie sie Zerhack aufgrund militärischer und internationalpolitischer Kri- terien postuliert hat, nicht halten lässt, wird doch deutlich, dass das 19. Jahr- hundert eine Reihe verkehrshistorischer Phänomene zum Vorschein bringt, die den Übergang von einer nordost- zu einer gesamteuropäischen Verkehrs- geographie anzeigen. Für das 19. und 20. Jahrhundert wird man somit nicht davon sprechen können, dass der Verkehr eine Geschichtsregion Nordosteu- ropa konstituiert, sondern umgekehrt eine Geschichtsregion Nordosteuropa Verkehr konstituiert, der diese zunehmend transzendiert. Neben historischen sprechen auch geographische Beobachtungen für die Dissoziation eines vormodernen Verkehrsraumes Nordosteuropa in der Mo- derne. Die Verdichtung und Beschleunigung des transmaritimen wie des cir- cummaritimen Verkehrs über die Jahrhunderte war sicherlich ein konstitu- ierendes Element Nordosteuropas als Geschichtsraum. Es war aber, da der Verkehr zwischen Nordosteuropa und den angrenzenden Regionen ebenfalls verdichtet und beschleunigt wurde, gleichzeitig ein destituierendes Element:

113 Vgl. Klaus Zernack: Das Zeitalter der nordischen Kriege 1558-1809 als frühneuzeitliche Geschichtse- poche, in: Zeitschrift für Historische Forschung 1 (1974), S. 54-79. 170 Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas

Eine historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas erweist sich nämlich als janusgesichtige Erscheinung zur Konstituierung einer historischen Re- gion Nordosteuropa. Jedes Argument, das zu ihrer Konstituierung via Ver- kehrsgeographie angeführt werden kann, kann dialektisch genauso zu ihrer Destituierung angeführt werden, indem der Verkehr einen gesetzten histo- rischen Raum Nordosteuropa als Transitraum der Nachbarregionen zu jedem beliebigen Zeitpunkt als Teil größerer Netze relativierte, wenn auch nicht völ- lig aufhob.

171 Manfred Gläser Die mittelalterliche Großstadt Lübeck — Vorbild und Muster für die Ostseestädte?* Lübeck ist als Prototyp der modernen abendländischen Gründungsstadt' und als normbildend für den gesamten Ostseeraum bezeichnet worden. Die Stadt verkörpere einen „neuen Typ von Hafensiedlung"2, hier sei die Keim- zelle der späteren Hanse entstanden. Nun war Lübeck in der Tat die mit Ab- stand älteste deutsche Gründung an der Ostsee ein Vorsprung, den die Bür- ger für ihre ökonomischen und politischen Ziele auszunutzen verstanden. Es dauerte über ein halbes Jahrhundert, bis auch weiter im Osten deutsche Städte entstanden, wobei wir in aller Regel nicht über die Daten der Stadt- gründung verfügen, sondern nur das Jahr der Ersterwähnung wiedergeben können. So ist für das Jahr 1201 Riga belegt, für das Jahr 1218 das deutsche Rostock. Es folgen für 1228 Wismar, für 1234 Stralsund, für 1243 Anklam und schließlich für 1248 Greifswald.' Die schriftlichen Quellen zur frühen Geschichte der jeweiligen Städte sind außerordentlich dürftig. Über die ersten Jahrzehnte, also über die ent- scheidenden Phasen, in denen die Strukturen der Städte entstanden, wer- den wir kaum unterrichtet. Am besten ist die Quellenlage noch für Lübeck, also wider Erwarten für die mit Abstand älteste Gründung. Hier liegen zwei Chroniken vor4, in denen wir zumindest über politische, kirchengeschicht-

* Dieser Beitrag erschien bereits in anderer Form unter dem Titel: Die Kultur der mittelalterlichen Hansestädte: dargestellt am Beispiel Hansestadt Lübeck, in: Salsa Cholbergiensis / hrsg. von Lech Lecieje- wicz und Marian RQbkowski, Kolobrzeg 2000, S. 127-146. 1 Ahasver von Brandt: Die gesellschaftliche Struktur des spätmittelalterlichen Lübeck, in: Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa Reichenau-Vorträge 1963-1964, Sig- maringen 1974 (Vorträge und Forschungen; Bd. 11), S. 215-239; Lübeckische Geschichte / hrsg. von Ant- jekathrin Graßmann, Lübeck 31997; Manfred Gläser, Rolf Hammel und Michael Scheffel: Das Haupt der Hanse: Lübeck, in: Die Hanse: Lebenswirklichkeit und Mythos: ein Katalog zu einer Ausstellung des Muse- ums für Hamburgische Geschichte / hrsg. von Jörgen Bracker, Bd. 1, Hamburg 1989, S. 183-200. 2 Günter P. Fehring: Alt Lübeck und Lübeck; zur Topographie und Besiedlung zweier Seehandelszen- tren im Wandel vom 12. zum 13. Jahrhundert, in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschich- te (im folgenden: LSAK) 7 (1983), S. 11-18; Detlev Ellmers: Bodenfunde und andere Zeugnisse zur frühen Schiffahrt der Hansestadt Lübeck. Teil 2: Bauteile und Ausrüstungsgegenstände von Wasserfahrzeugen aus den Grabungen Alfstraße 38 und Untertrave, in: LSAK 18 (1992), S. 7-21. 3 Horst Wernicke: Wismar, Aufstieg im Schatten Lübecks; sowie dessen weitere Beiträge Rostock; Die Hansestadt am Strelasund; Greifswald, in: Die Hanse (wie Anm. 1), S. 255-263; Herbert Ewe: Zur Baug- eschichte Stralsunds, in: Die Altstadt von Stralsund: Untersuchungen zum Baubestand und zur städtebau- lichen Denkmalpflege, Berlin 1958, 9-57. 4 Helmold von Bosau: Helmoldi chronica Slavorum / hrsg. v. Bernhard Schmeidler, Hannover 1973; Arnold von Lübeck: Arnoldi chronica slavorum / hrsg. v. I. M. Lappenberg, Hannover 1868 (beide in der Reihe Monumenta Germaniae Historica: Scriptores editi in usum scholarum).

172 Die mittelalterliche Großstadt Lübeck - Vorbild und Muster? liehe und militärische Ereignisse der frühen Stadtgeschichte unterrichtet werden. Fast nichts hingegen erfahren wir über die ersten Jahrzehnte Wis- mars, Stralsunds, Greifswalds oder Anklams. So kommt der Greifswalder Historiker Konrad Fritze', zu folgender Ein- schätzung: „Zwar wurden die Historiker es nie müde, die relativ dürftigen schrift- lichen Quellen immer aufs Neue hin- und herzuwenden und mit viel origi- nellem Scharfsinn auszudeuten, aber allzu oft kamen bei solchem Bemühen weniger wirklich sichere Erkenntnisse als mehr oder minder einleuchtende Hypothesen heraus. So richten sich die Hoffnungen und Erwartungen der Historiker immer intensiver auf die Archäologen, deren Arbeitskapazi- tät sich freilich mit einem Schlage vervielfachen müßte, wenn sie nur die dringlichsten Fragen der Stadthistoriker beantworten wollten." Welchen Beitrag können die umfangreichen archäologischen Forschungen in Lübeck leisten? Zur Beantwortung sei kurz auf die Geschichte der Stadt eingegangen. In Nordostdeutschland begann in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mit der Eroberung Ostholsteins und Lauenburgs, mit der Un- terwerfung der slawischen Bevölkerung und mit der Einbeziehung dieser Ge- biete in das Herzogtum Sachsen der Prozess der deutschen Ostsiedlung . Handel, Märkte und Vor- formen der Stadt (Abb. 1) hat es selbstverständlich auch bei den Slawen ge- geben', doch entstand die „Stadt im Rechtssinne" mit Bürgerbegriff und Stadt- mauer' erst im Zuge der deutschen Ostsiedlung'. Die erste deutsche Stadtgrün- dung an der Ostsee war, wie berichtet, im Jahre 1143 Lü- Abb. 1 beck, die spätere „Königin der Hanse", eine Gründung des holsteinischen Grafen Adolf II., der die Sied- lung aber 1158/59 seinem Lehnsherren Heinrich dem Löwen überlassen muss-

5 Konrad Fritze: Frühphasen der Entwicklung Rostocks und Stralsunds, in: LSAK 7(1983), S. 119-124. 6 Witold Hensel: Anfänge der Stadt bei den Ost- und Westslawen, Bautzen 1967 (Schriftenreihe des Instituts für sorbische Volksforschung in Bautzen bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin; Bd. 30); Lech Leciejewicz: Zur Entwicklung von Frühstädten an der südlichen Ostseeküste, in: Zeitschrift für Archäologie 3 (1969), S. 182-210. 7 Edith Ennen: Frühgeschichte der europäischen Stadt, Bonn 1953. 8 Erich Keyser: Städtegründungen und Städtebau in Nord-Westdeutschland im Mittelalter, in: Forschun- gen zur Deutschen Landeskunde 111 (1958), S. 204-218.

173 Manfred Gläser

te9. Die Stadt entwickelte sich sehr schnell zum Knotenpunkt des Handels zwi- schen Nord- und Ostsee; bereits 1160 wurde der Bischofssitz von Oldenburg nach Lübeck verlegt'', 1181 entzog man sich faktisch der Oberhoheit der Stadt- herren", und schon 1226 erreichte man nach kurzer zwischenzeitlicher dä- nischer Besatzung die volle Reichsunmittelbarkeit, unterstand also hinfort kei- nem Territorialfürsten mehru. Die besondere Bedeutung Lübecks ist von den Hansehistorikern stets hervorgehoben worden. Aber lässt sich daraus tatsächlich ableiten, dass die späteren Stadtgründungen an der Ostsee sich hinsichtlich ihrer topogra- phischen Strukturen, ihrer Bauweise und ihrer Sachkultur am Beispiel Lü- beck orientierten? Diese Frage lässt sich zum großen Teil nur durch umfas- sende archäologische Untersuchungen beantworten — und dies auch wohl nur ansatzweise und hypothetisch, weil der Forschungsstand in den jewei- ligen Städten höchst unterschiedlich ist. Letztendlich geht es um die Frage, ob es so etwas wie eine gemeinsame Kultur der Hansestädte überhaupt ge- geben hat. Für diesen Beitrag mag es ausreichen, zunächst auf einige Kri- terien zu verweisen, die für die mittelalterlichen Hansestädte von außeror- dentlicher Bedeutung waren. In weiteren Kapiteln soll anschließend auf die frühe Siedlungsentwicklung Lübecks und anschließend auf die Sachkultur eingegangen werden. Abgesehen von der Zugehörigkeit zur Christengemeinschaft muss hier zunächst die mittelniederdeutsche Sprache angeführt werden, die in allen wichtigen Handelsplätzen rund um die Ostsee verstanden wurde. Seit dem 13. Jahrhundert verdrängte sie auch zunehmend Latein als Sprache der Ver- waltung und Mittelhochdeutsch als Sprache der Dichtung. Die intensiven Kontakte deutscher Handwerker und Kaufleute zu der ansässigen Bevölke- rung in Skandinavien, im Baltikum und in den slawischen Siedlungsgebie- ten führte ebenfalls zu vielfältiger sprachlicher Annäherung. So schätzt man den Anteil mittelniederdeutscher Lehnworte am Gesamtwortschatz des mit- telalterlichen Schwedischen auf immerhin 50 %, gleichzeitig übernahmen etwa die deutschen Kaufleute ursprünglich slawische Begriffe wie „Domse" oder „Prahm"13. Voraussetzung für das Entstehen einer eigenständigen Kultur ist aber nicht nur das Vorhandensein einer verbindenden Sprache als Kommunika-

9 Helmold (wie Anm. 4), hier I 57 und I 86. 10 Ebda., I 90. 11 Arnold (wie Anm. 4), II 20 f. 12 Urkundenbuch der Hansestadt Lübeck / hrsg. v. Verein für Lübeckische Geschichte und Altertum- skunde, Lübeck 1843 ff. (Codex diplomaticus Lubecensis, Abteilung 1), I 35; vgl. auch Bernhard Am Ende, Studien zur Verfassungsgeschichte Lübecks im 12. und 13. Jahrhundert, Lübeck 1975 (Veröffentli- chungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck; Reihe B, Bd. 2). 13 Jürgen Meier und Dieter Möhn: Die Sprache im Hanseraum, in: Die Hanse (wie Anm. 1), S. 430-435.

174 Die mittelalterliche Großstadt Lübeck - Vorbild und Muster? tionsmittel, sondern auch die Entstehung von eigenständigen Institutionen. Die Kultur der Hanse entwickelte sich in der von Kaufleuten dominierten Institution „Stadt", inmitten einer ansonsten agrarisch strukturierten Feudal- gesellschaft. Diese Städte mit Stadtrecht, Bürgerbegriff und Stadtmauer wie- sen zwar unterschiedliche Abstufungen der Freiheit vom Landesherrn auf, von weitgehender bis hin zur Reichssouveränität, doch sind sie alle ge- prägt durch gemeinsame wirtschaftliche und soziale Faktoren: Handel und Handwerk waren die entscheidenden Wirtschaftszweige, Landwirtschaft oder gar Fischerei spielten keine große Rolle, in Politik und Verwaltung do- minierte eine Schicht wohlhabender Kaufleute, aus deren Reihen sich der Rat rekrutierte. So verwundert es auch nicht, dass sich die Grundrisse aller Hansestädte überraschend ähnlich sind, bei allerdings unterschiedlichen Dimensionen: Es handelt sich stets um einen kreisförmigen oder ovalen Grundriss, zumeist an einem Fluss gelegen, umgeben von einer Stadtmauer mit vielen Türmen. Die überregionalen Fernhandelsstraßen führen durch zwei, drei oder gar vier Tore in die Stadt. Am Kreuzungspunkt dieser Straßen befinden sich der Zentralmarkt mit dem Pranger und das Rathaus mit der Gerichtslaube. Auch die Fronerei, das Haus des Scharfrichters, die Waage, die Buden der Geld- wechsler und die Münze sind zumeist unweit des Marktes zu finden. In den größeren Städten kommt es auch zur Ausbildung von Spezialmärkten, so etwa für den Handel mit Fleisch, mit Vieh oder mit Holz. In unmittelbarer Nähe des Marktes steht zumeist auch die größte Kir- che der Stadt. Je nach Größe der Kommune kommen weitere Kirchen und bei Bistumssitzen auch der Dom des Bischofs hinzu. Die Klöster sind am Rande der Stadt, häufig direkt an der Stadtmauer, angesiedelt, in Einzelfäl- len sogar außerhalb der Befestigung. Wenn Klosteranlagen zentral liegen, so ist das zumeist auf spätere Stadterweiterungen zurückzuführen. In vielen Städten gibt es zudem ein Heiligen-Geist-Hospital sowie zahlreiche Häuser geistlicher Bruderschaften oder Beginen. An der Wasserseite liegt der Hafen mit seinen spezifischen Einrich- tungen wie Kaimauern und Brücken zum Anlegen der Schiffe, Speichern für die Waren, Kränen und Waagen. Liegt die Stadt an einem Fluss, befin- den sich Werften, Abwrackplätze und Reeperbahnen häufig auf der gegen- überliegenden Seite. Zum Weichbild der Stadt gehören außerdem Kapellen, Siechenhäuser, Richtstätten, zumeist auch Pestfriedhöfe. Als augenfälligster Beleg für eine gemeinsame Kultur der Hansestädte kann die Architektur der Bürgerhäuser angeführt werden. Die Straßenzü- ge aller großen Hansestädte, ob in Lüneburg oder in Wismar, ob in Dan- zig (poln. Gdaiisk) oder in Reval (estn. Tallinn), werden geprägt durch gie- belständige Häuser mit hoher Diele, niedrigem Obergeschoss und steilem

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Dach, also durch die sogenannten Dielenhäuser, deren Fassaden zwar seit dem Mittelalter häufig überformt wurden, deren gemeinsame Traufwände aber zumeist noch mittelalterliche Bausubstanz aufweisen. Im Einzelfalle ist es auch für den Bauforscher nicht möglich, ein Foto einer bestimmten individuellen Häuserzeile einer bestimmten Stadt zuzuwei- sen. Die Unterschiede bestehen nur in Tendenzen, so etwa im verwendeten Baumaterial. Während der Backstein in den Städten an der südlichen Ostsee- küste bis weit in das Baltikum hinein fast ausschließlich dominiert, ist es in Visby oder Reval der Kalkstein. Weitere Unterschiede ergeben sich durch die unterschiedlichen Bauzeiten. Rein gotische oder gar romanische Fas- saden sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast nur noch in Lübeck, Stralsund, Reval und Visby zu finden, in Danzig und Lüneburg dominiert die Renaissance, Wismar ist geprägt durch seine barocküberformten Fassa- den. Zuweilen sind es auch bestimmte Stilmittel, die in einer Stadt beson- ders häufig vorkommen, so etwa die vom Taustab umrahmten Fenster und Türen in Lüneburg, die kalksteinernen Fensterkreuze in Reval oder die Ter- rakotten in Lübeck, Lüneburg und Wismar. Die Gemeinsamkeiten setzen sich im Inneren der Gebäude fort: Das große Vorderhaus diente nur selten dem Wohnen, sondern Handel und Gewerbe. Gewohnt wurde in den Flügelbauten hinter den Vorderhäusern. Im hinteren Teil der schmalen, handtuchartigen Grundstücke befanden sich Speicher, Ställe und vor allem die unentbehrlichen Abortgruben, die Kloaken. Diese weitgehenden regionalen Parallelen ergeben sich selbstverständ- lich einerseits aus praktischen Erwägungen (gleiche Probleme führen zu gleichen Lösungen), andererseits aber auch durch eine normierende Rechts- lage. Während in vielen Städten des ostdeutschen Binnenlandes das Magde- burger Recht galt, war den meisten Küstenstädten das Lübecker Recht ver- liehen worden. Das Lübecker Recht, um 1224 in lateinischer und um 1265 in mittelniederdeutscher Sprache schriftlich fixiert14, schrieb den Bauherren in sehr detaillierter Weise vor, wie sie ihre Häuser zu errichten hatten (Ma- terial, Ausrichtung, Ableitung des Regenwassers, Lage der Kloaken und Ställe, gemeinsame Traufwände usw.). Die archäologischen Untersuchungen in Lübeck erbrachten vor allem siedlungsgeschichtliche Ergebnisse15 zur Entwicklung der Stadt im 12. und. 13. Jahrhundert, also zur Entwicklung von der Gründung bis zur mittelal-

14 Gerhard Theuerkauf: Recht, Rechtsaufzeichnung, Gerichtsbarkeit, ebda., S. 361-365. 15 Günter P. Fehring und Rolf Hammel: Die Topographie der Stadt Lübeck bis zum 14. Jahrhundert, in: Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150-1650, Bd. 3 / hrsg. von Cord Meckseper, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 167-190; Gläser, Hammel und Scheftel (wie Anm. 1); Günter P. Fehring: Stadtarchäologie in Lübeck 1973-1993, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 22 (1994), S. 129-180.

176 Die mittelalterliche Großstadt Lübeck - Vorbild und Muster? terlichen Großstadt (Abb. 2). Eng verknüpft mit der Frage nach den ältesten Siedlungsteilen ist die Frage nach einer vordeutschen, nach einer slawischen Besied- lung des Stadthügels. Bereits bei einer seiner ersten großen Gra- bungskampagnen gelang Günter P. Fehring der Nachweis von sla- wischen Befestigungsanlagen im Norden des Stadthügels16, im Be- reich des späteren Burgklosters. Hier konnten zwei slawische Be- festigungsgräben und eine ausge- dehnte fundreiche Kulturschicht erfasst werden. Somit konnte erstmals durch Befunde aus der Slawenzeit eine vordeutsche Be- siedlung des Stadthügels belegt werden. Inzwischen ist bei zahl- reichen Grabungen immer wie- der slawische Keramik geborgen Abb. 2 worden, doch war diese fast immer vergesellschaftet mit deutscher Keramik. Die archäologischen Untersuchungen von Ursula Radis in der Nähe des Burgklosters haben zu eindeutigen Belegen für ein slawisches suburbium in mittel- und spätslawischer Zeit geführt'''. Somit handelt es sich auch bei der deutschen Siedlung Lübeck um keine Gründung „aus wilder Wurzel", sondern um die konsequente Weiterentwicklung bereits angetroffener Siedlungsstrukturen'''. Für die schauenburgische Zeit zwischen 1143 und 1158 lagen bis vor kurzem nur wenige Belege vor. Zum einen handelte es sich um den dendrochronolo- gisch in den Winter 1155/56 datierten Brunnen des Burgklosters19, zum anderen um die Überreste eines Pfostenbaus auf dem Petri-Hügel, der in den Jahren „um

16 Günter P. Fehring: Grabungsbefunde zum slawischen Burgwall Bucu und zur landesherrlichen Burg mit zugehörigem Brunnen im Burgkloster zu Lübeck — ein Zwischenbericht, in: LSAK 6 (1982), S. 77- 98; Manfred Gläser: Archäologische Untersuchungen auf dem Gelände des ehemaligen Burgklosters zu Lübeck. Ein Beitrag zur Burgenarchäologie, in: LSAK 22 (1992), S. 65-121. 17 Ursula Radis: Neue archäologische Erkenntnisse zur slawischen und frühen deutschen Besiedlung Lübecks, in: Lübeckische Blätter 163 (1998), S. 69-72. 18 Vgl. Fehring: Stadtarchäologie (wie Anm. 16). 19 Fehring: Grabungsbefunde (wie Anm. 19); Gläser: Untersuchungen Burgkloster (wie Anm. 19). 177 Manfred Gläser

Abb. 3 oder nach 1145" errichtet worden warm. Der Fundort des Brunnens, nämlich in der Burg und nicht in der bür- gerlichen Siedlung, und die vage Datierung des Pfosten- baus ließen keine sicheren Aussagen zur Lokalisierung der schauenburgischen Grün- dung zu. Erst erneute Aus- grabungen in der Fischstraße, die zwischen 1994 und 1996 durchgeführt wurden, erbrachten erstmals einen eindeutigen Befund aus den Gründungsjahren. Es handelt sich um einen Brun- nen, der im Winter 1152/53 errichtet worden ist. Dies jahrgenaue Datum deutet an, dass auch die schauenburgische Siedlung im sogenannten „Gründungsvier- tel" zwischen Hafen und Markt zu suchen ist. Allerdings sind bislang keine Aus- sagen möglich zur Ausdehnung, Bebauung oder Struktur dieser frühen Stadt. Es war unumstritten, dass sich das Zentrum der sogenannten Zweitgründung von 1158/59, der welfischen Gründung, ebenfalls hier befand, im „Kaufleu- teviertel" zwischen Hafen und Markt einerseits und zwischen Mengstraße und Holstenstraße andererseits. Die archäologische Forschung hat diese Hypothe- sen bestätigt. Bei den Ausgrabungen Alfstraße 38 und Untertrave/Kaimauer sind Holzhäuser, ein Bohlenweg und eine Kaianlage erfasst worden, die dendrochro- nologisch in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datieren21. Die „um 1157" errichtete Kaianlage ermöglichte das Anlegen von Schiffen; sie belegt indirekt zusammen mit einigen Kleinfunden die Existenz von Frühformen deutscher Kog- gen, die nicht mehr zum Entladen auf den Strand gezogen werden konnten22. Auch bei den Ausgrabungen in der Alfstraße/Fischstraße sind Holzhäuser (Abb. 3) des späten 12. Jahrhunderts freigelegt worden23, ebenso bei den Un-

20 Manfred Gläser: Die Ausgrabungen in der Großen Petersgrube zu Lübeck. Befunde und Funde. Mit zwei Beiträgen von Wolfgang Erdmann, in: LSAK 18 (1992), S. 41-185. 21 Manfred Gläser: Die Funde der Grabungen Alfstraße 36/38 und An der Untertrave 111/112. Nieder- schlag der Stadtentwicklung Lübecks und seines Hafens im 12. und 13. Jahrhundert, in: LSAK 18 (1992), S. 187-248; ders.: Befunde zur Hafenrandbebauung Lübecks als Niederschlag der Stadtentwicklung im 12. und 13. Jahrhundert. Vorbericht zu den Grabungen Alfstraße 36/38 und An der Untertrave 111/112, in: LSAK 11 (1985), S. 117-129; Ingrid Schalies : Archäologische Untersuchungen zum Hafen Lübecks. Befunde und Funde der Grabung An der Untertrave/ Kaimauer, in: LSAK 18 (1992), S. 305-344. 22 Ellmers (wie Anm. 2). 23 Gabriele Legant-Karau: Vom Großgrundstück zur Kleinparzelle. Ein Beitrag der Archäologie zur Grundstücks- und Bauentwicklung Lübecks um 1200, in: Archäologie des Mittelalters und Bauforschung im Hanseraum. Festschrift für Günter P. Fehring / hrsg. von Manfred Gläser, Rostock 1993 (Schriften des Kulturhistorischen Museums in Rostock; Bd. 1), S. 207-215.

178 Die mittelalterliche Großstadt Lübeck - Vorbild und Muster?

LZ tersuchungen in der Königstraße24 und auf dem Grundstück Mengstraße 3125. Vor allem bei der Großgrabung in der Alfstraße/Fischstraße ist es gelungen, die Grundstücks- und Bebauungsstruk- turen der welfischen Zweitgründung gründlich zu untersuchen26: Überra- schenderweise konnte schon für diese EIN frühe Zeit eine sehr intensive Auftei- lung des Geländes belegt werden. Be- reits für die 1180er Jahre ist nämlich jene kleinteilige Gliederung in hand- tuchartige Grundstüc-ke bezeugt, wie sie sich bis in unser Jahrhundert er- halten hat. Auf den jeweiligen Grundstücken hatte man Häuser in Pfosten- wie auch in Blockbauweise errichtet, vor allem Abb. 4 aber auch schon Ständerbauten auf Schwellen (Abb. 4). Es handelte sich, wie auf den oben angeführten Grundstücken, um einen recht einheitlichen Bautyp, der eine weitgehende Standardisierung aufweist und als koloni- sationszeitlicher Haustyp angesprochen werden kann. So überrascht es auch nicht, dass seit einigen Jahren, seit Durchführung großflächiger Ausgra- bungen im Zuge blockübergreifender Sanierung, entsprechende Befunde auch aus Rostock, Stralsund, Greifswald, Stettin, Kolberg, Elbing (poln. Szczecin, Kolobrzeg, Elblag) und Riga vorliegen, wenn auch wesentlich jüngere27. Die Häuser weisen einen annähernd oder vollkommen quadratischen Grundriss mit Seitenlängen zwischen 4 und 6 m auf. Sie sind unterkellert oder geringfügig in das Erdreich eingetieft und ein- oder zweigeschossig, als

24 Uwe Müller: Ein Holzkeller aus dem späten 12. Jahrhundert. Erste Ergebnisse der archäologischen Untersuchungen auf den Grundstücken Königstraße 70-74 in Lübeck. Mit einem Beitrag zu ausgewählten Glasfunden, in: LSAK 2 (1992), S. 167-200. 25 Ingrid Schalies: Neue Befunde hochmittelalterlicher Holzbauten im Lübecker Gründungsviertel, in: Archäologisches Korrespondenzblatt 29 (1999), S. 125-141. 26 Marianne Dumitrache u.a.: 800 Jahre Besiedlung im „Kaufleuteviertel". Bisher größte Ausgrabung der Nachkriegszeit in Lübeck, in: Lübeckische Blätter 147 (1987), H. 6, S. 85-89; Gabriele Legant-Ka- rau: Vom Großgrundstück zur Kleinparzelle. Ein Beitrag der Archäologie zur Grundstücks- und Bau- entwicklung Lübecks um 1200, in: Archäologie des Mittelalters (wie Anm. 26), S. 207-215; Günter P. Fehring:,,Domus lignea cum caminata": Hölzerne, turmartige Kemenaten des späten 12. Jahrhunderts in Lübeck und ihre Stellung in der Architekturgeschichte, in: Hammaburg N. F. 9 (1989), S. 271-283. 27 Vgl. Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum III: Der Hausbau / hrsg. von Manfred Gläser, Lübeck 2001. 179 Manfred Gläser

Zugang zum Keller dient eine Ram- pe, in anderen Fällen eine Treppe. Die Schwellbalken weisen einen Kantenfalz für die senkrecht stehenden Wandboh- len auf Belegt sind außerdem Ständer, Riegel, Rähme und Deckenbalken so- wie Dachsparren. In einem Falle (Abb. 5) ist es gelungen, das gesamte Haus bis zum First zu rekonstruieren28. Er- fasst wurden außerdem Fußbodenboh- len mit Unterleghölzern, Feuerstellen aus Backsteinen und eingegrabene Fäs- ser sowie Überreste von Kachelöfen. Die Steinbauweise setzte in Lübeck erst relativ spät ein. Als älteste Bauten sind hier Großbauprojekte anzusprechen, nämlich die ältesten Phasen des Doms und der Marienkirche. Etwa gleichzei- tig erhielt die Stadt aber auch bereits Be- Abb. 5 festigungen aus Backstein. Sowohl die bei den Ausgrabungen der Alfstraße 38 und dem Johanniskloster erfaßten Stadtmauern als auch die Befestigungen der Burg im Norden der Stadt bestanden aus Stein29. Die oben angesprochene slawische Burg hatte man bereits in schauenburgischer Zeit zu einem U-för- migen Befestigungssystem ausgebaut, mit bis zu 16 m breiten Gräben, Wäl- len und Palisaden. Der erneute Ausbau in den 1180er Jahren und die Errich- tung massiver Steinmauern mit Türmen und Toren ging vermutlich, ebenso wie der Bau der bürgerlichen Stadtmauer, auf eine Anordnung Heinrichs des Löwen zurück30. Für einige Jahrzehnte gab es auf der Halbinsel zwei eigen- ständige Befestigungen, beide durch Backsteinmauern gesichert: die Burg im Norden und die bürgerliche Stadt im Zentrum der Halbinsel zwischen Ha- fen und Johanniskloster. Erst unter dem dänischen König Waldemar entstand ab 121731 eine die gesamte Halbinsel umfassende und nunmehr auch den Dombe- reich integrierende Befestigung32. Die ältesten Wohnbauten aus Backstein entstanden erst im frühen 13. Jahrhundert (Abb. 4). Es handelte sich einerseits um große Saalgeschoss- 28 Gläser: Befunde Hafenrandbebauung (wie Anm. 24). 29 Manfred Gläser: Die Lübecker Burg- und Stadtbefestigungen des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Archä- ologisches Korrespondenzblatt 20, (1990), H. 2, S. 227-234. 30 Gläser: Untersuchungen Burgkloster (wie Anm. 19). 31 Detmar-Chronik von 1101 bis 1395 / hrsg. von Karl Koppmann, Leipzig 1884 (Die Chroniken der deutschen Städte; Bd. 19; Die Chroniken der niedersächsischen Städte, Lübeck; Bd. 1). 32 Gläser, Stadtbefestigungen (wie Anm. 32).

180 Die mittelalterliche Großstadt Lübeck - Vorbild und Muster?

häuser auf herausgehobenen Eckgrundstücken wie im Falle Alfstraße 3833, Schüs- selbuden 634 oder Koberg 235, andererseits um klei- ne turmartige „Steinwerke" auf schmaleren Grundstü- cken36. Nur einer dieser Bau- ten ist aufgrund erhaltener Deckenbalken des Kellers dendrochronologisch zu da- Abb. 6 tieren, nämlich jener von der Alfstraße 38 mit „um 1216". In den zentral gelegenen, besonders schmalen und bevorzugten Straßen im Kaufleuteviertel scheint sich die Steinbauweise sehr schnell durchgesetzt zu haben: Für die Mitte des 13. Jahrhunderts lässt sich hier bereits eine ge- schlossene Backsteinbebauung belegen". Diese eminent dramatische Entwicklung von einräumigen Holzbauten mit Grundflächen ab 16 m2 zu Steinbauten mit Grundflächen bis zu 250 m2, welche sich in wenigen Jahrzehnten abspielte, war begrenzt auf den zentra- len Bereich im Westen der Halbinsel (Abb. 6 und 7). Weiter östlich lassen sich zwar die gleichen Bautypen und entsprechende Bebauungstrukturen belegen, doch scheint die Entwicklung sich hier mit großer zeitlicher Ver- zögerung vollzogen zu haben. So datiert der Siedlungsbeginn bei den Aus- grabungen im „Handwerkerviertel" stets erst in das späte 12. oder in das

33 Gläser: Befunde Hafenrandbebauung (wie Anm. 24); Jens Christian Holst: Zur Baugeschichte der Häuser Alfstraße 36 und 38 in Lübeck. Ein Zwischenbericht, in: LSAK 11 (1985), S. 131-143. 34 Monika Remann: Das Saalgeschoßhaus Ecke Alfstraße/Schüsselbuden (Arbeitstitel), in Vorbereitung für die Lübecker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte. 35 Jens Christian Holst: Ein Bürgerhaus als Geschichtsquelle: Koberg 2: erster Bericht der Bauforschung, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 61 (1981), S. 155-188. 36 Felicia Broscheit: Steinerne Turmhäuser als bürgerliche Wohnbauten des 13. Jahrhunderts im Lübe- cker Kaufleuteviertel, in: Archäologisches Korrespondenzblatt 24 (1994), S. 457-468; Udo H. Fabesch: Archäologische und baugeschichtliche Untersuchungen in der Fleischhauerstraße 20 in Lübeck, in: LSAK 16 (1989), S. 137-159; Günter P. Fehring, Fachwerkhaus und Steinwerk als Elemente der frühen Lübecker Bürgerhausarchitektur: ihre Wurzeln und Ausstrahlung, in: Offa 37 (1980), S. 267-281; ders.: Städtischer Hausbau in Norddeutschland, in: Zur Lebensweise in der Stadt um 1200: Ergebnisse der Mittelalter-Archä- ologie / hrsg. von Heiko Steuer, Köln-Bonn 1986 (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters; Beiheft 4), S. 43-61; Ingrid Schalies: Neue Befunde hochmittelalterlicher Holzbauten im Lübecker Gründungsviertel, in: Archäologisches Korrespondenzblatt 29 (1999), S. 125-141. 37 Ursula Radis: Die Steinbauperioden der Ausgrabungen im Lübecker Kaufleuteviertel (Arbeitstitel), in Vorbereitung für die Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte.

181 Manfred Gläser

frühe 13. Jahrhundert, ent- sprechend später datie- ren dann auch die erfassten Häuser, Brunnen oder Klo- aken". Entsprechendes gilt auch für die Siedlungsbereiche im Nordosten und im Nor- den der Stadt: Die Holzkon- struktionen und der Sied- lungsbeginn sind nicht vor 1200 zu datieren, die er- sten Steinbauten entstehen, Abb. 7 mit wenigen Ausnahmen, erst am Ende des 13. Jahrhunderts". Lediglich bei den Ausgrabungen im Johanniskloster im äußersten Osten der Halbinsel sind ältere Befunde freigelegt worden.4° Es scheint, als sei dieser Bereich der Stadt, östlich der Königstraße und nördlich der Achse Beckergrube/Glo- ckengießerstraße, erst sehr spät erschlossen worden. Weiter fällt auf, dass von vielen Untersuchungen in diesem Bereich Befunde oder Funde vorlie- gen, die eine handwerkliche Produktion belegen'. Zu berichten ist aber auch über die Ausgrabungen in den tiefgelegenen travenahen Bereichen südlich und nördlich eines Hügelsporns, auf welchem sich, wie oben berichtet, das „Kaufleuteviertel" herausbildete. Es handel- te sich um extrem siedlungsfeindliches Gelände, um eine periodisch immer wieder überflutete Auenlandschaft, durchzogen von Alt- und Nebenarmen der mäandrierenden Trave. Vor allem die Ausgrabungen in der Großen Peters- grube und in der Dankwartsgrube haben ergeben, dass man hier im frühen 13. Jahrhundert umfangreiche Baulandgewinnungs-Maßnahmen durchgeführt hatte, von denen uns keine schriftliche Quelle berichtet. Man erweiterte das bebauungsfähige Gelände in den Fluss hinein, indem man es erhöhte, um bis zu 6 m, und indem man das Gelände durch Rostkonstruktionen und proviso- 38 Doris Mührenberg: Archäologische und baugeschichtliche Untersuchungen im Handwerkerviertel zu Lübeck. Befunde Hundestraße 9-17: mit einem botanischen Beitrag zu den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pflanzenresten von Henk van Haaster, Amsterdam, in: LSAK 16 (1989), S. 233-290; Ingrid Schalies: Die Ausgrabungen im Lübecker Handwerkerviertel (Arbeitstitel), in Vorbereitung für die Lübecker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte. 39 Günter P. Fehring: Archäologische und baugeschichtliche Untersuchungen im Heiligen-Geist-Hos- pital zu Lübeck, in: LSAK 1 (1978), S. 63-70; Manfred Gläser: Archäologische Untersuchungen einer hochmittelalterlichen Bronzegießerei zu Lübeck, Breite Straße 26, in: LSAK 16 (1989), S. 291-308. 40 Manfred Gläser, Archäologische und baugeschichtliche Untersuchungen im St. Johanniskloster zu Lübeck. Auswertung der Befunde und Funde, in: LSAK 16 (1989), S. 9-120. 41 Doris Mührenberg: Befunde und Funde zum Handwerk in Lübeck (Arbeitstitel), in Vorbereitung für die Lübecker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte.

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rische Holzkästen verfe- stigte (Abb. 8). Die Sied- lungsfläche Lübecks wurde auf diese Weise um etwa 25 % vergrößert. Allein für die Baulandgewinnungs- Maßnahme im Südwesten mussten etwa 500.000 m3 Erdreich herangeschafft werden, hinzu kamen min- destens 20.000 m3 Holz42. Für die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts sind aber noch weitere Großbaumaß- Abb. 8 nahmen zu verzeichnen43, nämlich die den gesamten Stadthügel umfassende Befestigung sowie neue Klöster und Kirchen, das Heiligen-Geist-Hospital, schließlich das neue Rat- haus. Gleichzeitig errichteten die Bürger auf ihren Grundstücken die ersten Backsteinbauten. Dieser qualitative und quantitative Entwicklungsschub begann zu einer Zeit, als Lübeck zum dänischen Reich gehörte. Es schei- nen die entscheidenden Jahre für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt gewesen zu sein, eine „Boom-Phase", als der Handel im Ostseegebiet unter dem Schutze des Dänenkönigs ungehindert florierte, und Lübeck zur Groß- stadt aufstieg. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts war die Siedlungsgenese Lübecks abgeschlossen. Eine Siedlungsvergrößerung sollte nicht mehr statt- finden. Für die sicherlich noch anwachsende Bevölkerung musste die Bebau- ung aber verdichtet werden, durch eine weitere Aufteilung der Grundstücke und durch die Errichtung der berühmten „Gänge", kleine Reihenhäuser in den hinteren Teilen der Grundstücke, die über Tunnel durch die Vorderhäu- ser erschlossen wurden. Kommen wir schließlich zur mittelalterlichen Sachkultur. Im folgenden sollen fast ausschließlich Lübecker Funde vorgestellt werden, doch wird in den Literaturangaben auch auf entsprechende Funde aus den anderen Ost- seestädten hingewiesen. Die Funde aus unseren Hansestädten ähneln ei- nander nämlich in verblüffender Weise. Dies ist uns in diesem Umfang erst seit einigen Jahren bewusst. Zwar gab es auch vor der Grenzöffnung 1989 schon vielfältige Kontakte Lübecks mit den Kollegen aus der DDR, aus Po- len und aus der Sowjetunion, doch waren die Möglichkeiten zu intensiven Vergleichsstudien stark eingeschränkt. Es kommt hinzu, dass die Stadtkernar- 42 Gläser: Ausgrabungen Petersgrube (wie Anm. 23). 43 Gläser, Hammel und Scheftel (wie Anm. 1); Fehring: Stadtarchäologie (wie Anm. 16). 183 Manfred Gläser

chäologie vor allem in den Städten der ehemaligen DDR stark vernachlässigt wurde, ganz im Gegensatz zu den in- tensiven Forschungen etwa in Elbing oder Riga. Dieser uneinheitliche For- schungsstand ist inzwischen durch die vielen Flächengrabungen in Rostock, Stralsund und Greifswald überwunden. Nunmehr lassen sich trotz nach wie vor mangelnden Auswertungsstandes intensive Vergleichsstudien anstellen - besser denn je, kommen doch nun auch die Fundkomplexe aus Litauen, Lett- land und Estland hinzu. Seit 1995 führt der Bereich Archäo- logie der Hansestadt Lübeck alle zwei Jahre ein Kolloquium durch, zu wel- chem bei wechselnden Themen jeweils Archäologen aus den Städten des han- Abb. 9 sischen Wirtschaftsraumes eingeladen werden.' Vorrangiges Ziel des Kol- loquiums ist es, die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede kultur- geschichtlicher Aspekte für die jeweiligen Städte herauszuarbeiten. Für alle Teilnehmer war es häufig überraschend, wie stark sich etwa die Haushaltsin- ventare, die Importwaren (Abb. 9) oder auch die Haustypen ähnelten. Dabei ist zu beachten, dass es im wesentlichen um die Alltagskultur geht, also um jene Kultur, zu wel- cher die Archäologie durch ihre spezifischen Methoden Ergebnisse beitragen kann. Andererseits gelingt es der Archäologie nur selten, neu- ere Erkenntnisse zur soge- nannten „Hochkultur" beizu- tragen, also Erkenntnisse zur Geistes- und Mentalitätsge- schichte, zur Kunstgeschich- te oder zur Verfassungs- geschichte. Entsprechende Abb. 10

44 Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum: Bd. 1: Stand, Aufgaben und Perspektiven / hrsg. von Manfred Gläser, Lübeck 1997; Bd. 2: Der Handel / hrsg. von dems., Lübeck 1999; Bd. 3: Der Hausbau / hrsg. von dems., Lübeck 2001. 184 Die mittelalterliche Großstadt Lübeck - Vorbild und Muster?

Funde wie Holz- oder Tonplastiken, Wachstafelbücher mit identifizierbaren Texten usw. sind sehr spärlich und weitgehend von der Zufälligkeit ihrer Erhaltung im Erdreich oder ihrer späteren Auffindung abhängig. Unsere Kenntnisse über mittelalterliche Haushaltsgegenstände sind durch die zahlreichen Lübecker Funde, vor allem aus den Kloaken, außergewöhn- lich gut. Erwähnt seien nur Löffel, Gabeln, Körbe, Schachteln, Fässer, Bot- tiche, Spiegel etc. Die meisten Geräte für Küche und Tisch bestanden aus Holz oder Keramik. Gedrechselte Teller oder flache Schalen sowie aus ein- zelnen Dauben zusammengesetzte Becher und Schüsseln werden bei je- der größeren Grabung zu Hunderten geborgen. Hinzu kommen Glasgefäße (Abb. 10) aus der regionalen Produktion oder auch hochwertige Importgläser aus Venedig oder gar Syrien45. Entsprechende Gläser liegen aber auch aus Greifswald46, Stralsund', Elbing48 oder aus Dorpat49 (estn. Tartu) vor. Neben Holz war Ton der bevorzugte Werkstoff des Mittelalters. Ton war reichlich vorhanden, leicht abbaubar, beliebig formbar und nach dem Brand wasserundurchlässig, hart und langlebig. Die Palette aus tongefertigten Ge- genständen ist reichhaltig. Abgesehen von Geschirr, auf das noch einzu- gehen ist, umfasst die Palette zunächst die Baukeramik, also Backsteine, Dachziegel, Terrakotten oder Fußbodenplatten, aber auch Kleinmöbel, Feu- erstülpen oder Bratspießhalter, außerdem kleine Gegenstände wie Murmeln, Spinnwirtel oder Plastiken. Nach wie vor stellt das Haushaltsgeschirr die wohl wichtigste Fundgat- tung für die Mittelalter-Archäologie dar. Bei jeder größeren Grabung wer- den Zehntausende, in Einzelfällen sogar Hunderttausende von Scherben ge- borgen. Mit Hilfe der Keramik lassen sich die zugehörigen Befunde wie Mauern, Brunnen, Kloaken oder ähnliches zeitlich einordnen. Mittlerwei- le ist es möglich, die hochmittelalterlichen Lübecker Keramikkomplexe in relativ enge Zeiträume von Vierteljahrhunderten zu datieren. Im Mittelalter dominierte im Haushalt eindeutig der Kugeltopf, der klassische Kochtopf ohne Standvorrichtung oder Bodenfläche, der zuweilen mit Stielen oder Henkeln ausgestattet war. Das Spektrum an Funktionstypen erweiterte sich

45 Peter Steppuhn: Ein islamisches Goldemailglas aus Lübeck, Königstraße 32, in: Archäologie des Mit- telalters (wie Anm. 26), S. 479-484; ders.: Mittelalterliche und frühneuzeitliche Glasfunde aus der Altstadt von Lübeck (in Vorbereitung für die Lübecker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte). 46 Heiko Schäfer: Archäologische Erkenntnisse zu Handel und Fremdgütern im mittelalterlichen Greifs- wald, in: Der Handel (wie Anm. 47), S. 349-356. 47 Manfred Schneider: Archäologische Erkenntnisse zum mittelalterlichen Handel und Warenumschlag in Stralsund, ebda., S. 357-374. 48 Graiyna Nawrolska: Archaeological evidente for trade in Elble from the 13th to the 17th centuries, ebda., S. 373-386. 49 Ain Mäesalu: Über den Stand der archäologischen Forschungssarbeit in Dorpat (Tartu), in: Aufgaben und Perspektiven (wie Anm. 47), S. 343-350.

185 Manfred Gläser erst im ausgehenden 12. und im frühen 13. Jahrhundert. So kamen jetzt die sogenannten Grapen auf, dreibeinige Kugeltöpfe mit einem Stiel, die be- reits eine ebene Herdfläche voraussetzten. Daneben gab es jetzt auch Kan- nen und Krüge, Becher, Pfannen und Schalen. Zumeist handelt es sich bei der lo- kal produzierten Keramik, der Harten Grauware, um kurzlebige Massenware ohne aufwendiges Dekor. Eine Aus- nahme stellt das Trink- und Schenk- geschirr dar, das entweder aus Roter Irdenware, aus Faststeinzeug oder aus Steinzeug bestand. Die Rote Irdenwa- re ist zumeist glasiert, häufig mehrfar- big, und mit Applikationen wie Roset- ten, Blüten, Noppen o. ä. verziert, bis hin zu reliefartigen Darstellungen von Gesichtern oder Figuren von Nonnen oder Rittern'''. Die Funde von Töp- fereiabfällen belegen, dass derartig aufwendig dekorierte Gefäße auch in Lübeck hergestellt wurden51. Während die weitgehende Wasserundurchläs- sigkeit bei der Roten Irdenware durch die Glasur erreicht wurde, muss- ten das Faststeinzeug und später das

Steinzeug wesentlich härter gebrannt Abb. 11 werden als die Irdenware. Dies setzte Tonarten voraus, die in Lübeck nicht anstehen, und aufwendigere Brenn- öfen, um höhere Temperaturen zu erreichen. Das Steinzeug (Abb. 11) wur- de aus dem Rheinland und aus dem südlichen Niedersachsen importiert. Der Umfang dieses Keramikhandels" im späten Mittelalter darf nicht un- terschätzt werden; die Keramikkomplexe dieses Zeitraums bestehen häufig zu 10 oder gar 20 % aus Steinzeug-Scherben53. Es ist aber auch keineswegs

50 Vgl. Ulrich Drenkhahn: Chronologie der Keramikfunde aus Lübeck (Arbeitstitel), in Vorbereitung für die Lübecker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte. Für Kolberg Marian RQbkowski: Archäolo- gische Erkenntnisse zum Handel in Kolberg (Kolobrzeg) vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, in: Der Handel (wie Anm. 47), S. 403-414. 51 Ulrike Braun: Figurenpracht im Töpferei-Abfall, in: Der Wagen 2000, S. 153-160. 52 David Gaimster: Der Keramikmarkt im Ostseeraum 1200 bis 1600: Exportkeramik als Indikator für Fernhandelsbeziehungen und die Wanderung des hansischen Handwerks und der Wohnkultur, in: Der Handel (wie Anm. 47), S. 99-110. 53 Drenkhahn (wie Anm. 53); für Kolberg Rgbkowski (wie Anm. 53); für Elbing: Graiyna Nawrolska:

186 Die mittelalterliche Großstadt Lübeck - Vorbild und Muster? so, dass die aufwendigen Importwaren etwa nur von Angehörigen hervorge- hobener sozialen Schichten gekauft wurden. Die entsprechenden Scherben finden sich auch durchaus unter den Abfällen von Handwerker-Haushalten, nur eben in geringeren Anteilen. Neben dem Wohnen zählt auch die Kleidung zu den elementaren Be- dürfnissen des Alltags, wenn sie auch stärker als etwa der Hausbau gele- gentlichen Modeerscheinungen unterworfen war. Abgesehen von den Bild- quellen und den spätmittelalterlichen Kleiderordnungen ergeben sich auch durch archäologische Untersuchungen mannigfache Aufschlüsse, vor allem durch die Kloakenfunde. In die Abfallschächte gelangten mitunter Tausen- de von viereckigen Kleidungsresten, offenbar das mittelalterliche Toilet- tenpapier. Wesentlich seltener sind gänzlich erhaltene Kleidungsstücke. Die Funde geben vor allem Auskunft zur Produktionstechniken wie Gewe- bebindungen oder Gestricken, seltener aber zu kostümgeschichtlichen Fra- gestellungen'''. Immerhin lassen sich Fragen der Verbreitung bestimmter Materialien wie Seide oder nach dem erstmaligen Auftreten von Wollge- stricken oder Filzen beantworten". Leder wurde im Gegensatz zu den Klei- dungsstücken vor der Deponierung in den Kloaken in aller Regel nicht zer- schnitten, so dass häufig gänzlich oder zum großen Teil erhaltene Schuhe oder Stiefel geborgen werden. Mittlerweile ist es spezialisierten Archäolo- gen gelungen, zuverlässige Chronologien des Schuhwerks zu entwickeln56. Unter dem Sammelbegriff „Trachtzubehör"" werden alle zur Kleidung gehörenden oder am Körper getragenen Gegenstände zusammengefasst, also die „Accessoires" im heutigen Sinne. Es handelt sich um Schmuck, etwa Fin- gerringe, Schmucknadeln oder Halsketten, häufig aus Edelmetall bestehend oder mit Edelsteinen besetzt, zumeist aber aus Bronze oder Kupfer, in Einzel- fällen auch nur aus Holz, Eisen oder aus poliertem Knochen. Edelmetallfunde sind insgesamt außerordentlich selten. Sie wurden sorgsam gehütet und gin- gen kaum verloren; unbrauchbar gewordene Schmuckstücke wurden wieder eingeschmolzen. Zum Trachtzubehör zählen auch Knöpfe, Gürtel und Rie- men sowie die bronzenen Schnallen und Gürtelbeschläge. Überraschend häu- fig sind Gegenstände, die der Hygiene oder Körperpflege dienten, so etwa

Archaeological evidence for trade in Elblag from the 13th to the 17th centuries, in: Der Handel (wie Anm. 47), S. 373-386. 54 Gisela Jaacks: Kostümgeschichtliche Untersuchungen an den Gewebefunden aus den Grabungen Hun- destraße, Schrangen und Königstraße zu Lübeck, in: LSAK 23 (1993), S. 283-294. 55 Klaus Tidow: Textilfunde aus der Lübecker Innenstadt, in: LSAK 17 (1988), S. 173-175. 56 Willy Groenman-van Waateringe: Mittelalterliche Lederfunde aus der Lübecker Innenstadt, in: LSAK 17 (1988), S. 170-172; Marquita und Serge Volken: Die Lederfunde der Hundestraße 95 in Lübeck, in: LSAK 26 (2002), S. 473-502. 57 Detlev Morawski: Trachtzubehör des Mittelalters und der frühen Neuzeit aus Lübeck, in Vorbereitung für die Lübecker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte.

187 Manfred Gläser aufwendig dekorierte Kämme aus Bein oder Horn, aber auch Pinzetten aus Eisen und Bronze oder gar solche mit einem Goldüberzug. In einer Lübecker Kloake fand sich ein dreiteiliges Reiseset, bestehend aus Zahnbürste, Zahn- stocher und Ohrlöffel, untereinander mit einem Niet verbunden. Auch Messer gehörten zum Trachtzubehör, im Einzelfall auch Dolche. Abgesehen von den Klingen finden sich häufig die Messergriffe aus Holz oder Bein oder die Mes- serscheiden. Im weitesten Sinne müssen wir auch Pilgerabzeichen oder Pil- germuscheln zu dieser Gruppe des Trachtzubehörs rechnen. Nach Wohnung und Kleidung sei mit der Ernährung" auf ein drittes ele- mentares Bedürfnis eingegangen. Auch hier muss betont werden, dass die schriftlichen und bildlichen Quellen überraschend viele Hinweise auf Fest- bankette zu herausragenden Ereignissen, zu Menü-Abfolgen oder gar zu Re- zepten enthalten, uns aber nicht über die alltägliche Ernährung des Bürgers informieren. Diese Lücken vermag die Stadtkernarchäologie zum gewissen Teil zu schließen. Bei jeder größeren Grabung werden von Tausende von Speiseabfällen geborgen. Je nach Gründlichkeit der Bergung handelt es sich um Kleinfunde wie Obstkerne, Getreidekörner oder Fischgräten und um die größeren, kaum zu übersehenden Tierknochen oder Muschelschalen. Bo- tanische und zoologische Auswertungen dieser Funde ergeben eine beein- druckende Vielfalt an Nahrungsmitteln, ohne dass Aussagen etwa über die Menge verzehrter Speisen pro Mahlzeit oder über ihre Kombination unter- einander möglich sind. Abgesehen von verschiedenen Getreidesorten sind u. a. Zwiebeln, Lauch, Bohnen und Erbsen oder Obstsorten wie Pflaume, Kirsche und Apfel belegt. Unter den Tierknochen dominieren bei allen Grabungen eindeutig jene von Haus- gegenüber jenen von Jagdtieren. Hirsch, Reh, Wildschwein, Hase, Kaninchen oder Seehund sind zwar vertreten, in Einzelfällen auch einmal der im frühen 13. Jahrhundert noch heimische Braunbär, dürften aber nur selten auf den Tisch gekommen sein. Zu über 90 % handelt es sich um Knochen von Schweinen, Rindern oder Ziegen/Schafen; hinzu kom- men die Knochen von Enten, Gänsen oder Hühnern. Relativ selten sind aber Hunde, Katzen, Pferde und Ratten vertreten. Rückschlüsse lassen sich nicht nur auf die Artenanteile, sondern auch auf die Größe der Tiere, auf das Schlachtalter oder auf das Geschlechterverhältnis ziehen. Fischgräten lassen sich schwieriger finden, doch sind durch die Ausgrabungen inzwischen zahl- reiche Speisefische wie Barsch, Hecht, Scholle oder Hering belegt, durch ihre Schalen außerdem die Auster und die Miesmuschel. Überraschender- weise lassen sich für verschiedene Grabungen bzw. unterschiedliche mittel- alterliche Haushalte keine bemerkenswerten Unterschiede der Artenvielfalt ermitteln. Im Fundkomplex der Grabung auf dem Gelände des ehemaligen

58 Hans Reichstein: Tierknochenfunde aus der Lübecker Innenstadt, in: LSAK 17 (1988), S. 180-181. 188 Die mittelalterliche Großstadt Lübeck - Vorbild und Muster? adeligen Benediktinerklosters waren annähernd dieselben Tiere vertreten wie im Fundkomplex des kaufmännisch genutzten Grundstücks Alfstraße 38 und in den Fundkomplexen aus dem Handwerkerviertel, sogar in ver- gleichbaren Anteilen. Wenden wir uns den angenehmeren Seiten mittelalterlichen Lebens zu, nämlich dem Spielen und der Freizeit". Bei Spielzeugfunden läßt sich al- lerdings im Einzelfall zuweilen nicht entscheiden, ob es sich um Spielzeug von Kindern oder von Erwachsenen handelte. So finden sich häufig kleine Tonkugeln mit Durchmessern zwischen 1,3 und 2,2 cm, die sicherlich als Murmeln verwendet wurden. Das Murmelspiel war im Mittelalter außeror- dentlich beliebt, davon zeugen zahlreiche Ratsverordnungen, in denen das Spiel verboten wurde — offensichtlich ohne viel Erfolg. Bei der Grabung im Zisterzienserinnen-Kloster St. Johannis fanden sich allein in einem versan- deten Brunnen 44 zum Teil glasierte Murmeln. Auch das Würfeln war beliebt, wie Verordnungen und Verbote sowie Ein- schränkungen auf bestimmte Personengruppen oder Spielorte belegen. Nach unserem heutigen Verständnis möchte man die Würfel der Erwachsenenwelt zuordnen, ebenso wie die gefundenen Spielsteine und Spielbretter (Abb. 12). Gleiches gilt für die hölzernen Kegelkugeln oder auch die Bälle, mit denen Spiele wie Tennis betrieben werden konnten. Bei den Untersuchungen auf dem ehemaligen Ufermarkt an der Trave zwischen Kaianlage und Stadtmau- er wurden besonders viele Funde geborgen, neben Kegelkugeln und Würfeln auch Spielzeuge aus Holz oder Bein. Eine eiserne Maultrommel und eine Knochenflö- te belegen, dass man auch musizierte. Es ist wohl davon auszu- gehen, dass auf dem Ufermarkt eben nicht nur Schiffe entladen und Waren angebo- ten wurden, sondern dass es sich auch um eine Stätte des Ver- Abb. 12 gnügens handelte.

59 Vgl. zum folgenden „Daz kint spilete und was fro": Spielen vom Mittelalter bis heute; ein Katalog zu einer Ausstellung im Museum Burgkloster zu Lübeck / hrsg. von Manfred Gläser, Lübeck 1995; Ulrike Oltmanns: Mittelalterliche und frühneuzeitliche Spielzeugfunde aus Lübeck, in Vorbereitung für die Lü- becker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte. 189 Manfred Gläser

Kommen wir zu jenem Spiel- zeug, das wir uns nur in den Händen von Kindern vorstellen können: So finden sich kleine Rasseln aus Ton, mit Steinchen gefüllte Hohlkörper, und Mi- niaturgefäße wie kleine Krüge, Kannen, Töpfe oder Grapen. Di- ese Gefäße sind ihren größeren Vorbildern exakt nachgeformt, einschließlich winziger Henkel, Abb. 13 Ausgüssen, Glasuren oder Gra- penbeinen. Es dürfte sich um Puppengeschirr gehandelt haben. Sehr eindrucksvoll sind die kleinen Tonfiguren. Funde von Töpfereiab- fällen belegen, dass diese Puppen und auch Tiere wie Pferd, Hirsch, Hund oder Vogel in erstaunlich großen Stückzahlen angefertigt wurden. Wiede- rum im Lübecker Johannis-Kloster fand sich in einem einzigen Brunnen ein En- semble aus zwei Pferdchen und einem Vogel. Hervorzuheben ist das Pferd mit aufsitzendem Reiter und plastisch he- rausgearbeitetem Schild. Nach unseren modernen Vorstellungen sind wir ge- neigt, Turnierspielzeug (Abb. 13) den Knaben zuzuordnen, doch handelte es sich um ein Nonnenkloster. Spielzeug aus Metall oder gar aus Edelmetall war selten; für Lübeck sind nur ein einziges Pferdchen und ein Vo- gel belegt, beide aus Zinn. Spielzeug aus Holz hingegen war relativ billig herzustellen und dürfte sehr verbreitet gewesen sein, hat sich aber im Erdreich nur bei feuchten Lagerungsbedingungen erhalten. Immerhin liegen mehrere ge- schnitzte Holzpuppen mit plastisch he- rausgeformten Armen und Gesichtern Abb. 14 vor (Abb. 14), außerdem zahlreiche Kreisel, ähnlich jenen, die bis vor wenigen Jahren in Gebrauch waren. Wei- ter fanden sich der Rumpf eines kleinen Segelschiffchens und eine Minia- turbewaffnung: eine Armbrust, eine Axt und ein Bogen. Wir dürfen wohl 190 Die mittelalterliche Großstadt Lübeck - Vorbild und Muster? vermuten, dass selbstverständlich, wie noch heute, Waffen und andere Ge- räte der Erwachsenen aus Holz nachgebildet wurden. Spielen war eben auch im Mittelalter nicht immer zweckfrei, sondern diente auch der Vorbereitung für das zukünftige Leben als Erwachsener.

***

Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts hatte sich Lübeck zur einzigen mit- telalterlichen deutschen Großstadt an der Ostsee entwickelt. Die gesamte Halbinsel zwischen Wakenitz und Trave mit einer Fläche von rd. 120 ha war aufgesiedelt, die Bebauung bestand im wesentlichen aus giebelstän- digen Dielenhäusern in Hauptstraßen und traufständigen Bauten in den Ne- benstraßen. In der Stadt lebten jetzt etwa 20.000 Menschen. Lübeck befand sich um 1300 auf dem Höhepunkt seiner politischen und ökonomischen Macht und galt auch den Zeitgenossen als Haupt der Hanse. Entsprechend groß wird auch der kulturelle Einfluss gewesen sein. Dies gilt für Aspekte wie Architektur, städtische Infrastruktur, Rechtsprechung usw., aber auch für Aspekte der Alltagskultur wie Mode oder Freizeitgestaltung. Die Träger der kulturellen Kontakte sind mit archäologischen Methoden natürlich nicht zu ermitteln, doch wissen wir aus den schriftlichen Quel- len, dass die beruflichen und familiären Beziehungen der Kaufleute zu jenen in weit entfernt liegenden Hansestädten außerordentlich eng waren. Viele große Lübecker Kaufmannsfamilien schickten ihre Söhne zu Geschäften oder zur Ausbildung nach Riga oder Dorpat, auch nach London, Bergen oder gar Novgorod, viele von ihnen ließen sich dort auch dauerhaft nieder. Die vielfältigen Beziehungen werden zum Beispiel auch durch die Testa- mente deutlich, in denen Einzelpersonen oder Institutionen anderer Städte Legate zugestanden wurden. Umgekehrt werden auch viele baltische oder flämische Kaufleute nach Lübeck gekommen sein. Insofern verwundert es nicht, dass es eine permanente kulturelle Beeinflussung gegeben hat, ten- denziell sicherlich mit geringfügigen zeitlichen Verzögerungen von West nach Ost, im Einzelfall aber sicher auch in umgekehrter Richtung.

Abbildungen 1 Modell der slawischen Siedlung Alt Lübeck. Entwurf: Werner Neugebauer. 2 Hansestadt Lübeck, Siedlungsentwicklung im 12. und 13. Jahrhundert. 3 Hansestadt Lübeck, Grabung Alfstraße/Fischstraße, Fußbodenbohlen des Erdgeschosses eines Schwel- len-Ständer-Baus. 4 Hansestadt Lübeck, Typentafel der wesentlichen Holz- und Steinbauten vom 12. bis 14. Jahrhundert. 5 Hansestadt Lübeck, Grabung Alfstraße 38, Rekonstruktion des Holzhauses B von „um oder nach 1195". 191 Manfred Gläser

6 Hansestadt Lübeck, Grabung Alfstraße 36/38, Rekonstruktion der Befunde des späten 12. Jahrhun- derts. 7 Hansestadt Lübeck, Grabung Alfstraße 36/38, Rekonstruktion der Befunde des frühen 13. Jahrhun- derts. 8 Hansestadt Lübeck, Grabung Große Petersgrube, Baulandgewinnungsmaßnahmen des frühen 13. Jahr- hunderts. 9 Hansestadt Lübeck, Mittelalterliche Handelsgüter. 10 Hansestadt Lübeck, Glasfunde des späten 12. bis zum 16. Jahrhundert. 11 Hansestadt Lübeck, Siegburger Steinzeug des 14. und 15. Jahrhunderts. 12 Hansestadt Lübeck, Spielbrett und Spielsteine, spätes 12. Jahrhundert. 13 Spätmittelalterliche Reiterfiguren aus Coppengrave, Niedersachsen. 14 Hansestadt Lübeck, Holzpüppchen des frühen 14. Jahrhunderts.

192 Ulrich Müller Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums"

Seit den 1990er Jahren ist infolge der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche ein gewachsenes Interesse am Ostseeraum zu verzeichnen. Die Hanse als Handels-, Wirtschafts- und Städtebund erscheint in der Diskussi- on als ein Baustein einer gemeinsamen Ostseeidentität, steht sie doch für „Ko- existenz, Kooperation, Kodifizierung'. Mit dem Hansetag zu Zwolle, im Jahre 1980 — 311 Jahre nach der letzten Zusammenkunft — abgehalten, konstituierte sich die „Neue Hanse", zu deren Aufgaben es auch gehört, „den Geist der Hanse als Lebens- und Kulturgemeinschaft der Städte lebendig zu halten"2. In diesem Sinne widmeten sich auch die zahlreichen Ausstellungen der let- zen Jahrzehnte in Hamburg, Rostock, Wedel oder Magdeburg sowie die zur Backsteingotik und eine Vielzahl von Fachbüchern der unterschiedlichsten Disziplinen dem Phänomen.3 So ist es nicht verwunderlich, dass auch in der Archäologie „Hanse" thematisiert wird und beispielsweise Veröffentli- chungen wie die Lübecker „Kolloquien zur Stadtarchäologie im Hanseraum" oder „The Medieval Town in the Baltic: Hanseatic History and Archaeology" sich auf den Bund beziehen.4 Die archäologischen Quellen ermöglichen dabei Einblicke in das städtische Alltagsleben und berühren kulturhistorische Fra- gen, die der bildlichen oder schriftlichen Überlieferung vielfach verschlossen bleiben.

1 Russalka Nikolov: Die Botschaft der Hanse heißt Europa, in: Maritime Macht. Schiffe, Ostsee und Piraten, Bonn 2002 (Katalog zur Ausstellung „Wege zur Backsteingotik"; Bd. 4), S. 104-108, hier S. 107. 2 Grußwort des Bürgermeisters der Hansestadt Lübeck, Bernd Saxe, unter . Zur „Neuen Hanse" siehe auch: Ausklang und Nachklang der Hanse im 19. und 20. Jahrhundert / hrsg. von Antjekathrin Grassmann, Trier 2001 (Hansische Studien; Bd. 12). 3 Besonders ausführlich Johannes Schildhauer: Die Hanse. Geschichte und Kultur, Leipzig 1986, S. 175ff. sowie zuletzt Rolf-Hammel Kiesow: Die Hanse, München 2000. Daneben Max Hasse: Neues Hausgerät, neue Häuser, neue Kleider. Eine Betrachtung der städtischen Kultur im 13. und 14. Jahrhundert sowie ein Katalog der metallenen Hausgeräte, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 7 (1979), S. 7-81; Nahrung und Tischkultur im Hanseraum / hrsg. von Günther Wiegelmann und Ruth-E. Mohr- mann, Münster 1999 (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland; Bd. 91). 4 Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum / hrsg. von Manfred Gläser, 1-4 (Lübeck 1997- 2004; The Medieval Town in the Baltic: Hanseatic History and Archaeology / hrsg. von Rünno Vissak und Ain Mäesalu, Tartu 1999, darin insbes. Manfred Gläser: Der Alltag in einer mittelalterlichen Hansestadt: Ar- chäologische Ergebnisse in Lübeck (S. 18-32). Weiterhin ders.: Die Entwicklung Lübecks von einer slawi- schen Burg bis zur mittelalterlichen Großstadt, in: Civitas et Castrum ad Mare Balticum: Baltijas arheologijas un vstures problams dzelzs laikmetä un viduslaikos / hrsg. von Evalds Mugurvis und Ieva Ose, Riga 2002, S. 128-144; ders.: Die Kultur der mittelalterlichen Hansestädte, dargestellt am Beispiel der Hansestadt Lübeck, in: Salsa Cholbergiensis. Kolobrzeg w k-edniowieczu / hrsg. von Lech Leciejewicz und Marian Rekowski, Kolobrzeg 2000, S. 127-146, hier S. 127f .; s. auch: Krzysztof Wachowski und Jacek Witkowski: Wroclaw wobec hanzy [Breslau und die Hanse], in: Archaeologia Polski 48 (2003), S. 201-221.

193 Ulrich Müller

Archäologie in der Stadt ist in den seltensten Fällen das Ergebnis gezielter, allein durch Forschungsfragen bestimmter Untersuchungen, sondern steht im Schnittpunkt vielfältigster Interessen, die maßgeblich den Charakter einer archäologischen Ausgrabung, ihrer Dokumentation und Publikation beein- flussen. Die Archäologie der Städte entlang der südlichen Ostseeküste zwi- schen Lübecker Bucht und Finnischem Meerbusen zeichnet sich durch einen recht unterschiedlichen Forschungsstand aus. Unter den Vorgaben der natio- nalen bzw. länderhoheitlichen Gesetzgebung und deren Umsetzung steuern konkrete Bauvorhaben die Lage und Größe der Grabungsflächen, aber auch die Dauer und die Ausgrabungsdichte. Auch wenn etwas über 1% der Fläche des Lübecker Stadthügels untersucht sind, bei den archäologischen Untersu- chungen in Reval (estn. Tallinn) etwa 3% der Stadtfläche ergraben wurden, in Dorpat (estn. Tartu) bislang knapp 4% und von der mittelalterlichen Altstadt Elbing (poln. Elbla„g) etwa 5% Gegenstand archäologischer Untersuchungen waren, so täuschen diese Zahlen doch über die vermeintlich gute Ausgangslage hinweg.' Ein Fazit zu ziehen, scheint schwierig, doch festzuhalten bleibt, dass Archäologie in der Stadt vielfach intensiv, aber ausschnittartig erfolgt. Hohe Standards für Ausgrabung, Dokumentation und Publikation sind nicht in allen Ländern und Städten die Regel. Derartige Faktoren wird man aber gerade bei einer vergleichenden Analyse miteinbeziehen müssen.

Gemeinsame Traditionen und lokale Lösungen — das Beispiel Hausbau Reste der ehemaligen Bebauung bilden die hauptsächlichste und wichtigste Quelle der Archäologie in der Stadt. Das Haus verkörpert ein privates Milieu mit seinen Beziehungen zum öffentlichen, städtischen Raum und in den Bauten kon- stituiert sich auch die Gestaltung von „Erinnerungskultur". Städtischer Hausbau, ob öffentlich oder privat, ob in Holz oder (Back)-Stein, stellt in jedem Falle eine komplexe Aufgabe dar.' Konstruktiv lassen sich als hölzerne Bauformen Blockbauten, Pfostenbauten und Ständerbauten unterscheiden; für Stein- bauten bietet es sich an, zwischen Steinwerken, Saalgeschossbauten und Die- lenhäusern zu differenzieren. Allerdings sind Kombinationen verschiedener Konstruktionsweisen und Übergangsformen sowohl innerhalb des Holz- und Steinbaus als auch zwischen Holz- und Steinbau zu berücksichtigen. Holz- bauten sind in der Regel weitaus schwieriger nachzuweisen als Steinbauten; Bauten ohne Unterkellerung schwieriger als solche mit Keller. Da die Bau- ten, welche bei archäologischen Ausgrabungen erfasst werden, vielfach ab-

5 Vgl. die Übersicht in: Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum I: Stand, Aufgaben und Perspektiven / hrsg. von Manfred Gläser, Lübeck 1997 (Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum; Bd. 1). 6 Antje Sander-Berke: Baustoffversorgung spätmittelalterlicher Städte Norddeutschlands, Köln 1995 (Städteforschung; Bd. A 37).

194 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums" gerissen oder abgebrannt wurden, lassen sich Fragen zur Dachkonstruktion und -bedeckung, den Fenstern oder der Innenausstattung kaum klären. Holz ist das Baumaterial mit den vielfältigsten Anwendungsmöglichkeiten. Es ist vergleichsweise einfach zu bearbeiten und in ausreichender Menge vorhan- den. Der Hausbau in Stein, entweder in Form von Natursteinen oder mit ge- branntem Ton (Backstein), setzt vor allem bei letzterem breites „know-how" mit einer umfangreichen Logistik voraus und kann damit als Ausdruck einer Professionalisierung im Bauhandwerk angesehen werden. Blockbauten bestehen aus horizontal verlegten, sich an den Ecken über- kreuzenden Stämmen vielfach runden, seltener quadratischen Querschnitts. Aufgrund dieses Konstruktionsprinzips werden Vertikalhölzer in der Regel nicht benötigt; lediglich bei größeren oder mehrgeschossigen Bauten sind diese anzutreffen. Blockbauten können ebenerdig ausgeführt sein oder mit einer Grube versehen werden; generell ist der Nachweis von Blockbauten schwierig, wenn diese nicht eingetieft sind. Aus den Städten der südlichen Ostseeküste zwischen Lübeck und Kolberg (poln. Kolobrzeg) sind nur we- nige Blockbauten des späten 12. und 13. Jahrhunderts belegt, deren funktio- nale Ansprache jedoch strittig ist und von Wohnhäusern über Speichergebäu- de/Werkstätten bis hin zu Kloaken reicht.' Deutlich fassbar wird der Blockbau dagegen in den Horizonten frühstädtischer Zentren und slawischer Stammens- und Fürstensitze wie Stettin (poln. Szczecin), Altstadt bei Kolberg (poln. Bud- zistowo) oder Danzig (poln. Gdaüsk). Diese Bauten fügen sich in das Bild der meist ebenerdigen „slawischen" Blockbauten des küstennahen Flachlandes bis zur Schwelle der Mittelgebirgszone ein, wo sie gleichermaßen in länd- lichen Siedlungen, Burgen und frühstädtischen Zentren zu finden sind.' Erst im Verlauf des 13. Jahrhunderts und wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund der hochmittelalterlichen Stadtgründungen kommt es zu einem starken Rück- gang des Blockbaus. Traditionsstränge lassen sich in Kolberg, Stettin (Abb. 1) oder Danzig erfassen: Stellte der Blockbau in der Handwerker- und Fisch- ersiedlung der Burgstadt von Danzig im 10.-13. Jahrhundert die dominieren- de Bauweise dar, so ist er auch in den späteren Jahrhunderten noch zahlreich vertreten.' Nachweise von mehr als 100 Blockbauten des 12./13. Jahrhunderts

7 Manfred Gläser: Archäologisch erfasste mittelalterliche Hausbauten in Lübeck, in: Der Hausbau, hrsg. von dems., Lübeck 2001 (Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum; Bd. 3), S. 277-306, hier S. 279. 8 Sebastian Brather: Archäologie der westlichen Slawen: Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im früh- und hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa, Berlin 2000 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germa- nischen Altertumskunde; Bd. 30), S. 105, Abb. 18; Peter Donat: Haus, Hof und Dorf in Mitteleuropa vom 7. bis zum 12. Jahrhundert, Berlin 1980 (Schriften zur Ur- und Frühgeschichte; Bd. 33). 9 Romana Barnyez-Gupeniee: Drewniane budownictwo mieszkalne w Gdarisku w X-XIII wieku [Die hölzerne Wohnbebauung in Danzig um 10.-13. Jh.], Gdansk 1974; Bogdan Kokinski: Wstgpne wyniki badan na stanowisku 2 w Gdansku w 1996 roku [Anfängliche Ergebnisse der Forschungen auf Fundstelle 2 in Danzig 1996], in: Gdarisk .r-eclniowieczny w Wiede najnowszych badan archeologicznych i historycznych, Gdarisk 1998, S. 147-166.

195 Ulrich Müller

Abb. 1

, N Abb. 2

A 3M 196 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums" stammen aus Riga.1° Die teilweise mit Kellergruben versehenen Gebäude dieser Stadt besitzen in der Regel Flächen zwischen 15 und 30m2 (Abb. 2); neben ein- räumigen Bauten sind auch Mehrraumbauten vertreten.11 Ein ähnliches Bild bie- tet sich in Städten wie Dorpat oder Reval, wo Blockbauten in die Mitte oder die zweite Hälfte des 13. Jahrhundert datieren» Die konstruktive Vielfältigkeit, die architektonische Formensprache und die regionale Verankerung des Blockbaus lassen sich stellvertretend anhand der Grabungen aus Novgorod beschreiben.13 Die nahezu ausschließliche Verwendung von Holz charakterisiert die Architek- tur dieser Stadt; mehrräumige und mehrgeschossige Großbauten sind ab dem 10./11. Jahrhundert bis in die Neuzeit hinein in Blockbauweise ausgeführt wor- den (Abb. 3), und lediglich die Kirchen sowie ab dem 16./17. Jahrhundert auch einige profane Repräsentationsbauten sind unter der Verwendung von Stein und Ziegel errichtet worden. Auch die beiden Holzgebäude des „Gotenhofes", der sich auf der Handelseite Novgorods befand und von dem Teile in den Jahren 1968-1970 untersucht wurden, waren in Blockbautechnik errichtet (Abb. 4). Die für Novgoroder Verhältnisse ungewöhnliche Dimensionierung — die Bauten be- sitzen Flächen von 70 bzw. 100m2 — erklärt sich aus ihren spezifischen Funkti- onen als Warenspeicher.14 Die Blockbauweise in den Städten Nordosteuropas spiegelt ähnlich dem Blockbau in Skandinavien eine traditionelle Komponente wieder25 Lediglich in den neuen hochmittelalterlichen Stadtgründungen spielt er eine geringere Rolle, da die Konstruktionen nicht dem Wissens- und Erfah- rungshorizont der fremden Handwerker entsprachen und somit als Haustyp von den neuen Siedlern und Kaufleuten kaum adaptiert worden sind.

10 Andris Caune: Jaunas atzieas par gulbüvju sienu izveidojumu Riga 13.-14. gs. [Neue Erkenntnisse über die Ausführung von Blockhauswänden im Riga des 13. und 14. Jhs.], In: Arheologija un etnogräfija 18 (1996), S. 62-71. 11 Andris Caune: Zilisca Rigi XII - XIV vv.: po dannym archeologF6eskich raskopok, Riga 1984 (hier benutzt in der dt. Übersetzung: „Das Rigaer Wohnhaus vom 12. bis zum 14. Jahrhundert nach archäolo- gischen Grabungen"; Exemplar im Amt für Archäologie der Hansestadt Lübeck) 12 Mare Aun: Tartu vanalinna arheoloogilise varimise telemusi [Einige Ergebnisse der archäologischen Untersuchungen in der Altstadt von Dorpat], in: Eesti Arheoloogia Ajakiri 2 (1998), S. 94-144. 13 Alexandre N. Sorokin: Domestic Architecture in Medieval Novgorod, in: Der Hausbau (wie Anm. 7), S. 605-624; Aleksandr S. Chorogev: Haus und Hof: die Grundstücke im mittelalterlichen Novgorod, in: Novgorod: Das mittelalterliche Zentrum und sein Umland im Norden Russlands / hrsg. von Michael Mül- ler-Wille u.a., Neumünster 2001 (Studien zur Siedlungsgeschichte und Archäologie der Osteseegebiete; Bd. 1), S. 149-166. 14 Elena Rybina: Frühe "Joint-ventures", in: Novgorod (wie Anm. 13), S. 291-308, hier S. 301. 15 Aleksandr V. Opolovnikov und Elena Opolovnikova: The wooden architecture of Russia: houses, fortifications, churches, London 1989; August Bielenstein: Die Holzbauten und Holzgeräte der Letten: ein Beitrag zur Ethnographie, Culturgeschichte und Archäologie der Völker Rußlands im Westgebiet, Hanno- ver-Döhren 1969 (Neudr. d. Ausgabe von 1907-1918), S. llff., 52ff.; Hermann Hinz: Ländlicher Hausbau in Skandinavien vom 6. bis 14. Jahrhundert: Stova — Eldhus — Bur, Köln 1989 (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters; Beih. 5); Ain Lavi: Asulakohad 13.-17. sajandi talurahvaehitiste ajaloo allikana [Wohn- bauten des 13.-17. Jh. als Quellen für die Geschichte der Bevölkerungsstruktur], in: Eesti Arheoloogia Ajakiri 1 (1997), S. 84-144.

197 Ulrich Müller

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198 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums"

Ebenfalls in der Tradition prähistorischer und frühgeschichtlicher Bautechnik stehend, gehören auch die Pfostenbauten in die frühesten Horizonte der Rechts- städte der südlichen Ostseeküste. Pfostenbauten definieren sich über eingegrabene Pfosten, deren Zwischenräume (Wandung) u.a. mit Flechtwerk oder Spaltboh- len verschlossen sind. Sie treten ebenerdig, aber auch in Form von Hausgruben als ein multifunktionaler Bautyp der unterschiedlichsten Siedlungszusammenhänge in Erscheinung.'6 Diese Bauweise ist im west- und ostslawischen Siedlungsraum an der südlichen Ostseeküste weitgehend unbekannt; Ausnahmen betreffen vor allem die frühmittelalterlichen Seehandelsplätze wie Ralswiek oder Wollin (poln. Wo- hin) und Zentralorte wie Starigard/Oldenburg (Holstein) und werden durch die viel- fältigen Kontakte mit Skandinavien und Nordwesteuropa vermittelt worden sein. In den Gründungsstädten des südlichen Ostseeraumes bildet der zeitlich bis in das 12./13. Jahrhundert auftretende Pfostenbau eine eher randliche Erscheinung. Mit Ausnahme von frühen Befunden aus Lübeck oder Kolberg bereitet die Interpretati- on zudem Probleme, handelt es sich doch nicht in jedem Falle um Wohnbauten.17 Als Übergangsform zu den Ständerbauten ruhen bei einer aufwändigeren Vari- ante des Pfostenbaus die Wandelemente auf horizontalen Riegeln oder Schwell- balken, die konstruktiv mit den Pfosten verbunden sind. Diese Art von Pfostenbau ist nicht nur im frühstädtischen und städtischen Hausbau zwischen Nordwesteu- ropa und Ostmitteleuropa vielfach vertreten, sondern auch auf Burgen und Her- rensitzen anzutreffen.18 Für den südlichen Ostseeraum sei auf die frühen Belege aus Haithabu (9./10.) und vor allem Schleswig (11.-13. Jahrhundert) hingewie- sen, welche anschaulich den fließenden Übergang zur Ständerkonstruktion ver- deutlichen und sicherlich häufiger vertreten sein werden, als die archäologische Befundlagen vermuten lassen.'9 Im Gegensatz zum reinen Pfostenbau stellt beim Ständerbau das gesamte Gefüge aus Schwellen, Querriegeln und Ständern die tragende Konstruktion. Dieser Bautyp weist eine hohe Variabilität auf und steht bauarchäologisch in 16 Peter Donat: Zum städtischen Hausbau des 13. Jahrhunderts im östlichen Mitteleuropa, in: Slavia Antiqua 41, 2000, S. 129-169; Michael Scheftel: Mittelalterlicher Hausbau in den Städten des nieder- deutschen Raumes und der angrenzenden Küstengebiete, in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 20 (1990), S. 7-100, hier S. 57ff.; Jerzy Piekalski: Rozw6j mieszkalnej funkcij domu mieszczafiskiego w Europie Srodkowej XII-XIII wieku [Die Entwicklung der Wohnfunktion des städ- tischen Hauses in Mitteleuropa], in: Archaeologia Historica Polona 13 (2003), S. 167-183. 17 Gabriele Legant-Karau: Vom Großgrundstück zur Kleinparzelle, in: Archäologie des Mittelalters und Bauforschung im Hanseraum / hrsg. von Manfred Gläser, Rostock 1993 (Schriften des Kulturhistorischen Museums Rostock; Bd. 1), S. 207-215; Marian Rgbkowski: Pierwsze lokacje miast w ksigstwie zachod- niopomorskim [Die ersten Stellen städtischer Besiedlung im westlichen Herzogtum Pommern], Kolobrzeg 2001, S. 121-127; Ralf Mulsow: Archäologische Erkenntnisse zum mittelalterlichen Hausbau in Rostock, in: Der Hausbau (wie Anm. 7), S. 357-376, hier S. 359. 18 Scheftel (wie Anm. 16), S. 67-69, Tab. 1-3. 19 Volker Vogel: Profaner Hausbau des 11. bis frühen 13. Jahrhunderts in Schleswig, in: Siedlungen und Landesausbau zur Salierzeit / hrsg. von Wolfgang Böhme, Sigmaringen 1992 (Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums; Bd. 27), S. 263-276.

199 Ulrich Müller einer langen Tradition mit Beziehungen in das Binnenland.20 Einen hohen Be- kanntheitsgrad besitzen die „um 1184" bzw. „um oder nach 1195" datierenden Ständerbauten aus Lübeck, Alfstraße 36/38, die als Speichergebäude oder Wohngebäude angesprochen werden und gleichsam am Anfang der für Lübeck typischen Variante auf Grundschwellen stehen.21 Die Bauten, deren Genese und Rekonstruktion sicherlich noch einmal einer genaueren Befundanalyse unter- zogen werden müssen, stellen zusammen mit den mehrgeschossigen Holzstän- derbauten die ältesten Belege für diese Konstruktionsweise in den Seestädten östlich der Elbe dar. Manfred Gläser meint, dass bei dieser Konstruktion „zu Recht vom typischen Lübecker Holzhaus des hohen Mittelalters [...] oder bes- ser noch vom Typ der Kolonisationszeit" gesprochen werden kann, zumal in Grundschwellen eingezapfte Ständer besonders häufig in den Städten des Ost- seeraumes belegt sind.22 In der Technik des Ständerbaus lassen sich sowohl mehrschiffige als auch mehrgeschossige Bauten realisieren. Dies lassen die zahlreichen Befunde aus Lübeck erahnen, zu deren bekanntesten die mutmaß- lich mehrgeschossigen, unterkellerten Bauten aus der Alfstraße/Fischstraße so- wie ein dreischiffiges, zweistöckiges Gebäude auf dem Gelände des Heiligen- Geist Hospitals der Zeit um 1232 gehören.23 Nach diesen sehr frühen Belegen, denen noch Befunde aus Lund (11./12. Jahrhundert) und :Uhus (12. Jahrhun- dert) an die Seite gestellt werden können, treten ab dem 13. Jahrhundert Stän- derbauten in nahezu allen Ostseestädten als der dominierende Bautyp bis zum Übergang zum Steinbau auf (Abb. 5-6). Gerade die Vielfalt der Konstruktionen verrät lokale Lösungen, die nicht zuletzt von geomorphologischen, hydrolo- gischen und klimatischen Faktoren bestimmt werden. So ging man in Städten mit einem hohen Grundwasserspiegel — beispielsweise Greifswald oder Ros- tock — dazu über, Pfahlgründungen vorzunehmen.24 Die frühesten Backsteinbauten in den Städten der südlichen Ostseeküste sind in der Regel Kirchen und Repräsentationsbauten, des weiteren Stadtummaue- rungen.25 Der Prozess der „Versteinerung" zeichnet sich durch einen breiten, 20 Günther P. Fehring: Städtischer Hausbau des Hochmittelalters in Mitteleuropa, in: Siedlungsforschung 5 (1987), S. 31-65, hier S. 39f., S. 44; Donat (wie Anm.16). 21 Fehring (wie Anm. 20), S. 42 spricht sie als Speichergebäude an; ders.: „Domus lignea cum caminata" — hölzerne, turmartige Kemenaten des späten 12. Jahrhunderts und ihre Stellung in der Architekturge- schichte, in: Hammaburg N.F. 9 (1989), S. 271-283, hier S. 275 mit der Ansprache als „Grubenhaus in Ständerbauweise"; Gläser (wie Anm. 7), S. 282ff. 22 Gläser (wie Anm. 7), S. 288; Scheftel (wie Anm. 16), S. 59-63, Tab. 1-5. 23 Gabriele Legant-Karau: Mittelalterlicher Holzbau in Lübeck an der Schwelle vom ländlichen zum städtischen Siedlungsgefüge, in: Archäologisches Korrespondenzblatt 24 (1994), S. 333-345. 24 Heiko Schäfer: Früher Holz- und Steinbau in der Hansestadt Greifswald, in: Der Hausbau (wie Anm. 7), S. 421-431, hier S. 424. 25 Backsteinarchitektur in Mitteleuropa: neue Forschungen / hrsg. von Ernst Badstübner und Uwe Albrecht, Berlin 2001 (Studien zur Backsteinarchitektur; Bd. 3); Michael Lissok: Von Maßwerk und Bo- genfries, in: Die Sprache der Steine: Schmuckformen der Backsteingotik, Bonn 2002 (Katalog zur Ausstel- lung „Wege zur Backsteingotik"; Bd. 4), S. 42-91.

200 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums"

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201 Ulrich Müller stadtspezifischen „Überlappungshorizont" von Stein- und Holzbauten aus, wie Fachwerkbauten mit Backsteinfüllung (Abb. 14) und das Nebeneinander sowie die Kombination von Holz- und Steinbauten belegen. Dies verwundert nicht, war doch der Bau in Backstein an eine Reihe logistische und technische Voraus- setzungen gebunden, was sich sowohl im archäologischen Befund als auch der schriftlichen Überlieferung niederschlägt. Die Planung und Umsetzung entspre- chender Bauten war somit stark von der wirtschaftlichen „Potenz" einzelner Bau- herren, aber auch den rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedin- gungen der jeweiligen Stadt abhängig. Vielfach erfolgte eine obrigkeitsrechtliche Regelung des Steinbaus, wie die Rigaer Bauverordnung von 1293 oder die Ein- schränkung des Holzbaues in Reval 1383 belegen26, und die detaillierten Anga- ben zu gemeinsamen Traufwänden usw. im Lübecker Stadtrecht deuten auf eine gezielte Lenkung hin. Dies schlägt sich auch in anderen Stadtrechten mit unter- schiedlicher Dichte nieder, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Übernahme des lübischen Rechts zwar der Rechtsangleichung förderlich, die entscheidenden Fak- toren jedoch der jeweils übernommene Artikelbestand, das Instrumentarium der Rechtsweisung und die Möglichkeit der Appellation waren.27 Unter den Steinbauten bilden zunächst Wohntürme, Gebäude mit annä- hernd quadratischen Grundriss und einem Halbkeller, einen besonders mar- kanten Typ. Der in der Regel wohl mehrgeschossige Gebäudetyp erscheint häufig in Nutzungseinheit mit weiteren Vorder-, Hinter- oder Seitengebäuden, so dass man nicht immer von einem „Wohnturm" sprechen kann. Während die Identifikation der steinernen Bauten im archäologischen Befund in der Regel kaum Probleme bereitet, hat der Nachweis entsprechender Holzbauten zu einer recht breiten Diskussion geführt. Die Befunde aus Lübeck, Alfstra- ße/Fischstraße, die ab den späten 1180er Jahren datieren, erbrachten erstma- lig Erkenntnisse über diesen rein in Holzbauweise ausgeführten Typ, der auf- grund der Mächtigkeit der Schwellen eine zweigeschossige Rekonstruktion erlaubt.28 In der Folgezeit wurden weitere Bauten in anderen Städten ergra- ben; aus Riga stammen mindestens fünf eingetiefte Ständerbauten auf Grund- schwellen, die analog dem Lübecker Befund als „Kellerhaus" rekonstruiert

26 Caune: Rigaer Wohnhaus (wie Anm. 11) Kap. 3; Paul Johansen und Heinz von zur Mühlen: Deutsch und undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval, Köln 1973 (Ostmitteleuropa in Vergan- genheit und Gegenwart; Bd. 15), S. 173. 27 Rolf Hammel-Kiesow: Lübeck als Vorbild zahlreicher Städtegründungen im Ostseeraum? Überle- gungen zum Verhältnis zwischen geschichtlichen Vorgängen und historiographischer Erklärung, in: Die Stadt im westlichen Ostseeraum: Vorträge zur Stadtgründung und Stadterweiterung im hohen Mittelalter / hrsg. von Erich Hoffmann und Frank Lubowitz, Frankfurt am Main 1995 (Kieler Werkstücke; Bd. 14), S. 263-323; hier S. 299ff.; ders.: Novgorod und Lübeck: Siedlungsgefüge zweier Handelsstädte im Ver- gleich, in: Novgorod: Markt und Kontor der Hanse / hrsg. von Nobert Angermann und Klaus Friedland, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 25-68, hier S. 47-60 mit weiteren Hinweisen. 28 Fehring (wie Anm. 21), S. 277ff.

202 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums"

und in das 13. Jahrhundert gesetzt wer- den können (Abb. 7).29 Unabhängig von der Frage, ob eine Rekonstruktion entsprechend einer mehrgeschossigen hölzernen „Kemenate" in jedem Fal- le gerechtfertigt ist, sind die Keller der Bauten aus Riga und Kolberg in der Re- gel zwischen 1 m und 1,7 m eingetieft, während der Lübecker Holzbau etwa 2-3 m in die Erde angelegt worden war. Als Grund darf man hier die höheren Wasserstände der Düna (lett. Daugava) bzw. die geringe Höhe der Siedlung an- nehmen. Neben Befunden aus Riga und Kolberg (Abb. 8), bleiben eindeutige

Abb. 8 Nachweise dieses Typs „domus lignea cum caminata" an der süd- lichen Ostseeküste fraglich, und zu Recht wird darauf verwiesen, dass der Nachweis einer Kellerkonstruk- tion nicht zwangsläufig ein Hinweis auf einen mehrgeschossigen Holz- ständerbau darstellt.30 Die Umset- zung in Holz wurde von Günter P. Fehring als „Lübecker Sonderweg" interpretiert und nicht zuletzt an- gesichts der frühen Datierung mit Versorgungsschwierigkeiten an ge- brannten Ziegeln erklärt.31 An der südlichen Ost- seeküste datieren die frü- Abb. 9 hesten Steinbauten in 29 Andris Caune: Die als Keller eingetieften Holzständerbauten des 13. und 14. Jahrhundert in Riga, in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 23 (1993), S. 203-218. 30 Joachim Müller: Der mittelalterliche Holzbau in der Stadt Brandenburg seit der Mitte des 12. Jahrhun- derts, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 27/28, 1999/2000, 129-161, hier S. 144-149; Mulsow (wie Anm. 17), S. 367f. 31 Fehring (wie Anm. 21), S. 281.

203 Ulrich Müller

Lübeck, Greifswald und Elbing bislang in die erste bis zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts. Mit dem Bau auf dem Grundstück des Heiligen-Geist-Hospitals in Lübeck ist ein beheizbares Steinwerk aus dem frühen 13. Jahrhundert be- kannt, das sich im rückwärtigen Grundstücksteil befand." Weitere Steinwerke sind über den Stadthügel verteilt; sie besitzen Voll- oder Halbkeller wie der etwa 9,00 x 8,00 m große Bau aus der Mengstraße 31, der ebenfalls in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts gehört (Abb. 9). In Greifswald ist das Steinwerk aus der Brüggstraße 25b in den 1270er Jahren errichtet worden, und zwei weitere Bauten datieren in die 1290er Jahre bzw. möglicherweise in die Zeit zwischen 1300 und 1320." Letzteres wurde an ein älteres giebelständiges Holzgebäude mit einer Fläche von 7 x 11,50 m angesetzt. Aus Elbing sind ebenfalls mindes- tens zwei Belege (ul. Kowalska 12, ul. Rybacka 34) von Steinwerken bekannt, die in das späte 13. Jahrhundert datieren." Weitere Zeugnisse stammen aus Riga, beispielsweise in der Peldu/Üdensvada-Straße 25 und der Peldu-Straße 21 (Abb. 10-11). Handelt es sich bei ersterem um ein einzeln stehendes, 9,2 x 8,4 m großes Gebäude im rückwärtigen Grundstücksbereich, so weist das ande- re einen hölzernen Anbau auf Der Kernbau ist etwa 4,3 x 6,1 m groß, der ein- stöckige Holzständerbau besitzt die Maße 6,0 x 8,5 m. Für den Steinbau Peldu 21 verbaute man überwiegend den lokal anstehenden Dolomit und kombinierte diesen mit Backstein. Dass dessen Verfügbarkeit an eine entsprechende Infra- struktur gebunden gewesen ist, mag man daran erkennen, dass selbst für den re- präsentativen Haupteingang anstelle von Viertelstab-Formsteinen nur entspre- chend behauene Ziegel vermauert wurden. Auch bei der Errichtung des anderen Baues wurde in Dolomit gearbeitet und lediglich für die Türwandungen Ziegel verwendet. Im Gegensatz zu den Befunden aus Riga lassen sich die Bauten aus Memel (lit. Klaip&la) sowie Dorpat nicht mit Sicherheit als Steinwerke ansprechen. An der Ecke Küütri/Kompanii-Straße in Dorpat legte man Fundamentreste eines etwa 7,6 x 7,3 m großen Backsteingebäudes frei, das vor allem aufgrund sei- ner Maße als Steinwerk angesprochen wurde und vermutlich in das 15. Jahr- hundert datiert.35 Aus dem mittelalterlichen Novgorod sind mindestens vier Steinwerke des 15. Jahrhunderts bekannt. Zwei Gebäude der Grabungen un- ter der Leitung von Il'inskij (Abb. 12) und Nutnyj weisen bei annährend qua- 32 Günther P. Fehring: Fachwerkhaus und Steinwerk als Elemente der frühen Lübecker Bürgerhausarchi- tektur, ihre Wurzeln und Ausstrahlungen, in: Offa 37 (1980), S. 267-281. 33 Schäfer (wie Anm. 24), S. 430; Peter Enzenberger: Ein Handwerkerquartier in der Greifswalder Innen- stadt am Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert. Diss. Greifswald 2000. 34 Gra2yna Nawrolska: Stan badaii archeologicznych Starego Miasta w Elblqgu [Der Stand der archäol- gischen Untersuchungen der Altstadt von Elbing], in: Stare miasto w Elbleu — wyzwanie historii / hrsg. von ders. und Janusz Tandecki, Elblqg 1997 (Archaeologia Elbingensis; 2), S. 21-35, hier S. 29, Rys. 8; dies.: Domestic Architecture in Elblqg, in: Der Hausbau (wie Anm. 7), S. 473-490, hier S. 478. 35 Kalle Lange: Über die mittelalterlichen Steinbauten an der Kompaniestraße in Tartu, in: Eesti Vabarii- gi Teaduste Akadeemia Toimetised 1 (1994), S. 409-412.

204 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums"

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205 Ulrich Müller

dratischen Grundriss Flächen 80 m2 auf; ein weiterer Bau der Grabung Goten- hof (Abb. 4) besitzt eine Grundfläche von 36 m2, er wird aber weniger als Wohnhaus, denn als Turm mit Aufgaben eines Warenlagers, Wachtturms und Gefängnisses ange- sprochen.36 Das vierte Gebäude konnte auf der Nerevskij -Grabung frei- gelegt werden. Die tief reichenden Fundamente dieser Gebäude lassen eine Mehrgeschossigkeit der aus Backstein und Kalksteinblöcken errich- teten Bauten als wahr- scheinlich erscheinen. Sie bilden neben den Kirchen und dem erzbischöflichen Palast für das 15. Jahr- hundert bislang die ein- zigen Belege einer stei- nernen Profanarchitektur. Die Bauten werden daher Abb. 13 der Oberschicht, den Bo- jaren, zugewiesen oder — wie im Falle der Konstruktion vom Gotenhof— ausländischen Kaufleuten. Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht die Ergebnisse der Il'inskij-Grabung. Aus mehreren Hofanla- gen, die seit den 70er Jahren des 11. Jahrhunderts existierten und noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts drei Komplexe bildeten, entstand Anfang des 15. Jahrhunderts ein Großhof, auf dessen Areal dann der besagte Stein- bau der 1420er Jahre errichtet wurde. Die Funde von Birkenrindenbriefen des 14./15. Jahrhunderts belegen den Status von Bojaren für die Anwohner und lassen zugleich den Schluss auf ein spezifisches Erbsystem zu.37 Steinwerke als repräsentative Bauten greifen Bautraditionen aus Süd- und Südwest- sowie Nordwesteuropa auf.38 Für die Bauten des 13. und 14. Jahr- hunderts an der südlichen Ostseeküste mögen entsprechende Bauten aus Süd- 36 Rybina (wie Anm. 14), S. 301. 37 Chorogev (wie Anm. 13), S. 155. 38 Uwe Albrecht: Halle — Saalgeschosshaus — Wohnturm, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit: Essay- band zur Ausstellung Braunschweig 1995 / hrsg. von Jochen Luckhardt und Franz Niehoff, München 1995, S. 492-501; Anita Wiedenau: Katalog der romanischen Wohnbauten in westdeutschen Städten und Siedlungen (ohne Goslar und Regensburg), Köln 1983 (Das deutsche Bürgerhaus; Bd. 34); Fehring (wie Anm. 20), S. 46-55.

206 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums" niedersachsen und Westfalen als „Vorbilder" gedient haben." Ob man die Bauten aus dem Baltikum und Novgorod in eine unmittelbare Traditionsli- nie mit den rund 100 bis 150 Jahre älteren Wohntürmen stellen kann, blie- be ebenso zu prüfen wie die Beziehungen zu mehrgeschossigen, turmartigen Holzkonstruktionen, die aus Novgorod und anderen Städten der Kiever Rus' bekannt sind. Angesichts vergleichbarer Befunde aus Mitteldeutschland und Polen sollte generell auch an Einflüsse aus dem ostmitteleuropäischen Raum gedacht werden.4 Neben dem an der südlichen Ostseeküste bislang nur in Lübeck und Stral- sund vertretenen Typ des Saalgeschossbaus stellt das backsteinerne Dielen- haus denjenigen Bautyp dar, der das Bild von der Hansestadt bis hin die heu- tige Zeit hinein prägt und als „augenfälligster Beleg für eine gemeinsame Kultur der Hansestädte angeführt" wird» Es handelt sich um einen giebel- ständigen, zumeist unterkellerten Bau mit einer hohen Diele, einem oder zwei flachen Obergeschossen und einem mehrgeschossigen Dach (Abb. 13). Nach Ausweis der Feuerstellen sind Wohnfunktionen im hinteren Teil der Diele an- zusiedeln sowie in den rückwärtigen Kemenaten und den Hofseitenflügeln, die vielfach unterkellert waren. Der Bautyp bot durch seine enormen Spei- cherkapazitäten im Zuge der Bebauungsverdichtung Vorteile und erfüllte glei- chermaßen repräsentative Funktionen sowie multifunktionale Aufgaben für Handwerk, Gewerbe und Handel. Baugeschichtlich stellt er allerdings eher eine Folgeinnovation denn „Invention" dar, da er durchaus Bezüge zum Holz- bau aufweist.42 An der südlichen Ostseeküste sind frühe Dielenhäuser auf- grund der spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Umbaumaßnahmen im Bau- bestand verhältnismäßig selten anzutreffen; hierzu gehört der um 1286 datierte Bau aus Lübeck, Königstraße 25, sowie das Dielenhaus Stralsund, Frankenstra- ße 1-2. Neben Befunden aus Elbing aus dem späten 13. Jahrhundert sind des weiteren Gebäude aus Kolberg (Abb. 13) zu nennen, wo der Bautyp seit dem frühen und mittleren 14. Jahrhundert dominiert. Ob man in den dielenhaushaus- artigen Fachwerkbauten des 13. Jahrhunderts aus Riga (Abb. 14) Relikte von Vorläufern der steinernen Bauten sehen möchte, oder diese Bauten eine eigen-

39 Hartmut Rötting: Das ostsächsische Doppelhaus des hohen Mittelalters im archäologisch-rechtshisto- rischen Befund von Braunschweig, in: Hausbau und Raumstruktur früher Städte in Ostmitteleuropa / hrsg. von Hansjürgen Brachmann und Jan Kläpgtö, Prag 1996, S. 40-54. 40 Osadnictwo i architektura ziem polskich w dobie zjazdu gniezniefiskiego [Besiedlung und Architektur des polnischen Landes in der Epoche des Akts von Gnesen (1000)] / hrsg. von Andrzej Buko, Warszawa 2000; Claudia Trummer: Backsteinbau im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert in Sachsen und Südbrandenburg, in: Centre — Region — Periphery, hrsg. von Guido Helmig, Barbara Scholkmann und Matthias Untermann, Hertingen 2002 (Medieval Europe; 1), S. 384-389; Donat (wie Anm. 16), S. 157-161. 41 Gläser (wie Anm. 7), S. 128; Peter W. Kallen: Die Kunst der Fuge, in: Die Hanse — Macht des Handels: der Lübecker Fernhandelskaufmann, Bonn 2002 (Katalog der Ausstellung „Wege zur Backsteingotik"; Bd. 1), S. 31-57, hier S. 49ff. 42 Fehring (wie Anm. 20), S. 59.

207 Ulrich Müller ständige Umsetzung in Holz bieten, die ihrerseits Ele- mente des mehrschiffigen ländlichen Hausbaus auf- greift, bliebe zu untersuchen, doch zeigt sich in jedem Fal- le, dass über die weitere Ent- wicklung und Ausbreitung der Dielenhäuser weniger bekannt ist, als es zunächst AA 11111A1 scheint.43 Zwar kann man da- mit rechnen, dass der Bautyp 111111111111 sich als Funktionstyp zuneh- mend durchsetzt. Dies be- deutet jedoch nicht, dass man in jedem Falle von einer ge- schlossenen Steinfront eines ganzen Straßenzuges ausge- hen kann. Im Aufgehenden sind zahlreiche bestehende Fassaden renaissance- oder barockzeitlich, und eine de- Abb. 14 taillierte bauhistorische Un- tersuchung des Bestandes steht vielerorts noch aus. Zusammenfassend kann man festhalten, dass die „Ver- steinerung" als ein Prozess des langen Zeitraums zwischen dem späten 13. und dem 15./16. Jahrhundert tendenziell in west-östlicher Richtung verläuft. Damit dieser sich flächendeckend in der Stadt durchset- zen kann, sind Bauhütten bzw. Ziegeleien und professionelle Handwerker notwendig, die nicht mehr allein für geistliche Auftraggeber und deren Klös- ter und Kirchen produzieren, sondern das „städtische Bürgertum" über ei- nen entsprechenden Markt bedienen. Kann man hinter den scheinbar geschlossenen Fassaden der Giebelhäu- ser eine gemeinsame hansische Identität erblicken? In Form des „gotischen Giebelhauses" wird die Architektur zum Zeichen einer städtischen Führungs- schicht, die mit ihrer Formensprache bewusst das Bild der klassischen go- tischen Kathedrale aufgreift.44 Wann genau in den Städten das Dielenhaus der dominierende Bautyp wird, in welchen Maße er verbreitet ist und wie er

43 Caune: Rigaer Wohnhaus (wie Anm. 11), S. 83ff. u. 104ff.; Donat (wie Anm. 16), S. 137f. u. 148. 44 Matthias Müller: Der zweizonige Wandaufriß in den norddeutschen „Backsteinkathedralen": künst- lerische Form, soziologisches Ausdrucksmittel oder politisches Zeichen?, in: Hansische Geschichtsblätter 116 (1998), S. 1-21; hier S. 1 lf.

208 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums" konkret in den jeweiligen Städten umgesetzt wurde, bliebe genauer zu un- tersuchen. Auch die Zeit des späten 14. bis 16. Jahrhunderts wird durch ein Nebeneinander verschiedener Bautechniken und Gestaltungsmerkmale ge- kennzeichnet sein. Sicherlich ist das Dielenhaus mehr als eine städtebauliche Neuakzentuierung. Selbst wenn man Lübeck wohl nicht mehr als den „Proto- typ der abendländischen Gründungsstadt" bezeichnen kann, wirkte die Stadt in institutioneller als auch in architektonischer Sicht als Attraktor maßgebend auf den Urbanisierungsprozess in den südlichen Ostseegebieten ein.45 Doch hat die innere Urbanisierung Lübecks einen sehr spezifischen Weg genom- men, in dem sie sich von den darauffolgenden landesherrlichen Gründungen, aber auch burgstadtähnlichen Vorläufern (Stettin, Kolberg, Danzig) mit ihrem komplexen, vielfach divergierenden Beziehungsgeflecht unterscheidet.46 Da- bei ist damit zu rechnen, dass die Stadtentwicklung eben nicht ausschließlich von „kolonisierenden" Siedlern aus Nordwesteuropa, sondern vielfach von der einheimischen Bevölkerung getragen wurde. Gerade daher sollte der Blick ebenso auf das „Trennende" im „Verbin- denden" zu richten und die historische Pfadabhängigkeit aus den unterschied- lichen Traditionssträngen zu betrachten sein. Wenn man die „Hansestadt" als Strukturelement eines hochmittelalterlichen Urbanisierungsprozesses im Schnittpunkt nordwest- und ostmitteleuropäischer Stadtentwicklung sieht, bietet sich Raum, um über bestehende Gemeinsamkeiten nach regionalen Un- terschieden und lokalen Lösungen zu fragen, die aus der Adaption, der Inter- pretation und der Integration dieser Modelle hervorgingen» Hierzu gehören eben auch ältere Bautraditionen wie der Blockbau, der in den Städten des öst- lichen Mare Balticum auch noch im Zuge der hochmittelalterlichen Umstruk- turierungen erscheint und vielfach die dominierende Bautechnik bleibt. Eine weitere „lokale" Lösung stellen Block- und Fachwerkbauten mit Steinfunda- menten dar, die aus Städten wie Riga und dem estnischen Hapsal (estn. Haap- 45 Julius Mihm: Die mittelalterliche Gründungsstadt, in: Die Alte Stadt 29 (2002), S. 127-141; hier S. 131, 135. 46 Rgbkowski (wie Anm. 17), S. 202ff.; Heidelore Böcker: Regionale Bindungen und gesamthansische Beziehungen pommerscher Städte im Mittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 112 (1994), S. 57-96; Roman Czaja: Miasta pomorskie w hanzie w §redniowieczu [Die pommerschen Städte in der Hanse im Mittelalter], in: Salsa Cholbergiensis (wie Anm. 4), S. 117-125; Jürgen Sarnowsky: Die preußischen Städte in der Hanse, in: Hansische Geschichtsblätter 112 (1994), S. 97-124; Ilgvars Misäns: Die späten Anfänge städtischer Zusammenarbeit in Alt-Livland, in: Zwischen Lübeck und Novgorod: Wirtschaft, Politik und Kultur im Ostseeraum vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert / hrsg. von Ortwin Pelc und Gertrud Pickhan, Lüneburg 1996, S. 89-98, hier S. 90; Winfried Schich: Der Ostseeraum aus der Sicht der mittel- alterlichen Siedlungsgeschichte, in: Siedlungsforschung 15 (1997), S. 53-79; Peter Johanek: Imperial and Free Towns of the Holy Roman Empire: City States in Pre-Modern ? in: A Comparative Study of Thirty City-State Cultures / hrsg. von Mogens Herman Hansen, 2000, S. 295-319. 47 Nils Blomkvist: The Concept of the Town and the Dawn of Urban Life East and West of the Baltic, in: Lübeck Style? Novgorod Style? / hrsg. von Muntis Auns, Riga 2001 (Culture Clash or Compromise Papers; Bd. 5), S. 11-36; Donat (wie Anm. 16), S. 166-172.

209 Ulrich Müller

salu), aber auch von lettischen Burganlagen wie Terweten (lett.Urvete) oder Mesohten (lett. Me2otne) bekannt sind.48 -Auch die Verwendung von Kalk- und Sandstein lokaler Herkunft ist Ausdruck lokaler Lösungsstrategien. Nicht nur die Frage, wann ein bestimmter Haustyp erscheint, bleibt interessant, son- dern wie die städtische und im städtischen Einzugsbereich lebende Bevölke- rung auf diese Neuerung reagierte und sie umformte. Handel als Kulturkampf ? Das Beispiel der Keramik Unter dem archäologischen Fundmaterial bildet Keramik als Baukera- mik (Backsteine, Ziegel, Terrakotten, Fliesen, Kacheln) sowie Geschirr- keramik in der Regel die umfangreichste Fundgruppe. Keramik war neben Holz ein bevorzugter Werkstoff im Mittelalter. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: leichte Abbaubarkeit der nahezu ubiquitären Vorkommen, einfache Formungs- und Herstellungstechnik und im Bereich von Härte und Wasserundurchlässigkeit herstellungssteuerbare Materialeigenschaften: Als Tischgeschirr gewährt Keramik einen Einblick in das System von „Nah- rung und Tischkultur", welches eine bedeutende Rolle bei der inter- wie in- trakulturellen Kommunikation spielt. Somit können das Erscheinungsbild, die räumliche Verbreitung und die zeitliche Stellung von Funden durch- aus Prozesse des Kulturwandels reflektieren.49 Die mittelalterliche Keramik des südlichen Ostseeraums ist in Regionalstudien recht gut aufgearbeitet.5° Neben chronologischen und typologischen Aspekten sind wirtschafts- und kulturgeschichtliche Fragen von großer Bedeutung» So hat beispielswei- se David Gaimster die „Rolle der Keramik als ‚Kulturträger': u.a. die Ent- wicklung einer hansischen Sachkultur innerhalb der privaten Umwelt des 48 Andris Caune: Typen der Wohnhäuser Rigas im 12. bis 14. Jahrhundert aufgrund der archäologischen Ausgrabungen, in: Der Hausbau (wie Anm. 7), S. 551-568, hier S. 555-558; Anton Pärn: Archäologische Forschungen auf dem Territorium der Stadt Haapsalu: Forschungsstand und vorläufige Ergebnisse, in: Eesti Teaduste Akadeemia Toimetised 43 (1994), S. 125-154; Romas Jarockis: Stones, Bricks and Nails: the introduction of new building techniques south west of the Daugava, in: Europeans or Not: Local Level Strategies an the Baltic Rim 1100 — 1400, Visby 1998 ( Culture Clash or Compromise Papers; Bd. 1), S. 153-164, hier S. 158. 49 Ulrich Müller: Novationsphasen und Substitutionsprozesse: Regelhafte Vorgänge am Beispiel des Handwaschgerätes im Hanseraum aus archäologischer Sicht, in: Nahrung und Tischkultur (wie Anm. 3), S. 125-165; ders.: Tradition und Novation — Bemerkungen zum Wandel des Tischgeschirrs anhand von Beispielen aus Städten des südlichen Ostseeraumes, in: Der Ostseeraum und Kontinentaleuropa (1100- 1700): Einflußnahme — Rezeption — Wandel / hrsg. von Detlef Kattinger, Jens Olesen und Horst Wernicke, Greifswald 2004 (Culture clash or compromise; 8). 50 Vgl. Der Handel / hrsg. von Manfred Gläser, Lübeck 1999 (Lübecker Kolloquium zur Stadtarchä- ologie im Hanseraum; Bd. 2) sowie Handbuch zur mittelalterlichen Keramik in Nordeuropa / hrsg. von Hartwig Lüdtke und Kurt Schietzel, Neumünster 2001 (Schriften des Archäologischen Landesmuseums; Bd. 6). 51 Hans-Georg Stephan: Deutsche Keramik im Handelsraum der Hanse, in: Nahrung und Tischkultur (wie Anm. 3), S. 95-124; David Gaimster: The Hanse in the Baltic: the Archaeology of a Cultural Network, in: Fennoscandinavia Archeologica 16 (1999), S. 59-69.

210 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums" städtischen Bürgertums im Ostseeraum" hinterfragt und sich dieses Themas in mehreren Studien angenommen ." Bis zum Hochmittelalter stellt die slawische Keramik in den Regionen der südlichen Ostseeküste bis nach Pommern die traditionelle Ware dar." Hier- bei handelt es sich zumeist um Töpfe, seltener um Schalen oder Becher, die mit der Hand oder teilweise auf der Drehscheibe gefertigt wurden. Hier so- wie in den Gebieten der heutigen baltischen Staaten und in den ostslawischen Regionen zwischen Peipussee und Ilmensee treten seit dem späten 10./11. Jahrhundert zunehmend Drehscheibenwaren auf; in Bezug auf diese wurde wiederholt auf die Kontakte zwischen Skandinavien und den südlichen Ost- seeregionen sowie die innerslawischen Beziehungen (Abb. 15) hingewiesen.54 Mit dem 12./13. Jahrhun- dert kommt es in den Ge- bieten östlich der Elbe zu grundlegenden Verän- derungen in der Herstel- lung und dem Aussehen sowie der Nutzung. Die vollständig auf der Töp- ferscheibe hochgezo- genen Gefäße waren hart gebrannt, und sowohl der Brand als auch die

Abb. 15

Glasuren verstärkten deren Wasserundurchlässigkeit. Zudem weisen die Ge- fäße eine große Formenvielfalt auf und zeugen damit von Veränderungen der 52 David Gaimster: Der Keramikmarkt im Ostseeraum 1200-1600, in: Der Handel (wie Anm. 50), S. 99-110, hier S. 100; ders.: German stone-ware and stove-tiles: type-fossils of the Hanseatic culture c. 1200-1600, in: Medieval Town (wie Anm. 4), S. 53-64; ders.: Handel und Produktion von Ofenka- cheln im Ostseegebiet von 1450 bis 1600: ein kurzer Überblick, in: Von der Feuerstelle zum Kachelofen: Heizanlagen und Ofenkeramik vom Mittelalter bis zur Neuzeit / hrsg. von Manfred Schneider, Stralsund 2002 (Stralsunder Beiträge zur Archäologie, Geschichte, Kunst und Volkskunde in Vorpommern; Bd. 3), S. 165-178; Zur Semantik des Begriffes „Kulturträger" siehe auch Ralph Tuchtenhagen: Die Rolle des Nordens in der deutschsprachigen Osteuropaforschung, in: Nordostarchiv 9 (2001), S. 11-50, hier S. 34f. 53 Brather: Westliche Slaven (wie Anm. 8), S. 198f. Tab. 8-9; Felix Biermann: Über das erste Auftreten spätslawischer Keramik in Ostdeutschland und Polen, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 43 (2002), S. 61-92 mit Hinweisen auf Anregungen aus dem ukrainischen Raum. 54 Mats Roslund: Gäster i huret: Kulturell överföring mellan slaver och skandinaver 900 till 1300, Lund 2001 (Skrifter utg. av Vetenskapssocieten i Lund; Bd. 92); Andres Tvauri: Loode-Vene päritolu slaavi ker- aamika Eestis 11.-16. sajandil [Slavische Keramik nordwestrussischen Ursprungs im Estland des 13.-16. Jahrhunderts], in: Eesti Arheoloogia Ajakiri 4 (2000), S. 91-119. Valentina M. Gorjunova: Technologie- transfer im Töpferhandwerk, in: Novgorod (wie Anm. 13), S. 323-347 mit weiterer Literatur.

211 Ulrich Müller

Abb. 16

Nahrungs-, Zubereitungs- und der Essgewohnheiten. Während durch paläobo- tanische und zoologische Untersuchungen des archäologischen Fundmaterials für das hohe und späte Mittelalter durchaus Aussagen zur Nahrung möglich sind, bleibt es schwierig, anhand der vielfach spätestmittelalterlichen und neu- zeitlichen Überlieferung detailliert die Zubereitungstechniken und auch Ess- gewohnheiten zu erschließen." Der keramische Innovationsprozess erfolgte vor dem Hintergrund des Lan- desausbaues: die bäuerlichen und bürgerlichen Zuwanderer aus Nordwesteuro- pa brachten die ihnen bekannten Waren, Formen und Herstellungsmuster mit. Indes vollzog sich dieser Übergang keineswegs als Bruch, und man kann an- hand des Verhältnisses „slawischer" und „deutscher" Waren nicht unmittelbar auf entsprechende Bevölkerungsanteile schließen. Die zahlreichen „Übergangs- varianten", die stellenweise mit unglücklichen Bezeichnungen wie „frühdeut- sche Ware" oder „blaugraue Ware" in die Literatur Eingang gefunden haben (Abb. 16), dokumentieren weniger einen „clash of cultures" denn einen mannig- faltigen Erfahrungsaustausch zwischen den Töpfern. Die slawische Keramik in den Städten der südlichen Ostseeküste fand noch bis weit in das 13. Jahrhundert hinein Verwendung (Abb. 17; 23).56 Dies muss aber nicht unbedingt den Schluss auf eine slawische Restbevölkerung zu lassen, sondern kann die vielfältigen Dis- tributionswege oder Nutzungsbereiche markieren. Die seit dem 12. Jahrhundert verstärkt auftretende „Harte Grauware" bildet bis zum Ende des Mittelalters eine zumindest in den Städten der südlichen Ostseeküste weit verbreitete Ware. Re- gional und lokal gefertigt, weist sie eine weite technologische Variabilität auf und erscheint in zahlreichen Formen und Funktionstypen. Hierbei dominiert im 12./13. Jahrhundert noch die Kugeltopfform, nachfolgend kommt es dann aber

55 Vgl. Nahrung und Tischkultur (wie Anm. 3); darin insbes. die Beiträge von Volker Herm, Ulf Dirlmei- er und Johanna Maria Winter. 56 Rgbkowski (wie Anm. 17), S. 172ff.; Sebastian Brather: „Gründungsstädte" oder Ausbau slawischer Siedlungen? Die Aussagekraft der hochmittelalterlichen Bodenfunde zum Verhältnis von Slawen und Deutschen, in: Sredniowieczny Slttsk i Czechy — Centrum §redniowiecznego miasta — Wroclaw a Europa §rodkowa / hrsg. von Krzysztof Wachowski und Jerzy Piekalski, Wroclaw 2000 (Wratislavia Antiqua; Bd. 2), S. 113-126; ders. „Frühdeutsch": ein Begriff der Archäologie des Mittelalters?, in: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch" / hrsg. von Heinrich Beck, Dieter Geuenisch, Heiko Steuer und Dietrich Hakelberg, Berlin, New York 2003 (RGA-Ergänzungsband; 34), S. 285-307.

212 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums"

11111,116{1111,114111i311N .

0.11.1511111,1151,1,1,1...1

Außenglasierte Rote Irdenware

Faststeinaetige und („14

Keramikformen als Vorbild: Gefäßtypen der Grauen Irdenware

Metallformen als Vorbild: Gefäßtypen der Grauen Irdenware, teilweise It Iättstreifen

Abb. 18 zu einer Formenausweitung. Die teilweise von anderen Keramikwaren über- nommenen oder materialübergreifend auftretenden Typen sind Ausdruck von Imitations- und Adaptionsprozessen innerhalb und zwischen verschiedenen sozi- alen Gruppen, die bislang ungenügend untersucht sind (Abb. 18). Neben der Harten Grauware erscheint mit einem zeitlichen Schwerpunkt im 12./13. Jahrhundert die außenglasierte rote Irdenware. Die nahezu aus- schließlich als Trink- und Schenkgefäße (Abb. 18) genutzten Formen wur- den von der älteren Forschung als ausschließlicher Import aus Nordwesteu- 213 Ulrich Müller

Sonstiges glasierte Waren ieenigiehgeenegMeggineenneMBRaigeMBUM

Glasierte Ware "A"

Rote te Irdenware

Rote polierte Ware

roten obiertes gelbe Faststeinzeug

roten obiertes graues Faststeinzeug ,24"2.'ek

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Roten obiertes Faststeinzeu•

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Siegbur er Steinzeug :] Si' =5-15% ememeecmmeMdagMee

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Trn 1250 1275 1300 1325 1350 1375 14(X)

Abb. 17

214 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums"

Abb. 23

ropa angesehen. Neuere Untersu- chungen relativie- ren die Proveni- enzzuweisungen, und neben Impor- ten aus Flandern, England sowie von der nieder- ländischen Küste (Abb. 19) ist eine regionale Produk- tion im südlichen Skandinavien und entlang der süd- lichen Ostseeküs- te nachgewie-

Ezig 31rize Gac 1.23 reg sen." In dem die icb,zgel Ie.., Nem:en ket...n technischen und stilistischen Ein- flüsse aus Nord- westeuropa aufgegriffen werden, kommt es zu einer eigenständigen Umset- zung im Sinne einer „lokalen" Interpretation (Abb. 20). Als es in rheinischen Werkstätten im Verlauf des 12. Jahrhunderts gelingt, eine versinterte und damit wasserdichte, säurebeständige Keramik zu produ- zieren, wird ein Prozess in Gang gesetzt, der weitreichende Auswirkungen auf den Ostseeraum des 14. bis 16. Jahrhunderts hatte (Abb. 21-22). Die Fer- tigung von Steinzeug forderte nicht nur entsprechende technische Kennt- nisse, sondern auch besondere Tone, die im Ostseeraum nicht anstanden. Über das Rheinland hinausgehend kam es ab dem 13. Jahrhundert auch in Südniedersachsen und ab dem späten 14. Jahrhundert in Westsachsen zur Aufnahme der Steinzeugproduktion." Protosteinzeug, eine in ihren Eigen- schaften noch nicht vollständig dem Steinzeug entsprechende Ware, so- wie Steinzeug kombinierten in bis dahin unbekannter Weise Funktionalität mit sozialen Bedürfnissen. Die Produktlinien umfassen in den frühen Pha- sen ein weites Spektrum an Trink- und Schenkgefäßen, später treten Essge-

57 Heiko Schäfer: Anthropomorph verzierte Gefäßkeramik des 13. Jahrhunderts aus Mecklenburg-Vor- pommern, in: Jahrbuch Bodendenkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern 46 (1999), S. 223-242. 58 David Gaimster: German stoneware 1200-1900: archaeology and cultural history, London 1997.

215 Ulrich Müller

Flandern England Rouen Andenne 0 >5 Fundstellen

• o >10 • 0 > 15

• 0 >20 • 0>32

Abb. 19 schirr sowie Utensilien und Bevorratungsgeschirr hinzu, während als Koch- geschirr neben Metallgefäßen noch die traditionellen oder innenglasierten Waren dienten. Die Beispiele aus Rostock und Kolberg (Abb. 17; 23), aber auch aus Städten wie Dorpat und Reval belegen anschaulich, dass Stein- zeugprodukte zunehmend den keramischen Markt monopolisierten.59 Zusammenfassend kann man sagen, dass seit dem 12./13. Jahrhundert die Regionen der südlichen Ostseeküste an die europaweite Stil- und For- menentwicklung der Keramik angekoppelt sind. Dies stellt im Vergleich zu früheren Zeiträumen eine Neuerung dar, die eng mit der Ausrichtung und Ausweitung des Handels verbunden ist. Den genauen zeitlichen, räumlichen und auch sozialgruppenbezogenen Verlauf dieses Prozesses sollte man aller- dings zurückhaltend betrachten, so dass man zum jetzigen Zeitpunkt sicher- lich nicht davon sprechen kann, dass die „importierte Keramik als archäo- logischer Anzeiger der Wanderung und der einheimischen Annahme einer bestimmten hansischen Lebensweise" anzusehen ist und „einen Index für [...] Umsiedlungen kaufmännischer Gemeinschaften" bietet." Gegen solche An- nahmen spricht eine Reihe von Argumenten. Zwar bildet Keramik quantitativ die umfangreichste Materialgruppe im archäologischen Fundmaterial, doch müssen gerade für eine vergleichende Analyse Glas-, Holz- und Metallge- schirr betrachtet werden.6' Beispielsweise sind im Fundmaterial aus Städten wie Novgorod oder Danzig eine Vielzahl an hölzernen Gefäßen vertreten, so dass man den Eindruck gewinnt, entsprechende keramische Fundkartierungen

59 Jaak Mäll und Erki Russow: Kohalik ja importkeraamika Tallinnas aastail 1200-1550 [Einheimische und Im- portkeramik in Tallinn zwischen 1200 und 1550], in: Eesti Arheoloogia Ajakiri 4 (2000), S. 120-128. 60 Gaimster: Keramikmarkt (wie Anm. 52), S. 100, 107. 61 Peter Steppuhn: Glasfunde des 11. bis 17. Jahrhunderts aus Schleswig, Neumünster 2002 (Ausgra- bungen in Schleswig; Bd. 16); Ulrich Müller: Holzfunde im frühen Mittelalter: Bemerkungen zu einer Ma- terialgruppe anhand zweier Beispiele aus Elisenhof und Groß Raden, in: Archaeologica Baltica 4 (2000), S. 239-252.

216 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums"

Abb. 20

100 90

t

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na 70 re 60 Wa

ro 50 p

ile 40 30 20 10 0 D \*

Graue Irdenes are — Rote kdenwaren — Faststeinzeuge

Abb. 21

217 Ulrich Müller repräsentieren vielfach den Stand der jeweiligen Ausgrabungen und der Er- haltungsbedingungen. Weiterhin gilt es, die inter- wie intrastädtischen Beziehungen genauer zu untersuchen. In Alt-Livland sind Verbreitungsschwerpunkte mit den Städten Riga, Reval und Dorpat sowie Peruau (estn. Pärnu) fassbar (Abb. 22). Dies erklärt sich zunächst durch die Bedeutung dieser Orte als überregionale Han-

Rheinland Niedersachsen Sachsen 'LWSGIG ece • • >5 Fundstellen Söderköping o. • 0 0 >10 Neide co" )/. IsingborgHe • O 0 >15 Kopenhagen • 0 0 >20 Dragor d ,2100 Lund • 0 0 >30 Lübeck Ka1mar • :>.'Ystad Wismar Rose \ Stralsund Greifswald

c.-• Stettin i Kolberg

Ri

Novgorod

Abb. 22 delszentren und ihre engen Verbindungen zum Rheinland.62 Daneben sind aber für das späte 13. und 14. Jahrhundert eine Vielzahl von hochmittelalterlichen Stadtgründungen (z.B. Wenden (lett. Csis), Hapsal, Goldingen (lett. Kuldiga) etc.) bekannt, die einerseits als Unterzentren zu betrachten sind, andererseits zugleich direkte Beziehungen mit nordwestdeutschen Städten besaßen.63 Wenn ein Feh- len entsprechender Funde in den letztgenannten Städten nicht allein als ein Ausdruck des Forschungsstandes zu bewerten sein wird, so sollte es wohl ein Ergebnis der Wege, Reichweite und Grenzen der Steinzeugdistribution sein, denn „deutsche" Kaufleute treten auch in diesen Städten in Erschei- nung. Schließlich stellt sich auch für Massenwaren wie Steinzeuge die Fra- ge, welche Phänomene Fundverbreitungen beschreiben: individuelle oder gruppenspezifische Mobilität, Handel und Austausch, Geschenke und Di- plomatie.64 Problematisch bleibt die Suche nach den Abnehmern der neuen Wa- ren sowohl in ethnischer als auch sozialer Hinsicht. Angesichts der Herstel- lungsgebiete der Keramik sowie der Herkunft zahlreicher Siedler in den Ge-

62 Klaus Militzer: Handelsbeziehungen zwischen den livländischen Städten und dem Rheinland, in: Fern- handel und Handelspolitik der baltischen Städte in der Hansezeit; hrsg. von Norbert Angermann und Paul Kaegbein, Lüneburg 2001 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 11), S. 71-95. 63 Misäns (wie Anm. 46), S. 92, Karte. 64 In diesem Sinne Stephan (wie Anm. 51), S. 96.

218 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums" bieten östlich der Elbe scheint es nahe zu liegen, die Exportkeramik als ein Indiz ethnischer Zugehörigkeit zu betrachten.65 Für die Archäologie bleibt der Schluss vom Fundstück, hier dem keramischen Scherben, auf den sie benut- zenden Menschen ein grundlegendes methodisches Problem. Anhand „sla- wischer" und „deutscher" Sachkultur ist die ethnische Interpretation archäo- logischer Funde von S. Brather umfassend erörtert worden, und er hat eine derartige Koinzidenz anhand des keramischen Fundmaterials hochmittelal- terlicher Städte aus guten Gründen abgelehnt.66 Dieselben methodischen Pro- bleme stellen sich auch für die „Hansezeit". Bildet das Steinzeug damit ein Element der Authentizität im Spannungs- feld eigener und fremder Kultur ab? Man kann vermuten, dass in der „Ein- führungsphase" Steinzeuge einen gewissen Wert besessen haben, dann je- doch auch in den in den Regionen des Mare Balticum zu einer Massenware wurden, die zunächst in den städtischen Zentren, aber zunehmend auch auf Burgen und dem Land Verwendung fanden. Allerdings fehlt es bislang an ent- sprechenden Regionalstudien, die eben über generalisierende Beschreibungen hinaus die Differenziertheit der Diffusionsprozesse nachzeichnen. So sind Stadt-Land-Beziehungen bislang ebenso wenig thematisiert worden wie die Kontakte zwischen den Küstenregionen und deren Hinterland. Generell wird dies erst im interdisziplinären Verbund möglich sein, denn zahlreiche archä- ologische Funde — wie auch Keramik — gehören einer „Grundebene des All- tags" an und entziehen sich damit einer sozialen oder gar berufsspezifischen Zuweisung. Die einzelnen Gegenstände können zwar in ihrem Verwendungs- zweck bestimmt werden, doch ist damit selten der Kontext erschlossen, und auch eine Korrelation von Fundstelle und Benutzer ist selbst bei einer ent- sprechenden schriftlichen Überlieferung kaum möglich. Wer wie viele Ge- fäße aus Steinzeug oder weiterer Keramik besessen hat sowie wann und wo er diese eingesetzt hat, entzieht sich dem archäologischen Nachweis und fin- det kaum Eingang in die schriftlichen Quellen. Die massive Einfuhr und der Gebrauch von Steinzeugen scheinen zu belegen, dass die neuen Warenarten ein Spiegel veränderter Zubereitungs-, Ess- und Trinksitten sind. Wenn eine Statusdemonstration und damit auch eine Identitätsstiftung bzw. Authentizität eher durch die Auswahl, die Zubereitung und die Präsentation der Speisen als durch das Tischgeschirr erzielt wurde, sollten naturwissenschaftliche Unter- suchungen weiterführenden Aussagen ermöglichen.67

65 Gaimster: Keramikmarkt (wie Anm. 52), S. 107. 66 Brather (wie Anm. 8), S. 115, mit weiteren Hinweisen. 67 Günther Wiegelmann: Thesen und Fragen zur Prägung von Nahrung und Tischkultur im Hanseraum, in: Nahrung und Tischkultur (wie Anm. 3), S. 1-21; hier S. 9-14. Siehe zuletzt weiterhin Sabine Krag und Daniel Günther: Der Einfluss der Hanse auf mittelalterliche Ernährungsgewohnheiten, in: Centre — Region — Periphery (wie Anm. 40), S. 140-146.

219 Ulrich Müller

Als These ließe sich formulieren, dass der Übergang von den traditio- nellen Waren hin zu den lokal produzierten Grauwaren einen ersten mar- kanten Einschnitt bildet. Hier wird wenn nicht ein ethnischer Faktor, so doch ein Transfer von Technologie und Lebensstilen als Teil des Landes- ausbaus und/oder der politisch-militärischen Eroberung sichtbar, der zu- nächst an Personen aus Nordwesteuropa zu knüpfen ist. Bei den Gefäßen der Grauware kommt es recht schnell zur Ausbildung zahlreicher und viel- fältiger Gefäßtypen, was auf regionale und lokale Angleichungs- und Um- formungsprozesse hindeuten kann. Vor diesem Hintergrund ist auch der nachfolgende Import der Steinzeuge zu sehen, der im Rahmen des han- sischen Handels die Ostseeküste erreichte und zugleich Ausdruck einer ge- samteuropäischen Entwicklung ist. Thesen Es bleibt unbestritten, dass die Hanse im wesentlichen auch eine Vor- herrschaft niederdeutscher Kaufleute im Ostseeraum war. Sie dominierte, monopolisierte unter Umständen sogar, den Warenfluss und -austausch zwi- schen und aus den Regionen des Mare Balticum. Diese handelspolitische Vormachtstellung findet ihren Ausdruck in den archäologischen Funden. Die Hanse ist jedoch weder ein in sich abgeschlossenes und zeitlich kon- stantes Gebilde, noch stellt sie ein Kulturmodell dar.68 Die Reduktion auf ein nationales Bewusstsein der niederdeutschen Kaufleute und Städte ist eher ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts.69 Bei vielem, was archäologieseitig an materieller Kultur aus den Hanse- städten vorgestellt und damit gerade bei Ausstellungen mehr oder minder als „Hansekultur" verstanden wird, handelt es sich um eine Alltagskultur, deren europäische Koine gerade im Hausinventar fassbar wird. Hierzu wird man das Spielzeug rechnen dürfen, aber auch handwerkliches oder länd- liches Werkzeug und Gerät usw. Für andere Gegenstandsgruppen wie Klei- dung und Schmuck, die sozial eher normiert sind und somit durchaus Beruf, Religion, Region oder auch ethnische Zugehörigkeit wiedergeben können, fehlen bislang vergleichende Studien, oder die bekannten Funde erlauben

68 Thomas Behrmann: „Hansekaufmann", „Hansestadt", „Deutsche Hanse"? Über hansische Termino- logie und hansisches Selbstverständnis im späten Mittelalter, in: Bene vivere in communitate: Beiträge zum italienischen und deutschen Mittelalter; Hagen Keller zum 60. Geburtstag / hrsg. von Thomas Scharff u. Thomas Behrmann, Münster 1997, S. 155-176, hier S. 165-169 u. 171; Ren& Rössner: Hansische Ge- schichtsbilder, in: Gemeinschaft und Geschichtsbilder im Hanseraum / hrsg. von Thomas Hill u.Dietrich W. Poeck, Frankfurt a. Main 2000 (Kieler Werkstücke; Reihe E, Bd. 1), S. 27-44; hier S. 38ff. 69 Thomas Hill: Vom öffentlichen Gebrauch der Hansegeschichte und Hanseforschung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ausklang und Nachklang der Hanse im 19. und 20. Jahrhundert / hrsg. von Antjekathrin Graßmann, Trier 2001 (Hansische Studien; Bd. 12), S. 67-88, hier S. 67 u. 79; Hammel-Kiesow (wie Anm. 27), S. 268ff.

220 Regionalität und die „Archäologie des Hanseraums" rein quantitativ keine genauere Aussage.'° Darüber hinaus erfasst die Ar- chäologie in den Städten die Zeugnisse vielfältigster Personengruppen und hat bislang noch keine überzeugenden Modelle entwickelt, wie sich diese differenzieren lassen." Sicherlich wird man von einer städtischen Identi- tät sprechen können, doch in wie weit sich Einwohner mit dem abstrakten Gebilde der Hanse als solches identifizierten und dies seinen Niederschlag in den archäologischen Quellen findet, bleibt genauer zu untersuchen. Das Beziehungsgeflecht der Kaufleute im Sinne einer „core partnership" schafft eine Vielzahl identitätsstiftender und identitätsverstärkender sozialer Prak- tiken (Mobilität, Heirat, Geschenke) mit entsprechenden Repräsentations- formen in Selbstzeugnissen, Stiftungen, der Malerei oder auch der Archi- tektur."' Doch gerade hier wird deutlich, dass nicht allein kaufmännischer Erfolg und „bürgerliche" Tugenden als Symbol hansischer Identität de- monstriert werden, sondern vielfach auch der religiöse Bezug und die Ver- bindung mit dem Adel ein zentrales Motiv darstellt."' Der Handel der Hanse und die Städtebünde bilden besonders in den Re- gionen des südlichen Ostseeraumes einen prägenden Faktor, doch sollte an- hand des archäologischen Fundmaterials nicht vorschnell eine Gleichset- zung von Ostseeraum und „Hanseraum" erfolgen und vor dem Hintergrund des Modells einer kulturellen Neuprägung postuliert werden. Das archäolo- gische Material bietet sich an, um überregionale Vergleiche zu ziehen, Ge- meinsamkeiten und Unterschiede aufzuspüren. Da aber Funde und Befunde in ihren Fundumständen räumlich „verankert" sind, reflektieren sie zugleich Ergebnisse historischer Prozesse und Entwicklungen auf einer Ebene der 70 So beispielsweise anhand der „Maria Schnallen" und „hanttruwebatzen", vgl. Heiki Valk: A subgroup of the „Hanseatic brooches" in Estonia, in: Medieval Town (wie Anm. 4), S. 85-100; Maike Lorenzen: Der mittelalterliche Fundplatz Alt-List auf Sylt, Kr. Nordfriesland, in: Offa 55/56, 1997/98, S. 309-430, hier S. 332, Karte 6; Sven Spiong: Fibeln und Gewandnadeln des 8. bis 12. Jahrhunderts in Zentraleuropa: eine archäologische Betrachtung ausgewählter Kleidungsbestandteile als Indikatoren menschlicher Identität, Bonn 2000 (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters; Beiheft 12). 71 Mit unterschiedlichen Perspektiven Heiko Steuer: Mittelalterarchäologie und Sozialgeschichte, in: Mittelalterarchäologie in Zentraleuropa: Zum Wandel der Aufgaben und Zielsetzungen / hrsg. von Gün- ther P. Fehring und Walter Sage, Bonn 1995 (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters; Beiheft 9), S. 87-104; Matthias Untermann: Archäologie in der Stadt, in: Stadt und Archäologie / hrsg. von Bernhard Kirchgässner, Stuttgart 2000 (Stadt in der Geschichte; Bd. 26), S. 9-44, hier S. 36f. 72 Stephan Selzer und Ulf Christian Ewert: Verhandeln und Verkaufen, Vernetzen und Vertrauen: über die Netzwerkstruktur des hansischen Handels, in: Hansische Geschichtsblätter 119 (2001), S. 145ff. Franz Irsigler: Erscheinungsbild und Erfahrungswelt des hansischen Kaufmanns, in: Beiträge zur hansischen Kultur-, Verfassungs- und Schifffahrtsgeschichte / hrsg. von Nils Jörn und Horst Wernicke, Weimar 1998 (Hansische Studien 10), S. 17f. Am Beispiel von Bremen und Lübeck siehe Dietrich W. Poeck: Vrigheid do ik ju openbar. Geschichtsbilder in Hansestädten, in: Ausklang und Nachklang (wie Anm. 68), S. 45-59. 73 Thomas Brockow: Spätmittelalterliche Wand- und Deckenmalereien in Bürgerhäusern der Ostseestäd- te Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswald: ein Beitrag zur Erfassung und Auswertung von Quellen der Kunst- und Kulturgeschichte in norddeutschen Hansestädten, Hamburg 2001 (Schriftenreihe Studien zur Geschichtsforschung des Mittelalters; Bd. 14). 221 Ulrich Müller

„local level strategies". Auch wenn es vielleicht so scheint, als ob geogra- phische Räume durch die Hanse an Bedeutung verlieren und diese ein „glo- bales" Referenzsystem an Kategorien, Konzepten und Standards anbietet, so interpretieren die Menschen jedoch die „hansischen" Waren und Ideen höchst unterschiedlich. Es wäre also archäologieseitig zu prüfen, inwieweit der südliche Ostseeraum als Einheit über eine spezifische gemeinsame Le- bensweise erfahrbar und im Sinne von „mental maps" dimensioniert wird, oder ob die Binnenstruktur im Sinne von Regionalität nicht dem Einzelnen eine eher lokale Wiedererkennbarkeit bot. Befreit man sich von dem ein- engenden Begriff der „Hansekultur", so entfaltet sich im Zuge des Landes- ausbaues, der Ausbreitung des römisch-katholischen Glaubenssystems und dem Fortwirken älterer Strukturen ein komplex gestalteter urbaner Raum als Teil einer maritimen „Kulturlandschaft", den es aufgrund der archäolo- gischen Quellen in Zukunft intensiv zu erforschen gilt.74

74 Nils Blomkvist: Culture Clash or Compromise, in: Culture Clash or Compromise? The Europeanisati- on of the Baltic Sea Area 1100-1400 AD, Visby 1998 (Acta Visbyensia; Bd. 11), S. 9-36; Peter Carelli: En kapitalistisk anda: kulturella förändringar i 1100-talets Danmark, Stockholm 2001 (Lund Studies Medieval Archaeology; Bd. 26); Haithabu und die frühe Stadtentwicklung im nördlichen Europa / hrsg. von Klaus Brandt, Michael Müller-Wille und Christian Radtke, Neumünster 2002 (Schriften des Archäologischen Landesmuseums; Bd. 8).

222 Jens E. Olesen Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union Dänische Versuche zur Revindikation Estlands

Schon seit der Wikingerzeit war die ostbaltische Region Gegenstand skan- dinavischer Aufmerksamkeit. Hier wurde Handel betrieben, und über die großen Flüsse sowie den Finnischen Meerbusen gelangten die Wikinger nach Staraja Ladoga, Novgorod und Kiew bis in das im oströmischen Kaiserreich gelegene Konstantinopel. Inschriften auf schwedischen Runensteinen berich- ten über die Fahrten der Wikinger rund um das gefährliche Domesnäs bis in die Rigaer Bucht hinein. Die Skandinavier hatten Handelsbeziehungen mit Grobin (lett. Grobilja) und anderen Handelsplätzen im Baltikum.1 In der Zeit der Kreuzzüge wurde Estland zum Ziel skandinavischer und. deutscher Eroberungszüge. Bereits im Jahre 1196 waren dänische Kreuzfah- rer auf dem Weg nach Estland, aber auch der Deutsche Schwertbruderorden war aktiv. Im Jahre 1208 gab es zum ersten Mal Zusammenstöße zwischen den Deutschen und den Esten, und die Dänen unternahmen im selben Jahr einen Kriegszug in die Gegend von Fellin (estn. Viljandi). Waren die er- sten Aufeinandertreffen noch Plünderungszüge von Deutschen und Dänen, so versuchten die Deutschen doch allmählich, Landschaft für Landschaft zu erobern. Im Jahre 1209 schlossen die Deutschen einen Waffenstillstand; 1215-1217 versuchten die Esten noch einmal, die Gegner aus dem Lande zu vertreiben, aber nur mit vorübergehend Erfolg.2 Albert Dietrich, Abt des Klosters Dünamunde (lett. Daugavgriva), wurde 1211 Bischof von Estland. Seine Position wurde aber zunehmend schwieriger, als sich Novgorod und Pleskau (russ. Pskov) auf die Seite der Esten stellten. In dieser Notlage suchte er die Hilfe Dänemarks. Auf dem Reichstag (Dane- hof) in Schleswig beschlossen König Waldemar II. Sejr und der Bischof ei- nen gemeinsamen Angriff auf Estland. König Waldemar plante bereits frühel- eine Festsetzung in den baltischen Ländern, und hatte schon 1206 den Ver- such unternommen, auf der Insel Ösel (estn. Saaremaa) Fuß zu fassen.' Mit 1 Holger Arbman: Svear i Österviking, Falun 1955, S. 150; Arturas Mickevicius: Curonia in the "Eas- tern Policy" of Viking Age Scandinavia, in: The Balts and their Neighbours in the Viking Age / hrsg. v. Vytautas KazakeviZius u. Vladas Zulkus, Vilnius 1997 (Archaeologia Baltica; 2), S. 191-199, hier beson- ders S. 194; Ingrid Gustin: Mellan gäva och marknad. Handel, tillit och materiell kultur under Vikingatid, Malmö 2004 (Lund Studies in Medieval Archaeology; 34), S. 83-86. 2 Heinrichs Livländische Chronik / Heinrici Chronicon Livoniae / hrsg. v. Leonid Arbusow u. Albert Bauer, Hannover 21955 (Scriptores Rerum Germanicarum in usum scholarum ex Monumentis Germaniae Historicis separatim editi; 31), S. 3f., 6, 8-10, 12, 19-20, 61-66, 72, 115-140; Eric Christiansen: The Nort- hem Crusades: the Baltic and the Catholic Frontier, London 1980, S. 89-109. 3 Heinrichs Livländische Chronik (wie Anm. 2), S. 20, 43f., 47f., 147, 154-156; Tore Nyberg: Deutsche, dänische und schwedische Christianisierungsversuche östlich der Ostsee im Geiste des 2. und 3. Kreuz-

223 Jens E. Olesen

dem Angriff der Dänen trat die Eroberung Estlands in eine neue Phase. Im Juni 1219 landete König Waldemar an der estnischen Nordküste, ließ die Es- tenfeste Lindanise zerstören und an gleicher Stelle eine Dänenburg (davon die wörtliche estnische Übersetzung „Tallinn", dt. Reval) errichten. Aus den entscheidenden Kämpfen einige Tage später gingen die Dänen als Sieger her- vor. Sowohl Deutsche als auch Dänen beriefen dann in Estland Bischöfe. Kö- nig Waldemar erhob seinen Kaplan Wescelin zum Bischof von Reval und da- rüber hinaus noch einen Dänen zum Bischof von Wierland (estn. Virumaa). Beide unterstanden dem Erzbischof von Lund. Nachfolgend wurde die Chris- tianisierung Estlands intensiv weitergeführt." Von den folgenden Streitigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen Dänen und den Deutschen Orden soll hier nur erwähnt werden, dass diese zur Teilung Estlands führten. Die Dänen übernahmen 1238 die nördlichen Teile mit Reval, Harrien (estn. Harjumaa) und Wierland. Kirchlich war Nordest- land der Erzdiözese Lund unterstellt. Jerwen (estn. Järvamaa) hingegen ge- hörte noch zum Deutschen Orden, dies jedoch unter der Bedingung, dass dort ohne dänisches Einverständnis keine weiteren Burgen errichtet werden durf- ten.5 Der dänische König gründete auf den neugewonnenen Gebieten das Her- zogtum Estland. Es konnte in den Jahrzehnten danach auch eine gewisse Ko- lonisation stattfinden. Im Jahre 1346 verkaufte König Waldemar Atterdag das Herzogtum Estland an den Deutschen Orden, der später wiederum das Gebiet dem Livländischen Orden überließ. Der dänische König trat zwar in der Ver- kaufsurkunde alle Rechte an Estland ab, vergaß das Land aber nicht völlig. Anscheinend gab es später Pläne, Estland wieder der dänischen Krone zuzu- führen. Das dänische Interesse an Estland blieb auch nach dem Tode des Kö- nigs 1375 erhalten. Alle nachfolgenden Regenten Dänemarks im 15. und 16. Jahrhundert forderten das Hoheits- und Schutzrecht über Estland und die an- deren Territorien Livlands.6 ***

zuges, in: Die Rolle der Ritterorden in der Christianisierung und Kolonisierung des Ostseegebietes / hrsg. v. Zenon H. Nowak, Torure 1983 (Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica; 1), S. 93-114, hier S. 110f.; Kai Horby: Danmark og korstogene: momenter i pavemes og kongernes politik, in: Festskrift til Olaf Olsen pä 60-ärsdagen den 7. juni 1988, Kopenhagen 1988, S. 201-205, hier besonders S. 202f. 4 Heinrichs Livländische Chronik (wie Anm. 2), S. 147, 154-156; Lorentz Peter Fabricius: Danmarks Kirkehistorie, Bd. 1, Kobenhavn 1934, S. 256-263, hier S. 257f. 5 Wolfgang Schmidt: Die Zisterzienser im Baltikum und in Finnland, in: Finska Kyrkohistoriska Sam- fundets Ärsskrift 29-30 (1939-1940), Helsinki 1941, S. 3-286, hier besonders S. 27-30; Christiansen (wie Anm. 2), S. 107. 6 Niels Skyum-Nielsen: Estonia under Danish rule, in: Danish Medieval History. New Currents / hrsg. v. Niels Skyum-Nielsen u. Niels Lund, Copenhagen 1981, S. 112-135; Svante Jakobsson: Esternas uppror 1343, Uppsala 1989; William Mollerup: Danmarks Forhold til Lifland fra Salget af Estland til Ordenssta- tens oplosning, Kobenhavn 1880, passim.

224 Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union

Die skandinavische Politik gegenüber Estland und Livland im 15. Jahr- hundert in der Zeit der Kalmarer Union wurde von mehreren Forschem un- tersucht. Eine Reihe von beachtenswerten Beiträgen liegen unter anderen von. Historikern wie William Mollerup, William Christensen, Alexandra Skog- lund, Juhan Vasar, Gustav Lögdberg, Hain Rebas, Thomas Riis und Flem- ming Sorensen vor. Der estnisch-schwedische Historiker Hain Rebas konnte in seiner Dissertation (1976) dokumentieren, dass die Beziehungen zwischen Skandinavien und dem Baltikum im 15. Jahrhundert nicht nur politisch-militä- rischen Charakter besaßen, sondem auch kirchliche und handelsökonomische Kontakte umfassten.' In der älteren Forschung war die livländische Politik der Unionsmonarchen weitgehend aus strategischer Perspektive interpretiert wor- den. Hain Rebas betonte hingegen die Infiltrationsbemühungen der Könige und der hochadligen Familien in Dänemark und Schweden gegenüber dem Baltikum. Die wachsende Agrarproduktion des Baltikum im Spätmittelalter sowie die zentrale Lage Livlands zwischen Westeuropa und Novgorod waren entscheidende Ausgangspunkte für die neuen Forschungsergebnisse. So wur- den etwa die Gutsinteressen des schwedischen Grossmagnaten und späteren Königs Karl Knutsson und der dänischen hochadligen Familie Gyldenstjeme in Estland in den 1440er Jahren verdeutlicht, ebenso das Engagement der Fa- milie Thott in Livland (die Stamer- und Wolthusenkonflikte) und die Bemü- hungen des Reichsverwesers Sten Sture des Älteren und Borchardt Hanssons in Livland 1478-1479. Die Forschung der letzten Jahrzehnte vernachlässigte aber die Unionsper- spektive der Kalmarer Union gegenüber Estland und Livland im 15. Jahr- hundert oder schob diese teilweise in den Hintergrund.' Im folgenden soll die Politik gegenüber Estland und Livland im 15. Jahrhundert aus dem Blick- winkel der Union untersucht werden. Eine Analyse der Politik des dänischen Reichsrats im 15. Jahrhundert kann belegen, dass die Baltikumpolitik der

7 Mollerup (wie Anm. 6); William Christensen: Unionskongerne og Hansestazderne 1439-1466, Ko- benhavn 1895 (Neuaufl. 1974); Alexandra Skoglund: De yngre Axelssönernas Förbindelser med Sverige 1441-1487, Uppsala 1903; Juhan Vasar: Taani püüded Eestimaa taasvallutamiseks 1411-1422 [Dänemarks Bemühungen Estland zurückgewinnen 1411-1422], Tartu 1930 (Acta et Commentationes Universitatis Tartuensis, B Humaniora; 18:1); Hain Rebas: Infiltration och Handel. Studier i senmedeltida nordisk Bal- ticumpolitik i tiden omkring 1440-1479, Göteborg 1976 (Meddelanden frän Historiska institutionen i Gö- teborg; 11); Thomas Riis: Der polnisch-dänische Vertrag 1419 und die Vormachtstellung im Ostseegebiet, in: Studien zur Geschichte des Ostseeraumes, Bd. 1 / hrsg. v. dems., Odense 1995, S. 67-78; Flemming Sorensen: Familienwirtschaft und baltische Wirtschaft: Das Beispiel der Axelsöhne. Aspekte einer spät- mittelalterlichen Familienwirtschaft, in: ebda., S. 79-145; Hain Rebas: Die Axelsöhne (Tott) und der Nar- vahandel 1468-1478, in: Fernhandel und Handelspolitik der baltischen Länder in der Hansezeit. Beiträge zur Erforschung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Handelsbeziehungen und -wege im europäischen Rahmen / hrsg. v. Norbert Angermann u. Paul Kaegbein, Lüneburg 2001 (Schriften der Baltischen Histo- rischen Kommission; 11), S. 177-199. 8 Vgl. Jens E. Olesen: Norden og Livland i det 15. ärhundrede, in: Nordisk Tidskrift 1981, H. 6, S. 314-325.

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Unionsmonarchen gemeinsam mit führenden Reichsratsgruppierungen in Dänemark und Schweden durchgeführt wurde. Vor diesem Hintergrund war die Politik gegenüber Estland und Livlands allgemein mit den Hauptpro- blemen der Union verbunden oder wurde diesen untergeordnet. In der Re- gierungszeit Erichs von Pommern nahm der Kampf mit den holsteinischen Grafen um das Herzogtum Schleswig einen hohen Stellenwert ein. König Christoph von Bayern konzentrierte sich auf die Lösung der Gotlandfrage und das Verhältnis zu Novgorod, Christian I. verfolgte aufmerksam die Pro- bleme in Schleswig-Holstein nach 1460 und ab 1463 die Unionskrise mit Schweden. Diese Hauptprobleme versperrten insgesamt einer aktiven Balti- kumpolitik den Weg.9 Eine Verschiebung der politischen Konstellationen zum Nachteil des Deut- schen Ordens bot der skandinavischen Königsmacht am Beginn des 15. Jahr- hunderts bessere Möglichkeiten der Infiltration in Estland und Livland. Polen und Litauen waren seit 1386 in einer Personalunion vereinigt. In Nordeuropa wurde 1397 die Kalmarer Union zwischen den drei skandinavischen Ländern gegründet. In der Schlacht bei Tannenberg/Grunwald wurde der Deutsche Or- den 1410 von den polnisch-litauischen Streitkräften vernichtend geschlagen. Hier wurde die grundsätzliche Schwächung des Ordens offenbar. Es kann da- her von einem Machtvakuum gesprochen werden.'° Das skandinavische Königshaus hatte 1408/09 die Insel Gotland vom Deutschen Orden gekauft, sah aber nach der Niederlage des Ordens eine günstige Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auf Estland zu richten. Königin Margarete schien vor ihrem Tod 1412 Interesse an den alten dänischen Be- sitzungen gehabt zu haben. So fürchtete Livland 1411 einen dänischen An- griff Sowohl Königin Margarete als auch der junge Unionskönig Erich von Pommern versuchten mit diplomatischen Mitteln, Estland wieder unter die dä- nische Krone zu bringen. Nach der Niederlage des Deutschen Ordens wollte Erich die neue Situation ausnutzen, um Estland (Harrien und Wierland) wie- derzuerlangen. Der Orden versprach dem Unionskönig zuerst die Rückgabe. Später jedoch, Anfang 1414, als die dänischen Gesandten Andreas Jakobsson, Henning Königsmark und Benedikt Pogwisch auf der Marienburg konkrete Vorschläge vorlegten, antwortete der Hochmeister, er hätte nicht vermutet, dass der dänische König sein Versprechen ernstnehmen würde, noch dazu in einer für den Deutschen Orden so schweren Zeit. Zwei Jahre später (1416) äußerte der Bischof von Roskilde, Peder Jensen (Lodehat) — der die alten Reichsräte aus der Regierungszeit von Königin Margarete vertrat — der König

9 Jens E. Olesen: Rigsräd — Kongemagt — Union: studier over det danske rigsräd og den nordiske kon- gemagts politik 1434-1449, Aarhus 1980, besonders S. 288-302, 332-351; ders.: Unionskrige og Stender- samfund: bidrag til Nordens historie i Kristian I's regeringstid 1450-1481, Aarhus 1983, S. 145-170. 10 Gustaf Adolf Lögdberg: De nordiska konungama och Tyska Orden, Uppsala 1935, S. 1-7.

226 Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union solle lieber auf die Meinung des alten Rates hören und Harrien und Wierland in Estland angreifen. Für eine solche Politik habe König Erich bessere, histo- rische Argumente als für einen Konflikt mit Lübeck, so der Bischof." Der Bischof von Roskilde hatte bereits früher selbst Verhandlungen mit dem Hochmeister des Deutschen Ordens auf der Marienburg geführt. Seine Äußerungen bestätigen den Eindruck, dass sich die alten Reichsräte an die früheren Ziele dänischer Politik im Ostseeraum gebunden fühlten und der Po- litik des jungen Unionskönigs und dessen neuen Räten gegenüber Lübeck und den wendischen Hansestädten zur dieser Zeit (1416) keine Zustimmung geben wollten.12 Die Aussage des Bischofs, dass König Erich sich mit Recht gegen Estland wenden konnte, steht offenbar mit der verschärften dänischen Politik gegen Lübeck in den Jahren nach dem Tode Königin Margaretes in Zusam- menhang. Die Äußerung des Roskilder Bischofs kann aber auch so inter- pretiert werden, dass Dänemark, obwohl König Waldemar Atterdag 1346 das Herzogtum Estland mit allen Rechten an den Deutschen Orden verkauft hatte, weiterhin gewisse Rechte an dem Territorium beanspruchte. Allem Anschein nach konnte Dänemark Rechtstitel geltend machen. In der Verkaufsurkunde 1346 wurde korrekt erwähnt, dass Estland „ad regnum nostrum Dacie perti- nentem" gehörte, aber demgegenüber enthält ein früherer Entwurf der deut- schen Seite den Passus, dass König Waldemar bei diesem Vertrag auf die Hil- fe des kanonischen oder römischen Rechts verzichten sollte.13 Im Kirchenrecht existierte tatsächlich eine Bestimmung, die es einem Für- sten ermöglichte, Veräußerungen rückgängig zu machen, wenn sie ein „pre- iudicium regni" konstituierten. Als solches muss man den Verkauf Estlands bezeichnen, besonders weil das Herzogtum ursprünglich dem Königreich Dänemark (regnum Dacie) einverleibt worden war. Der Bischof — und spä- ter Erich von Pommern — konnten zur Legitimität möglicherweise auf das im Mittelalter bekannte Prinzip „Corona Regni" verweisen. Diesem Begriff nach gehörte ein Territorium für immer einem Königreich an, obgleich es durch Verkauf, Krieg oder anderen Gründen verloren gegangen war und fak- tisch nicht mehr von der Krone kontrolliert wurde.14 Als die Pläne einer fried- lichen Wiedergewinnung Estlands nicht vorankamen, trat König Erich im 11 Liv-, Est- und Curländisches Urkundenbuch / hrsg. v. Friedrich Georg von Bunge u.a., Reval 1853- 1914 (im folgenden zit. als LECUB), 1:4, Nr. 1878, 2047; Mollerup (wie Anm.6), S. 7f.; Kristian Erslev: Erik af Pommern, hans Kamp for Sonderjylland og Kalmarunionens Oplosning, Kobenhavn 1901 (Neu- aufl. 1971), S. 77; Vasar (wie Anm. 7), S. 108; Zenon H. Nowak: Wspölpraca polityczna pafistw unii Polsko-Litewskiej i unii Kalmarskiej w latach 1411-1425, Toruii 1996, S. 23f., 148. 12 Kai Horby: Tiden 1340-1648, in: Gyldendals Danmarkshistorie / hrsg. v. Aksel E. Christensen u. a., Bd. 2,1, Kobenhavn 1980, S. 152. 13 Diplomatarium Danicum 3:2 (1344-1347) / hrsg. v. Det Danske Sprog- og Litteraturselskab, Kobenha- vn 1959, Nr. 273 (Marienburg, 29. August 1346). 14 Riis (wie Anm. 7), S. 71; Corona Regni: Studien über die Krone als Symbol des Staates im späteren Mittelalter / hrsg. v. Manfred Hellmann, Darmstadt 1961 (Wege der Forschung; 3), S. 9-12.

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Jahre 1415 in Verhandlungen mit den ordensfeindlichen Mächten Polen, Litauen und seinem Vetter, dem deutsch-römischen König Sigismund. Diese Bündnisverhandlungen blieben aber erfolglos. In Dänemark richtete sich die Aufmerksamkeit König Erichs und die der Mehrheit des Reichsrates vor allem gegen Schleswig, wo sich der Krieg mit den holsteinischen Grafen mit wechselndem Erfolg abspielte.15 Estland war aber nicht in Vergessenheit geraten, und in Polen wurde mit Eifer versucht, Erich von Pommern für eine Kooperation gegen den Deut- schen Orden zu gewinnen. Lockmittel der polnischen Seite war ein Ehe- vertrag zwischen dem designierten Thronfolger König Erichs, dem Herzog Bogislaw IX. von Pommern-Wolgast, und der Prinzessin Hedwig, der Toch- ter und Erbin des polnisch-litauischen Herrschers Wladyslaw Jagiello. Die- se Heirat hätte für den Unionskönig Erich von Pommern die Gelegenheit zu einer dynastischen Vereinigung der skandinavischen Unionsreiche und Pom- mern-Stolp in Form eines Landgewinns bedeutet. Während eines Besuches in Pommern 1418 wurde über den Ehevertrag verhandelt und 1419 mit Zustim- mung der Reichsräte und Hochadliger ein Freundschaftsbündnis zwischen den drei nordischen Reichen und Polen-Litauen geschlossen, welches beson- ders gegen den Deutschen Orden und auf eine territoriale Aufteilung der Or- densgebiete gerichtet war.16 Das Traktat sollte über die Lebenszeit der beiden Könige Erich von Pommern und Wladyslaw Jagiello hinaus Gültigkeit besitzen. Aus diesem Grunde wurde nicht nur die ewige Gültigkeit unterstrichen, sondern auch auf die Gleichberechtigung der Reiche und Länder und ihrer Herrscher hingewie- sen. Unter anderem durfte keiner der Vertragspartner Feindseligkeiten gegen den Orden ohne die Einbeziehung des anderen in die militärische Planung aufnehmen oder einen Friedensschluss mit dem Orden ohne eine Einbindung des Partners einleiten. Jeder König konnte den Vertragspartner um Subsidien gegen den Orden bitten. In dem Traktat wurden die Eroberungen in drei Kategorien eingeteilt: 1. Gebiete, die früher zu Polen oder Litauen gehörten und an diese wie- der zurückkehren sollten;

15 Mollerup (wie Anm. 6), S. 9; Erslev (wie Anm. 11), S. 78; Vasar (wie Anm. 7), S. 109-111; Vilho Niitemaa: Der Kaiser und die nordische Union, Helsinki 1960, S. 134f.; Nowak: Wspölpraca (wie Anm. 11), S. 149. 16 Sverges Traktater med främmande magter, jemte andra dit hörande handlingar, Bd. 3 / hrsg. v. 0. S. Rydberg, Stockholm 1895, (im folgenden zit. als ST III), Nr. 450 a-b; Vasar (wie Anm. 7), S. 110f.; G. Carlsson: König Erich der Pommer und sein baltischer Imperialismus, in: Baltische Studien (1938), S. 1-17, hier besonders S. 11; Zenon H. Nowak: Dokument Strony Polsko-Litewskiej Traktatu Przymierza z Panstwami Unii Kalmarskiej z 1419 roku, in: Zapiski Historyczne 36 (1971), S. 423-431, Riis (wie Anm. 7), S. 70. Das Bündnis 1419 wurde nach allem Anschein von Polen nie endgültig ratifiziert, weil Erich von Pommern und die Reichsräte zögerten und sich dem Krieg um Schleswig widmeten; s. Nowak: Wspölpraca (wie Anm. 11), S. 151-153.

228 Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union

2. Gebiete, auf die ein Verbündeter (oder beide) Anspruch erheben konnte. Das Erwerbsrecht sollte dem Partner mit den stärkeren juristischen Rechten gehören; 3. Gebiete, die keiner der zwei erwähnten Kategorien angehörten. Diese wurden anscheinend als Condominium der Verbündeten aufgefasst. Preußen sollte im Falle einer Auflösung oder eines Zusammenbruchs des Deutschor- densstaates unter die erste Kategorie fallen. Livland wäre möglicherweise als Condominium zu verwalten gewesen und würde auf dieser Grundlage eine Art Zwischengebiet zwischen den Unionsreichen und Polen-Litauen bilden. Dank des stärkeren Anspruchs hätte dann wahrscheinlich Dänemark Estland zurückgewonnen. Der Besitz Nordestlands war für die Unionsreiche von Bedeutung: von hier aus konnte ein Teil des Novgoroder Handels mit russischen Produkten und Waren kontrolliert werden, besonders wenn derselbe König auch über Finnland herrschte. Die wenigen erhaltenen Quellen können in diesen Jahren über eine aktive Politik des Wiborger Schlosshauptmanns zum Schutz der In- teressen der skandinavischen Kaufleute und der Untertanen König Erichs so- wohl in Novgorod als auch auf der Neva berichten. Zweimal konnte König Erich und dessen Regierung den livländischen Städten übrigens zeigen, dass ihre wirtschaftlichen Interessen eher in einer Zusammenarbeit mit Schweden- Finnland als mit den wendischen Hansestädten gesichert werden konnten.17 Der Heiratsplan zwischen Herzog Bogislaw IX. von Pommern-Stolp, den König Erich als seinen Nachfolger betrachtete, und Hedwig, der Tochter und Erbin des polnisch-litauischen Herrschers, war der Höhepunkt der Zusam- menarbeit der Kalmarer Union und der polnisch-litauischen Union. Dieses Bündnis der beiden Unionen und der Plan der Vermählung waren an große Perspektiven gebunden. Diese beabsichtigte dynastische Verbindung sollte die mit dem Bündnistraktat von 1419 eingeleitete Zusammenarbeit erweitern und wahrscheinlich mit der Zeit zur Auflösung des Ordensstaates führen. Als Herrscher zweier Unionen würden Hedwig und Bogislaw IX. nach der Tei- lung der Ordensterritorien fast die ganze Ostseeküste kontrollieren, mit Aus- nahme der Küste zwischen Schleswig und Danzig (poln. Gdarisk).18 In den Jahren 1419-1425 war dieser Plan zweimal aktuell. Im Frühjahr 1420 wa- ren die Verhandlungen so weit fortgeschritten, dass die Heirat auf den Som- mer des gleichen Jahres festgesetzt werden konnte. Die Hochzeit fand aber aufgrund der polnischen Annäherung an Brandenburg und des kaiserlichen Drucks auf König Erich nicht statt und wurde 1425 endgültig aufgegeben. Darüber hinaus schmälerte die Geburt eines Sohnes im polnischen Herrscher-

17 Riis (wie Anm. 7), S. 71f. Zu der wichtigen Rolle des Wiborger Hauptmannes für die schwedische Ostpolitik s. Kjell Kumlien: Karl Knutssons politiska verksamhet 1434-1448, Stockholm 1933. 18 Nowak: Dokument (wie Anm. 16).

229 Jens E. Olesen haus Oktober 1424 die Position der Prinzessin Hedwig in den politischen Kal- kulationen.19 Seit der Übernahme der Regierungsmacht hatte Erich von Pommern meh- rere Schritte dieser Art zu einer Rückgewinnung Estlands unternommen. Im Jahre 1422 änderte sich aber die Politik des Unionskönigs gegenüber dem Deutschen Orden. Nach dem Bündnis mit den wendischen Hansestädten vom 6. Januar 1423 schloss er im September 1423 eine Allianz mit dem Orden. Die- se Verbindung war eine Rückversicherung gegen den Vertrag mit den Städten. Erich von Pommern isolierte die Ordensstädte und sicherte sich die Unterstüt- zung des Hochmeisters auf der Marienburg für alle seine Finanzpläne.2° Die Politik König Erichs war auf eine Isolation der holsteinischen Gra- fen im Konflikt um Schleswig gerichtet. Aus diesen Gründen musste er seine Pläne für Estland vorerst zurückstellen, aber er gab die Absicht einer Rück- gewinnung des Gebietes nicht auf In den 1430er Jahren konzentrierte sich die Aufmerksamkeit des Unionskönigs und des dänischen Reichsrats beson- ders auf die Unruhen in Schweden und auf ein Friedensabkommen 1435 mit Herzog Adolf VIII. von Schleswig. Insgesamt bedeutete dies einen weiteren Aufschub einer aktiven Estland- und Livlandpolitik des Unionskönigs.21 Ne- ben den Allianzen mit den Mächten im Ostseeraum nahm Erich von Pom- mern während seiner Regierungszeit Kontakt zu ordensfeindlichen Kreisen in Livland und auch zu Vasallen der im Bistum Dorpat (estn. Tartu) gele- genen Gebiete Harrien und Wierland auf, die eine Loslösung der Provinzen zugunsten Dänemarks anstrebten. Im September 1421 stellte König Erich das Erzbistum Riga unter seinen Schutz. Entsprechende Urkunden stellte er au- ßerdem dem Bistum Ösel und wahrscheinlich auch dem Bistum Dorpat aus. Neben dem polnisch-litauischen Bündnis von 1419 waren die Übereinkünfte mit den bedeutendsten geistlichen Würdenträgern Livlands ein Höhepunkt in der Baltikumpolitik des Unionskönigs. Aufgrund seiner Haltung im Konflikt zwischen den konkurrierenden Bischofskandidaten verlor Erich von Pom- mern aber einen großen Teil seiner Anhänger; außerdem versöhnten sich die Vasallen in Harrien und Wierland wieder mit dem Deutschen Orden.'

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Erich von Pommern geriet nach dem großen politischen Vergleich in Kalmar 1436 zunehmend in Konflikt mit dem dänischen Reichsrat. Er wollte seinen Vetter Herzog Bogislaw IX. als seinen Nachfolger durchsetzen, aber 19 Ebda.; sowie ders.: Wspölpraca (wie Anm. 11), S. 154-157; Riis (wie Anm. 7), S. 73f. 20 ST III (wie Anm. 16), Nr. 455f.; Ernst Daenell: Die Hansestädte und der Krieg um Schleswig, in: Zeit- schrift der Gesellschaft für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte 32 (1902), S. 271-450, hier S. 312f. Vasar (wie Anm. 7), S. 114-117. 21 Olesen: Rigsräd (wie Anm. 9), S. 19-38, hier S. 30f. 22 Mollerup (wie Anm. 6), S. 10f., 14; Vasar (wie Anm. 7), S. 111-114; Erslev (wie Anm. 11), S. 79f.

230 Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union ohne Erfolg. Im Frühsommer 1438 segelte er nach Gotland und richtete sich auf Schloss Visborg ein. In Dänemark wurde der Sohn seiner Schwester, Christoph von Bayern, Thronkandidat. Er kam im Sommer 1439 über Lübeck nach Däne- mark. In Einverständnis mit den wendischen Hansestädten und Herzog Adolf VIII. von Schleswig sicherte der dänische Reichsrat den Thronwechsel. Im April 1440 wurde der junge Wittelsbacher zum König von Dänemark — und in den folgenden Jahren auch von Schweden und Norwegen — gewählt. Nach der Unionskrise in den 1430er Jahren war die Kalmarer Union wieder errichtet.23 Der neue Unionskönig Christoph von Bayern (1440-1448) setzte die Infil- trationsbemühungen in Estland und Livland fort. Im Sommer 1446 stellte er eine Schutzurkunde für das Bistum Ösel aus. Aufgrund der separatistischen Strömungen und des Widerstandes gegen den Deutschen Orden in Livland in der Zeit des Baseler Konzils waren die Möglichkeit zur Einmischung für den Unionskönig gegeben. Der Erzbischof von Riga sowie der Bischof von Dorpat (König Christoph war hier ab 1442 Protektor) hegten Pläne zur Unter- stellung Livlands unter die dänische Krone. Diese verärgerten den Deutschen Orden und waren spätestens im Sommer 1446 der Grund für einen Zusatz im Kommissorium an den Oberprokurator in Rom. Durch diese Argumente sollte Papst Eugen IV. dazu bewegt werden, die Unterstellung der Bistümer Riga, Dorpat und Reval unter dem Deutschen Orden zu bestätigen.24 Der Erz- bischof von Riga und die anderen livländischen Bischöfe unterstützten jedoch das Baseler Konzil und den Gegenpapst Felix V. Auf diesem Weg konnte der Deutsche Orden also nicht viel erreichen. Auch dem Bistum Reval stell- te König Christoph von Bayern in seiner Regierungszeit eine Schutzurkun- de aus, da der dortige Bischof von jeher dem Erzbischof von Lund unterstellt war. Der junge Unionskönig nahm übrigens 1440 einen Lindwurm — das alte Symbol der Wenden oder Slaven — in seinen Wappenschild auf,25 ein prä- gnanter Hinweis auf seinen Anspruch, die Besitzungen der Dänen im Ostsee- raum Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts einschließlich Estlands zurückzugewinnen. Erich von Pommern hatte seine Interessen an Estland nicht geheim gehal- ten, sah sich aber politisch und militärisch gezwungen, dem Verhältnis zum Herzogtum Schleswig Priorität einzuräumen. Sein Nachfolger dagegen richte- te seine Aufmerksamkeit desto mehr auf die Wasserwege nach Novgorod. Er verfolgte das etwa hundert Jahre alte Programm des schwedischen König Ma- gnus Eriksson bezüglich eines Angriffs auf die Gebiete an der Neva weiter.

23 Olesen: Rigsräd (wie Anm. 9), S. 65-77 , 97-116, 117-128, 158-167. 24 LECUB (wie Anm. 11) 1:9, Nr. 863; 1:10, Nr. 237, 251; ST III (wie Anm. 16), Nr. 482. Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10) S. 77, 114; Olesen: Rigsräd (wie Anm. 9), S. 338f. 25 LECUB (wie Anm. 11), 1:11, Nr. 254; Danske Kongelige Sigiller 1085-1559 / hrsg. v. Anders Thiset, Kobenhavn 1917, S. XIII; Olesen: Rigsräd (wie Anm. 9), S. 339.

231 Jens E. Olesen

Dies sah einen gemeinsamen Kreuzzug der schwedisch-norwegischen Union, Livlands und der Hanse gegen die Republik Novgorod mit der zeitgleichen Aufnahme einer Handelsblockade vor. Gute Gründe sprechen dafür, dass die Politik König Christophs gegenüber Novgorod auf Anregung des schwe- dischen Reichsrats gestaltet wurde. Besonders der Hauptmann auf Schloss Wiborg, Karl Knutsson (König von Schweden ab 1448), war Anhänger einer solchen aktiven Politik und unternahm in diesen Jahren Plünderungszüge auf russischen Boden. Im Jahre 1444 reagierte König Christoph positiv auf ein Ersuchen des livländischen Ordensmeisters nach einer Handelsblockade ge- gen Novgorod und erklärte, dass er — falls notwendig — Karl Knutsson einen Friedensschluss mit den Russen verbieten werde.' Als Hauptmann auf Schloss Wiborg in Finnland von 1442 bis 1448 be- mühte sich Karl Knutsson, die Stadt Wiborg als eine Alternative zum Hanse- Stapel in Novgorod und Reval in Estland durchzusetzen. Es ist anzunehmen, dass Karls Knutsson und König Christoph ihre Politik aufeinander abge- stimmt hatten, denn König Christoph richtete seine Aufmerksamkeit weiter- hin auf die Neva. Im Jahre 1446 fanden zwischen dem König und dem liv- ländischen Ordensmeister Bündnisverhandlungen statt. Laut Vertragsentwurf sollten die Unionsreiche 1447 Novgorod am Ladoga-See und an der Neva an- greifen. Der Livländische Orden sollte dann auf deren Seite gegen die Neva und auf Kopor'e marschieren. Beide Mächte strebten nach der Kontrol- le über die Land- und Seeverbindungen Novgorods zur Ostsee.27 Die Auf- merksamkeit des jungen Unionskönigs auf Livland wurde vor allem von Karl Knutsson in Finnland und der hochadligen dänischen Familie Gyl- denstj eme aufgrund der in Estland liegenden sogenannten Hagenschen Gü- ter Erras (estn. Erra) und Amma unterstützt. Die Livlandpolitik stand außer- dem in Verbindung zum Gotlandproblem. Auf diese Insel hatte sich Erich von Pommern seit seiner Abreise aus Dänemark 1438 zurückgezogen. Die Unionsreiche versuchten gewissermaßen das Problem des alten Königs zu be- reinigen sowie eine Beendigung seiner Übergriffe auf hansische und skandi- navische Handelsschiffe zu erzwingen. Vor diesem Hintergrund bedeuteten die Verhandlungen des Unionskönigs mit dem livländischen Ordensmeister bessere Möglichkeiten einer Isolierung des Exkönigs. Es ist anzumerken, dass sich König Christoph 1444 einige Monate vor den Verhandlungen mit Erich von Pommern bereits wohlwollend gegenüber einer Bitte des Ordensmeisters um Hilfe gegen Novgorod gezeigt hatte. Als es im Sommer 1446 auf Got- land zu konkreten Verhandlungen zwischen den beiden Königen kam, wa-

26 Kumlien (wie Anm. 17), S. 225-228; Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 59f.; Olesen: Rigsräd (wie Anm. 9), S. 298-300. 27 LECUB (wie Anm. 11), I:10 Nr. 290; Rebas (wie Anm. 7), S. 29f., 50f.; Olesen: Rigsräd (wie Alen. 9), S. 299f., 342f.

232 Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union ren auch Repräsentanten des Ordensmeisters bei König Christoph zugegen. Später überließ der Unionskönig ihnen eine für den Hochmeister angefertigte Kopie des Vertrages mit Erich von Pommern. Da die Bündnisverhandlungen mit dem Livländischen Orden noch nicht abgeschlossen waren, hatten Kö- nig Christoph und die Reichsräte der skandinavischen Reiche bereits ihre Po- sition gegen den Exkönig und den Deutschen Orden gesichert. Gotland- und Baltikumpolitik waren auf diese Weise deutlich miteinander verbunden.' König Christoph gab 1447 weiterhin der Gotlandfrage Priorität. Ein an den Hochmeister gerichteter Vorschlag, Erich von Pommern solle Gotland gegen einen hohen Pfandbetrag dem Orden überlassen, war von skandinavischer Seite aus hauptsächlich politisch-taktisch gemeint. Der Plan zielte darauf, den Orden zu beschäftigen, während König Christoph und die Unionsreiche Vor- bereitungen zur Lösung der Gotlandfrage treffen konnten.29 Trotz der Bünd- nisverhandlungen zwischen Christoph von Bayern und dem Ordensmeistel- ist es nicht sicher, ob dieses Bündnis durch ein Traktat bestätigt wurde. Ge- gen ein Bündnis spricht, dass der Hochmeister dieses später nie erwähnte, und dass Karl Knutsson in Wiborg am Jahresende 1447 gebeten wurde, einen Frie- den zwischen dem Orden und Novgorod zu vermitteln. König Christoph und die drei Reiche sicherten sich auf diese Weise ein freundschaftliches Verhält- nis zum Hochmeister und dem Deutschen Orden. Bei der Nichtrealisierung des Bündnisses mit dem Livländischen Orden waren die Skandinavier aber frei von Verpflichtungen und Militärhilfe. Der Deutsche Orden wäre aber im Kampf gegen Novgorod gebunden gewesen, während Christoph von Bayern freie Hand in seiner Politik gegenüber Erich von Pommern und Livland be- kommen hätte. Der frühe und unerwartete Tod des Unionskönigs Christoph von Bayern Anfang Januar 1448 verhinderte aber die geplante Realisierung einer aktiven nordischen Gotland- und Baltikumpolitik.3°

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Das Interregnum in den skandinavischen Reichen in der ersten Hälfte des Jahres 1448 trug dazu bei, die früheren Pläne gegenüber Estland und Liv- land ruhen zu lassen. Die doppelte Königswahl, wonach Dänemark (und spä- ter Norwegen) Christian I. von Oldenburg und Schweden den Großmagnaten Karl VIII. Knutsson (Bonde) jeweils zum König wählten, bedeutete Rivali- tät und Kampf um Gotland und Norwegen. Schon im Sommer 1448 entsand-

28 Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 122-126; Rebas (wie Anm. 7), S. 52-62; Olesen: Rigsräd (wie Anm. 9), S. 288-302, 332-351. 29 Olesen: Rigsräd (wie Anm. 9), S. 354-356, 367-374. 30 LECUB (wie Anm. 11), 1:11, Nr. 384; Kumlien (wie Anm. 17), S. 239f.; Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 126; Olesen: Rigsräd (wie Anm. 9), S. 344f.

233 Jens E. Olesen te Karl Knutsson eine Armee nach Gotland. Am Jahresende wurde Erich von Pommern auf Schloss Wisborg belagert. Die Auseinandersetzungen zwischen Dänen und Schweden um Gotland sollen hier nicht weiter ausgeführt werden. Nach Verhandlungen 1449 und großzügigen dänischen finanziellen Verspre- chungen überließ der alte König das Schloss Wisborg Christian I. und den Dä- nen.31 Der Übergang Gotlands in dänische Hand trug dazu bei, erneut die Auf- merksamkeit der beiden Könige in Richtung Estland und Livland zu wecken. Die politisch-strategische Perspektive drängte den Handel und die ökono- mischen Interessen gewissermaßen in den Hintergrund. Es galt zu verhindern, dass der jeweilige Gegner Machtpositionen in Livland gewinnen konnte. In den folgenden Jahren waren beide Könige bestrebt, in Estland und Liv- land ordensfeindliche Elemente aufzumuntern und zu gewinnen. Beide Könige, Christian I. und Karl Knutsson, setzten die Ostpolitik des Unionskönigs Chri- stoph von Bayern fort. In der Zeit der Konzilienbewegung unterstützten die Kö- nige die Bischofskandidaten der Bistümer Ösel, Dorpat, Reval und Kurland. Im Jahre 1451 versuchte König Christian I. von Dänemark, seinen jüngeren Bru- der Mouritz in das Amt des Bischofs von Dorpat zu hieven, aber ohne Erfolg.32 Die nordische Unterstützung für die Bischofskandidaten war aber rein diplo- matisch. Ab der ersten Hälfte der 1450er Jahre nahm die Unterstützung des Bi- schofskandidaten in Reval und auf Ösel planmäßige und konsequentere Formen an. Begründet wurde dies allgemein mit der ursprünglich nordischen Gründung dieser kirchlichen Organisationen. Darauf basierte das historische und legitime Recht der nordischen Könige, die bedrängten Domkapitel zu unterstützen. Karl Knutsson von Schweden hatte bis 1450 den größten Erfolg. Der König ver- suchte schließlich, seinen Repräsentanten in Rom, Birger Mänsson, als Koadju- tor für den Bischof in Dorpat bestätigen zu lassen?' Karl Knutsson bemühte sich 1449 um ein Bündnis mit dem Deutschen Or- den. In den Verhandlungen mit dem Hochmeister erklärten seine Repräsen- tanten, die Dänen hatten während der Verhandlungen im Sommer desselben Jahres auf Gotland Pläne zum Krieg gegen den Livländischen Orden und zur Wiedereroberung Harriens und Wierlands offenbart und deshalb schwedische Unterstützung gebeten. Diese Aussagen waren aber tendenziös; der Hochmei- ster seinerseits zeigte sich nicht an einem Bündnis interessiert, auch weil der schwedische König estnische Güter beanspruchte und Beziehungen zu or- densfeindlichen Gruppen unterhielt. Im Endeffekt versuchte Karl Knutsson sich den preußischen Städten anzunähern.34 Der dänische König Christian I. 31 Olesen: Rigsräd (wie Anm. 9), S. 379-425; ders.: Unionskrige (wie Anm. 9), S. 4-9, besonders S. 5f. 32 LECUB (wie Anm. 11), I: 11, Nr. 105, 254; Mollerup (wie Anm. 6), S. 15E; Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 211-216, besonders S. 212f.; siehe auch Gustaf Adolf Lögdberg: Die ostbaltische Politik der nordischen Könige um 1450, in: Conventus Primus Historicorum Balticorum 1937, Riga 1938, S. 321-330. 33 Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 207-210. 34 LECUB (wie Anm. 11), I:10, Nr. 655f.; Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 182f., 232-242, 243-

234 Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union dagegen entschied sich ab 1454 für den Hochmeister in dessen Streit mit den preußischen Städten und intensivierte seine Aktionen gegen Preußen und Liv- land. Der König trat u. a. feindlich gegen Danzig auf und schloss am Jahresen- de mit dem Hochmeister 1454 ein Präliminartraktat über bezahlte militärische Unterstützung des Ordens. Allem Anschein nach erhielt der dänische König außerdem die Genehmigung zur Besetzung einiger livländischer Ordensfes- tungen. Die Vertragsumsetzung scheiterte aber an der latenten Geldknappheit des Deutschen Ordens. Zu Jahresbeginn 1455 wurde der livländische Ordens- meister vom brandenburgischen Markgrafen und den Ordensrepräsentanten beim Hochmeister auf der Marienburg zur finanziellen Unterstützung des Or- dens und seiner Einwilligung zur Besetzung einiger livländischen Schlösser durch Christian I. aufgefordert. Letztes widersprach aber strikt den Interessen des Livländischen Ordens, denn eine dänische Besetzung Revals oder auch einer anderen Festung in Estland hätten Ausgangspunkt für Operationen ge- gen Schweden und auch für Angriffe auf Estland werden können. Karl Knuts- son besaß einen klaren Blick für diese Situation, und versuchte Reval sowie den Ordensmeister von einem Bündnis mit König Christian abzuhalten.35 König Christian I. seinerseits entsandte im Sommer 1455 eine Flotte mit 1400 Mann in die livländischen Gewässer. Das Hauptziel war die Kontrolle und die Unterbindung des Warenverkehrs mit Schweden; gleichzeitig sollte die Flotte den Orden aber von den konkreten Vorteilen eines Bündnisses über- zeugen. Ohne Frage war die Ordenspolitik König Christians im Jahre 1455 an die Priorität des Unionskonfliktes gekoppelt. Solange seine Ressourcen in dem Kampf mit Schweden gebunden waren, hatte er nicht die Absicht, dem Deutschen Orden größere Unterstützung gegen Polen und die preußischen Städte zu geben. Auch nach der Bestätigung des endgültigen Vertrages ver- suchte König Christian, die Erfüllung seiner Versprechungen zu vermeiden." Es kann vor diesem Hintergrund ausgeschlossen werden, dass Christian I. im Frühjahr und Sommer 1455 ernsthaft die Entsendung einer Hilfsflotte nach Preußen plante. Das Bündnis war zu diesem Zeitpunkt noch nicht Realität. Der König musste weiterhin mit einem Scheitern seiner Bündnispläne rech- nen. Folglich konnte er keinen Bruch mit den Gegnern des Ordens — Polen und den preußischen Ständen — riskieren, bevor er das Bündnis mit dem Deut- schen Orden geschlossen hatte. Seine Kriegserklärung an Polen vom 1. Juni 1455 wurde erst im Herbst 1455 freigegeben." Im Oktober 1455 schloss Kö-

258, besonders S. 254f; Olesen: Rigsräd (wie Anm. 9), S. 412f. 35 LECUB (wie Anm. 11), I:11, Nr. 354, 375, 391, 402, 412, 421; Mollerup (wie Anm. 6), S.18f.; Chri- stensen (wie Anm. 7), S. 248f., 287; Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 249f., 265, 269f.; Niitemaa (wie Anm. 15), S. 231f. 36 Olesen: Unionskrige (wie Anm. 9), S. 71-86, besonders S. 74, 81f. 37 LECUB (wie Anm. 11), I:11, Nr. 422, 425, 427, 455, 468; Hanserecesse, Abt. 2, Bd.4, / hrsg. v. Goswin von der Ropp, Leipzig 1883, S. 245, Anm. 4; Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15.

235 Jens E. Olesen nig Christian mit dem Deutschen Orden einen Vertrag über Militärhilfe ge- gen den Preußischen Bund, der von dem früheren Vertrag abwich. Es ging nicht mehr um die Aushändigung livländischer Schlösser oder Gebiete an den König, und die Zahlungen zur militärischen Unterstützung des Ordens wur- den auf weniger als ein Viertel gekürzt. Auf der anderen Seite waren die For- mulierungen bezüglich der Unterstützung, die Christian I. leisten sollte, sehr allgemein gehalten. Umfang und andere Details der Militärhilfe wurden aber nicht festgelegt. Das Bündnis brachte dem Orden auch keinen größeren Vor- teil, und der dänische König gab weiterhin dem Verhältnis zu Schweden deut- liche Priorität. Es muss aber angenommen werden, dass der König — wenn ei- nähere Verbindungen mit dem Orden anstrebte — dann in Livland Fuß fas- sen wollte, denn die Burgen und Gebiete dort hätten auch eine Bedeutung im Kampf gegen Schweden gehabt. König Christian behauptete weiterhin das Patronatsrecht der dänischen Könige gegenüber Reval und nahm im Sommer 1456 den Titel „Dux Estoniae", Herzog zu Estland, in seine königliche Titu- latur auf Mit diesem Schritt unterstrich der dänisch-norwegische König seine Ansprüche auf Estland, um damit auch Zugeständnisse vom Livländischen Orden zu erhalten." Nach der Vertreibung Karl Knutssons aus Schweden am Beginn des Jah- res 1457 wurde Christian I. im Sommer desselben Jahres zum neuen schwe- dischen König gewählt. Die Union zwischen den drei nordischen Staa- ten war somit wiederhergestellt. Christians Wahl bedeutete aber auch neue Möglichkeiten für den Deutschen Orden, Hilfe vom Unionskönig zu bekom- men. Die Hoffnungen gründeten darin, dass die Streitkräfte des Königs nicht mehr in den Kampf gegen Schweden eingebunden waren und dass das Inte- resse Christians an einem Eingreifen in Preußen vor dem Hintergrund einer Zuflucht Karl Knutssons in Danzig und den von Putzig (poln. Puck) aus be- gonnenen Angriffe auf dänische und schwedische Schiffe wahrscheinlich zu- nehmen würde." Im Sommer 1457 trafen Repräsentanten des Livländischen Ordens in Stockholm ein, um mit dem König und seinen Reichsräten in Ver- handlungen zu treten. Im Gegenzug für die militärische Hilfe forderte der Kö- nig, der Livländische Orden solle sich unter seinen Schutz stellen. Die Re- präsentanten lehnten diese Forderung ab. Es kam allein zu einem vorläufigen Bündnisabkommen. Das Hauptziel des Königs war ein Bündnis, welches den Einfluss in Livland fördern sollte. Er erhoffte auf nichts weniger als die Ober- hoheit über den Livländischen Orden.

Jahrhundert, Bd. 2 / hrsg. v. Erich Weise, Marburg 1955, Nr. 315; Mollerup (wie Anm. 6), S. 20; Christen- sen (wie Anm. 7), S. 288-290; Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 270-284, besonders S. 277, 280. 38 LECUB (wie Anm. 11), I:11, Nr. 460, 598; Christensen (wie Anm. 7), S. 290f.; Lögdberg: Nordiska (wie Alen. 10), S. 250, 282-284, 289-294; Olesen: Unionskrige (wie Anm. 9), S. 74-83, besonders S. 82f. 39 Hanserecesse 2:4 ( wie Anm. 37), Nr. 526; Olesen: Unionskrige (wie Anm. 9), S. 87-111, 145-162.

236 Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union

Ein weiteres Motiv Christians I. für das Erreichen einer Verbindung mit dem Livländischen Orden waren seine Bemühungen, die Union der drei nor- dischen Reiche für seinen Nachfolger zu sichern. In den Verhandlungen äu- ßerte er den Wunsch nach einem Bündnisbestand für seine Regierungszeit und die Lebenszeit seiner Kinder. Selbst wenn die Dänen und Schweden nach seinem Tod einen anderen König wählen wollten, sollten sie im Hinblick auf Livland doch gezwungen sein, einen seiner Söhne zu wählen. Durch das In- teresse Dänemarks und Schwedens an Estland wollte Christian I. die Reiche an einen gemeinsamen künftigen König binden und so eine Wiederholung der doppelten Königswahl im Jahre 1448 vermeiden.40 In den Verhandlungen mit den Ordensrepräsentanten kam König Christian mit einer neuen Forderung in Verbindung mit der zugesagten militärischen Hilfe. Er forderte, dass Memel (lit. KlaipMa), das bisher vom Deutschen Orden verwaltet wurde, ihm bis Ende des Krieges übergeben werden sollte. Der dänische König plante, sei- nen Bruder Mouritz als Hauptmann auf dem Schloss einzusetzen.' Die Verhandlungen in Stockholm zeigten, dass es für König Christian I. wichtig war, in Verbindung mit dem Livländischen Orden zu treten. Der Wunsch, Einfluss im Baltikum zu gewinnen, die Vorsicht vor dem vertrie- benen Karl Knutsson in Putzig und die Wiedererrichtung der Kalmarer Uni- on prägten die Bemühungen Christians I. Er hoffte außerdem, verhindern zu können, dass der polnische König in Besitz des östlichen Ostseeraums kam, denn das hätte die traditionellen nordischen Interessensphären im Baltikum bedroht. Die Forderung König Christians nach Übernahme des Schlosses Memel sowie sein Wunsch nach einem Bündnis zwischen ihm und dem Or- den, das auch für seine Erben gelten sollte, sind Belege für das Interesse des Unionskönigs am Baltikum. Eine Übernahme Memels sollte dem König au- ßerdem einen möglichen Anteil im Handel zwischen Ost- und Westeuropa verschaffen. Es ist nicht verwunderlich, dass der livländische Ordensmeister den Be- strebungen König Christians I. entgegensteuerte. Er versuchte, die Land- schaften Harrien und Wierland stärker an den Livländischen Orden zu bin- den. Er bestätigte die Privilegien der Ritterschaft und setzte für die Zukunft die Erhebung neuer Abgaben und Steuern aus., Gegenüber dem Hochmeister betonte der Ordensmeister die Gefahr, die entstünde, wenn Preußen für den Orden verloren gehen sollte oder Harrien und Wierland nicht gehorsam beim Orden bleiben, sondern zu Dänemark und Schweden, die diese estnischen Territorien ständig besitzen wollten, übergehen würden. Unter Hinweis auf

40 LECUB (wie Anm. 11), I:11, Nr. 630; Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 307-314, 316-322, be- sonders S. 317f. 41 LECUB (wie Anm. 11), I:11, Nr. 630, S. 499-501; Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10 ), S. 310f., 318; Olesen: Unionskrige (wie Anm. 9), S. 149f.

237 Jens E. Olesen die Unterstützung des Deutschen Ordens durch den Livländischen Orden er- suchte der Ordensmeister den Hochmeister, seine Oberhoheit über Harrien und Wierland abzutreten. Dies geschah aber erst im Jahre 1459.42 Trotz der Ablehnung der Forderungen König Christians I. nach Oberhoheit und einem langjährigen Bündnis wurde im Oktober 1457 ein solches dennoch abge- schlossen. Gegen die jährliche Zahlung eines Betrages über einen Gesamt- zeitraum von 15 Jahren sollte König Christian den Livländischen Orden mi- litärisch unterstützen. Es war nicht mehr die Rede von einer Oberhoheit und der Übernahme Memels, und König Christian I. legte den Titel „dux Estoni- ae" ab.43 Die Nachgiebigkeit des nordischen Unionskönigs ist nicht ganz er- klärlich. Es wird angenommen, dass die Besitznahme Schwedens sein Inte- resse an Estland geschwächt hat und er darüber hinaus ein Bündnis zwischen Karl Knutsson und dem Livländischen Orden fürchtete. Vergessen werden darf aber auch nicht der Einfluss der nordischen Reichsräte. In den Verhand- lungen mit den Repräsentanten des Ordens im Sommer 1457 war die Stim- mung vehement gegen ein Engagement im östlichen Ostseeraum gewesen. Die Reichsräte vertraten die Auffassung, dass König Christian I. bei einer Übernahme Memels durch Graf Mouritz immer gezwungen sei, diesen mili- tärisch zu unterstützen. Die Reichsräte mussten aber dann dem Unionskönig folgen, obwohl die Mehrheit dazu eigentlich nicht bereit war.44 Die mit dem Bündnisvertrag von 1457 gemachten Zugeständnisse be- deuteten seitens König Christians I. aber keinen Verzicht auf eine zukünf- tige Einmischung in livländische Angelegenheiten. Ende Oktober 1457 er- warb er von einem Vasallen des Ordens zwei wichtige Güterkomplexe in Harrien und Wierland. Bereits zwei Jahre später — nach einem Waffenstill- standsvertrag mit Danzig und Polen — verkaufte er aber diese Güter wieder. Einige Zeit später bestand Christian I. auf dem Patronatsrecht der dänischen Könige über das Bistum Ösel und verteidigte den vom Domkapitel gewähl- ten Bischof Johannes Vattelkanne gegen den Kandidaten des Ordens. Eini- ge an den Papst gerichtete Briefe Christians I. behandeln diesen Streit. Nach dem Jahreswechsel 1462 äußerte der Ordensmeister gegenüber dem Hoch- meister seine Angst, König Christian I. könnte Livland angreifen und Jo- hannes Vattelkanne mit Gewalt zum Bischofsamt verhelfen. Dieser wurde aber später vertrieben, ohne dass er königlichen Beistand erhielt.45

42 LECUB (wie Anm. 11), I:11, S. 518f., 521; Mollerup (wie Anm. 6), S. 25; Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 315f. 43 LECUB (wie Anm. 11), I:11, Nr. 701f.; Mollerup (wie Anm. 6), S 26; Lögdberg: Nordiska (wie Anm. 10), S. 321f., Olesen: Unionskrige (wie Anm. 9), S. 152. 44 LECUB (wie Anm. 11), I:11, Nr. 630, S. 499; Mollerup (wie Anm. 6), S. 2f.; Rebas (wie Anm. 7), S. 49; Olesen: Unionskrige (wie Anm. 9), S. 149, 152f. 45 LECUB (wie Anm. 11), I:11, Nr. 703, 808, 839; I:12, Nr. 95, 102, 111, 126, 172f., 223; Urkundenbuch der Stadt Lübeck, Bd. 9, Lübeck 1893, Nr. 634; Scriptores Rerum Danicarum, Bd. 8 / hrsg. v. Jacob Lan-

238 Nordosteuropa in der Zeit der Kalmarer Union

König Christian I. reagierte nach dem Jahre 1462 nur noch vereinzelt auf Er- eignisse in Estland und Livland. Seine abgeschwächte Politik gegenüber dem Baltikum in den 1460er Jahren hatte mehrere Ursachen, vor allem war sie zu- rückzuführen auf seine schlechte finanzielle Lage nach der Wahl zum Landes- herrn von Schleswig und Holstein 1460, seine Einmischung in die europäische Politik sowie die gefährliche Opposition in Schweden ab 1463, die über Jahre seine Aufmerksamkeit forderte und im Oktober 1471 in der eklatanten militä- rischen Niederlage auf dem Brunkeberg vor den Toren Stockholms gegen die Truppen des Reichsvorstehers Sten Sture der Älteren endete.46

*** Insgesamt kann die Politik der nordischen Könige gegenüber Estland und Livland im 15. Jahrhundert nur geringe Resultate aufweisen. In den Jahren nach der Schlacht von Tannenberg 1410 arbeitete Erich von Pommern auf eine Wiedererlangung Estlands hin. Diese Politik erreichte im Bündnis 1419 mit Polen-Litauen einen vorläufigen Höhepunkt. Die nordische Livlandpoli- tik, die zwischen 1419 bis 1425 nicht ohne Erfolg blieb, muss als eine teil- weise Verwirklichung dieser ambitiösen Allianzpläne gesehen werden. Dem Unionskönig gelang es, in Estland und Livland Einfluss zu gewinnen. Han- delspolitisch versuchte man die livländischen Städten zu überzeugen, dass ihre Interessen im Russlandhandel würden am besten durch die Zusammen- arbeit mit der nordischen Union gefördert würden. Erich von Pommerns lang- jähriger Kampf um das Herzogtum Schleswig hinderte ihn aber, sich auf die estnisch-livländische Politik zu konzentrieren. Für den Unionskönig erwies sich die Verknüpfung zwischen Estland/Livland, Schleswig und der polnische Heiratsplan insgesamt als verhängnisvoll. Die Krise der Kalmarer Union in den 1430er Jahren nach dem schwe- dischen Bauernaufstand 1434 unter Führung von Engelbrecht Engelbrechts- son sowie die ungelösten Probleme in der Regierungszeit Christophs von Bayern in den 1440er Jahren bezüglich Gotlands und Erichs von Pommern standen einer aktiven Politik im Baltikum zusätzlich im Wege. In Schweden war die Aufmerksamkeit in der Regierungszeit Christophs von Bayern beson- ders auf die Neva und Novgorod gerichtet, aber der frühe Tod des Unionskö- nigs im Jahre 1448 verhinderte eine Realisierung dieser Pläne. Erst Ende der

gebek, Kobenhavn 1834, S. 396-400, 410-413; Mollerup (wie Anm. 6), S. 27; Rebas (wie Anm. 7), S. 36, 38, 42-44; Olesen: Unionskrige (wie Anm. 9), S. 153 46 Erik Arup: Den financielle side af erhvervelsen af hertugdommerne 1460-1487, in: Dansk Historisk Tidsskrift 7 (1902-1904), H. 4, S. 317-388, 399-489; Erik Lönnroth: Slaget paa Brunkeberg och dess för- historia, in: Scandia 9 (1938), S. 159-213; Samuel Kraft: Sveriges Historia till vära dagar, Teil 3: Senare Medeltiden, Bd. 2, Stockholm 1944, S. 74ff.; Niitemaa (wie Anm. 15), S. 230f.; Rebas (wie Anm. 7), S. 45f.; Olesen: Unionskrige (wie Anm. 9), S. 154.

239 Jens E. Olesen

1470er Jahre kam es in Schweden unter dem Reichsvorsteher Sten Sture dem Älteren zur Wiederaufnahme dieser Politik. Die doppelte Königswahl in Skandinavien im Sommer 1448 und die da- rauf folgenden Unionskriege lenkten erneut die Aufmerksamkeit auf Est- land und Livland. Sowohl Christian I. von Dänemark-Norwegen als auch der schwedische König Karl Knutsson kämpften in den 1450er Jahren um eine Stärkung ihrer Machtpositionen, aber ohne dauerhafte Resultate. Der dä- nische König verhandelte mehrmals mit dem Livländischen Orden, versuchte ohne Erfolg, Memel und andere Burgen als Stützpunkte zu gewinnen und die Anerkennung seiner Oberhoheit durch den Orden zu erreichen. Die Durchset- zung dieser Politik gelang ihm nicht, auch weil die Mehrheit der Reichsräte dagegen war. Auch seine Wahl zum Landesherrn von Schleswig und Holstein 1460 und die Unionskrise von 1463 standen einer aktiven Politik gegenüber Estland und Livland im Wege. Obwohl die Hauptprobleme in Skandinavien im 15. Jahrhundert innerhalb der Kalmarer Union lagen — vor allem das Bemühen Erichs von Pommern zur Sicherung des Herzogtums Schleswig für Dänemark, die Gotland-Frage in den 1440er Jahren und ab 1463 die Unionskrise sind hier zu nennen —, so muss betont werden, dass die Aufmerksamkeit der nordischen Unionskönige und Regenten doch stets auch auf Estland und den bedeutenden Wasserwege nach Nowgorod lag. In den Jahren nach 1410 versuchte der Unionskönig Erich von Pommern nicht nur Estland zurückzugewinnen, sondern auch über sei- nen Hauptmann auf dem finnischen Schloss Wiborg die Unionsinteressen im Russlandhandel zu stärken. Auch sein Nachfolger, der Unionskönig Christoph von Bayern, konzentrierte sich in den 1440er Jahren auf Narwa. Gleiches hat- te bereits der schwedische König etwa hundert Jahre früher getan. Sowohl Kö- nig Christian I. von Dänemark-Norwegen als auch König Karl VIII. Knutsson (Bonde) von Schweden verfolgten nach 1448 im Baltikum und Estland tradi- tionell nordische Interessen und versuchten den Aufbau eigener Positionen. Aber auch die adligen Axelsöhne engagierten sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Narwa- und Fernhandel. Anhand der dänischen und schwedischen Interessen an Narwa im 13. und 14. Jahrhundert, der späteren schwedischen Kontrolle über die Stadt Reval 1561, des Kaufs der Insel Ösel sowie kleinerer Küstengebiete einige Jahre zu- vor durch Dänemark lassen sich die nordischen Infiltrationsbemühungen in Estland und Livland im Laufe des 15. Jahrhunderts als wichtige Phasen eines Jahrhunderte währenden Grundmusters zwischen Skandinavien und dem Bal- tikum einordnen. Das nordische — speziell auf Estland und das Narwa-Ge- biet gerichtete — Interesse bildet ein wichtiges Profil des Mittelalters und der Frühneuzeit in der Ostseeregion und muss als eine Konstante in der Geschich- te Dänemarks und Schwedens betrachtet werden.

240 Tiit Rosenberg Zur Raumkonstitution in den Briefen eines liv- ländischen Magnaten Ende des 18. Jahrhunderts

Der Aufsatz befasst sich mit zwei Briefkonzeptbüchern von Carl von Liphart (1719-1792), einem Besitzer mehrerer Rittergüter in Livland, aus den Jahren 1783-1784 und 1785-1787. Das erstgenannte Buch stammt aus dem Bestand des Gutes Rojel (estn. Roela) im Estnischen Historischen Ar- chiv und umfasst 63 Briefe an 22 Adressaten, die im Laufe von vier Mona- ten abgeschickt wurden.' Das zweite Buch, das aus dem Gut Ratshof (estn. Raadi) nach Übergabe an das Estnische Nationalmuseum in das Estnische Kulturhistorische Archiv gelangt ist, enthält 160 Briefe an 26 Adressaten, die im Laufe von genau zwei Jahren abgeschickt wurden.2 Dem Inhalt nach handelt es sich fast ausschließlich um Geschäftskorrespondenz. Carl von Liphart war einer der reichsten Gutsbesitzer in Livland und im ganzen Baltikum. Das Adelsgeschlecht von Liphart stammte von einem wohlhabenden Bürgergeschlecht aus Reval ab, das seit Ende des 16. Jahr- hunderts dort ansässig gewesen war.3 Aufgrund seiner Universitätsausbil- dung in Rostock wurde Johan Liphart, Sohn des Ältesten der Revaler Ka- nutigilde, 1630 in Pernau zum Hofmeister des jungen Grafen Thurn. Später wurde dem Hofmeister gegen Pfandvertrag das zur Grafschaft gehörende Gut Sodava (später Wölla, estn. Völla) zur Verfügung gestellt. Mitte des 17. Jahrhunderts war der zum Landgerichtsassessor aufgestiegene Johan Liphart schon Erbbesitzer von Wölla. Seine Nachfolger waren als Justiz- beamte und Offiziere im schwedischen Dienst 1688 in Stockholm geadelt worden, und im Jahre 1742, als die Adelsmatrikel von Livland eingeführt wurde, dort als Geschlecht Nummer 106 eingetragen. Bereits vor der schwe- dischen Güterreduktion waren die Lipharts Verwalter bzw. Arrendebesitzer mehrerer Gutshöfe, von denen sich einige als besonders ertragreich erwie- sen. Diese gehörten den Grafen von Oxenstierna in Livland,4 als deren Ver- trauensmänner die Lipharts genügend Vermögen akkumulieren konnten, um bald selbst in Besitz von mehreren Gütern zu kommen.5

1 Eesti Ajalooarhiiv [Historisches Archiv Estlands] (im folgenden: EAA), f. 1811, n. 1, s. 16, Bl. 1-36. 2 Eesti Kirjandusmuuseumi Eesti Kultuurilooline Arhiiv [Literarisches Museum Estlands, Estnisches Kulturhistorisches Archiv] (im folgenden: KM EKLA), f. 21, s. 148, Bl. 1-77. 3 Genealogisches Handbuch der baltischen Ritterschaften (im folgenden: GHbR): Teil Livland, Bd. II., Lieferung 9, Görlitz o.J., S. 674-685: Liphart (bearb. von Friedrich v. Stackelberg). 4 Edgars Dundorfs: The Livonian Estates of Axel Oxenstierna, Stockholm 1981, S. 178, 188. 5 Latvijas Valsts Nestures Arhivs [Historisches Archiv Lettlands] (im folgenden zitiert als: LVVA), f. 109, a. 2,1. 2083. 241 Tiit Rosenberg

Trotz des Verlustes von Wölla — das Gut wurde auch seitens der rus- sischen Regierung nicht restituiert — begann gerade in der Nachkriegszeit der schnelle Aufstieg der Lipharts als livländische Gutsbesitzer. Den Grund dazu hat Friedrich Wilhelm von Liphart (1688-1750) gelegt, der — wie auch sein Vater Oberst Johann Friedrich von Liphart (1655-1723) — in seiner Ju- gend im Militärdienst gewesen war (1710 schwedischer Kapitän), dann aber Gutsbesitzer wurde. Er begann als Pächter des Domänenhofs Laitzen (estn. Laitsna) im Kreis Walk (estn. Valga), kaufte aber im Jahre 1725 vom Gene- ralleutnant Carl Adam Baron Stackelberg für 10.000 Rubel (S.M.)6 das Gut Rojel im Kreis Dorpat (damals 8 Haken). Dieses Gut war am längsten — als sog. Restgut sogar bis 1939 — im Besitz der Familie von Liphart. Bis zum Jahr 1738 war auch das Gut Nötkenshof (lett. Mkena) im Kreis Wenden (lett. Usis) (8 1/4 Haken) in das Eigentum von Friedrich Wilhelm von Lip- hart übergegangen. Im Jahre 1742 wurde er als eine hervorragende Persön- lichkeit unter dem damaligen livländischen Adel zum Landmarschall vor- geschlagen, aber er verzichtete auf dieses Amt. Liphart hat drei erwachsene Söhne (der älteste Sohn starb in jungen Jahren) und drei Töchter hinterlas- sen. Einer seiner Schwiegersöhne (1745), der Besitzer des großen Gutes Ascheraden (lett. Aizkraukle), Carl Friedrich Schoultz (1720-1782), wurde später als freisinniger Landrat und Initiator der Bauernreform von 1765 weit bekannt. Auch andere Schwiegersöhne wie der Dorpater Statthalter Fabi- an Adam Stackelberg von Gut Wagenküll (estn. Taagepera) (1738) und der Oberst (späterer Generalleutnant) Mathias Eberhard von Lieven aus Kur- land (1743) gehörten zur damaligen Elite des deutschbaltischen Adels. Die Lebenswege der Söhne Friedrich Wilhelm von Lipharts spiegeln zwei Arten von Lebensgeschichten wider, die für die Gutsbesitzer der da- maligen Zeit typisch waren. Der jüngere der Brüder, Hans Heinrich von Li- phart (1736-1806), dem der Vater das Gut Netkenshof hinterlassen hatte, war Kammerjunker von Holstein-Gottorp. Sein Glück war unbeständig — das Gut Netkenshof hatte er verkauft, dagegen hatte er von 1760 bis 1786 mehrere andere Gutshöfe, wie Kawast (estn. Kavastu), Aya (estn. Ahja), Wai- mastfer (estn. Vaimastvere) und Rippoka (estn. Ripuka) im Kreis Dorpat und das Gut Taps (estn. Tapa) in Estland erworben, diese aber recht bald verpachtet bzw. auf Auktionen an seine Gläubiger verloren. Auf der letzten Versteigerung im Jahre 1788 büßte er sein ganzes Vermögen ein, und seine Kinder erbten kei- nen einzigen Gutshof Seine Söhne, von denen mehrere im Staatsdienst einen recht beachtlichen Aufstieg erlebten, waren ohne männliche Nachkommen oder sogar kinderlos.

6 (S.M.) bedeutet Silbermünze; dem stand der 1768 eingeführte „Papierrubel" (Banco Assignaten, Ab- kürzung B.A.) gegenüber, der in dieser Zeit etwa ein Drittel weniger wert war. 242 Zur Raumkonstitution eines livländischen Magnaten

Der ältere Bruder Carl von Liphart (1719-1792) dagegen, der als Garde- rittmeister um 1745 in den Ruhestand getreten war und dem der Vater das Gut Rojel vererbt hatte, war außerordentlich erfolgreich und hat dem Groß- grundbesitz und dem wirtschaftlichen Erfolg der Lipharts den Grund ge- legt. Carl von Liphart war ein regelrechter Großunternehmer. Im Jahre 1751 kaufte er von den Brüdern Bibikov für 12.000 Silberrubel das Gut Ratshof (8 Haken) im Kirchspiel Dorpat-Marien und im Jahre 1759 von F. von Ha- gemeister für 4000 Silberrubel das Gut Kondo (estn. Könnu) (13/4 Haken) im Kirchspiel Torma. Durch einen weiteren Erwerb wurde der Rittmeister be- reits zum größten Gutsbesitzer Livlands: nach einigen Jahren als Pacht- und Pfandbesitz ging das Gut Schloß Neuhausen (estn. Vastseliina) in Lipharts Besitz über. Es war seit Beginn des 18. Jahrhunderts ein Domänenbesitz, der mehreren russischen Magnaten zur Verfügung gestellt worden war. Sie wußten aber mit dem verwüsteten und dünn besiedelten Gebiet nichts anzu- fangen. Vater und Sohn von Liphart, die seit etwa 1732 als Arrendebesitzer in Schloss Neuhausen waren, hingegen erkannten den wirklich großen po- tentiellen Wert des Gutes. Im Jahre 1765 verschenkte Katharina II. das Ge- biet, das noch kümmerlich sein Dasein fristete, an ihren Günstling Gene- ralleutnant Ivan Beckoj. Dieser legte auf den weit gelegenen Besitz keinen besonderen Wert und übergab ihn sofort als Pfand einer Schuld dem Garde- rittmeister Carl von Liphart. Im folgenden Jahr aber verkaufte Beckoj das Gut Neuhausen (541/4 Haken) für 110.000 Silberrubel an Carl von Liphart. Für ein Territorium, das ein ganzes Kirchspiel umfasste und größer war als so manches deutsche Fürstentum, war es offenbar ein sehr niedriger Preis. Im Jahre 1774 kaufte Carl von Liphart von Kammerjunker Hans Georg Ba- ron Uexküll für 120.000 Silberrubel noch das Gut Kabbal (estn. Kabala) im Kreis Fellin (estn. Viljandi) (34 % Haken), im Jahre 1784 vom Kammer- herrn Otto Georg von Bock, der in Konkurs geraten war, für 37.000 Sil- berrubel das Gut Terrastfer (estn. Tarakvere) im Kirchspiel Torma (estn. Torma) (9 1/8 Haken) und im Jahre 1786 vom Staatsrat Engden für 30.000 Silberrubel das Gut Marrama (estn. Maramaa) (7 Haken) in unmittelbarer Nachbarschaft von Ratshof.' Eine der Kennzahlen, die ein Urteil über die Größe seines Besitzes sowie der einzelnen Güter ermöglichen, war die Anzahl der dazu gehörigen Bauern. Nach Angaben der Seelenrevisionslisten lebten im Jahre 1782 auf den Gütern von Liphart: in Ratshof 857 Seelen, in Marrama 333, in Rojel 953, in Kondo 160, in Terrastfer 617, in Kabbal 1653, in Neuhausen 6451. Insgesamt lebten 1782 auf Lipharts Besitztümern mehr als 11.000 leibeigene Bauern.' Die Tat-

7 Über den Güterbesitz von der Familie von Lipharts siehe: Leonhard von Stryk: Beiträge zur Geschich- te der Rittergüter Livlands, Th. Dorpat 1877, Dresden 1885. 8 Herbert Ligi: Talurahva arv ja paiknemine Löuna-Eestis aastail 1711-1816 [Die Zahl und die Vertei-

243 Tiit Rosenberg

sache, dass Carl von Liphart unter seinen volljährig gewordenen Kindern ne- ben sieben Töchtern nur einen Sohn (den späteren Landrat Reinhold Wilhelm von Liphart (1750-1829) hatte —und offensichtlich auch der Misserfolg sei- nes Bruders — veranlassten ihn dazu, für das Weiterbestehen seines riesengro- ßen Besitzes und das Wohlergehen seines Geschlechtes besondere Vorsorge zu treffen. Zu diesem Zweck stiftete er als einer der ersten im Baltikum mit seinem Testament im Jahre 1776 aus den Gütern Ratshof und Neuhausen ei- nen Fideikommiss- und Majoratsbesitz.9 Das bedeutete, dass der genannte Be- sitz weder verkauft, verpfändet oder mit Schulden belegt noch als Erbschaft geteilt werden durfte. Der Besitz durfte nur an männliche Nachkommen ver- erbt werden, bei Fehlen eines direkten Nachkommen an ein Mitglied des Ge- schlechts von Liphart nach dem Majoratsprinzip. Falls der Erbe im Ausland lebte, musste er nach Hause zurückkehren, um von seinem Erbrecht Gebrauch zu machen. Dem Inhalt der Briefe ist zu entnehmen, dass sie auf dem Gut Ratshof von dem Gutsverwalter, Schreiber bzw. Buchhalter (nach der Handschrift lässt sich auf drei Personen schließen) offensichtlich nach dem Diktat Carl von Lipharts geschrieben wurden. Bei den Briefen handelt es sich um ein ganzheitliches Korpus, in dem die Briefe aus dem Zeitraum von einem Jahr und 8 Monaten fehlen, insgesamt hat Liphart im Laufe von zwei Jahren und vier Monaten 223 Briefe an 39 Personen bzw. Firmen geschrieben (siehe Anhang 1). Hauptadressat war mit 91 Briefen die zu jener Zeit in Riga ansässige Han- delsfirma Möller, Weitzenbreyer & Co. Es folgen der Gutsbesitzer von Randen (estn. Rannu, Kreis Dorpat) und Assessor des Gewissensgerichts aus der Zeit der Statthalterschaft, Gottlieb Fabian von Gavel (1739-1798), mit dreizehn Briefen, Sekretär Magnus Johann Scotus aus Riga mit 10 und ein Knochen- hauer Kestner aus Riga, der zeitweilig auch in Schloss Neuhausen ansässig war, mit zehn Briefen. Je sechs bis neun Briefe waren an fünf Personen, vier bis fünf Briefe an sechs Personen und zwei bis drei Briefe an acht Personen adressiert. An 16 Adressaten ist jeweils nur ein Brief gerichtet worden. Als Zielort dominiert eindeutig Riga, dorthin wurden mehr als die Hälfte (knapp 140) der gesamten Briefe geschickt. Von den anderen Städten sind St. Petersburg (sieben Adressaten mit 27 Briefen), Narva (zwei Adressaten mit sechs Briefen) und Pernau (estn. Pärnu) (ein Adressat mit drei Briefen) zu erwähnen. Reval (estn. Tallinn) steht als Zielort nur auf einem Brief. Die Adressaten der restlichen Briefe waren auf verschiedenen Gütern bzw. Städten Livlands ansässig. lung der Bauernbevölkerung Südestlands in Jahren 1711-1816], in: Uurimusi Läänemeremaade ajaloost II, Tartu 1976 (Tartu Riikliku Ülikooli toimetised; H. 371), S. 48-59. 9 EAA: f. 2469, n. 1, s. 438; n. 3, s. 36.

244 Zur Raumkonstitution eines livländischen Magnaten

Die Briefe stellen eine relativ rare und aufschlussreiche In- formationsquelle zur Lebensweise und Ge- schäftstätigkeit eines unternehmerisch ge- sinnten Neuadligen mit bürgerlichem Hinter- grund gegen Ende des 18. Jahrhunderts dar. Die Bedeutung dieser Quelle wird insbeson- dere dadurch erhöht, dass gerade zu dieser Zeit einer der größten Grundbesitze in den Ostseeprovinzen ent- stand, der bis zum Er- sten Weltkrieg allen Schwankungen der Konjunktur standhielt und sich noch weiter ausdehnte. Die Quel- le liefert sehr konkrete Informationen in vie- rerlei Hinsicht: erstens Abb.1: Fideikommissbesitzer von Ratshof und Schloss über die damaligen Ge- Neuhausen in Livland dimittierter Garde Rittmeister schäftsbeziehungenund Wirtschaftsverhältnisse Carl von Liphart (1719-1792) und den einem Teil des (Foto: Bildarchiv Foto Marburg, Archivnr. 1280012) damaligen Adels eige- nen marktwirtschaftlichen Unternehmergeist; zweitens über den allgemeinen Lebensstandard sowie die Alltagskultur des besser situierten Teils des Adels; drittens über die sozialen Beziehungen und die Mentalität sowie viertens über die Kommunikationsverhältnisse. Hier wird das Hauptaugenmerk auf die wirtschaftlichen Aspekte gerichtet, die sich in der genannten Quelle wi- derspiegeln. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts, als Carl von Liphart mit der Bewirt- schaftung von Gütern begann, erlebte die Gutswirtschaft in Livland einen großen Aufschwung. Die Basis dieses Aufstiegs war das Branntweinbren- 245 Tiit Rosenberg

nen, das in den Kreisen Dorpat und Werro schon Mitte des 18. Jahrhunderts von einer nennenswerten wirtschaftlichen Bedeutung war. Je Hakengesinde wurden dort gewöhnlich zwei Fass Branntwein gebrannt. Nach 40 Jahren betrug aber das durchschnittliche Maß vier bis sechs und in einigen Gütern sogar acht bis zehn Fass. Das Branntweinbrennen stieg insbesondere nach 1766 an, als der russische Markt für den Branntwein der baltischen Gou- vernements geöffnet wurde. Die Absatzmöglichkeiten verdoppelten sich, und die Branntweinpreise stiegen an. Zeitgenossen berichten, man habe ge- gen Ende des 18. Jahrhunderts jedes Jahr aus Livland nach Petersburg 2 Millionen Eimerm Branntwein geführt. Besonders gewinnbringend waren für die Gutsbesitzer langfristige Verträge mit der Krone über die Brannt- weinlieferung. Das gab ihnen die Möglichkeit, die Produktion zu regulie- ren. Wie Carl von Liphart im zweiten Anhang seines Testaments (Ratshof, 25.6.1790) über seine Erfahrungen im wirtschaftlichen Bereich verallge- meinernd schrieb, zog er sowohl in guten als auch schlechten Erntejahren den größten Gewinn aus den Verträgen über Branntweinlieferung, gefolgt von zusätzlichen Einnahmen aus der Rindermast sowie aufgrund einer Ver- besserung der Ackerbaukultur. Zugleich warnte Liphart seine Nachkommen vor einem zu hohen Risiko bei zu umfangreichen staatlichen Lieferungsver- trägen, falls es sich bei schlechter Ernte als notwendig erweisen sollte, zum Brennen der vertragsgemäßen Menge von Branntwein Getreide für einen hohen Preis hinzuzukaufen. Deshalb weigerte er sich, für Ratshof und Neu- hausen einen Vertrag über die Lieferung von mehr als 30.000 Eimer Brannt- wein pro Jahr abzuschließen. Als Bürgschaft für den Liefervertrag konnte man natürlich Bauern der entsprechenden Güter anbieten, doch durften die Güter nicht mit Schulden und Hypotheken belastet werden. Es scheint, dass die Lieferungen an die Krone — bis zu 30.000 Eimer Branntwein pro Jahr" — den Lipharts den Hauptanteil ihrer Einnahmen aus den genannten Gütern sicherten» Es ist bekannt, dass auf dem lokalen Markt, in Städten und Hof- krügen, wo die Preise allerdings um ein Drittel niedriger waren als die staat- lich festgelegten Lieferungspreise, fast genau so viel verkauft wurde wie an die Krone. Dabei hatten Neuhausen und Ratshof dank ihrer Lage — Neu- hausen an der Poststraße Pskov/Pleskau, Riga und Ratshof in unmittelbarer Nähe von Dorpat — äußerst günstige Möglichkeiten. Nach der Revisions- beschreibung aus dem Jahre 1811 besaß das Gut Neuhausen an verschie- denen Straßen 17 Krüge, Ratshof aber zwei steinerne Wirtshäuser, das eine

10 1 Eimer = 12,3 1; 1 Fass = 12,4 Eimer. 11 Ein Eimer kostete in den 1780er Jahren 80 bis 90 Kopeken und in den 1790er Jahren 140 bis 150 Kopeken. 12 Dazu näher: Tiit Rosenberg: Liphartid Liivimaa möisnikena II [Die von Lipharts als livländische Gutsbesitzer], in: Kleio: Ajaloo ajakiri 2 (16) (1996), S. 19-23.

246 Zur Raumkonstitution eines livländischen Magnaten an der großen Petersburger Heerstraße und das andere an der Winterstraße Dorpat—Reval. Das Branntweinbrennen eröffnete auch die Möglichkeit, mit den Produktionsresten (sog. Schlempe) Ochsen zu mästen. Nach Einschät- zung von Zeitgenossen konnten in einem Winter 50 Ochsen gemästet wer- den, wenn in der Gutsbrennerei jeden Tag ein Fass Branntwein produziert wurde; dabei brachte jeder Mastochse Ende des 18.Jahrhunderts mehr als 10 Rubel (S.M.) Reingewinn. Wie dem Briefwechsel Carl von Lipharts zu entnehmen ist, hatte einer seiner Adressaten, der Knochenhauer Kestner, als Unternehmer im Winter 1785/1786 im Gutshof Neuhausen 130 kalmückische Mastochsen zur Mast gegeben, wofür das Gut über 1.000 Rubel (SM.) verdiente. Außerdem wur- den hier auch Ochsen der örtlichen Landrasse gemästet. In den genannten Briefen ist auch noch von der Ochsenmast auf anderen Gütern von Lipha- rts die Rede. So wurden im Frühling 1786 aus Ratshof 20 Ochsen und aus Rojel 99 Ochsen nach St. Petersburg versandt. Wenn man von dem oben Erwähnten ausgeht und noch in Betracht zieht, dass das Branntweinbren- nen bald nach dem Michaelistag begann und oft noch bis in den Mai dau- erte — die Zeit des Branntweinbrennens sollte deswegen verlängert werden, weil man Schlempe für die Mastochsen brauchte —, hätte man im Winter 1785/1786 in Neuhausen und in Ratshof mindestens 600 Fass und in Ro- jel 400 Fass Branntwein brennen müssen. Es ist bekannt, dass das eines der schlechtesten Wirtschaftsjahre war. So schreibt Liphart am 31.Dezem- ber 1785 dem Bürgermeister Schröern, dass er wegen der Missernte, die im vergangenen Jahr seine Güter heimgesucht hätte, sowie wegen der hohen Getreidepreise das Brennen von Branntwein dermaßen eingeschränkt habe, dass er nicht mehr produziere, als zur Erfüllung der Bestellungen der Krone nötig sei. Außerdem habe er die Angebote anderer Gutsbesitzer, ihre Liefe- rungsverträge zu übernehmen, abgelehnt. Als Vertrauensmann Carl von Lipharts, dem die Erledigung der Formali- täten des Branntweinverkaufs in St. Petersburg oblag, fungierte ein dort an- sässiger livländischer Adliger, Artilleriekapitän von Albedyll. Die Briefe an ihn bringen viele technische sowie praktische Einzelheiten der Branntwein- herstellung und -lieferung zum Vorschein. Albedyll war auch als Vermittler der Verträge Lipharts mit mehreren Kaufleuten, Handwerkern und Unter- nehmern in St. Petersburg tätig. Von der Tatsache, dass das Brennen von Branntwein auf den Gütern Lipharts ganz großzügig betrieben wurde, zeugt die Anlage einer eigenen Werkstatt für Kupfererzeugnisse. So brachte Liphart in seinen Briefen an den russischen Kaufmann Kuzma Alifanov von 1785 bis 1787 ständig seine Bemühungen um die Bestellung von Kupfer und Kupferblech für die Neu- hausener Werkstatt zum Ausdruck. Der aus Neuhausen gebürtige Journalist 247 Tiit Rosenberg

und Historiker Heinrich Prants weiß nach seinen Familienüberlieferungen zu berichten, dass noch am Anfang des 19. Jahrhunderts einige Werst vom Gutshof Neuhausen entfernt am Fluß Piusa eine große Werkstatt in Betrieb gewesen sei, in der Kupfererzeugnisse, vor allem Kessel und Rohre, für die eigene Brennerei, aber auch für Brennereien der Umgebung, und ebenso verschiedene Haushaltsgeräte wie Koch- und Essgeschirr und Trinkgefäße hergestellt wurden. Im Frühling 1840 habe das Hochwasser den Mühlen- damm der Werkstatt zerstört und danach sei der Betrieb eingestellt worden, weil die Brennereien der Neuzeit die Erzeugnisse dieser Werkstatt nicht mehr brauchten. Das Buch der Briefkonzepte von 1783 bis 1787 zeigt uns das Bild eines Gutsbesitzers, der bis in die kleinsten Einzelheiten in wirtschaftliche Fragen des Majorats vertieft ist und auch einen Spürsinn für die Konjunktur hat. Er erteilt Anordnungen, um landwirtschaftliche Produkte aufzukaufen, zu ver- arbeiten und weiterzuverkaufen. Er vermittelt und leiht, er verfolgt im Ri- gischen Anzeiger Verkaufsannoncen und Preisänderungen und regelt dem- entsprechend den Kauf und Verkauf. Er berücksichtigt Kursveränderungen und macht Börsengeschäfte, indem er seinen Agenten in Riga Albertustaler aufkaufen oder verkaufen lässt. Auch die Sorge um den Lebensstandard und die Lebensverhältnisse ist ihm nicht fremd, aber im Vergleich zu wirtschaft- lichen Fragen nimmt diese Problematik in seinem Briefwechsel bedeutend weniger Platz in Anspruch. So kauft er nur guten Zucker aus Riga, und als er durch seinen Buchhalter aus St. Petersburg die Beschreibung eines vier- sitzigen Wagens und eines Schlittens bekommen hat, bestellt er sie für 900 Rubel (B.A.), allerdings unter der Bedingung, dass der Wagen die besten und widerstandsfähigsten, d. h. englische Räder hat. Aus Lübeck bezieht er jungen Obstbäume, die offensichtlich für den Park von Ratshof bestimmt sind, und Samen — wohl für den Garten. Dabei gilt es nochmals zu betonen, dass diese Quelle über Carl von Lipharts Privatsphäre — über seine Bezie- hungen zu den Verwandten und Bekannten, z.B. zu seinem Sohn und Erben Reinhold Wilhelm von Liphart, der in der betreffenden Zeit Adelsmarschall im Nachbarskreis Fellin war und zugleich als Besitzer den großen Gutshof Kabbal bewirtschaftete — kaum etwas aussagt. Im Hinblick auf das Rahmenthema der Konferenz und dessen Stich- wörter „Raum" und „Grenzen" kann man aufgrund der gegebenen Quelle die Frage aufwerfen, was für ein Handlungsraum einem livländischen Ma- gnaten (Carl von Liphart) zur Verfügung stand. Oder mit den Worten des deutschbaltischen Begründers der Umweltlehre, Jakob von Uexküll: wel- chen Bereich umfasste und wie weit erstreckte sich Lipharts „Lebensum-

248 Zur Raumkonstitution eines livländischen Magnaten welt"13? Wie weit reichte sein Blick und wie sah die Welt für ihn aus? Es ist noch zu früh, um hier eine ausführliche Antwort geben zu können. Des- wegen seien nur einige allgemeine Angaben zur öffentlichen bzw. geschäft- lichen Umwelt Lipharts angeführt: 1. Ihr Zentrum lag im mittleren Teil der Provinz Livland, und die wichtigsten Kontakte, die gepflegt wurden, waren die Kontakte zu Riga; über Riga wurden Finanzoperationen vermittelt und Güter bestellt. Die Be- ziehungen reichten über Riga bis nach Mittel- und Westeuropa (die wich- tigsten Zentren waren hier Amsterdam und Lübeck) sowie nach Russland (z.B. Novgorod, Tula, Moskau, der Ukraine). 2. Als zweitwichtigste Kontaktstelle, deren Bedeutung offensichtlich zunahm, ist St. Petersburg (über Narva) zu nennen, wo der bedeutendste Teil der Produktion der Gutshöfe — in Form der stetig wachsenden Brannt- weinlieferungen — abgesetzt wurde. Im Hinblick auf die Bestellungen von Verbrauchsgütern spielte St. Petersburg jedoch eine geringere Rolle als die Richtung Riga — Westeuropa. 3. Die Geschäftskorrespondenz mit Gutsbesitzern, Kaufleuten, Mili- tärs, Handwerkern und anderen Klienten diente vorwiegend den Operati- onen in den beiden oben genannten Richtungen.

Anhang 1: Die Adressaten von Carl von Liphart Nach dem Briefentwurfbuch von 26.Oktober 1783 bis 3.März 1784: 63 Briefe; nach dem Briefentwurfbuch von 19. November 1785 bis 18.Novem- ber 1787: 260 Briefe.14

Adressat Ort Anzahl 1. Herren Möller, Weitzenbreyer & Co Riga 91 2. Gewissensgerichts-Assessor von Gavel Gut Randen 13 3. Secretair ( Consulent) Hofrat Scotus Riga 10 4. Knochenhauer Kestner Riga und Gut Neuhausen 10 5. Artillerie-Capitain von Albedyll St. Petersburg 9 6. Secretair König Riga 8

13 Jakob von Uexküll: Niegeschaute Welten: die Umwelten meiner Freunde; ein Erinnerungsbuch, Berlin 1936, S. 13-21. 14 Wie Anm. 1-2. 249 Tiit Rosenberg

7. Kaufmann Kusma Alifanow Riga 7 8. Assessor Wehsmann St. Petersburg 6 9. Oberst von Golubzoff Pleskau 6 10. Oberst von Maneken Gut Würzemberg (lett. 5 Ruckas) 11. Kaufmann G. Gnospelius Narva 5 12 Sattlermeister Geiger St. Petersburg 5 13. Wolmarscher Kreismarschall Capitain Riga 5 von Taube 14. Gen.-Gouverneur Geheimrat von Sievers St.Petersburg und Livland 4 [Bauenhof etc.] 15. Knochenhauer Bogdanow Gut Rojel 4 16. Kaufmann H. -D . Schmidt Pernau 3 17. Landrat Kammerherr Graf von Münnich Riga 3 18. Major a.D. von Brueggen Gut Carolen (estn. Karula) 3 19. Werroscher Kreisrichter von Samson [Gut Urbs(estn. Urvaste] 2 20. Alte Bürgermeister Schroer Dorpat 2 21. Lieutenant von Pistohlkors Gut Ruttigfer (estn. Rutikvere) 2 22. Secretair Bröcker Riga 2 23. Assessor von Kruedener Gut Arrohof (estn. Aru) 2 24. Kaufmann Gebauer zu Mühlen Reval 1 25. Arrendator Tontin Gut Uddern (estn. Uderna) 1 26. Revisor Böhm [Livland] 1 27. Graf Mannteufel Gut Ringen (estn. Röngu) 1 28. Hofrath Schroeder Riga 1 29. Statthalter von Kallasane ? 1 30. Pastor Marpurg Neuhausen 1 31. Madam Senenberg Narva 1 32. Frau Pastorin Schmidt [Livland] 1 33. Revisor Remmers [Livland] 1 34. Assessor von Löwenstern Gut Wolmarshof (lett. 1 Valmieras) 35. Consulent Spies St. Petersburg 1

250 Zur Raumkonstitution eines livländischen Magnaten

36. Brigadier von Knorring [Russland] 1 37. Kupferschmidt Tedder Wolmar (lett. Valmiera) 1 38. General-Major von Liphart St. Petersburg 1 39. Kaufmann Hermann Nicolaus Mollwo St. Petersburg 1

Anhang 2: Briefkonzept [Nr. 3] von 2. November 178315

An den Knochenhauer Kestner am 2. Novbr. Nachdem Seine gekaufte Ochsen zu Neuhausen und hier auf der Mast ge- setzet, sind 7 Stück davon zu Carlshoff krank geworden, davon einer cre- piret, und einer vor kürzen noch sehr schlecht gewesen, so, dass der Inspek- tor Wallenius an der Besserung zweifelte. Die Übrigen aber haben sich zu bessern angelassen. Von die hier stehende 50 Stück wurde einer wie Toll innerhalb einer Stun- de, nachdem er kurz zuvor noch recht gut, und seine Abend Portion fraß, zeigte sich die Kranktheit, bey herunter hängenden Kopf in ein stetes Brül- len, und von sich schlagendes Wüten, so dass anfänglich kein Mensch sich nahen durfte; und währete solches die gantze Nacht durch. Des Morgens darauf wurden die lungen Adern gelassen, und den darauf folgenden Tag nochmals. Mit Beyhülfe anderer noch dazu gebrauchte Mitteln, hat er sich gebessert, und frist izt ziemlich gut; dass ich nicht an der vollkommenen Bes- serung zwifele. Es ist zu glauben dass das Vieh durch Mangel des nöthigen Getränckes auf der weiten Reise gelitten haben muss. Um also daraus zu entstehende Kranckheiten vor zu beugen, habe allen, hier und zu Neuhausen stehenden die Adern zu öfnen für gut gehalten; welches vieles zu ihrer Ge- sundheit wird beygetragen haben; darnoch sie sich denn auch hier recht be- finden, und zu Neuhausen es ebenfals werden. Da der Vieh-Händler, von welchem Er das Seine gekaufet hat, doch noch in Riga seyn wird, so wäre es mir lieb, wenn Er mir den Gefallen thäte, und sich erkundigte, ob die Leute welche solche große Heerden Vieh aus Rus- sland nach St. Petersburg und Riga jährlich bringen, die Weyde bezahlen müssen 17, wohl doppelt geschrl längst und an der Landstraße von Mo- scow bezahlen müssen. Man hat mir solches versichert [haben] wollen, so ich aber doch unmöglich glauben kann; daher, weil es mir wissend ist, dass man niemanden am großen Landwege die Weyde bezahlet. Hier in Liefland ist es wenigstens nicht üblich; mithin wird es auch in Russland nicht seyn. Wenn ja eins ist, so gebe ich nach, dass wenn solche Leute von der Straße, ein f!,. wohl doppelt geschrl eines zu haltenden Ruhetages wegen, sich mit 15 Wie Anm. 1, Bl. 1-2. — Stil und Orthographie sind weitestgehend beibehalten; da Liphart „ß" auch nach kurzer Silbe schreibt, ist es in diesen Fällen als „ss" wiedergegeben.

251 Tiit Rosenberg der Heerde begeben, dass sie dann bezahlen müssen, für der Weyde. Meine Neugierde hierinn zu stellen, und im gegengesetzten Falle jemand davon zu belehren, wird mir es sehr lieb seyn, wenn Er mir hierüber eine zuverlässige Nachricht giebet. Die ich erwarte, und jederzeit bin. p.p.

Anhang 3: Briefkonzept [Nr. 48] von 11. Februar 1784 16

An dHrn Capitaine v. Albedyl d. 1 Iten Februari Es ist mir durch den Eingang Ewr. Hochwohlgebohrnen geehrte Zu- schrift vom 6. dieses [Monats] sehr angenehm zu bemercken gewesen, dass mein Brantwein abgeliefert und die Masse so gut ausgefallen ist. Wenn Ewr. Hochwohlgebohrnen nach Abzug der 1325 Ko[peken] K[upfer] M [lin] z[e] , auf welche ich an den dortigen Kaufmann Iwan Kus- min Tirchov zwey Anweisungen ausgestellet habe, mir den Rest meines, für dieses Brantwein zu empfangenen Geldes, durch meinen Herrn Schwie- ger Sohn den Herrn Obrist von Knorring in Gold oder gilbet] Wie [e] schicken können, wird mir es gewiss sehr lieb seyn. Solte wieder meinen Vermuthen vorbenannter Kaufmann Tirchov nicht sich gemeldet, und Ewr. Hochwohlgebohrnen vor Eingang meines unterm 7. dieses [Monats] abge- lassenen Schreibens, alles Geld an meinen Herrn Schwieger Sohn abgetra- gen haben, DeroSelbe auch schon abgereiset gewesen seyn, und folglich meine zwey angestellte Anweisungen nicht von solchem Gelde hatten kön- nen honoriret werden, so bitte ergebenst den Kaufmann Tirchov auf kurzer Zeit zu vertrösten, und mit der ersten Post gütigst mir davon zu avertiren; da ich alsdenn nicht ermangeln werde, gleich so viel in Banco Noten zu schicken, um von Kaufmann meine Anweisungen damit einzulösen. Da Ewr.Hochwohlgebohrnen oft im Kameralhof zu thun haben, so glau- be dass es Denen Selben nicht an Gelegenheit fehlen wird, sich um Nach- richten zu bewerben, welches Ansehen es mit die künftige, aus denen Krons-Brennereyen zu kommende Brautweine habe? ob man wieder große Transporte erwartet? und ob der Cameralhof vermeinet mit solche, wie ge- wöhnlich alle Trinkhäuser unterhalten zu können? Zu vermuthen ist es aber wohl gar nicht daher, weil nach den Frieden mit der Türcken viele Trup- pen aus fernen Gegenden wieder in diesen Theil des Reichs kommen wer- den, mithin denn auch der Abgang desselben um so viel mehr ansehnlicher seyn möchte. Würden Ewr. Hochwohlgebohrnen von dergleichen Nachrich- ten einziehen können, und mich davon avertiren, so versichere dass sie mir sehr angenehm seyn werden. Sollten sich auch sonsten Gelegenheit finden, durch Umstände kleine Lieferungen, von einen oder den anderen zu bekom-

16 Ebda., B1.28.

252 Zur Raumkonstitution eines livländischen Magnaten

men, so würde ich auch wohl solche einnehmen, und würde wen[n] von Sie gütigst mich davon benachrichtigen, Ihnen alsdenn gleich zur Abschließung u[nd] Übernehmung solcher Lieferungen, wie auch zur Ablieferung dersel- ben bevollmächtigen. Mit der vollkommenster Hochachtung habe die Ehre zu seyn.

Anhang 4: Briefkonzept [Nr. 6] von 14. December 1785 17

An Möller Weitzenbreyer et Co am 14ten December Mit Ewr. Hochedelgebohren geehrte Zuschrift vom 6.dieses [Monats] erhielte ich die mir zugesandte Rechnung die ich habe nach sehen lassen und bis auf zwey Kleinigkeiten ganz richtig befunden habe. Wegen den Mar- geaux Wein und die Holländische Heeringe sind laut Dero Notice vom 21. August nur Albr. R[eichs]th[a]l[e]r 26[und] 22 1/2 Gr[oschen] notiret, in der Rechnung aber Rthlr 26 [und] 45 Gr. abgeschrieben; und wegen den Rotfisch ebenfals laut Brief nur Rthlr 3 [und] 45 Gr. welche in der Rechnung aber mit Rthlr. 3 [und] 51 % Gr. attendiret sind. Übriges hat es seine voll- kommene Richtigkeit in allem, und ich danke denenselben ganz ergebenst, für Ihro bisher freundschaftlichst gehabten Besorgung meiner Geschäfte und wünsche dass uns Gott kommendes Jahr darinn eben so wohl erhalten möge. Meine Cassa Saldo habe ich mir bemerket, und dagegen Dero Con- to mit Rthlr. 12 [und] 82 1/2 Gr. Alberts creditiren lassen, desgleichen die 4 Rthlr. für 1 Pfund erhaltene Specien. Wegen der gütigen Nachricht von den großen Korn Ankauf danke ich. Ohnfehlbar wird solcher großer Quantum Roggen wohl für der Prov[inz]. Verwaltung erhandelt seyn worden. Den Stations-Roggen aus dem Lande im Rigischen Magasin zu repartiren, konn- te gar wohl zu einer Theuerung beytragen. Die Zeit wird uns das denn auch belehren. Dass Ew. Hochedelg. den Brief an den Herrn Assessor von Gavel behändigen haben lassen, deshalb danke ich ergebenst. Nach Neuhausen habe ich die Order gegeben dass wenn die 40 Schiffs- pfund Kupfer ankommen, solches gemäß Contract gleich empfangen, und den Abgeber nach Empfang dessen ä 90 Ko. pro Schefund die Hälfte des Geldes mit 1800 Ko. in Banco Noten alda vom Inspektore Wallenius abge- tragen werden soll. Die 2te Hälfte des Geldes werde ich denn contractmä- ßig im Aug. Monath des 1786sten Jahres durch Ew. Hochedelgebohren an den Kaufmann Kusma Alifanow zahlen lassen. Mit p.p.

17 Wie Anm. 2, Bl. 5-6. 253 Valters Scerbinskis Die Entwicklung der technischen Kommuni- kations- und Verkehrsmittel zwischen Lettland und den nordischen Ländern 1918-1940

Technische Kommunikationsmittel sind bekanntlich ein wichtiger, wenn nicht sogar der einzige Weg, mit Menschen und Völkern zu kommunizie- ren, wenn die Entfernung zu ihnen für direkte Kommunikation zu weit ist. Dies wird noch offensichtlicher, wenn es um bilaterale und multilaterale Be- ziehungen zwischen Ländern geht. See- und Eisenbahnverkehr, Briefverkehr und Telefongespräche sind auch ein Indikator für den Grad der Intensität von Kontakten zwischen den Ländern sie enthüllen den tatsächlichen Entwick- lungsstand der Kooperation zwischen Staaten. Der Vergleich zwischen der Rhetorik zu Gunsten erwünschter Kooperation einerseits und der wirklichen Kooperation, wie sie sich in dem Entwicklungsstand der technischen Kom- munikation darstellt, andererseits ergibt sehr interessante und nützliche Infor- mationen darüber, wie „nahe" bestimmte Länder sich einander wirklich sind. Dies zeigt sich und zwar auf drastische Weise an den Beziehungen Lettlands während der Zwischenkriegszeit mit den Staaten, die man heute die Nordischen Länder nennt. Sowohl das offizielle Lettland als auch wichtige Persönlichkeiten in den gesellschaftlichen Organisationen nahmen für ihr Land in Anspruch, dass es in engen nachbarschaftlichen Beziehungen zu den „natürlichen Verbün- deten" — den nordischen Ländern und Finnland — stehe, aber die Realität sah anders aus. See- und Luftverkehr, die Anzahl von Telefongesprächen und die Menge brieflicher Korrespondenz, die Lettland mit seinen nordischen Partnern verband, hingen in ihrer Entwicklung direkt von den ökonomischen und poli- tischen Interessen dieser Partner an der Nord- und Westküste der Ostsee ab. Der Grad der Entwicklung von beiderseitiger technischer Kommunikati- on wurde von drei Hauptfaktoren bestimmt. Zunächst bedingte die geogra- phische Lage Lettlands Einschränkungen für den Landtransport, der damals noch vorherrschend war, und so verlagerte sich das Schwergewicht auf See- und Luftverkehr, der wiederum von Wetterbedingungen abhängig ist. Was Finnland betrifft, so spielte außerdem Estland eine wichtige Rolle als Tran- sitland für die Kontakte zwischen Lettland und Finnland über das Eisenbahn- netz. Zweitens war die Entwicklung der Kommunikationsmittel von dem Ni- veau der wissenschaftlichen, technischen und industriellen Infrastruktur in den jeweiligen Ländern abhängig. Es waren ja die späten 1920er und frühen 1930er Jahre, in denen wichtige technische Innovationen auf den Markt ka- men und für kommerzielle Zwecke sowohl in den Nordischen Ländern als 254 Kommunikation und Verkehr Lettland / nordische Länder auch in Lettland genutzt wurden. Drittens war die Entwicklung aller dieser Länder direkt bestimmt von politischen und ökonomischen Faktoren, die zur Schaffung und Entwicklung von Verbindungen beitrugen. Daher kann die In- tensität des Verkehrs- und Kommunikationsnetzes in den 1920er und 1930er Jahren objektiv die Intensität der politischen und wirtschaftlichen Kontakte widerspiegeln. Seeverkehr Die Hauptverkehrsader zwischen dem Territorium des heutigen Lettland und den Nordischen Ländern war schon seit den Zeiten seiner Zugehörigkeit zum russischen Kaiserreich die See. In Russland wurde Riga allgemein als einer der wichtigsten Seehäfen für den westlichen Landesteil bezeichnet. Infolge des Ersten Weltkrieges und der darauffolgenden zwei chaotischen Jahre war jedoch der See- verkehr unmittelbar nach der Gründung des unabhängigen Lettland extrem ein- geschränkt. Als sich die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen stabilisier- ten, verstetigte sich der Seeverkehr zwischen Lettland und den nordischen Häfen und nahm eine höhere Frequenz an. Es ist interessant, dass die ersten Auslands- besuche von Ministern der provisorischen Regierung Lettlands im Jahre 1919 Kopenhagen und Stockholm galten und auf Schiffen nordischer Schifffahrtsge- sellschaften unternommen wurden, die ihre Dienste auch in diesen chaotischen Jahren aufrecht erhalten hatten. Schon im Jahre 1921 wurde eine Schifffahrtslinie zwischen Riga und Helsin- ki eröffnet, aber die Betreibergesellschaft stellte den Dienst wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit bald wieder ein. Tatsächlich erbrachten weder der Fracht- noch der Personenverkehr zwischen Lettland und Finnland irgendwelchen größeren Gewinn. Trotzdem richtete die Schifffahrtsgesellschaft P. Bomholdt im Jahre 1922 einen regelmäßigen Verkehrsdienst zwischen den beiden Städten ein, aber einige Zeit später beendete auch diese Linie ihre Tätigkeit. Das Jahr 1923 brach- te eine weitere Unterbrechung im regulären Verkehr auf dieser Strecken, während hingegen regelmäßige Passagierverbindungen nach Frankreich, Großbritannien und Deutschland aufrecht erhalten wurden. Im Jahre 1925 wurde jedoch von del- oben genannten Schifffahrtsgesellschaft Bornholdt wieder eine regelmäßige Ver- kehrsverbindung eingerichtet. Der Frachter „Poseidon" unter finnischer Flagge verkehrte in der Mitte der 1920er Jahre zwischen Riga und Helsinki und bedien- te den Verkehr auf der Route Helsinki-Danzig-Riga-Helsinki bis zum Frühjahr 1927.1 Die Frequenz auf den Routen Riga-Stockholm und Riga-Kopenhagen war dagegen wesentlich lebhafter. Der Seeverkehr war in diesem Fall ja der einzige Weg, diese Zielpunkte zu erreichen — sowohl für Passagiere als auch für Fracht.

1 Latvijas Valsts v.estures arhivs (Staatliches Historisches Archiv Lettlands, im Folgenden: LVVA) 1684. fonds [Bestand], 1. apraksts [Abteilung], 1443. lieta [Akte] (im Folgenden zitiert nach dem Muster 1684- 1-1443), [ohne Blattzählung].

255 Valters :Sfeerbinskis

Unregelmäßige Verbindungen zwischen Lettland und den Nordischen Län- dern wurde durch eine ganze Reihe von Schifffahrtsgesellschaften aufrechterhal- ten. Anhand der Zahlen von Abfahrten nach und Ankü.nften aus den Nordischen Ländern kann man die Wichtigkeit dieses Seeverkehrs erkennen. Schon Mitte der 1920er Jahren bestritten die Schiffe, die Lettland und die Nordischen Länder ver- banden, fast ein Fünftel des gesamten Seeverkehrsaufkommens aller lettischen Häfen. Schweden und Dänemark lagen klar an der Spitze, gefolgt von Finnland auf dem dritten Platz. Während der folgenden Jahre änderten sich die Zahlen in ihren Prozentsätzen kaum. Die Fluktuation im Umfang hing von den allgemeinen wirtschaftlichen Bedingungen ab. Natürlich sank in den frühen 1930er Jahren in- folge der Weltwirtschaftskrise das gesamte Schifffahrtsvolumen und stieg nach- her wieder an. Was den politischen Einfluss auf den Seeverkehr betrifft, so nahm das Ver- kehrsvolumen zwischen Lettland und Finnland bedeutend zu, nachdem im Jah- re 1924 ein zweiseitiger Schifffahrts- und Handelsvertrag unterzeichnet worden war, aber es ging später wieder zurück infolge eines allgemeinen Niedergangs des zweiseitigen Handels. Der Hauptgrund dafür war eine gleichartige Palette von Exportgütern, so dass mehr Wettbewerb als Partnerschaft entstand. Alle Anstren- gungen, diese Kooperation aufrecht zu erhalten und zu verbessern, scheiterten, weil es unmöglich war, dies alleine mit politischer Rhetorik und Bestrebungen zur kulturellen Annäherung zu erreichen.

Tabelle 1: Anzahl von Schiffen im Verkehr zwischen Lettland und den Nordischen Ländern, Großbritannien, Deutschland und Estland 1925, 1930, 1935 und 19352 1925 1930 1935 1938 Großbritannien 586 619 617 792 Deutschland 934 913 1059 1268 Estland 777 797 240 110 Nordische Länder: Schweden 368 352 234 k. Ang. Dänemark 316 344 272 157 Finnland 290 260 233 304 Norwegen 32 18 33 24

2 Diese Tabelle beruht auf Zahlen in Latvijas statistikas gadagrämata [Statistisches Jahrbuch Lettlands] 1925, 1930, 1935 und 1938.

256 Kommunikation und Verkehr Lettland / nordische Länder

Der Luftverkehr Der Luftverkehr war in den 1920em und 1930er Jahren noch eine relativ neue Art des Transports, obwohl er sich bereits einen Platz im Fracht- und Pas- sagierverkehr sicherte. In den 1920er Jahren war die zivile Luftfahrt in Lett- land noch im Entstehen, aber in den 1930er Jahren begann man, einen regel- mäßigen Inlandsverkehr einzurichten. Schon Mitte der 1920er Jahre nahm man einen ständigen Verkehr zwischen Tallinn und Helsinki auf, der ursprünglich von einer kleinen estnischen Fluggesellschaft und später von der finnischen „Aero 0.Y." (der späteren „Finnair") durchgeführt wurde; wegen der hohen Kosten waren solche Kurzstreckenverbindungen jedoch unwirtschaftlich. Das- selbe Problem ergab sich auch bei den ersten Versuchen, regelmäßige Flüge zwischen Riga und Helsinki einzuführen; obwohl die Linie unwirtschaftlich war, wurde sie dennoch aus strategischen Gründen von der deutschen Lufthan- sa aufrecht erhalten und 1932 auch von der polnischen LOT bedient. Es waren vor allen Dingen die Flugzeuge der polnischen LOT, die den in- ternationalen Luftverkehr in Nord-Süd-Richtung aufrechterhielt. Die Mana- ger der Latvian Air Service Company (lett. Latvijas Gaisa Satiksmes Akciju Sabiedriba) hatten guten Grund zu der Annahme, dass Polen eine dominieren- de Rolle in der Entwicklung des Luftverkehrs im Ostseeraum anstrebe. Auf der Basis der Verkehrsdienste der LOT von Helsinki nach Saloniki (Griechen- land) wurde eine ständige Luftfahrtkonferenz der Balkanstaaten in Warschau 1933 gegründet. Lettland sah allerdings keinen Grund, dieser Organisation bei- zutreten, weil es sie für überflüssig hielt. Der Direktor der Abteilung für Post- und Telegraphie (lett. Pasta un telegräfa departaments), Hugo Resnais bemerk- te in einem Bericht an das Außenministerium im Jahre 1937, dass die Polen ihren Einfluss im Ostseeraum vermittels des Luftverkehrs steigern wollten. So versuchte das Management der LOT beispielsweise, die Einrichtung eines let- tischen Luftverkehrdienstes zwischen Riga und Libau (lett. Liepäja) durch Einrichtung einer Zweiglinie der LOT-Verbindung zu verhindern.3 Zur anderen Seite der Ostsee hin gab es eine Verbindung zwischen Riga und Stockholm — auch sie war unwirtschaftlich und wurde nur unregelmäßig bedient. Es waren aber damals ohnehin nur wenige Städte überhaupt mit Riga über den Luftweg verbunden (Tallinn, Berlin, Moskau, Kaunas und War- schau), so dass die Anbindung der beiden nordischen Hauptstädte Stockholm und Helsinki doch eine Steigerung des Transportaufkommens von Passagie- ren und Fracht über die Ostsee ermöglichte. Während des Winterkrieges wur- de der Luftverkehr mit Finnland unterbrochen, erst am 2. April 1940 wurde wieder eine Linienverbindung nach Helsinki eingerichtet.4

3 LVVA, 2574-3-2316, Bl. 97. 4 LVVA, 2574-3-2946, Bl. 1.

257 Valters Scerbinskis

Erst gegen Ende der 1930er Jahren nahm die Rolle des zivilen Luftver- kehrs signifikant zu, aber immer noch war die Anzahl von Fracht- und Pas- sagiertransporten vernachlässigenswert. Erwähnenswert ist ein Satz, den Zygfryd Pifttkowski 1930 über die Rolle der Luftfahrt für die Entwicklung zwischenstaatlicher Beziehungen notierte: „The aeroplane turns letters into telegrams, accelerates the exchange of hu- man ideas, hastens decisions and Speeds up the circulation of money — in short, it promotes trade and increases prosperity. [..] Apart from these economic advan- tages, there are gains of cultural and political character. For, hexe again, the fa- cilitating of personal contacts would help to tighten the Bonds of political amity betweeen the nations an the seas served by these air-lines." 5 Post, Telegraphie, Telefon Als die lettische Post- und Telegraphenverwaltung gegründet wurde, gab es nur einen unregelmäßigen Postdienst zwischen Lettland und Finnland sowie zwischen Lettland und Skandinavien. In Ermangelung direkter Postkontakte, die natürlich als Verbindungsglied zur westlichen Welt 1919-1921 von großer Bedeutung waren, spielte die Postbeförderung über Kopenhagen und auch — erstaunlicherweise — über Helsinki hierfür die wichtigste Rolle. Im Jahre 1919, als die lettische Verwaltung für Post und Telegraphie wirklich ihre Tätigkeit aufnahm, wurde ein unregelmäßiger Postdienst mit Finnland durch Estland aufrecht erhalten: auf dem Landweg bis Tallinn und von dort dann mit dem Dampfschiff zwei bis drei mal pro Woche nach Helsinki. Ab dem 13. Oktober 1919 wurde Finnland eine wichtige Zwischenstation für die Postkontakte mit dem Westen, aber die Ostsee und der Finnische Meerbusen machten im Winter 1919/1920 den Posttransport per Schiff unmöglich, so dass die Post sich bis zu einem Monat verspätete. Dies wiederum — wie der Chef der Hauptverwaltung für Post- und Telegraphie (lett. Pasta un telegräfa virsvalde), Eduards Kadikis, berechtigterweise sagte — hinterließ einen schlechten Eindruck von Lettland im Ausland und war der Grund für viele Beschwerden.6 Um die nötigen Formalitäten international zu regeln, stimmte Finnland im November 1919 in seiner Eigenschaft als Mitglied der Weltpostorganisation zu, als Vermittlungsstelle für den Post- und Telegraphenverkehr aus Estland zu dienen.' Im Dezember 1919 bat der lettische Arbeits- und Transportmi- nister Teodors Hermanovskis um die Unterstützung des lettischen Außenmi- nisteriums mit dem Ziel, einen Postdienst über Finnland zu arrangieren, da zu dieser Zeit dies eine wichtige Frage nicht nur für die Verbindungen der

5 Zygfryd Pigtkowski: Civil aviation between the Baltic and South Europe, in: Baltic and Scandinavian Countries 3 (1937), S. 484. 6 LVVA, 1532-1-2236, Bl. 20. 7 LVVA, 4592-3-101, Bl. 257.

258 Kommunikation und Verkehr Lettland / nordische Länder

beiden Länder untereinander, sondern auch für Lettlands Kontakte nach Europa war.' Um die nötigen Verträge abzuschließen, besuchte der Chef des Post- und Telegraphenverwaltung Kadikis Helsinki ohne lange Umschweife. Im Oktober 1920, auf der Post- und Telegraphenkonferenz in Riga, wurde der Versuch ge- macht, eine Konvention zwischen Lettland, Finnland, Estland und Polen über die Regulierung der Postsysteme zu schließen, aber wegen mangelnden Interesses von seiten Finnlands wurde im Jahre 1921 die Konvention nur durch Lettland, Li- tauen und Estland unterschrieben. Da man zu dieser Zeit in den baltischen Staaten sehr betont Hoffnung auf ei- nen „Baltischen Bund" setzte, war es selbstverständlich, dass Lettland (genau wie Estland) versuchte, Finnland in ein vorgesehenes Netzwerk von Ostseeländern auf dem Gebiet der Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen einzubeziehen, aber die- se Bestrebungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Noch Ende der 1920er Jahre versuchten offizielle Stellen in Lettland, die Verhandlung wieder aufzunehmen — diesmal nur mit dem Ziel, ein zweiseitiges Abkommen zu schließen, das besse- re und vorteilhaftere Konditionen für den Verkehr zwischen den beiden Ländern schaffen würde. Immer noch war Finnland zögerlich, und die lettischen offiziellen Stellen erklärten dies als einen charakteristischen Zug in der allgemeinen außen- politischen Haltung Finnlands. Bei den Postverbindungen mit Schweden und Dä- nemark hatten Privilegien von Anfang an keine Rolle gespielt und wurden auch nicht aus außenpolitischen Gründen für nötig gehalten.

Tabelle 2: Gebührenpflichtiger Postverkehr zwischen Lettland und den Län- dern, die die höchste Postverkehrsfrequenz mit Lettland aufwiesen (Haushalts- jahre1935/36 und 1938/39) (Anteil in Prozent) 9 Haushaltsjahr 1935/36 Haushaltsjahr 1938/39 Estland 8.3% 7.2% Großbritannien 7.2% 8.5% Sowjetunion 7.1% 4.0% Polen 5.5% 8.0% Skandinavische Länder: Schweden 1.8% 2.6% Dänemark 1.7% 1.6% Finnland 1.5% 2.4% Norwegen 0.6% 0.8%

8 LVVA, 2574-3-57, Bl. 64. 9 Die Tabelle ist zusammengestellt nach: Latvijas statistikas gadagrämata, 1935, 1938, 1939.

259 Valters kSYerbinskis

Tabelle 3: Länder mit der höchsten Telegrammwechselfrequenz mit Lettland (Haushaltsjahre 1935/36 und 1938/39) (Anteil in Prozent)1° Haushaltsjahr 1935/36 Haushaltsjahr 1938/39 Großbritannien 26.3% 30.6% Deutschland 20.5% 18.6% Estland 5.9% 5.5% Litauen 4.3% 5.2% Polen 3.9% 4.1% Skandinavische Länder: Schweden 3.8% 4.7% Dänemark 3.7% 2.7% Finnland 2.5% 2.5%

Es ist interessant, dass die ersten Telegraphenverbindungen, die Riga und den Westen miteinander verbanden, über Helsinki und Kopenhagen führten. Zu Beginn der 1920er Jahre wurde auch eine Funkverbindung über die Ostsee eingerichtet. Nach Ausweis der statistischen Daten machten die Telegramme zwischen Riga und den nordischen Ländern während des gesamten Zeitraums ungefähr 10 % des gesamten Telegraphenverkehrs Lettlands aus. Dänemark lag dabei immer vorne, gefolgt von Schweden, Finnland und Norwegen. Von der Mitte der 1920er Jahre an nahm der Gesamtumfang in absoluten Zahlen in Hinblick auf Skandinavien ab, aber was Finnland betraf, so stell- te sich überraschend ein allmählicher Zuwachs ein (außer für die Jahre der Weltwirtschaftskrise). Mehr Telegramme als mit Finnland wurden üblicher- weise nur mit Großbritannien, Estland, Litauen, der Sowjetunion, Polen und Deutschland gewechselt. 1928 wurde eine Telefonverbindung zwischen Lettland und Finnland. hergestellt." Zum Vergleich sei erwähnt, dass Lettland zuvor Telefonkon- takte nur mit Estland, Litauen, Polen, Danzig und Deutschland hatte. Im da- rauf folgenden Jahr wurde eine Telefonverbindung mit Schweden einge- richtet, aber erst 1930 mit der Sowjetunion. Was den prozentualen Anteil an Telefongesprächen betrifft, so machte er für die nordischen Länder nur 4,5 % aller internationalen Ferngespräche aus. Mehr als die Hälfte von die- 10 Ebda. 11 LVVA, 1532-1-2577 [ohne Blattzählung]. 260 Kommunikation und Verkehr Lettland / nordische Länder sen waren Gespräche zwischen Lettland und Finnland. Obwohl der prozen- tuale Anteil der Gespräche mit Finnland ebenfalls in den 1930er Jahren ab- nahm, blieb die Anzahl der Kontakte doch stabil und zeigte eine steigende Tendenz in absoluten Zahlen. Insgesamt fielen die nordischen Länder hin- sichtlich des Telegraphen- und Postverkehrs sowohl im Vergleich zu den anderen Baltischen Staaten als auch zu Deutschland, der Sowjetunion und Polen zurück. Die politische Natur der Entwicklung von Kommunikations- wegen zeigte sich deutlich bei den Versuchen des lettischen Außenministeri- ums, 1930 eine direkte drahtlose Verbindung mit Großbritannien herzustel- len. Für Lettland war Großbritannien nicht nur ein Vorbild erstrebenswerter politischer Orientierung, sondern auch ein sehr wichtiger Markt für lettische Güter, aber trotz der Anstrengungen Rigas blieb Großbritannien desinteres- siert an der Möglichkeit einer so signifikanten Verbesserung der Verkehrs- wege: „The Postmaster General is not at present satisfied that the mainte- nance of a direct wireless service an a permanent basis be justified".12 Eisenbahn Während der 1920er und 1930er Jahre waren die Eisenbahnen sehr wichtig für die Etablierung eines Verkehrsnetzes, aber da Lettland und die nordischen Länder keine direkten Landesgrenzen hatten, waren die Eisen- bahnnetze in dieser Region nur von sekundärer Bedeutung. Eisenbahnen waren wichtiger, um Lettland und Finnland zu verbinden. Aufgrund der Transitmöglichkeiten durch Estland wurde ein großer Teil des Transport- volumens nach Finnland und zurück auf diesem Wege abgewickelt. Zu Be- ginn war aufgrund der Kriegsereignisse diese Möglichkeit sehr begrenzt. Als sich 1920 die ökonomischen Bedingungen stabilisierten, begannen ers- te Anstrengungen, den Eisenbahnverkehr auf eine stabile Basis zu stellen. Es gab zu Beginn der 1920er Jahren hohe Erwartungen an eine Annäherung der Staaten in der Ostseeregion, und das sorgte für einen Ansporn, die Ei- senbahnverbindungen zwischen den Baltischen Staaten, Finnland und Po- len schnell weiterzuentwickeln. Auf der Konferenz von Bilderlingshof (lett. Bulduri) im August 1920 wurde noch festgestellt, dass keine rechte Ord- nung oder ein System im Fracht- und Passagierverkehr zwischen den teil- nehmenden Ländern bestand. Aus diesem Grund wurde in Helsinki im Jahre 1920 ein erster Kongress zum Thema Eisenbahnen im Ostseeraum organi- siert. So konnten Regulierungen und Grundsätze von gegenseitigem Nutzen im Eisenbahnverkehr entworfen werden. Insbesondere für die Verbindung zwischen Lettland und Finnland bedeutete eine positive Lösung dieser Pro- bleme günstige einheitliche Zolltarife sowie Förderung des Verkehrsflusses 12 Der britische Generalpostmeister J. W. Philips an den Direktor des lettischen Post- und Telegraphen- dienstes, 15.6.1933. LVVA, 1532-1-1679, Bl. 188.

261 Valters "&rbinskis und andauernde Zusammenarbeit in Fragen, die sich auf die Verwaltung und den Betrieb von Eisenbahn bezogen. Gesamtbewertung Die Arten der technischen Kommunikation und der Verkehrsverbin- dungen, die hier untersucht wurden, waren das Hauptvehikel der Zusam- menarbeit zwischen Lettland und den nordischen Ländern. Die wirtschaft- liche Zusammenarbeit hing in hohem Maße von den Transportmöglichkeiten ab, und eine unterentwickelte Struktur der Kommunikations- und Verkehrs- wege konnte durchaus eine Hürde für die Entwicklung von Kooperation auf anderen Gebieten darstellen. Auf der anderen Seite wurde unter freien Markt- bedingungen die quantitativen und qualitativen Messzahlen technischer Kom- munikation nicht nur durch politische Lösungen, sondern noch viel mehr durch ökonomische Anreize geschaffen, und in Bezug auf die lettisch-nor- dische Kooperation bestanden diese eben nicht. Für eine kurze Zeit während der Jahre 1919 und 1920 waren Skandina- vien und Finnland fast die einzigen Transitländer für technische Kommuni- kation mit dem Westen, aber später nahm die Wichtigkeit dieser Route be- deutend ab. Von 1920 bis in die frühen 1930er Jahre war das Verkehrs- und Kommunikationsnetz im Einklang mit der Intensität der politischen und wirt- schaftlichen Zusammenarbeit organisiert. Da schon in den frühen 1920er Jah- ren Finnlands negative Einstellung zur einer näheren Zusammenarbeit mit Lettland und Estland offensichtlich wurde, konnte eine Entwicklung, die ur- sprünglich zwar schnell vorangeschritten war und während einiger Phasen durchaus nicht auf die Berechnung von Profit aufbaute, sich nicht intensivie- ren. Es ist festzuhalten, dass die Initiativen zur Wiederaufnahme oder zur Or- ganisation neuer Verkehrsformen über die Ostsee hinweg in der Regel von Riga ausgingen. Ein Überblick über die technischen Kommunikations- und Verkehrsverbindungen erlaubt den Schluss, dass die dominierenden Faktoren hinter dieser Entwicklung letzten Endes in den Wirtschaftsbeziehungen lagen. Wie man aber sehr gut an dem Fallbeispiel Finnland sehen kann, sind poli- tische und sogar in einem gewissen Maße kulturelle Rücksichtnahmen nicht ganz auszuschließen. Verallgemeinernd kann aus den Messzahlen der technischen Kommuni- kation und der Verkehrsverbindungen der Schluss gezogen werden, dass im Hinblick auf Lettland sowohl Finnland als auch Skandinavien hinter die üb- rigen baltischen Staaten und Polen zurückfielen und ebenso auch hinter Län- der mit einem großen Wert als Handelspartner — Deutschland, Großbritan- nien und die Sowjetunion. Aber obwohl keine engen Wirtschaftskontakte von grundlegender Bedeutung bestanden, förderte doch die geographische Nähe und der relativ geringe Organisationsaufwand für Verkehr einen ge- 262 Kommunikation und Verkehr Lettland / nordische Länder wissen Austausch von Gütern und unterstützte so eine Annäherung trotz der politischen Zurückhaltung. Unter den Nordischen Ländern waren Finnland und Schweden führend im Kontakt mit Lettland, während Norwegens Anteil unbedeutend blieb. Als eine Art regionale Supermacht wurde Schweden als Gravitationspunkt des Ostseeraums mit einem starken ökonomischen Potential angesehen. Finnland spielte in der Politik Rigas halb die Rolle eines baltischen und halb die eines skandinavischen Staates. Trotz des oft unprofitablen Verkehrs wurden tech- nische Verbindungen mit Helsinki wegen ihrer großen politischen und kultu- rellen Wichtigkeit aufrechterhalten. Dänemark verlor definitiv seine Position nach den frühen 1920er Jahren, als es ein wichtiges Zentrum für den Transit nach dem Westen gewesen war. Norwegen wurde in der Zwischenkriegzeit wegen seiner politischen, geographischen und wirtschaftlichen Entfernung niemals bedeutend. Ein Raum, der durch ein Netz von gleichmäßig intensiven Alltagskon- takten abgedeckt war, hat sich also selbst nach der Entstehung der neuen Staatenwelt 1918/20 in Nordosteuropa nicht herausgebildet.

Aus dem Englischen übersetzt von Robert Schweitzer

263

AUSSEN- UND BINNENGRENZEN NORDOSTEUROPAS

Jukka Korpela Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kardis 1323-1660: Kirchengrenze, politische Grenze oder Kulturgrenze? Eine Region des Ost-West-Gegensatzes?

Nach der herkömmlichen finnischen Auffassung hat unser Vaterland im- mer an einer gesamteuropäischen Ost-West-Grenze gelegen, und Kareli- en ist sogar in zwei kulturell verschiedenartige Teile geteilt. Einerseits hat die finnische Kultur dadurch einen starken und reichen östlichen Einfluss auf ihre prinzipiell westliche Natur erhalten, andererseits hat diese Sachlage aber ständige, jahrhundertlange Machtkämpfe auf das finnische Territorium gezogen. Man hat die Grenze des Friedens von Nöteborg (1323) als die ers- te beständige Grenze zwischen Schweden und Russland betrachtet und ihl- eine überzeitliche, mythische Kulturrolle zugeschrieben, die man noch heut- zutage in den Unterschieden zwischen der ost- und westfinnischen Kultur und sogar in einzelnen Sitten und Charakterzügen der Menschen zu finden meint. Die Grenze ist auch als eine Manifestation der Frontstellung zwi- schen Byzanz und Rom als Exponenten des östlichen und westlichen Chris- tentums in Nordeuropa gedeutet worden. Die Auffassung von der historischen Rolle Finnlands und der Finnen hat sich aber erst unter der Wirkung der Nationalromantik und des politischen Selbstbewusstseins der jungen nationalen Republik und der Konfrontati- on zwischen Finnland und Russland bzw. der UdSSR seit den sogenannten Unterdrückungsjahren am Beginn des 20. Jahrhunderts herausgebildet. Un- terstützung für eine solche Auslegung fand man in der nationalen russischen und schwedischen Geschichtsschreibung. Seit der frühen Neuzeit hatten die Moskauer Historiker die Rolle Moskaus als eines Verteidigers der Orthodoxie gegen westliche Häretiker und östliche Heiden beschrieben. Die Schweden sprachen von sich ihrerseits als Verteidiger der abendländischen Kultur.' Die Geschichtsforschung wird dadurch kompliziert, dass die Quellen des osteu- ropäischen Mittelalters hauptsächlich durch eine tendenziöse Editionspolitik

1 David B. Miller: The Velikie Minei Chetii and the Stepennaia Kniga of Metropolitan Makarii and the Origins of Russian National Consciousness, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 26 (1979), S. 263-369, hier S. 275-283, 294, 300-313, 317-338, 361-365; Arto Latvakangas: Riksgrundarna: varjag- problemet i Sverige frän runiskrifter till enhetlig historisk tolkning, Turku 1995 (Annales Universitatis Turkuensis; Ser. B., Bd. 211), S. 85-87, 90-94; Jukka Korpela: „The Russian threat against Finland" in the western sources before the peace of Noteborg (1323), in: Scandinavian Journal of History 22 (1997), S. 161-172, hier S. 170f.

267 Jukka Korpela dieser Historiker auf uns gekommen sind.' Die mittelalterlichen Machtver- hältnisse im nordöstlichen Europa waren jedoch ganz anders, als das westliche nationale Schweden und das östliche nationale Moskau sie beschreiben ließen. Der mittelalterliche Novgoroder Staat war kein besonders stark territori- alisierter Machtkomplex, er war ein Handelstaat mit vielen westlichen Kon- takten. Novgorod war teilweise mehr „baltisch" — im Sinne des englischen oder lateinischen Adjektivs — als russisch, und von einer nationalen Identität wagen wir kaum zu sprechen.' Die zweite wichtige Macht dieses Raumes war Litauen. Die Moskauer Geschichtsschreibung hat sie nicht als russisch betrachtet, und die russische Forschung ist diesen Spuren gefolgt. Litau- en kontrollierte aber die Hauptteile des Territoriums des ehemaligen Kie- ver Reiches, und nach der Union mit dem Krakauer Königreich im Jahre 1385 war sein Fürstenhaus auch römisch-katholisch. Litauische Fürsten wa- ren außerdem lange Zeit im 14. und 15. Jahrhundert mit dem späteren kare- lischen Raum belehnt. Litauen war zwar kein rein westlich geprägtes Reich, aber es wirkten auch nicht nur Einflüsse aus dem Osten auf es ein.4 Der öst- liche Einfluss Moskaus hingegen dehnte sich nach Karelien erst nach der Eroberung und Vernichtung Novgorods 1471/1478 aus.5 Obwohl man in der bisherigen Forschung traditionell von einer bestimmten Rolle der finnischen Stämme gesprochen hat, sagen unsere eigentlichen hi- storischen Quellen nichts über ein Wir-Gefühl oder Selbstbewusstsein der Bewohner des späteren finnischen Raums aus. Eigentlich ist der ganze fin- nische Stammesbegriff nur eine gelehrte Konstruktion der nationalistischen Forschung des späten 19. Jahrhunderts. Das finnische Wort „heimo" wurde damals von der Geschichtsforschung in dem Sinne rezipiert, dass man damit den europäischen Begriff „Stamm" in die finnische Geschichte einbringen konnte. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „heimo" war eine Fami- lie oder Großfamilie. Dann ging man weiter und begann, karge Quellen des 2 S. Jukka Korpela: Prince, Saint and Apostle: Prince Vladimir Svjatoslavis6 of Kiev, his Posthumous Life, and the Religious Legitimization of the Russian Great Power, Wiesbaden 2001 (Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München; Bd. 67), S. 18-46. 3 Ders.: Itä-Euroopan historia keskiajalta 1700-luvulle [Geschichte Osteuropas vom Mittelalter bis ins 18. Jhl, Helsinki 1999, S. 90f., 108, 125f.; Igor P. Bor'ba Rusi protiv krestonosnoj agressii na be- regach baltiki v XII - XIII vv. [Der Kampf der Rus' gegen die Aggression der Kreuzritter an den Küsten der Ostsee im 11. und 12. Jh.], Leningrad 1978, S. 15-18, 22f., hat eine tiefgreifende Analyse über die Gebiete Novgorods vorgelegt. Nach seiner Meinung gehörten große Territorien Finnlands und des nordöstlichen Fennoskandiens zum Novgoroder Staat im 12. und 13. Jahrhundert. Sein Ausgangspunkt ist jedoch eine ver- altete Auffassung über Territorialstaaten. Darum haben wir nicht immer seine Argumentation kommentiert, sondern die Kritik an der finnischen Forschung richtet sich in dieser Hinsicht auch gegen ihn. 4 Heikki Kirkinen: Karjala Idän kulttuuripiirissä: Bysantin ja Venäjän yhteyksiä keskiajan Karjalaan [Karelien im östlichen Kulturkreis: Die Verbindungen Byzanz' und Russlands nach dem mittelalterlichen Karelien], Helsinki 1963 (Historiallisia tutkimuksia; Bd. 67), S. 142f, 154-157; Korpela: Itä-Euroopan historia (wie Anm. 3), S. 60-65, 98f. 5 Jane Martin: Medieval Russia, 980-1584, Cambridge 1995 (Cambridge Medieval Textbooks), S. 249-254.

268 Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kandis 1323-1660

Mittelalters mit Hilfe dieser Terminologie zu interpretieren. Die Autoren der Quellen standen nämlich einst vor der Aufgabe, die Bewohner der finnischen Wälder einfach auf irgendeine Weise zu benennen. Ihre Terminologie war sehr ungenau, und deswegen begegnen wir in Texten nur technischen Ter- mini, mit denen keine tiefgreifende ethnische, kulturelle oder administrative Analyse beabsichtigt worden war. Das Resultat der Forschung war jedoch eine Theorie über den finnischen mittelalterlichen Stammesbau, ohne dass man eigentlich richtige Quellen dafür gehabt hätte.6 Die finnischsprachige, frühmittelalterliche Gesellschaft bestand aus Großfamilien oder gemeinsam siedelnden kleinen Menschengruppen, die die großen Wälder bewohnten und Brandackerbau und besonders Fisch- fang und Jagd betrieben. Diese Einheiten pflegten aber keine Verbindung von einer solchen Intensität, dass eine tiefer gegliederte Gesellschaftsstruk- tur daraus hätte entstehen können. Eine Solidarität gab es höchstens zwi- schen kleineren ökonomischen (und vielleicht Kult-) Einheiten. Obwohl man viel von einer vorchristlichen Lokalverwaltungsstruktur Finnlands und ihrer Entwicklung in der Forschung gesprochen hat, sind die eigentlichen, sicheren, wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Forschungen gering. Beson- ders in Ostfinnland gab es kaum ein entwickeltes System.' Von genauen Grenzen im Sinne des späteren europäischen Staatsrechtes kann man eben- falls nicht sprechen. Die lokalen Einwohner hatten zwar ihre ökonomischen Interessen, also Fischplätze und Jagdterritorien, irgendwie zwischen ver- schiedenen gemeinsam siedelnden Menschengruppen geteilt, aber diese Grenzen hatten kaum einen Einfluss auf die späteren russisch-schwedischen

6 Kustaa Vilkuna: Heimo, heimokansa, heimokunta [Die Begriffe heimo (Stamm), heimokansa (stamm- verwandtes Volk), heimokunta (Stammesverwandter)], in: Kalevalaseuran vuosikirja 53 (1973), 35-42; Thomas Wallerström: Norrbotten, Sverige och medeltiden: problem kring makt och bosättning i en euro- peisk periferi, Bd. 1, Stockholm 1995 (Lund Studies in Medieval Archaeology; Bd. 15:1), S. 213-238. 7 Kustaa Vilkuna: Kihlakunta ja häävuode: tutkielmia suomalaisen yhteiskunnan järjestäytymisen vai- heilta [Gau und Hochzeitszelt: Untersuchungen zu den Entwicklungssstadien der finnischen Gesellschafts- organisation], Helsinki, 1964, S. 11 f., 15-24, 31f.; Veikko Litzen: Om socknen, in: Historisk Tidskrift för Finland 62 (1977), S. 324-335; Arvi Korhonen: Vakkalaitos: yhteiskuntahistoriallinen tutkimus [Das volkstümliche Scheffelmesswesen (Vakkalaitos): eine gesellschaftsgeschichtliche Studie], Helsinki 1923, passim. Die Quellen sind fast ausschließlich nur spätere und unklare Orts- und Institutionsnamen. Die Modelle der Interpretation sind aus Skandinavien und dem Baltikum genommen. Diese beiden Regionen waren im Frühmittelalter aber weiter entwickelt und dichter bewohnt als Finnland. Außerdem konzentrie- ren sich die Forschungen in Finnland nur auf die westlichen Gebiete; aus ihnen kann man aber nicht direkt Schlussfolgerungen über die Verhältnisse in Ostfinnland ziehen, weil damals ziemlich große Unterschiede sowohl in Wirtschafts- als auch Besiedlungsformen zwischen Ost- und Westfinnland herrschten, s. Jukka Korpela: Viipurin linnaläänin synty, in: Viipurin läänin historia II, Jyväskylä, 2004, S. 54-55,184-192, 198-239; demnächst auch Jukka Korpela: Parish Formation in the South-Eastern Finland and Southern Carelia; das Manuskript, basierend auf einem Vortrag im Rahmen des Projekts „Saints of Europe" (bis jetzt aus dessen Arbeit erschienen: Saints of Europe: Studies towards an survey of cults and culture / hrsg. v. Graham Jones, Donington 2003) liegt unveröffentlicht beim Verfasser.

269 Jukka Korpela politischen Verhältnisse. Das ganze Territorium war auch im Verhältnis zur Einwohnerzahl ungeheuer groß, und es gab auch große Unterschiede zwi- schen verschiedenen Gebieten. In Burgzentren wie Turku (schwed. Abo), Hämeenlinna (schwed. Tavastehus) und Wiborg (finn. Viipuri, schwed. Vi- borg, russ. Vyborg) wohnten schon ziemlich selbstbewusste Europäer, wäh- rend in entfernt gelegenen Landesgebieten die Menschen kaum auf einen einheitlichen ökonomischen oder sozialen Niveau lebten, sondern die For- men stark nach den lokalen Möglichkeiten variierten. Außerdem gab es noch keinen klaren Unterschied zwischen den Finnen und den Lappen, die bis nach Südfinnland hinein lebten — er bestand höchstens in ökonomischer Hinsicht. Somit sind alle Identitätsdiskussionen in diesen Rahmen meiner Meinung nach nur gelehrte Spekulation.' Von unserem Standpunkt aus wäre es äußerst interessant zu wissen, wie mittelalterliche Novgoroder eigentlich die Bedeutung des Friedens von Nö- teborg (finn. Pähkinalinna, russ. Oregek, Orechoveck) verstanden haben, wie die Territorialisierung der europäischen Staatsmacht im ostfinnischen Grenzgebiet begann und wie und wann die Auffassung von der finnischen Ostgrenze als einer tiefen Kulturgrenze entstand. Eine Grenze zwischen nicht territorialisierten Staaten Das Territorium Finnlands tritt ins Licht der schriftlichen Quellen erst im 11. Jahrhundert. Die russischen Texte kennen Feldzüge Kiever und Novgo- roder Fürsten seit 1042 gegen „Jem". „Korela" wird zum ersten Mal 1143 erwähnt.' Das Interesse der westlichen Quellen nimmt ungefähr zur selben Zeit zu. Schweden und Dänen waren aktiv in westlichen und südlichen Tei-

8 Matti Pöllä: Laatokan länsirannikon asujaimiston etnisen koostumuksen muutokset rautakaudella ja Karjalan synty [Die Veränderungen in der ethnischen Zusammensetzung der Bewohnerschaft des west- lichen Ufers des Ladoga-Sees und die Entstehung Kareliens], in: Suomen varhaishistoria: Tornion kon- gressi 14.-16.6.1991 / hrsg. v. Kyösti Julku, Rovaniemi 1992 (Studia Historica Septentrionalia; Bd. 21), S. 424-434; Yrjö Kaukiainen: Suomen asuttaminen [Die Besiedlung Finnlands], in: Suomen taloushistoria I. Agraarinen Suomi [Wirtschaftsgeschichte Finnlands, I. Das agrarische Finnland] / hrsg. v. Eino Jutik- kala, Yrjö Kaukiainen, Sven-Erik Aström, Helsinki 1980, S. 11-145, hier S. 22-27, 39-41; Viljo Nissilä: Suomen Karjalan nimistö [Das Namenmaterial des finnischen Karelien], Joensuu 1975 (Karjalan kultturin edistämissäätiön julkaisuja), S. 155f., 233f.; Korpela: Viipurin linnanlääni (wie Anm. 7), S. 228-231. 9 Novgorodskaja pervaja letopis', stargego (= s) i mladgego m) izvodov, Moskva 2000 (Polnoe sobra- nie russkich letopisej (im Folgenden: PSRL); Bd. 3) (im Folgenden: NIL), (s) 6550 (1042), (s, m) 6651 (1143). [Auf eine Übersetzung der Quellentitel wird verzichtet, RSch, JH.] Die „Jem" sind Bewohner des westlichen finnischen Inlands, aber die ethnische Terminologie ist überhaupt sehr ungenau. Die auslän- dischen Quellen nannten die Einwohner irgendwie, was aber nicht bedeutete, dass sie eine ethnogenetische Analyse durchgeführt hätten. Es handelt sich um eine von außen kommende Terminologie. Wir können nicht wissen, ob die Bewohner von „Jem" oder „Korela" der Novgoroder Quellen sich auch selbst als eine ethnisch-kulturelle Einheit verstanden und ein tieferes Zusammengehörigkeitsgefühl oder eine gemein- same Identität entwickelt hatten.

270 Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kandis 1323-1660

len des Gebiets» Die isländischen Sagas scheinen auch sehr früh eine Ak- tivität in Karelien zu kennen, aber wegen der Ungenauigkeit dieser Quellen wären noch weitere Forschungen nötig, bevor wir endgültige Schlussfolge- rungen ziehen können." Zuerst handelte es sich in den Quellentexten um Berichte über einzelne Raubzüge aus Skandinavien und der Rus', aber allmählich strebten beide Sei- ten nach einem beständigeren Einfluss. Außerdem war diese Aktivität nicht nur bipolar, wie die bisherige Forschung uns leicht verstehen lässt, sondern es handelte sich eher um einen Machtbildungsprozess, in dem alle kleineren und größeren Zentren ihre eigene Macht selbst zu etablieren versuchten und somit multilaterale Kriege gegeneinander führten. Die westlichen Quellen sprechen über Kreuzzüge, Christianisierung und eine Verteidigung gegen Anfälle der Heiden.' Die östlichen Texte beschreiben nur Tributsammlungen und Raub- züge („Besteuerung").n Schatzfunde und Befestigungen können aber auch lo- kale Konfrontationen und interne Streitigkeiten beweisen. Außerdem sind alle Funde nicht unbedingt Beweise für kriegerische Vorgänge, sondern können ebenso gut Opferfunde sein, die für mystische Begegnungen zwischen Aus- ländern und Lokalen in den Wäldern und für eine Sitte eines Geschenkaus- tauschs charakteristisch wären. Allmählich begann aber die Macht sich zu territorialisieren, d.h. Gemeinden wurden gegründet, die beständige Besteue- rung durchgesetzt und gleichzeitig wurden die ursprünglichen lokalen Gesell- schaftsstrukturen beiseite geschoben.14

10 Kyösti Julku: Suomen itärajan synty [Die Entstehung der Ostgrenze Finnlands], Rovaniemi 1987 (Stu- dia. Historica Septentrionalia; 10), S. 50-53. 11 Es scheint wahrscheinlich, dass ein warägisches Interesse sich stärker auf karelische und finnische Ge- biete erstreckte, als die größten Pelzmärkte sich um die Jahrtausendwende vom Osten nach Westeuropa ver- lagerten. Dieser Wandel wäre dann auch in den Sagas sichtbar; s. Andrej Michailovic Spiridonov: Karelians in the North of Fennoscandia in the 11-13th Centuries: a View from the East, in: Suomen varhaishistoria (wie Anm. 9), S. 559-565, und die Literatur in Anmerkungen 12-14 und 33. 12 Korpela: The Russian threat (wie Anm. 1). 13 Die ersten Erwähnungen, die die Forschung — gaskol' skij (wie Anm. 3), S. 23 — als einen Beweis für eine frühe Novgoroder Besteuerung betrachtet, sind ein Brief von Fürst Svjatoslav 01.'govi" von 1137 (Pamjatniki istorii velikogo Novgoroda i Pskova [Denkmäler der Geschichte Groß-Novgorods und Ples- kaus] / hrsg. v. G. E. K&In, Leningrad 1935, S. 47) und der Bericht in der Stepennaja Kniga vom Beginn des 13. Jahrhunderts über die Besteuerung von Fürst Jaroslav Vsevolodovi, in:Kniga Stepennaja carskogo rodoslovija, Sanktpeterburg 1908-1913 (PSRL; Bd. 21), 7. st., S. 254. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um Regionen jenseits des Onega-Sees. Die erste Quelle ist aber nur ein Verzeichnis über Beuten, die nichts über eine systematische Administration sagt; die zweite ist eine unglaubwürdige Quelle aus dem 16. Jahrhundert. Die berühmte Geschichte über die Taufe Kareliens 1227 ist auch von keiner Novgoroder Quelle sondern nur von der Laurentius-Chronik erwähnt worden, s. Lavrent'evskaja letopis', Moskva 1962 (PSRL; Bd. 1) (im Folgenden: LL), 6735 (1227), und höchstwahrscheinlich unhistorisch, s. John Lind: De russiske kroniker som kilde til kontakter i Ostersoomrädet, in: Norden og Baltikum. Det 22. Nordiske historikermote. Oslo 13.-18. august 1994. Rapporter I, Oslo 1994, S. 42-45. 14 Mehr bei Litz&I (wie Anm. 7); Korpela: Viipurin linnanlääni (wie Anm. 7), S. 55-56; Eric Christian- sen: The Northern Crusades, New Edition, London 1997, S. 44-49, 113-122.

271 Jukka Korpela

Der Frieden von Nöteborg (1323) ist herkömmlich als ein historischer Wendepunkt angesehen worden. Man hat dieses sog. „Abkommen Jurijs und Magnus'" als den ersten Frieden zwischen Schweden und Novgorod (Russ- land) betrachtet und angenommen, dass damals die erste Grenze zwischen diesen Mächten festgelegt wurde. In der finnischen Historiographie hat man lange über die exakte Grenzlinie des Friedens diskutiert. Die Diskussion hat verschiedene Dimensionen gehabt. Erstens hat man die Nöteborger Grenze als eine historische Kulturgrenze zwischen Ost und West betrachtet. Zweitens hat man eine finnische Nationalidentität und Stammes- bildung damit erklärt. Drittens hat man eine vor-nöteborgische Grenze auf- grund dieses Stammesaufbaus zu rekonstruieren versucht.' Erst in den letzten Jahren ist man mehr auf die Meinungen Jarl Gall&is aus den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts zurückgegangen, dass es im Frieden von Nöteborg vielleicht gar nicht um eine Territorialgrenze ging, sondern um etwas ganz anderes. Jarl Gallen gab zu bedenken, dass eine Diskussion über die exakte Gren- ze von der Karelischen Landenge an — also vom Saimaa nach Norden — ganz auf den falschen Spuren gewesen sein könnte. Jalmari Jaakkola und ande- re hätten Zeit verschwendet, als sie jahrzehntelang über den exakten Lauf der Grenze stritten, weil es sich um keine Territorialgrenze gehandelt habe. Die genannten Grenzpunkte im Friedensabkommen seien nur vertragsnoto- rische geographische Stützpunkte für ökonomisch wichtige, große, aber ter- ritorial nur grob bestimmte und nach Personenverbänden nicht eingeteilte Jagd- und Fanggebiete in beinahe unbewohnten Wildnissen des östlichen und nördlichen Fennoskandiens gewesen.16 Die Auslegung Gallns ist unter anderen von Kauko Pirinen, Pekka Lappalainen und Eric Christiansen ange- nommen worden, während Heikki Kirkinen und eigentlich auch Kyösti Jul- ku den alten Streit fortgesetzt haben. Obwohl der letztgenannte zu Recht die Ungenauigkeit und den Prozesscharakter der Grenze betonte, hat er gleich- zeitig eine genaue Grenzlinie zu identifizieren versucht und betont, dass die- ser Frieden der erste Traktatfrieden des Gebietes war.17

15 Diese Machtgrenze und die entsprechenden Machtgebiete haben u. a. Jalmari Jaakkola, Mutti Kerk- konen und Kyösti Julku grundlegend in vielen Texten behandelt. Ich bin aber von diesen Schriften nicht besonders überzeugt, weil ihre Argumentation beinahe nur auf einem Namenmaterial, dessen Herkunft und Datierung sehr unsicher ist, und auf einer ziemlich jungen mündlichen Tradition beruht; außerdem nehmen diese Forscher die Existenz einer Territorialgrenze und einen Gegensatz zwischen Ost und West ohne weitere Überlegungen als ihren Ausgangspunkt. 16 Jarl Galln: Nöteborgsfreden och Finlands medeltida östgräns, Helsingfors 1968 (Skrifter utgifna av svenska litteratursällskapet i Finland; Bd. 427:1), passim, besonders S. 55-57, 87-102, 123-162. Schon Olof Simon Rydberg: Sverges traktater med främmande magter jemte andra dit hörande handlingar, Bd. 1: 822-1335, Stockholm 1877, S. 502, betonte, dass diese Gegenden so unbewohnt waren, dass die Unterhändler nicht mehr geographische Punkte nennen konnten. 17 Über den Traktatfrieden s. Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 9.

272 Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kandis 1323-1660

John Lind hat die Diskussion überzeugend zusammengefasst und gleich- zeitig bewiesen, dass die alte Grenzfestlegung unmöglich ist: es konnte sich damals um keine territorialisierten Staaten und ihre Grenzen handeln. Die einzelnen Details des Friedensabkommens beweisen außerdem, dass die Grenzlinie auch im Süden keine Souveränitätsfragen regelte, sondern sol- che sogar offen ließ. Deswegen hat Lind die These aufgestellt, dass die ganze Nöteborger Grenze eigentlich nur eine ungenaue Bestimmung über die Jagd- und Fanggebietrechte gewesen sei. Einerseits waren die Rechte der Novgoroder bis zum Bottnischen Meerbusen garantiert, aber anderer- seits hatten die Schweden ihre Rechte bis zum Eismeer bewahrt. Das Ter- ritorium des nordöstlichen Fennoskandiens bildete somit eine Art Kondo- minium.18 Ich möchte noch einen Aspekt zur Meinung Linds hinzufügen: obwohl das Nöteborger Abkommen eine Einteilung der Nutzungsrechte be- deutete, interessierten sich weder die Schweden noch die Novgoroder für die tatsächlichen Verhältnisse zwischen verschiedenen finnischen Gruppen in der Wildnis, sondern sie teilten mit dem Abkommen nur ihre eigenen In- teressen auf und benutzten für diese Arbeit die damaligen, ihnen bekannten finnischen und karelischen geographischen Stützpunkte. Das bedeutet also, dass die einstige finnische und karelische Welt nicht in den Grenzen der neuen Staaten weiterlebten, sondern dass diese Grenzen sich nur zufällig auf einige der alten Grenzpunkte stützte. Solch eine Auslegung würde aber den schönen finnischen Theorien von der welthistorischen Rolle der Nöteborger Grenze und der Ost-West-Ein- teilung unserer Kultur entlang dieser Grenzlinie diametral entgegenlaufen. Und es kommt noch schlimmer! Unsere Kenntnisse über das Friedensab- kommen beruhen meist auf den Forschungen 0. S. Rydbergs aus dem Jahr 1877. Dabei muss im Auge behalten werden, dass Originaldokumente über den Grenzverlauf selbst nicht erhalten sind, sondern eigentlich spätmittelal- terliche Aufzeichnungen und Notizen, die für Grenz- und Friedensverhand- lungen zwischen Schweden und Novgorod/Moskau entstanden sind. Die Texte geben Verzeichnisse u.a. von verschiedenen Punkten einer Grenzli- nie wieder. Sie unterscheiden sich in gewisser Weise voneinander und sind eindeutig keine wortgetreuen Abschriften oder Übersetzungen eines Origi- naltextes, sondern immer wieder erneuerte Hilfsmittel für die jeweils aktu- ellen Verhandlungen. Die jeweilige Beschreibung der Grenzlinie hat auch Veränderungen je nach der politischen Situation erlebt, denn die Schweden wollten sie ja genauer und weiter östlich gemäß der Ausdehnung der schwe- dischen Kolonisation19 seit dem 15. Jahrhundert festlegen.

18 John Lind: Om Noteborgsfreden og dens grxnser, in: Historisk Tidskrift för Finland 70 (1985), S. 305- 336, hier S. 334-336. 19 Der Begriff „Kolonisation" ist in diesem Zusammenhang ungenau. Früher dachte man, dass die schwe-

273 Jukka Korpela

Die vorhandenen Schriften sind auf lateinisch, schwedisch und altrus- sisch abgefasst. Wir kennen einige Dutzende von Handschriften. Der älteste lateinische Text stammt vom Ende des 15. Jahrhunderts, der älteste schwe- dische Text aus dem Jahr 1537 und der älteste altrussische Text vom Beginn des 17. Jahrhunderts. Sie befinden sich alle heutzutage im Schwedischen Reichsarchiv in Stockholm. Rydberg hat in der Tradition neben den soge- nannten A- und B-Varianten, die sich in der Datierung voneinander unter- schieden, auch eine Verfälschung des 15. Jahrhunderts erkannt. Laut Ryd- berg befand sich die Originalurkunde bis 1493 in Wiborg und danach in Stockholm. Julku hat Rydbergs Ergebnisse in dem Sinne präzisiert, dass die Urkunde 1493 noch in Wiborg vorhanden war, dann aber 1500 nach Stock- holm überführt wurde. Sie wäre jedenfalls dort beim Schlossbrand 1697 verbrannt. Letzteres ist aber eine bloße Hypothese. Obwohl Rydberg manchmal betont, dass die Formierung der Grenzli- nie ein langfristiger historischer Prozess war, hat er doch die Forschungstra- dition begründet, die den Urcharakter des Nöteborger Friedens betont. Weil Rydberg nämlich davon ausging, dass es einst ein solches genaues Nötebor- ger Dokument gegeben habe, das man mit genauer textkritischer und kodi- kologischer Forschung rekonstruieren könne, hat er gleichzeitig die Existenz dieses Dokuments als eine Tatsache postuliert. Eine andere Möglichkeit wäre nämlich gewesen, dass man unsere Handschriften nur als Quellen der Ver- handlungsprozedur betrachtet und angenommen hätte, dass die Grenzlinie nie genau schriftlich in Nöteborg 1323 bestimmt worden sei, sondern erst allmäh- lich in den Verhandlungen im Laufe der nächsten 150 Jahre entstanden ist. Somit hätte man auch in Nöteborg keinen Traktatfrieden, sondern nur — wie damals üblich — den Frieden mündlich durch einen Kreuzkuss geschlossen.20 dische Staatsmacht auch tatsächlich unbewohnte Gegenden kolonisierte. Heute ist man eher der Meinung, dass die Regionen schon früher in unregelmäßiger Dichte von Fischern, Jägern und Brandackerbebauern bewohnt waren. Kolonisation bezeichnet dann nur die Maßnahmen der Königsmacht, die diese Leute der königlichen Verwaltung und Besteuerung unterstellte; vgl. Korpela: Viipurin linnanlääni (wie Anm. 7), S. 287-298. 20 Rydberg (wie Anm. 16), S. 434-504; Ida Friedlnnder: De medeltida svensk-ryska fredstraktaterna 1323-1513. En diplomatarisk undersökning, in: Svensk Historisk Tidskrift 66 (1946), S. 97-138, hier S. 97- 101, 112-128, 136-138; Galln (wie Anm. 16), S. 39-45. Das allerverdächtigste von unseren Dokumenten ist der altrussische Text. Er soll 1611 in Novgorod in die Hände der schwedischen Besatzungstruppen geraten sein; Rydberg (wie Anm. 16), S. 349, 450 f., hat ihn als echt aufgrund von Äußerungen von Jakov Grot und Caspar Wilhelm Smith (Ryssiske kronike, Kjobenhavn 1869) betrachtet. Die beiden Gelehrten haben aber den Text nicht wissenschaftlich studiert, obwohl Grot in seiner Rezension über Rydbergs Ver- öffentlichung einige Seiten auch auf die Nöteborger Texte verwendet: Jakov K. Grot: Bibliografieskija i istorieskija zametki: I. Neizvestnyj do sich por russkij tekst orechovskago dogovora [Bibliografische und historische Anmerkungen: I. Ein bisher unbekannter Text des Friedensvertrags von Nöteborg], in: Zapiski Imperatorskoj Akademii Nauk 31 (1877), Priloienie N2 3, S. 2-7; Jooseppi Julius Mikkola: Lännen ja idän rajalta: historiallisia kirjoitelmia [Von der Grenze zwischen West und Ost: historische Schriften], Porvoo 1942, S. 86f., hat vermutet, dass das Dokument von „d'jak" Grigorij Karpovis6 Kotogichin verfasst worden 274 Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kardis 1323-1660

Es ist beachtenswert, dass die ältesten Novgoroder Nachrichten über den Nöteborger Frieden etwas ganz anderes berichten, als die Abkommentexte be- haupten, die wir in Händen haben. Während im Abkommen angeführt wird, dass Novgorod drei Provinzen an Schweden abtrat, berichtet der Synodaltext der ersten Novgoroder Chronik, dass der Frieden zu den alten Bedingungen geschlossen wurde. Dieser Text stammt aus den 30er Jahren des 14. Jahrhun- derts, ist also ungefähr gleichzeitig mit dem Frieden entstanden.21 Die zweite Schwierigkeit ist, dass die Rolle des Friedens erst in späteren Moskauer Tex- ten mehr in ein politisches Licht gerückt wurde. Während die erste Novgoro- der Chronik ihn erwähnt, sagen Troickaja letopis', Rogoskij letopisec, Si- meonovskaja letopis' und Lavrent'evskaja letopis' nichts über den Frieden. Dann aber — seit dem Ende des 15. Jahrhunderts — beginnen die Chroniken ohne Ausnahmen den ewigen Frieden von Nöteborg zu erwähnen.22 Gleichzeitig geschah aber in den Grenzverhandlungen eine ähnliche Ver- änderung. König Erich von Pommern berechtigte seine Untertanen mit einer Urkunde vom 16.1.1411, alle Gebiete unbewohnter Wildnis seines Reiches sei. Koto§ichin (ca. 1630-1667) hatte sehr gute Möglichkeiten, Kopist oder Vermittler des Textes gewesen zu sein, weil er ein Moskauer Diplomat war, der viel mit Schweden zu tun hatte und auch als schwedischer Spion und Informant in der Moskauer Verwaltung tätig war. Schließlich floh er nach Schweden und ar- beitete dort im Staatsarchiv. Er wurde 1667 wegen des Mordes an seinem Kollegen hingerichtet, s. G. A. Leont'eva: Predislovie, in: G. K. Kotogichin: 0 Rossii v carstvovanie Alekseja Michajlovia [Über Russ- land unter der Regierung Zar Alexej Michailowitschs] / hrsg. von G. A. Leont'eva, Moskva 2000, S. 5-15. Friedlamder (wie oben), S. 116, datiert die Schrift schon in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. Anderer- seits beruht der Vorschlag Mikkolas auch nur auf der Ähnlichkeit der Schreiberhände. Obwohl auch Gal- ln (wie Anm. 16), S. 40, an die Echtheit des russischen Dokuments glaubt, wäre eine echte wissenschaft- liche Untersuchung mehr als überfällig. Die Schwierigkeiten in den sogenannten Abkommenstexten sind vielfaltig; John Lind hat u. a. gezeigt, dass der Text der schwedischen Kopie die Übersetzung eines Textes ist, der für die Verhandlungen des Jahres 1339 angefertigt worden ist. Die Datierung des Abkommens unterscheidet sich von einem Text zu anderem. Einige Texte sprechen von Russland, aber es gab damals noch kein Russland, sondern das Abkommen war zwischen Schweden und Novgorod geschlossen worden, usw.; s. John Lind: Omkring de svensk-russiske forhandlingar 1537, 1339-traktaten og Nodeborgsfreden, in: Historisk Tidskrift för Finland 70 (1985), S. 1-22, hier S. 20-22; Rydberg (wie Anm. 16), S. 435f., 446, 487f., 502f.; Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 241. 21 B. M. Kloss: Predislovie k izdaniju 2000 g., in: N1L, S. V. 22 N1L (s, m); Sofijskaja pervaja letopis' stargego izvoda, Moskva 2000 (PSRL; Bd. 6:1); Letopis' po Vo- skresenskomy spisku, Moskva 2001 (PSRL; Bd. 7); Moskovskij letopisnyj svod konca XV veka. Letopis- nyj svod 1497g., Moskva, Leningrad 1963 (PSRL; Bd. 28); Letopisnyj svod 1518g. (Uvarovskaja letopis'), Moskva, Leningrad 1963 (PSRL; Bd. 28); Letopis' po Uvarovskomu spisku, Leningrad, 1949 (PSRL; Bd. 25), 6831 (1323); Patriargaja ili Nikonovskaja letopis', Moskva 1965 (PSRL; Bd. 9-14) 6832 (1324); M. D. Priselkov: Troickaja letopis'. Rekonstrukcija teksta, Moskva, Leningrad, 1950 (im Folgenden: TrL); LL; Simeonovskij letopis', Rjazan 1997 (Russkie letopisi; Bd. 1); Rogoiskij letopisec, Petrograd 1922 (PSRL; Bd. 15). Die russische Geschichtswissenschaft bezieht sich auf diese Quellentexte, als seien sie tatsäch- lich Abschriftenvarianten irgendwelcher Urchroniken. Nach meiner Ansicht kann Geschichtsforschung jedoch als Quellen nur wirklich physisch existierende Texte und nicht Rekonstruktionen imaginärer Ur- sprungstexte benutzen. So nenne ich deshalb physisch existierende Texte schlicht Chroniken; z.B. spreche ich von der Laurentiuschronik und nicht von einem Laurentius-Text oder einer Laurentius-Abschrift der Nestor-Chronik.

275 Jukka Korpela in Finnland zu bebauen. Der schwedische Staat hatte seit dem 14. Jahrhun- dert nach europäischen Modellen ein Regal auf politisch unkontrollierte Territorien proklamiert und somit die Territorialisierung der Staatsmacht durch eine sogenannte Kolonisationsbewegung begonnen, die sich über die sogenannten ursprünglichen Grenzpunkte hinweg ausgedehnt hatte.23 Weil die einst unwichtige Wildnis somit in die Tagespolitik geraten war, erhielt auch die Grenzlinie nach dem 14. Jahrhundert neue Bedeutung, wie wir in den sich allmählich häufenden Friedensverhandlungen sehen können. Die Novgoroder Seite war aber nicht so aktiv in Finnland und war sogar be- reit, gewisse Konzessionen an die schwedische Kolonisationsmaßnahmen zu machen. Als aber Moskau seit 1482 anstelle Novgorods als Vertragspart- ner Schwedens auftrat, wurde „das Abkommen Jurijs und Magnus'" von der Moskauer Seite ständig zum Ausgangspunkt genommen und die Kon- zessionen Novgorods völlig beiseite geschoben. Weil nun die Grenzlinie des 14. Jahrhunderts für Schweden ungünstig geworden war, interessierte die schwedische Seite sich nicht mehr für das Nöteborger Abkommen und behauptete 1537 sogar einfach, dass es verloren gegangen wäre.24 Moskauer Beamte untersuchten dagegen im 16. Jahrhundert noch die „echte" Grenzli- nie. Einen Höhepunkt erreichte diese Politik in den Verhandlungen zwischen Zar Ivan III. und König Hans von Dänemark in den 1490er Jahren und in den Stockholmer Verhandlungen von 1501. Die Moskauer Seite verlangte, dass Schweden die drei karelischen Provinzen zurückgeben müsse, die Jurij ge- mäß dem Abkommen an Magnus für Schweden abgetreten hatte.25 Die dritte Schwierigkeit besteht darin, dass Novgoroder bis 1311 im westlichen Finnland und bis 1322 im westlichen Karelien aktiv waren. Nach dem Jahre 1323 kennen die Novgoroder Quellen kein „sum'" oder „jem'" mehr, sondern sie sprechen nur von „svei" oder „nemci". Aktivitäten der Schweden in Ladoga-Karelien hingegen sind spätestens am Ende des Jahr- hunderts nachweisbar. Es sieht so aus, als habe man in Nöteborg vielleicht etwas über das südliche Besteuerungsgebiet Schwedens, aber nichts Ein- deutiges über die Hegemonie in Karelien festgelegt. Dasselbe gilt auch für die nördlichen Territorien.26 Weil aber die Verhandlungen, die vom Stand- 23 Finlands Medeltidsurkunder samlade och i tryck utgifna af Finlands statsarkiv / hrsg. v. Reinhold Hau- sen, Bd. 2, Helsingfors 1915, Nr. 1344; Wallerström (wie Anm. 6), S. 154-167. 24 Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 224-259; Gall&'i (wie Anm. 16), S. 31; Rydberg (wie Anm. 16), S. 434, 490-493. 25 Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 81, 117, 235f.; Seppo Suvanto: Keskiaika [Das Mittelalter], Espoo 1985 (Suomen historia [Geschichte Finnlands]; Bd. 2), S. 168; Nya källor till Finlands medeltidshistoria / hrsg. v. Edward Grönblad, Saml. 1, Afd. 1: 1335-1503, Köpenhamn 1857, Nr. 66. 26 Die letzten Novgoroder Aktivitäten: N1L (s, m) 6819 (1311), 6826 (1318). Die Schweden setzten ihre Übergriffe in der alten Weise fort bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts: N1L (m) 6904 (1396) und 6919 (1411); s. auch John Lind: The Russian Testament of King Magnus Eriksson — a Hagiographic Text?, in: Medieval Spirituality in Scandinavia and Europe: a Collection of Essays in Honour of Tore Nyberg / hrsg.

276 Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kandis 1323-1660 punkt des Mittelalters meist mit ökonomischen Interessen, dagegen erst in den Augen der Nationalromantiker mit Territorialfragen verbunden waren, in der ganzen Zeit andauerten, waren eine beginnende Territorialisierung, Hegemoniebildung und Grenzziehung eigentlich ein Prozess, dessen Ein- zelschritte man in der ganzen Zeit jeweils neu bestimmen müsste. Als die schwedischen Kolonisationsmaßnahmen das östliche und nördliche Saimaa- gebiet erreicht hatten, musste man auch diese Tatsache in die Verhandlungs- prozedur mit aufnehmen. Außerdem musste auch die schwedische kirch- liche und juristische Administration ihre eigenen internen Grenzen schon wegen der Besteuerung und des kanonischen Rechts bestimmen, was auch eine von außen kommende Grenzformation in der ursprünglichen finnischen Kulturlandschaft bedeutete. Aus allen diesen Prozeduren sind also unsere Aufzeichnungen und Notizen entstanden — also das Material, das man ab und zu für Handschriften eines Abkommens von 1323 gehalten hat. Von tatsächlichen Konflikten zwischen den Kolonisationsmaßnahmen und den alten Jagd- und Fischereirechten wissen wir seit Ende des 14. Jahr- hunderts. Damals verzeichneten die Quellen Übergriffe der Karelier u.a. auf Pohjanmaa (schwed. Österbotten), die Finnmarken sowie in umgekehrter Richtung. Man hat sehr viele, sogar regelmäßige Nachrichten von Grenz- und Friedensverhandlungen, die eine Aktualisierung der Grenzlinie indizie- ren.27 Man muss aber auch beachten, dass diese Konfrontationen und Ver- nichtungszüge zu dieser Zeit nicht nur zwischen „Russen und Finnen", wie die traditionelle Forschung behauptet, sondern auch zwischen verschie- denen „Finnen", also z.B. zwischen den Bewohnern von Savo und Häme (schwed. Tavastland) oder Tornio (schwed. Tomeä) (Bistum von Uppsala) und Kemi (Bistum von Turku) stattfanden. Darüber hinaus waren auch sozi- ale Konflikte damit verbunden, weil es sich zumindest ab und zu eigentlich um Streitigkeiten zwischen ansässigen Brandackerbebauern, Fischern und Jägern und neu angekommenen Edelleuten und der Königsmacht angehö- renden Bauern über den Besitz der Landgebiete handelte.28 Außerdem bin ich nicht ganz sicher, ob alle die „russischen" Übergriffe wirklich staatlich organisierte Kriegszüge waren. Es scheint glaubwürdiger, dass die Angriffe wenigstens teilweise allein karelische Aggressionen ohne eine Unterstützung Novgorods oder Moskaus waren. Weil die neuen, schwedischen Kolonisati- onsmaßnahmen ein Eindringen der königlichen Macht in die Wälder bedeu- teten, waren sie auch eine Bedrohung der alten herkömmlichen Rechte der lo- v. Lars Bisgaard u.a., Odense 2001, S. 195-212, hier S. 203-205. 27 Rydberg (wie Anm. 16), S. 488-490; Suvanto (wie Anm. 25), S. 165-173; Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 212-304. 28 Registrum ecclesiae Aboensis eller Abo domkyrkans svartbok med tilläg ur Skoklosters codex Abo- ensis i tryck utgifven af Finlands statsarkiv / hrsg. v. Reinhold Hausen, Helsingfors 1890, Nr. 352; Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 233f., Suvanto (wie Anm. 25), S. 197.

277 Jukka Korpela

kalen Bewohner, die jetzt zu verteidigen waren. Es handelte sich also um den Beginn der Territorialisierung der Staatsgewalt, aber nicht in erster Linie um einen Machtkampf zwischen zwei Nationen oder zwei Kulturkreisen. Es war eine gute mittelalterliche Sitte, den alten Frieden zu erneuen und keine expliziten Erneuerungen zu proklamieren. Eine Veränderung wäre eine Revolution gegen die Ordnung Gottes gewesen.29 Deswegen ist es gut mög- lich, dass man nur das erste Friedensabkommen jeweils erneuerte und gleich- zeitig neue Präzisierungen darin vornahm, weil die zwischenzeitliche Ent- wicklung der Situation solche notwendig gemacht hatte und das ungenaue Originalabkommen sie erlaubte. Es wäre auch nicht ungewöhnlich, dass das einst mündlich geschlossene Friedensabkommen erst während dieser Proze- dur seine schriftliche Form bekommen hätte. In diesem Verhandlungsprozess sind jedenfalls unsere „echten" Quellendokumente entstanden. Die Nötebor- ger Grenze war somit eine Prozessgrenze vom 1323 bis zum Frieden von Täyssinä (russ. Teusino, Tjazvin) 1595. Moskau und Schweden — der Beginn der Territorialisierung der europäischen Macht in Karelien Warum wurde die Grenzfrage dann seit dem 15. Jahrhundert aktuell? Die erste Ursache ist schon genannt: die schwedische Besteuerung und Verwal- tung und die römisch-katholischen Kirchengemeinden dehnten sich nord- und ostwärts in die Gegenden aus, die früher vom Gesichtspunkt Novgo- rods und Schwedens nur ein unbestimmtes und unbewohntes Kondominium dargestellt hatten. Darum waren auch die Bestimmingen über Jagd- und Fanggebietsrechte des Nöteborger Abkommens veraltet.30 Diese Entwick- lung setzte sich mit staatlichen Befestigungsaktivitäten, zunächst in Savo und dem westlichen Karelien im späten 15. Jahrhundert, fort. Die neuen Fe- stungen begründeten einer Dauerpräsenz der Zentralmacht, was einen wei- teren Schritt im Territorialisierungsprozess der Staatsgewalt bedeutete. Sol- che Befestigungsmaßnahmen wurden im russischen Karelien erst im späten 16. Jahrhundert ergriffen, aber schon seit dem späten 14. Jahrhundert wur- den Klöster gegründet, die eine ähnliche Funktion für die Ausbreitung der Staatsgewalt hatten.31

29 Vgl. Jukka Korpela: Konstantinuksen lahjakirja: näkökulma keskiaikaiseen totuuteen [Die konstanti- nische Schenkung: ein Blick auf mittelalterliche Wahrheitsvorstellungen], in: Historiallinen Aikakauskirja 93 (1995), S. 60-65. 30 Finlands Medeltidsurkunder (wie Anm. 23), Nr. 1344; Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 61, 212-223, 241f, Suvanto (wie Anm. 25), S. 196f. 31 Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 229-232; Michail Isaevic Minik, Mark Ivanovic Koljada: Novaja datirovka kamennoj kreposti v Staroj Ladoge [Eine neue Datierung für die steinerne Befestigung von Staraja Ladoga], in: Russia Mediaevalis 7:1 (1992), S. 126-133; Kirkinen (wie Anm. 4), S. 175-181; ders.: Karjala idän ja lännen välissä, I. Venäjän Karjala renessanssiajalla [Karelien zwischen West und Ost,

278 Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kandis 1323-1660

Die zweite Ursache für die Aktualisierung der Grenzfrage lag in der Ent- wicklung der Zentralmacht, der Territorialisierung des Staates und der For- mierung der souveränen Staatsgewalt, die seit dem späten 15. Jahrhundert in vollem Gange waren. Der Moskauer Staat hatte schon seit dem Ende des 14. Jahrhunderts den Aufbau einer modernen zentralisierten Verwaltungs- struktur angestrebt, und diese Gewalt dehnte sich nach Karelien aus, als Moskau Novgorod 1471 und dann endgültig 1478 eroberte und vernichtete. Der Status von Novgorod in Karelien blieb nämlich immer unsicher. Nov- gorod kontrollierte Korela (finn. Käkisalmi, schwed. Kexholm, russ. heu- te Priozersk) schon seit dem späten 13. Jahrhundert und baute 1310 in der Stadt sogar eine hölzerne Burg, die noch 1364 als eine Steinburg weiter- gebaut wurde. Gleichzeitig wurden auch Burgen in Kopor'e (finn. Kaprio) (1297), Orechov (1323) und Jamburg (finn. Jaama, russ. Jamgorod, heute Kingisepp) (1384) gebaut, aber dennoch konnte Novgorod den hansischen Kaufleuten im karelischen Inland im späten 13. Jahrhundert keine Sicherheit garantieren. Wir haben auch einige unklare Nachrichten über eine Novgoro- der Steuerverwaltung (pogosty) in Karelien, aber eine richtige Implementie- rung der lokalen Verwaltung und somit der Beginn der Territorialisierung der Staatsgewalt erfolgte eigentlich erst mit der Moskauer Administration im späten 15. Jahrhundert, als auch die ersten Besteuerungsbücher („pisco- vye knigi") aufgestellt wurden.32 In Schweden vollzog sich die Bildung des souveränen Staates seit der Regierung Gustaf Wasas (1521-1560). Für die moderne Souveränität waren ungenau definierte Kondominien und unpräzisierte Grenzen sehr problematisch. Ein moderner Staat musste schon im Prinzip alle Macht in einem gewissen Territorium in seinen eige- nen Händen haben, und er musste auch eine Kontrolle der Macht ausüben. Deswegen war es sehr wichtig, zu wissen, wo die eigenen Grenzen und wo die Grenzen der Feinde verliefen. Für einen modernen Staat wären auch die

I. Russisch-Karelien in der Renaissancezeit] (1478-1617), Helsinki 1970, S. 221-253; Jukka Korpela: Christian Saints and the Integration of Muscovy, in: Russia Takes Shape: Patterns of Integration from the Middle Ages to the Present / hrsg. von Sergei Bogatyrev, Helsinki 2005 (Annales Academiae Scientiarum Fennicae: Humaniora; Bd. 335), S. 48-52. 32 Rydberg (wie Anm. 16), S. 111 u. 118; N1L (m) 6786 (1278), 6787 (1279), 6805 (1297), 6892 (1384); N1L (s, m) 6818 (1310), 6831 (1323); Novgorodskaja cetvertaja letopis', Moskva 2000 (PSRL; Bd. 4:1) (im Folgenden: N4L), 6818 (1310), 6831 (1323); A. N. Kirpiaikov: Kamennye kreposti severnoj Rusi: itogi issledovanija i nekotorye ocenki [Die steinernen Befestigungen im Norden der Rus': Forschungser- gebnisse und einige Bewertungen], in: Drevnosti severo-zapada (slavjano-finno-ugorskoe vzaimodejstvie, russkie goroda Baltiki) / hrsg. von Vadim Michajlovic Masson, Sankt-Peterburg 1993, S. 98-114; Kirkinen (wie Anm. 4), S. 105f., 188-192; Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 68, 77-79, 95f., 242; Christiansen (wie Anm. 14), S. 184; Jukka Korpela: Gosudarstvennaja vlast' i christianizacija v PriladoZe v srednie veka [Staatsmacht und Christianisierung im Gebiet des Ladoga-Sees im Mittelalter], in: Skandinavskie ütenija 2002 (2003), S. 184-192.

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komplizierten grenzüberschreitenden Fisch- und Jagdrechtsbestimmungen des Abkommens von Nöteborg ganz unmöglich gewesen. Die beiden modernen Reiche legitimierten ihre eigene Macht mit einer ideologischen Mission. Moskau betrachtete sich als Befreier der Russen vom mongolischen Joch, als Verteidiger der Rechtgläubigkeit gegen Heiden und Häretiker, als „Sammler der russischen Erde" und als „Neues Rom". Schweden legitimierte seine Machtbestrebungen mit einer Verteidigung der westlichen Welt und Religion gegen die Expansion des Ostens." In diesen Rahmen wurde der „ewige" Frieden von Nöteborg zum ständigen Bestand- teil der Moskauer Chroniken und „das Abkommen Jurijs und Magnus'" ein Argument gegen die schwedische Expansion» Diese beiden „Missionen" waren aber weniger eine in der traditionellen Rolle der beiden Staaten angelegte historische Realität als eine Frucht ei- ner erfundenen politischen Zweckmässigkeit. Diese ideologische Entwick- lung begann im 14. Jahrhundert, manifestierte sich aber in Nordosteuropa erst am Ende des 15. Jahrhunderts, als Schweden und Moskau zu Nachbar- staaten mit einer gemeinsamen Grenze geworden waren. Die Verhandlungen zwischen den beiden Staaten intensivierten sich seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. Die Moskauer interessierten sich für eine Verteidigung gegen die schwedische Expansion, und deswegen wollten sie die Ewigkeit des Friedens betonen. Das ist auch eine Ursache dafür, dass das Abkommen des Jahres 1323 eine überzeitliche Bedeutung beigelegt bekam und dass im Namen gerade dieses Abkommens verschie- dene Texte in den Verhandlungen vorgelegt wurden.35 Ich würde selbst den Nöteborgfrieden also als einen Prozess betrachten. Man schloss natürlich einen Frieden in 1323. Das war aber kein sehr wich- tiges Ereignis für die Zeitgenossen, weil neue Kriegszüge schon bald da- nach folgten und nach ihnen neue Verhandlungen geführt wurden. Der ur- sprüngliche Frieden war dazu nötig, dass die unzweifelhafte schwedische Expansion im südlichen Finnland von beiden Seiten anerkannt wurde und somit die Schweden ihre eigene Verwaltung begründen konnten. Die exakte Grenzlinie im Norden wurde nicht bestimmt, weil keine Staatsmacht sich für die weiten Wildnisgebiete interessierte. Die Grenze war aber auch im Süden nur eine ökonomische und administrative, aber keineswegs eine Kul- turgrenze. Eine epochale Bedeutung bekam der Frieden erst durch die jahr- hundertlange Verhandlungsprozedur.

33 Korpela: Prince (wie Anm. 2), S. 173-210; Latvakangas (wie Anm. 1), S. 85-87, 90-94. 34 Siehe oben S. 275f. 35 Friedensabkommen (alle nicht mehr erhalten) kennen wir seit dem ersten bekannten Dokument von 1468 bis Täyssinä in 1596 in Jahren 1473, 1475/76, 1482, 1487, 1493, 1497, 1504, 1510, 1524, 1527, 1537, 1557 und 1561, s. Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 224-304; Friedlxnder (wie Anm. 20), S. 128-135.

280 Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kardis 1323-1660

Die „Verteidigung der Rechtgläubigkeit" und der „Vorposten der abendländischen Kultur" Eine ideologische Konfrontation zwischen Ost und West im Nordosten ist somit tatsächlich erst seit dem Ende des 15. Jahrhunderts entstanden. In der bisherigen Forschung hat man von ihr mindestens seit der Wikingerzeit gesprochen. Es handelt sich dabei aber um eine Reprojektion, mit der man karge und unklare frühe Quellenerwähnungen zu erklären versucht hat. Man hat diese Konfrontation auch mit den häufigen Friedensverhandlungen zwi- schen Schweden und Novgorod sowie der Hanse und Novgorod zu beweisen versucht. Es scheint außerdem so zu sein, dass man die kriegerische Periode und den Zusammenstoß schwedischer und Moskauer Territorialinteressen am Ende des 15. Jahrhunderts als ein Modell der politischen, kulturellen und sonstigen Beziehungen auch in die früheren Zeiten projiziert hat." Man hat aber die Situation nicht immer richtig verstanden. In den meisten Fällen han- delt es sich nämlich nicht um einen Frieden nach kriegerischen Ereignissen, sondern um einen Handelsvertrag. Die Begriffe „Byfreden", „Freden" oder „mir" bedeuten nämlich vor allem einen Handelsvertrag. Der Gegensatz zu. dem Begriff „Freden" ist nicht „Krieg", sondern „Unfrieden". Bloße Inte- ressenkonflikten in Jagdgebieten und der Beginn der Territorialisierung der Staatsgewalt hat zumindest in Finnland die bekannten kriegerischen Ausei- nandersetzungen verursacht, das ist aber kein ausreichender Beweis für eine Existenz einer tiefen, epochalen ideologischen Kluft. Die eigentliche ideologische Propaganda begann gleichzeitig mit der Bil- dung der souveränen zentralisierten Territorialstaaten und der Begegnung des Moskauer Reiches mit dem Livländischen Ordensstaat und Schweden. Kari Tarkiainen hat ausgezeichnet die Entstehung des Russenhasses im Norden seit dem Ende des 15. Jahrhunderts und seine Verbindungen mit der zeitgenössischen politischen, staatlichen und kirchlichen Propaganda darge- stellt." Man muss jedoch unbedingt sehen, dass die Welt dieser Propaganda, zuerst nur die Oberschichten der Gesellschaft berührte. An der Grenze woh- nende finnische und karelische Bauern wussten wahrscheinlich nichts von, den Grausamkeiten ihrer Nachbarn, die die Pamphlete als den Nationalcha- rakter der Letztgenannten beschreiben wollten. Eine Voraussetzung für die Legitimation der Staatsgewalt war auch die Schaffung eines ausgeprägten Nationalbewusstseins und Wir-Gefühls, eine 36 Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. llf.; Suvanto (wie Anm. 25), S. 165-174; Jalmari Jaakkola: Suomen varhaiskeskiaika. Kristillisen Suomen synty [Das Frühmittelalter in Finnland. Die Geburt des christlichen Finnland], Porvoo 1938 (Suomen historia; Bd. 3), S. 135f., und passim. 37 Kari Tarkiainen: „Se Wanha Wainooja": Käsitykset itäisestä naapurista Iivana Julmasta Pietari Suu- reen [„Der alt böse Feind": Vorstellungen vom östlichen Nachbarn von Iwan dem Schrecklichen bis zu Peter dem Großen], Helsinki 1986 (Historiallisia Tutkimuksia; Bd. 132), S. 16-53.

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Klarstellung, dass „wir" eine gewisse Nation bilden und die anderen auf der an- deren Seite der Grenze total fremd sind. Die Politik Ivans IV. betonte die Po- sition Moskaus als eines Kaiserreichs, das eine universale Mission zu erfüllen hatte. Seine Gegner waren die Tataren, aber auch die abendländische Christen- heit. Obwohl die wichtigsten Interessen Moskaus gegen Polen gerichtet waren, war die unklare Situation in den baltischen Gebieten und Karelien ebenfalls von Bedeutung. Es gab damals keine territorialisierte Macht im Baltikum, was eine Ursache für den sogenannten Livländischen Krieg (1558-1583) war. Moskau, Dänemark, Schweden und Polen versuchten, dort ihre Territorialgrenzen auszu- dehnen. Die politische Konstellation hatte sich im baltischen Raum und Nord- europa seit dem 15. Jahrhundert somit völlig verändert.38 Auf dieselbe Weise entwickelte sich die Verhandlungssituation in Finn- land weiter. Die mittelalterliche Expansion des staatlichen Besteuerungs- raumes setzte sich nach Norden und Osten fort und führte zu einer Expansion der schwedischen Staatsmacht. Auf der Moskauer Seite der Grenze befestigte man wichtige Zentren," was eine Territorialisierung der eigenen Macht wei- ter verstärkte. Weil das alles im Namen der ideologischen Legitimation ge- schah, wurde die Grenzlinie zwischen Schweden/Finnland und Moskau/Russ- land in dem Maße, in dem sie immer genauer präzisiert wurde, auch mit einer starken ideologischen Dimension befrachtet. Sie wurde als eine Grenze zwi- schen Ost und West im weltpolitischen Maßstab gedeutet. Weil man natürlich nicht behaupten wollte, dass so eine Gegenüberstel- lung nur ein zeitgenössischer Propagandatrick war, mussten die Hofhisto- riker eine lange historische Tradition für so eine epochale Rolle der beiden. Nationen erdichten und so die Ursprünglichkeit der Konfrontation bewei- sen.40 Diese manifestierte sich deutlich im Briefwechsel zwischen Ivan IV. und Johann III. von Schweden» Es ist interessant zu sehen, dass eine solche ideologische Konfrontation und eine Betonung der Fremdheit der Russen nicht so sehr im Interesse der eigentlichen Westeuropäer und des Papstes lag. In ihrer antitürkischen Politik wollten diese Machtpole eher die Einig- keit der Christen betonen und die Osmanen als den gemeinsamen östlichen Feind Westeuropas und Russlands darstellen.42

38 Korpela: Itä-Euroopan historia (wie Anm. 3), S. 147-149; Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 298-303. 39 Mil'ik und Koljada (wie Anm. 31). 40 Latvakangas (wie Anm. 1), S. 85-87, 90-94. 41 Tarkiainen (wie Anm. 37), S. 38-53. 42 Jan J. Santich: Missio Moscovitica: the Role of the Jesuits in the Westernization of Russia 1582- 1689, New York 1995 (American University Studies, Series IX: History; Bd. 178), passim.; Peter Nitsche: „Nicht an die Griechen glaube ich, sondern an Christus": Russen und Griechen im Selbstverständnis des Moskauer Staates an der Schwelle zur Neuzeit, Düsseldorf 1991 (Studia Humaniora: Düsseldorfer Studien zu Mittelalter und Renaissance: Series minor; Bd. 4), S. 13-17.

282 Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kandis 1323-1660

Eine Erinnerung an diese Zeit ist auch die Symbolik des heutigen fin- nischen Staatswappens: ein angreifender Löwe, der einen östlichen, gebo- genen Säbel mit Füßen tritt. Das Wappen des finnischen Karelien ist das Gegenstück zu dieser Symbolik: das westliche Schwert, das gegen den öst- lichen Säbel kämpft. Beide Wappen stammen aus dem 16. Jahrhundert. Der Ursprung des Säbels ist unbekannt. Hat man ihn vielleicht aus dem gesamt- europäischen Arsenal des anti-osmanischen Kampfes geholt und somit zu zeigen versucht, dass der schwedische Staat auch gegen eine allgemeine östliche Gefahr Europas kämpft?43 Andererseits gehört die gesamteuropä- ische Furcht vor den Türken und Muslimen nicht zur mentalen Landkar- te der Finnen. In der Symbolik des russischen Karelien können wir nichts ähnliches finden.44 Somit sind das Vorpostengefühl und die Ost-West-Pro- blematik in der finnischen Seelenlandschaft eher ein Überbleibsel aus dem Propagandaarsenal des Territorialstaats Schweden im 16. Jahrhundert denn eine historische Konstante und etwas wirklich Finnisches. Die Nationalro- mantiker und Helden des Selbständigkeitskampfes benutzten nur diese Ele- mente in kluger Weise und machten aus ihnen eine Konstante der Geschich- te Finnlands und des finnischen Patriotismus. Die Grenze eines zentralisierten modernen, souveränen Staats Die Situation im 16. Jahrhundert war tatsächlich jedoch noch ungünstig für eine ständige, abgesperrte, territoriale Grenze. Auch deswegen bestand eine ideologische Frontstellung mehr bei den Regierungen in den Haupt- städten als bei den Individuen in der Wildnis. Es ist nämlich kaum glaub- würdig, dass Finnen oder Karelier in den weiten, dünn besiedelten Wildnis- gebieten sich als Teil der Staatspropaganda gefühlt hätten. Vielmehr lebten sie weiter in ihren eigenen kleinen Kreisen ohne größere Verbindungen mit der Weltpolitik. Auch beruhte ihr Zusammengehörigkeitsbewusstsein kaum auf einem tiefen National- oder Stammesgefühl, sondern eher auf der Zu- gehörigkeit zu Familien und Sippen. So existierte also im Alltag keine Kir- chen- oder Kulturgrenze durch das östliche Finnland hindurch. Die erste richtige Grenze, die eine Aufteilung der Territorien bedeutete, war die des Friedens von Täyssinä in 1595 — und auch das nur bis nach Mittelfinnland (Kainuu, Iivaara).45 Man darf aber nicht glauben, dass diese Grenze die lo- kalen Einwohner voneinander isoliert hätte. Noch bis in die 1920er Jahre überquerten die Finnen und Karelier die Grenze ohne Probleme. Somit war

43 Matti Klinge: Suomen sinivalkoiset värit [Finnlands blauweiße Farben], Keuruu 1981, S. 253-255. 44 Aleksandr M. Pagkov: Gerby i flagi Karelii [Wappen und Flaggen Kareliens], Petrozavodsk 1994, passim. Das Wappen von Korela unter Katharina II. (S. 139) bildet keine Ausnahme, weil es eigentlich ein schwedisches Wappen ist. 45 Julku: Suomen (wie Anm. 10), S. 303-365.

283 Jukka Korpela also die Grenze keinesfalls eine ideologische Grenze, wenn wir über die lokalen Verhältnisse sprechen. Nach den Worten von Kyösti Julku ist die Ostgrenze Finnlands aus kirchlichen und politischen, aber nicht aus öko- nomischen, ethnischen oder lokalen Gründen entstanden.46 Eher muss man von einer politischen Grenze und dann später von einer mentalen Grenze zwischen den Gelehrten in den Hauptstädten sprechen. Die eigentlichen Grenzbewohner erfuhren von der Existenz dieser Grenze erst in der Volks- schule des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine andere Tatsache, die eine solche Sachlage noch bestärkte, war die, dass die Zentralregierung weder in Schweden noch in Russland einen homo- genen Staat sondern — mit Worten von Harald Gustafsson — einen „Conglo- merate State" verwaltete, der eine bunte Zusammensetzung von verschie- denartigen administrativen Einheiten war und in dem weit entfernt gelegene Gebiete durch Belehnungen und selbständige Gouverneure und Provinzen auch mit Generalgouverneuren verwaltet wurden, die einen jeweils verschie- den Status hatten und deren Verhältnisse zur Zentralmacht in casu geregelt waren. Außerdem unterschieden sich die lokalen Gesetze, Besteuerungssy- steme und Verwaltungsstrukturen auch stark voneinander. Der Zentralisie- rungsprozess begann erst im 17. Jahrhundert.' Die neue Politik des späten 17. und des 18. Jahrhundert errichtete erst eine einheitliche Nation und ein Reich und ermöglichte somit erst eine Konfrontation der Nationen. Als nach dem Frieden von Täyssinä ein neues Abkommen in Stolbovo im Jahr 1617 geschlossen wurde und Schweden große Territorien mit or- thodoxen Bewohnern in Karelien bekam, bedeutete das natürlich eine Ver- änderung der politischen Situation in Nordosteuropa. Wegen des inhomo- genen Verwaltungssystems hatte dies aber eigentlich keine Bedeutung für Finnland. Für die lokalen Einwohner und ihr Verhältnis über die Grenze hinweg hatte es kaum einen Einfluss. Das Abkommen von Stolbovo mar- kierte jedoch die Entstehung einer richtig territorialisierten Grenze zwi- schen Schweden und Moskau/Russland. Die Frage nach der Kirchengrenze des 17. Jahrhunderts ist oft an das Schicksal der sogenannten Tverischen Karelier gebunden. Sie waren Or- thodoxe, die im 17. Jahrhundert aus Karelien nach Tver' übersiedelten und deren Nachkommen noch heute dort leben. Herkömmlicherweise hat man das damit erklärt, dass mit dem Frieden von Stolbovo Schweden eine große orthodoxe Minderheit bekam. Die Lutheraner hätten sie wegen ihrer Ver- einheitlichungspolitik verfolgt, und deswegen seien sie aus Schweden ab-

46 Ebda., S. 16. 47 Harald Gustafsson: The Conglomerate State: a Perspective an State Formation in Early Modem Europe, in: Scandinavian Journal of History 23 (1998), S. 189-213; Natal'ja F. Demidova: Sluillaja bjurokratija v Rossii XVII v. i eö rol' v formirovanii absoljutizma, Moskva 1987, S. 21-23, 29-34, 165-169.

284 Die schwedische Ostgrenze von Nöteborg bis Kardis 1323-1660 gewandert. Nun sieht es aber eher so aus, als ob es sich um ein Teil des Umsiedlungsprozesses im gesamten russischen Raum handelte. Neusiedler verließen Karelien schon vor dem Frieden von Stolbovo, und andererseits nahmen auch einige Lutheraner an der Umsiedlung teil. Obwohl Lutheraner in die karelischen Gebiete und Ingermanland als Neusiedler einzogen, lebte eine orthodoxe Bevölkerung dort weiter bis zum heutigen Tage. Die Ver- folgungen waren auch nicht bemerkenswert, und außerdem ist ein solches Zusammengefühl der Orthodoxen, das die bisherige Forschung für sie po- stuliert hat, kaum wahrscheinlich. Eine Bedeutung des Friedens von Stolbo- vo für unsere Fragestellung liegt woanders. Das Abkommen gab Schweden eine Grenze, die die Expansion der Großmacht bezeichnete, aber geschicht- lich eigentlich nur eine politische und administrative Bedeutung hatte. Die- se Grenzlinie blieb für ungefähr 80 Jahre bestehen und hatte später einen gewissen Einfluss auf die Grenzziehung zwischen der UdSSR und Finnland für nochmals knapp 20 Jahre zwischen den Weltkriegen. Sonst hatten die Gegenden immer zum russischen Reich gehört, so dass keine Kulturgrenze entstanden ist. Die Kirchengrenze ist auch sonst höchstwahrscheinlich eine Übertreibung. Die karelischen Orthodoxen waren ihrer orthodoxen Identität kaum tiefer bewusst. Eher waren alle Bauern dieser weiten Wildnis Halb- heiden.48 Auch noch heute ist das „dogmatische" Niveau eines durchschnitt- lichen orthodoxen Kareliers nicht besonders hoch. Der Frieden von Kardis in 1660 veränderte die Situation nicht. Natürlich können wir auch mit diesem Friedensabkommen (es bestätigte die Grenzen von Stolbovo) von keiner Kultur- oder Religionsgrenze sprechen. Wegen einer gewissen Homogenisierung der staatlichen Kultur in der Zwischen- zeit können wir jedoch davon sprechen, dass die Grenze eine Verwaltungs- kulturgrenze bedeutete. Die Institutionen auf der obersten Ebene auf der schwedischen Seite waren nämlich nach den schwedischen Modellen ein- gerichtet worden. Andererseits funktionierte auf dem lokalen Niveau noch weiter die alten russischen pogosty mit ihren eigenen Beamten.49 Zusammenfassung Alles in allem ist die schwedisch(finnisch)-russische Grenze eine his- torische Tatsache seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Diese Gren- ze war aber zunächst keine Territorialgrenze, sondern vor allem ein unge- naues Verzeichnis von Stützpunkten der Fang- und Jagdgebietsrechte, die der schwedische und Novgoroder Staat zu ihrem eigenen Gebrauch vornah- men, um ihre Besteuerungsgebiete bestimmen zu können. Daraus entstand eine grobe Linie zwischen zwei sich allmählich territorialisierenden Staa- 48 N4L (spisok Dubrovskago) 7042 (1534). 49 Tarkiainen (wie Anm. 37), S. 125.

285 Jukka Korpela

ten. Die Linie mochte auf lokalen Verhältnissen beruhen, aber sie war nicht wegen der lokalen Situation so geformt. Allmählich präzisierte man das Ab- kommen gemäß den neuen Verhältnissen, aber im Prinzip handelte es sich immer um eine Erneuerung des alten Vertrags. Die Ideologie und der Ost- West-Gegensatz wurden im 15. Jahrhundert darin verwickelt und von den Chronisten und Pamphletisten dieser Zeit in die Geschichte reprojiziert. Dieser Aspekt verstärkte sich heftig im 16. Jahrhundert, und im Verhält- nis zwischen Schweden und Moskau trat der ideologische Gegensatz in den Vordergrund. Dieser erfasste aber nur die Oberschichten der Gesellschaft, vor allem die Regierung und den König. Die Einwohner in der finnischen und karelischen Wildnis kannten kaum ideologische, kirchliche oder dy- nastische Gegensätze. Die Stimmung der hohen Politik dieser Zeit wurde aber in die finnische nationalromantische Historiographie als ein nationales, allgemeines Gefühl aufgenommen. Deshalb spricht man noch heutzutage von der Ost-West-Konfrontation als einer Konstante in der Geschichte der Finnen und glaubt, dass das ganze Volk ein solches Schicksal seit dem Jahr 1323 erlebt hätte. Erst im 17. Jahrhundert begann man einen richtigen Nationalstaat auf- zubauen, dessen Grenze schon territorialisiert war und der ein einheitliches Volk und eine einheitliche Administrationsstruktur hatte. Erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts war es im Staat und im Volk möglich, zu glauben, dass es eine ideologische Konfrontation zwischen Ost und West an der schwe- dischen/finnischen Ostgrenze gäbe. Bis dahin können wir zwar über ideo- logische und kirchliche Gegensätze zwischen Schweden und Moskau spre- chen, aber kaum eine genaue territoriale Grenze für sie — weder auf einer Karte noch in der tatsächlichen Landschaft — zeigen.

286 Anti Selart Russen und Rus' in den livländischen Quellen um die Wende des 13. zum 14. Jahrhundert*

Die Unterschiedlichkeit der Lebenswelten zwischen dem katholischen und protestantischen Europa einerseits und Russland andererseits, die sich spätestens seit dem 16. Jahrhundert herausbildete, hat die Aufmerksamkeit der Historiker auf das Bild von Russland in Europa und vice versa gelenkt. Die Hauptrichtungen der Russlanddarstellung in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen waren bestimmt durch die Themen „das an- dersartige Russland" und „das gefährliche Russland"; letzteres war beson- ders wichtig für die Randstaaten in Osteuropa, die sich als einen Schutzwall der Kulturwelt und des wahren Christentums gegen die östlichen Barbaren betrachteten.1 Die Beschreibung oder sogar schon die bloße Erwähnung Russlands konnte einem Leser also exotische Bilder bieten und ihn zugleich warnen und um Hilfe bitten. In der heutigen Forschung ist man weitgehend einig, dass die Vorstellungen von Russland als einem Feind der Zivilisati- on sich in Schweden, Livland und Polen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts Geltung verschafften und dann nach Westen weiter vermittelt wurden.2 Für

* Die Arbeit wurde von „Eesti Teadusfond" (Förderprojekt Nr. 5514) unterstützt. 1 Siehe den Sammelband: Rossija v pervoj polovine XVI v.: vzgljad iz Evropy [Russland in der ersten Hälfte des 16. Jh.: der Blick von Europa aus] / hrsg. von Oleg F. Kudrjavcev, Moskva 1997. 2 Joel Raba: Russisch-Livländische Beziehungen am Anfang des 16. Jahrhunderts: Partnerschaft oder Konfrontation? in: Zeitschrift für Ostforschung 24 (1978), S. 577-587; Walter Leitsch: Westeuropäische Reiseberichte über den Moskauer Staat, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte / hrsg. v. Antoni Mqczak und Hans J. Teuteberg, Wolfenbüttel 1982 (Wolfenbütteler Forschungen; Bd. 21), S. 153-176; Andreas Kappeler: Die deutschen Flugschriften über die Moskowiter und Iwan den Schrecklichen im Rahmen der Rußlandliteratur des 16. Jahrhunderts, in: Russen und Rußland aus deutscher Sicht: 9.-17. Jahrhundert / hrsg. v. Mechthild Keller, München 1985 (West-östliche Spiegelungen; Reihe A, Bd. 1), S. 150-182; Kari Tarkiainen: „Se wanha wainooja": käsitykset itäisestä naapurista Iivana Julmasta Pietari Suureen [„Der alt böse Feind": Vorstellungen vom östlichen Nachbarn von Iwan dem Schrecklichen bis zu Peter dem Großen], Helsinki 1986 (Historiallisia tutkimuksia; Bd. 132); Erich F. Sommer: Das Schicksal livländischer Kriegsgefangener in Moskau (1560-1584) in den deutschen Flugschriften des 16. Jahrhun- derts, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums Jg. 1988 (1987), S. 15-38; Lutz Spelge: Das Russlandbild der livländischen Chroniken des 17. Jahrhunderts, in: Deutschland — Livland — Russland: ihre Beziehungen vom 15. bis zum 17. Jahrhundert / hrsg. v. Norbert Angermann, Lüneburg 1988, S. 175-204; Gabriele Scheidegger: Perverses Abendland — barbarisches Russland: Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse, Zürich 1993; Michail I. Istorija stroitel'stva Ivangorodskoj kreposti i vnegnjaja politika Rossii konca XV-XVI veka [Die Baugeschichte der Festung Ivangorod und die Außenpolitik Russlands im späten 15. und im 16. Jahrhundert], in: Drevnerusskoje iskusstvo: issledovanija i atribucii / hrsg. v. Lev I. Liflic, S.-Peterburg 1997, S. 246-266. Über die Möglichkeiten und Muster, die Bilder der Nachbarschaft zu rekonstruieren und anhand der schriftlichen Quellen zu erforschen, s. Gabriele Scheidegger: Das eigene Bild vom anderen: quellenkritische Überlegungen zur Russisch-abendländischen Begegnung im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 35 (1987), S. 339-355; Luigi

287 Anti Selart die früheren Jahrhunderte ist die These gegenseitiger Feindschaft nicht all- gemein akzeptiert gewesen,' obwohl sie von einigen Autoren im politischen und wirtschaftlichen' oder religiösen bzw. ideologischen5 Bereich postuliert wird. Doch haben nicht wenige Historiker — unter ihnen auch Paul Johansen — die angeblich schon im 13. Jahrhundert existierende katholisch-orthodoxe Feindschaft und gegenseitige Eroberungsversuche als eine Gegebenheit in ihren Erklärungsversuchen angenommen.6 Offensichtlich versuchten sie da- mit die Schwierigkeit zu umgehen, dass die Beweggründe der nur fragmen- tarisch bekannten Ereignisse der altlivländischen Geschichte und der Kon- de Anna: Vieraiden kansojen kirjallisesta kuvasta [Über das literarische Bild fremder Völker], in: Mediaevalia Fennica / hrsg. v. Christian Krötzl, Helsinki 1991 (Historiallinen Arkisto; Bd. 96), S. 21-33; Jurij M. Lotman: Semiosfera [Die Welt der Zeichen], Sankt-Peterburg 2000, S. 257-268. 3 Günther Stökl: Das Bild des Abendlandes in den altrussischen Chroniken, Köln-Opladen 1965 (Arbeits- gemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen: Geisteswissenschaften; Bd. 24); Andreas Kappeler: Ethnische Abgrenzung: Bemerkungen zur ostslavischen Terminologie des Mittelalters, in: Ge- schichte Altrusslands in der Begriffswelt ihrer Quellen: Festschrift zum 70. Geburtstags von Günther Stökl / hrsg. v. Uwe Halbach u. a., Stuttgart 1986 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 26), S. 124-138; Bernhard Dircks: Krieg und Frieden mit Livland (12.-15. Jahrhundert), in: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht 11.-17. Jahrhundert / hrsg. v. Dagmar Herrmann, München 1988 (West-östliche Spiegelungen; Reihe B, Bd. 1), S. 116-145; John H. Lind: The Martyria of Odense and a Twelfth-Century Russian Prayer: the Question of Bohemian Influence an Russian Religious Literature, in: The Slavonic and East European Review 68 (1990), S. 1-21 (vgl. dazu Herman Kolln: Zur Allerheili- genlitanei im altrussischen Dreifaltigkeitsgebet, in: Scando-Slavica 42 (1996), S. 77-89); Drevnerusskaja literatura: vosprijatie Zapada v XI-XIV vv. [Die Rezeption des Westens in der altrussischen Literatur] / hrsg. v. Aleksandr A. Kosorukov u.a., Moskva 1996; Boris N. Florja: U istokov kofessional'nogo raskola slavjanskogo mira (Drevnjaja Rus' i ee zapadnye sosedi v XIII veke) [Die Anfänge der konfessionellen Kluft der Welt der Slaven (Die alte Rus' und ihre westliche Nachbarn im 13. Jh.)], in: Iz istorii russkoj kul'tury, Bd. 1 (Drevnjaja Rus') / hrsg. von A. D. Kogelev, Vladimir Ja. Petruchin, Moskva 2000, S. 717- 724; ; Aleksandr V. Nazarenko: Drevnjaja Rus' na meidunarodnych putjach: meidisciplinarnye &'erki kul'turnych, torgovych, politideskich svjazej IX-XII vekov [Die alte Rus' auf internationalen Wegen: inter- disziplinäre Skizzen über kulturelle, Handels- und politische Verbindungen im 9. bis 12. Jh.], Moskva 2001; Norbert Angermann: Livländisch-russische Beziehungen im Mittelalter, in: Wolter von Plettenberg und das mittelalterliche Livland / hrsg. v. Norbert Angermann und Ilgvars Misäns, Lüneburg 2001 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 7), S. 129-143. 4 Natal'ja A. Kazakova: Russko-livonskie i russko-ganzejskie otnogenija: konec XIV-naalo XVI v. [Russisch- livländische und russisch-hansische Beziehungen vom Ende des 14. bis zum Anfang des 16. Jh.], Leningrad 1975; Anatolij S. Demin: 0 chudoiestvennosti drevnerusskoj literatury [Über den künstlerischen Wert der altrus- sischen Literatur], Moskva 1998, S. 635-654. 5 Christoph Schmidt: Das Bild der „Rutheni" bei Heinrich von Lettland, in: Zeitschrift für Ostmittel- europaorschung 44 (1995), S. 509-520; Larisa N. Karpova: KatoWeskoe u'ü'enie i iskusstvo v vosprijatii drevnerusskich ljudej (XI-XVI vv.) [Katholische Lehre und Kunst in der Wahrnehmung der Menschen des alten Russland vom 11. bis zum 15. Jh.], in: Vestnik Sankt-Peterburgskogo Universiteta; serija 2: Istorija, jazykoznanie, literaturovedenie, Heft 3 (18) ( 2000), S. 11-15. 6 Siehe: Paul Johansen: Die Estlandliste des Liber census Daniae, Kopenhagen, Reval 1933, S. 144-145; Paul Johansen: Nordische Mission, Revals Gründung und die Schwedensiedlung in Estland, Stockholm 1951 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens Handlingar; Bd. 74), S. 46. Siehe auch z.B. Niels Skyum-Nielsen: Estonia under Danish Rule, in: Danish Medieval History: New Currents / hrsg. v. dems. und Niels Lund, Copenhagen 1981, S. 112-136, hier S. 116.

288 Russen und Rus' in den livländischen Quellen des 13. und 14. Jh. text einiger Einzelurkunden oft nicht zu fassen sind. In dieser Situation war und ist die „russische Gefahr" ein probater Erklärungsansatz, mit dem man stets alles begründen kann. Sicherlich haben hier auch neuzeitliche Denk- muster eine Rolle gespielt. Aber es ist daran zu erinnern, dass die Beschwö- rung dieser Gefahr sich in der livländischen politischen Rhetorik dauerhaft und endgültig erst um die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert durchsetzte. In der früheren Zeit ist sie nicht so eindeutig nachzuweisen. Eine Kompromisslösung wäre, zwischen dem städtischen Milieu, in dem man keine Russenfeindschaft findet, und den landesherrlichen Quellen zu un- terschieden, wie es etwa die Moskauer Forscherin Ekaterina Skvajrs gemacht hat.7 Solche Forschungen haben die Erwähnungen der Russen und Rus` in den Quellen registriert und dann geschätzt, ob die Sätze oder Satzteile „rus- senfreundlich" oder „russenfeindlich" sind. Dabei wird aber nicht immer im Betracht gezogen, welcher Art die einzelnen Quellen sind und warum die öst- lichen Nachbarn in ihnen überhaupt erwähnt wurden. Jede Quelle hat ihren eigenen politischen und literarischen Kontext und ist deswegen nur einzeln im Zusammenhang mit der konkreten Lage und den Interessen des Verfassers erklärbar. Die Materialien aus dem städtischen Milieu sind meistens sachlich, es handelt sich um wirtschaftliche und politische Korrespondenz zwischen den Ostseestädten und Hansekaufleuten in Russland oder russländischen Be- fehlshabern. Die „Ordensquellen", wie Skvajrs sie nannte, sind aber überwie- gend sozusagen für den inneren Gebrauch im katholischen Europa entstan- den: sie sind polemisch und apologetisch. Russen sind hier nur ein Argument am Rande des eigentlichen Inhalts, um etwas zu beweisen, zu beanspruchen oder sich zu rechtfertigen. Deswegen lassen die Texte keine Rückschlüsse zu, ob das Russlandbild in den Städten und in den landesherrlichen Schlössern verschieden oder ähnlich war. Es ist jedoch anzunehmen, dass die soziale und geographische Herkunft, Bildung und Häufigkeit oder Art der Kontakte mit den Russen bedeutsam waren. Schon in der ältesten erzählenden Quelle aus Alt-Livland, in der stark apo- logetischen Chronik Heinrichs von Lettland (1224-1227), handelt es sich da- rum, gleichzeitig die gottesfürchtigen Taten der Rigaer Kirche zu beschreiben und den miserablen, hilfsbedürftigen Zustand der Mitkämpfer des Bischofs

7 Ekaterina R. Skvajrs: Rus' i Ganza: model' jazykovogo kontakta [Die Rus' und die Hanse: Modell eines Sprachkontaktes], in: Slavjano-germanskie issledovanija / hrsg. v. Aleksandr A. Gugnin und Anton V. Cim- merling, Moskva 2000, S. 436-540. Vgl. Tiina Kala: The Incorporation of the Northern Baltic Lands into the Western Christian World, in: Crusade and Conversion an the Baltic Frontier, 1150-1500 / hrsg. von Alan V. Murray, Aldershot 2001, S. 3-20, hier 15-19. Siehe auch: Norbert Angermann, Ulrike Endell: Die Partner- schaft mit der Hanse, in: Deutsche und Deutschland (wie Anm. 3), S. 83-115; Norbert Angermann: Novgorod und seine Beziehungen zur Hanse, in: Europas Städte zwischen Zwang und Freiheit: die europäische Stadt um die Mitte des 13. Jahrhunderts / hrsg. v. Wilfried Hartmann, Regensburg 1995 (Schriftenreihe der Europa-Kol- loquien im Alten Reichstag; Sonderband), S. 189-202.

289 Anti Selart

Albert und der Schwertbrüder im Kampfe gegen der heidnischen, schisma- tischen oder bösen katholischen Feinde zu demonstrieren.' Die Texte, die feindliche Völker und Mächte aus der Nachbarschaft Livlands auflisten, sind, wie die Chronik Heinrichs, überwiegend polemische Schriften, die aus der po- litischen Tätigkeit entstanden und deswegen nicht als eine geographische Be- schreibung aufzufassen sind. Auch die päpstlichen Briefe, die etwas mit den osteuropäischen Angelegenheiten zu tun haben, vermitteln ja im Grunde die örtlichen Vorstellungen und basieren eigentlich auf der Information oder so- gar auf dem Wortschatz der Petenten.9 Es ist sehr fraglich, ob man überhaupt von einer selbständigen päpstlichen Russlandpolitik im Mittelalter sprechen darf. Vielmehr handelte es sich nur um Reaktionen auf Vorschläge der ost- europäischen Mächte. Im Wettbewerb der Könige von Ungarn, Böhmen, Po- len, Schweden und Dänemark, des Deutschen Ordens in Preußen und der liv- ländischen Landesherren um die Machtposition und Landnahme in Osteuropa waren auch die Urkunden, Schutzbriefe, Privilegien, Chroniken und anderen Schriftstücke eine Waffe. Die Gnade eines Oberherren sollte irgendwie be- gründet sein, und eine handgerechte Möglichkeit dafür war, den gefährdeten Zustand des Privilegienempfängers oder Fürsprechers und dadurch den der ganzen Christenheit zu beschreiben. Ebenso konnte man hervorheben, dass ein Rivale weniger würdig als der jeweilige Petent sei, weil er für einen rich- tigen Christen unerlaubte Beziehungen mit den Heiden oder Schismatikern pflege. Gerade durch dieses rhetorische Muster wurde allmählich seit dem 12. Jahrhundert die im Mittelmeerraum entstandene Griechenfeindschaft nach Norden und auf die Russen als Glaubensbrüder der Griechen übertragen. Durchsetzen konnte sich diese Rhetorik erst seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Während die westlichen Quellen noch anlässlich des Tartarenein- falls von 1240/1241 die Russen als christliche Leidensgenossen betrachteten,1° änderte sich das Bild schon um die Mitte des Jahrhunderts. Die Unionsverhand- lungen mit den Fürsten der westlichen Rus' scheiterten, und die entsprechenden Bemühungen des Erzbischofs von Preußen und Livland, Albert Suerbeer, blie- ben erfolglos. Die Übermacht der Tartaren in der Rus' setzte sich durch, und mit den gemeinsamen Kriegszügen der Tartaren und Russen nach Westen wurde es 8 Anti Selart: Confessional Conflict and Political Co-operation: Livonia and Russia in the Thirteenth Century, in: Crusade and Conversion (wie Anm. 7), S. 151-176, hier S. 154-158. 9 Siehe Ernst Pitz: Papstreskript und Kaiserreskript im Mittelalter, Tübingen 1971 (Bibliothek des Deut- schen historischen Instituts in Rom; Bd. 36). Vgl. Matthias Thiel: [Rezension zu:] Ernst Pitz. Papstreskript und Kaiserreskript, in: Archivalische Zeitschrift 71 (1975), S. 114-115. 10 Ex Thomae historia pontificum salonitanorum et spalatinorum / hrsg. v. Lothar von Heinemann, in: Monumenta Germaniae Historica: Scriptores; Bd. 29, Hannoverae 1892, S. 568-598, hier S. 585; Docu- menta Pontificum Romanorum historiam Ucrainae illustrantia (1075-1953) Bd. 1 / hrsg. v. Athanasius G. Welykyj, Romae 1953 (Analecta ordinis S. Basilii Magni; sectio 3, Bd. 2/1) (im folgenden: DPR), Nr. 11; Matthaei Parisiensis, monachi sancti Albani, Chronica majora / hrsg. v. Henry R. Luard; 4, London 1877, S. 386 u. öfter.

290 Russen und Rus' in den livländischen Quellen des 13. und 14. Jh.

üblich, die Russen und Tartaren gemeinsam zu behandeln. Auch die Kreuzzüge wurden sowohl gegen die Tartaren als auch gegen die Russen als ihre Verbün- deten und Untertanen ausgerufen." Die Russen, ehemals Mitchristen, wurden jetzt „Schismatiker und sehr demütige Sklaven der Tartaren" genannt.12 Das be- deutet natürlich nicht, dass dieselben Landesherren bei Gelegenheit nicht selbst mit den Schismatikern zusammenarbeiteten. Wir finden hier eine Kluft zwi- schen politischer Praxis und der Weise, wie man seine Tätigkeit in den Quellen rechtfertigte. Und auch umgekehrt: man musste seine Verträge mit den Nicht- katholiken gegen mögliche Klagen der Rivalen, die an die damalige „Weltöf- fentlichkeit" appellieren konnten, absichern. Dafür bot es sich an zu erklären, dass einige der russischen Fürsten, mit denen die katholische Seite zusammen- arbeitete, zur Kirchenunion bereit seien." Im livländischen Kontext waren in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun- derts die Hauptgegner des Deutschen Ordens und der anderen Landesherren - wenn man von der Episode der Taufe des Königs von Litauen Mindaugas 1251-1262 absieht - die Litauer, Schamaiten und aufständische, d.h. nach der damaligen christlichen Terminologie wieder heidnisch gewordene oder apo- statische Selen, Kuren und Semgallen. Es war die Zeit des raschen Machtauf- stiegs Litauens. Spätestens seit den 1250er Jahren stand der südöstliche Nachbar Alt-Livlands, das russische Fürstentum Polock, unter litauischer Kontrolle; es war schon seit dem Ende des 12. Jahrhunderts als politisches Zentrum immer schwächer geworden und wurde jetzt von dem Litauer Taut- vila (russ. Tovtivil) erobert. Obwohl hier seit 1260er Jahren wieder Fürsten aus alten örtlichen Dynastien herrschten, erkannten sie die litauische Ober- macht an. Nachdem der litauische Fürst Daumantas (russ. Dovmont) 1263 den litauischen König Mindaugas ermordet hatte, flüchtete er aus Nalgiai 1265 nach Pleskau (russ. Pskov), wo ihn die Pleskauer tauften und nach kurzem als ihren Fürsten anerkannten.14 Damit begründete er die Tradition des 14. Jahrhunderts, dass der Kriegsherr in Pleskau aus Litauen herbeigeru- 11 Akty istorieskie, otnosjakiesja k Rossii [Historische Akten mit Bezug zu Russland] / hrsg. v. Aleksandr I. Turgenev, Bd. 2, Sanktpeterburg 1842, Nr. 5, S. 348; Preußisches Urkundenbuch: Politische Abtheilung (im folgenden: PUB), Bd. 1, Halbbd. 2, Königsberg 1909, Nr. 7, 21, 23, 38, 59, 61, 82, 89, 109, 115, 131, 134, 222, 944; Bd. 2, Königsberg 1939, Nr. 747; Annales capituli Posnaniensis / hrsg. v. Max Perlbach, in: MGH SS 29 (wie Anm. 10), S. 431-470, hier S. 460; Anonymi descriptio Europae orientalis „Imperium Constantinopolitanum, Albania, Serbia, Bulgaria, Ruthenia, Ungaria, Polonia, Bohemia" anno MCCCVIII exarata / hrsg. v. Olgierd Görka, Cracoviae 1916, S. 6, 24, 41. Siehe auch Gotthold Rhode: Die Ostgrenze Polens: politische Entwicklung, kulturelle Bedeutung und geistige Auswirkung, Bd. 1, Köln u. Graz 1955 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; Bd. 2), S. 133-134, 149-154; Andrzej Feliks Grabski: Polska w opiniach obcych X-XIII w., Warszawa 1964, S. 274-327; Florja (wie Anm. 3), S. 723 12 PUB, Bd. 1/2, Nr. 315. 13 DPR, Nr. 36, 40-41; PUB, Bd. 2, Nr. 157, 537, 582, 826; vgl. Nr. 747. 14 Stephen C. Rowell: Between and Riß.: Dovmont-Timofey of Pskov, his Life and Cult, in: Oxford Slavonic Papers 25 (1992), S. 1-33.

291 Anti Selart fen wurde, damit Pleskau sich auch politisch mit den litauischen Herrschern verband. Wie bekannt nannte sich der litauische Großfürst Gediminas „Let- winorum et multorum Ruthenorum rex".15 Also wurden die an Livland an- grenzenden Russen ein Teil der heidnischen oder im Westen als heidnisch betrachteten Welt Litauens. Zwischen dem dänischen Nordestland und Now- gorod lag das (halb)heidnische Watland, wo die Herrschaftsverhältnisse noch nicht ganz klar waren; das dürfte der Grund sein, dass die Novgoroder Rus- sen seltener in der Reihe der Feinde Livlands genannt wurden. 1268, wäh- rend eines Krieges gegen Daumantas und andere russische Fürsten, nannte der Ordensmeister in Livland Pleskau „christiane legis prevaricatorum sola- men et refugium".16 Um 1290 forderten Bischof Bernhard und das Domka- pitel in Dorpat (estn. Tartu) von Lübeck den Nachlass des verstorbenen Bi- schofs Friedrich zurück; als ein Grund wurde angeführt, dass die Kirche von Dorpat von Heiden und Russen mehrfach gefährdet seil' — ein Beispiel, wie die heidnische oder russische Gefahr den Livländern von Nutzen sein konnte. Als seit etwa 1300 die Rus' zunehmend in den livländischen Quellen in der Rolle des Feindes der Christen auftaucht, bedeutet das nicht eine stei- gende Animosität, sondern es ist ein Zeichen der wachsenden innerlivlän- dischen Spannungen. Im Frühling 1297 war es soweit, dass die Streitigkeiten um die Vorherrschaft und den Handel zwischen dem Ritterorden, den Bischö- fen und den Städten, die beinahe ein Jahrhundert lang angedauert hatten, ei- nen offenen Krieg hervorriefen. Livlands Bürgerkrieg wurde nicht nur mit Waffen auf den Schlachtfeldern Livlands geführt. Eigentlich war der Krieg ein andauernder Prozess der livländischen Mächte gegeneinander vor der päpstlichen Kurie oder gelegentlich auch am Kaiserhof. Unter anderem wur- de hier der Hinweis auf die heidnische und — in zweiter Linie — die schisma- tische Nachbarschaft als Argument genutzt. 1304 konnte der Deutsche Orden in Livland mit den Vasallen Dänemarks in Nordestland, und den Bistümern Dorpat und Ösel-Wiek (estn. Saare-Läänemaa) gegen den Erzbischof, die Stadt Riga und ihre möglichen Bundesgenossen „Lethowinis paganis vel Ru- thenis" ein Bündnis schließen. Diese Zusammenarbeit — hieß es — sei unent- behrlich, weil Livland in der Mitte der Ungläubigen, d. h. der Russen und heid- nischen Litauer, liege.18 1301 befreite der Papst Bonifaz VIII. das Bistum Reval (estn. Tallinn) von dem auf Dänemark liegenden Interdikt, weil, wie die Re-

15 Z.B. Liv-, Est- und Curländisches Urkundenbuch nebst Regesten / hrsg. v. Friedrich G. von Bunge, Bd. 2, Reval 1855 (im folgenden: LECUB), Nr. 687. Siehe auch: Rasa J. Maieika, Stephen C. Rowell: Zelatores maximi: Pope John XXII, Archbishop Frederick of Riga and the Baltic Mission 1305-1340, in: Archivum historiae pontificiae 31 (1993), S. 33-68, hier S. 43f. 16 LECUB, Bd. 1, Reval 1853, Nr. 410-411. 17 Ebda., Nr. 503. 18 Akten und Recesse der livländischen Ständetage, Bd. 1 / hrsg. v. Oskar Stavenhagen und Leonid Ar- busow jun., Riga 1907-1933 (im folgenden: AR), Nr 1.

292 Russen und Rus' in den livländischen Quellen des 13. und 14. Jh. valer Kirche bewiesen habe, ringsherum um diese Gebiete Russen, Karelier, Ingrier, Voten und Litauer wohnten, die die neukonvertierten Einheimischen zur Ableugnung des Glaubens aufhetzten.19 1316 schloss der Orden mit einem, Teil der erzbischöflichen Vasallen und einigen Rigaer Kanonikern ein Bünd- nis gegen den Erzbischof, um ihn aus Livland zu vertreiben. Dieser bald vom Papst kassierte Vertrag wurde im Text wieder durch die gefährdete Lage Liv- lands „in medio nationum perversarum [...] videlicet Lethowinorum infidelium et scismaticorum Ruthenorum" motiviert.20 Nach dem sog. „Waldemar-Erich- schen Lehnrecht", einem nordestländischen Rechtskodex aus der Zeit ca. 1315, mussten die nordestländischen Vasallen nach dem Tod eines Königs nicht so- fort, sondern erst im Laufe von drei Jahren vor dem neuen König erscheinen, weil „de lande vor den heiden, Littowen, Russen und Carelen varlike liggen".21 Alt-Livland stellte sich als „in extremis finibus christianitatis" gelegen und als „ultimum antemurale christianitatis" dar.22 Im dritten Viertel des 14. Jahrhun- derts übersetzte der Ordenschronist Hermann von Wartberge das Wort Rüzen der etwa siebzig Jahre älteren mittelhochdeutschen Livländischen Reimchronik mit dem lateinischen Ausdruck scismatici und behandelte die Besetzung Ples- kaus 1240 durch die livländischen Truppen als Konversion der Russen.23 Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie die früher eigentlich rein politische Opposition erst nachträglich als religiös motiviert dargestellt wurde. Besonders klar war die Vorstellung einer gefährdeten Position am äußer- sten Rande der (katholisch-)christlichen Welt im Bistum Dorpat vertreten. In den Quellen des 14. Jahrhunderts wird mehrmals betont, dass die Dorpa- ter Kirche „in ultramarinis partibus" lag und „nacionibus perversis videlicet Ruthenis scismaticis et Lethwinis infidelibus contigua et vicina" wanz' Der- Ausdruck „in ultramarinis partibus" stellt hier einen unmittelbaren Zusam- menhang mit den Kreuzzügen im Heiligen Land her, weil mit diesen Wor- ten in erster Linie der Schauplatz des Heiligen Kriegs gegen die Sarazenen

19 LECUB (wie Anm. 16), Nr. 611 (datum 1301). 20 AR, Nr. 12a, S. 758. 21 Altlivlands Rechtsbücher zum Theil nach bisher unbenutzten Texten / hrsg v. Friedrich G. von Bunge, Leipzig 1879, S. 56 Art. 1 (vgl. ebda. S. 72 Art. 3 §1). 22 Siehe Leonid Arbusow [jun.]: Zur Würdigung der Kultur Altlivlands im Mittelalter und 16. Jahr- hundert, in: Historische Zeitschrift 151 (1935), S. 18-47, hier S. 34. Vgl. Gennadij N. Saganovi: Rus' v prusskich chronikach XIV-XV vekov [Die Rus' in den preußischen Chroniken des 14. und 15. Jh.], in: Slavjane i ich sosedi 9 (1999), S. 100-104. 23 Livländische Reimchronik mit Anmerkungen, Namensverzeichnis und Glossar / hrsg. v. Leo Meyer, Paderborn 1876, v. 669-686; vgl. Hermanni de Wartberge Chronicon Livoniae / hrsg. v. Ernst Strehlke, in: Scriptores rerum Prussicarum, Bd. 2, Leipzig, 1863, S. 9-178, hier S. 27, 29 („ad augmentandum numerum conversorum"). 24 Arthur Motzki: Livonica aus den Supplikenregistern von Avignon (1342 Okt. 11 — 1366 Mai 9), in: Mit- teilungen aus der livländischen Geschichte 21 (1911-1928), S. 101-172, hier S. 119, Nr. 24. Vgl. LECUB, Bd. 6, Riga 1873, Nr. 2824.

293 Anti Selart bezeichnet wurde. Das Bistum war „ultima christianitatis".25 Die Burg Neu- hausen (estn. Vastseliina), welche der Bischof und der Ordensmeister 1342 direkt an der Pleskauer Grenze errichteten, lag „in extremis dicte diocesis positus et fronteria Ruthenorum infidelium situati".26 Das Quellenmaterial, das hier zu Dorpat referiert wurde, stammt aus den Supplikenregistern von Avignon und spiegelt damit den in Livland, im Bistum Dorpat verwendeten Wortschatz wider. Also war die besondere Grenzlage des Bistums ein Ar- gument in den Bittschriften, das ziemlich oft in den nach außen geschickten Briefen verwendet wurde. Aber auch das Bistum Ösel-Wiek konnte, falls nötig, „in finibus mundi situs inter neophitos et scismaticos" sein.27 Litauen und der Rus' als gefährlichen Feinden stand in dieser Rhetorik „tota Christianitas", das heißt ganz Livland — alle Landesherren und Stände — ent- gegen. Die Idee einer Gemeinschaft Livlands existierte schon am Anfang des 14. Jahrhunderts. Aber die Gemeinschaft war nicht politisch neutral: auch sie entstand als ein Teil der politischen Auseinandersetzung und wurde gegen ei- nen der Landesherren gerichtet, der ja ebenfalls zur Christenheit gehörte. Zum Beispiel bezeichnete „tota Christianitas" die Opponenten des Erzbischofs und der Stadt Riga während der unter der Führung des Deutschen Ordens geschlos- senen antirigischen Bündnisse von 1304 und 1316.28 Gerade um die Wende des 13. zum 14. Jahrhundert verschärfte sich die po- litische Situation in Karelien. Während früher die schwedischen Könige ge- gen finnische bzw. karelische Heiden und sporadisch auch gegen ihre Novgo- roder Bundesgenossen kämpften, wurde der Krieg um die Nordostküste des Finnischen Meerbusens und die Nevamündung jetzt direkt mit Novgorod ge- führt. Das spiegelt sich auch in den Quellen wider. Bisher traten in den mit der schwedischen Politik verbundenen Texten die Russen nur gelegentlich neben den Heiden in der Reihe der Feinde des Königs und des Christentums auf." In den Quellen des 14. Jahrhunderts erschienen sie dann als schisma- tische Russen, die das Volk des Königs überfielen?' Eine schwedische Reim- chronik, die Erikskrönika (verfasst um 1325), stellt die Christen einerseits und

25 Motzki (wie vor. Anm.), S. 163, Nr. 139. 26 Ebda., S. 129-130, Nr. 52. 27 Ebda., S. 155, Nr. 119. 28 Siehe Jan Kostrzak: Frühe Formen des altlivländischen Landtages, in: Jahrbücher für Geschichte Ost- europas 32 (1984), S. 163-198, hier S. 168f. 29 Jukka Korpela: "The Russian Threat against Finland" in the Western Sources before the Peace of Noteborg (1323), in: Scandinavian Journal of History 22 (1997), S. 161-172. 30 Svenskt diplomatarium, Bd. 3 / hrsg. v. Bror Emil Hildebrand, Stockholm 1850, Nr. 2322; Registrum Ecclesiae Aboensis eller Abo Domkyrkas Svartbok. The Black Book of Abo Cathedral. Facsimile version of the 1890 edition with a new introduction and translations of the original preface and the register of do- cuments / hrsg. v. Elisa Pispala, Helsinki 1996, Nr. 68, 80; Finlands medeltidsurkunder / hrsg. v. Reinhold Hausen, Bd. 1, Helsingfors 1910, Nr. 587-590.

294 Russen und Rus' in den livländischen Quellen des 13. und 14. Jh.

Russen zusammen mit den Heiden andererseits bedeutend schärfer gegenüber als die etwa 30 Jahre früher entstandene Livländische Reimchronik?' Obwohl die Verfasser der Texte von der Ostsee bis fast zum Schwarzen Meer wie selbstverständlich über die schismatische Rus' schrieben, hatten sie alle eigentlich eine eigene Ruthenia. Für Schweden war es Novgorod, für Liv- land Pleskau, für Preußen die altrussischen Gebiete des Litauischen Großreichs, für Polen und Ungarn Halicz, Wolhynien und Kiev. Ein politisches Ganze bil- deten die weit voneinander entfernten Territorien nicht: damals ging zudem auch die ehemalige kirchliche Einheit der Rus' verloren. Gemeinsam war, dass in den Nachbarsprachen und auf Latein die Einwohner des Landes „Russen" genannt wurden und dass die Christen hier den griechischen Ritus befolgten. Das vereinigte die Stimmen aus Osteuropa für die westeuropäische Schriftkul- tur und machte den Weg frei, Russland — soweit man damals über das Land überhaupt etwas gehört hatte — sich als etwas Feindliches vorzustellen. Auf der anderen Seite war die Entstehung des katholizismusfeindlichen Topos in Russland an Livland gebunden. Die Herrschaft der litauischen Für- sten in Pleskau in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und die Kriege mit Livland schafften günstige Bedingungen, den 1299 verstorbenen Daumantas als einen Heiligen zu verehren. Daumantas, ein Fürst, der siegreich Krieg ge- gen die Livländer geführt hatte, wurde das Haupt des örtlichen Pantheons in Pleskau. Die gleichfalls am Anfang des 14. Jahrhunderts entstandene, ununter- brochen geführte Pleskauer Chronistik sollte den pleskauischen Anspruch, in Bezug auf Novgorod und Livland eine selbständige Stellung zu haben, rechtfertigen. Das Auftauchen der abwertenden Darstellung der „nemcy" in der altrussischen Literatur geschah offensichtlich namentlich durch die Ver- mittlung der pleskauischen Literatur des 14. Jahrhunderts, d.h. der Dauman- tas-Vita und der örtlichen Chronistik. Später wurden die Vita und die Ples- kauer Kampfbeschreibungen in die gesamtrussische Chronistik eingegliedert, wodurch die „nemcy" aus Livland nun zu angeblichen Gegnern der gesamten Rus' wurden. Ebenso war in Pleskau ein Werk nordostrussischen Ursprungs populär, die Aleksandr-Jaroslavi&-Vita, die hier an der livländischen Gren- ze umgearbeitet wurde. Dadurch gewann die Schlacht auf dem Eise des Pei- pussees im Jahre 1242 an Bedeutung, und die Nachricht von ihr verbreite- te sich später, seit dem 15. Jahrhundert, durch pleskauische Vermittlung in

31 Erikskrönikan enligt cod. Hol. D2 jämte avvikande läsarter ur andra handskrifter / hrsg. v. Rolf Pip- ping, Neudr. d. Ausg. Stockholm 1921, Uppsala 1963 (Samlingar utgivna av Svenska fornskrift-sällskapet; Ser. 1, H. 231, auch gez. als Bd. 68 [im Original nach neuer Zählung H. 158 = Ser. 1, 47]), v. 485-487, 494-495. Siehe auch: Gisela Nordstrandh: En kritisk läsning av Erikskrönikans första korstägsepisod, in: Historisk Tidskrift för Finland 75 (1990), S. 9-31; John H. Lind: Scandinavian Nemtsy and Repaganized Russians: the Expansion of the Latin West during the Baltic Crusades and its Confessional Repercussions, in: The Crusades and the Military Orders: Expanding the Frontiers of Medieval Latin Christianity / hrsg. v. Zsolt Hunyadi und Jözsef Laszlovsky, Budapest 2001, S. 481-497.

295 Anti Selart der ganzen Rus' .32 In der gleichzeitigen Novgoroder Chronistik wurden nicht die Livländer, sondern die Leute aus Finnland bzw. Schweden als feindliche „nemcy" betrachtet. Erst in der Neuzeit sind die ursprünglich lokalen The- men der Feindschaft verallgemeinert worden. Die Beschreibung der örtlichen Zusammenstöße und die damit verbundene, gelegentlich abwertende Darstel- lung der katholischen Völker bot der Moskauer Literatur einen Anlass, eine uralte Konfrontation an der Nordwestgrenze der Rus' zu konstruieren. Den Folgerungen dieses Aufsatzes kann man natürlich entgegenhal- ten, dass — selbst wenn das Erwähnen der Schismatiker in den livländischen Quellen eine innenpolitische Bedeutung hatte — es doch das „richtige" oder „echte", tatsächlich existierende Russlandbild in Livland vermittelt, wenn man es nicht mit einer willkürlichen Interpretation der Quellentexte zu tun hat, bei der man einfach einige Stellen für glaubwürdig und die anderen für unglaubwürdig ansieht. Aber das eigentliche Ziel war hier, erstens darzule- gen, wie und warum das Thema der gefährlichen Rus' in Livland entstanden ist, und zweitens zu zeigen, wie marginal es in dieser Zeit eigentlich war. Da- raus folgt also, dass man mit der „russischen Gefahr" im 13. und 14. Jahrhun- dert in der livländischen Geschichte ziemlich wenig erklären darf, dass das Gefühl der Angst vor der „russischen Gefahr" zwar nicht abzustreiten, aber auch nicht zu überschätzen ist. Es sei daran erinnert, dass es zwischen 1270 und 1350 an der Ostgrenze Livlands keinen Krieg gab, der nicht gleichzeitig ein Krieg gegen das heidnische Litauen war. Damit ist der Topos von den ge- fährlichen Schismatikern sozusagen ein Nebenprodukt der Litauerkämpfe an der Südgrenze sowie des livländischen Bürgerkrieges. Die Gründe, aus denen in Livland das Bedürfnis herrschte, sich eine feindliche russische Nachbar- schaft zu konstruieren, waren innerlivländisch oder standen im Zusammen- hang mit den Verbindungen der Livländer zu den Westeuropäern. Die in den Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts auftauchende antirussische Rhetorik spiegelt nur zu einem geringen Teil die russisch-livländische Politik wider.

32 Zur Literaturgeschichte in Pleskau siehe: Hans-Jürgen Grabmüller: Die Pskover Chroniken: Untersu- chungen zur russischen Regionalchronistik im 13.-15. Jahrhundert, Wiesbaden 1975 (Schriften zur Gei- stesgeschichte des östlichen Europa; 10), S. 148, 166; Valentina I. Ochotnikova: Povest' o Dovmonte: Is- sledovanie i teksty [Die Erzählung von Daumantas: Untersuchungen und Texte], Leningrad 1985; Rowell (wie Anm. 14), S. 17-31. Bibliographie siehe auch: Anti Selart: Aleksander Nevski: märkmeid ühe püha suurvürsti postuumse karjääri kohta [Aleksandr Nevskij. Bemerkungen über die posthume Karriere eines heiligen Großfürsten], in: Akadeemia 12 (2000), Heft 1 (130), S. 115-148, hier S. 119-124.

296 Jürate Kiaupien Das Großfürstentum Litauen und Nordosteuropa Die geopolitischen Veränderungen in Europa am Ende des 20. Jahrhun- derts haben ein neues Interesse an der Definition von Regionen hervorge- rufen. Die Internationale Assoziation der Ostmitteleuropa-Institute hat unter der Federführung des Leiters des Ostmitteleuropa-Instituts (Instytut Europy Srodkowo-Wschodniej) in Lublin, Jerzy Kloczowski, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts diese Arbeit ernsthaft in Angriff genommen.' Die Hauptprobleme dieser ursprünglich multinationalen, multikulturellen und multikonfessionellen Region, die historisch sehr aktiv war und sich immer wieder veränderte, wurden auf den von der Assoziation organisierten Kon- gressen und in ihrem Publikationen thematisiert. Ein Vorhaben ist die Vervollständigung der ursprünglich auf zehn Bände angelegten History of East Central Europe. Diese Reihe war als ein Hilfs- mittel konzipiert, um Fachleuten, die keine Spezialisten für die Geschichte Ostmitteleuropas sind, und Studenten, die eine Spezialisierung auf diesem Gebiet anstreben, eine Einführung in das Thema und einen Überblick über den bisherigen Forschungsstand zu vermitteln. Die Initiatoren der Reihe, Peter F. Sugar und Donald W. Treadgold, stellten dabei fest, dass die syste- matische Erforschung der Geschichte Ostmitteleuropas außerhalb der Re- gion selbst erst vor zwei Generationen begonnen hat. Zum größten Teil ha- ben die Historiker der Region es vorgezogen, über die Vergangenheit allein ihres eigenen Landes zu schreiben, und bis jetzt gibt es keine zusammenfas- sende Geschichtsdarstellung der Region als Ganzes in irgendeiner Sprache.2 Historische Argumente spielen bei der Konstituierung einer Region in der Regel eine wichtige Rolle. Es ist jedoch zu beachten, dass es sowohl Enthusiasten als auch Skeptiker unter den Historikern im Hinblick auf die Konstituierung von Regionen gibt. Die Skeptiker sehen keinen Nutzen darin, Europa in Regionen aufzuteilen und halten dies für eine fruchtlose Beschäfti- gung. Die Enthusiasten dagegen meinen, dass die Suche nach Argumenten für 1 Es seien einige ausgewählte Publikationen dieses Instituts zum Thema genannt: Jerzy Kloczowski: East Central Europe in the Historiography of the Countries of the Region, Lublin 1995; Historia Europy rodkowo-Wschodniej, 2 Bde. / hrsg. v. Jerzy Kloczowski, Lublin 2000; frz. Version: Histoire de l'Europe du Centre-Est, 2 Bde., Paris 2004; L'h&itage historique de la Res Publica de Plusieurs Nations / hrsg. v. Jerzy Kloczowski, Lublin 2004. 2 Vgl. die Einleitung zu: Daniel Stone: The Polish-Lithuanian State 1386-1795, Seattle, London 2001 (A History of East Central Europe; Bd. 4), S. VIIf. Von diesem Werk erschienen die Bände 5-9 in den Jahren 1974-1984; sie deckten die Zeit bis 1939 ab, wobei Südosteuropa von 1354 an, die nichtdeutschen Völker der Habsburgermonarchie seit 1526 und Polen seit 1795 behandelt wurden. Außerdem liegt der ur- sprünglich als Bd. 11 geplante Atlas als Bd. 1 in 2. Auflage (2002) sowie die Darstellungen Polen-Litauens von der Union bis zu letzten Teilung (Bd. 4, 2001) sowie Polens, Böhmens und Ungarns von 1000-1500 (Bd. 3, 1994) vor.

297 Jürate Kiaupien solche Raumkonstitutionen auch einen anderen Blick eröffnet, sowohl auf Eu- ropa im Ganzen und auf seine verschiedenen Territorien als auch auf die Staa- ten, die von den Nationen in diesen Räumen gegründet wurden. So entsteht die Notwendigkeit vergleichender Studien.' Eine ganze Reihe von Antworten auf eines der Hauptprobleme in diesem Pro- zess der Raumkonstitution — wo Ostmitteleuropa endet und wo Osteuropa be- ginnt — kann man in der Geschichte des Großfürstentums Litauen finden.4 Heut- zutage ist man weitgehend darin übereingekommen, dass die östliche Grenze von Mitteleuropa mit den östlichen und südöstlichen Grenzen des Großfürsten- tums Litauen und der polnisch-litauischen Union von 1569 übereinstimmt. Das grundlegende Kriterium für die Unterscheidung der beiden Regionen liegt in den historisch entstandenen sozialen, nationalen, ökonomisch-institutionellen und kulturellen Unterschieden zwischen dem Großfürstentum Litauen und der Moskauer Rus', aus der Rußland entstand. Zeugnisse dafür sind zum einen die unterschiedlichen Systeme des Grundbesitzes, zum anderen Unterschiede in der Selbstverwaltung und den Korporationen der Stadtbewohner, ebenso wie Un- terschiede in den Modellen der staatlich-politischen Organisation und schließ- lich der Mentalität der Gesellschaften. Sugar und Treadgold schrieben dazu: „The limits of ,East Central Europe, for the purposes of this series, are the eastern linguistic frontier of German- and Italian-speaking peoples on the west, and the political borders of Russia/the former USSR on the east. Those limits are not precise, even within the period covered by any given volume of the series. The appropriateness of including the Finns, Estonians, Latvians, Lithuanians, Belorus- sians, and Ukrainians was considered, and it was decided not to attempt to co- ver them systematically, though they appear repeatedly in these books. Treated in depth are the Poles, Czechs, Slovaks, Hungarians, Romanians, Yugoslav peoples, Albanians, Bulgarians, and Greeks."5 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks war die Grenzziehung zwischen diesen beiden Regionen vor allen Dingen aus poli- tischen Gesichtspunkten dringend. Daher wurde dem Problem große Aufmerk- samkeit zuteil. Die andere Frage, wo die Grenze zwischen Ostmitteleuropa und

3 Der erste Schritt zu einer vergleichenden Darstellung der drei baltischen Länder ist Zigmantas Kiaupa, AM Mäesalu, Ago Pajur, Guntis Vilumsons: The History of the Baltic Countries, Tallinn 1999 (2., rev. Aufl. 2000); das Buch liegt auch auf Deutsch vor: Zigmantas Kiaupa, AM Mäesalu, Ago Pajur, Gvido Straube: Geschichte des Baltikums, Tallinn 1999. Von deutscher Seite zuletzt: Michael Garleff: Die bal- tischen Länder, Regensburg 2001. 4 Vgl. Jürate Kiaupiene: The Grand Duchy of Lithuania in East Central Europe or once again about the Lithuanian-Polish Union, in: Lithuanian Historical Studies 2 (1997) S. 56-71; dies.: Idee de Fetat et son röle dans le processus d'integration du Grand Duche de Lituanie — region pluriethnique, pluricon- fessionnelle et pluriculturelle de l'Europe du Centre-Est, in: Frontieres et l'espace national en Europe du Centre-Est / = The Borders and National Space in East-Central Europe / hrsg. v. Jerzy Kloczowski, Piotr Plisiecki u. Hubert Laszkiewicz, Lublin 2000, S. 102-108. 5 Stone (wie Anm. 2), S. VII.

298 Das Großfürstentum Litauen und Nordosteuropa

Nordosteuropa liegt, wurde dagegen im Konstitutionsprozess der Region Ost- mitteleuropa vernachlässigt. Ist es möglich, eine solche Grenze festzulegen? Wenn man das Problem der Überschneidung von mitteleuropäischen und nordeuropäischen Regionen im Nordosten Europas betrachtet, findet sich das Großfürstentum Litauen erneut in einer „Grenzregion" oder an der „Grenze". Damit stellt sich das Problem, ob das Großfürstentum Litauen Nordosteuropa zuzurechnen ist. Diese Überlegung hat weitreichende Folgen, weil bis jetzt das „polnische" Modell der Zuordnung des Großfürstentums Litauen in den Ge- schichtsdarstellungen Europas überwogen hat, bis hin zu der Tradition, es nur als einen untrennbaren Teil der Geschichte Polens anzusehen. Litauens Kontakte mit Nordosteuropa bestanden bereits, lange bevor das Großfürstentum Litauen gegründet wurde. Archäologen vertreten die An- sicht, dass diese bereits in der Zeit bestanden, als die Wikinger ihre Spuren auf den westlichen Gebieten des zukünftigen litauischen Staates hinterließen. Die Handelsroute aus Skandinavien in den Osten führte durch die nordöst- lichen Länder des Ostseeraums. Die Schatzfunde aus dem 9. bis zum 12. Jahr- hundert auf dem Boden Lettlands bezeugen, dass die Düna (lett. Daugava) ein Teil des skandinavisch-osteuropäischen Handelswegs war. Sehr oft wurden von den Wikingern Angriffe gegen das reichste baltische Land, die prußische Region Samland geführt. Konflikte zwischen Wikingern, Preußen und Kuren sind in Quellen des 9. Jahrhunderts erwähnt. Schmuckformen im baltischen Stil hat man auf Gotland, in Hedeby (Haithabu) und anderen Wikingersied- lungen gefunden. In der baltischen Region hatten die Wikinger Kolonien. Nach jüngeren archäologischen Befunden waren es in Litauen zwei Plätze Polangen (lit. Palanga) und eine Siedlung im südlichen Memelland (2ard4 die als internationale Handelsplätze betrachtet werden und die kommerzielle Expansion des 10. und 11. Jahrhunderts unterstützten. Beide Siedlungen nah- men eine Fläche von 10 - 12 Hektar ein und liegen an der Küste; ihre Sozial- struktur war auf Grundlage der Grabfunde nicht die einer Agrargesellschaft.6 Der zeitgenössische litauische Historiker Edvardas Gudaviius schreibt, dass der Stammesadel der Litauer, ebenso wie der Stammesadel der Kuren und Semgaller, das System von Eisengewichten und infolgedessen auch die Konzeption von Besitzakkumulation von den Schweden übernahmen; daher kann man die Schweden als die ersten dauerhaften Vertreter von Nordost- europa in Litauen bezeichnen. Am Anfang des 13. Jahrhunderts versuchten die Litauer, sich nahe der Düna niederzulassen, die den hauptsächlichen Han- delsweg bildete.? Aber dabei blieb es nicht. Litauische Historiker sind der

6 Zigmantas Kiaupa, Jürate Kiaupien, Albinas KunceviC'ius: The History of Lithuania before 1795, Vil- nius 2000, S. 38-40. 7 Edvardas Gudaviius: Lietuvos istorija. Nuo seniausiq laikg iki 1569 metq [Geschichte Litauens von den Anfängen bis 1569], Bd. 1, Vilnius 1999, S. 25-27.

299 Jürate Kiaupien

Meinung, dass der erste Anstoß zur Bildung des litauischen Staates auf die Ostsee hin orientiert war in dem Streben, die verwandten baltischen Stäm- me an der Ostsee zu vereinen. Zu dieser Zeit erstreckte sich die militärische und politische Aktivität der Litauer auf den ganzen Raum östlich von Livland und Estland, den sie erobert hatten. Mehrfach drangen litauische Truppen in Livland ein, durchschritten lettisches und livisches Gebiet und erreichten Est- land (1205, 1207, 1213, 1214, 1218/1219, 1221), wobei sie gegen die Ritter des Livländischen Ordens kämpften und die Höfe von deren Untertanen ver- wüsteten. Im Rahmen ihrer Landnahme und als Reaktion auf die Angriffe der Litauer führten die livländischen Ordensritter ebenso zwei Feldzüge nach Li- tauen durch (1208 und 1229).8 In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts waren die Litauer nicht in der Lage, ihre Pläne zur Vereinigung der baltischen Ge- biete weiter zu verfolgen, und konnten sich nicht in der Dünaregion festset- zen, aber sie gaben diese Ziele nicht auf. Diese Tatsachen sind der Forschung zwar bekannt, aber noch nicht im Zusammenhang mit der Fragestellung nach einer Region Nordosteuropa bewertet worden. Auch die Geschichte der Christianisierung Litauens, die durch ihren späten Zeitpunkt bekannt ist, ist eng mit Nordosteuropa verbunden. Die Geschichts- schreibung betrachtet traditionell das Jahr 1387 als das Datum, an dem Litauen das Christentum annahm, das durch die Vermittlung Polens in den Zeiten von Jagiello (lit. Jogaila) ins Land kam. Die moderne Forschung hingegen hebt hervor, dass das Christentums bereits durch Mindaugas (dt., heute wenig ge- bräuchl.: Mindowe) angenommen wurde, und gibt diesem Datum den Vorzug. Dieser Vorgang ist aber ein weiteres Glied, das Litauen mit der nordosteuro- päischen Region verbindet. Es war nämlich eine Delegation unter der Führung des livländischen Ordensmeisters Andreas von Felben (auch: von Stirlant; 1248-1253), die in der zweiten Hälfte des Jahres 1250 Mindaugas aufsuchte und mit ihm die Frage der Christianisierung beratschlagte. Im Jahre 1251 nah- men Mindaugas und seine Familie das Christentum an. Im Sommer dessel- ben Jahres wurde Mindaugas' Botschafter Pardas in Begleitung von Vertre- tern des Livländischen Ritterordens von Papst Innozenz VI. empfangen, der in einer Bulle anerkannte, dass Mindaugas das Christentum angenommen hatte, und ankündigte, den Herrscher Litauens zum König zu krönen. Der Papst ge- nehmigte die Abmachungen zwischen Litauen und dem Livländischen Orden, erklärte sich zum Souverän über Litauen, gründete eine ihm direkt unterstell- te Diözese für Litauen und befahl dem Bischof von Kulm (poln. Chelmno), Mindaugas zum König zu krönen. Im Jahr 1293 wurden Mindaugas und seine Gemahlin von dem Bischof von Kulm, Heidenreich, gekrönt. Es scheint, dass Mindaugas kurz nach seiner Taufe begann, eine Kathedrale als Voraussetzung

8 Kiaupa u.a. (wie Anm. 6), S. 47.

300 Das Großfürstentum Litauen und Nordosteuropa für diese Krönung und den Bischofssitz zu bauen. Diese Annahme wird durch den kürzlichen Fund von Spuren eines quadratischen Backsteingebäudes vom 13. Jahrhundert unter dem jetzigen Fußboden der Kathedrale von Wilna (lit. Vilnius, poln. Wilno) unterstützt. Dieser wird mit Mindaugas' Taufe und Krö- nung in Zusammenhang gebracht. Die Einsetzung des Bischofs für Litauen hingegen war durch die Intrigen des Erzbischofs von Riga aufgeschoben wor- den, der seinen eigenen Einfluss über Litauen ausdehnen wollte. Mindaugas erreichte, dass Christian, ein Priester des Ordens, zum Bischof für Litauen er- nannt wurde; im Jahre 1254 wurde er geweiht und unterstand direkt dem Papst. Man könnte also sagen, dass eine litauische Kirchenprovinz gegründet wurde. Wegen seiner Verpflichtung, zum Unterhalt für die Kirche beizutragen, über- trug Mindaugas dem Bischof sofort Ländereien in Samogitien (Schemafiten, lit. 2emaitija). Es scheint jedoch, dass Mindaugas keine Vorkehrungen dafür traf, wie Christian seine Einkünfte von diesen Ländereien erheben könnte, so dass dieser, unfähig, selbst dafür zu sorgen, den Zehnten von diesen Ländereien an den Livländischen Orden abtrat. Das verstärkte natürlich die Bindungen des Bischofs an den Orden noch mehr. Der Erfolg der Christianisierung hing von der Tätigkeit der Kirche und der Herausbildung eines litauischen Klerus ab. In dieser Hinsicht wurde jedoch nicht viel unternommen. Die Kathedrale war der wichtigste Schritt in diese Richtung, am Hofe von Mindaugas gab es einen Beichtvater, und Priester scheinen bei der Organisation der fürstlichen Kanzlei mitgeholfen zu haben. Damit erschöpften sich die Aktivitäten der Kirche: Wir haben keine Nachricht über die Schulung örtlicher Geistlicher oder den Bau von weiteren Kirchen; Bischof Christian hat- te nicht einmal einen Kapitelsaal. Im Jahre 1259 hielt er sich den Quellen nach schon in Deutschland auf, wo er 1271 starb. In dieser kurzen Zeit hatte die Kir- che in Litauen keine Möglichkeit, irgendwelche effizient arbeitenden Strukturen aufzubauen. Das litauische Volk war noch nicht bereit zu Veränderungen in der Religion, es gab keine Missionare oder längeren Kontakte mit katholischen Ge- meinschaften. Innerhalb der katholischen Hierachie konkurrierten der Erzbischof von Riga, die übrigen Bischöfe des livländischen Ordenslandes, der Orden selbst und teilweise auch polnische Bischöfe miteinander und wollten oder konnten ihre Anstrengungen nicht bündeln.' Die Christianisierung durch Mindaugas hielt sich in Litauen nicht lange; das Heidentum wurde wiederhergestellt. Trotzdem waren die ersten Schritte der Christianisierung insofern erfolgreich, als die Frage auf der Tagesord- nung blieb. Nach Mindaugas mussten alle Führer der heidnischen Litauer im 14. Jahrhundert sich in der einen oder anderen Weise mit ihren Verbünde- ten über die Frage der Annahme des Christentums durch Litauen beraten. Die

9 Ebda., S. 58-59; Gudaviius (wie Anm. 7), S. 53-56.

301 Jürate Kiaupien

Verhandlungen Gedimins (lit. Gediminas) mit dem Papst in Rom und den po- litischen Kräften in Livland um 1322 bis 1324 kamen bereits weit voran. Die Krönung des Herrschers von Litauen war sorgfältig durchdacht und ein gut vorbereiteter politischer Schritt. Litauen wurde ein christliches Königreich, was gleichbedeutend mit seiner internationalen Anerkennung war. Sein Pres- tige stieg und die Tür zu Europa war formell geöffnet. Alles hing nun an den Beziehungen zu Litauens nächsten Nachbarn, wobei wahrscheinlich dem Liv- ländischen Ritterorden die größte Bedeutung zukam. Zwischen 1251 und 1261 hatte Friede geherrscht. Im Austausch für Frieden und Unterstützung war Min- daugas gezwungen, Teile seiner Länder an den Orden abzutreten: 1253 wur- de ein großer Teil von Samogitien (lit. Zemaitija) und Sudauen (am Oberlauf von Memel und Narew) abgetreten; 1254 erhielt Bischof Christian einige Län- dereien. Später scheinen die Abtretungen an den Orden noch zugenommen zu haben. Durch die erste Abtretung wurden die komplizierten Beziehungen zum Livländischen Orden und der Kirche reguliert. Zu den anderen kam es nach Friedensschlüssen; sie zeigen, wenn sie historische Realität sind, was jedoch zweifelhaft ist, den Druck des Ordens auf Mindaugas; aber die Kontakte mit dem Orden waren zumindest am Anfang auch nützlich für Litauen. Die Ordens- ritter führten Mindaugas' Botschafter an der päpstlichen Kurie ein und lehrten ihn die ersten Schritte in europäischer Diplomatie. Viele Details des Staats- und Regierungsmechanismus wurden ebenfalls nachgeahmt und auf Litauen ange- wendet: z.B. der Kirchenzehnte oder Techniken wie der Backsteinbau bei Er- richtung der Kathedrale von Wilna. Auf der anderen Seite behielt der livlän- dische Ordensstaat ein Monopol hinsichtlich der Vermittlung zwischen Litauen und Europa und benutzte dies auch für seine eigenen Ziele.10 Dies bestätigt, dass während der Entstehung des litauischen Staates wich- tige Ereignisse eng mit dem Leben in der Region Nordosteuropa verbunden waren. Litauen war dabei ein aktiver Teilnehmer, kämpfte für die Errichtung einer Machtstellung in den Ländern entlang der Ostseeküste und sammelte dort seine Erfahrungen im Umgang mit dem Europa des Mittelalters. Die Tat- sache, dass seine Konkurrenten, der Livländische und der Deutsche Orden, zu dieser Zeit viel stärker waren, ist gut bekannt. Schon 1252-1253 hatte der Deutsche Orden die Burg vom Memel (lit. KlaipMa) in den südlichen Grenz- gebieten von Kurland an der Mündung des Memelflusses (lit. Nemunas) ge- baut und die Litauer so von diesem strategisch wichtigen Platz an der Ostsee- küste abgedrängt. Die Burg sollte ein Stützpunkt für weitere Angriffe auf die Ostseeländer sein und einen Brückenschlag zwischen den Ländern der bei- den deutschen Ritterorden vorbereiten. Die Samogiten und die Samländer, die noch nicht vom Orden unterworfen waren, erkannten die wachsende Gefahr

10 Kiaupa u.a. (wie Anm. 6), S. 59f.

302 Das Großfürstentum Litauen und Nordosteuropa und griffen Memel mehrmals an, aber sie konnten die Burg nicht zerstören. Nach einer langen Pause drangen die Litauer Anfang 1270 wieder in Livland ein, erreichten Ösel (estn. Saaremaa) und schlugen in einer Schlacht auf dem Eis bei Karusen (estn. Karuse) die Kräfte des Ordens. Danach wurde sofort ein weiterer siegreicher Feldzug organisiert. Noch zehn Jahre später betrach- tete Großfürst Traidenis von Litauen die Erbauung Dünaburgs (lett. Daugav- pils) durch den Livländischen Orden auf Grund und Boden, der entweder an litauischen Gebiete angrenzte oder sogar zu Traidenis' Herrschaftsbereich ge- hörte, als Wegnahme litauischen Territoriums. Die Herrscher Litauens vertei- digten also ihren Status als Ostseemacht; aber die politische Bedeutung der baltischen Stämme ging zurück, und die Versuche von Mindaugas und ande- ren Großfürsten von Litauen, sie zu vereinigen, blieben erfolglos." Im Licht dieses Gesamtergebnisses erscheint eine Errungenschaft der Litau- er unter der Herrschaft von Mindaugas umso bedeutender: die Schaffung und Verteidigung eines eigenen Staates, der immer größer und stärker wurde. Es war nur die Richtung der territorialen Entwicklung, die sich später änderte. Die In- vasion der Tataren in die zersplitterten Fürstentümer Russlands eröffnete neue Möglichkeiten zur Expansion: der litauische Staat dehnte sich in Richtung der Territorien der Ostslaven aus und wurde zum Großfürstentum Litauen, dessen Territorium sich am Ende des Mittelalters von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Daher stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung gleichbedeu- tend damit ist, dass die Herrscher Litauens von nun an ein Desinteresse an der Nordostregion Europas zeigten? Einige Fakten zeigen, dass dies nicht der Fall war und dass Litauen weiterhin seine territorialen, militärischen, politischen und wirtschaftlichen Interessen in diesem Raum verfolgte. Die wirtschaftlichen Interessen spielten hierbei die größte Rolle. Handels- beziehungen nach Riga und Zollerhebungen auf dem Weg standen bereits zu Mindaugas' Zeiten auf der Tagesordnung. Seit dem Ende des 13. Jahrhun- derts wurde der Litauenhandel ein fester Bestandteil des Rigaer Außenhan- dels, und das Interesse der Stadt an Rohstoffen, die Litauen auf den Markt brachte, nahm zu. Litauens Verbindungen mit Riga reiften allmählich he- ran. Im Frühjahr 1298 kamen litauische Sendboten nach Riga, es wurde ein Militärbündnis mit der Stadt abgeschlossen und ihre religiösen Einrichtungen und Klöster in Rechtsbeziehungen zu Litauen gesetzt — vergleichbar zu denen mit den Hansestädten. Umgekehrt lag Litauen auch im Interessengebiet der Hanse. 1323, 1338 und 1367 wurden Handelsverträge mit Livland und Riga abgeschlossen; sichere Handelswege wurden eingerichtet und für die Rechts- sicherheit der Kaufleute gesorgt. So wurde über Riga schon im 14. Jahrhun- dert Litauen in das Netzwerk des Handels nach Westeuropa einbezogen.12 11 Ebda., S. 63-71; GudaviZius (wie Anm. 7), S. 70-73. 12 Kiaupa u.a. (wie Anm. 6), S. 75-79; Gudaviius (wie Anm. 7), S. 80-83.

303 Jürat. Kiaupien

Durch den Erwerb von Ländern der Rus' durch den litauischen Staat eröff- neten sich im 14. Jahrhundert neue Handelsrouten. Die Länder der Rus' wa- ren eher wegen der Sicherheit der Handelswege von Interesse denn als Han- delspartner — ihre Waren und die von Litauen angebotenen waren fast gleich. Bald, spätestens im frühen 14. Jahrhundert, wurden Kontrollposten an der Düna und später auch an dem Handelsweg auf dem Dnjepr angelegt. Das Ziel war die Kontrolle der galizisch-wolhynischen Handelsrouten, die das Schwar- ze Meer mit der Ostsee und den Territorien Deutschlands verbanden. Durch die Kontrolle über diese Handelswege wurde Litauen nicht nur ein unent- behrlicher Vermittler des Handels zwischen West- und Osteuropa, sondern auch ein Handelszentrum zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostseekü- ste. Einige Zeit verhinderten die ungeregelten Beziehungen Litauens mit sei- nen westlichen Nachbarn die Handelsaktivitäten, aber die strategischen Posi- tionen waren bereits eingenommen. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts begann man, litauischen Flachs nach Norden zu exportieren. Die Nähe Rigas und die hohe Nachfrage nach Flachs wurden in den nördlichen Teilen Litauens erfolgreich ausgenutzt. Nicht nur Kaufleute oder Großgrundbesitzer, sondern auch Bauern der nörd- lichen Territorien des litauischen Großfürstentums begannen, an den Markt- beziehungen teilzunehmen. Man darf annehmen, dass es zu diesen Kontak- ten zu der Nordostregion dadurch kam, dass im benachbarten Samogitien viel größere und zahlreichere Freibauernstellen überlebten und dass kein auf Fron- dienst gestütztes System der Gutsherrschaft entstand.n Es gibt freilich nur einige wenige Hinweise auf wirtschaftliche Kontakte Litauens in den Nordosten, aber im Verlauf der Zeit wurden diese Interes- sen eher stärker als schwächer. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Nachfrage nach Agrarprodukten und landwirtschaftlichen Rohstoffen in Westeuropa anstieg, wurden die Häfen an der Ostsee Anziehungspunkte für die Grundbesitzer des Großfürstentums Litauen: Agrarprodukte aus den Län- dern der litauischen Rus' wurden zum Verkauf an die Ostseeküste transpor- tiert. Auch eine Reihe von Ereignissen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhun- derts bestätigen das Gewicht dieser Interessen. Der Livländische Krieg (1558-1582) zeigt, dass sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Einstellung der politischen Öffentlichkeit im Groß- fürstentum Litauen hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung des Staates ver- ändert hatte. Dieser Krieg war zugleich Litauens erster Krieg um den Ost- seeraum. Die neue Generation in der Führungsschicht nahm von der durch Gedimin begründeten Tradition der territorialen Expansion Abschied und un- terstützte das jagiellonische Modell der Gründung eines maritimen Staates, 13 Vgl. weiterhin Jürate Kiaupien: Kaimas ir dvaras 2emaitijoje XVI-XVIII a. [Dorf und Gut in Samo- gitien vom 16. bis zum 18. Jahrhundert], Vilnius 1988; Kiaupa u.a. (wie Anm. 6), S. 256-259.

304 Das Großfürstentum Litauen und Nordosteuropa das in Polen bereits im 15. Jahrhundert mit der Angliederung des Königlichen Preußen im Dreizehnjährigen Krieg (1454-1466) erfolgreich erprobt worden war. Dieser Politikwechsel wurde von mehreren Faktoren bestimmt: der erste war die veränderte Gesellschaftsstruktur, da durch den Verlust der östlichen Landesteile in der Folge der Lublin Union (1569) der Anteil der slavischen Bevölkerung sank und der litauische Adel einen großen Teil seiner Länder verlor. Ein zweiter Grund war der offensichtliche ökonomische und politische Erfolg Polens in der zweiten Hälfte des 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahr- hunderts, nach dem es den Zugang zur Ostsee wieder gewonnen hatte. Der dritte war die gesamte Atmosphäre moderner ökonomischer Beziehungen zu Europa, mit einer Konzentration auf internationale Handelsrouten am At- lantik, die die Wichtigkeit der Ostsee und der Länder, die ihre Häfen kon- trollierten, ebenfalls ansteigen ließ:4 Nach dem Livländischen Krieg wurde Schweden durch seine nördlichen Ostseegebiete in Estland ein Nachbar der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Dies wurde sehr wichtig in der Zukunft. Dynastische Beziehungen schufen ein weiteres Band zwischen dem Groß- fürstentum Litauen und Nordosteuropa. Sicher war 1561, als Katharina (eine Schwester des polnischen Königs und Großfürsten von Litauen, Sigismund August) Herzog Johann von Finnland (den Bruder des schwedischen König Erik) heiratete, der zukünftige Ereignisablauf noch nicht abzusehen, aber die- se Heiratsverbindung zwischen den Gediminiden/Jagiellonen und der Dynas- tie der Vasa brachte im Jahre 1587 Sigismund Vasa auf den Thron der „Re- publik beider Nationen". Sigismund wurde dort willkommen geheißen als schwedischer Thronerbe, Nachkomme der Jagiellonen und von den Jesuiten erzogener Katholik. Von da an waren Mitglieder der schwedischen Vasady- nastie für ein Menschenalter Großfürsten von Litauen. Die litauischen Hoffnungen zielten auf ein Bündnis mit Schweden gegen Russland (was für das Großfürstentum am wichtigsten war) und auch auf die Inkorporierung Estlands in die polnische Adelsrepublik. Andererseits gab es Befürchtungen, dass die Republik zu sehr in Schwedens innere Angelegen- heiten hineingezogen würde. Die Beziehungen zwischen Schweden und Polen-Litauen waren kompliziert nicht nur deswegen, weil der polnische Thron von 1587 bis 1668 von Mitgliedern des Hauses Vasa eingenommen wurde, die Ansprüche auf den schwedischen Thron erhoben. Vielmehr waren beide Staa- ten auch Konkurrenten um den Einfluss in den Ländern an der baltischen Küste, insbesondere Livland. Im 17. Jahrhundert führte Polen-Litauen mehrfach mit Schweden Krieg, allerdings waren diese für Schweden erfolgreicher. Das Groß- fürstentum versuchte einen mäßigenden Einfluss auf die polnische Schweden- politik auszuüben, nahm aber trotzdem an diesen Kriegen teil.

14 Ebda., S. 230-233.

305 Jürate Kiaupien

Allerdings lernten die Repräsentanten der politischen Öffentlichkeit des Großfürstentums Litauen auch das Leben in Schweden und Skandinavien nä- her kennen und nahmen daran teil. Seine jagiellonische Herkunft wiederum brachte Sigismund Vasa auch der litauischen Gesellschaft näher. Das Ge- sichtsfeld der aktiven Teile der Gesellschaft weitete sich in politischer, militä- rischer und wirtschaftlicher Hinsicht, und es zeigte sich hierbei deutlich eine Dimension nordosteuropäischer Kulturbeziehungen. Da die Politiker des li- tauischen Staates sich innerhalb der Interessenkonflikte zwischen Habsburg, Moskau, Krakau und Schweden wiederfanden, mussten sie auch neue überre- gionale Erfahrungen sammeln. Als 1654 ein neuerlicher Krieg zwischen Po- len, Litauen und Russland ausbrach, hing der Ausgang weitgehend von der Haltung Schwedens ab. Dieses war zwar besorgt über die Siege Russlands, aber zugleich unfreundlich gegenüber der Adelsrepublik eingestellt, insbeson- dere zu König Johann Kasimir Vasa. Schweden strebte danach, die Ostsee zu beherrschen und alle ihre Küsten zu besetzen. Johann Kasimir Vasa, der nicht genügend militärische und materielle Ressourcen und auch keine diploma- tische Unterstützung hatte, hielt trotzdem stur an der dynastischen Politik der Vasa fest und proklamierte sich zum König von Schweden, was die Bezie- hungen zwischen Schweden und Polen-Litauen noch komplizierter machte. Man hatte in der Adelsrepublik gehofft, dass Schweden ein Bundesge- nosse im Konflikt mit Russland werden würde. Schon im Jahre 1654 schlug Jonuas Radvila (poln. Janusz Radziwill) vor, Schweden als Vermittler anzu- rufen. Ein Teil des Adels im Großfürstentum war proschwedisch eingestellt, und es ist bekannt, dass einige Adlige auch direkt Kontakte mit Schweden hat- ten. Wegen der Angriffe der russischen Armee wandten sich 1655 eine Reihe von Magnaten des Großfürstentums — Jurgis Tigkeviius (poln. Jerzy Tyszkie- wicz) (Bischof von Wilna), Jonugas Radvila und sein Vetter Boguslovas Rad- vila (poln. Janusz und Boguslaw Radziwill) — an Schweden mit der Bitte um Hilfe gegen Russland und Schutz seitens des schwedischen Königs. Die Be- dingungen der Unterstellung unter Schweden waren Gegenstand zahlreicher Verhandlungen. Die Gesellschaft in dem Großfürstentum Litauen hatte kei- neswegs eine einheitliche Haltung, und es fanden zur gleichen Zeit schwe- disch-russische Verhandlungen statt, die nichts Gutes für das Großfürstentum bedeuten konnten. Die Verhandlung mit Schweden wurde am 20. Oktober 1655 in einem Feldlager außerhalb KMainiai (poln. Kiejdany) abgeschlossen. Jonugas Rad- vila, Piotr Parczewski (Bischof von Samogitien), Jurgis Bialozoras (poln. Je- rzy Bialozor) (Abgesandter des Bischof von Wilna) und über tausend weitere Adlige unterschrieben den Text des Vertrags seitens des Großfürstentums. Der Vertrag trennte das Großfürstentum Litauen von der Union mit dem Kö- nigreich Polen, kündigte die Unterordnung unter Johann Kasimir auf und pro- 306 Das Großfürstentum Litauen und Nordosteuropa klamierte eine Union zwischen dem Großfürstentum Litauen und dem König- reich Schweden mit dem Schwedenkönig Karl X. Gustav als Großfürst von Litauen. Dabei sollte das Großfürstentum von einem im Lande residierenden Vizekönig regiert werden.' Die neue Einschätzung der lang andauernden Kontakte mit Nordosteuro- pa erlaubt uns besser zu verstehen, warum der Vertrag von KMainiai von über tausend Vertretern des Großfürstentums Litauen — sowohl Calvinisten als auch Katholiken — unterzeichnet wurde. Auch dürfte das Verhalten des litauischen Politikers Jonuas Radvila, der das Projekt der Union mit Schweden 1655 am intensivsten betrieb, in neuem Licht erscheinen. Es zeigt sich, dass der Ver- trag mit Schweden nicht einer Laune von Radvila oder einer Verschwörung der Calvinisten im Großfürstentum Litauen entsprungen war. Auch die Mit- glieder der katholischen Hierarchie des Großfürstentums nahmen aktiv an den Verhandlungen teil. Leider haben die Historiker noch keine genaueren Un- tersuchungen über den Annäherungsprozess und die Koexistenz dieser bei- den Teile der litauischen Gesellschaft unternommen. Zusammenfassend ist zu sagen: Im 13. Jahrhundert, während der Staatsbildungsphase, strebte Litauen nach einer geopolitischen und wirtschaftlichen Positionierung in Nordosteuro- pa und versuchte, die baltischen Stämme dieser Region zu vereinen. Diese An- strengungen blieben jedoch ohne Ergebnis. Hingegen wurden Gebiete im Os- ten und Südosten von Litauen Teile des litauischen Staates; da sie den Kampf um die Ostseeküste verloren hatten, nutzten die Herrscher Litauens die neuen Möglichkeiten aus, die sich für sie in den zerfallenen Teilen Russlands nach dem Tartarensturm ergaben. Auf diese Weise konnte sich Litauen im 14. Jahr- hundert eine Position in Europa sichern. Die Gediminidenherrscher dehnten das Territorium ihres Staates von den Küsten der Ostsee bis zu denen des Schwarzen Meeres aus, aber es gelang ihnen nicht, den Schwerpunkt ihrer geo- politischen Interessen ebenfalls in die Steppenzone des südöstlichen Europas zu verlegen. Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert konzentrierten sich Litauens In- teressen wieder auf Nordosteuropa; es versuchte Kontrolle über die Düna und ihre Häfen zu erreichen und eine Stellung in der Ostseeregion zu erlangen. Da- her kann man bis zum Zeitpunkt des Verfalls der Republik beider Nationen am Ende des 18. Jahrhunderts von einer Überlagerungszone zwischen Nordost- europa und Ostmitteleuropa sprechen. Diese Zone umfasst Kurland, Livland und Nordwestlitauen, und auf ihrem Boden, unter gegenseitiger Bereicherung, wirkten die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Kulturen von Mit- teleuropa — dem „Habsburgischen" Europa — und dem Norden — den skandina- vischen Ländern — zusammen. Aus dem Englischen übersetzt von Robert Schweitzer

15 Ebda., S. 304.-320.

307 Aleksandr Myl'nikov (t) Nordosteuropa — Raum ethnokultureller Synthese: Vom Frühmittelalter bis in die Frühe Neuzeit*

Ich beginne mit einem terminologischen Exkurs, denn der Begriff „Nord- osteuropa" im Titel meines Vortrages bedarf einer erklärenden Bemerkung. Er wirft zwar für einen Beobachter, der sich von Westen dem mit diesem Ter- minus bezeichneten Raum nähert, keine Probleme auf, doch für den weiter östlich lebenden Beobachter passt er nicht. Jedenfalls würde eine so bezeich- nete Region vom russischen Standpunkt aus auch diejenigen Territorien um- fassen, die im historischen Sinne aus der Novgoroder „Republik" (dem hi- storischen „Herrn Groß Novgorod") hervorgingen. Es handelt sich dabei um „Nordwestrussland": umfangreiche Territorien der heutigen Russischen Fö- deration, die an Skandinavien, Finnland und die baltischen Länder grenzen und zu denen ökonomisch und kulturell auch die Kaliningrader Exklave um das ehemalige Königsberg gehört. Diese terminologische Differenz spiegelt nicht nur den Einfluss verschiedener wissenschaftlicher Schulen wider, son- dern auch die unterschiedliche geographische Perspektive der Forscher. Das Thema meines Vortrags hat eine lange und unfangreiche historio- graphische Vorgeschichte, in der die Auseinandersetzungen zwischen den „Normannisten" und den „Antinormannisten" eine zentrale Rolle spielen. Darauf kann hier aber nur hingewiesen werden. Statt dessen sollen hier — mit Rücksicht auf den heutigen historiographischen Kontext — allgemeine Tendenzen der ethnokulturellen Prozesse in der Region dargestellt werden, die den russischen Nordwesten bildet. Die Betrachtung ist auf die Periode vom frühen Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert beschränkt, als unter den Bedingungen russisch-skandinavischer Nachbarschaft eine komplizierte, widerspruchsvolle und durchaus nach verschiedenen Richtungen offene Entwicklung vor sich ging, zu deren Ergebnissen die Gründung von St. Pe- tersburg 1703 und der damit erreichte Zugang Russlands zur Ostsee zählen. Zur ethnokulturellen Situation An den Anfängen der aus den archäologischen und schriftlichen Quel- len bekannten Geschichte des russischen Nordwestens stehen finnougrisch- sprachige Stämme: die Voten, die Iioren (oder Ingrier), die Vesen (oder Wepsen), die Karelier und andere West-Ugrier. Ungefähr seit dem 6. Jahr- hundert siedelten sich nördliche Gruppen der Ostslaven (die Ilmen-Slaven * Die Abhandlung wurde im Rahmen des Projektes N 01-01-00026a von der Russischen Geisteswissen- schaftlichen Stiftung unterstützt.

308 Nordosteuropa — Raum ethnokultureller Synthese oder Slovenen von Novgorod) auf diesem Territorium an; in den folgenden Jahrhunderten wurde die Region, deren Bevölkerung das orthodoxe Chri- stentum annahm, durch allmähliche Kolonisierung erweitert und in das alte Russland eingegliedert. Das war ein komplizierter und widerspruchvoller Prozess. Denn einerseits ist, mit den Worten des Klassikers der russischen Ethnologie, Dmitrij Konstantinovi Zelenin, „eine idyllisch-friedliche Ko- lonisation des einst von Finnen besiedelten nordöstlichen Europa durch die Russen [...] eine von den Historikern kreierte Legende",1 aber anderer- seits betont derselbe Autor: „Alle finnischen Stämme, die in den älteren rus- sischen Chroniken erwähnt werden, haben sich bis auf unsere Zeit erhalten, sogar unter ihren früheren Namen".2 Riesige Flächen, die sich im Norden bis zur Barentssee und im Osten bis zum Ural-Gebirgskamm ausdehnen, bildeten vom 12. bis 15. Jahrhundert das Territorium der Novgoroder „Republik", die seit 1478 in den russischen (Moskauer) Staat integriert wurde. Als Ergebnis der für Russland ungün- stigen Ereignisse in der Zeit der Wirren zu Beginn des 17. Jahrhunderts ge- riet dann ein bedeutender Teil der Region, das untere Neva-Gebiet (Inger- manland) für fast ein Jahrhundert unter die Macht der schwedischen Krone. Unter Berücksichtigung dieser politischen Wechselfälle gab es also im Lau- fe von mehr als tausend Jahren vier ethnokulturelle Phasen und gingen der fünften, russischen Phase (seit Anfang des 18. Jahrhunderts) voraus: eine baltisch-finnougrische, eine Novgorod-slavische, eine Novgorod-moskovi- tische und eine schwedische. Jede dieser Phasen ging ohne abrupten Wan- del in die folgende über, und es gab Wechselwirkungen und kulturelle Kon- tinuitäten. Diese besondere ethnokulturelle Konstellation der Region führte zur Ausbildung einer spezifischen Mentalität, die den russischen Nordwesten von den übrigen Ländern des entstehenden zentralisierten russischen Staates unterschied. Das äußerte sich unter anderem in einer wesentlich größeren Offenheit und religiösen Toleranz der Bevölkerung. Ich führe nur ein cha- rakteristisches Beispiel an: bei der slavischen Übersetzung der sogenannten Gennadij-Bibel (1499) in Novgorod nahm als Berater ein Kroate teil, ein gewisser Veniamin, Mitglied des katholischen Dominikanerordens, welcher für die Inquisition tätig war.' Etwas ähnliches wäre in Moskau damals kaum möglich gewesen.

1 Dmitrij KonstantinoviC' Zelenin: Vost&'noslavjanskaja ttnografija [Ostslavische Volkskunde] / hrsg. v. Kirill V. üistov, Moskva 1991, S. 34; hier zit. nach der deutschen Fassung: Dmitrij Zelenin: Russische (Ostslavische) Volkskunde, Berlin u. Leipzig 1927, S. 6. 2 Ebda., S. 5. 3 Anatolij AlekseeviC' Alekseev: Biblejskaja filologija v Novgorode Velikom [Biblische Philologie in Groß-Novgorod], in: Novgorod v kul'ture Drevnej Rusi: Materialy C'tenij po drevnerusskoj literature, Nov- gorod 1995, S. 22-33, hier S. 31.

309 Aleksandr Myl'nikov

Außer der erwähnten ethnokulturellerr Vielfalt hatten auf die Formierung der Mentalität des russischen Nordwestens seit dem 11./12. Jahrhundert auch die — von Sprachkontakten begleiteten — Handelskontakte Novgorods mit der Hanse und anderen ausländischen, europäischen und orientalischen Partnern ihren Einfluss.' Das stimulierte wiederum die religiöse Toleranz, von der die Anwesenheit von Vertretern der katholischen, lutherischen, jüdischen und anderer Konfessionen neben den Orthodoxen in Novgorod, Pleskau (russ. Pskov), Toropec und einer Reihe anderer Städte der Region zeugte. Zur ethnopolitischen Situation Der russische Nordwesten hat eine entscheidende Rolle dabei gespielt, dass der russische Staat nicht zu einem monoethnischen, sondern einem po- lyethnischen wurde. In der altrussischen Chronik „Povest' vremennych let" spiegelt sich dieser Umstand in der Legende von der Einladung dreier varä- gischer Brüder auf den Fürstenthron wider, an der nicht nur die Ilmen-Sla- ven ihren Anteil hatten, sondern auch finnischsprachige Stämme — die Cud', Krivien und die Ves.5 Der historische Kern der Legende ist aber umstritten und wird von verschiedenen Forschern widersprüchlich ausgelegt.' Das betrifft vor allem den Ort, an dem sich der älteste der Varäger-Brü- der, Rjurik, niederließ: in Novgorod oder in Alt-Ladoga (heute Staraja La- doga im Leningrader Gebiet)? Zwar ist es an dieser Stelle nicht möglich, auf diesen interessanten und für die Kritik der Legende wichtigen Aspekt ausführlicher einzugehen, doch ist daran zu erinnern, dass in manchen Re- daktionen der „Povest' vremennych let" Novgorod genannt wird, in an- deren (z.B. in der ältesten Hypatius- und in der Radziwill-Chronik)8 aber Ladoga. Es kann wohl sein, dass im 14./15. Jahrhundert (und vielleicht auch schon früher, in der Epoche, als die „Povest' vremennych let" ent- stand) diese Frage für die Chronisten zweifelhaft war. Es ist zu bemerken, dass in der frühesten datierten Aufzeichnung — in der Laurentius-Chronik (Lavrent'evskaja letopis') des Jahres 1377 — weder Novgorod noch La-

4 Elena Aleksandrovna Rybina: Inozemnyje dvory v Novgorode XII-XVII vv. [Die fremdländischen Höfe in Novgorod vom 12. bis 17. Jahrhundert], Moskva 1986. 5 Povest' vremennych let / podgotovka teksta, perevod, stat'i i kommentarii D. S. Lichaeva [Erzäh- lung der vergangenen Jahre / Textaufbereitung, Übersetzung und Kommentar von Dmitrij S. Lichaev], 2. Aufl., 2 Bde., Sankt-Peterburg 1996; dt. Übersetzung: Die Nestorchronik, übersetzt v. Ludolf Müller, München 2001 (Handbuch zur Nestorchronik; Bd. 4), 862, 9. 6 Vladimir Jakovlevic Petruchin: Na'alo &nokulturnoj istorii Rusi IX-XI vekov [Der Anfang der ethno- kulturellen Geschichte Russlands im 9. bis 11. Jahrhundert], Smolensk u. Moskva 1995. 7 Nach den archäologischen Befunden kommt aber Novgorod selbst nicht in Frage, sondern das südlich von Novgorod gelegene Rjurikovo Gorodik'e. 8 Ipat'evskaja letopis' [Hypatius-Chronik], Moskva 1962 (Polnoe sobranie russkich letopisej; Bd. 2); Radzivilovskaja letopis' [Radziwill-Chronik], Leningrad 1989 (Polnoe sobranie russkich letopisej; Bd. 38).

310 Nordosteuropa — Raum ethnokultureller Synthese doga genannt werden. Statt dessen befindet sich im Manuskript eine Lü- cke — so wird in der ersten (1950) und zweiten (1996) Auflage der von der Akademie der Wissenschaften veröffentlichten „Povest' vremennych let" behauptet. Darin zeigte sich, so Dmitrij S. Lichaev, die Gewissenhaftig- keit des Chronisten, „der sich nicht entschlossen hat, eine der Versionen zu bevorzugen".9 In der maßgeblichen Handschrift der Laurentius-Chro- nik gibt es jedoch keine Lücke, sondern der Ort wird verschwiegen?' Man muss also über die Ursache des Verschweigens des ersten Aufenthaltes von Rjurik nach der Ankunft in der Rus' nachdenken. Es ist anzunehmen, dass der Zusammenfasser oder der Umschreiber befürchtete, die logische Ganz- heit der Varäger-Legende aufzubrechen. Hätten die Novgoroder die Varäger herbeigerufen, dann wäre das Auftauchen von Rjurik eben in Novgorod na- türlich gewesen. Ob das Verschweigen des ursprünglichen Niederlassungs- ortes von Rjurik bedeutet, dass er sich zunächst doch in Ladoga niedergelas- sen hatte? Das hieße — wie es unter dem Jahr 862 in der Hypatius-Chronik, einer südrussischen Redaktion aus dem Ende des 12. / Anfang des 13. Jahr- hunderts, heißt und es auch die jüngere Radziwill-Chronik aus dem 16. Jahr- hundert überliefert —, dass die drei Varäger-Brüder, die mit ihren Stammes- brüdern und Kriegsgefolge ankamen, eine Holzfestung in Alt-Ladoga gebaut hatten, wo sich Rjurik als der älteste von ihnen niederließ." Nach zwei Jahren starben Rjuriks Brüder, Sineus und Truvor, und er „übernahm die Macht ei- genmächtig". Aber wo? Den übereinstimmenden Angaben der Hypatius- und Radziwill-Chronik nach ging Rjurik zur Einmündung des Volchov in den Il- men-See, wo er eine neue Holzfestung erbaute und sie Novgorod nannte.12 Daraus ergibt sich eine gut geordnete Konstruktion: zuerst lässt sich Rjurik 862 in Alt-Ladoga nieder, und nach zwei Jahren zieht er nach Novgorod um. Die Priorität Alt-Ladogas ist nicht nur durch die Route der Varäger „aus dem Land hinter dem Meer" (dem „Zamor'e") zu erklären. Im 9. Jahrhundert war Alt-Ladoga schon ein wichtiges Zentrum des russischen Nordwestens mit ei- ner polyethnischen — slavischen, skandinavischen und finnougrischen — Be- völkerung und trat als Vermittler internationaler Handelsverbindungen auf — „des Wegs von den Varägern zu den Griechen" und zurück. Diese Rekonstruktion aus den Chronikberichten spiegelt offensichtlich in großen Zügen die tatsächlichen Bedingungen der Zeit. Auf jedem Fall zei- gen die Ergebnisse archäologischer Forschungen unter Leitung der Archä- ologen Valentin Lavrentevi Janin (in Novgorod) und Anatolij NikolaeviZ Kirpiaikov (in Staraja Ladoga), dass die älteste Kulturschicht von Alt-Lado-

9 Povest' vremennych let (wie Anm. 5), Kommentar, S. 404f. 10 Russische Nationalbibliothek, F. IV.2, Bl. 7. 11 Radzivilovskaja letopis' (wie Anm. 8), S. 16. 12 Ebda.

311 Aleksandr Myl'nikov ga in das 7.-8. Jahrhundert reicht und zeitlich den ältesten Funden von Novgo- rod vorangeht. Deswegen kann dieser Ort im Osten des Leningrader Gebiets als erstes politisches Zentrum des sich bildenden Rjurikiden-Reichs gelten.' „Die Chronisten des 11. Jahrhunderts", so nimmt Ruslan Grigor'evi Skrynnikov an, „haben eine Phantasie-Genealogie konstruiert, indem sie die zufällig erhaltenen Namen verbunden haben. Unter ihrer Feder ist Igor zu einem Sohn Rjuriks und Oleg zu einem Verwandten Rjuriks und Heerfüh- rer Igors geworden. Askold und Dir sollten Bojaren Rjuriks gewesen sein. Im Ergebnis ist der halbmythische Varäger Rjurik zu der Zentralfigur der altrus- sischen Geschichte geworden".14 Es ist jedoch letzten Endes nicht so wich- tig, ob die Legende den historischen Umständen des Auftretens Rjuriks in der Rus' entspricht — obwohl diese Auffassung in letzter Zeit Bestätigung erhält.15 Unbestreitbar ist hingegen ein anderer Umstand: Mit dem Namen des legendären Rjurik verbindet sich im historischen Bewusstsein die Grün- dung der altrussischen Dynastie, die zunächst die Kiever Rus' und dann das Moskauer Russland bis zum Ende des 16. Jahrhunderts regierte. Als ein- drucksvolles Beispiel für das Dynastiebewusstsein sei ein Zeugnis des äl- testen Sohns Ivans des Schrecklichen, des Zarensohns Ivan Ivanovi, ange- führt, der ein Autor einer der Redaktionen der „Vita des Antonius von Sij" war: Er nannte sich „Russe vom Stamm der Varäger" und fügte gemäß der offiziösen Mythologie jener Zeit die Formel: „des Geschlechtes von Augu- stus, dem Römischen Kaiser" hinzu.16

13 Anatolij Nikolaevi NaCalo drevnej Ladogi. Novye istoriko-archeologis6eskie izyskanija. (K 25-letiju dejatel'nosti Staroladoiskoj archeologieskoj &spedicii) [Der Anfang des alten Ladoga. Neue historisch-archäologische Forschungen. (Zur 25jährigen Tätigkeit der archäologischen Expedition in Sta- raja Ladoga)], in: Peterburgskie &enija 97: Peterburg i Rossija / hrsg. v. Tatjana A. Slavina, Sankt-Peter- burg 1997, S. 7-27, hier S. 8; s. auch die historiographische Übersicht in: Moisej Samoilovi Kagan: Grad Petrov v istorii russkoj kul'tury [Die Stadt Peters in der Geschichte der russischen Kultur], Sankt-Peterburg 1996, S. 13-21. 14 Ruslan Grigor'eviZ Skrynnikov: Vojny Drevnej Rusi [Die Kriege der Alten Rus'], in: Voprosy istorii 1995, Nr. 11-12, S. 24-38, hier S. 26. 15 Anatolij Nikoaevis6 KirpiZnikov: „Skazanie o prizvanii varjagov": analiz i vozmoinosti istoä'nika [„Die Sage über die Herbeirufung der Waräger": Analyse und Möglichkeiten der Quelle], in: Pervye skandi- navskie Cenija: änografieskie i kurturno-istorieskie aspekty / hrsg. v. Aleksandr Sergeevi Myl'nikov, Sankt-Peterburg 1997, S. 7-18; vgl. Jens P. Nil'sen: Rjurik i jego dom: opyt idejno-istoriograft'eskogo podchoda k normanskomu voprosu v russkoj i sovetskoj istoriografii [Rjurik und sein Haus: Versuch einer ideengeschichtlichen Annäherung an die normannische Frage in der russischen und sowjetischen Histori- ographie], Archangel'sk 1992; Englisch als: Jens Petter Nielsen: The troublesome Rjurik and his house: the Norman question in Soviet historiography under Stalin, in: Acta Borealia 1 (1992), S. 19-37. Die vollständige Arbeit ist 1976 u.d.T. Jens Petter Nielsen: Normannism i russisk historieforskning 1749-1949: hovedlinjer, als Hist. Examensarbeit Oslo entstanden. 16 Lev Aleksandrovi Dmitriev: Ivan Ivanovii, in: Slovar' kniinikov i knanosti Drevnej Rusi: vtoraja polovina XIV-XVI veka, Leningrad 1988, H. 2, Teil 1, S. 384f.

312 Nordosteuropa — Raum ethnokultureller Synthese

Vom Anfang des 12. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts: Eine Anti-Rjurik-Legende? Wenn die Chronik-Nachrichten über die Ankunft von Rjurik und seinen Brüdern in der Rus' später, im 18. Jahrhundert, den Anstoß zu den langen Diskussionen zwischen den „Normannisten" und ihren Gegnern im wei- testen Sinne gaben, dann kann eine der nordrussischen Legenden als eine Art von regionalem Nukleus eines altrussischen „Antinormannismus" betrachtet werden. Es handelt sich um die Sage von den Brüdern Sloven und Rus, deren Text aus frühestens aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammenden Auf- zeichnungen bekannt ist. Die Beobachtungen des Novgoroder Historikers Petr M. Zolin, der sich auf die Publikation arabischer Quellen von Anatolij Novosel'cev stützte,17 ermöglichen es inzwischen aber, zu völlig anderen Schlüssen zu kommen. Der Schlüssel dazu liegt in der Kombination des verdrehten Sujets der al- trussischen Chronik „Povest' vremennych let" über die Novgoroder Dampf- badhäuser, die der Apostel Andreas gesehen haben soll, mit dem Kern der Sage über Sloven und Rus in einem anonymen arabischen Traktat „Samm- lung der Geschichten", der auf das Jahr 1126 datiert ist!18 Aber in diese Zeit fällt auch die Entstehung der altrussischen „Povest' vremennych let". Das alles ist ziemlich sensationell: Sollte die Vermutung stimmen, dann würde daraus folgen, dass die Legende von Sloven und Rus, die fünf Jahrhunderte in der mündlichen Folklore überliefert wurde, mindestens zeitgleich mit der altrussischen Chronik wäre. Und möglicherweise in der Konkurrenz zu der „offiziellen" Varäger-Version, die in dieser Sage ebenso wie Rjurik selbst gar nicht erwähnt wird. In dieser sagenhaften Überlieferung tritt Sloven als Urahn der Slaven auf und sein Bruder Rus als Urahn der „Russen", d.h. in der damaligen Auf- fassung aller Ostslaven. Wichtig ist, dass in beiden Fällen das Novgoro- der Land als Epizentrum des ethnogenetischen Prozesses fungiert. Die sa- genhaften Ereignisse werden am Ufer des Ilmen-Sees angesiedelt: Sloven wird als Gründer entweder einer gewissen Vorgängersiedlung von Nowgo- rod (Slovensk) oder unmittelbar Novgorods selbst gedeutet, und Rus — als Gründer von Staraja Russa.

17 Petr Michailovic Zolin: Rus' do Rusi [Rus' zur Rus'], Novogord 1991; Drevnerusskoe gosudarstvo i ego meiclunarodnoe znaenie [Der altrussische Staat und seine internationale Bedeutung] / hrsg. von Anatolij P. Novosel'cev, Vladimir T. Paguto, Lev V. üerepnin, Moskva 1965; vgl. Aleksandr Sergeevib' Myl'nikov: Kartina slavjanskogo mira: vzgljad iz vost&'noj Evropy; predstavlenija ob etniceskoj nomina- cii i äniCnosti XVI - naCala XVIII veka [Das Bild der slavischen Welt: Blick aus Osteuropa; Vorstellungen über ethnische Benennung und Ethnizität vom 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts], Sankt-Peterburg 1999, Bd. 2, S. 332. 18 Myl'nikov: Kartina (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 33f.

313 Aleksandr Myl'nikov

Es kann kaum als Zufall betrachtet werden, dass das Auftauchen der hand- schriftlichen Fixierung und die Verbreitung der Sage von Sloven und Rus in mehreren Aufzeichnungen in das 17. Jahrhundert fällt, als ein Teil der Novgo- roder Länder (Ingermanland) vom russischen Staat abgetrennt und zeitweilig in das schwedische Königsreich inkorporiert worden war. Angesichts dieser Konstellation wäre es sinnvoll zu untersuchen, welche Reaktionen die Kennt- nis der anderen Legende über die Herbeirufung der skandinavischen Brüder in die Rus' im russischen und schwedischen historischen Denken des 17. Jahr- hunderts hervorrief Für die Begründung der schwedischen Okkupation hätte sie sicher zu Gunsten der schwedischen Krone ausgelegt werden können, um so mehr, als zu jener Zeit die Rjurikiden-Dynastie erlosch und sich in Moskau die Romanov-Dynastie etablierte.19 Man kann annehmen, dass in der Situation unfreundlicher und in man- chen Jahren offen feindlicher Beziehungen zwischen Moskau und Stock- holm nach dem Friedensschluss von 1617 in Stolbovo die fünfhundert Jahre latent erhaltene alte nordrussische Sage neue Aktualität erhielt, wovon ihre schriftliche Fixierung ausgerechnet im 17. Jahrhundert und ihre Verbreitung in der Chronographie zeugt. Offensichtlich wurde die Sage im russischen gesellschaftlichen Bewusstsein, darunter auch auf offiziellem Niveau, als Bestätigung der historischen Rechte der Slaven-Russen (und nicht der An- kömmlinge „von jenseits des Meeres") auf die ureigenen Novgoroder Län- der empfunden. Das Motiv des Kampfes um das Erbe der Väter und Vorvä- ter wurde dann auch von Peter dem Grossen im Großen Nordischen Krieg 1700-1721 zur Begründung für die Rückeroberung Ingermanlands und den Zugang Russlands zur Ostsee benutzt. Das Schicksal der Sage von Sloven und Rus vom Anfang des 12. Jahr- hunderts — als sie von einem orientalischen Autor aufgeschrieben wurde — bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts — als sie ins russische Schrifttum einging — verdient eine spezielle Untersuchung. Das Sujet konnte kaum für fünf Jahr- hunderte spurlos verschwunden gewesen sein. Es ist interessant, dass der ös- terreichische Diplomat Sigmund (Sigismund) von Herberstein, der 1517 und 1526 zweimal Moskowien besuchte, in seinen „Notizen" eine ihm zu Ohren gekommene Version erwähnte: das Ethnonym „Russen" sei von dem Na- men der Stadt „Russo" (russ. Staraja Russa) abgeleitet.2° Es liegt nahe, anzu-

19 Dabei lasse ich allerdings die Betrachtung der in der Verbindung mit der Wahl von Michail auf den Zarenthron im Jahre 1613 angeführten genealogischen Argumente von der Verwandtschaft zwischen den Rjurik-Söhnen und den Romanovs außer acht; s. Fedor Griboedov: Istorija o carjach i velikich knjazjach zemli russkoj: po spisku Sankt-Peterburgskoj duchovnoj akademii No. 306 [Geschichte der Zaren und Großfürsten des russischen Landes nach der Handschrift No. 306 der Sankt-Petersburger Geistlichen Aka- demie] / hrsg. v. Sergej Feodorovid Platonov und Vladimir Vladimirovid Majkov, Sankt-Peterburg 1896, S. 26. 20 Sigmund von Herberstein: Das alte Rußland, Zürich 1984, S. 23; vgl. Sigismund Gerbergtejn: Zapiski

314 Nordosteuropa — Raum ethnokultureller Synthese nehmen, dass Herberstein von einem seiner russischen Gesprächspartner die mündlich überlieferte Sage von Sloven und Rus gehört hatte. Und es stellt sich die Frage, ob das Novgoroder Land eben deshalb — nicht nur in Denkmä- lern russischer Herkunft, sondern auch in Aufsätzen polnischer Autoren des 16. Jahrhunderts, die sich für das Problem interessierten — mit dem Herkunfts- ort der Slaven in Verbindung gebracht wurde, wozu der Stammesname „Slo- venen" für die Slaven um Novgorod beitragen konnte. Zu Beginn jenes Jahrhunderts stellte der polnische Geschichtsschreiber und Geograph Bernard Wapowski (1450-1535) die Hypothese von der Her- kunft des slavischen Namens von einem gewissen „Slovenoje-See" unweit Novgorods auf. Es ist kompliziert, die Quelle von Wapowskis Vermutung zu klären. Man kann annehmen, dass sie mit der Novgoroder Toponymie zusammenhängt, in der die Wurzel *slav- verbreitet ist. Wapowski konn- te Kenntnis davon erlangen, da er Sekretär des polnischen Königs und Kra- kauer Kanoniker war sowie zugleich Autor einer Landkarte Osteuropas. Je- denfalls hat ein anderer polnischer Geschichtsschreiber, Marcin Bielski, in seiner „Chronik der ganzen Welt" mit Bezug auf Wapowski „die Slovaken vom Slovenoje-See" erwähnt, unter dem er aller Wahrscheinlichkeit nach den Ilmen-See verstand. Die Analyse russischer und ausländischer Schriften lässt es als möglich erscheinen, dass ihre Autoren von der nordrussischen Sage von Sloven und Rus Kenntnis hatten.21 Die Wellenförmigkeit ethnokultureller Synthese Die für die demographische Struktur des sich formierenden Moskau- russischen Staates charakteristische Polyethnizität zeigte sich in besonde- rem Maße in seinen nordwestlichen Ländern. Dabei waren diese wegen ihrer geopolitischen, d.h. militärstrategischen und handelsökonomischen Bedeutung schon im frühen Mittelalter nicht nur Schauplatz gutnachbar- licher Wechselwirkung, sondern auch kriegerischer Konflikte. Diese Ambivalenz lässt sich in der altrussischen Chronik „Povest' vremennych let" gut verfolgen. Unter 859 wird berichtet: „Die Waräger, kommend von jenseits des Meeres, erhoben Tribut von der Cud' und von den Slovenen, von der Merja und von der Ves' und von den KriviZen". Dagegen heißt es zu 862: „Sie verjagten die Waräger über das Meer, und verweigerten ihnen den Tribut. Und sie begannen, über sich selbst zu herrschen".22 Doch blieb dies nicht lange so, weil die Sage über die Herbei- rufung von Rjurik in dasselbe Jahr 862 datiert ist. Auffällig ist der Satz, dass o moskovickich delach [Notizen über die Moskauer Begebenheiten], übersetzt von Aleksandr JustinoviC" Malein, Sankt-Peterburg, 1908, S. 1 (Neue Ausgabe: Moskva 1988). 21 Myl'nikov: Kartina (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 23, 288f. 22 Nestorchronik (wie Anm. 6), 859, 2, und 862, 2-3.

315 Aleksandr Myl 'nikov

Rjurik nicht nur mit beiden Brüdern gekommen sei, sondern „mit ihren Sip- pen"23 und Kriegsgefolge. An der Erschließung des russischen Nordwestens haben nicht nur ortsansässige finnischsprachige Stämme und die Ilmen-Sla- ven, sondern auch die skandinavischen Wikinger teilgenommen. Die Hypa- tius- und die Radziwill-Chronik verbinden die Errichtung einer hölzernen Burg in Alt-Ladoga mit dem Namen Rjurik. Die normannische Anwesenheit in Alt-Ladoga und einer Reihe anderer Siedlungen der Region wird durch die Befunde der Archäologie, Anthroponymie und anderer Quellen bestätigt. Das war die erste Welle einer auf slavischer und finno-ugrischer Kul- turbasis ablaufenden Synthese, die mit dem Ende der ersten (baltisch-finno- ugrischen) und dem Anfang der zweiten (Novgorod-slavischen) ethnokultu- rellen Schicht vom 9. bis 11. Jahrhundert korrelierte. In den darauf folgenden Jahrhunderten blieb die erwähnte Ambivalenz der Entwicklung erhalten, wenn sich auch die Akzente verschoben. Die Angriffsgefahr, sowohl von der Nordseite (vom schwedischen Reich) als auch von der Westseite (vom Deutschen Orden im Baltikum) her, bestand für die Novgoroder Länder weiter fort. Es genügt, an solch bekannte Ereignisse wie die Siege der Nov- goroder unter Führung des Fürsten Alexander Nevskij im Jahre 1240 über die schwedischen Landungstruppen an der Neva und im Jahre 1242 über die Ordensritter auf dem Cud-See (Peipus-See) zu erinnern. „Von russischer Seite", so betont Anatolij N. Kirpi&iikov, „wurde die baltische Orientie- rung mit der langsamen Vorwärtsbewegung in Richtung Westen bekräftigt, die durch die Errichtung von Alt-Ladoga und später, 1323, von Oregek am Neva-Ursprung, sowie schließlich 1703 durch die Gründung von Sankt Pe- tersburg an der Neva-Mündung gefestigt wurde".24 Zusätzlich zu Novgorod und Pleskau wurden neue Burgen errichtet und die früher existierenden — Alt-Ladoga (1114), Kopor'e (finn. Kaprio) (1279- 1280), Oregek (schwed. Nöteborg) (1323), Jamgorod (1384) (heute Kingi- sepp, dt. Jamburg), Ivangorod (1492) und andere wiederhergestellt. Es ent- stand eine Art Konfrontation der Burgen: auf der schwedischen Seite sind Wiborg (1293) und Korela (schwed. Kexholm) und an der Ochta-Mündung in die Neva Landskrone (1300) zu nennen. Mit dem Ausbau der Verteidi- gung der westlichen russischen Länder einerseits vollzog sich auf dem um- fangreichen Territorium von Groß-Novgorod — vor seiner Integration in das Moskauer Reich als auch danach — ein Kolonisationsprozess durch Bauern und Gutsherren, an der nicht nur die älteren Bewohner der ostseenahen Ge- biete teilnahmen, sondern mit der Zeit auch Auswanderer aus anderen Län- dern der Rus'. Zugleich führte die orthodoxe Kirche die Christianisierung

23 Ebenda, 862, 12. 24 Kirpialkov: Na'alo (wie Anm. 3), S. 8.

316 Nordosteuropa — Raum ethnokultureller Synthese der vorher heidnischen Bevölkerung des Landes durch.25 „Trotz der zahlen- mäßigen Überlegenheit der autochthonen Bauernschaft sicherte die soziale Dominanz des Gutsadels das Vorherrschen der christlich-orthodoxen rus- sischen Kultur."26 Für die ethnokulturelle Synthese dieser Periode war eine spezifische In- tegration der Bevölkerung der Region kennzeichnend. An ihr nahmen ver- schiedene ethnische Elemente teil: nicht nur örtliche russische und fin- nischsprachige, sondern auch Neuankömmlinge aus anderen Ländern des russischen Staates infolge der Deportierungen in der Zeit Ivans III. und Ivans IV. sowie einzelne Gruppen baltischer, germanischer, west-slavischer, türkischer und anderer Sprachzugehörigkeit. Während die Nachkommen der früheren skandinavischen Siedler wegen ihrer relativ geringen Zahl as- similiert worden waren, betraf dieser Prozess die finnischsprachigen Stäm- me viel weniger, so dass sie ihre traditionelle Kultur und Sprache erhalten konnten. Als ein bezeichnendes Merkmal der Nivellierung kann die Zuge- hörigkeit der Mehrheit der einzelnen Bevölkerungsgruppen zur orthodoxen Konfession gelten. Dieser Angleichungsprozess markierte die zweite Welle der Synthese, die sich in der Zeit vom 11. bis zur Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert vollzog. Sie korreliert mit dem Hauptteil der zweiten (Novgo- rod-slavischen) und nach 1478 mit der dritten (Novgorod-Moskauer) ethno- kulturellen Phase. Kann man die ersten zwei Wellen der ethnokulturellen Synthese, wenn man in Bildern spricht, mit einer Flut vergleichen, so ist die schwedische Periode in der ethnischen Geschichte des Nordwestens mit einer Ebbe ver- gleichbar, da sie im Grunde genommen eine antirussische (gegen Moskau ge- richtete) politisch-militärische Ausrichtung hatte. Zu ihrem Vorposten wur- de der Fluss Neva mit seinen anliegenden Territorien, wo sich von alters her russische und finnischsprachige Dörfer, Einzelgehöfte und andere Siedlungen befanden. Die von den Schweden um 1300 erbaute Burg Landskrone war bald von den Novgorodern zerstört worden; später existierte an der Mündung der Ochta in die Neva eine russische Siedlung, die in den Schriftquellen „Nevs- koe Ust'e" genannt wurde. Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert war das Neva-Gebiet mehrfach von Russland an Schweden aufgegeben worden,

25 Aleksandr V. Gadlo: Obknost` „jamy" v opisanii naselenija Sankt-Peterburgskoj gubernii konca XVIII v. [Die Gemeinschaft der „Jamen" in der Beschreibung der Bevölkerung des Sankt-Petersburger Gouvernements am Ende des 18. Jahrhunderts], in: Peterburgskije ctenija 97 (wie Anm. 3), S. 148-159; Aleksandr V. Gadlo, Aleksej G. Novoiilov, Anton Ju. üistjakov, Sergej B. Egorov: Study of the Ethnic Contacts an the territory of South Ingria and in the Zone of the Vepsian-Russian Boundary, in: Studia Fen- nica ethnologica 5 (1999), S. 122-152. 26 Aleksej G. Novoiilov: Severo-Zapadnyje zemli Vodskoj pjatiny na rubee XV-XVI vv [Die nord- westlichen Länder der Vodskaja Pjatina um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert], in: Istorideskaja etnografija. Russkij Sever i Ingermanlandija, Sankt-Peterburg 1997, S. 34-49, hier S. 47.

317 Aleksandr Myl'nikov bevor es den Schweden durch den Vertrag von Stolbovo 1617 zufiel. Aber schon 1611 war an Stelle von Landskrone und Nevskoe Ust'e eine schwe- dische Burg Nyenschantz errichtet worden. „Nun", so sprach Gustav Adolf II. auf dem schwedischen Reichstag, „ist den Russen der Zutritt zur Ostsee weg- genommen und ich hoffe, dass es ihnen nicht so einfach ist, dieses Bächlein zu überschreiten."27 Auf der anderen Seite „des Bächleins" entstand bald da- rauf die Stadt Nyen, die Stadtrechte bekam sie aber erst 1632.28 Schwedische Landkarten des 17. Jahrhunderts zeigen, dass die Ufer der Flüsse in der Region von Siedlungen mit finnischsprachigen und russischen Ortsnamen buchstäblich übersät waren.29 Während der schwedischen Herr- schaft in Ingermanland kam es aber zu wesentlichen Veränderungen der de- mographischen Struktur. Auf Grund des Vertrags von 1617 siedelte ein be- deutender Teil der russischen Handwerker-, Handels- und Stadtbevölkerung nach Russland um. Eben dorthin begann auch die in diesem Vertrag nicht vorgesehene Flucht des Bauernstandes. Die schwedische Regierung war nicht nur um die militärisch-administra- tive, sondern auch um die wirtschaftliche Erschließung neuer Territorien besorgt. Ohne auf dieses Thema ausführlicher einzugehen,30 nenne ich nur einige Schritte: Entwicklungspläne für Verbindungswege und Gründung ei- ner Reihe neuer Städte; Gewährung des Magdeburger Rechtes an die schon seit den Novgoroder Zeiten existierenden Städte (z.B. Ivangorod).31 We- gen der starken Verminderung der Bauernbevölkerung entstand das Projekt, Adelige mit ihren Leibeigenen aus Norddeutschland einzuladen; da es aber nicht gelang, dieses Projekt zu realisieren, kam es in der zweiten Hälfte des

27 Petr E. Sorokin: Landskrona, Nevskoe Ust'e, Nienganc: 700 let poseleniju na Neve [Landskrone, Nevskoje Ustje, Nyenschantz: 700 Jahre Siedlung an der Neva], Sankt-Peterburg 2001, S. 39; s. auch: Igor' P. askolskij: Russkaja morskaja torgovla na Baltike v XVII veke [Russischer Seehandel auf der Ostsee im 17. Jahrhundert], Sankt-Peterburg 1994, S. 134; vedy na beregach Nevy [Die Schweden am Ufer der Neva] / hrsg. v. Susanne Concha Emmrich, Bengt Jangfeldt u.a., Stockholm 1998. 28 Sorokin: Landskrona (wie Anm. 7), S. 52. 29 Die russischen Namen sind allerdings in der ungenauen lateinischen Transkription wiedergegeben; s. Aleksandr Sergeevi Myl'nikov: Razrabotka istorii &nokul'turnych processov v Leningrade i oblasti i nekotorye voprosy isto&iikovedenija [Ausarbeitung zur Geschichte ethnokultureller Prozesse in Lenin- grad und seiner Umgebung und einige Fragen der Quellenforschung], in: Etnograa'eskije issledovanija Severo-Zapada SSSR: tradicija i kul'tura selskogo naselenija; etnografija Peterburga / hrsg. von Natalija Vasil' evna Juchneva, Leningrad 1977, S. 148-155, hier S. 154f.; ders.: 0 mentalitete russkoj kul'tury: monocentrizm ili policentrizm [Über die Mentalität der russischen Kultur: Monozentrismus oder Polyzen- trismus], in: Gumanitarij: Eiegodnik Akademii gumanitarnych nauk 1995, Nr. 1, S. 144-152. 30 Gennadij Kovalenko: Svecija i Rossija v XVII veke: iz istorii politieskich i kul'turnych svjazej [Schweden und Russland im 17. Jahrhundert: aus der Geschichte der politischen und kulturellen Verbin- dungen], Umeä 1995 (Scriptum / Hrsg. Forskingsarkivet, Umeä Universitet; Nr. 40). 31 Arnold Soom: Ivangorod als selbständige Stadt 1617-1649, in: Opetatud Eesti Seltsi Aastaraamat 1935, S. 215-315.

318 Nordosteuropa — Raum ethnokultureller Synthese

17. Jahrhunderts zur Umsiedlung der eigentlich finnischen Bevölkerung aus dem finnischen Binnenland nach Ingermanland. Nicht nur das ethnische, sondern auch das konfessionelle Bild Inger- manlands wurde bunter: orthodoxe russische und finnischsprachige Bevöl- kerung, die aus den Zeiten Novgorods und Moskaus erhalten war, lebte ne- ben den Neusiedlern (den umgesiedelten Finnen, Schweden, Deutschen und anderen ethnischen Elementen), die sich zum Luthertum bekannten. Zur In- tegrierung der neuerworbenen Länder im Rahmen eines einheitlichen Rei- ches hatten Gustav Adolf und seine Nachfolger von den möglichen Vari- anten ethnokultureller Synthese die ihrer Meinung nach zweckmäßigste gewählt: die Politik einer schnellen Lutheranisierung ihrer ursprünglich or- thodoxen Untertanen. Nachdem Gustav Adolf zunächst die religiöse Toleranz feierlich erklärt hatte, begann er faktisch, die Möglichkeiten der örtlichen orthodoxen Kirche (die übrigens der Novgoroder, das heisst einer ausländischen Diözese admi- nistrativ untergeordnet war) allmählich zu beschränken, und förderte Akti- onen, die den kulturellen Wandel beschleunigen sollten. Besonders prägnant war die Publikation der lutherisch-evangelischen Gottesdienstliteratur in Stockholm in der traditionellen kyrillischen Schrift für Orthodoxe.32 Später, im Jahre 1702, äußerte sich ein einflussreicher lutherischer Theologe, Niko- laus Bergius, der auch eine herausragende Persönlichkeit des kulturellen und öffentlichen Lebens in Schweden war, zustimmend zu den ergriffenen Maß- nahmen." Wir wollen keine Vermutungen anstellen, welche Folgen solche Maßnahmen hätten nach sich ziehen können, wenn die schwedische Herr- schaft in Ingermanland länger als zwei oder drei Generationen gedauert hät- te. Aber im 17. Jahrhundert zeitigte sie keine bemerkenswerten Ergebnisse. Im Grunde war das auch nicht zu erwarten, denn die Integrationsmaßnahmen seitens der schwedischen Regierung hatten keine nationale Basis. Hier deutet sich eine wichtige Lehre an, die über den Einzelfall hinaus verallgemeinert werden kann. Die schwedische Periode hat also prinzipielle Bedeutung für die Frage nach der ethnischen Dynamik auf einem Territorium, das nach seiner Rückgewinnung durch Russland 1703 durch eine epochale Kulturer- scheinung geprägt wurde: durch die Gründung von St. Petersburg. Das Phänomen ethnokultureller Synthese in Nordosteuropa (vom Westen aus betrachtet) oder in Nordwestrussland (vom Osten aus betrachtet) ermög- licht es in mehrfacher Hinsicht, die Prozesse des Werdens dreier in ihren kul-

32 Myl'nikov: Kartina (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 216-218. 33 Aleksandr Sergeevi Myl'nikov: Nikolaus Bergius und sein „Freundliches Ansinnen an die Herren Liebhaber des Russischen Sprache, Historien und Bücher" im Jahre 1702 aus Narva: Baltische Integration in schwedischen Vorstellungen, in: Beiträge zur Geschichte des Ostseeraumes / hrsg. v. Horst Wernicke, Hamburg 2002 (Greifswalder historische Studien; Bd. 4), S. 245-251.

319 Aleksandr Myl 'nikov tur-historischen und ethnogenetischen Wurzeln miteinander verbundenen Na- tionen zu betrachten: der russischen, ukrainischen und weißrussischen. Sie bildeten sich weder durch einfache Teilung der alten ostslavischen ethnischen Gemeinschaft, noch entstanden sie voneinander isoliert, wie es manchmal an- genommen wird. Schon in der Novgoroder und Kiever Epoche, der sogenann- ten „vormongolischen Zeit", waren die Ostslaven kaum mehr eine homogene ethnische Gemeinschaft. Sie bildeten eher eine heterogene Gemeinschaft un- ter einer gemeinsamen Staatsgewalt, die aber schon ihre regionalen Spezi- fika ausgebildet hatte. Es ist schwer möglich, neben Alt-Ladoga, Novgorod und Kiev die Existenz weiterer, für die Geschichte der Ostslaven bedeutungs- voller ethnopolitscher Zentren und ihrer Umländer zu bestreiten, wie Haly- Wolyner Rus', das Polocker Land und schließlich die nordöstliche oder Vla- dimir-Suzdaler Rus' und die Moskauer Rus'. Die heterogene ostslavische (meiner Terminologie nach: mediolokale) ethnische Gemeinschaft bildete ein Substrat der aus ihnen entstehenden Nationen — der Russen, Ukrainer und Weißrussen. Zugleich hatten an ih- rer nationalen Formierung die benachbarten und deswegen den Prozess be- gleitenden und in ihm einfließenden anderen nichtslavischen ethnischen Komponenten ihren Anteil.

320 Janis Kreslins Konfessionelles Engagement und Historische Identität: Religion, Kommunikationskultur und „Nordosteuropa als Geschichtsregion"

Ich werde hier versuchen, zur Beschreibung und Definition von Nordost- europa als Geschichtsregion beizutragen, indem ich nach den verschiedenen Bedeutungen und Verständnissen von Identität suche, die aus dem wech- selseitigen Engagement von lutherischer und katholischer Welt in dieser Region hervorgegangen sind, und werde dabei einen abgelegenen Pfad be- gehen. Gegen die Laufrichtung der meisten früheren Forschungsstrategien werde ich den Akzent nicht auf die lutherischen Netzwerke und die ihrer Welt zugeschriebenen Werte und ihre Widerspiegelung in künstlerischen und unternehmerischen Aktivitäten, der politischen Organisation und den militärischen Strukturen der Region setzen, sondern ich werde meine Auf- merksamkeit der dynamischen und nicht nur kontradistinktiven Beziehung zwischen der lutherischen und der katholischen Welt zuwenden. Meine Hauptthese wird sein, dass das wechselseitige Engagement zwi- schen diesen beiden Welten zu der Entstehung eines Sinns gemeinsamer Identität und Kompatibilität in diesem Teil von Europa beigetragen hat. Viele werden ihr sofort eine Reihe von Fragen entgegenhalten: Warum ist das wechselseitige Engagement der lutherischen und katholischen Welt so zentral? Wird man nicht, in dem man diese beiden Traditionen in den Mit- telpunkt stellt, eine ideologische Aussage über die Region und ihr kultu- relles Erbe machen oder sogar eine möglicherweise verzerrte Ansicht über die Region wiederholen, die schon von den herrschenden Schulen der Histo- riographie formuliert worden ist? Wenn Religion so zentral ist, warum wer- den dann die Aktivitäten der Reformierten Kirche, die orthodoxen Traditi- onen, die unierten Katholiken und das Judentum in Nordosteuropa — ganz zu schweigen von der großen Vielfalt autochthoner Religionen der Regi- on — vernachlässigt oder nur summarisch erwähnt? Zweitens mögen ande- re darauf hinweisen, dass das wechselseitige Engagement der lutherischen und katholischen Welten in Wirklichkeit die Region in zwei verschiedene Teile gespalten hat, mit klaren Grenzlinien und sogar noch deutlicheren kul- turellen Kennzeichen. Führte dieses wechselseitige Engagement überhaupt zu etwas anderem als einfach nur gegenseitiger Entfremdung? Die Antworten auf diese Fragen sind keineswegs einfach und auch nicht direkt zu geben. Die Suche nach ihnen verlangt, dass wir eine Reise un- ternehmen, die uns an vielen Stellen wegführt von den ausgetretenen Pfa- den und uns zwingt, unsere Geschwindigkeit zu reduzieren. Unser Ziel

321 Janis Kreslins wird sein, Details zu bemerken, die immer wieder verwischt und dadurch schlecht unterscheidbar geworden sind. Der Ausgangspunkt dieser Reise wird das Landschloss Venngarn am Garnsviken sein, einer der vielen Buchten des Mälarsees nordwestlich von Stockholm. Obwohl Venngarn heutzutage in das Ballungsgebiet einbezogen ist — nicht weit von einem der größten Flughäfen im europäischen Nordos- ten und in Pendelentfernung sowohl von Stockholm als auch Uppsala — ge- legen, liegt es andererseits völlig abseits der ausgetretenen Pfade und aus heutiger Sicht quasi „in der Mitte von Nichts". Von Interesse für uns ist ei- ner seiner Eigentümer. Im Jahr 1653 kaufte Magnus Gabriel De la Gardie diesen bescheidenen Landsitz und verwandelte ihn in seine Residenz wäh- rend der Jahre, in denen er Kanzler der Universität Uppsala war. Venngarn stellt einen ungewöhnlichen Sitz für einen der führenden Staatsmänner und Entscheidungsträger in seiner Zeit in dieser Region dar. Das Landgut war überraschend schlicht für eine Person von De la Gardies Status zur Zeit, als es gekauft und bevor es umgebaut wurde. Es war in keiner Weise so entwi- ckelt wie des Eigentümers andere Besitzungen Läckö, Karlberg (Magnus- berg), Kägelholm und Jakobsdal (Ulriksdal).1 Es ist interessant zu bemerken, dass De la Gardie sich nicht dafür ent- schied, eine völlig neue Residenz zu bauen, was durchaus von einem Mann mit seinen Mitteln und seiner Bedeutung zu erwarten gewesen wäre, son- dern dass er sich zum Kauf eines bereits existierenden Besitzes entschied. Gleich nach dem Kauf begann er ein Renovierungsprogramm und engagier- te dazu Jean De la Vall&, den berühmtesten Architekten in Schweden wäh- rend der Großmachtzeit.2 Eine der wichtigsten Unternehmungen auf Venn- garn, die bereits von Erik Dahlberg vor der vollständigen Umgestaltung im Bild festgehalten wurde, war der Bau einer Kapelle.' Gemäß den Vor- schriften De la Gardies plante Jean De la Vali& schon während der fünfzi- ger Jahre eine Kapelle, die sowohl in ihrem Stil als auch ihrer Bauart eben nicht einen Staat zelebrierte, der sich als der Wächter über lutherische Wer-

1 Die wichtigste Arbeit über Venngarn ist die neulich publizierte Monographie von Lars Ljungström: Magnus Gabriel De la Gardies Venngarn: herresätet som byggnadsverk och spegelbild, Stockholm 2004 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien: Antikvariska serien; Bd. 49). Sie ersetzt die Ar- beit von Ingrid Rosell: Venngarns slottskapell, Stockholm 1988. (Sveriges kyrkor; Bd. 206). Eine kurze Präsentation des Schlosses liegt auf der Webseite der schwedischen Reichsdenkmalpflege (Riksantikvarie- ämbetet) vor: . Eine sehr wertvolle Einleitung zur Ikonographie des ganzen Schlosses bietet Allan Ellenius: Bild och bildspräk pä Magnus Gabriel De la Gardies Venngarn, in: Lychnos 1975, S. 160-192. 2 Zu De la Vall&'s Werdegang zuletzt Claes Ellehag: Jean de la Vall&: kunglig arkitekt, Lund 2003. 3 Die bekanntesten Bilder von Venngarn können in der Kupferstichsammlung gefunden werden, die auf Erik Dahlberg: Suecia antiqua et hodiema, Stockholm 1698-1715 beruhen und über www.kb.se/suecia einsehbar sind: , .

322 Konfessionelles Engagement und Historische Identität

te einer feindlichen Umgebung betrachtete, und auch nicht den Glanz der schwedischen Großmachtzeit zur Schau stellte, sondern eher die Erinnerung an eine vergangene Zeit. Die erste Bauphase war kurz und dauerte nur ein Jahr (1661). 1665 wurde die Arbeit unter der Leitung des Bildhauers An- dreas Bretzel wiederaufgenommen und von Hans Jacob Mok, Christof Wei- tizt und Clas Hebel durchgeführt.4 Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit war in mancher Hinsicht erstaun- lich. Einer der führenden Staatsmänner eines lutherischen Reiches ent- schied sich, eine Kapelle zu bauen, die in ihren Grundzügen eine Rück- kehr zu ästhetischen Visionen von König Johann III., seinem Bauprogramm und seiner Sicht auf religiöse Kultur war. Johann III. hatte versucht, die schwedische lutherische Kirche mit der katholischen Führung in Rom zu versöhnen sowie abgeschaffte Elemente der katholischen Liturgie wieder- zubeleben, und wird häufig wegen seiner Versuche erwähnt, die vorrefor- matorische kirchliche Infrastruktur wiederherzustellen.5 Sowohl theolo- gisch als auch ästhetisch spiegelt die Kapelle von Venngarn nicht eine Zeit konfessioneller Auseinandersetzungen wider, in denen Abgrenzungen von Identitäten eine zentrale Rolle spielten. Man hat das bestimmte Gefühl, dass die Kapelle von Johann III. für seine erste Frau, Katharina Jagiellonka ge- baut worden sein könnte, wenn sie hundert Jahre später gelebt hätte. Diese Kapelle sollte uns ermutigen, neu zu bewerten, wie die katholische und pro- testantische Welt sich wechselseitig in der frühmodernen Zeit engagierten.' Ein genauerer Blick auf die Kapelle gibt einige Einblicke, wie dieses wechselseitige Engagement funktionierte. Die Kapelle hat zwei Ebenen und zwei sich kreuzende Achsen. Das architektonische Charakteristikum der oberen Ebene sind die aus der südlichen Wand hervorspringende Kanzel und die doppelte Galerie für Magnus Gabriel De la Gardie und seine Frau Maria Euphrosyne (aus dem Hause Pfalz-Zweibrücken, das den schwe- dischen Thron von Karl X. bis 1720 einnahm) auf der Nordseite. Da die Ka- pelle sehr klein ist und die Kanzel der Galerie gegenüber steht, entsteht ein starker Eindruck von Intimität und Unmittelbarkeit. Die Worte, die von der Kanzel gesprochen wurden, richteten sich direkt an die in der Galerie Sit- zenden, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein ununterbrochener Au- genkontakt während der Predigt bestand. Hier befinden wir uns im Reich des gepredigten Gottesworts. Für die in der Galerie Sitzenden waren die Dekorationen der Kanzel und der Fensternischen fast sekundär. 4 Ljungströrn (wie Anm. 1), S. 77-81, 106f.. 5 Vgl. Inga Lena Angström: Altartavlor i Sverige under renässans och barock: studier i deras ikonografi och stil 1527-1686, Stockholm 1992 (Stockholm studies in history of art; Bd. 36), S. 39-60. 6 Eine pointierte Beschreibung, wie katholische Elemente in lutherische Umgebungen eingefügt worden, zeigt Inga Lena Angström: Avdammad madonna äter pä tronen — Maria i 1600-talets kyrkorum, in: Maria i Sverige under tusen är: föredrag vid symposiet i Vadstena 1994, Skellefteä 1996, D. 2, S. 647-676.

323 Janis Kreslins

Auf der unteren Ebene jedoch, in der mittleren Sektion der Kapelle, ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die hölzernen Wangen der Kirchenbänke sind mit bezaubernden emblematischen Bemalungen geschmückt, die die beglei- tenden Inschriften in ihren Schatten stellen. Sie erzählen die Geschichte des Herzens und bilden einen wunderbaren Hintergrund für eine Herz-Jesu-Ver- ehrung. In dem Maße, wie das Wort Gottes den oberen Bereich dominiert, so ist man umgekehrt in dem unteren Stockwerk in eine Welt von lebenden, sichtbaren Herzen in allen Größen und Formen versetzt. Diese Umgebung ist sehr jesuitisch. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts war ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte der Herz-Jesu-Verehrung, bei der die Jesu- iten in der ersten Reihe standen. Sie setzten Bilder des Herzens auf die Ti- telseiten ihrer Bücher und die Wände ihrer Kirchen.' Diese starke fast ka- tholische Strömung in der Kapelle ist bei dem Wandbrett verstärkt, das mit über vierzig Engeln geschmückt ist — eine beachtliche Zahl für diese kleine Kapelle. Diese Kapelle reizt wirklich alle Sinne. Sie ist keine Umgebung, in der die auditive Erfahrung des gepredigten Gottesworts dominiert, son- dern eher ein Ort, in dem alle Sinne angesprochen werden. Text und Be- bilderung sind miteinander verflochten, und der ästhetische Eindruck, der durch einen Überfluss von Farbe entsteht, ist überwältigend. Hier ist Sehen wirklich Glauben. Wer kann noch behaupten, dass geistliche Kunst im pro- testantischen Kreisen nach der Reformation in diesem Teil Europas nicht prachtvoll und überschwenglich war? Was können wir von dieser Kapelle aus an Schlüssen über die Begeg- nung zwischen lutherischer und katholischer Welt ziehen? Erstens und vor allem können wir uns versichern, dass diese beiden Welten wirklich mehr miteinander in Interaktion traten, als wir gemeinhin glauben, und dadurch eine Einheit der Region herausbildeten, die die Grundlage für eine Kultur darstellt, in der die Grenzen zwischen den beiden Welten niemals so ge- schlossen waren wie man oft annimmt. Die Familie De la Gardie selbst ist ein sprechendes Beispiel, wie die- se zwei Welten sich ineinander verwoben. Magnus Gabriel De la Gardies Großvater, Pontus, als Katholik erzogen, kam nach Nordosteuropa durch Dänemark, konvertierte zum Luthertum, verließ Dänemark und trat in schwedische Dienste, diente in Estland und Livland, war Schwedens Ex- perte in katholischen Fragen und wurde als Botschafter seines neuen Vater- lands an den heiligen Stuhl abgesandt.' Seit Sohn Jakob Pontusson, in Reval (estn. Tallinn) erzogen, wurde zu- sammen mit dem natürlichen Sohn Karls IX., Carl Carlsson Gyllenhielm,

7 Ein gutes Beispiel findet sich in Hugo Herman: Pia Desideria, Antwerpen 1659. 8 Eine ältere, aber immer noch wertvolle Darstellung zu von Bertil Boethius findet sich in: Svenskt historiskt lexikon, 10, Stockholm 1931, S. 610-657.

324 Konfessionelles Engagement und Historische Identität nach der Eroberung von Wolmar (lett. Valmiera) gefangen genommen und verbrachte vier Jahre in polnischer Gefangenschaft, wobei er schmerzlich den Glaubensverrat seines Vaters zu spüren bekam.9 Trotzdem wurde für seine geistigen Bedürfnisse als Gefangener gesorgt, und in der Gefangen- schaft machte er sich mit Erbauungsliteratur vertraut, die zwar meist als protestantisch angesehen wurde, aber regelmäßig aus jesuitischen Quellen entlehnt war. Dieses Interesse an Erbauungsliteratur wurde später durch sei- ne Ehe mit verstärkt. Nach seiner Entlassung stand er in nieder- ländischen und russischen Diensten und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens völlig erblindet, aber er benutzte Johann Amdts „Vier Bücher vom wahren Christentum" (zuerst Braunschweig 1606-1609) — ein Buch, das sei- nen Leser lehrt, tiefere Einsichten zu gewinnen — als sein Kopfkissen. Sein Sohn, Magnus, der Eigentümer von Venngarn, war in Reval geboren, stu- dierte in Leiden, stand in französischen und polnischen Diensten und heira- tete die zuvor erwähnte Maria Euphrosyne, deren Glaubenspraxis in vieler Hinsicht als fast katholisch angesehen werden kann, aber die auch ihre Er- bauungsschriften veröffentlichte.10 Magnus De la Gardie war infolgedessen ein herausragender Repräsentant dieser Gemeinschaftskultur, die im wech- selseitigen Engagement von lutherischen und katholischen Welten entstand. Ich möchte nun einige Beispiele anführen, wie dieses Engagement kon- kret verlief und wie die Familie De la Gardie an diesem Prozess beteiligt war. Sie ist zum Teil verantwortlich für die Verbreitung von Erbauungsli- teratur in der Region Nordosteuropa. Die De la Gardies waren nicht nur in Reval aktiv — einer Stadt, die eine zentrale Rolle bei der Entdeckung und Verbreitung dieser Literatur spielte. Vielmehr durchzog diese Literatur und die daraus folgende religiöse Neigung das Leben aller Familienangehörigen bis zu ihren letzten Tagen. Maria Euphrosyne berichtet, wie ihr Ehemann Zyprians herrliche Gedanken von der Sterblichkeit las, als er im Garten am Tag vor seinem Tod am 26. April 1686 spazieren ging.11 Die Erbauungsliteratur trug zur Veränderung der geistlichen Landschaft der Region Nordosteuropa auf fünf verschiedene Weisen bei. Erstens diente diese Literatur als Verbindungsglied zwischen den großen religiösen Tra- ditionen in der Region. Erbauungsliteratur war frei von denjenigen Proble-

9 Vgl. ebda. — Gyllenhielm ist für seinen mediativen Bericht seiner Gefangenschaft bekannt (aus dem Deutschen übersetzt anonym erschienen als: Schola captivitatis, Strängnäs 1632). Eine kurze Einführung in Gyllenhielms Leben gibt Fredrik Sidenvall: Det var en svensk som satt füngen: Carl Carlsson Gyllen- hielm: en bekännare i ord och handling, Strängnäs 1992. 10 Am bekanntesten ist Maria Euphrosyne [Verfassername im Anagramm S. 7f.]: Der geistlich-hunge- rigen Seelen himmelisches Manna, Stockholm 1681. 11 Dieser Bericht befindet sich in ihrem Exemplar von: Thascius Caecilius Cyprianus: Des alten Kirchen Lehrers und Märtyrers Cyprians herrliche Gedancken und bewegliche Reden von der Sterbligkeit, Stock- holm 1686, jetzt Teil der Bestände der Königlichen Bibliothek in Stockholm.

325 Janis Kreslins men, die die Verfasser von Positionspapieren oder polemischen Traktaten beschäftigten, weil sie unter dem Zwang standen, sich von den Positionen ihrer Gegner zu distanzieren. Die Autoren und Kompilatoren von Erbau- ungsliteratur konnten die traditionellen Religionsgrenzen überschreiten und Material aus anderen Traditionen entlehnen. Trotz ideologischer Dif- ferenzen stellte Erbauungsliteratur ein gemeinsames Ausdrucksmittel und eine gemeinsame Basis für die verschiedenen Konfessionen dar. Man muss nur Philip Kegelius` „Zwölf geistliche Andachten" betrachten, die zunächst in Leipzig 1596 veröffentlicht wurden und später schwedische Ausgaben im 17. Jahrhundert erlebten, um zu verstehen, welche Wirkung Erbauungslite- ratur bei der Überbrückung dieser konfessionellen Gegensätze haben konn- te. Dieses Buch, das eines der am meisten gelesenen in der lutherischen Welt im 17. Jahrhundert wurde, besteht fast ausschließlich aus Material, das direkt von jesuitischen Quellen entlehnt wurde» Zweitens erfüllte die Erbauungsliteratur eine wichtige Funktion, indem sie die Region Nordosteuropa geographisch zusammenhielt. Sie wurde in den entlegensten Winkeln der Region gelesen — vom Osten des polnischen Königreichs bis zu den nördlichsten Territorien des schwedischen Reichs. Ein oft ignoriertes, aber wichtiges konstitutives Element für diese regionale Identität wurde übrigens von der jüdischen Kultur dargestellt, wie sie durch den polnisch-litauischen Staat als einen der tolerantesten Staaten Europas in religiöser Hinsicht zu jener Zeit ihren Weg nahmen. Mit dem Beginn des späten 16. Jahrhunderts erschien eine umfangreiche Erbauungslitera- tur auf jiddisch, der Umgangssprache der aschkenasischen Juden:3 Gebets- sammlungen, sogenannte Thkines, wurden veröffentlicht und in unzähligen Auflagen wieder und wieder herausgebracht. Diese Gebete waren nicht als Gemeinschaftsgebete gedacht, und die Existenz dieser Literatur zeigt die Komplexität einer Welt, die von privaten Ereignissen bestimmt wurde. Die- se jüdische Erbauungsliteratur auf jiddisch ist also in vieler Hinsicht der ka- tholischen und protestantischen Tradition ähnlich. Da Erbauungsliteratur schon konfessionelle Grenzen ohne weiteres überwinden konnte, war es für sie noch leichter, sich über weite Strecken innerhalb der gleichen konfessio- nellen Region zu verbreiten. Herausgeber und Drucker zogen durch das Ge- biet und passten die Erbauungstexte sprachlich und auf andere Weise den Bedürfnissen der jeweiligen Lokalgesellschaften an.

12 Die erste schwedische Ausgabe erschien u.d.T.: Philippi Kegelii tolf andelige betrachtelser, Stockholm 1617. Vgl. Sigfrid Estborn: Evangeliska svenska bönböcker under reformationstidevarvet, Diss. Lund 1929, S. 265-275. 13 Vgl. N. Tarman: Three Gates Tehinno: Seventeenth Century Yiddish Prayer, in: Judaism 40 (1991), S. 354-367; Chava Weissler: Traditional Yiddish Literature: A Source for the Study of Women's Religious Lives, Cambridge 1988.

326 Konfessionelles Engagement und Historische Identität

Drittens war Erbauungsliteratur ein effektives Mittel, soziale Schich- tungen zu überbrücken. Die ernsthafteste Bedrohung der Region Nordost- europa in ihrer Geschichte als Einheit war nämlich nicht politisch, sondern eher sozial. Die Angehörigen verschiedener sozialer Klassen oder verschie- dener Bildungsebenen lebten in getrennten Welten. Erbauungsliteratur trug dazu bei, diese Grenzen zwischen ihnen zu überbrücken. Ursprünglich war sie das Vorrecht des Adels, denn private Frömmigkeit unter den Mitgliedern anderer sozialer Klassen wurde nicht ermutigt, sondern eher als potenziell gefährlich angesehen. Deshalb war die religiöse Erfahrung dieser Klassen kollektiv — ein Aufruf zum Gehorsam in der Predigt. Aber die Erbauungsli- teratur sickerte in die unteren Schichten durch und wurde von allen Teilen der Gesellschaft gelesen. Die Kapelle in Venngarn gibt ein sehr konkretes Beispiel, wie dies stattfand. Sie hatte verschiedene Eingänge für die Ange- hörigen verschiedener Klassen, die aber im Innern der Kirche alle in einem Raum vereinigt waren. Ein Wendepunkt für diese Entwicklung war die evangelische Erweckungsbewegung, deren Wurzeln bis in die zweite Hälf- te des 17. Jahrhunderts zurückgehen und die ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreichte. Eine der Säulen dieser Bewegung war- die Erbauungsliteratur. Durch Lesen und Schreiben dieser Literatur wur- de privates geistliches Leben zum Allgemeinbesitz. Pietisten organisierten Alphabetisierungskampagnen und ermutigten aktiv Gläubige der niederen Stände, sowohl ihre private religiöse Sphäre zu entwickeln als auch ihre Er- fahrungen niederzuschreiben. Bis zur Mitte des Jahrhunderts hatte die Al- phabetisierungsrate in Nordosteuropa ein hohes Niveau erreicht, und wei- te Teile der Gesellschaft konnten nicht nur lesen, sondern auch schreiben. Da nur die wenigen Privilegierten ihre Werke drucken lassen konnten, wur- de Erbauungsliteratur in handschriftlicher Form verbreitet und erschien nun auch in Sprachen, die bis dahin keine voll entwickelte literarische Tradition hatten. Viertens konnte Aufklärungsliteratur erfolgreich den Riss zwischen den Geschlechtern in der Region Nordosteuropa überbrücken. In ihrer An- fangsphase wurde Erbauungsliteratur fast ausschließlich von Frauen gele- sen und wurde verbreitet sowie gesammelt mit der Hilfe inoffizieller und wenig transparenter Netzwerke. Das galt nicht nur für die katholische und lutherische Erbauungsliteratur, sondern auch für jüdischen Thkines.14 An- fänglich unterschieden sich die geistlichen I3edürfnisse von Männern und Frauen deutlich. Aus diesem Grund fehlt die Erbauungsliteratur häufig in Literaturübersichten. In kleinen Formaten publiziert konnten diese Bücher bei sich getragen werden und wurden von Generation zu Generation weiter- 14 Chava Weissler: Voices of the Matriarchs: Listening to the Prayers of Early Modern Jewish Women, Boston, MA 1998.

327 Janis Kreslins gegeben, bis das Buch — was häufig geschah — durch intensiven Gebrauch irreparabel auseinanderfiel. Dieses Literaturgenre wurde benutzt und mit anderen geteilt, aber nicht gesammelt. Das führte dazu, dass diese Litera- tur in den wissenschaftlichen Bibliotheken fehlte. Frauen waren nicht nur die Verfasserinnen und Benutzerinnen dieser Literatur, sonder förderten sie auch; Frauen hatten in Nordosteuropa oft die besseren Lesefähigkeiten. Im Laufe der Zeit umfassten die Netzwerke der Autoren und Benutzer von Er- bauungsliteratur auch zunehmend Männer. Es gab sozusagen ein Netzwerk für Frauen und diejenigen Männer, die den Frauen ähnlich waren. In Nord- osteuropa hat es immer eine starke Tradition für Frauenrechte gegeben, und vieles davon kann auf die Wichtigkeit der Frauen für Netzwerkbildung zu- rückgeführt werden. Schließlich enthielt die Erbauungsliteratur auch einen Ruf, über bishe- rige Grenzen hinauszugreifen. Geschrieben, als wäre sie auf die persön- lichen Bedürfnisse und Nöte des Lesers zugeschnitten, versicherte sie ihm oder ihr dennoch, dass sie nicht alleine und ohne Mitreisenden durch die- se Welt trieben. Erbauungsliteratur ermutigte Leser, Netzwerke mit anderen Lesern zu bilden und ein Interesse an anderen zu zeigen. Regionale Identität wurde durch diese Netzwerke gestärkt — und zwar nicht nur unter dem Adel, sondern auch in anderen Sektoren der Gesellschaft. Erbauungsliteratur schuf Netzwerke, die sich sogar anderer Sprachen als der der wissenschaftlichen Kommunikation bedienten. Mit der Verbreitung von Erbauungsliteratur in- nerhalb der Region war der Leser in der Lage, im übertragenen Sinne in an- dere Länder zu reisen. Mit Hilfe von Briefen und Meditationen, die an ent- fernte Empfänger geschickt wurden, war es möglich, seine eigenen engen Grenzen zu überschreiten und seinen Horizont zu erweitern. Die Betonung der Notwendigkeit von Kommunikation hat die nordosteuropäische Regi- on radikal umgeformt und dadurch eine regionale Identität geschaffen, die nicht im Gegensatz zu einer lokalen Identität stand. Das Bedürfnis nach Kommunikation wurde verstärkt durch ein Netzwerk der Erziehung. Es wird oft behauptet, das sich die Verschiedenheit luthe- rischer und katholischer Identität am ehesten an ihren jeweiligen Bildungs- systemen festmachen lässt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass das katholische und lutherische Bildungssystem erstaunlich ähnlich waren in der frühen Neuzeit. Mit der Einführung der aristotelischen Metaphysik an lutherischen Universitäten in Norddeutschland am Ende des 16. Jahrhun- derts war der Grenzsaum zwischen den beiden Bildungssystemen schma- ler geworden. Lutherische Universitäten hatten sich so in eine scholastische Richtung bewegt und unterschieden sich nicht mehr so radikal von ihren katholischen Pendants. Zum Ende des 16. und am Anfang des 17. Jahrhun- derts wurden die Vertreter katholischer und lutherischer Identität im Großen

328 Konfessionelles Engagement und Historische Identität und Ganzen in gleicher Weise erzogen und gebildet?' So wie auf der einen Seite Lutheraner ihre Bildungssysteme nach katholischen Vorbildern refor- mierten, folgten die Katholiken den Lutheranern in der Entwicklung effizi- enter Kommunikationsnetzwerke und in der Konstruktion einer nordosteu- ropäischen katholischen Identität. Die Entwicklung dieser Netzwerke und die Konstruktion regionaler Identität gingen Hand in Hand. An der Spitze dieser Entwicklung stand der Jesuitenorden, der schnell ein Netzwerk von Bildungsinstitutionen und Informationsbeschaffungsmitteln in der Region aufbaute. Das Zentrum seiner Aktivität war Wilna (lit. Vilnius) und die dort im Jahre 1579 gegründete Universität. Der Orden gründete weiterhin Kol- legien in der ganzen Region; deren nördlichster Außenposten war Dorpat (estn. Tartu).16 Das Ziel bestand nicht nur darin, die bereits zur Herde der katholischen Kirche Gehörigen zu bilden, sondern auch Lutheraner heran- zuziehen. Das gilt insbesondere für den Westteil Nordosteuropas; zu diesem Zweck wurde am Anfang des 17. Jahrhunderts ein spezielles Gymnasium in Braunsberg (poln. Braniewo) im Königlich-Polnischen Preußen gegründet. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, das Magnus Gabriel De la Gardie ge- nauso gut hätte Kanzler einer jeden anderen Universität in der Region ge- wesen sein können und sich an einer katholischen Universität genauso zu Hause gefühlt wie in der Lutheraner-Bastion Uppsala. Einer der Gründe dafür ist das intellektuelle Milieu, das an vielen Uni- versitäten bis heute durch ihre Bibliotheken bestimmt wird, denn diese Insti- tutionen der höheren Bildung hatten auch die Büchersammlungen. Magnus Gabriel De la Gardie war nicht nur Kanzler seiner Universität und als sol- cher der Wichtigkeit von Universitäten für die Schaffung von Identitäten be- wusst, sondern auch ein Büchersammler, der wusste, wie Bücher zu diesem Prozess beitrugen. Seine Eigenidentität war teilweise durch seine Reisen auf den Kontinent bestimmt, die unter anderem auch der Entwicklung seiner pri- vaten Sammlungen dienten und zur Definition seiner Weltanschauung be- itrugen. In Schweden stellte er ausgebildete Bibliothekare an und bediente sich der Dienste bekannter Büchersammler, unter anderem über zwei Gene- rationen hinweg der Forstenheuser aus Nürnberg. Während seiner Verhand- lungen, die zu dem Westfälischen Frieden führten, war De la Gardie der Gast von Georg Forstenheuser, der auf der Basis der Eroberung Münchens durch die Schweden im Jahre 1632 eine ansehnliche Kollektion von Kriegsbeute angehäuft hatte, und er benutzte die Forstenheuser als seine Agenten?' Als

15 Max Wundt: Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939 (Heidelberger Ab- handlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte; Bd. 29), S. 3. 16 Vello Helk: Die Jesuiten in Dorpat 1583-1625: ein Vorposten der Gegenreformation in Nordosteuropa, Odense 1977 (Odense University studies in history and social sciences; Bd. 44). 17 Sten G. Lindberg: Givama gjorde biblioteket, Stockholm 1976, S. 71-78.

329 Janis Kreslins

De la Gardie das Wohlwollen von Königin Christina genoss, hatte er sog- ar Zugang zu der Kriegsbeute, die von den schwedischen Truppen auf den Kontinent nach Schweden geschickt wurden. Dadurch konnte De la Gardie eine Privatsammlung aufbauen die besonders stark in katholischer Literatur war, wobei die Wege der Bücher sich oft in bekanntere Bibliotheken verfol- gen lässt, die in die Hände der Schweden gefallen waren. Er brachte auch als Förderer die protestantische und die katholische Welt näher zu einander. Der größte Teil seiner Sammlung gelangte schließlich in die Universitätsbiblio- thek Uppsala und ergänzte dort wesentlich die Sammlung, die von den Jesu- itenkollegen in Riga und Braunsberg und ähnlichen Sammlungen in der er- sten Zeit des Dreißigjährigen Krieges nach Schweden verbracht und in der Universitätsbibliothek deponiert wurden. Die gemeinsame Kommunikationskultur in dieser Region wurde ver- stärkt durch das wechselseitige Engagement der katholischen und lutheri- schen Welt. Kommunikation ist aber nur ein anderer Name für Uniformität in dieser Region; diese Uniformität durchdrang alle Lebensformen und Le- bensstile, sogar die Musik. Hof- und Stadtmusikanten sorgten für den hör- baren Hintergrund einer Bühne, auf der sich katholische und lutherische Welt vermischten. Diese Kultur ist erkennbar in der Bildenden Kunst, in der Buchkultur, in der Art, wie man lernte, diese Bücher zu lesen, und schließlich sogar in der Art, wie man starb.

Aus dem Englischen übersetzt von Robert Schweitzer

330 NORDOSTEUROPA ALS OBJEKTRAUM

Jürgen Heyde Die Livlandpolitik der polnisch-litauischen Adelsrepublik

Die Beziehungen zwischen dem polnisch-litauischen Doppelreich und Livland sind eines der am wenigsten erforschten Teilgebiete der baltischen Geschichte. Dies hatte bereits Georg von Rauch in der „Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung" von 1986 als Forschungsdesiderat angesprochen, doch ist es seither nicht zu einer Intensivierung der Beschäf- tigung mit der „polnischen Zeit" im Baltikum gekommen. Gottfried Etzold fasste die Forschungslage 1990 mit folgenden Worten zusammen: „Die 60 Jahre polnischer Herrschaft über Livland von 1561 bis 1621 sind für die polnische Geschichte Episode und für die Livlands ein Durchgangsstadium, dem — so scheint es — heutige Historiker nur noch antiquarisches Interesse ent- gegenbringen. Aufmerksamkeit erregt nur noch der Anfang der Periode, weil mit ihm erklärbar ist, wie aus der Konföderation der fünf Staaten Altlivlands Provin- zen Schwedens, Polens und zeitweise auch Dänemarks wurden, die wir dann im 19. Jahrhundert als die drei Ostseeprovinzen Estland, Livland, Kurland zu be- zeichnen pflegen."' Die jüngeren deutschbaltischen Publikationen zu diesem Thema fassen im wesentlichen den älteren Forschungsstand zusammen.' Die estnische Historio- graphie der nachsowjetischen Zeit greift bei der Beurteilung der polnischen Herrschaftsperiode auf Traditionen der Zwischenkriegshistoriographie zu- rück, die — im Gegensatz zur deutschbaltischen Geschichtsschreibung — zu einer durchweg positiven Beurteilung dieser Epoche kam.' Die Unterschiede

1 Gottfried Etzold: Polens Herrschaft über Livland 1561-1621: ein Problem deutsch-baltischer Geschichts- schreibung. In: Zeszyty naukowe Uniwersytetu Jagiellonskiego Nr. 943; Kraköw 1990, S. 7-20, hier S. 7. 2 Vgl. bes. Heinz von zur Mühlen: Das Ostbaltikum unter Herrschaft und Einfluss der Nachbarmächte (1561-1710), in: Baltische Länder / hrsg. von Gert von Pistohlkors, Berlin 1994 (Deutsche Geschichte im Osten Europas), S. 174-264, bes. S. 180-183: „Livland unter polnischer Herrschaft" und S. 183-188: „Die Gegenreformation in Livland"; ders.: Autonomie und Selbstbehauptung der baltischen Stände von der Reformation bis zum Nordischen Krieg, in: Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der Frühen Neuzeit / hrsg. von Hugo Weczerka, Marburg/Lahn 1995 (Historische und landeskundliche Ostmitteleuro- pastudien; Bd. 16), S. 39-48, bes. S. 43-46. 3 Vgl. den Wiederabdruck eines älteren Beitrags von Jüri Uluots: Pol' sko-stonskie istorieskie svjazy (v XIII-XVIII vv.) [Polnisch-estnische historische Beziehungen (13.-18. Jh.)], in: Politika [Tallinn] 1991, Nr. 11, S. 4-12. Programmatisch für die Revision des überkommenen negativen Bildes der polnischen Zeit war seinerzeit der Aufsatz von Juhan Vasar: „Halb" poola- ja „hea" rootsi-aeg [Die „schlechte" polnische und die „gute" schwedische Zeit], in: Olion 1930, Nr. 8, S. 2-6. Gestützt wird diese Sicht durch die agrargeschicht- liche Forschung, in der Enn Tarvel bereits vor Jahrzehnten auf die Notwendigkeit einer unvoreingenommenen Neubetrachtung jener Epoche hinwies. Vgl. ders.: Poola riigimöisate majandamisest Löuna-Eestis 1580. aa- statel [Über die Wirtschaftsführung der polnischen Krongüter in Südestland in den 1580er Jahren], in: Eesti ühiskonna arengu sotsiaalsed ja öiguslikud aspektid. Social and. Legal Developmental Aspects of Estonian

333 Jürgen Heyde liegen allerdings eher in der Bewertung; die marginale Stellung jener Zeit für die Forschung ist beiden Schulen gemeinsam.4 In Polen findet die Stellung der Adelsrepublik in Nordosteuropa nun verstärkt Interesse, doch dominiert hier der Blick auf die größeren, staatengeschichtlichen Zusammenhänge.' Ähnliches gilt auch für die Studien des schwedischen Historikers Kristian Gerner und seines britischen Kollegen Robert Frost.6 Bei der Betrachtung der polnisch-litauischen Livlandpolitik muss man un- terscheiden zwischen einer intentionalen Komponente — also jenen politischen und diplomatischen Handlungen, deren erklärtes Ziel es war, auf Livland einzu- wirken — und einer funktionalen Komponente — der inneren Reform der Rzecz- pospolita und diplomatisch-militärischen Aktionen weitab vom nordosteuro- päischen Schauplatz, die gleichwohl Auswirkungen auf die Provinz und ihre Stellung innerhalb des polnisch-litauischen Doppelreichs hatten. Die intentionale Komponente der polnisch-litauischen Livlandpolitik ist bereits recht gut erforscht. Symbolisiert durch die Herrscherpersönlichkeiten, vor allem Sigismund II. August und Stefan Batory, ist sie in ihren politischen Abläufen zurzeit weitgehend unstrittig. Anders verhält es sich mit der funk-

Society (Tallinna Tehnikaülikooli toimetised; Bd.735) Tallinn 1993, S. 88-96 (mit Verweisen auf die ältere Literatur). 4 Bezeichnenderweise wurde in einer 1991 erschienenen agrargeschichtlichen Synthese die polnische Herr- schaftsperiode in Livland gleichsam als Epilog zur mittelalterlichen Geschichte behandelt, während die schwe- dische Zeit das Frühneuzeitkapitel eröffnet. (Eesti talurahva ajalugu, Bd. 1: Vanematest aegadest 19. sajandi keskpaigani [Geschichte der bäuerlichen Bevölkerung Estlands, Bd. 1: Von den ältesten Zeiten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts] / hrsg. von Enn Tarvel und Juhan Kahk, Tallinn 1991, insbes. S. 197-217). Auch Mati Laur behandelt in seiner Darstellung der neueren estnischen Geschichte die polnische Periode kursorisch und zumeist in den Kapiteln zur schwedischen Zeit im Baltikum, bemüht sich aber mit Erfolg um eine unvor- eingenommene und informative Darstellung. (Mati Laur: Eesti ajalugu varasel uusajal 1550-1800 [Estnische Geschichte in der Frühen Neuzeit 1500-1800], Tallinn 1999) 5 Hier sind in erster Linie die historiographisch-programmatischen Beiträge von Marian Biskup zu nen- nen: Niektöre potrzeby historiografii do dziejöw Polskich Inflant (Latgalii) i Kurlandii w 16-18 wiekach [Einige historiografische Desiderate in der Geschichtsschreibung über Polnisch-Livland (Lettgallen) und Kurland im 16.- 18. Jahrhundert], in: Latvija — Polija / Lotwa — Polska, Riga 1995, S. 14-21; ders.: Neue Forschungen über die Geschichte der Baltendeutschen: am Rande des Buches "Baltische Länder" [genannt in Anm. 2], in: Acta Polo- niae Historica 82 (2000), S. 131-170 (auch in polnischer Sprache in: Zapiski Historyczne 65 (2000), S. 157-185); sowie die Studien von Henryk Wisner: Wojna polsko-szwedzka w Inflantach 1621-1622 [Der polnisch-schwe- dische Krieg in Livland 1621-1622], in: Zapiski Historyczne 56 (1991), S. 467-491, und ders.: Rzeczpospolita i kwestia inflancka: czasy Zygmunta III i Wladyslawa IV [Polen-Litauen und die livländische Frage: die Zeit Sigismunds III. und Wladyslaws IV.], in: Latvija - Polija (wie oben), S. 7-13. Vgl. zudem Zbigniew Wöjcik: Wielkie Ksiqstwo Litewskie wobec Szwecji, Rosji i powstaii kozackich [Das Großfiirstentum Litauen zwischen Schweden, Russland und den Kosakenaufständen], in: Przeglqd Wschodni 1 (1991), S. 557-593; Jerzy Trzoska: Naval forces and sea-borne trade in Augustus II's policy, in: Acta Poloniae Historica 75 (1997), S. 85-100, und bes. die Arbeiten von Boguslaw Dybas zu Polnisch-Livland im späten 17. und 18. Jahrhundert (siehe auch seinen Beitrag in diesem Band). 6 Kristian Gerner: and Sweden in the seventeenth century: crossing paths, in: Acta Sueco-Polo- niae 8/9 (1999-2000), S. 49-70; Robert Frost: The Northern Wars: War, State and Society in Northeastern Europe, 1558-1721, Harlow/New York 2000, bes. S. 53-81.

334 Die Livlandpolitik der polnisch-litauischen Adelsrepublik

tionalen Komponente. Sie ist nicht leicht an Persönlichkeiten oder Daten festzumachen und verlangt vom Historiker, sich in gewisser Weise vom ei- gentlichen Gegenstand seines Interesses abzuwenden, um aus der Distanz die Proportionen und gegenseitigen Einflüsse besser beurteilen zu können. Dies soll im Folgenden an drei Beispielen unter jeweils charakterisierenden Zwi- schenüberschriften illustriert werden. Livland als litauische „Privatangelegenheit" Im Jahre 1557 formulierte König Sigismund II. August im Vertrag von Pozwol eine Art livlandpolitisches Programm. Er trat dort als Protektor des Erzbistums Riga auf und schloss mit dem Ordensmeister ein Defensivbündnis gegen Mos- kau, das allerdings erst wirksam werden sollte, wenn die laufenden Verträge Litau- ens und des Ordens mit dem Großfürstentum Moskau ausliefen.? Als die Truppen Ivans IV. im Sommer 1558 vor Ablauf des 1554 auf 15 Jahre geschlossenen Beif- riedens Livland angriffen, war somit der Bündnisfall offiziell noch nicht gegeben. Um Polen-Litauen dennoch in die Verteidigung Livlands einzubeziehen, bot sich als eine Möglichkeit die Eingliederung Livlands in das Doppelreich an. Wie diese Eingliederung konkret auszusehen hätte, darüber gingen die Vor- stellungen der einzelnen Parteien auseinander:: Der Ordensmeister und die liv- ländischen Stände versuchten eine Anbindung an die gesamte Rzeczpospolita zu erreichen und beriefen sich dabei auf das Beispiel Preußens, das 1525 dem Königreich Polen als Lehnsherzogtum angegliedert worden war.' Das preußische Beispiel hatten auch König Sigismund und seine litau- ischen Berater vor Augen. Doch anders als die Livländer erwog der König nicht die Angliederung an das Königreich Polen, sondern an das Großfürsten- tum Litauen. Dies geschah nicht so sehr aus einer Art „Symmetrie-Denken" heraus, sondern aus der Einsicht, dass Livland — über den Dünahandel — für Litauen von großer handelsstrategischer Bedeutung war, für Polen jedoch nicht. Die polnischen Stände zeigten dementsprechend auch nur sehr geringes Interesse an den Problemen Livlands. Die politische Diskussion im König- reich Polen beherrschten zu dieser Zeit zwei innere Probleme: die Wieder- herstellung der Krondomäne zur Stärkung der Königsmacht gegenüber dem Hochadel durch die sog. Exekutionsbewegung — und die Umwandlung der Personalunion mit dem Großfürstentum Litauen in eine Realunion im Hin- blick auf das zu erwartende Aussterben der Jagiellonendynastie.

7 Codex Diplomaticus Regni Poloniae et Magni Ducatus Lituaniae, [hrsg. von M. Dogiel], Tomus 5, Vilnae 1759, Nr. 126, S. 210-215; vgl. Anna Sucheni-Grabowska: Zygmunt August 1(1.61 polski i wielki ksiüq litewski 1520-1562 [Sigismund August, König von Polen und Großfürst von Litauen 1520-1562], Warszawa 1996, S. 374. 8 Vgl. Klaus-Dietrich Staemmler: Preußen und Livland in ihrem Verhältnis zur Krone Polen 1561-1586, Marburg/Lahn 1953, S. 2f.

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Da aber den Livländern gerade an der Einbeziehung Polens besonders ge- legen war, wurde bei den Unterwerfungsverhandlungen im Oktober und No- vember 1561 zunächst ein Formelkompromiss gefunden: die Livländer un- terstellten sich dem König, Sigismund August, persönlich, der ihnen mit dem Privilegium Sigismundi Augusti eine weitgehenden Erhaltung ihrer Selbstver- waltungsrechte zusicherte; das Verhältnis zu Polen und Litauen sollte später geklärt werden.' In den folgenden Jahren änderte sich die Haltung der pol- nischen Stände nicht — der Reichstag in Petrikau (poln. Piotrköw) 1562/63 lehnte eine Einverleibung Livlands unmissverständlich ab.1° Die Kriegslage wurde hingegen immer ungünstiger: 1563 eroberten die Truppen Ivans IV. Polock und machten nun auch das Großfürstentum Litauen selbst zum Kriegsschauplatz. So kam es 1566 zum Abschluss einer formellen Union zwischen Litauen und Livland. Der Kalvinist Jan Chodkiewicz, ein en- ger Vertrauter des Königs, übernahm das Amt des Administrators für das über- dünische Livland und leitete fortan die militärischen Operationen dort." Im Jahre 1569 wurde auf dem Reichstag von Lublin die Personalunion zwi- schen Polen und Litauen in eine Realunion umgewandelt, doch das Verhältnis Livlands zu beiden Reichsteilen blieb ohne abschließende Regelung. In den folgenden Jahren beruhigte sich jedoch das Kriegsgeschehen — 1570 wurde ein dreijähriger Waffenstillstand zwischen Russland und Polen-Litauen geschlos- sen, in den Interregna von 1572/73 und 1574-76 trat Ivan IV. dann sogar ent- weder selbst oder im Namen seiner Söhne als Thronkandidat auf.12 Livland zwischen Polen und Litauen Erst als sich 1576 Stefan Batory seinen Anspruch auf den Thron des pol- nisch-litauischen Reiches durchgesetzt hatte, flammte der Krieg in Livland

9 Codex Diplomaticus (wie Anm. 8), Nr. 138, S. 238-243; zu den Verhandlungen vgl. besonders das Tagebuch der Rigaschen Gesandten über die Subjections-Verhandlungen zu Wilno, vom 8. Oktober bis 11. Dezember [1561], in: Briefe und Urkunden zur Geschichte Livlands in den Jahren 1558-1562 / hrsg. von Friedrich Bienemann, Bd. 5: 1561-1562, Riga 1876, S. 203-344; vgl. Burkhard von Klot: Jost Clodt und das Privilegium Sigismundi Augusti, Hannover-Döhren 21980, S. 89-95. 10 Zrzodlopisma [sic!] do dziejöw unii Korony Polskiej i W. X. Litewskiego, Cz. 2, Oddi. 1: Anno Domi- ni 1562. Piotrkowski Sziem [sic!] [Quellenschriften zur Geschichte der Union zwischen der Krone Polen und dem Großfürstentum Litauen, Teil 2, Abt. 1: Anno Domini 1562. Reichstag von Petrikau], [hrsg. von] A. T. Dzialynski, Poznaii 1856, S. 414. 11 Codex Diplomaticus (wie Anm. 8), Nr. 154, S. 269-273 (Instruktion Sigismunds II. an Chodkiewicz), Nr. 155, S. 273-278 (Unionsvertrag); vgl. von Klot (wie Alen. 10), S. 130-132; Staemmler (wie Anm. 9), S. 36; Enn Tarvel: Stosunek prawnopalistwowy Inflant do Rzeczypospolitej oraz ich uströj administracyj- ny w latach 1561-1621 [Das völkerrechtliche Verhältnis Livlands zur Rzeczpospolita und sein Verwal- tungsaufbau in den Jahren 1561-1621], in: Zapiski Historyczne 34 (1969), S. 49-77, hier S. 61f. 12 Vgl. Almut Bues: Die habsburgische Kandidatur für den polnischen Thron während des Ersten Interregnums in Polen 1572/73, Wien 1984 (Dissertation der Universität Wien; 163), S. 29-32; Chri- stoph Augustinowicz: Die Kandidaten und Interessen des Hauses Habsburg in Polen-Litauen während des zweiten Interregnums 1574-1576, Wien 2001 (Dissertationen der Universität Wien; N.F. 71), S. 39f., 86f.

336 Die Livlandpolitik der polnisch-litauischen Adelsrepublik erneut auf. In einer großangelegten Offensive gelang es Ivan IV. im Som- mer 1577, bis weit in den Süden Livlands und bis kurz vor Reval (estn. Tal- linn) vorzudringen. Doch als Hauptgegner stand ihm jetzt nicht mehr allein das Großfürstentum Litauen gegenüber, sondern die vereinigte polnisch-litau- ische Adelsrepublik. König Stefan brachte die polnischen Stände dazu, nun ebenfalls umfangreiche Mittel für den Krieg gegen Moskau bereitzustellen, so dass bis 1579 der Süden und Osten Livlands weitgehend wieder zurück erobert war. Danach verlagerte sich der Kriegsschauplatz an die litauische Front, wo die polnisch-litauischen Truppen bis 1581 die russischen Erobe- rungen zurückgewinnen und selbst in russisches Gebiet vordringen konnten, so dass Ivan IV. 1582 zum Abschluss eines Waffenstillstandes und zur Räu- mung ganz Livlands gezwungen war. Der neuen Provinz im Nordosten hatte König Stefan eine wichtige Funk- tion zugedacht. Sie sollte als eine Art Bollwerk die Ostgrenze der Adelsre- publik gegen eine mögliche Wiederaufnahme der Moskauer Expansionspo- litik abschirmen. Um Moskau den Weg zur Ostsee abzusperren, suchte der König außenpolitisch weiterhin die Verständigung mit Schweden, trotz der zeitweise deutlichen Verstimmung über die schwedischen Eroberungen in Jerwen, Allentacken und der Wiek (est. Järvamaa, Virumaa, Alataguse) im nördlichen Estland. Innenpolitisch sollte die Provinz zu einer Art Königsland ausgebaut werden: Der König erließ eine neue Verwaltungsordnung, die Constitutiones Livoniae, 1583 auf dem livländischen Landtag, ohne vorher die Zustimmung des Reichstags dazu erhalten zu haben. Bei der Berufung des allgemeinen Aufgebots sollte der König hiernach auch formell nicht an die Zustimmung der Stände gebunden sein. ]Die militärische Sicherung des Landes sollte einerseits durch das Schleifen der Adelsschlösser und ande- rerseits durch die Ansiedlung von Soldaten sowie weiteren Kolonisten, vor- nehmlich aus katholischen Ländern, gestärkt werden.13 Lebhaft unterstützt wurden diese Pläne vom wichtigsten Berater des Königs, dem Krongroßhetman und polnischen Kanzler Jan Zamoyski. Doch die politische Öffentlichkeit der Adelsrepublik sah in den weitreichenden Plänen des Königs eine Bedrohung für die Verfassungsbalance zwischen König und Adel. Schon kurz nach dem Ende des Krieges wusste Zamoyski Stefan Batory von Gerüchten zu berichten, der König wolle sämtliche Ämter in Livland mit Ausländern, vor

13 Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen Stefan Batory und Jan Zamoyski zum Jahreswechsel 1581/82: Archiwum Jana Zamoyskiego kanclerza i hetmana wielkiego Koronnego [Archiv des Kanzlers und Kron- großhetmans Jan Zamoyski], Bd. 2, hrsg. von J. Siemienski, Warszawa 1904, Nr. 564 (S. 200-202), Nr. 603-604 (S. 236-242). Zur Haltung der Livländer: Franz Nyenstädt's Livländische Chronik, nebst dessen Handbuch [...] / hrsg. von G. Tielemann. Riga, Leipzig 1839. [T. 2.] [Ndr. Osnabrück 1968]. (Monumenta Livoniae antiquae; Bd. 2), S. 84-87; zum Kolonisierungsplan: Nigolas Loone: Der Plan der Kolonisierung Livlands (1582-1584), in: Liber Saecularis Litterarum Societatis Esthonicae 1838-1938, Tartu 1938 (Öpe- tatud Eesti Seltsi Toimetused; Bd.30), S. 393-414.

337 Jürgen Heyde allem aus seinem Herkunftsland Ungarn, besetzen.14 Geschürt wurde der Unmut durch konkurrierende Ansprüche des polnischen und des litauischen Adels, die neue Provinz dem jeweils eigenen Einflussbereich zu unterstellen.' Bereits kurz nach dem Ende des Krieges wurde von allen Seiten heftige Kri- tik am Vorgehen des Königs laut: die Livländer waren durch die ersten Äu- ßerungen des Königs brüskiert und gedemütigt worden, in denen er jegliche pauschale Güterbestätigungen mit dem Hinweis abgelehnt hatte, er habe das Land schließlich mit dem Schwert erobern müssen.16 Die Litauer hatten nach einem kräftezehrenden Krieg mit ansehen müssen, wie der König sämtliche Eroberungen jenseits der litauisch-russischen Vorkriegsgrenze wieder aufg- ab, um die Russen zum vollständigen Abzug aus Livland zu bewegen, und fühlten sich zudem bei der Vergabe von Ämtern und Würden nicht nur in Livland, sondern auch im Großfürstentum selbst gegenüber den Polen be- nachteiligt.'' Die Polen waren schließlich zu großen Opfern für einen Krieg gezwungen worden, in den sie eigentlich auf keinen Fall mit hineingezogen werden wollten; ihnen ging wiederum die Zurückdrängung des litauischen Einflusses in Livland nicht weit genug.18 Auf dem Reichstag 1585 wurde dieser Konflikt noch überdeckt von den Vorwürfen, der König habe durch sein eigenmächtiges Vorgehen in Livland die Grenzen der Rechtmäßigkeit überschritten. Der König konnte die Oppo- sition zwar niederhalten, doch die grundlegenden Konflikte blieben ungelöst. Nach dem Tod Stefan Batorys nutzten die Parteien die Gelegenheit, um den künftigen König möglichst bereits im Vorfeld der Wahl auf ihre jeweiligen Positionen einzustimmen. Sigismund III. Wasa sah sich bei den Krönungsverhandlungen 1587 zu- nächst einem litauischen Ultimatum gegenüber, Livland wieder allein dem Großfürstentum zu unterstellen, ansonsten würde man die Union für beendet erklären.19 Einige Wochen später präsentierte die litauische Delegation den Plan, Livland zwischen Polen und Litauen zu teilen und jedem Reichsteil in seinem Gebiet unumschränkte Hoheit einzuräumen.20 Der zukünftige König 14 Archiwum Jana Zamoyskiego (wie Anm. 14), Bd. 2, Nr. 603 (S. 237). 15 Edward Kuntze: Organizacja Inflant w czasach polskich [Die Organisation Livlands in polnischer Zeit], in: Polska a Inflanty: praca zbiorowa / hrsg. von Jözef Borowik, Gdynia 1939 (Pamienik Instytutu Baltyckiego; 34; Seria Baltikum; 14), S. 17, 25f.; vgl. Dyaryusze Sejmowe r. 1585 [Protokolle des Kronreichstags 1585] / hrsg. von Aleksander Czuczyfiski, Kraköw 1901 (Scriptores Rerum Polonicarum; 18), S. 356, 362, 398, 411. 16 Nyenstaedt (wie Anm. 14), S. 84f. 17 Archiwum Domu Radziwill6w. Listy ks. M. K. Radziwilla Sierotki — Jana Zamoyskiego — Lwa Sapie- hy [Archiv des Hauses Radziwill. Briefe des Priesters M. K. Radziwill Sierotka — Jan Zamoyskis und Lew Sapiehas], Krak6w 1885 (Scriptores Rerum Polonicarum; 8), S. 174. 18 Archiwum Jana Zamoyskiego (wie Anm. 14), Bd. 3, Warszawa 1913, Akta 14, S. 472. 19 Dyaryusze Sejmowe r. 1587. Sejm konwokacyjny i elekcyjny [Protokolle des Kronreichstags 1587. Konvokations- und Wahlreichstag] / hrsg. von August Sokolowski, Kraköw 1887 (Scriptores Rerum Polo- nicarum; Bd. 11), S. 64. 20 Ebda, S. 70f.

338 Die Livlandpolitik der polnisch-litauischen Adelsrepublik widersetzte sich auch diesem Ansinnen, denn eine solche Teilung hätte län- gerfristig die Union von 1569 zerstört.21 Diese Auseinandersetzungen machten deutlich, wie weit die beiden Reichsteile noch von einer „inneren Einheit" entfernt waren. Um größeren Schaden von der Adelsrepublik abzuwenden, musste ein tragfähiger Kompro- miss gefunden werden. Dies geschah auf dem folgenden Reichstag, im Jahre 1589, allerdings auf Kosten Livlands. In der Ordinatio Livonica I erlangten die Litauer die volle Gleichstellung mit den Polen bei der Ämterbesetzung in der Provinz sowie in protokollarischen und fiskalischen Angelegenheiten. Der livländische Adel fand in diesem Dokument nur am Rande Erwähnung und musste eine deutliche Einschränkung seiner Rechte hinnehmen.22 Livland erschien 1589 als eine periphere Provinz, deren Besitz zwar mit großen Opfern errungen worden war, nun aber völlig ungefährdet schien. Im Osten stellte Moskau keine militärische Bedrohung mehr dar, und im Nor- den grenzte die Provinz an Schweden, wo der Vater Sigismunds III. regier- te. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis Sigismund auch den schwedischen Thron besteigen und Livland von einer randständigen Provinz zu einem Bin- deglied zwischen den polnisch-litauischen und dem schwedisch-finnischen Reich werden würde. Der polnisch-schwedische Thronstreit und der Verlust Livlands durch Polen-Litauen Nach dem Tod König Johanns von Schweden 1592 trat Sigismund III. tat- sächlich die Nachfolge seines Vaters in Stockholm an. Doch schon bald kam es zum offenen Konflikt zwischen dem König und seinem Onkel, Herzog Karl von Södermanland.23 Damit wuchs die politische Bedeutung des livländischen Adels. Je stärker Herzog Karl die dynastische Auseinandersetzung mit seinem Neffen mit konfessionellen Argumenten zuspitzte, desto mehr musste sich Kö- nig Sigismund III. den Argumenten seiner protestantischen Untertanen in Liv- land gegenüber öffnen.

21 Ebda, S. 176. 22 Volumina Legum: Przedruk zbioru praw staraniem XX Pijaröw w Warszawie od roku 1732 do roku 1782 wydanego [Nachdruck der Rechtssammlung, welche auf Initiative der Piaristen in Warschau zwi- schen 1732 und 1782 herausgegeben wurde], hrsg. von J. Ohrzycki, Bd. 2, Petersburg 1859, S. 278-280; vgl. Jürgen Heyde: Bauer, Gutshof und Königsmacht: die estnischen Bauern in Livland unter polnischer und schwedischer Herrschaft 1561-1650, Köln/Weimar/Wien 2000 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; Bd. 16), S. 44f. 23 Zur Entwicklung des Thronstreits und seinen Auswirkungen auf die baltischen Provinzen vgl. Äke Hermansson: Karl IX och ständerna: tronfrägan och författningsutvecklingen i Sverige 1598-1611, Stock- holm 1962, bes. S. 32-62; Berndt Federley: Kunglig Majestät, Svenska kronan och fürstendomet Estland 1592-1600, Helsingfors 1946 (Societas Scientiarum Fennica. Commentationes Humanarum Litterarum; Bd. 14), bes. S. 78-106.

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Die Livländer nutzten die Gelegenheit, ihre politische Stellung innerhalb der Adelsrepublik auf eine neue Grundlage zu heben: Sie wendeten sich auf dem Reichstag 1597 an den König und baten, die Constitutiones Livoniae von 1582 aufzuheben, da sie schließlich aus eigenem Willen zu Bundesgenossen des (pol- nischen) Königreichs geworden seien, nicht durch Zwang und Waffengewalt?' Sigismund III. ging auf diese Argumentation ein und erließ im folgenden Jahr die Ordinatio Livonica H In ihr traten die Livländer in der Provinz als gleichberechtigte dritte „Nation" neben die Polen und Litauer. Der Vergabe- schlüssel für sämtliche Ämter und Würden in der Provinz wurde um die Liv- länder erweitert, sämtliche diskriminierenden Vorschriften aufgehoben.25 Der Konflikt zwischen Sigismund III. Wasa und Karl von Södermanland hatte den Livländern eine deutliche Verbesserung ihres rechtlichen Status inner- halb der Adelsrepublik beschert. Sie waren nun nicht länger Untertanen zweiter Klasse, sondern im Grundsatz gleichberechtigt mit den Adeligen aus Kronpolen und Litauen — doch von der Machtfülle und Selbständigkeit, wie sie ihnen einst durch das Privilegium Sigismundi Augusti 1561 garantiert worden war, immer noch weit entfernt. Livland war nun, ähnlich wie das königliche Preußen, als Provinz in die Adelsrepublik integriert, aber nicht, wie Kurland oder das Her- zogtum Preußen nur durch den König als gemeinsamen Oberlehensherrn mit dem polnisch-litauischen Doppelreich verbunden. Die rechtliche Gleichstellung der Livländer mit den Polen und Litauern in der Provinz blieb nicht nur auf dem Papier stehen. In den Jahren nach 1598 wurden zahlreiche Livländer mit Staro- steien und anderen hohen Ämtern belehnt, ein echter Ausgleich zwischen den „drei Nationen" der Provinz wurde angestrebt.26 Noch im selben Jahr weitete sich der dynastische Streit im Hause Wasa zum militärischen Konflikt aus. In der Schlacht von Stängebro erlitt Sigismund eine Niederlage gegen Karl von Södermanland und musste sich aus Schweden zurückziehen. Zwei Jahre später griff die Auseinandersetzung auf Livland über. Herzog Karl konnte zunächst in einem schnellen Vorstoß weite Teile Livlands in seine Hand bringen, vermochte sich aber gegen die überlegenen Kräfte der Adels- republik nicht dauerhaft zu behaupten. Nach der schwedischen Niederlage in der Schlacht von Kirchholm 1605 war der territoriale status quo ante wiederhergestellt. Im Jahre 1607 erließ Sigismund III. eine erneut veränderte Landesordnung für Livland.27 Die Privilegien des livländischen Adels wurden nochmals erwei- tert: die Livländer hatten nun gleichberechtigten Zugang zu Ämtern und Wür-

24 Dyaryusze Sejmowe r. 1597 [Protokolle des Kronreichstags 1597], hrsg. von Eugeniusz Barwhiski, Kraköw 1907 (Scriptores Rerum Polonicarum; Bd. 20), S. 102. 25 Volumina Legum, Bd. 2 (wie Anm. 23), S. 377f. 26 Vgl. Jürgen Heyde: Zwischen Kooperation und Konfrontation: die Adelspolitik Polen-Litauens und Schwedens in der Provinz Livland 1561-1650, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 47 (1998), S. 544-567, hier S. 558f. 27 Volumina Legum, Bd. 2 (wie Anm. 23), S. 441; vgl. Tarvel: Stosunek (wie Anm. 12), S. 76f.

340 Die Livlandpolitik der polnisch-litauischen Adelsrepublik den in der gesamten Rzeczpospolita. Die Stellung Livlands unterschied sich nun nicht mehr von der anderer Provinzen in der Adelsrepublik, der Livländische Adel hatte die volle Gleichstellung mit der Szlachta erreicht. Sigismund III. hat- te zwar die Auseinandersetzung um den Thron in Stockholm verloren, doch die territoriale Integrität der Adelsrepublik gewahrt,. Am Schluss der Epoche standen erneut Entwicklungen außerhalb Livlands, die aber für das weitere Schicksal der Provinz entscheidend werden sollten. Die Rede ist von den wachsenden innen- und außenpolitischen Problemen der Rzeczpospolita in ihren südöstlichen Grenzgebieten seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert. Seit 1589 wurden die ukrainischen Wojewodschaften vermehrt von Tatareneinfällen heimge- sucht, und zugleich wurden die Kosaken, welche dort die Hauptlast der Grenzver- teidigung trugen, mehr und mehr zu einer Belastung für die Adelsrepublik. Dieses Problem war spätestens seit dem ersten Kosakenaufstand von 1596/97 ständig bei den Beratungen der polnisch-litauischen Reichstage präsent.28 Als im Jahre 1621 das Osmanische Reich als Reaktion auf Kosakenübergriffe hin die Adelsrepublik angriff; und kurz darauf Gustav II. Adolf von Schweden den Krieg um Livland wieder aufnahm, verweigerten die Stände König Sigis- mund III. die Mittel für eine effektive Kriegführung im Nordosten. Für die Adelsrepublik als Ganzes war der Krieg gegen das Osmanische Reich von erheblich größerer Bedeutung als der dynastische Streit im Hause Wasa, selbst wenn der Besitz der Provinz Livland davon abhängen sollte.29 Der König war nicht in der Lage, den Ständen seine Prioritäten aufzuzwin- gen, oder, wie der litauische Kanzler Lew Sapieha im Jahre 1622 die Lage Si- gismunds III. beschrieb: „Frieden will er nicht, doch zum Krieg Führen feh- len ihm die Mittel".3° Angesichts der militärischen Erfolge Gustav Adolfs blieb dem König nur der Abschluss eines Waffenstillstandes, in dem er 1629 auf den größten Teil der Provinz Livland verzichtete, wenn er auch zunächst noch den schon lang inhaltslos gewordenen Titel eines „Königs von Schweden" beibe- hielt.

Zusammenfassung: die drei Phasen der Livlandpolitik Polen-Litauens Das Königreich Polen durchlief zwischen 1550 und 1569 eine Phase inten- siver Reformbemühungen, die zum einen das Königtum gegenüber dem Hoch- adel stärken und zum anderen die Personalunion zwischen Polen und Litauen in eine Realunion umwandeln sollten. Im Gegensatz zum polnischen König waren

28 Volumina legum, Bd. 2 (wie Anm. 23), S. 364 (1596), 401 (1601), 465 (1609), etc.; vgl. Natalja Jako- wenko: Historia Ukrainy od czas6w najdawniejszych do konea XVIII wieku [Geschichte der Ukraine von den ältesten Zeiten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts], Lublin 2000, bes. S. 192-197. 29 Vgl. Wisner (wie Anm. 5), S. 468, 480. 30 Ebda, S. 485; vgl. Herta von Ramm-Helsing: Das Livlandproblem in der politischen Korrespondenz Polens im 16. und 17. Jahrhundert, in: Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde zu Riga: Vorträge zur Hundertjahrfeier am 6.-9. Dezember 1934, Riga 1936, S. 101-128, hier S. 124.

341 Jürgen Heyde die Stände des Königreichs in jener Zeit nicht zu einem nennenswerten Engage- ment in Livland bereit, so dass die Livlandpolitik vorwiegend vom Großfürsten- tum Litauen getragen wurde. Mit der Wahl Stefan Batorys zum polnisch-litauischen König 1576 und dem erneuten Aufflammen der Kriegshandlungen in Livland nach einer mehr- jährigen Waffenruhe wandelte sich diese Konstellation grundlegend. Der neue König herrschte über eine seit der Lubliner Union 1569 unauflöslich vereinigte Rzeczpospolita und konnte somit auch die polnischen Stände für die Teilnahme am Krieg gegen Moskau gewinnen. Nach Abschluss des Krieges forderten diese dann allerdings auch einen Anteil am Gewinn: Livland wurde in dieser zweiten Phase zum Objekt einer Auseinandersetzung zwischen Polen und Litauen um Stellung und Einfluss der beiden Nationen innerhalb der Adelsrepublik. Dieser Konflikt, der zu einer Zerreißprobe für die junge Union zu werden drohte, wurde 1589 von König Sigismund III. mit der Ordinatio Livonica I beigelegt — auf Ko- sten der Livländer?' Ihnen gelang es erst acht Jahre später, ihren Belangen beim König Gehör zu verschaffen. Mit dem Warschauer Reichstag von 1597 lässt sich der Beginn ei- ner dritten Phase der Livlandpolitik ausmachen. Die Livländer wurden nun zu- nächst auf der Ebene der Provinz gleichberechtigt mit Polen und Litauern und 1607 auch im gesamtstaatlichen Rahmen in die Szlachta der Adelsrepublik in- tegriert. Dennoch war damit nicht die dauerhafte Verbindung der Provinz mit dem Doppelreich gesichert. Die Kriegszüge des schwedischen Königs Gustav II. Adolf gegen Livland in den Jahre 1617/18 und 1621-1625 fielen in eine Zeit, in der die Adelsrepublik im Südosten, an der Grenze zum Osmanischen Reich einer Bedrohung ausgesetzt war, die für beide Reichsteile deutlich größere Re- levanz besaß als der Konflikt im Nordosten, der den polnischen und litauischen Ständen vor allem als ein dynastischer Konflikt im Hause Wasa erschien. Der Verlust großer Teile der Provinz im Waffenstillstand von Altmark war somit nicht zuletzt auf die voneinander abweichenden Interessen der polnischen und litauischen Stände zurückzuführen, die es dem König unmöglich machten, seine livlandpolitischen Ziele zu verwirklichen.

31 Dieser Aspekt „funktionaler Livlandpolitik" wurde bereits vor längerer Zeit von Walter Kirchner ange- sprochen, als er in einem Rezensionsartikel anregte, in zukünftigen Studien „Livland, [als] ein Nebenka- pitel" in der Politik der Großmächte eingehender zu untersuchen. Walter Kirchner: „Neues" zum Thema Livland und Moskau im 16. Jahrhundert? in: Hansische Geschichtsblätter 95 (1977), S. 80-84, hier S. 81f.

342 Boguslaw Dyba. Polen-Litauen und Livland im 17. und 18. Jahrhundert — drei Formen ihrer Verbindung Wenn Jürgen Heyde in seinem Beitrag in diesem Band die Probleme der polnisch-litauischen Politik gegenüber Livland in der zweiten Hälfte des 16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts dargestellt hat, dann war das die Pha- se, in der die Verbindungen zwischen der Rzeczpospolita und den altlivlän- dischen Gebieten am engsten und am intensivsten waren. Dagegen könnte man fragen, ob sich nach dem Frieden von Oliva (1660) und nach dem Ver- lust des größten Teils von Livland nördlich der Düna überhaupt noch von einer Politik der Rzeczpospolita gegenüber Livland sprechen lässt. Auf die Frage nach der polnischen (bzw. polnisch-litauischen) Livland- politik bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ist zunächst zu antworten, dass eine solche Politik ganz einfach vorhanden sein musste. Wenn wir über „Livland" im breiten mittelalterlichen Sinne sprechen und nicht über den frühneuzeitlichen Begriff „Livland", der nach Reinhard Wittram um die Mitte des 17. Jahrhunderts auf das lettische Vidzeme und Süd-Estland be- schränkt wurde,' dann müssen wir feststellen, dass bis zu den Teilungen Po- lens am Ende des 18. Jahrhunderts der ganze südliche Teil Livlands zu der Rzeczpospolita gehörte. Er umfasste etwa ein Drittel des Territoriums des mittelalterlichen Livland und bestand aus drei gesonderten Gebieten.2 Die im südöstlichen Teil des heutigen Lettland gelegene Landschaft Lettgallen bildete im 17. und 18. Jahrhundert die sog. „Wojewodschaft Liv- land", auch als „Polnisch-Livland" bezeichnet. Unter allen livländischen Gebieten ist die Geschichte jener Wojewodschaft eigentlich am wenigsten bekannt. Die livländische Wojewodschaft entstand infolge der Aufteilung des „überdünischen" Livland nach den Eroberungen von Gustav Adolf in den 1620er Jahren, die schließlich durch den Friedensvertrag von Oli- va 1660 bestätigt wurde. Der rechtliche Status dieses Gebietes wurde durch das 1677 vom polnisch-litauischen Reichstag (Sejm) verabschiedete Statut geregelt.' Ordnungspolitisch gesehen erhielt das Gebiet den Charakter einer 1 Reinhard Wittram: Baltische Geschichte: die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180-1918, Mün- chen 1954, S. 7; vgl. auch die Bemerkungen von Heinz von zur Mühlen: Das Ostbaltikum unter Herrschaft und Einfluß der Nachbarmächte (1561-1710/1795), in: Baltische Länder / hrsg. von Gert von Pistohlkors, Berlin 1994 (Deutsche Geschichte im Osten Europas), S. 174. 2 Über die Beziehungen Polens-Litauens zu allen livländischen Gebieten, sowohl vor wie auch nach 1660, s. Boguslaw DybaS: Inflanty a polsko-litewska Rzeczpospolita po pokoju oliwskim (1660) [Livland und die polnisch-ltauische Rzeczpospolita nach dem Frieden von Oliva (1660)], in: Miqdzy Zachodem a Wschodem. Studia z dziejöw Rzeczypospolitej w epoce nowoiytnej / hrsg. von Jacek Staszewski, Krzy- sztof Mikulski, Jaroslaw Dumanowski, Toruri 2002, S. 108-127. 3 Edward Kuntze: Organizacja Inflant w czasach polskich [Die Organisation Livlands in polnischer Zeit], in: Polska a Inflanty / hrsg. von Jözef Borowik, Gdynia 1939 (PamiQtnik Instytutu Baltyckiego,

343 Boguslaw Dybas' ordentlichen Wojewodschaft im Rahmen des polnisch-litauischen Staates mit einer Ämter- und Gerichtsstruktur nach dem Muster der litauischen Wojewodschaften. Gewisse livländische Besonderheiten blieben jedoch er- halten. Trotz einer deutlichen Nachahmung des litauischen Musters in den Verfassungsstrukturen blieb die livländische Wojewodschaft ein Kondomi- nium beider Teile der Rzeczpospolita. Dies zeichnete sich u.a. dadurch aus, dass die Steuern aus Livland abwechselnd in die Kasse der Krone und Li- tauens fließen sollten. Es galt auch das sog. Abwechslungsprinzip („alter- nata"), d.h. die livländischen Ämter sollten der Reihe nach durch Vertreter der Krone Polen, Litauens und Livlands besetzt werden. Die Livländische Wojewodschaft war auch durch sechs Abgeordnete im polnisch-litauischen Reichstag (Sejm) vertreten. Darunter waren stets je zwei Vertreter von jeder der drei „Nationen". Die Beschlüsse des Sejms von 1677 krönten, wenn auch nur im Bezug auf ein begrenztes Territorium, den um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert begonnenen Integrationsprozess der altlivländischen Gebiete in den polnisch- litauischen Staat. Die Regelung des Status des bei der Rzeczpospolita geblie- benen Teils von Livland unterstrich zugleich die kontinuierliche polnisch- litauische Anwesenheit auf diesen Gebieten und betonte ausdrücklich die Ansprüche der Rzeczpospolita auf das ganze zuvor in ihrem Besitz gewesene Livland. Dies wurde auch durch die Wahl einer entsprechenden Terminologie in die Tat umgesetzt: durch die Bezeichnung des Gebietes als „livländische Wojewodschaft" („wojewödztwo inflanckie") oder bisweilen auch als „liv- ländisches Fürstentum" („ksistwo inflanckie"), was an das ehemalige „über- dünische Fürstentum" anknüpfte, sowie durch Bezeichnung der Ämter allge- mein als „livländisch", denn zuvor waren die Ämter nach Orten, wie etwa Wenden (lett. Csis), Peruau (estn. Pämu) bzw. Dorpat (estn. Tartu), bezeich- net worden. Das resultierte aus den Bestimmungen des Friedensvertrages von Oliva (1660), der beiden Seiten, Schweden und der Rzeczpospolita, das Recht gab, das Wappen von Livland zu tragen und den Titel des „Herzogs von Liv- land" in ihren monarchischen Titulaturen zu führen. Das polnische Livland wurde allmählich gleichsam zu einer pars pro toto, zu einem Andenken an den ehemaligen Besitzstand der Rzeczpospolita in dieser Region und damit zum Ausgangspunkt für eventuelle Rückforderung der übrigen livländischen Gebiete bei günstigen Umständen.

Bd. 34, Reihe: Balticum, H. 14), S. 1-53, hier S. 42f.; „Ordynacya Xistwa Inflantskiego" [Verfassung des Livländischen Fürstentums], in: Volumina Legum: Przedruk zbioru praw staraniem XX Pijaröw w Warszawie od roku 1732 do roku 1782 wydanego [Nachdruck der Rechtssammlung, welche auf Initiative der Piaristen in Warschau zwischen 1732 und 1782 herausgegeben wurde], hrsg. von J. Ohrzycki, Bd. 5, Petersburg 1860, S. 237.

344 Polen-Litauen und Livland im 17. und 18. Jahrhundert

Ein wichtiger Faktor bei der Vereinigung der livländischen Wojewod- schaft mit der Rzeczpospolita war die durchgreifende Rekatholisierung des Landes. Die in dieser Richtung unternommenen Schritte waren ein wesent- liches Element der staatlichen Politik in diesem Territorium; Beschlüsse über den Ausbau des Kirchennetzes hat der Sejm von 1678/79 und 1683 verabschiedet. Eine erneute Intensivierung dieser Bemühungen fand im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts nach den Verwüstungen des Großen Nordischen Krieges statt. Das neu errichtete livländische Bistum erstreckte seine Gerichtsbarkeit nicht nur auf das Gebiet der Wojewodschaft, sondern es bemühte sich auch um eine Verstärkung seiner Einflüsse in Kurland.4 Eine bedeutende Rolle spielten hier die Orden, besonders die Jesuiten und die Dominikaner.' Der größte Erfolg auf diesem Gebiet war der Übertritt der Mehrheit des Adels aus der livländischen Wojewodschaft zum Katholi- zismus. In den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts gab die mächtigste Familie der Wojewodschaft, die Platers, den protestantischen Glauben auf. Die liv- ländische Wojewodschaft verblieb bis zur ersten Teilung Polens (1772) im Rahmen der Rzeczpospolita. Das südlich und westlich der Düna gelegene Herzogtum Kurland und Semgallen war 1561-1795 Lehen der polnischen Könige und der Rzecz- pospolita. Bis Anfang des 18. Jahrhunderts wurde Kurland von den Herzö- gen aus der Familie Kettler regiert, die eng mit den Hohenzollern verwandt und politisch verbunden waren. Doch gelang es den kurländischen Herzö- gen nicht, dass Kurland den Weg des von den Hohenzollern regierten Her- zogtums Preußen ging, d.h. den Weg zur Lockerung der Abhängigkeit von dem polnisch-litauischen Staat. Nach dem Tod des Herzogs Friedrich Kasi- mir (gest. 1698) brach eine Krise in der Kettler-Dynastie aus. Dazu kamen noch die Geschehnisse und Folgen des Großen Nordischen Krieges hinzu, zuerst — seit 1701 — die schwedische Besetzung und danach der zunehmende Einfluss Russlands. Dieser resultierte nicht nur aus der Tatsache, dass Russ- land durch den Großen Nordischen Krieges eine dominierende Position in dieser Region gewann, sondern auch aus den in dieser Zeit angeknüpften dynastischen Verbindungen zwischen Russland und Kurland. Die Krise der Dynastie in Kurland sowie das Problem der Erbfolge der Familie Kettler ha- ben über Jahrzehnte die europäischen Höfe beschäftigt, vor allem den rus-

4 Gustaw Manteuffel: Inflanty polskie, poprzedzone ogölnym rzutem oka na siedmiowiekowftprzeszlo§ calych Inflant, Poznan 1879, S. 111f. (deutsche Fassung: Polnisch-Livland, Riga 1869); ders.: Z dziejöw Kokiola w Inflantach i Kurlandyi (od XVI-go do XX-go stulecia) [Über die Kirchengeschichte Livlands und Kurlands (16.-20. Jahrhundert)], Warszawa 1905; Akta wizytacji generalnej diecezji inflanckiej i kur- landzkiej czyli piltynskiej z 1761 roku (Acta visitationis generalis Dioecesis Livoniae et Curlandiae seu Piltinensis anno 1761 peractae) / hrsg. von Stanislaw Litak, Tormi 1998. 5 Quellenmaterial für die Tätigkeit der Jesuiten in Livland findet sich in: Latvijas vZstures avoti jezuitu ordena archivos (Fontes historiae Latviae Societatis Jesu) / hrsg. von J. Kleijntjens, Riga 1940-1941.

345 Boguslaw Dybas

sischen, preußischen und polnisch-sächsischen, die unterschiedlichste Lö- sungskonzepte für die sog. „Kurländische Frage" schmiedeten.6 An diesem Spiel nahmen die in Polen und Sachsen regierenden Könige aus der Wettinerdynastie ebenfalls aktiv teil. Doch aus der Sicht der Ver- fassungsbeziehungen zwischen Kurland und der Rzeczpospolita sollte man hervorheben, dass vom rechtlich-formalen Standpunkt immer noch das Prinzip galt, dass nach dem Aussterben der Dynastie Kettler ihr Herzogtum der Rzeczpospolita einverleibt werden sollte. Wenn dies den Grund zu Kon- flikten um die Verfassung Kurlands nach dem Aussterben der Dynastie bil- dete, so wurde ein anderes Streitfeld durch den Konflikt wegen der Zugehö- rigkeit Kurlands — in dieser oder jener Form — zur Rzeczpospolita und der sich gerade bildenden starken Bindung zwischen dem Herzogtum Kurland und Russland geschaffen. Die Stärke und der Charakter dieses Streites wa- ren Funktionen der allgemeinen polnisch-russischen Beziehungen und der immer schwächeren Position der Rzeczpospolita; nichtsdestoweniger hatte diese Angelegenheit die ganze Zeit hindurch viel größere Bedeutung, als man gemeinhin annimmt. Den ganzen kurländischen Problemkomplex er- schwerte zusätzlich noch die Tatsache, dass sich gerade im 18. Jahrhundert eine Diskrepanz zwischen der Politik der polnischen Könige und der der Rzeczpospolita gegenüber Kurland deutlich bemerkbar machte. Die Entwicklung der Verhältnisse zwischen Kurland und der Rzeczpospo- lita sowie die unterschiedliche Bedeutung der sie prägenden Faktoren lassen sich am besten anhand von vier Wendepunkten beobachten, in denen wich- tige Entscheidungen gefällt wurden. Einen ersten Wendepunkt bilden die Ent- scheidungen der Sejmkommission von 1717. Ähnlich wie 100 Jahre zuvor entschied die Kommission über den Streit zwischen dem kurländischen Adel und dem Herzog, indem sie erneut die herzoglichen Befugnisse einschränkte.' Die Kommission stellte de facto die Herrschaft Herzog Ferdinands in Fra- ge, weil sein Thronrecht (zunächst als Regent und dann als Nachfolger von Herzog Friedrich Wilhelm) durch den Sejm der Rzeczpospolita nicht bestä- tigt wurde und nur als Entscheidung des Königs angesehen wurde. Abgese- hen davon, inwieweit die Beschlüsse des Sejms in die Tat umgesetzt wurden, bedeuteten sie im Großen und Ganzen eine weitere Abschwächung der her- zoglichen Position in Kurland. Die Regierung von Ferdinand Kettler war üb- rigens wegen seiner Abwesenheit von Kurland nur eine Fiktion. Tatsächlich regierten damals die Minister und Oberräte. Diese Situation förderte Spekula- tionen über die Besetzung des kurländischen Thrones.

6 Klauspeter Strohm: Die Kurländische Frage (1700-1763): eine Studie zur Mächtepolitik im An9ien R4ime, Berlin 1999. 7 Ebda., S. 57-65.

346 Polen-Litauen und Livland im 17. und 18. Jahrhundert

Die Tatsache, dass Ferdinand Kettler als Regent nach dem Tod des Her- zogs Friedrich Kasimir (1698) von König August II. durchgesetzt wurde, zeugt davon, dass dieser Machthaber viel aktiver in den Angelegenheiten Kur- lands war als seine Vorgänger. In den dynastischen Plänen der Wettinerfami- lie blieb Kurland auch in den nächsten Jahrzehnten präsent. 1726 kam es zum zweiten Wendepunkt, als in Mitau, der Hauptstadt Kurlands, ein unehelicher- Sohn von August II., Graf Moritz von Sachsen, zum Herzog von Kurland ge- wählt wurde.' Diese vom König unterstützte Aktion hatte zum Ziel, die dyna- stische Krise in Kurland zugunsten der Wettiner zu lösen und rief Unzufrie- denheit bei den anderen interessierten Parteien hervor. Am wichtigsten war zu diesem Zeitpunkt jedoch die Unzufriedenheit, welche die Aktion in der Rzecz- pospolita verursachte. Nach der Überzeugung des Adels konnte sie nämlich die Position des Königs stärken, vor allem aber verletzte sie die zu dieser Zeit populäre Tendenz zur Inkorporation Kurlands in die Rzeczpospolita und sei- ne volle Integration in den polnisch-litauischen Staat. Auf dem Reichstag in Grodno 1726 reagierte der Adel scharf auf die Wahl von Moritz, indem er sie für ungültig erklärte. Es kam zwar — insbesondere wegen des Widerstands der russischen Diplomatie — nicht zur sofortigen Einverleibung Kurlands, aber es wurde eine weitere Sejmkommission einberufen, die die kurländischen An- gelegenheiten regeln sollte. Die Kommission fällte einige Entscheidungen, die die Beziehungen Kurlands mit der Rzeczpospolita immer enger gestalten sollten, vor allem aber beschloss sie die Inkorporation für den Fall des erben- losen Ablebens Herzog Ferdinands. Diese Entscheidungen führten zu einer gewissen Pattsituation, die vor allem für Russland nützlich war, weil es zu keiner näheren Ausgestaltung der Beziehungen Kurlands mit dem polnisch- litauischen Staat kam — weder auf der sozusagen „monarchischen Ebene" (durch die Übernahme des Erbes der Kettler durch die Wettiner) noch auf der „republikanischen" Ebene (durch die Auflösung des Herzogtums und die Ein- verleibung Kurlands in die Rzeczpospolita). Die späteren Entscheidungen in den Angelegenheiten Kurlands wurden in einer weit weniger günstigen Lage für den polnisch-litauischen Staat ge- fällt. Der Pazifikationssejm von 1736 — der dritte hier betrachtete Wende- punkt —, der die Herrschaft des hauptsächlich durch die Unterstützung von Russland gewählten August III. von Sachsen bestätigte, machte die Be- schlüsse der Kommission von 1727 zunichte, indem er die Möglichkeit zu- ließ, einen Nachfolger von Ferdinand Kettler zu wählen und so — nach des- sen Tod im Jahre 1737 — den Weg zum Thron in Mitau für den Günstling der Zarin Anna Iwanowna, Ernst Johann Biron, öffnete. Da Biron nach dem

8 Ebda., S. 93-117; Theodor Kallmeyer: Graf Moritz von Sachsen in Kurland: eine historische Skizze, Riga 1858 (Separatabdruck aus dem „Rigaschen Almanach für 1859"); Jacek Staszewski: August II Moc- ny [August II. der Starke], Wroclaw 1998, S. 237-240.

347 Boguslaw Dybas

Tod von Anna (1740) nach Sibirien deportiert wurde, blieb Kurland beinahe zwei Jahrzehnte lang ohne Herrscher, was wiederum die „kurländische Fra- ge" von neuem aktuell werden ließ. Dies trug dazu bei, dass die Wettiner er- neut den Versuch unternahmen, Kurland zu erobern. 1758 — und dies ist der vierte Wendepunkt — gelang es August III., die Einwilligung der Zarin Elisa- beth zu erlangen, seinen Sohn Karl auf den Thron in Mitau einzusetzen.' Die Herrschaft von Karl in Kurland endete, als sich in Petersburg, nach dem Tod von Elisabeth, die politische Orientierung änderte. Formal blieb Kurland ein Lehen der Rzeczpospolita bis 1795, obwohl die russischen Einflüsse dort durch das ganze 18. Jahrhundert immer stärker wur- den. Es scheint jedoch, dass mindestes bis in die 173 0er Jahre hinein eine re- ale Chance bestand, eine feste Verbindung zwischen dem Herzogtum und der Rzeczpospolita zu errichten. Doch es wurden zwei gegensätzliche Konzepte für die Lösung des Problems entwickelt. Der Politik der Wettiner, die Erb- folge der Kettlers zu übernehmen, um ihre Position in der Rzeczpospolita zu stärken, wurde vom Adel der Versuch entgegengestellt, Kurland direkt in den polnisch-litauischen Staat einzuverleiben. Diese beiden gegensätzlichen Kon- zepte machten die Politik des polnisch-litauischen Staates und seines Königs gegenüber Kurland erfolglos. Einen ganz anderen Charakter als Polnisch-Livland und Kurland hatte del- auf dem Gebiet Kurlands gelegene Kreis Pilten. Dieses Territorium entwi- ckelte sich aus der Ausstattung des kurländischen Bistums und behielt nach der Säkularisierung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis 1795 einen gesonderten Status im Rahmen der Rzeczpospolitai° Die Bestrebungen der Kettlers, das Gebiet an Kurland anzuschließen, scheiterten. Dennoch verzich- teten die kurländischen Herzöge (vor allem Jakob Kettler, 1642-1681) nicht darauf, Pilten mit Kurland enger zu verbinden." Kraft der Beschlüsse der königlichen Kommission von 1617 hatte in Pil- ten das vom Adel gewählte Kollegium der Landräte mit dem Präsidenten an der Spitze die oberste Gewalt inne, sowohl im Verwaltungs-, als auch im Ge-

9 Letztens darüber Strohm (wie Anm. 6), S. 119-302; über Biron: Ernst Johann Biron 1690-1990. Kata- log der Ausstellung im Schloß Rundäle/Ruhental / hrsg. von Imants Lancmanis, Rundäle 1993. 10 Henning von Wistinghausen: Kurland und Pilten seit dem Untergang Altlivlands (1561) bis zur Ein- verleibung in das russische Reich (1795), in: Nachrichtenblatt / hrsg. vom Verband der Angehörigen der Baltischen Ritterschaften 7 (1965), H. 1, S. 7-10. 11 Der gesonderte Status des Piltener Kreises fand in den bisherigen Forschungen kein entsprechendes Interesse. Forschungen zu Kurland betrachteten Pilten gewöhnlich als einen Bestandteil des Herzogtums, und nur in diesem Kontext beurteilten sie die verworrenen und abwechslungsreichen Verhältnisse zwischen den beiden Ländern in der zweiten Hälfte des 17. und 18. Jahrhunderts. In der polnischen Historiographie ist immer noch aktuell der Aufsatz von Gustaw Manteuffel, Piltyi i archiwum piltyiskie (z doktczeniem mapy ziemi piltyiskiej z r. 1747) [Pilten und das Piltener Archiv (mit der Karte aus dem Jahre 1747)], Warszawa 1884 (Sonderdruck aus: Biblioteka Warszawska: Pismo poWigcone naukom, sztukom i przemyslowi, 1884, 1 (Bd. 173 der Gesamtreihe), S. 169-192, 429-440).

348 Polen-Litauen und Livland im 17. und 18. Jahrhundert richtsbereich. Gegen die Urteile der Landratsgerichte konnte man Berufung bei der Rzeczpospolita einlegen. Das Kollegium der Landräte war verpflichtet, den Landtag des Piltener Adels alle zwei Jahre einzuberufen, an dem dieser viritim teilnehmen konnte. Im Kreis bestand auch das Amt des Starosten, der theore- tisch den König vertrat. Die Beschlüsse des Landtags von Pilten sollten vom König bestätigt werden, allerdings schickte der Adel von Pilten keine Vertreter zum Reichstag der Rzeczpospolita. Formal gesehen, behielt der Adel von Pilten eine verhältnismäßig große Unabhängigkeit auf seinem Territorium, obwohl er den Behörden der Rzeczpospolita unterstellt war. Nur in Zeiten der Bedrohung nutzte der Piltener Adel den Schutz der kurländischen Herzöge. Eine grundlegende Frage, die in Bezug auf die Geschichte von Pilten in dem für uns interessanten Zeitraum zu stellen ist, kann etwa so lauten: Wie wurden die Beziehungen dieses Territoriums einerseits mit Kurland und andererseits mit der Rzeczpospolita gestaltet? In dem ersten Fall geht es vor allem darum, inwieweit es den Herzögen von Kurland gelang, die Vereinigung zwischen Pilten und Kur- land herbeizuführen. 1656 kam es zu einer Vereinbarung, auf deren Grundlage die Neutralität, die Kurland nach dem polnisch-schwedischen Krieg gewonnen hatte, auf Pilten ausgeweitet wurde. Da der polnische König den Bund zwischen Pilten und Kurland anerkannte, kam es im Februar 1661 zum Abschluss der sog. Grobiner Transaktion, in der engere Beziehungen zwischen beiden Ländern fest- gelegt wurden. In der Literatur wird angenommen, dass dies der Anfang der Uni- on zwischen Kurland und Pilten gewesen sei, die bis 1717 bestand. In Wirklichkeit war die Angelegenheit viel komplizierter. Die Bestim- mungen der Transaktion von Grobin ließen sich nicht sofort erfüllen. Gegen die Bestimmungen entstand in Pilten eine sehr starke Opposition. Der pol- nische König nahm seine Einwilligung in die Union zurück. Schließlich ge- lang es, die Union nach langen Verhandlungen und nach der Einwilligung des Sejms erst 1680, kurz vor dem Tod des Herzogs Jakob Kettler, zu schließen. Sie wurde jedoch erst zu Beginn der Herrschaft seines Nachfol- gers im Jahre 1685 verwirklicht. Aber schon nach dem Tod von Friedrich Kasimir im Jahre 1698 können wir eine langsame Auflockerung der Bezie- hungen zwischen Pilten und Kurland beobachten. Diese Schlussfolgerung ziehe ich aus dem Studium der in Riga erhaltenen Akten des Landtags von Pilten, die andere Bedingungen für die Beziehungen zwischen Pilten, Kur- land und der Rzeczpospolita als bisher angenommen zeigen.12

12 In den letzten Jahren habe ich intensive Forschungen über die Geschichte des Piltener Kreises im 17. und 18. Jahrhundert anhand des in Riga aufbewahrten Archivs der ständischen Selbstverwaltung in Pilten unternommen (Latvijas Valsts VeStures Arhivs, fond 644); vgl. meine Monographie: Na obrzezach Rzeczypospolitej: seijmik piltynski w latach 1617-1717; z dziejöw instytucji stanowej [An der Peripherie der polnisch-litauischen Rzeczpospolita: der Landtag des Stifts Pilten 1617-1717; zur Geschichte einer ständischen Institution], Torure 2004.

349 Boguslaw Dybas

In der mehrere Jahrzehnte dauernden Piltener Opposition gegenüber der Union mit Kurland nach 1661 ist in der Tätigkeit des Piltener Landtags ein, sehr wichtiger Zug hervorzuheben. Zum einen finden wir in den Beschlüs- sen des Landtags oft Feststellungen über einen engen Zusammenhang zwi- schen Pilten und der polnisch-litauischen Rzeczpospolita. Der König und die Rzeczpospolita werden als die wichtigsten Machtfaktoren bezeichnet, die zum Verabschieden bindender Beschlüsse befugt sind. Die Tätigkeit des Piltener Landtags wird langsam dem parlamentarischen Rhythmus der Rzeczpospolita angepasst. Die Einberufung des Sejms vom König wird zur Grundlage für die Einberufung des Landtags, zumindest wird diese Tatsa- che in den Manifesten der Landräte erwähnt. Darüber hinaus entsenden die Landtage ihre Vertreter zu den Reichstagen, um die Interessen des Kreises zu vertreten. Der Piltener Adel wird in den Dokumenten des Landtags als Bestandteil der Rzeczpospolita bezeichnet, mit allen Rechten des polnischen und litauischen Adels. Wir begegnen hier also einer deutlichen Tendenz, die Beziehungen zwischen Pilten und der Rzeczpospolita enger auszugestalten, die den in der Rzeczpospolita gestellten Forderungen, den Piltener Kreis di- rekt in den polnisch-litauischen Staat einzuverleiben, entgegenkamen." Einer eingehenden Untersuchung bedürfen noch die politischen Um- stände der Verhandlungen um eine Union zwischen Pilten und Kurland zwischen 1660 und 168514 sowie die kurze Zeitdauer der Union (1685- 1717), insbesondere aber die Rolle, die zu dieser Zeit die katholische Kir- che spielte — vor allem der livländische Bischof, der Ansprüche auf die ehe- malige Ausstattung der kurländischen Diözese stellte.' Es scheint, dass die Expansion der katholischen Kirche in den 80er Jahren des 17. Jahr- hunderts vom Piltener Adel als eine so starke Bedrohung betrachtet wur- de, dass die Union mit Kurland als bessere Lösung angesehen wurde. Die Lage änderte sich jedoch zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Mit der Schwä- chung Kurlands und der wachsenden Krise kam es zu einer erneuten Eman- zipation des Piltener Kreises. Der Landtag übernahm die Initiative bei den Handlungen, die zumindest teilweise den Kreis vor den Kriegsfol- gen schützen sollten. Als nach 1711 der livländische Bischof wieder sei- ne Ansprüche auf Pilten stellte, schien es, dass der einzige Ausweg aus der Lage — bei der immer stärker werdenden Krise in Kurland — die Wiederein-

13 Boguslaw Dybag: Der Piltener Landtag in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Ventspils Mu- zeja Raksti 1 (2001), S. 108-114. 14 Die Urkunden der Union und ihre verschiedenen Varianten habe ich in einem anderen Aufsatz ausführ- licher besprochen: Boguslaw Dyba.: Die Union zwischen Kurland und Pilten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Das Herzogtum Kurland 1561-1795: Verfassung, Wirtschaft, Gesellschaft, Band 2 / hrsg. von Erwin Oberländer, Lüneburg 2001, S. 105-146. 15 Joachim Senning, Die Poplawskische Kommission in Pilten 1685-1686 (Ein Beitrag zur Geschichte des Herzogtums Kurland), Jena 1931.

350 Polen-Litauen und Livland im 17. und 18. Jahrhundert führung der Ordnung aus der Zeit vor der Union mit Kurland, also die di- rekte Abhängigkeit von der Rzeczpospolita, die bis 1795 dauerte, darstellte.

*** In den Beziehungen mit Livland hatte in der gesamten Frühen Neu- zeit der Charakter der Rzeczpospolita als polnisch-litauischer Doppelstaat eine besondere Bedeutung. Offensichtlich hatte Litauen wegen seiner geo- graphischen Lage ein ganz anderes Interesse an Livland als Polen. Das gilt nicht nur für die Epoche, als die engen Verbindungen zwischen Livland und der jagiellonischen Monarchie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begründet wurden, sondern mindestens bis zur Wende des 17. zum 18. Jahr- hundert. Als Beispiel kann man hier die mit der sog. „Ostseepolitik" von König Johann III. Sobieski in den 1670er Jahren verbundenen Spannungen erwähnen, als die in Litauen einflussreichen Hochadeligen aus der Familie Pac den königlichen Bestrebungen, das Herzogtum Preußen zu erobern, die Idee entgegenstellten, Livland aus schwedischen Händen wieder in Besitz zu nehmen. Während wir einerseits von den Unterschieden zwischen der polnischen und litauischen Einstellung gegenüber Livland sprechen müs- sen, gab es andererseits aber auch Diskrepanzen zwischen der Politik der polnischen Könige und anderer Machtfaktoren im Rahmen der Rzeczpospo- lita in diesem Bereich. Während die Herrscher solche zum polnisch-litau- ischen Staat gehörende Gebiete wie Livland häufig enger mit der Person des Monarchen zu verbinden suchten, bekämpften der Adel und Hochadel sol- che Absichten als Versuch, die königliche Macht im Staat zu stärken. Als klassisches Beispiel für einen solchen Zwiespalt kann man die Unterschiede zwischen der Politik des Königs August des Starken und der Rzeczpospolita am Anfang des 18. Jahrhunderts bezeichnen. In diesem Zusammenhang kann man feststellen, dass die unterschied- lichen Beziehungen der einzelnen Teile Livlands zu der Rzeczpospolita in einem gewissen Grade die komplizierte Verfassung des polnisch-litauischen Staates sowie die inneren Widersprüche seiner Politik gegenüber Livland widerspiegelten. Trotzdem muss man sagen, dass wir es über die ganze Zeit der Beziehung Livlands zu dem polnisch-litauischen Staat (1561-1795) hin- weg mit Maßnahmen zu tun haben, die gezielt eine engere Verbindung die- ser Territorien mit der Rzeczpospolita herbeiführen sollten. Zwar wurden die grundlegenden Entscheidungen in der zweiten Hälfte des 16. und zu Be- ginn des 17. Jahrhunderts gefällt, jedoch treffen wir mehrere Beispiele sol- cher Maßnahmen auch in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhun- dert. Eben zu dieser Zeit wurde die Integration des überdünischen Livland in die Rzeczpospolita erfolgreich abgeschlossen, wenn auch nur in Bezug auf das begrenzte Territorium der livländischen Wojewodschaft. Zu jener

351 Boguslaw Dybag'

Zeit wurde auch die Zugehörigkeit des Piltener Kreises zur Rzeczpospoli- ta in Folge einer komplizierten Ereigniskette bestätigt. Schließlich wurde auch damals ein ernsthafter Versuch zur Inkorporation Kurlands unternom- men. Einer der wichtigsten Umstände, durch den die Integrationsprozesse der südlivländischen Gebiete mit der Rzeczpospolita gehemmt wurden, war wahrscheinlich die konfessionelle Lage. Als Polnisch-Livland in der zwei- ten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert fast ganz rekatholisiert wurde, blieben Kurland und Pilten, trotz aktiver Tätigkeit der römisch-katholischen Kirche, lutherisch. Dies und die kulturellen wie ethnischen Unterschiede er- schwerten die volle Integration dieser Gebiete in Polen-Litauen. Trotzdem kann man vermuten, dass die Integrationstendenzen in der Rzeczpospolita gegenüber allen livländischen Gebieten auch im 18. Jahrhundert recht stark und lebendig waren. Davon zeugt u.a. die Diskussion über den Status Kur- lands in der Mitte des 18. Jahrhunderts, wie auch die noch in den 1790er Jahren verfolgten Projekte, Pilten enger mit der Rzeczpospolita zu verbin- den. Es gab also zwischen 1660 und dem Ende des 18. Jahrhunderts deutliche Tendenzen, die livländischen Gebiete enger an die Rzeczpospolita anzubin- den. Das Beispiel der livländischen Wojewodschaft zeigt, dass dies möglich war. Noch lebendig war auch das Bewusstsein, dass fast ganz Livland frü- her zur Rzeczpospolita gehört hatte, wie dies Jan August Hylzen, der 1750 die erste Geschichte Livlands in polnischer Sprache veröffentlichte, deut- lich unterstrich.16 Die aussenpolitische Schwäche des polnisch-litauischen Staates und die dezentrale Verfassung einer Adelsrepublik führten jedoch dazu, dass eine konsequente und erfolgreiche Integrationspolitik gegenüber Livland in dieser Epoche unmöglich war.

16 Vgl. Boguslaw Dyba§: Geschichtsdenken, Integration und Identität in Livland um die Mitte des 18. Jahrhunderts: zur livländischen Geschichte im historischen Werk Jan August Hylzens, in: Die Konstruk- tion der Vergangenheit: Geschichtsdenken, Traditionsbildung und Selbstdarstellung im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa / hrsg. von Joachim Bahlcke und Arno Strohmeyer, Berlin 2002 (Zeitschrift für histor- ische Forschung; Beiheft 29), S. 81-97.

352 Kristian Gerner Nordosteuropa und schwedische Großmacht- politik: Reflektionen zum historischen Bewusstsein

„Heute sieht Schweden Novgorod als Teil seiner Interessensphäre an — genau wie im 17. Jahrhundert." So verknüpft der schwedische Wissenschaft- ler Per-Arne Bodin Geschichte und zeitgenössische ideologische Trends im Ostseeraum.' Sowohl im Hinblick auf seine Geschichte als auch auf sein Territorium gehört Schweden zu einer geographischen Region, die sich weit über die gegenwärtigen politischen Grenzen des Landes hinaus erstreckt. Nach der schwedischen Terminologie wird dieser größere historische Raum gewöhnlich als Östersjöomrädet — im Folgenden „der Ostseeraum" — be- zeichnet. Lange nach dem Verschwinden seines Ostseeraumimperiums wird Schweden in Geschichtsbüchern immer noch als die Ostseemacht par ex- cellence bezeichnet. Seine politischen Ambitionen hatten darin bestanden, die Ostsee zu einem mare nostrum und einem mare clausum zu machen — zu einem Mittelmeer im Norden mit Stockholm als seinem Zentrum. Das historische Konnotat der zwei mare-Konzepte lässt sich bis ins 17. Jahrhun- dert zurückverfolgen, das in der schwedischen Geschichtsschreibung als die Großmachtzeit bezeichnet wird. Die Ostseeraumpolitik Schwedens in der Zeit seit 1989/91 wird von Bodin in diese Begrifflichkeit eingeordnet. Da- bei handelt es sich nicht einfach darum, die Gegenwart in die Vergangenheit zu projizieren, um eine Möglichkeit in der Zukunft anzudeuten. Vielmehr ähneln die Ziele in unserer Zeit denen der Vergangenheit — sie bestehen in den Bestrebungen der schwedischen Staatsführung, wirtschaftliche und po- litische Sicherheit für den Staat zu erlangen — nur die Mittel unterscheiden sich. Im späten 16. Jahrhundert waren sie neben wirtschaftlicher und poli- tischer auch diplomatischer und militärischer Natur. Kriegsführung wurde als legitim angesehen. Im späten 20. Jahrhundert stehen nur noch politische, diplomatische und wirtschaftliche Mittel zu Gebote. Allerdings — und das ist der Kern von Bodins Beobachtung — geht es heute wie damals um den Einfluss Schwedens im Ostteil des Ostseeraums. Bodins Bemerkung zielt auf den schwer fassbaren Begriff „historisches Bewusstsein". Sie bezieht sich nicht nur auf rationales Kalkül, sondern auch auf Emotionen und Stimmungen. Geschichte wird nicht als eine chronolo- gische Folge von Ursachen und Wirkungen verstanden, sie gilt vielmehr als aus Schichten bestehend, die sich konkretisieren und erinnert werden je nach den jeweiligen Perspektiven und Notwendigkeiten der Epoche. Die-

1 Per Arne Bodin: Ryssland: i&er och identiteter, Skellefteä 2000, S. 141.

353 Kris tian Gerner ser Artikel will zum Nachdenken über historisches Bewusstsein in Schweden nach der Auflösung des Sowjetreiches einladen — unter besonderer Berück- sichtigung des Ostseeraums. Positivistische Historiker werden möglicherwei- se bestürzt sein, da diese Annäherungsweise auf einer Unterscheidung zwi- schen Geschichte und Gedächtnis beruht. Geschichte ist die Vergangenheit: etwas, was nicht mehr existiert. Gedächtnis hingegen existiert. Geschicht- liches Bewusstsein bezieht sich auf Aspekte der Vergangenheit, die in den Köpfen von Individuen noch leben und von vielen geteilt werden. Es geht hier also um Perspektiven und Interpretationen von Geschichte. Bodins Perspektive ist an Akteuren orientiert. Schweden wird die Rolle eines staatlichen Akteurs zugeteilt. Geschichte kann aber auch im Sinne von Strukturen und Prozessen, also Lebensbedingungen und Faktoren des Wech- sels angesehen werden, die nicht den Intentionen und direkten, bewussten Zielen spezifischer Akteure zugerechnet werden können. Unbeabsichtigte und kontraproduktive Konsequenzen von Handlungen müssen als entscheidende Faktoren des historischen Wandels betrachtet werden. Als menschliche We- sen jedoch fühlen wir ein existentielles Bedürfnis, unser Leben als Teil eines Kosmos von Ordnung und Bedeutung — und nicht als Chaos, Unordnung und Sinnlosigkeit — wahrzunehmen. Zumindest im Rahmen der westlichen Zivi- lisation sind wir konditioniert, unser Denken über Identität nach den Regeln von Chronologie, Kohäsion und Gemeinschaftsbildung zu strukturieren. Es gibt das Bedürfnis, Einheit zu spüren — etwas mit dem man sich identifizie- ren und von dem man ein Teil sein kann: Wir müssen uns entscheiden, was unsere Gemeinschaft ist und was fremd ist. Es ist dieser Zusammenhang, in dem wir nach der Geschichte Nordosteuropas suchen. Die Herausforderung besteht darin, ein willkürlich definiertes Stück Territorium als sinnvolle histo- rische Einheit erscheinen zu lassen. Historiker erzählen Geschichten: Sie brauchen ein erkennbares Objekt und einen narrativen Bericht darüber. Wenn das Objekt ein menschliches Wesen ist, wird aus dem Werk des Historikers eine Biographie. Wenn das Objekt ein Staat oder eine Nationalität ist und wenn nicht das Objekt selbst zum Problem gemacht wird, ist das Werk eine Nationalgeschichte. Wenn das Objekt aber eine Region ist, wird Geschichtsschreibung ein mannigfaltiges Jonglieren mit analytischen Konzepten. Der Autor muss sich entscheiden, wie er die territo- rialen Grenzen seines Analyseobjekts definiert und welche Dimensionen des sozialen Lebens im weiteren Sinne des Wortes er einbeziehen will. Die resul- tierende Geschichte muss zugegebenermaßen eine unter vielen Alternativen sein. Es gibt keine Geschichte als Solche. Bei der Definition einer bestimmten Region als Objekt eines narrativen Berichts muss man in vieler Weise selektiv vorgehen. Wenn jedoch die De- finition erfolgt ist, hat die Region einen Namen bekommen. Sie materialisiert

354 Nordosteuropa und schwedische Großmachtpolitik sich und kann mit einer Geschichte versehen werden. Obwohl eine geogra- phische Region, in der sich durch die Geschichte hindurch eine ganze Reihe von Akteuren bewegt haben, nicht selbst als Akteur verstanden werden kann, darf sie doch analysiert und beschrieben werden als eine Art von Agens — als etwas, das im übertragenen Sinne seine eigene Geschichte schafft. Wenn man Nordosteuropa als historische Einheit betrachtet, so kann man entweder sagen, dass bestimmte historische Strukturen und Prozesse sie konstituieren, oder man kann sie nach geographischen Gesichtspunkten definieren. Im ersten Fall können die äußeren Grenzen von Zeit zu Zeit variieren. Auf diese Weise erlangt der Bericht, die Handlung den entscheidenden definierenden Charak- ter. Im zweiten Fall sind die Außengrenzen fixiert, aber es müssten viele ver- schiedene nationale Berichte berücksichtigt werden. Wenn Schweden als ein Staat definiert wird, der sich im frühen Mittelalter bildete, so hat auch Finn- land seinen Platz im historischen Handlungsverlauf. Nimmt man jedoch die zeitgenössischen Grenzen als Definition der geographischen Extension seiner Geschichte, darf man Finnland nicht einschließen; vielmehr bekommt es sei- ne eigene Geschichte, die sich ebenfalls bis in die Vorzeit zurück erstreckt. Andererseits muss — bei Wahl der gegenwärtigen Grenzen des schwedischen Staates als definierendem Element — auch die historische Entwicklung Dä- nemarks zusammen mit Norwegen berücksichtigt werden, wegen des histo- rischen Geschicks von Schonen und einigen anderen Provinzen. Sie waren bis 1645/1658 dänisch und wurden dann schwedisch. Meine Kenntnis des Geschichtsbewusstseins in Schweden sagt mir, dass die Schweden Finnland nicht als historischen Teil Schwedens betrachten. Meine Kenntnis des histo- rischen Bewusstseins in Finnland sagt mir hingegen, dass die dortige Ansicht von der Geschichte des Territoriums dieses Namens viele Jahrhunderte vor 1809 einschließt. Das Problem bei historischen Begriffen ist, dass sie in natürlichen Spra- chen ausgedrückt werden müssen, d. h. in sprachlichen Begriffen. Im Deut- schen — und im Schwedischen — wird der Ausdruck „Nordosteuropa" ohne weiteres verstanden als die Bezeichnung für einen bestimmten historischen Begriff mit einer klaren Definition und einer begrenzten Menge von Kon- notaten. Das resultiert aus dem konventionellen Sprachgebrauch einer be- stimmten Zeit ohne weitere Reflexion. Obwohl es feinsinnige Diskussionen über Begriffe in der Geschichtsphilosophie gibt, sind die meisten empirischen Historiker beim Schreiben Essentialisten gewesen. So hat Klaus Zerhack, dessen Ausgangspunkt die Werke Paul Johansens sind, den Begriff Nordost- europa folgendermaßen definiert: „Denn von einer geschichtsregionalen Komplexion Nordosteuropa-Ostsee- raum ist im Sinne unserer Regionalbegriffsbildung zu sprechen für den Zeitraum von den Wikingerzügen bis zu der Entscheidung von 1809, die die endgültige Auf-

355 Kristian Gerner

lösung des schwedischen Ostseeimperiums durch die Abtrennung Finnlands zu- gunsten Rußlands bewirkte. Die Geltung des Nordosteuropa-Regionalbegriffs fällt somit in das alteuropäische Jahrtausend von der Karolingerzeit bis zum Ende des Ancien Reime in der europäischen Geschichte, d. h. Nordosteuropa als ge- schichtliche Einheit ist ein Phänomen des vormodernen Europa. "2 „Nordosteuropa" hat aber für einen Engländer nicht die gleiche Bedeu- tung wie für einen Deutschen oder Schweden. Es ist nicht leicht, den eng- lischen Ausdruck North Eastern Europe einem bestimmten historischen Begriff zuzuordnen: sowohl Denotat als auch Konnotat sind vage. Im Eng- lischen und im Französischen gibt es eine spezielle historische Beziehung zwischen Norden und Osten, die beide dadurch verbindet, das ihnen je- weils das Konnotat der otherness gegenüber dem anderen anhaftet. Was der „Nordosten" für sich selbst genommen darstellen könnte, bleibt ziemlich offen. Der amerikanische Historiker Larry Wolff hat gezeigt, wie im 17. und 18. Jahrhundert die traditionelle Sehweise in der englisch-romanischen Welt vom Norden — als dem Heim der Barbarei und der Negation von Zivi- lisation — durch eine neue Perspektive überdeckt wurde. Schweden und Dä- nemark begannen, als integrierte Teile Europas angesehen zu werden, wäh- rend der Osten nun als das neue Andere konstruiert wurde, mit Russland und dem Osmanischem Reich als barbarischen Nationen. In diesem Prozess verschob sich Russland vom „Norden" zum „Osten"; Schweden und Dä- nemark wurden Teile des „Westens".3 Natürlich liegt der Kern der Sache hier in der Begriffsbildung und dem Begriffswandel während der Aufklä- rung und nicht etwa in unserem gegenwärtigen Verständnis der Bedeutung der Begriffe Osten und Norden. Aus der damaligen Perspektive stellt sich Nordosteuropa als eine Übergangszone zwischen Zivilisation und Barbarei dar, weil jeweils ein Teil des Wortes — zunächst das Wort Norden und dann das Wort Osten — das letztere Konnotat trägt. Obwohl er nie Wolff gele- sen hatte, war der schwedische König Gustav II. Adolf in seiner Außenpo- litik von dem bewussten Ziel geleitet, dass Frankreich und der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Schweden als Teil der europäischen Zivilisa- tion gleichberechtigt mit den anderen beiden großen Mächten anerkennen sollten. In Zernacks Begriffsbildung, die in einer Zeit entstand, in der sowohl die Sowjetunion als auch die akademische Disziplin der Sowjet- und Osteuro- pastudien in ihrer Blüte standen, war Nordosteuropa — oder eher das, was er die Ostseeregion nannte — ein Objekt der Sowjet- und Osteuropastudien,

2 Klaus Zernack: Osteuropa: eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, S. 53. 3 Larry Wolff: Inventing Eastern Europe: the Map of Civilization an the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994, S. 4-8.

356 Nordosteuropa und schwedische Großmachtpolitik des „Arbeitsbereichs des Osteuropahistorikers"4. Das letztere Konzept ist abel- auch sehr vage. Es setzt voraus, dass ein Osteuropa existiert. Wie auch im- mer: als eine Folge der großen politischen Veränderungen in Polen, der Deut- schen Demokratischen Republik und der Sowjetunion in den Jahren 1989- 1991 wurden Teile dieser präsumtiven Region politisch gesehen Teile des Westens. 1990 wurde die DDR in die Bundesrepublik Deutschland integriert. Vielleicht nicht deutsche Historiker, aber der Rest der westlichen Welt hatten bis dahin mit Sicherheit auch die DDR in das Feld der Sowjet- und Osteuro- pastudien eingeschlossen. Polen und Teile der DDR werden jedoch ebenfalls von Zemacks Definition von Osteuropa abgedeckt. Man kann weiterhin da- rauf hinweisen, dass im Finnischen und Estnischen Deutschland „Saksa", also „Sachsen" genannt wird. Das weist auf ein enge historische Beziehung hin, die nicht durch das schwedische oder das reichdeutsche Selbstbild vermittelt ist, sondern diese beiden zunächst nicht staatsbildenden Regionen in Nord- osteuropa direkt mit einer regionalen Untereinheit des kontinentaldeutschen Raumes in Beziehung setzt.' Somit muss die Periode von 1917-1991 als eine Zeit angesehen werden, in der Nordosteuropa — wenn man an diesem Kon- strukt festhält — eine geteilte Geschichte hatte, eine westliche, und eine östlich/ sowjetische. Dies stimmt völlig mit Zemacks Konzeptionalisierung überein. Zernack sieht das mittlere 17. Jahrhundert sowohl als den Zenit der schwedischen Macht als auch den Zenit seines von ihm selbst vorgestellten Nordosteuropa — als kohärente Region, als ein Agens in der Geschichte — an. Schweden konnte ein „küstenumspannendes nordosteuropäisches Zollimpe- rium gegen alle anderen Ostseeanrainer aufbauen."6 Man kann die Geschichte Schwedens so schreiben, dass sie mit der Geschichte einer Region Nordost- europa zusammenfällt. Der finnische Historiker Eirik Hornborg wies einmal daraufhin, dass die Militärgeschichte der Ostsee praktisch identisch mit der Militärgeschichte Schwedens vom Mittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert ist.' Im Geiste Zemacks kann man eine ähnliche Beobachtung im Bezug auf seinen Nordosteuropa-Begriff machen. Die Aufgabe, eine Geschichte Schwedens zu schreiben, ist in gewisser Weise ähnlich der Aufgabe, der sich ein Englandhistoriker gegenübersieht. In einer kürzlich erschienenen Rezension hat Linda Colley gezeigt, dass man die Geschichte Englands nicht von der Geschichte der Britischen Inseln und des Britischen Empire trennen kann, ohne sie zu verstümmeln. Obwohl es not-

4 Zernack (wie Anm. 2), S. 58. 5 „Sachsen" als Bezugspunkt ist hier freilich nicht als das moderne („Klein"-)Sachsen — das Bundesland und Nachfolgestaat des napoleonischen Königreichs — zu denken, sondern geht auf das alte Stammesher- zogtum zurück, dessen Identität in den „sächsischen Reichskreisen" der Reichseinteilung Kaiser Maximi- lians I. sowie der Bezeichnung Lübecks als Haupt des sächischen Quartiers der Hanse weiterlebte. 6 Zernack (wie Anm. 2), S. 57. 7 Eirik Hornborg: Kampen om Östersjön, Stockholm 1945, S. 1-15.

357 Kris tian Gerner wendig ist, die englische Geschichte in diesen weiteren Rahmen zu stellen, ist das Geschichtsbewusstsein in England immer englisch geblieben: „Empire al- ways mattered, for different Britons, in different ways and in different times. But when its demands were perceived as clashing with national interests, the former always lost out".8 Colley argumentiert zugunsten der Möglichkeit, Geschichte von Politik zu trennen, dem historischen Bewusstsein eine da- von getrennte Ebene zuzuweisen, auf der Basis, dass ja die aus dem Krieg heimkehrenden englischen Soldaten 1945 für die Labour Party und einen Wohlfahrtsstaat in Großbritannien und nicht etwa für Churchill und seine Po- litik der Erhaltung des Empire stimmten, obwohl viele von ihnen in der Welt des Commonwealth und des britischen Kolonialsystems gekämpft hatten. Der entscheidende Punkt mag schwer zu erfassen sein für ein strikt empirisch ar- beitendes historisches Denken. Man muss nämlich seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass das Bewusstsein der dabei beteiligten Menschen, der Bürger als Soldaten, von dem der Entscheidungsträger in London und vie- ler Historiker differierte. So ist man mit dem Problem konfrontiert, wie man historisches Bewusstsein definieren soll. Man mag diese Verkomplizierungen nicht mögen, aber es ist unklug, sie zu missachten. Sie erinnern uns daran, dass der Begriff eines historischen Bewusstseins eine Abstraktion ist und der Veränderung unterliegt. Im Hinblick auf das schwedische Beispiel zeigt sich, dass ein historisches Bewusstsein mit Rückbezug auf das Ostseeimperium an Stelle des National- staates kontinuierlich durch das offizielle Schweden gefördert wurde, nach- dem das Großreich längst verschwunden war. Das zeigt sich pointiert an vie- len akademischen Preisen, die für romantische Historienmalerei bekannten schwedischer Malern wie Ernst Josephson im 19. Jahrhundert verliehen wur- den. Diese Version der Geschichte war verbunden mit dem Kult Gustav Wa- sas, Gustav II. Adolfs, und Karls XII., also mit dem Ursprung, dem Höhe- punkt und dem Ende der Großmachtzeit. In der Zwischenkriegszeit wurde das historische Bewusstsein in Schweden neu formuliert, um den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat, das „Volks- heim" (Folkhemmet) als ein natürliches Ergebnis der schwedischen Geschich- te als Nationalgeschichte im engeren Sinne darzustellen. Eine gerade Linie wurde gezogen von dem mittelalterlichen Bauernführer Engelbrekt zu Premi- erminister Per Albin Hansson.9 Das Image Schwedens als einer Großmacht blieb zwar ein Grundzug des historischen Bewusstseins, aber es war auf die Idee des Wohlfahrtstaats projiziert. Der Geist der Eroberung und historischen

8 Linda Colley: Multiple Kingdoms, in: The London Review of Books 19 July 2001, S. 23f. (Review of: David Armitage: The Ideological Origins of the British Empire, Cambridge 2000). 9 Ingrid Bohn: Schweden: zu Grösse und Freiheit geboren... in: Mythen der Nationen: ein europäisches Panorama / hrsg. von Monika Flacke, Berlin 1998, S. 424-428.

358 Nordosteuropa und schwedische Großmachtpolitik

Mission wurde ideologisch gefärbt und vollkommen demilitarisiert. Dies wurde sowohl in Schulbüchern als auch in Gestalt der historischen Denk- mäler und Kunstwerke der Zeit gefördert.'° Das eingangs angeführte Zitat von Per Arne Bodin weist auf die Fusion von zwei Schichten des historischen Bewusstseins in Schweden zu etwas Neuem hin. Das Image Schwedens als einer Großmacht in Nordosteuropa im 17. Jahrhundert wurde zur Quelle für die Projektion der Ambitionen des gegenwärtigen schwedischen Wohlfahrtsstaats im Hinblick auf die bal- tischen Staaten und Nordwestrussland. Man braucht keinen Überblick übel- die Forschung zu der schwedischen Großmacht- und Militärpolitik im Ost- seeraum im 16. und 17. Jahrhundert zu referieren, um die offensichtliche historische Tatsache postulieren zu können, dass Schwedens Ziele hinsicht- lich Novgorods ein Teil der Politik war, die auch zu Inkorporierung von Re- val (estn. Tallinn) und Estland, von Riga mit dem größeren Teil von Liv- land sowie einer Anzahl anderer Ostseehäfen geführt hat." Wenn man beim Blick auf das historische Bewusstsein nicht mit den Be- griffen von Ursache und Wirkung operiert, sondern mit der Projektion ver- schiedener Schichten von Geschichte in einen „Sinn", kann man berech- tigterweise sagen, dass dieses alte Muster außenpolitischer Ambitionen im späten 20. Jahrhundert wieder aufgenommen wurde. Dabei soll jedoch nicht gesagt werden, dass die Geschichte sich wiederholt oder dass die beiden hi- storischen Prozesse parallel sind. Nach 1991 hat Schweden den souveränen Staaten Estland und Lettland politische, militärische und wirtschaftliche Unterstützung gewährt. Im Jahre 1632 gründete der schwedische Staat eine Universität in Dorpat (estn. Tartu) in Livland. Das Ziel war, eine einheimische Schicht von Pfarrern und ande- ren Staatsdienern zu schaffen, die der schwedischen Krone gegenüber loyal waren. In den 1990er Jahren förderten schwedische staatliche Stellen eine Wirtschafts- und eine Rechtshochschule in Riga. Das Ziel war, eine einhei- mische Klasse von Wirtschaftswissenschaftlern und Juristen herauszubil- den, d. h. eine Mittelklasse, die dazu beitragen würde, die drei baltischen Staaten für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union vorzubereiten. Es ist offensichtlich, dass schwedische Entscheidungsträger im späten 20. Jahr- hundert dazu neigten, die drei baltischen Staaten als eine Einheit zu betrach- ten, obwohl Litauen einen von Estland und Lettland sehr verschiedenen kul- turellen und historischen Hintergrund hat. Hieran lässt sich hervorragend der

10 Ulf Zander: Fornstora dagar, moderna tider: bruk av och debatter om svensk historia frän sekelskifte till sekelskifte, Lund 2001, S. 468-470. 11 Hierzu allgemein Jan Glete: Warfare at Sea 1500-1650: Maritime Conflicts and the Transformation of Europe, London 1999; Valerij Evgen'evid Vozgrin: Rossija i evropejskie strany v gody severnoj vojny, Leningrad 1986.

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Prozess der Konstruktion historischer Konzepte demonstrieren. Im 17. Jahr- hundert war die schwedische Unternehmung in Livland direkte Politik des schwedischen state building. Im späten 20. Jahrhundert nahm Schweden die Rolle des selbsternannten Lehrers und Beschützers der Baltischen Staaten im Namen der europäischen Union an. Die Erfahrungen des 17. Jahrhunderts wurden nicht als Grund dafür wahrgenommen und auch nicht explizit von den Politikern angeführt. Aber der Beweis, dass sie zum Gesichtskreis des histo- rischen Bewusstseins in Schweden gehören, wird durch den kommerziellen Erfolg der historischen Romane des schwedischen Historikers Peter Englund über die Schlacht von Poltava, Erik Dahlbergh und Karl X. geliefert.12 Der finnische Historiker Max Engman hat das 17. Jahrhundert die Stock- holmer Periode in der Geschichte des Ostseeraums genannt.13 Schweden mit seiner Hauptstadt Stockholm war die Hegemonialmacht in der Region; Stock- holm wurde eine moderne europäische Stadt. In diesem Prozess spielte der deutschbaltische Adel eine entscheidende Rolle. Diejenigen Familien, die ihr Schicksal mit dem des schwedischen Großmachtprojekts verbanden, ge- langten auf die zentralen politischen und militärischen Posten. Der baltische Adel erlaubte Schweden, von seinen eigenen europäischen Netzwerken, von seinen facettenreichen Kontakten zur deutschen Welt zu profitieren. Um die- sen deutschbaltischen Kern gruppierten sich schottische, französische und. holländische Immigranten die ebenfalls entscheidende Rollen in der miltä- rischen, kulturellen und wirtschaftlichen Sphäre spielten.14 So ist die Geschichte Schwedens als des gedachten Kernraums des Kon- strukts Nordosteuropa überhaupt nicht die Geschichte der Schweden als Volk, sondern des schwedischen Staates. Der kulturelle Kern blieb deutsch, aller- dings nicht im modernen ethnischen Sinn des Worts, sondern im Sinn von Zivilisation und Kultur, von „Bildung". Die Adligen aus Livland, die eine so wichtige Rolle in dem Projekt einer schwedischen Staates spielten, betrachte- ten sich selbst nicht als Deutsche, sondern als „Balten" in dem umfassenden Sinne des englischen oder polnischen Adjektivs. Der Ausdruck „Balte" im Sinne von „Deutschbalte" hingegen ist eine Etikettierung aus einer ande- ren Ära, dem ethnonationalen 19. Jahrhundert. König Karl XI. (1672-1697) legte Wert auf die Feststellung, dass nicht nur ethnische Schweden, sondern

12 Ulf Zander (wie Anm. 10), S. 422-456. — Die einzelnen Titel sind: Peter Englund: Poltava: berättel- sen om en armes undergäng, Stockholm 1988 (engl. u.d.T.: The battle of Poltava, London 1992); ders.: Ofredsär: om den svenska stormaktstiden och en man i dess mitt [über Dahlbergh], Stockholm 1993 (dt. u.d.T.: Die Verwüstung Deutschlands, Stuttgart 1998); ders.: De oövervinnerlige: om den svenska stormak- tstiden och en man i dess mitt [über Karl X.], Stockholm 2000 (poln. u.d.T. Niezwycie2ony, Gdahsk 2004, finn. u.d.T.: Voittamaton, Helsinki 2001). 13 Max Engman: Peterburgska vägar, Lovisa 1995, S. 22f. 14 Kristian Gemer und Klas-Göran Karlsson in Zsarb. mit Anders Hammalund: Nordens medelhav: ös- tersjöomrädet som historie, myt och projekt, Stockholm 2002, S. 119.

360 Nordosteuropa und schwedische Großmachtpolitik auch „Livländer, Bremer und Pommern" zu seinen Untertanen zählten.15 In diesem Zusammenhang waren auch die Livländer Deutsche, d.h. „Balten" in dem oben genannten umfassenden Sinn als „Deutsche des Ostseeraums". Die starke Affinitität zur deutschen Kultur darf nicht in dem Sinne missinterpre- tiert werden, dass die schwedische Kultur „germanisiert" worden wäre oder dass Schwedische Politiker und Intellektuelle sich — im 17. Jahrhundert oder später — mit deutscher Kultur identifiziert hätten. Der entscheidende Punkt ist, dass das Schwedische Reich nicht nur zu Nordosteuropa, sondern auch zur deutschen Sphäre gehörte. Ein wichtiger Aspekt bei Schwedens Aufstieg zum Großmachtstatus und seiner Anerkennung als einer wahrhaft europäischen Macht durch andere eu- ropäische Mächte besteht in dem, was in der Historiographie oft als die Eu- ropäisierung Schwedens bezeichnet wird. Dies war ein dialektischer Prozess. Die Könige und die Aristokratie modernisierten den schwedischen Staat ganz bewusst mit dem Ziel, ihn zu einem starken Konkurrenten mit Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich um die politische Hegemonie in Nord- europa zu machen. Aus dieser größeren Perspektive gesehen war die histo- risch so wichtige Verwicklung in die Angelegenheiten Polen-Litauens nur ein Nebenschauplatz.16 1721 ging das Ostseeimperium und Schwedens Groß- machtstatus verloren. Schweden ist ganz sicher seitdem „europäisch" geblie- ben. Dieses Gefühl europäischer Identität verstärkte sich nach der Auflösung des Sowjetimperiums. In diesem Augenblick wurde nämlich die Schicht des 17. Jahrhunderts in der schwedischen Geschichte wieder sichtbar gemacht, mit Sicherheit aber nicht die des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Da es in diesem Artikel um heutiges historisches Bewusstsein geht, wird diese Peri- ode bewusst übergangen. Jedoch, wie oben angedeutet, zeichnete sich die Epoche des „Volksheims" durch eine gewisse ideologische Distanzierung sowohl vom Westen — lies.- unbegrenzter Kapitalismus — als auch von Osteuropa — lies: sowjetischer So- zialismus — aus. Diese ideologische Position spiegelte sich in der Außenpo- litik wieder, obwohl die geographische Lage Schwedens und seine besonde- ren Beziehungen zu Finnland mit Sicherheit diese Politik ebenfalls beeinflusst haben. Darüber gibt es eine unübersehbare Menge an Literatur. Jedenfalls entschloss sich Schweden 1949, außerhalb der NATO und neutral zu blei- ben. In den nachfolgenden Jahrzehnten verblieb Schweden noch außerhalb der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Sowohl die sozialdemokra- tische Regierung als auch wichtige Führer der öffentlichen Meinung kon- zentrierten ihre Aufmerksamkeit auf die Länder der Dritten Welt. Zugleich integrierte sich Schweden in dieser Zeit in die nordamerikanische Wissen- 15 Göran Rystad: Karl XI.: en biografi, Lund 2001, S. 322. 16 Gerner und Karlsson (wie Anm. 14), S. 118-120.

361 Kristian Gerner schaftswelt; amerikanische Massenkultur wurde vorherrschend. Beide diese Faktoren — Dritte-Welt-Orientierung und Amerikanisierung — ließen Euro- pa als Begriff und als Blickpunkt der Aufmerksamkeit in den Lehrplänen, in der Politik und in den Massenmedien in den Hintergrund treten. Dage- gen wurde während der Nachkriegszeit eine sogenannte „nordische" Identi- tät gefördert, und zwar sowohl durch politische Verträge als auch durch ein enges Netzwerk von Alltagskontakten. Die Auflösung des Sowjetblocks in den Jahren 1989-1991 zwang die po- litische Führung Schwedens zu einer Rekonzeptionalisierung von Schwe- dens Platz in der Welt. Die europäische Wirtschaftsgemeinschaft — in- zwischen zur Europäischen Union geworden — sah man als wichtiges und wertvolles Gegengewicht gegen die Vereinigten Staaten an. Schweden an- erkannte aus vollem Herzen seine „europäische" Identität und schloss sich 1995 der Europäischen Union an. Der missionarische Eifer, der sich vorher auf die armen Länder in der Form von Entwicklungshilfe konzentriert hatte, fand eine neue Zielregion: Polen, die baltischen Staaten und Nordwestruss- land. Als dieser Prozess in Schwung kam, tauchten historischen Reminis- zenzen der schwedischen Grossmachtszeit wieder auf; einige Schichten der älteren Geschichte wurden wieder sichtbar gemacht. Schweden war wieder ein aktiver Mitspieler in der europäischen Politik geworden, und das histo- rische Bewusstsein passte sich dieser neuen Situation an. Eine Geschichte Nordosteuropas aus schwedischer Perspektive In der Mitte des 16. Jahrhunderts erreichte Schweden eine zentrale Stel- lung in der Politik der Ostseeregion, die es bis zum frühen 18. Jahrhun- dert behalten sollte. Man könnte einwenden, dass die politischen Ambiti- onen, eine herausgehobene Rolle zu spielen, auch noch das ganze folgende Jahrhundert und bis ins 19. Jahrhundert hinein fortlebten und erst mit der vorsichtigen Außenpolitik von Karl Johann Bernadotte 1812-1815 ihr Ende fanden. Jedenfalls zielte von Gustav Wasa bis zu Karl XII. die Po- litik Schwedens auf eine totale Kontrolle eines riesigen Raums ab, den man Nordosteuropa nennen kann. Die Brennpunkte des Interesses waren Archangel'sk, Novgorod, alle Flussmündungen an der Ostseeküste, der Öresund und die östlichen Küstengebiete im Kattegat und im Skagerrak. Die Augen der Schweden waren sogar auf die Nordsee und auf die Küsten des Schwarzen Meeres gerichtet. Die Mittel zur Verfolgung dieser Ambi- tionen waren Diplomatie, Krieg, Handel, Religion und dynastische Hoch- zeiten. Nicht zuletzt wurde auch eine legitimierende „gotische" Mythologie von alter Größe geschaffen.17 Nordosteuropa wurde auf vier Ebenen als eine 17 Gunnar Eriksson: The Atlantic Vision: Olaus Rudbeck and Baroque Science, Canton, Mass. 1994; Ro- bert Frost: The Northern Wars: War, State and Society in Northeastern Europe 1558-1721, London 2000;

362 Nordosteuropa und schwedische Großmachtpolitik

„schwedische Zone" definiert. Die erste Ebene betraf Politik, Diplomatie und Kriegsführung: Ziel war die Kontrolle der Haupthäfen und ihrer Hin- terländer sowie die Schaffung militärisch sicherer Staatsgrenzen. In dieser Hinsicht können alle diese Unternehmungen als defensiv angesehen wer- den, nämlich als Verteidigung der nationalen Interessen Schwedens; aber das Operationsfeld dieser Defensivmaßnahmen lag in Übersee — zumindest, wenn man es von Stockholm aus betrachtet. Die zweite Ebene war das Gebiet von Wirtschaft und Gesellschaft: Gemäß der Ideologie des Merkantilismus und des Kameralismus versuchte der Staat, sich durch Kontrolle über Handel und Industrie zu bereichern. Die Zeitgenos- sen hoben vor allen Dingen die Wichtigkeit, den Handel zu kontrollieren, her- vor. Der schwedische Historiker Stellan Dahlgren zitiert aus einem Gutach- ten, dass 1660 von Johann Klasson Riesing, einem einflussreichen Mitglied des Kommerzkollegiums, verfasst wurde zu der Frage „wie der gesamte Han- del der Ostsee mit seinen Vorteilen von den Ausländern zugunsten der Unter- tanen seiner königlichen Majestät und der Krone von Schweden abgezogen werden könnte."18 Neben dem Staat war auch die Aristokratie, von der ein großer Teil einen deutsch-baltischen Hintergrund hatte, aktiv daran interes- siert, die bereits eroberten Provinzen beim Reich zu erhalten und neue Terri- torien für Schweden zu erwerben. Auch dieses steigerte das Einkommen der Krone durch Zölle und Gebühren. In dieser Hinsicht muss die schwedische Außenpolitik als offensiv, sogar aggressiv angesehen werden. Die dritte Ebene war geopolitisch: Die Akteure sahen Seen, Flüsse und Gebirge als Objekte an, deren offensichtlicher Schöpfungszweck darin lag, vom Staat kontrolliert zu werden. Für die Schweden war es „natürlich", die Küsten zu kontrollieren. Damit waren im Grundsatz die Küsten auf der Schweden gegenüberliegenden Seite der Ostsee gemeint. In erster Linie wa- ren die Länder in der südlichen Ostseeregion das Objekt, aber das Prinzip als solches konnte auch überall in Nordosteuropa angewendet werden. Die- se Perspektive kann durchaus als ideologisch bestimmt angesehen werden, wenn nicht gar als „von der Vorsehung bestimmt". Natürlich war sie eng mit den wirtschaftlichen Zielen verbunden. Diese waren die notwendigen Bedingungen für die Wiederaufnahme der geopolitischen Ideologie. Die vierte Ebene bezog sich auf Identitätspolitik: Wie oben angedeutet waren die schwedischen Könige und der Adel darauf aus, von Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich als gleichberechtigt angesehen zu wer-

Erik Ringmar: Identity, Interest and Action: a. Cultural Explanation of Sweden's Intervention in the Thirty Years' War, Cambridge 1996; Rystad (wie Anm. 15). 18 Stellan Dahlgren: The Baltic Provinces in Swedish Economic Poliy During the Latter Part of the Se- venteenth Century, in: Time of change in the Baltic Countries: Essays in Honour of Aleksander Loit / hrsg. von Anu-Mai Köll, Stockholm 2000, S. 13-30, hier S. 15.

363 Kris tian Gerner den. Die wissenschaftliche Debatte über die Gründe von Schwedens Eintritt in den Dreißigjährigen Krieg im Jahre 1630 hat sich auf wirtschaftliche, mi- litärische und konfessionelle Faktoren konzentriert, aber der schwedische Politikwissenschaftler Erik Ringmar hat in einem kürzlich erschienen Werk die Argumentation vertreten, dass ein direkter Grund im Ehrgeiz Königs Gus- tavs II. Adolf lag, das neue schwedische Selbstbild bestätigt zu erhalten.19 Der Frieden von Stolbovo 1617 mit Moskau und der Waffenstillstand von Altmark 1629 mit Polen wurden als Herausforderung Schwedens an die an- deren Akteure in der Region im Kampf um die Vorherrschaft im Ostseeraum verstanden. Spätere Geschichtsforscher mögen zwar den Realitätsgehalt die- ser Einschätzung bezweifeln, aber sie entsprach der Perspektive der Zeit- genossen in Schweden. Die Intervention in den großen europäischen Krieg würde Schweden den verdienten Respekt als gleichberechtigt mit Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich einbringen.20 So gesehen waren das Großfürstentum Moskau, Polen-Litauen und Dänemark von minderer Wich- tigkeit. Historiker mögen auch mit Voltaire darin einig sein, dass das Heili- ge Römische Reich weder heilig, noch römisch noch ein Reich war, aber der entscheidende Punkt lag darin, dass Gustav II. Adolf die Anerkennung als dem Kaiser Gleichgestellter suchte. Obwohl seinerzeit wichtig, wurde der Konflikt mit Polen aus dieser Geschichtsdarstellung des „Volksheims" aus- geblendet, weil in dem historischen Bewusstseins Schwedens im 20. Jahr- hundert die schwedisch-polnischen Beziehungen eine mindere Rolle spielen — trotz Peter Englunds international verbreiteten Romans über Karl X.21 1660 hatte Schweden das Ostseereich aufgebaut, das ein offensichtliches und bewusst verfolgtes Ziel seit der Zeit Gustav Wasas und seines Krieges mit Moskau in den späten 1550er Jahren war. Dänemark war zu einer Mittel- macht geworden, obwohl es weiterhin an vielen europäischen Kriegen teil- nahm; Polen war geschwächt, Moskau (Russland) war immer noch von den Küsten der Ostsee ferngehalten und Brandenburg, der Nachfolgestaat des Deutschen Ordens und der Embryo Preußens, machte sich gerade eben als eine Macht von Bedeutung bemerkbar. Selbst wenn man zugesteht, dass die Epoche der deutschen „Kreuzritter" erst im wilhelminischen Deutschland ideologisch ausgeschlachtet wurde, so war Brandenburg doch in der Praxis der Nachfolger der Ordensstaates geworden, nachdem die Brandenburger Hohenzollern den preußischen Zweig der Dynastie im frühen 17. Jahrhun- dert beerbt hatten. Königsberg wurde 1701 zur Krönungsstadt des preu- ßischen Königs Friedrich I. und nach ihm dann Wilhelms I. 1861.

19 Ringmar (wie Anm. 17), S. 176-186. 20 Ebda., S. 136-144. 21 Vgl. Anm. 12.

364 Nordosteuropa und schwedische Großmachtpolitik

Von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung von Nordosteuropa als Geschichtsregion zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert waren die Rollen, die die Niederlande, Russland, Brandenburg/Preußen und England spielten. So gesehen wird deutlich, dass ein in sich abgeschlossenes schwedisches Nordost- europa mit festen Grenzen ein willkürliches Konstrukt ist. Historisch betrachtet war dieser Teil Europas ein offenes System mit einer dynamischen Geschichte. Schwedens Aufstieg zur Großmacht fiel zusammen mit der endgültigen Etablie- rung eines Weltmarktes und der Europäisierung Nordamerikas, wobei die Hol- länder den primären Faktor in dem erstgenannten und die Briten in dem letztge- nannten Prozess darstellten. Wirtschaftlich, militärisch und technologisch — und vor allem kulturell — wa- ren die Niederlande ein Hauptakteur in einem gedachten Nordosteuropa des 17. Jahrhunderts. Es scheint dem schwedischen historischen Bewusstsein völ- lig fremd gewesen zu sein, dass gerade im 17. und 18. Jahrhundert, als Nordost- europa (nach Zernacks Definition) auf seinem Höhepunkt stand, Holland und England die Hauptmächte in der Region waren und zu dem beitrugen, was sie im Hinblick auf Wirtschaft und Kultur geworden ist. Im frühen 17. Jahrhundert waren die schwedischen Ambitionen und die hol- ländischen Hoffnungen im Ostseeraum im Einklang. Es gab gemeinsame In- teressen. Im späten 16. Jahrhundert war Amsterdam die führende Stadt in Holland geworden. Nach dem Waffenstillstand mit Spanien in 1609 wurde es schnell der führende Hafen Europas und auch ein Hauptfinanzplatz. Da- rüber hinaus wurde seine Stadtplanung mit ihrem — dank eines Systems von Kanälen bis in die Innenstadt reichenden — Hafen als modellhaft angesehen. Amsterdam wurde sofort das Vorbild für den neugeplanten schwedischen Ha- fen an der Nordsee, Göteborg. So spielten holländische Schiffbauer, Kaufleu- te und Unternehmer eine Hauptrolle bei Schwedens Aufstieg zur Großmacht im Verlaufe des 16. Jahrhunderts. Die Rolle der Holländer in der Europäisierung Schwedens war ebenfalls wichtig. Diese Dimension der Vergangenheit ist den Schweden der Gegenwart unbekannt — mit Ausnahme einer winzigen Gruppe von Historikern. Mit diesen Ausführungen wollte ich auf einen weißen Fleck im schwedischen historischen Bewusstsein hinweisen und auch versuchen, die Willkürlichkeit der Definition von Nordosteuropa, wie sie Johansen und Zernack anbieten, aufzuzeigen. An- stelle von Polemik geht es dabei um eine Einladung, über die Verwendung von Geschichtsschreibung nachzudenken. 1603 gründete Karl IX. Göteborg, indem er beschloss, einen neuen Ha- fen zu bauen. Seine Hauptidee war, holländisches Kapital für die sich ent- wickelnde schwedische Rüstungsindustrie anzuziehen und über die Hollän- der Schweden mit dem globalen System des Überseehandels zu verbinden, das sich inzwischen gebildet hatte. 1609 bestätigte er die Mitglieder der

365 Kristian Gerner

Stadtregierung Göteborgs; sie waren alle Holländer. Die Stadtregierung entsprach auch nicht der Praxis in anderen schwedischen Städten, sondern folgte streng dem Vorbild Amsterdams. Ein Rat von 25 Mitgliedern wurde zunächst von den Bürgern gewählt, aber danach sollte er nur durch Koop- tation wieder aufgefüllt werden. Der Vorsitzende des Rates war der Schout, wie in Amsterdam; Holländisch war die Gerichts- und Verwaltungsspra- che. Diese holländische Stadt in Schweden bekam 20 Jahre Steuerfreiheit zugesprochen. Der wichtigste Punkt war jedoch, dass die Neubürger von Göteborg von dem Sundzoll im Öresund befreit waren. Sie erhielten auch Privilegien, die Handel und Fischfang in den Polargebieten, also dem ge- genwärtigen nördlichen Norwegen betrafen. 1608 wurde eine Compagnie für den Handel mit Moskau und Persien gegründet. Das ursprüngliche Gö- teborg wurde zwar von den Dänen im Krieg von 1611 bis 1613 zerstört, aber 1619 von Gustav II. Adolf neu gegründet. Schweden hatte nun einen wichtigen Nordseehafen zum Zweck des Eisen- und Holzexportes aus dem Inneren des Landes. Die Holländer investierten bedeutende Summen in den Bergbau und die Eisenindustrie Schwedens, beteiligten sich am Schiffbau und trugen zur intellektuellen Entwicklung Schwedens bei.22 Nach dem westfälischen Frieden im Jahre 1648 wurden Schweden und die Niederlande Rivalen. Die holländische Flotte wachte darüber, dass Schweden keine Hegemonie in der Ostsee erreichen konnte. Im frühen 18. Jahrhundert wiederum waren sowohl die schwedische als auch die hollän- dische Macht im Ostseeraum im Sinken, aber bevor sie die Szene verließen, vererbten sie beide einen Teil ihrer administrativen und architektonischen Fähigkeiten der neuen in Nordosteuropa heranwachsenden Macht, Russ- land. Dieser Einfluss machte sich geltend in der Stadtlandschaft und den In- stitutionen der neuen russischen Hauptstadt, St. Petersburg. St. Petersburg und Göteborg haben den gleichen Stammbaum, und auch wenn die rus- sische Hauptstadt nicht direkt von Göteborg beeinflusst wurde, dann doch von dem schwedischen Modernisierungsprojekt, von dem Göteborg ein Teil war. Heute ist Neuholland eine romantische Insel in St. Petersburg. Dieser Stadtteil und die „Linien" genannten Straßen auf der Vasilij-Insel — Straßen, die ursprünglich einmal Kanäle werden sollten — sind sichtbare Spuren des holländischen Modells. In gleicher Weise sind die sogenannten Hafenstra- ßen in Göteborg Erinnerungen an die Kanäle aus der holländischen Zeit. Mit Schweden im Zentrum wurde eine Verbindung zwischen dem öst- lichen Ostseeraum und der Nordsee in der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert geschaffen. Göteborg und St. Petersburg verbanden Schweden und Russ- land nicht nur mit der Nordsee, sondern auch mit dem übrigen Europa und 22 Ralph Scander: Var skall staden ligga? in: Göteborg, Stockholm 1978 (Svenska Turistförenigens Ars- skrift 1978), S. 48-59.

366 Nordosteuropa und schwedische Großmachtpolitik

der ganzen Welt. Über mehr als 200 Jahre hinweg war St. Petersburg tat- sächlich die Hauptstadt Russlands, während Göteborg sich damit zufrieden geben musste, der wichtigste Handelshafen und — im 19. Jahrhundert — eine Bastion des Liberalismus in Schweden zu sein. Wie man weiß, ist in der russischen Kultur St. Petersburg die westliche, die europäische Stadt — in starkem Kontrast zu Russlands eurasischer Metropole Moskau.23 Das 18. Jahrhundert wurde Zeuge einer sogenannten Europäisierung Russlands, ge- nauer gesagt: zumindest seiner Staatsführung und seines Adels. Im 19. Jahr- hundert konnte man zunehmend engere Handels- und Kulturbeziehungen in St. Petersburg und Schweden beobachten. Zu dieser Zeit jedoch ging die Verbindungslinie Schwedens nach Russland eher von Stockholm als von Göteborg aus? Epilog In den Jahren 1989 bis 1991 hat sich die Szenerie im Ostseeraum ent- scheidend gewandelt, als der Warschauer Pakt und die Sowjetunion von der Bühne verschwanden. Wie Per-Arne Bodin angedeutet hat, wurde damit eine alte Schicht im schwedischen historischen Bewusstsein freigelegt. Dies fiel damit zusammen, dass die neuen politischen Grenzen der russischen Föderation auf eine Linie hinter die historischen Grenzen des Großfürsten- tums Moskau im 17. Jahrhundert zurück geschoben wurden — mit nur einer wichtigen Ausnahme: Ingermanland und die Karelische Landenge, St. Pe- tersburg und Wiborg (finn. Viipuri, schwed. Viborg, russ. Vyborg) blieben innerhalb der Grenzen des neuen russischen Staates. Historisch und geo- politisch gesehen heißt dies, dass das heutige St. Petersburg nicht nur die gleiche geographische Region wie sein Vorgänger, der „Herr Groß-Novgo- rod" im Hinblick auf Schweden besetzt. Vielmehr waren die ursprünglichen Pläne Schwedens im Osten, die auf die Novgoroder Region abzielten (Be- setzung der Stadt 1611 bis 1617), Teil derselben Politik, die zur Gründung von Göteborg im Westen führten. Heute nennt die schwedische Terminolo- gie die historischen Novgoroder Gebiete „Nordwestrussland", und natürlich wird St. Petersburg als das Zentrum dieser Region angesehen. Der andere Pol Schwedens heißt nicht mehr Göteborg. Es ist Europa. Hinter Schweden steht Europa — und nicht mehr nur Amsterdam.

Aus dem Englischen übersetzt von Robert Schweitzer

23 Jurij Lotman: Simvolika Peterburga i problemy semiotiki goroda [Die Symbolik St. Petersburgs und die Probleme der Semiotik der Stadt], in: Trudy po znakovym sistemam 18 (1984), S. 30-45, hier S. 37. 24 Hierzu vgl. Bengt Jangfeldt: Svenska vägar till S:t Petersburg: kapitel um historien om svenskarna vid Nevans stränder, Stockholm 1998.

367 Michael North Die Niederlandisierung des Ostseeraumes Der Ostseeraum war und ist eine Zone fruchtbarer Austauschbeziehungen. Hier leben seit Urzeiten verschiedene sprachliche Gemeinschaften — Germa- nen, Slawen, Balten und Finno-Ugrier — zusammen, die sich im Mittelalter, zum Teil aber auch erst in der Neuzeit zu Staaten und Völkern entwickelt ha- ben. Dabei war die staatliche Zugehörigkeit einzelner Küstenländer im Lau- fe der Geschichte häufigen Veränderungen unterworfen, zumal verschiedene Mächte, wie zum Beispiel Schweden im 17. Jahrhundert, jeweils für län- gere Perioden die Herrschaft über die Ostsee oder Teile der Küste gewannen. Gleichzeitig war der Ostseeraum Schauplatz eines intensiven Austausches auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Die Verdichtung der Kommunikation mit Hilfe von Schifffahrt und Handel sowie die Migra- tion von Personengruppen förderten Transformationsprozesse, die beispiels- weise herrschaftlich-staatlichen Entwicklungen entgegenliefen. So entstanden supranationale Ostseekulturen. Ein Beispiel ist die spätmittelalterliche hansische Kultur, die den Ostsee- raum prägte, eine andere die Niederlandisierung im 16. und 17. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert kamen Sowjetisierung und Amerikanisierung hinzu, die natürlich nicht auf den Ostseeraum beschränkt waren. Im Folgenden konzen- triere ich mich auf den Aspekt der Niederlandisierung des Ostseeraumes, die in engen Zusammenhang mit der Expansion des niederländischen Ostseehan- dels stand. Der niederländische Ostseehandel Der Handel war — wie allgemein bekannt ist — eine der Säulen des nieder- ländischen Wohlstandes. Dabei kam dem Ostseehandel zentrale Bedeutung zu, so dass ihn die Niederländer mit Recht als „moedercommercie" ansahen. Das aus der Ostseeregion importierte Getreide ernährte einen großen Teil (ca. ein Drittel) der niederländischen Bevölkerung und machte die niederlän- dische Landwirtschaft für profitablere Produktionszweige frei. Das Holz wur- de ebenso wie die Beiprodukte Pech, Teer und Asche für den Schiffbau und die gewerbliche Produktion genutzt. Denn diese preiswerte Versorgung mit Schiffbaumaterial, wozu noch Flachs und Hanf für Segel und Taue kamen, sicherte neben den Innovationen in der Bautechnik den Vorsprung der hol- ländischen Werften und damit wiederum die niedrigen Frachtraten der hol- ländischen Reeder. Daneben benötigte auch die Heringsverarbeitung in gro- ßen Mengen vorfabrizierte Fassdauben, das sogenannte Klappholz aus dem Ostseeraum, während andere Gewerbe, wie die Seifensieder, zu den Haupt- abnehmern Danziger (poln. Gdaiisk) und Königsberger (russ. Kaliningrad)

368 Die Niederlandisierung des Ostseeraumes

(Pott-)Asche gehörten. Schließlich ermöglichte der Ostseehandel den Nie- derländern, auch in anderen Handelsgebieten Fuß zu fassen. So konnten die Holländer im ausgehenden 16. Jahrhundert, als Missernten West- und. Südeuropa heimsuchten, ihr Getreidemonopol für Ostseegetreide ausspie- len. Auf diese Weise kontrollierten die Holländer neben dem Getreide- und Holzexport bald auch den Import westlicher Fertigwaren und Luxus- produkte. Für die Hansestädte im Ostseeraum blieb aufgrund ihrer höheren Frachttarife und ihrer geringeren Transportkapazitäten nur noch ein kleiner Teil des Ost-West-Handels übrig.' Der Ostseehandel, insbesondere die wachsende westeuropäische Nach- frage nach Getreide, veränderte die ökonomischen und sozialen Strukturen im Ostseeraum. Er stimulierte den Ausbau der Gutswirtschaft durch den Adel, konzentrierte den Warenverkehr auf die großen Zentren an der Ost- seeküste zuungunsten der Städte im Binnenland und schuf Abhängigkeiten der einheimischen Kaufleute im Ostseeraum von den niederländischen Kaufleuten, zu deren Agenten sie wurden.2 Migration Zentral für alle kulturellen Prägungen war die Einwanderung aus Westeuro- pa in den Ostseeraum. Aus den veränderten sozialen und ökonomischen Struk- turen entstanden neue kulturelle Bedingungen. So waren die niederländische Einwanderung und der niederländische Kultureinfluss im Ostseeraum von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an allgegenwärtig, ohne dass sie aber — mangels eingehender Untersuchungen — genauer fassbar sind. Grundsätzlich kann man bei der niederländischen Einwanderung in den Ostseeraum folgende vier Gruppen unterscheiden: Bauern, Handwerker, Kaufleute, Künstler.3

1 Die Literatur zum frühneuzeitlichen Ostseehandel ist fast unübersehbar. Den besten Überblick bilden folgende Sammelbände: The Interactions of Amsterdam and Antwerp with the Baltic Region, 1400-1800 / hrsg. v. Wiert Jan Wieringa u. a., Leiden 1983; From Dunkirk to Danzig: Shipping and Trade in the North Sea and the Baltic, 1350-1850 / hrsg. v. W. G. Heeres u. a., Hilversum 1988; Baltic Affairs: Relations between the Netherlands and North-Eastem Europe 1500-1800 / hrsg. v. Jacques P. S. Lemmink und J. S. A. M. van Koningsbrugge, Nijmegen 1990; Michael North: From the North Sea to the Baltic: Essays in Commercial, Monetary and Agrarian History, 1500-1800, Aldershot 1996. Zum niederländischen Handel insgesamt siehe Jonathan Israel: Dutch Primacy in World Trade, 1585-1740, Oxford 1989. 2 Klaus Zemack: Der Ostseehandel der Frühen Neuzeit und seine sozialen und politischen Wirkungen, in: Schichtung und Entwicklung der Gesellschaft in Polen und Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert / hrsg. von Marian Biskup und Klaus Zemack, Wiesbaden 1983, S. 1-20; Maria Bogucka, Henryk Sam- sonowicz: Struktury spoleczne Gdaiiska w XV-XVII wieku na tle przemian w handlu baltyckim [Die Gesellschaftsstrukturen Danzigs im 15. bis 17. Jh. vor dem Hintergrund der Veränderungen des Ostsee- handels], in: Studia nad gospodarkg, spoleczefistwem i rodzinq w Europie pöZnofeudalnej, Lublin 1987, S. 139-151. 3 Edmund Kizik: Niederländische Einflüsse in Danzig, Polen und Litauen vom 16. bis zum 18. Jahrhun- dert, in: Land und Meer: Kultureller Austausch zwischen Westeuropa und dem Ostseeraum in der Frühen Neuzeit / hrsg. v. Martin Krieger und Michael North, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 51-76.

369 Michael North

Bei der bäuerlichen Einwanderung handelte es sich im Wesentlichen um friesische Mennoniten, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts im Königlichen Preußen siedelten. Aufgrund der niederländischen Erfolge bei der Trocken- legung des Danziger Werders warben die königlichen Domänen und Grund- herren entlang der Weichsel mennonitische Siedler für ihre Ländereien an. Die Mennoniten schlossen langfristige Pachtverträge, genossen persönliche Frei- heit und bildeten den Kern eines unabhängigen und selbstbewussten Groß- bauerntums, das in den anderen polnischen Regionen seinesgleichen suchte.4 Die zweite Immigrantengruppe waren die Handwerker. Calvinistische Tuchmacher emigrierten aufgrund der spanischen Verfolgung aus den süd- lichen Niederlanden nicht nur in den Norden, sondern auch in größerer Zahl in die Ostseestädte. In Königsberg und in Danzig revolutionierten sie — ähn- lich wie in Leiden — die Tuchherstellung, indem sie die Herstellung leichter Wolltuche und die Tuchfärberei einführten. Außerdem erlebte die Seidenwe- berei und das Posamentiererhandwerk durch niederländische Einwanderer — die Posamentierer waren meist Mennoniten — einen neuen Aufschwung.5 Die dritte wichtige niederländische Einwanderergruppe stellten Kaufleu- te, Faktoren und Bankiers dar. Sie ließen sich in den Ostseehäfen dauerhaft oder zeitweilig nieder und erwarben zum Teil auch das Bürgerrecht. Die mei- sten niederländischen Kaufleute waren natürlich im Zentrum des Ostseehan- dels in Danzig konzentriert. Allein die Zahl niederländischer Faktoren, die im Auftrag Amsterdamer Firmen den Handel lenkten und Kredit- und Wechsel- geschäfte tätigten, wuchs hier um die Mitte des 17. Jahrhunderts auf 40 bis 50 und später sogar auf 75 Personen. Einer der eingewanderten Niederländer versuchte sogar, eine Wechselbank nach Amsterdamer Vorbild zu gründen, scheiterte aber am Widerstand des Danziger Rats.6

4 Karola Ciesielska: Osadnictwo „okderskie" w Prusach Krölewskich i na Kujawach w §wietle kon- traktöw osadniczych [Die „Holländer"-Ansiedlung im Königlichen Preußen und in Kujawien im Lichte der Ansiedlungskontrakte], in: Studia i materialy do dziejöw Wielkopolski i Pomorza, 2 (1958), S. 219- 256; Hans Penner: Ansiedlung mennonitischer Niederländer im Weichselmündungsgebiet von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn der preußischen Zeit, Weiherhof 1963; einen neuen Überblick bietet: Edmund Kizik: Mennonici w Gdansku, Elblqgu i na Zulawach wiganych w drugiej polowie XVII i w XVIII wieku [Die Mennoniten in Danzig, Elbing und in der Weichselniederung in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jh.], Gdansk 1994. 5 Maria Bogucka: Gdariskie rzemioslo tekstylne od XVI do polowy XVII wieku [Die Danziger Textil- industrie vom 16. bis zur Mitte des 17. Jh.], Wroclaw 1956; Fritz Gause: Geschichte der Stadt Königsberg, Bd. 1, Köln und Graz 1965, S. 310ff. 6 Maria Bogucka: The Baltic and Amsterdam in the First Half of the 17th Century, in: The Interactions (wie Anm. 1), S. 55 f.; dies.: Dutch Merchants' Activities in Gdansk in the First Half of the 17th Century, in: Baltic Affairs (wie Anm. 1), S. 22 ff. Neue Einsichten bietet die Dissertation von Maciej Maksymo- wicz: Identitäten der Seeleute und fremden Kaufleute in Danzig im 17. und 18. Jahrhundert, die im Greifswalder Graduiertenkolleg 619 „Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostsee- raum" entstanden ist.

370 Die Niederlandisierung des Ostseeraumes

Die letzte, uns besonders interessierende Einwanderergruppe waren die niederländischen Architekten, Künstler und Kunsthandwerker. Es kamen Fayenciers, die Keramikproduktion nach Delfter Vorbild ankurbelten, Möbeltischler, deren Erzeugnisse die bürgerlichen und adligen Häuser schmückten, und Weber von Tapisserien aus dem Süden der Niederlan- de. Vor allem aber ließen sich niederländische Architekten, Bildhauer und Maler — wenn auch in kleiner Zahl — insbesondere im Ostseeraum nieder. Architektur und Kunst Hierbei spiegeln sich die niederländischen Einflüsse in der Rezeption von Künstlern und Bildern wieder. Hierbei können wir auf erste Ergebnisse neu- erer Forschungsprojekte zurückgreifen.? Niederländische Gemälde finden wir in königlichen, adligen aber auch bürgerlichen Sammlungen, in die sie durch Maler und später Kunsthändler wie Gerhard Morell vermittelt wurden.8 Nie- derländische Architekten und Künstler wie Anthoni van Obberghen (aus Me- cheln), Willem und Abraham van den Blocke (aus Mecheln), die Maler Jan Vredeman de Vries (aus Leeuwarden), Isaak van den Blocke, die Kupferste- cher Clas Jansz. Visscher (genannt Piscator) und Willem Hondius (aus Den Haag) etc. arbeiteten für verschiedene Auftraggeber sowohl in Kopenhagen als auch in Danzig. So zeigte sich in Dänemark im 16. Jahrhundert zunächst eine Vorliebe für „italienische" Architektur, die sowohl über die Niederlande als auch direkt vermittelt wurde. So wirkte Jan Jorisz. van der Schardt aus Nim- wegen, der seine Ausbildung in Italien erhalten hatte, wahrscheinlich als Archi- tekt der Gebäude, die der Astronom Tycho Brahe auf der Insel Hven im Sund errichtete. Für Tycho Brahe arbeitete auch Hans van Steenwinckel der Ältere (ca. 1545-1601), der in Antwerpen geboren war. Im Zuge des niederländischen Aufstandes floh die Familie nach Emden, wo der Vater das Rathaus baute. 1578 heuerte Anthoni van Obberghen van Steenwinckel als Assistenten für den Bau von Schloss Kronborg an. Danach erhielt er bei Tycho Brahe eine Ausbildung in Geometrie und Astronomie, so dass hier verschiedene stilistische Traditionen und Kenntnisse zusammenkamen. Diese nutzte er für seine weitere Tätigkeit als königlicher Architekt Christians IV., für den er existierende Festungen an der schwedischen und norwegischen Küste erneuerte und außerdem die neue Festungsstadt Christianopel (1599) errichtete. Er selbst war besonders stolz auf

7 Gränsländer: östersjön i ny gestalt / hrsg. v. Jänis Krüslin,, Steve Mansbach und Robert Schweitzer, Stockholm 2003; Scandinavian Journal of History 28 (2003): Cultural Traffic and Cultural Transformation around the Baltic Sea. 1450-1720 / hrsg. v. Stephen T. Christensen und Badeloch Noldus; Land und Meer (wie Anm. 3). 8 Michael North: The Hamburg Art Market and Influences an Northem and Central Europe, in: Scandi- navian Journal of History 28 (2003), S. 253-261; ders.: The Long Way of Professionalisation in the Early Modern German Art Trade, in: Economia e arte, Secc. XIII.-XVIII. / hrsg. v. S. Cavaciocchi, Prato 2002, S. 459-471.

371 Michael North seine Arbeiten in Halmstad, wo in der Nikolaikirche sein Grabstein an ihn erin- nert.9 Ihm folgten seine Söhne Hans der Jüngere (1587-1639) und Lourens (ca. 1585-1619), die an nahezu allen Bauaktivitäten Christian IV. während des be- ginnenden 17. Jahrhunderts beteiligt waren. Ihr Anteil ist aber in den seltensten Fällen genau ersichtlich, denn der König wollte, wie z. B. bei Schloss Frede- riksborg, gerne selbst als Architekt erscheinen. Zweifellos arbeitete Hans van Steenwinckel aber an der königlichen Kapelle in Roskilde und zusammen mit seinem Bruder an der Börse von Kopenhagen. Auch am Rundturm der Univer- sitätskirche war er beteiligt. Fortgesetzt wurde seine Arbeit durch den Archi- tekten Leonard Blasius, der den Erweiterungsbau der Holmenskirche gestaltete. Die Ansicht Kopenhagens von Jan Dircksen (1611) zeigt viele neue Giebel- häuser im niederländischen Stil, von denen nur noch wenige erhalten sind. Auch öffentliche Bauten — wie das Waisenhaus, die Börse und Wohnhäuser für See- leute und Tuchhandwerker — folgten dem „fortschrittlichen" niederländischen Stil. Dass das öffentliche Bauen der Niederlande auch im 18. Jahrhundert noch als vorbildlich galt, als Dänemark längst über eigene Architekten verfügte, zeigt die Karriere Philips de Langes (1756-1805) aus Rotterdam, der sich als Gefäng- nisbaumeister einen Namen machte. Niederländische Architekten arbeiteten auch in Schweden, wo sie an der Be- festigung Göteborgs (1603/1607) und Kalmars (1613) mitwirkten. Auch Mit- glieder der Familie De Besche waren zunächst als Architekten tätig, bevor sie in die Metallurgie investierten.1° Einer der erfolgreichen Konkurrenten der De Besches war der „Kanonenkönig" Louis de Geer, der Norrköping zu einem pros- perierenden Industriezentrum machte und mehrere Häuser im klassizistischen Stil erbauen ließ." Dennoch scheint der Einfluss niederländischer Architekten geringer als in Dänemark ausgeprägt zu sein. Dennoch wurde in Schweden der klassizistische Stil durch Architekten wie Justus Vinckboons sowie Vater und Sohn Nicodemus Tessin (der Ältere 1615-1681, der Jüngere 1654-1728) verbreitet.12

9 Juliette Roding: The Myth of the Dutch Renaissance in Denmark: Dutch Influence an Danish Archi- tecture in the 17th Century, in: Baltic Affairs (wie Anm. 1), S. 343-353; dies.: The North Sea coasts, an architectural unity? in: The North Sea and Culture (1550-1800): Proceedings of the International Con- ference held at Leiden, 21-22 April 1995 / hrsg. v. J. Roding und Lex Heerma van Voss, Hilversum 1996, S. 95-106. 10 Leos Müller: The Merchant Houses of Stockholm, c. 1640-1800: a Comparative Study of Early-Mo- dem Entrepreneurial Behaviour, Uppsala 1988 (Studia Historica Upsaliensia; Bd. 188). 11 Badeloch Noldus: Trade in Good Taste: Relations in Architecture and Culture between the Dutch Re- public and the Baltic World in the Seventeenth Century (Architectura Moderna 2), Tumhout 2004; dies.: De introductie van het Hollands classicisme in Zweden, aan de hand van twee woonhuizen van de familie De Geer, in: KNOB [Koninklijke Nederlandse Oudheidkundige Bond] Bulletin 4 (1999), S. 152-164. 12 Vgl. Konrad A. Ottenheym: Die Liebe zur Baukunst nach Maß und Regeln der Alten: der Klassizismus in den nördlichen Niederlanden des 17. Jahrhunderts, in: Bauen nach der Natur — Palladio: die Erben Palla-

372 Die Niederlandisierung des Ostseeraumes

Aber allein in Polen, insbesondere in Danzig, war der Einfluss niederlän- discher Renaissancearchitektur ähnlich groß wie in Dänemark.13 Hier wäre vor allem Anthoni van Obberghen zu nennen, der 1586 von Dänemark nach Polen kam. Van Obberghen leitete die Umbauten des Rechtstädtischen Rat- hauses und baute das Zeughaus sowie das Altstädtische Rathaus, an deren De- koration sich Künstler wie Vredeman de Vries beteiligten.14 Danziger Künst- ler, z. B. die Kupferstecher Ägidius Dickmann und Jeremias Falck, lernten in den Niederlanden oder arbeiteten zumindest einige Jahre dort. Auch der Posten des Stadtbaumeisters wurde zwischen 1563 und 1666 ausschließlich an niederländische Architekten vergeben. Der erste, Reinier van Amster- dam, baute 1568 das vom Antwerpener Rathaus inspirierte Grüne Tor, der letzte, Peter Willer, war ein Schüler Jacob van Campens, des Erbauers des berühmten Amsterdamer Rathauses. Außerhalb Danzigs können wir die Tä- tigkeit niederländischer Architekten in Elbing (poln. Thorn (poln. Toruti), Neidenburg (poln. Nidzica), Braunsberg (poln. Braniewo), Pillau (russ. Baltijsk), Königsberg, Memel (lit. Klaip&la) und Riga nachweisen.15 Hierbei wirkte Danzig nicht nur als Vermittlungszentrum niederländischer und norddeutscher Architekturbücher in die polnische Adelsrepublik, sondern auch Skulpturen und Epitaphe wurden von Danzig aus bis weit in den Südos- ten der Adelsrepublik verbreitet oder dort für Auftraggeber geschaffen.16 Allen in Danzig tätigen niederländischen Malern und Architekten war ge- meinsam, dass sie für städtische oder bürgerliche Auftraggeber arbeiteten, also nicht etwa — wie in Holland — eine breite Marktnachfrage befriedigten.17 Auch die Danziger Maler, wie Andreas Stech und Daniel Schultz, lebten über- wiegend von Aufträgen der Patrizier, aber auch des polnischen Adels. Die dios in Nordeuropa / hrsg. v. J. Bracker, Ostfildern 1997, S. 127-146. Über Nicodemus Tessin den Älteren erarbeitet Kristoffer Neville (Princeton) zur Zeit eine Dissertation. 13 Maria Bogucka: Les relations entre la Pologne et les Pays-I3as (XVIe siecle, premi&-e moitie du XVIIe si&le), in: Cahiers de Clio 1984, Nr. 78-79, S. 14 ff.; dies.: Kultura Pomorza wschodniego w dobie renansu i baroku [Die Kultur des östlichen Pomorze in der Epoche der Renaissance und des Barock], in: Historia Pomorza, Bd. 2,1: 1464/66-1648/57 / hrsg. v. Gerard Labuda, Poznan 1976, S. 526-650, hier 545-553, 561-571; Zbigniew Nowak: Lata rozkwitu kultury, nauki i sztuki [Die Blütezeit von Kultur, Wissenschaft und Kunst], in: Historia Gdatiska, Bd. 2: 1454-1655 / hrsg. v. Edmund Ciegak, Gdatisk 1982, S. 686-753, hier S. 740-747, 750-753; Michal Wardzyriski: Zwischen den Niederlanden und Polen-Litauen: Danzig als Mittler niederländischer Kunst und Musterbücher, in: Land und Meer (wie Anm. 3), S. 23-50. 14 Arnold Bartetzky: Das Große Zeughaus in Danzig: Baugeschichte, architekturgeschichtliche Stellung, repräsentative Funktion, Stuttgart 2000; Hans Vredeman de Vries und die Renaissance im Norden [Aus- stellung im Weserrenaissance-Museum Schloss Brake (26. Mai - 25. August 2002), Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen (15. September - 8. Dezember 2002)] / hrsg. v. Heiner Borggrefe, Mün- chen 2002. 15 Als Überblick siehe: Niderlandyzm w sztuce polskiej [Die niederländische Ausrichtung in der polnischen Kunst] / hrsg. v. Teresa Hrankowska, Warszawa 1995. 16 Ich stütze mich hierbei auf den Aufsatz von Wardzyriski (wie Anm. 13). 17 Michael North: Das Goldene Zeitalter: Kunst und Kommerz in der niederländischen Malerei, Köln, Weimar, Wien 2002, Kapitel V und VI.

373 Michael North

Massenerzeugnisse an Bildern, die wir zusammen mit Alabasterfiguren in den Nachlässen der einfachen Danziger Bürger finden, scheinen importiert wor- den zu sein, ohne dass wir wissen woher. Dagegen kann man bei den wohl- habenderen Danzigern in Bezug auf Mobiliar und Wandschmuck eine deut- liche „Hollandisierung" der Einrichtung feststellen. Viele Danziger scheinen die holländischen Interieurs geradezu kopiert zu haben. Man verwendete ein ähnliches Mobiliar und hängte sich „Historien" und „Landschaften" ebenso wie Landkarten an die Wand.18 Leider sind die Inventare noch nicht so genau untersucht bzw. nicht so aussagekräftig, dass wir einen Geschmackswandel von der religiösen Historie zur Landschaft wie in der niederländischen Repu- blik feststellen können.19 Gemeinsam war, soweit sich das aufgrund der we- nigen Hinweise sagen lässt, ein Aufleben der Gildentradition, und hierbei sind die Einflüsse eingewanderter Niederländer nicht zu übersehen. Im Jahre 1592 baten 28 Danziger Maler unter der Führung des Jan Vredeman de Vries den Rat um die Zulassung einer Malerzunft, die dann 20 Jahre später auch Wirk- lichkeit wurde. 1621 entstand ebenfalls eine Malerzunft in Thorn. Ansonsten bleiben die Unterschiede signifikant. Im Vergleich zu den Nie- derlanden fehlte im südlichen Ostseeraum die Massennachfrage nach Kunst. Falls es Ansätze dazu gab, waren diese auf die wenigen großen städtischen Zentren beschränkt. Eine Erklärung hierfür dürfte der — verglichen mit den Niederlanden — deutlich geringere Urbanisierungsgrad der Ostseeregion sein. (Man kann eigentlich sogar von einer fortschreitenden Deurbanisierung durch die Verödung der Städtelandschaft bzw. die Agrarisierung der Städte im Hin- terland der Ostsee sprechen.) Eine andere Erklärung ist im Spannungsver- hältnis zwischen der bürgerlich-städtischen Kultur und der sie umgebenden Adelskultur zu suchen. Elemente der adligen Kleidung und des adligen Le- bensstils verbreiteten sich in den Städten, so dass selbst Danziger Mennoniten in ihrer Kleidung der adligen Attraktion von Farbe und Seide erlagen.20 Lang- fristige Folge war eine Aristokratisierung der städtischen Kultur, gegen die Städte ihre eigene urbane Kultur immer weniger behaupten konnten. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass Aristokratisierung oder Feudalisierung — zumindest was die städtischen Oberschichten anbetrifft — europäische Phä- nomene waren. Sie sind in den bürgerlichen Niederlanden ebenso festzustel- len wie in der polnischen Adelsrepublik.21 Gleichzeitig gab der Luxus- und

18 Zu den Besitztümern Danziger Bürger siehe Maria Bogucka: Die Kultur und Mentalität der Danziger Bürgerschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Economy and Culture in the Baltic, 1650-1700 / hrsg. v. Sven-Olof Lindquist, Visby 1988, S. 129-140. 19 Corina Heß: Mobiliar und Wohnungsauskleidung Danzigs im 17. und 18. Jahrhundert, in: Land und Meer (wie Anm. 3), S. 129-152. 20 Bogucka, Les relations (wie Anm. 13), S. 15; dies.: L'attrait de la culture nobiliaire? Sarmatisation de la bourgeoisie polonaise au XVIIe si&le, in: Acta Poloniae Historica 33 (1976), S. 23-41. 21 Für die Niederlande, insbesondere zu Amsterdam siehe Peter Burke: Venice and Amsterdam: a Study

374 Die Niederlandisierung des Ostseeraumes

Kulturkonsum polnischer Adliger dem Danziger Handel neue Aufgaben. So befriedigte ein Magnat wie Jan Klemens Branicki (1689-1771) einen großen Teil seines magnatischen Lebensstils durch Einkäufe in Danzig. Dabei stan- den auf seinen Einkaufszettel nicht nur Uhren, Spiegel, Möbel und Dekorati- onstextilien, sondern auch Skulpturen für die Gartenanlagen.22 Die Häfen der Ostsee waren aber nicht nur Einfallstore für Einflüsse der westeuropäischen Kunst und materiellen Kultur. Niederländische Fachleute wurden auch als Humankapital in den Bereichen Schiffbau, Schifffahrt und Handel von den Seemächten Dänemark, Schweden, Russland, sowie von Brandenburg-Preußen angeworben. Darüber hinaus entwickelten sich die Niederlande zunehmend zu einem Zentrum des Wissens, das durch verschie- dene Medien verbreitet wurde. Wissens- und Technologietransfer Ein Beispiel für den Wissenstransfer ist die wachsende Buchproduktion zu allen Wissensgebieten. Ebenso erwähnt werden muss der Technologiereich- tum der Niederlande, der durch Zeitungen, Reiseschilderungen, konsularische Berichte und private Korrespondenz verbreitet und über diese Vermittlungs- stränge auch angezapft wurde. Wichtig war außerdem der Export von Tech- nologie, zum Beispiel in Gestalt von verbesserten Windmühlen, Schiffen und Webstühlen.23 Beginnen wir mit dem Wissenstransfer mit Hilfe der Buchproduktion. Dass in den Niederlanden im 17. Jahrhundert Bücher in allen Sprachen und zu allen Wissensgebieten gedruckt wurden, ist bekannt. So enthielt der Ka- talog des Verlegers Cornelis Claeszoon (1610) nicht nur teurere lateinische Bücher, sondern auch viel Preiswerteres zu Schiffahrt, Handel, Navigation, Mathematik und Geometrie. Von diesen Büchern wurde ein erheblicher Teil ins Ausland verbreitet und ist noch heute in den einschlägigen Bibliotheken aufzuspüren. Eine Aufnahme der historischen niederländischen Buchbestände in der Universitätsbibliothek Greifswald zeigt, dass auf den Gebieten Mathe- matik (Arithmetik/Geometrie), Astronomie und Jurisprudenz die Drucke aus Holland dominieren, während deren Autoren selbst international sind. Sie pu- blizierten über Wissensgebiete, für welche die Leidener Universität auch den an Seventeenth-Century Elftes, London 1974. 22 Ich stütze mich hierbei auf den Aufsatz von Anna Oleüska: Im Herzen des südlichen Ostseeraums: Danzig als Kunstzentrum und Vermittler fremder Einflüsse in Polen im Zeitalter des Barock, in: Land und Meer (wie Anm. 3), S. 91-108. Auch die Forschungen von Ewa Manikowska: Der Erwerb von Kunst und Luxusgütern für Stanislaw August Poniatowski und das Danziger Netzwerk, ebda., S. 109-128, bieten auf diesem Gebiet wesentlich neue Erkenntnisse. 23 Karel Davids: Shifts of Technological Leadership in Early Modem Europe, in: A Miracle Mirrored: the Dutch Republic in European Perspective / hrsg. v. Karel Davids und Jan Lucassen, Cambridge 1995, S. 338-366.

375 Michael North europäischen Hochschullehrernachwuchs ausbildete. So hatte die Hälfte der Professoren der Universität Uppsala zwischen 1640 und 1660 ebenso in Lei- den studiert wie ein großer Teil der an die 1640 gegründete neue Universität Abo (finn. Turku) im 17. Jahrhundert Berufenen. Weit verbreitet neben den genannten Gebieten waren die nautischen Lehr- bücher. Zu erwähnen sind vor allem Claes Hendricksz. Gietermakers „t Ver- gulde licht der zeevaert ofte konst der stuur lieden", Amsterdam 1659, und die „Schat-kamer ofte kunst der stuurlieden" von Klaas de Vries, 1702; Gie- termakers „Vergulde licht" wurde bis ins ausgehende 18. Jahrhundert in den Seemannsschulen der nordfriesischen Inseln benutzt, die während der langen Winterabende die friesischen Steuerleute in der Navigation unterrichteten. Noch länger, nämlich bis 1802, waren die genannten Standardwerke von Gie- termaker und de Vries in Kopenhagen und Danzig in Gebrauch. Dabei wur- de Navigation, wie übrigens auch auf dem Fischland und dem Darß, oftmals in niederländischer Sprache gelehrt; und es bedurfte erst erhöhter Anstren- gungen eines merkantilistischen Staates wie Schweden, um 1777 ein erstes schwedisches Navigationshandbuch herauszubringen. Die niederländischen Handbücher hatten somit schließlich ihre Schuldigkeit getan und Norddeut- schen, Dänen und Schweden zunächst den Weg in die arktischen Walfang- gewässer und wenig später sogar in die Karibik und den Indischen Ozean ge- wiesen.24 Ein weiteres Beispiel für den Technologietransfer stellt die Ausbreitung der niederländischen Windmühlentechnologie dar, die sowohl durch die Ein- wanderung ausgebildeter Spezialisten als auch durch den Export vorfabri- zierter Mühlen oder entsprechender Maschinenteile erfolgte. Der Export der Windmühlentechnologie begann im 16. Jahrhundert mit der Errichtung von Entwässerungsmühlen im Rahmen der holländischen Kolonisation im Kö- niglichen und Herzoglichen Preußen und setzte sich an den norddeutschen, dänischen und schwedischen Küsten im 17. Jahrhundert fort. So beauftragte 1642 sogar der Große Kurfürst von Brandenburg den Ingenieur Georg Mem- hardt, sich in den Niederlanden über die Entwässerungstechnologie mit Hilfe von speziellen Windmühlen zu informieren. Die Holländermühle (poldermo- len), wie sie in Deutschland hieß (hollaender, holländare in Skandinavien), trat fortan ihren Siegeszug im Norden und Nordosten an. Neben den Entwässerungsmühlen kamen Ölmühlen und Papiermühlen in Skandinavien und im südlichen Ostseeraum in Gebrauch. Zentrale Bedeu- tung gewann aber vor allem die Einführung niederländischer Feinschnitt-

24 Vgl. Christian Koninckx: Recruitment of Dutch Shipwrights for the Benefit of the Royal Shipyard of the Admiralty at Karlskrona in 1718, in: Baltic Affairs (wie Anm. 1), S. 127-140; s. ebenso Martin Krieger: Kaufleute, Seeräuber, Diplomaten: der dänische Handel auf dem Indischen Ozean, Köln, Weimar, Wien 1998.

376 Die Niederlandisierung des Ostseeraumes sägemühlen, die in technischer Hinsicht entscheidend dazu beitrugen, dass Schweden, Finnland und das Neva-Gebiet Rohstofflieferanten für den Schiff- bau Schwedens und Russlands wie für den Weltmarkt überhaupt werden konn- ten.25 Denn von nun an konnten die im Schiffbau, Hausbau und Gewerbe be- nötigten vorgefertigten Planken, Masten, Dauben, Dielen an Ort und Stelle aus den Waldressourcen gefertigt werden, was zur Verlagerung des europäischen Waldwarenhandels führte.26 Während die Niederländer Riga, das als Lieferant von Flachs und Hanf sowie Holzprodukten Danzig überholte, zum Zentrum ihres Handels machten, stieg die Schiffbaunation England zum Hauptabneh- mer der Waldwarenproduktion des 18. Jahrhunderts auf. Englische Kaufleute ließen sich in St. Petersburg nieder und verdrängten dort allmählich die nieder- ländische Kolonie. Obwohl St. Petersburg zum entrepeit der französischen und englischen Güterwelten wurde, war die niederländische Kultur dort weiterhin, vor allem in den Sammlungen Katharinas der Großen, präsent.

25 Carolus Augustinus Davids: The Transfer of Windmill Technology from the Netherlands to North- Eastern Europe from the 16th to the Early 19th Century, in: Baltic Affairs (wie Anm. 1), S. 33-52. 26 Michael North: The Export of Timber and Timber By-Products from the Baltic Region to Western Europe, 1575-1775, in: ders.: From the North Sea (wie Anm.1), Sven-Erik Astrom: From Tar to Timber. Studies in Northeast European Forest Exploitation and Foreign Trade 1660-1860, Helsinki 1988, S. 44-55.

377 Robert Schweitzer Robert Schweitzer Nordosteuropa: Ergebnis „unvollendeter Penetration" oder „korrekten Nachfolge- staatsverhaltens"?

Es ist auf diesem Symposium mehrfach unternommen worden, Träume und Phantasiebilder alternativer Verläufe historischer Begebenheiten zui- schiaglichtartigen Illustration oder metaphorischen Verdeutlichung heran- zuziehen, so dass auch ich mich nicht scheue, meinen Beitrag mit einem Stück „ungeschehener Geschichte" zu beginnen.'

Ich stelle mir vor, Peter der Große schaut im Jahre 1910 aus dem Jenseits auf die Gebiete herab, die er 200 Jahre zuvor nach der Wende des großen Nor- dischen Krieges und im Vorgriff auf den noch lange nicht erreichbaren Frie- densschluss für Russland erworben hatte. Das ist gar kein so origineller Ge- danke; er steht in der Tradition von Fassmanns „ Gesprächen im Reiche derer Todten ",2 wo er auch u.a. den Zaren und allrussischen Kaiser ausführlich zu Wort kommen lässt. Peter der Große sieht zu, wie zum Beispiel in Wiborg (pinn. Viipuri, schwed. Viborg, russ. Vyborg) ein Denkmal zu Ehren der Eroberung der Stadt enthüllt wird, die er übrigens selbst geleitet hat. Er bewundert noch einmal die ausgesuchte strategische Lage der Inselfestung, mit der 1293 Schwe- den den Landweg über den karelischen Isthmus und den heimlichen Seeweg, der mit einer Landüberschreitung durch den Vuoksi in den Ladogasee führte, zugleich gesperrt hatte. Über 400 Jahre hatte es gedauert, bis dieser Einbruch — damals noch in das Vorfeld Novgorods — bereinigt werden konnte. Nun abei- befand sich die Festung wieder außerhalb des eigentlichen Russlands: die rus- sischen Festgäste hatten wenige Kilometer nach Verlassen der nahe gelegenen Hauptstadt, Peters Gründung, sich einer Passkontrolle unterziehen, Rubel ge- gen finnische Mark einwechseln und gegebenenfalls mitgeführte Alkoholika verzollen müssen. Der Ärger darüber steht ihnen noch deutlich ins Gesicht ge- schrieben, und in den Reden klingt vorwurfsvoll an, dass sie — die erste Gene- ration von in Miljutins reformierter Armee geschulten Offizieren — diese Stadt

1 Als rezente Beispiele aus der Historiographie des nordosteuropäischen Raums wären hier zu nennen Osmo Jussila: Jos olisi käynyt toisin: Suomen suuriruhtinaskunnan vaiheita [Wenn es anders gewesen wäre: Epochen aus der Finnlands Geschichte als Großfiirstentum], in: Boken om värt land: festskrift till professor Matti Klinge / hrsg. v. Kerstin Smeds u. a., Helsingfors 1996, S. 207-216; Heikki Ylikangas: Jossittelu hi- storiassa [„Was wäre gewesen, wenn..." in der Geschichte], in: Suomen kuvalehti 84 (2000), Nr. 22, S. 70. 2 David Fassmann: Gespräche In Dem Reiche derer Todten, 16 Bde., Leipzig, 1718-1741. Das Werk enthält 240 imaginäre Dialoge zwischen vergleichbaren historischen Persönlichkeiten, die die geschicht- lichen Ereignisse ihrer Lebzeiten problematisieren; das Gespräch zwischen „Petrus Magnus" und „Ivan Basilowiz II." umfaßt Nr. 97-100 in Bd. 6 (1725).

378 Nordosteuropa: Ergebnis „ unvollendeter Penetration"?

ein zweites Mal erobern müssten. Aber wann war sie denn verlorengegangen? Gut 100 Jahre nach Peters Großtat! lautet die Antwort. Alexander I. hatte nach der Eroberung ganz Finnlands im letzten schwedisch-russischen Krieg unserer Geschichte die bereits von Peter erworbenen und von seiner Tochter Elisabeth arrondierten Gebiete Finnlands mit Wiborg, der Vorfestung Petersburgs, dem autonomen Großfürstentum zugeschlagen, zu dem er das neu eroberte Gebiet erklärt hatte. Trotz aller Treue zur Autokratie ist die Kritik in den Festreden nicht zu überhören, dass der Autokrat seinen Spielraum zuungunsten Russlands ausgenutzt hatte.' Peter der Große wird die belehrenden Worte in Abwandlung, wieder hören, die er schon kennt: „ Wir haben die fremden Völker nicht unter- worfen, um ihnen Wohltaten zu erweisen, sondern weil wir sie brauchen." Man wird sich auf S'uvalov als Zeugen dafür berufen, dass Russland Finnland brau- che, weil sonst das Werk Peters des Großen unvollendet bliebe.4 Er wird sich erinnern, an Jurij Samarin, einen Mann der großen Reformen unter Alexander II., der die Verhältnisse südlich des finnischen Meerbusens, in den Baltischen Provinzen, für ähnlich untragbar gehalten hatte und bitter an Editha von Rah- den, eine der wenigen aus seiner dortigen Zeit verbliebenen Gesprächspartne- rinnen, schrieb: „ Wir Russen begehren doch nichts anderes, als in Russland zu sein, was die Franzosen in Frankreich und die Engländer auf dem gesamten Territorium der britischen Besitzungen sind. "5 Peter fällt ein, wie gereizt die Stimmung in der Stadt da unten ist, wo bisher vier Nationen in bester Eintracht miteinander gelebt haben. Auf dieser Alltagsebene tobt inzwischen der Verfas- sungskonflikt, den der jetzige Zar um die grundsätzliche Klärung der Frage ent- stehen ließ, ob Fragen der Wehrpflicht in Finnland, die eine Angelegenheit des gesamten Reiches waren, wirklich nur mit Zustimmung des Landtags von Finn- land geregelt werden könnten. Peter hat die Soldaten gezählt, die nach Finn- land verlegt wurden, um gerade mal die Verdoppelung des finnischen Wehrbei- trags von bisher 5600 Mann Friedensstärke zu erzwingen — es waren weit über Zehntausend! Er wendet sich ab in dem Gefühl, noch niemals gründlicher miss- verstanden worden zu sein... Noch sieben Jahre, und er wird sein Werk zerfal- len sehen.

3 Dieser Vorwurf ist in klassischer Weise 1819 durch den russischen Historiker Karamzin in seiner Denkschrift „Mnenie russkogo graidanina" an Alexander I. (Nikolaj Karamzin: Neizdannyja s&iinenija i perepiska, Bd. 1, Sanktpeterburg 1862, S. 5-7) formuliert worden; er gehörte zu den Standardargumenten der russischen nationalistischen Finnenfresser (finnoedy) an der Wende zum vorigen Jahrhundert; vgl. z.B. Michail MichailoviZ Borodkin: Finland: its place in the Russian State, St. Petersburg 1910, S. 15f. 4 Matti Klinge: „Mot geografin kann vi intet, och ni inte heller", in: Väst möter öst: Norden och Ryss- land genom historia [Festschrift Sune Jungar] / hrsg. von Max Engman, Stockholm 1996, S. 137-148, hier S 137. 5 Jurij Samarin: Correspondance de G. Samarine avec la baronne de Rahden / (publiee par D. Samarine), Moscou 1894, S. 29.

379 Robert Schweitzer

Diese Erzählung soll die Alternative zu einer abstrakteren Diskussi- on des Begriffes „unvollendete Penetration" bilden, der immer wieder als Charakteristikum der Gebietserwerbungen und Oberhoheitswechsel im nordöstlichen Ostseeraum herangezogen wird, aber eigentlich seine Be- deutung für das gesamte einmal abwertend „Zwischeneuropa" genannte Ge- biet zwischen Petsamo und der Peloponnes hat. Alle dortigen Länder hat zu irgendeiner Zeit das Schicksal der Oberhoheit einer ausländischen He- gemonialmacht erreicht, aber zugleich genossen sie verschieden stark aus- geprägte Autonomierechte, die ihnen oft bereits beim Herrschaftsübergang zugestanden worden waren. Oftmals wurde versucht, diese Sonderrechte einzuschränken, obwohl damit immer ein Loyalitätsverlust zugunsten der jeweiligen um die Gebiete konkurrierenden Hegemonialmacht verbunden war. Bei einem Herrschaftswechsel begann dieser Prozess von neuem; die Baltischen Provinzen (das heutige Estland und Lettland) mit ihrem Über- gang von polnischer und/oder schwedischer zu russischer Oberhoheit gelten als das klassische Fallbeispiel. Kürzlich hat Ralph Tuchtenhagen den Vorgang in seinem Vortrag „Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa" vor dem Baltischen Historikertreffen in Göttingen am 9./10. Juni 2001 mit der von ihm bevorzugten Begriffsvariante „Interpenetration" belegt. Im Fal- le des Übergangs der Baltischen Provinzen und Finnlands von Schweden an Russland löste er sich von den klassischen Sichtweise, dass die Privi- legienbestätigungen von 1710 und 1809 nur aus taktischen Gesichtspunk- ten zur Absicherung des Herrschaftswechsels erfolgten und deshalb nur dann zurückgenommen werden konnten, wenn von keiner anderen kon- kurrierenden Hegemonialmacht mehr Gefahr ausging.6 Statt dessen wies er im einzelnen nach, dass Russland die erfolgreichen und anwendbaren Elemente des schwedischen Verwaltungssystems als Modell für eigene Reformbestrebungen ansah und deshalb keinen Grund sah, in den neuen Grenzmarken Strukturen zu zerschlagen, die es selbst im Reich aufbau- en wollte. Allerdings bedeutet die Formulierung in meinem Thema nicht etwa eine Entscheidungsalternative zwischen zwei Erklärungsmodellen — etwa dass ich ein Penetrationsmodell aufbaue, mit Argumenten demontiere und dann ein Modell des „korrekten Nachfolgestaatsverhaltens" dagegen setze. Beides sind vielmehr Grenzwerte, die ein Kontinuum von Verhaltensmu- stern abstecken. Die Anführungszeichen sind absichtlich im Hinblick da- rauf gesetzt, dass Max Engman diesen Begriff nur auf kleinere Staaten auf

6 Siehe z.B. Piotr S. Wandycz: The Lands of Partitioned Poland 1795-1918, Seattle 1974 (A History of East Central Europe; Bd. 7), S. 89.

380 Nordosteuropa: Ergebnis „ unvollendeter Penetration"? dem Boden eines zerfallenen Imperiums anwendete.' Es ist aber durchaus berechtigt, auch das Verhalten von Hegemoriialmächten nach den Kriterien „korrekten Nachfolgestaatsverhaltens" zu analysieren. Es macht ja keinen Unterschied, ob die Titularnation eines Kleinstaates auf dem Boden eines früheren Imperiums die Rechte dort berechtigt ansässiger weiterer Nationa- litäten dieses Imperiums einschränkt (oder erhält!) oder eine neue Hegemo- nialmacht die Partizipationsmöglichkeiten der Bewohner eines erworbenen Gebietes reduziert (oder nicht!), die diese unter der vorherigen Hegemonial- macht genossen. Hier soll besonders hervorgehoben werden, dass das Bild von der „un- vollendeten Penetration" gerade auch für die sog. russische Zeit in Nord- osteuropa seine Berechtigung hat. Auf die Frage, ob Unfähigkeit oder Un- willen der Grund war, ist zu versichern, dass alle Verschwörungstheorien, es habe in Petersburg immer einen master plan zur Russifizierung und Ho- mogenisierung des gesamten Reiches gegeben, nicht bewiesen sind' und zahlreiche gegenteilige Beispielen angeführt werden können. Ein zweima- liges Scheitern der Autonomiepolitik im Falle Polens hat keineswegs die Forderung nach ihrem Abbruch in den anderen Autonomiegebieten nach sich gezogen: ich erinnere daran, dass 1863, im Jahre der Niederschla- gung des zweiten polnischen Aufstandes, Finnland de facto zum konstitu- tionell regierten Autonomiegebiet wurde. Man ist sogar so weit gegangen, Maßnahmen, die die Eigenentwicklung in solchen Gebieten besonders för- derten, als besonders geschickte Tarnung einzustufen, die Russland ermög- lichte, Gebiete nacheinander zu „russifizieren", die es gleichzeitig nicht hätte integrieren können.' Eine modernere Parallele zu dieser Sichtweise bildet die Ansicht, Russ- land habe die Selbstverwaltungsstrukturen zoB. in Finnland nur deshalb auf-

7 Vgl. u.a. Max Engman: Consequences of Dissolving an Empire: the Habsburg and Romanov Cases, in: Emancipation and Interdependence: the Baltic States as New Entities in the International Economy 1918-1940 / hrsg. v. Anders Johansson u.a., Stockholm 1994 (Studia Baltica Stockholmensia; Bd. 13), S. 21-33; När imperier faller: Studier hing riksupplösningar och nya stater / hrsg. vom dems., Stockholm 1994; ders.: Imperien und Nachfolgestaaten — Liquidation und Nostrification, in: Finnland und Deutsch- land / hrsg. von Manfred Menger und Dörte Putensen, Hamburg 1996 (Greifswalder historische Studien; Bd. 1), S. 260-280. 8 Im Gegenteil ist eine Gestalt wie der einflussreiche erzkonservative Prokuror des Heiligen Synod, Po- bedonoscev, den man als den Drahtzieher hinter dem Übergang Russlands zu einer restriktiven Finnland- politik ab 1899 bezeichnet hat, von der modernen Forschung in dieser Hinsicht „rehabilitiert" worden; vgl. Tuomo Polvinen: Riket och gränsmarken, Helsingfors 1988, 5. 82-86; skeptisch schon Robert Schweitzer: Autonomie und Autokratie: die Stellung des Gfsm. Finnland im Russischen Reich 1863-1899, Gießen 1978 (Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas; Bd. 19), S. 1-10, 184-199. 9 Vgl. Robert Schweitzer: „Mäste det ske?" Hanteringen av politiska och konstitutionella konflikter före februarmanifestet, in: Historisk tidskrift för Finland, 84 (1999), S. 388-438, hier S. 397f. gegen Polvinen (wie vor. Anm., S. 33).

381 Robert Schweitzer

rechterhalten, weil (und nur solange wie!) sein eigener Apparat nicht zu de- ren Verwaltung in der Lage gewesen sei.m Dies ist letzten Endes nur eine rationalere Version der master plan-Theorie. Sie lässt außer Acht, dass Ver- waltung kein Selbstzweck ist, sondern sich hierarchisch in in einen Ziel- Mittel-Komplex einfügt. Ziel der russischen Politik in Finnland nach 1809 war aber die glaubwürdige Umsetzung der Rechtszusicherung von Porvoo (die wiederum Mittel zur Konsolidierung eines als Vielvölkerstaat ange- legten Reiches sein sollte); das effektivste Mittel für diese glaubwürdige Umsetzung jedoch war die Erhaltung der Verwaltungsstrukturen — zu ir- gend einer Art militärischer Besetzung oder ausbeutender Misswirtschaft hätte die russische Verwaltung bestimmt die Mittel gehabt." Für die Zeit vor dem Großen Nordischen Krieg will ich mich auf weni- ge Hinweise begnügen. Klaus Zernack hat schon in seinem Festvortrag zur Eröffnung dieses Symposiums12 auf die fehlende deutsche bäuerliche Sied- lung und Stadt-Land-Gliederung in Altlivland hingewiesen. Es hat wohl der gemeinsame Zug des Nordostens, dass Bauern- und Unterschicht von der Führungsschicht sprachlich und national geschieden sind, in einer solchen unvollendeten Penetration seinen Ursprung. Betrifft dies noch eher innere, naturwüchsige und längerfristige Prozesse, so konzentrieren sich die Bei- spiele nach dem Zerfall des altlivländischen Herrschaftskonglomerats auf das Handeln der Eroberer oder Erben der Oberhoheit. Hier möge dazu die folgende reliefartige Charakterisierung genügen: Die Stände Livlands erhalten bei der Unterstellung unter Polen im Livlän- dischen Krieg einerseits eine Zusicherung, dass der Status quo erhalten blei- be — in dem schon auf dieser Tagung mehrfach erwähnten Privilegium Si- gismundi Augusti von 1561. Diesen Zusicherungen wird ein nachträgliches Abrücken der Oberherrschaft von deren Inhalt, ein Beschneiden des maxi- malen Umfangs, gegenübergestellt — z.B. der Anerkennung evangelischen Bekenntnisses im Privilegium Sigismundi Augusti die kräftige Förderung der Gegenreformation. Alle diese Maßnahmen, zusammenfassbar als Ab- bau der erst zugesicherten Andersartigkeit, blieben aber wiederum dadurch unvollendet, dass noch während hinhaltenden Widerstands die Machtver- hältnisse sich änderten. Der deus ex machina war der Wechsel der Ober- herrschaft — oder dann 1905 und 1917 die Revolutionen.

10 Heikki Ylikangas: Finlands administrativa ställning inom det ryska riket, in: Historisk tidskrift für Finland 80 (1995), S. 289-308, hier S. 308. 11 Als Beispiel kann noch der gleichzeitige Versuch herangezogen werden, in dem vom Osmanischen Reich erworbenen Bessarabien eine autonome Selbstverwaltung einzurichten, der abgebrochen wurde, weil die russische „Fremdherrschaft" das Land besser verwaltete als die desinteressierten einheimischen Bojaren; vgl. George Frederick Jewsbury: The Russian annexation of Bessarabia 1774-1828, Boulder u.a. 1976, und schon Georg von Rauch: Russland: staatliche Einheit und nationale Vielfalt, München 1953, S. 54. 12 Klaus Zernack: Im Zentrum Nordosteuropas, in diesem Band S. 29-41, hier S. 33.

382 Nordosteuropa: Ergebnis „ unvollendeter Penetration"?

Begünstigende und ungünstige Faktoren für den Erhalt von Autonomie- strukturen in einem neuerworbenen Gebiet

Faktoren mit ... begünstigen Autonomie- ... begünstigen Autonomieabbau, Bezug auf... erhalt, wenn ... wenn ...

. .. Poten- ... hauptsächlich das qualifizierte ... hauptsächlich das Massen- Human- tial ... Humankapital den erwarteten Zu- kapital (Rekruten, Leibeigene), Steuerein- gewinn bildet, nahmen oder Rohstoffe den erwarteten Zu- gewinn bilden.

... Ideolo- ... die betroffenen Bevölkerung ... die betroffenen Bevölkerung als zivi- gie ... als zivilisatorisch fortgeschrittener lisatorisch zurückgeblieben gilt oder eth- gilt und ethnisch deutlich von der nisch als nationale Irredenta reklamiert Staatsnation der Hegemonialmacht wird. unterschieden ist.

... Militär- ... das Gebiet noch umkämpft ... das Gebiet fest in eigener Hand bzw. strategie ... oder die Erwerbung ungesichert die Erwerbung gesichert ist. und eine schnelle Pazifizierung notwendig ist.

...Loyalitäts- ... effektive Kontrolle des Ge- ... Irredentismus auf der Seite der Elite sicherung ... biets durch eine loyale Elite zu er- des Gebiets zu erwarten ist oder diese warten ist, weil entweder geringe so unflexibel ist, dass die sozialen Span- Spannungen zwischen ihr und der nungen zum offenen Ausbruch kommen Unterschicht bestehen oder die Ehi- können. te zur Herrschaftssicherung auf die Rückendeckung durch die Hege- monialmacht angewiesen ist.

... Modell- ... Verwaltung und Verfassung ... Züge der Verwaltung und Verfassung charakter ... des fraglichen Gebiets Errungen- des fraglichen Gebiets für die Ordnung schallen aufweisen, die die He- im Gesamtstaat der Hegemonialmacht gemonialmacht für ihr gesamtes gefährlich oder mit ihr inkompatibel sind Staatsgebiet für erstrebenswert hält. oder ihr qualitativ nicht gleichwertig sind.

Im Völkerrecht gibt es den Begriff animus territorium sibi habendi — z.B. fehlte er bei der Besatzungsmacht im Falle einer vorübergehenden Be- setzung wie im Nachkriegsdeutschland. Ich stelle die Frage, ob es einen ver- gleichbaren animus territorium sibi penetrandi bei den Hegemonialmächten 383 Robert Schweitzer

Nordosteuropas gegeben hat. Für die polnische Livlandpolitik haben Jür- gen Heyde und Boguslaw Dyba.s in ihren Beiträgen gezeigt, dass es schon schwer ist, einen einheitlich animus überhaupt zu isolieren.13 Für die schwedische Zeit möchte ich nur auf die Erscheinung hinweisen, dass die versuchten Penetrationen — Güterreduktion, Hakenbücher — sehr verschieden beurteilt werden: Edward Thaden, wohl der beste Kenner der Randgebietspolitik des Zarenreichs, hat solche Phasen das Ausspielen von „good government" gegen „self-government" genannt. Welch eine Palette von Optionen und Entscheidungsdilemmata eine He- gemonialmacht bei ihrer Autonomiepolitik zu beachten hatte — insbesonde- re, wenn auch noch nationale Heterogenität zwischen Volk und regionalen Eliten hinzukam — soll das Schema auf S. 383 verdeutlichen:14 Im Folgenden will ich mich auf die „Russische Zeit" konzentrieren, weil sie für die Frage nach einem Geschichtsraum Nordosteuropa besondere Be- deutung hat. Klaus Zerhack hat die fruchtbare Anregung gegeben, Nordost- europa als Geschichtsraum eigenen Rechts einzuführen, der — gemeinsam mit Ostmitteleuropa, Südosteuropa und Russland — unter jeweils epochen- bezogen wechselnden Abgrenzungen den Gegenstand der Osteuropäischen. Geschichte als Disziplin bildet.15 Zugleich hat er aber das Ende dieses Ge- schichtsraums mit 1809 angesetzt — der Eroberung Finnlands und „zweiten Teilung Schwedens".16 Hatten wir 1809 schon einmal die sog. „unnatürliche Zweiteilung des Ostseeraums" der Sowjetzeit nach 1940, oder ist das nur ein erster Eindruck, den die so ähnliche Färbung gleicher Flächen im Ge- schichtsatlas auslöst? Kernbeispiel soll dabei das entscheidende Ereignis des Jahres 1809 in diesem Zusammenhang sein: jener Landtag von Porvoo (schwed. Borgä), auf dem Zar Alexander I. Finnlands später so umstrittenen Sonderstatus be- gründet haben soll. Nach späterer finnischer Interpretation hat der Zar dort im Austausch dafür, dass ihm noch im laufenden Krieg der Treueid der Stände Finnlands entgegengebracht wurde, die schwedische Verfassung als für Finnland in allen Punkten in der Weise fortgeltend anerkannt, dass der

13 Jürgen Heyde: Die Livlandpolitik der polnisch-litauischen Adelsrepublik, in diesem Bd., S. 333-342; Boguslaw Dyba: Polen-Litauen und Livland im 17. und 18. Jahrhundert — drei Formen ihrer Verbindung, ebda., S. 343-352. 14 Ausführlich dazu Robert Schweitzer: The "Baltic Parallel" — Reality or Historiographical Myth: the Influence of the Tsarist Government's Experience in the Baltic Provinces an its Finnish Policy, in: Journal of Baltic Studies 15 (1984), S. 195-221 (erw. dt. Fassung u.d.T.: Die „Baltische Parallele", in: Zeitschrift für Ostforschung 33 (1984); S. 551-577), hier S. 201-203. 15 Klaus Zernack: Osteuropa: eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, S. 30-66. 16 Ebda., S. 57f., 73f.; vgl. auch ders.: Grundfragen der Geschichte Nordosteuropas, in: ders.: Nordost- europa: Skizzen und Beiträge zu einer Geschichte der Ostseeländer, Lüneburg 1993, S. 9-21, hier S. 11 u. 19.

384 Nordosteuropa: Ergebnis „ unvollendeter Penetration"?

Zar in Finnland nur die Rechte des Königs von Schweden habe. Die Finnen wollten in Porvoo gern getan haben, was die Norweger 1814 in Eidsvoll wirklich machten: sich erst in Gestalt ihrer Repräsentanten zum Souverän erklären und dann einen Herrscher, auf eine Verfassung verpflichtet, wäh- len. Das stimmt schon deshalb nicht, weil die Finnen bereits einen Treueid geschworen hatten und sich auf die Einberufung des Zaren hin versammel- ten, als sei er bereits ihr Souverän. Der Wortlaut der Akten sprach von einer globalen Zusicherung, das angestammte Rechtssystem und die individuellen Standesrechte zu erhalten. Es gab nicht einmal einen Punktekatalog wie bei den Kapitulationen der Baltischen Provinzen 100 Jahre zuvor — andererseits nahm aber der Zar in Person den für diese Zeremonie geschaffenen Thron Finnlands ein, der für die Ostseeprovinzen 1710 auch gefertigt war, aber wegen Abwesenheit Peters bei der Zeremonie leer stand: bedeutungslos war also der Akt von Porvoo nicht. Die Klärung, was in Porvoo eigentlich geschah — Osmo Jussila hat sie geieiste-07 — fördert unser Verständnis dieser unvollendeten Penetrationen bzw. des „korrekten Nachfolgestaatsverhaltens" entscheidend. Es handelte sich bei dem „Akt von Porvoo" um ein alteuropäisches Zeremoniell für den Übergang eines Landes an einen neuen Herrscher; beide nahmen sich ge- genseitig an. Ein Land war dabei etwas anderes als ein abgetretener Ge- bietsstreifen; es war gedacht als eine unverwechselbare Einheit, mit der be- stimmte Rechte der Bewohner als einzelne Stände und in deren Gesamtheit verbunden waren. Letzteres fand z.B. in der Veränderung der Titulatur und des Wappens Ausdruck. Andererseits gab die Anerkennung als Herrscher diesem unbestrittene Herrscherrechte. Selbst in einem alt-konstitutionellem Land wie Schweden, wo der Herrscher vielfach die Zustimmung der Stände brauchte, war fast unumstritten, dass die Stände kein Recht hätten, eine Pro- position des Monarchen in ihrem Kernanliegen völlig abzulehnen. Aber selbst für einen abgetretenen Gebietsstreifen hätten nach den seit dem 17. Jh. entwickelten Theorien und Techniken eines guten Friedens- schlusses bestimmte Garantien für seine Bewohner festgelegt werden müs- sen — für die 1710 eroberten Teile Finnlands waren dies, wie üblich, Um- siedlungsoption und Religionsfreiheit einschließlich der Versorgung mit in Schweden ausgebildeten Pfarrern. Der schwedisch-russische Frieden von Hamina 1809 erwähnte ausdrücklich, dass solche Bestimmungen dort über- flüssig seien, da der Zar das Notwendige bereits selbst gewährt habe.

17 Zuerst Osmo Jussila: Maakunnasta valtioksi: Suomen valtion synty [Vom Kronland zum Staat: die Entstehung des finnischen Staates], Porvoo u.a. 1987, S. 43-83, und wieder ders.: How did Finland come under Russian Rule? in: Finland and Poland in the Russian Empire / hrsg. von Michael Branch, Janet M. Hartley, Antoni Mqczak, London 1995 (SSEES Occasional Papers; no. 29), S. 61-73.

385 Robert Schweitzer

Für die sogenannte unvollendete Penetration ist also konstitutiv, dass der Gebietsübergang — auch der der Baltischen Provinzen an alle drei He- gemonialmächte — nach altkonstitutionellem Muster erfolgt. Natürlich ließ dieses Gegenüber von Land und Herrscher weiten Spielraum für die Macht- verschiebungen zwischen Monarch und Ständen. Aber wie ernst dabei die Standesrechte genommen wurden, zeigt ein Beispiel aus der Zeit Alexan- ders III.: er tadelte seinen Generalgouverneur Heiden 1882 öffentlich für den Missgriff, einen finnischen Bürger russischer Nationalität bei einer Ni- hilistenrazzia ohne Gerichtsbeschluss festgesetzt zu haben — und das ein Jahr nach dem tödlichen Bombenattentat auf seinen Vater und nachdem er selbst den Generalgouverneur zum Durchgreifen aufgefordert hatte! Dass mit den 1809 zugesicherten Rechten jedem Bürger Finnlands — anders als in Russland — die habeas-corpus-Rechte zustanden, war selbst in dieser innen- politischen Ausnahmesituation unumstritten. Anders als oft dargestellt hat die russische Seite tatsächlich ernsthaft die in Porvoo gemachten Zusicherungen eingehalten. Der finnisch-russische Verfassungsstreit ab 1899 entzündete sich auch daran, dass auf finnischer Seite die alteuropäische Bestätigung von Ständerechten inzwischen zu ei- ner modernen-konstitutionellen Bestätigung einer Sonderverfassung für ein Territorium uminterpretiert worden war.18 Freilich war die Reaktion der rus- sischen Seite, diesen gordischen Knoten mit einem Machtwort des Auto- kraten durchzuhauen, ein schwerer politischer Fehler und eine Provokation für Finnland, aber kein Verfassungsbruch im Lichte dessen, was Russland ursprünglich zugesagt hatte.19 Im Hinblick auf die Frage nach Nordosteuropa als Geschichtsraum ist aber darauf hinzuweisen, dass diese russischen Gebietsübernahmen des 18. und 19. Jh. ihn nicht zerstörten, sondern recht eigentlich erst — oder wieder — schufen. Russland vollzog um die Wende zum 19. Jahrhundert zwei Wieder- vereinigungen in diesem Raum. Es stellt das 1795 aus der Teilungsmasse des polnischen Staates erworbene Kurland nicht auf einen Fuß mit den übrigen Teilungsgebieten, sondern macht es — im Rahmen der Revozierung der von Katharina der Großen eingeführten Statthalterschaftsverfassung — wieder zu einer deutschen Ostseeprovinz Russlands, die es eigentlich nicht gewesen war, und unterstellt es dem gemeinsamen Generalgouverneur. Mit Ausnah-

18 Dazu ausführlich Schweitzer: Autonomie (wie Anm. 8). 19 Grundlegend zu dieser Frage weiterhin Osmo Jussila: Suomen perustuslait venäläisten ja suomalaisten tulkintojen mukaan 1808-1863 [Finnlands Grundgesetze in den Interpretationen der russischen und der finnischen Seite 1808-1863], Helsinki: 1969 (Historiallisia tutkimuksia; Bd. 77), insbesondere die ausführ- liche englische Zusammenfassung S. 263-279; zu vorherigen, unbeachtet gebliebenen „Verfassungsbrü- chen" s. Schweitzer: „Mäste det ske?" (wie Anm. 9).

386 Nordosteuropa: Ergebnis „ unvollendeter Penetration"? me Lettgallens war damit Altlivland als Gebiet mit regionaler deutsch ge- prägter Herrschaft wiederhergestellt. Von der zweiten Wiedervereinigung haben wir eingangs gehört. Alexan- der I. erfüllte die Vision Peters des Großen in recht verstandener Weise: er schuf ein Finnland, weil Russland es brauchte — als einen neuen, genu- in nordosteuropäischen Akteur. Es entstand ein Autonomiegebiet mit solch günstigen Bedingungen im Inneren und vom Umfang her so saturiert (das Großfürstentum erhielt ja nicht nur (ab 1812) seine zweitbedeutendste Stadt Wiborg, sondernd die Torniogrenze und die Alandinseln — altschwedische Gebiete!), dass jeglichen Revindikationsversuchen Schwedens vom Anfang und auf Dauer in Finnland selbst der Boden entzogen war; außenpolitisch war natürlich der Erwerb Norwegens die wesentliche Kompensation. Auf dem Gebiet der internationalen Politik war damit die „Ruhe im Norden" ge- schaffen (die niemals eine Grabesruhe war!), die Gründung Petersburgs — eine in der europäischen Geschichte einmalige Gravitationsverlagerung, die eigentlich die Reperkussionen eines Meteoreinschlages hätte haben müs- sen — war nach einem Jahrhundert sicherheitspolitisch gesehen friedlich abgewickelt. Von zwei befriedeten Provinzen bewacht lag die Stadt offen wie ein New York des Ostens, östlicher Brennpunkt eines Ellipsoids sozi- aler und wirtschaftlicher Mobilität, das der Ostseeraum schon seit dem Nor- dischen Krieg war und weiterhin blieb. Trotzdem ist der Begriff Nordosteuropa der angemessenere für den Ost- seeraum seit dem Ende der Glanzzeit der Hanse, für das Operationsfeld der in konkurrierender und koaxialer Expansion aufeinander treffenden Hegemo- nialmächte Schweden und Russland. Denn die Teilung Polens ließ sich eben nicht wie die Teilung Schwedens in einer auf Russland ausgerichteten Lösung im Rahmen der „Ruhe des Nordens" bereinigen, so dass der südliche Ost- seeraum in seinen ostmitteleuropäischen Bezügen verblieb. Alexander I. und Adam Jerzy Czartoryski hatten es beide einen Augenblick gehofft, und die finnische Wiedervereinigung gilt ja als der Test für eine mögliche Wiederver- einigung der Teilungsgebiete mit Kongresspolen.2° Aber allein schon die Vor- stellung, wie polnische Zeitgenossen ein Polen ohne Krakau, Posen und Lem- berg (poln. Kraköw, Poznati, Lwöw) als „wiedervereinigt" hätten betrachten können, solange manche Träume noch Kiev einschlossen, macht klar, dass dieser Kraftakt einer Vollendung Nordosteuropas durch eine Amputation und Nordverlagerung der polnischen Rzeczpospolita nicht zu leisten war.

20 Einzelheiten siehe bei Päiviö Tommila: La Finlande daris la politique Europenne en 1809-1815, Helsinki 1962 (Studia historica; 3), S. 267-274, 421-434; jetzt bei Johannes Remy: Läntiset kuvernementit venäläisessä ja puolalaisessa poliittisessa ajatelussa [Die russischen Westgebiete im politischen Denken Russlands und Polens], in: ...vaikka voissa paistais? Venäjän rooli Suomessa: Osmo Jussilan juhlakirja / hrsg. von Jorma Selovuori, Porvoo u.a. 1998, S. 81-107, hier S. 83-96.

387 Robert Schweitzer

Die Dimension des Erfolgs der russischen Politik in Finnland wird erst klar, wenn man sich wieder einen Traum erlaubt und sich als ungeschehene Geschichte einen vergleichbaren Vorgang wie die Herausbildung Finnlands im „Süden Nordosteuropas" vorzustellen versucht — und Jü.rate Kiaupien hat die nordosteuropäische Dimension Litauens ja durchaus aufgezeigt.21 Um die der Saturierung Finnlands vergleichbare Einstellung in Litauen er- reichen zu können, hätten die führenden Köpfe der Czartoryski, Sapieha und Radziwill 1815 sinngemäß gesagt haben müssen:

„Schluss mit den ewigen Kämpfen gegen Russland, die eine unkluge Poli- tik in Warschau uns beschert und deren Last wir tragen müssen. Wir vergessen Warschau, Krakau und erst recht Kiev und setzen jetzt auf Litauen in den Gren- zen von vor 1793, arrondiert um das Gouvernement Vitebsk, unter unserer Füh- rung, mit katholischer Religionsfreiheit, polnischem materiellen Recht, einem Sejmik, einer polnischsprachigen Landesuniversität Wilna (poln. Wilno, lit. Vil- nius) und einer Wojewodschaftsverwaltung — und wenn man uns das lässt, wol- len wir nichts anderes; und wem der Sinn nach höherem Ruhme steht, der kann in Russland Karriere machen."

Man sieht sofort, dass für eine „finnländische Lösung", also der Schaf- fung eines Kleinlitauen als viable state mit einer saturierten polnischen Ober- schicht und einer emanzipationsfähigen litauischen Unterschicht damals — vor allem auch im ideologischen Bereich — alle Voraussetzungen fehlten. Gleich faszinierend aber ist, was im Inneren von Russisch-Nordosteuro- pa nach 1809 geschieht. Das alexandrinisch-nikolaitische Russland hatte an seinem Anfang ein Konzept des erfolgreichen Managements der Heteroge- nität Russlands; es wird am besten erkennbar in der Bildungspolitik, die im Imperium nach den ursprünglichen Plänen drei von acht Universitäten mit nichtrussischer Unterrichtssprache vorsah. Diese Politik wurde zwar nur in den ersten Jahren Alexanders I. angedacht und konkretisiert, aber die Re- formen des Jahrhundertbeginns und die Rolle des Retters Europas sind für fast ein Jahrhundert die Quelle des russischen Staatsoptimismus gewesen. Die Vorstellung, das Land befinde sich im Prinzip auf dem richtigen Weg, hat auch der Autonomiepolitik im Großen und Ganzen Stabilität verliehen. Dieser Optimismus verlieh Russland die Souveränität, die Überlegenheit der Strukturen in den übernommenen Gebieten unter der Prämisse anzuer- kennen, dass man ein Niveau, das man ja ebenfalls erreichen werde, nicht vorher abzubauen brauche.22 Hatte das Russische Kaiserreich insofern im

21 Jürate Kiaupien: Das Großfärstentum Litauen und Nordosteuropa, in diesem Band S. 267-307. 22 Diese Modellfunktion ist oft bestritten worden, z.B. von Janet M. Hartley: The "Constitutions" of Finland and Poland in the Reign of Alexander I: Blueprints for Reform in Russia? in: Finland and Poland

388 Nordosteuropa: Ergebnis „unvollendeter Penetration"?

Hintergrund eine einheitliche Doktrin für seine Autonomiepolitik, so wur- de sie auf die einzelnen Gebiete bewusst nicht nach einem Generalsche- ma, sondern fallweise nach den Problemen und Chancen, gewiss auch nach Sympathien und Traumata, aber jedenfalls bar jeden Schematismus' zuge- schnitten. Russland verzichtete also weitestgehend auf eine Umgestaltung (ausge- hend von der Gleichung „self-government is good government", die sich ja in Finnland so eindrucksvoll bestätigte, und mit der man ja nach 1812 sogar Bessarabien — vergeblich — zu beglücken versuchte!), erhielt die Strukturen und versuchte zunächst nur, auf ihre Weiterentwicklung zugunsten der Be- völkerungsmehrheiten hinzuwirken, wobei der direkte Eingriff die Ausnah- me blieb. Man hat diese Politik — den Druck auf den deutschbaltischen Adel zur Verwirklichung einer Agrarreform oder die an den Ständen vorbei er- lassenen Verordnungen zugunsten der finnischen Sprache in Finnland — als Politik des divide et impera diffamiert. Man kann sie aber auch positiv be- werten als den Versuch, ein Kräftegleichgewicht in den autonomen Gebie- ten zu fördern, das eine Entwicklung der Gesellschaften ohne dauernde di- rekte Eingriffe der Zentralregierung ermöglichte. In diesem Schutzraum vollzog sich in den Autonomiegebieten nun der gleiche Prozess wie z.B. in Schweden — die evolutionäre Umgestaltung alt- konstitutioneller Mitbestimmungspositionen von ständischen Vertretungen in neukonstitutionelle eines Parlaments. Gleich nach der Niederlage von 1809 reduzierte Schweden den Vierständelandtag auf ein Zweikammerpar- lament, und welcher politische Reifungsprozess die bescheidene finnische Autonomie erlaubte, zeigt der schlagartige Übergang zu Einkammerparla- ment und Frauenwahlrecht nach der Revolution von 1905. Die Autonomie Finnlands wurde damit zum Idealziel der Stellung der kleinen Völker im russischen Reich — vor allem für die Esten und Letten, aber selbst verständige Deutschbalten sahen in einer Öffnung der stän- dischen Selbstverwaltung für die Mehrheitsbevölkerung die einzige Zu- kunftsperspektive.23 Für Russland war dieser Prozess schmerzhaft; es hatte sich nur in Po- len durch die polnischen Aufstände von der Pflicht „korrekten Nachfolge- staatsverhaltens" befreit gefühlt. Aber selbst das so sehr begünstigte Finn- land verließ die Geschäftsgrundlage: aus der schwebenden Balance von Land und Herrscherrechten wurde eine Trennung von Herrscher und Land,

(wie Anm. 17), S. 41-59, die sich aber nicht mit den Argumenten Peter Scheiberts auseinandersetzt (Peter Scheibert: Eine Denkschrift Speranskijs zur Reform des Russischen Reiches aus dem Jahre 1811 in: For- schungen zur osteuropäischen Geschichte 7 (1959), S. 26-58). 23 Zu den diesbezüglichen Vorstößen z.B. Woldemar von Bocks s. Reinhard Wittram: Baltische Ge- schichte, München 1954, S. 209.

389 Robert Schweitzer

Russland wurde als Ausland, der Zar nur als Großfürst von Finnland be- trachtet. Dem Monarchen wurden nur die Rechte des Königs von Schweden eingeräumt, ein übergeordnetes Interesse des Gesamtstaats und somit Rech- te Russlands gegenüber Finnland wurden vehement bestritten, ein bereits entstandener Gesamtreichspatriotismus verschwand. Die Verwaltung durch Einheimische, die ursprünglich die persönlichen Rechte der Angehörigen der vier Stände in praktischer Anwendung garantieren sollte, wurde so um- interpretiert, dass Russland jegliche politischen Gestaltungsrechte in Finn- land bestritten wurden. Dies soll nicht als moralischer Vorwurf gegenüber Finnland hingestellt werden; diese Heranziehung vorkonstitutioneller Institutionen und Kon- strukte und ihre Reinterpretation nach aktuellen verfassungspolitischen Be- dürfnissen war eine natürliche Folge des Modernisierungsprozesses, in dem Substitutionen ja oft eine Rolle spielen. Ich will nur den moralischen Vor- wurf neutralisieren, der dem Russischen Reich gemacht wurde, als es sei- nen Gestaltungsspielraum, auf den es niemals wirklich verzichtet hatte, an- gesichts dieser Entwicklung einzufordern begann. (Ob es klug war bzw. oder ob es in jedem Falle klug war, bleibt aber die offene Frage — zumal dieser Versuch unter der schrillen Begleitmusik eines primitiven Nationalis- mus und rabulistischer Rechtsdebatten stattfand.) Die russischen Patrioten auf ihrer eingangs vorgestellten imaginären Fei- er in Wiborg hatten nämlich übersehen, dass die nationalen Bewegungen der kleinen Völker in ihren maßgeblichen Teilen an der Autonomie im Rus- sischen Reich als Zukunftsperspektive festhielten. Der törichte Versuch Russlands, der letzte Nationalstaat Europas zu werden, statt den Weg zum erfolgreichen Vielvölkerstaat weiter zu beschreiten, hat ihm die Existenz gekostet. Wegen 5600 finnischer Soldaten hat Russland die Blicke der fin- nischen Gesellschaft, die Preußen den Überfall auf Dänemark 1864 nie ver- ziehen hatte, seit 1890 auf das Deutsche Reich gelenkt in der Hoffnung, es werde endlich Russlands Feind werden. Nordosteuropa mit seinem Kernraum zwischen Litauen und Finnland und den mit diesem Kernraum in einer Symbiose aus Einwirkung und Rückwirkung stehenden, wenngleich auch nach Nordeuropa, Ostmitteleuro- pa und Osteuropa gravitierenden Rand- (und zeitweise Hegemonial-)mäch- ten Schweden, Preußen-Deutschland, Polen und Russland hat also über die „zweite Teilung Schwedens" hinaus geblüht. Dies war möglich, da diese Mächte diese Gebiete nur unvollendet zu penetrieren vermochten und viel- fach eher ein „korrektes Nachfolgestaatsverhalten" anstrebten. Nordosteur- opa existiert in diesem Sinne noch heute weiter — weltgeschichtlich wird die sowjetische Hegemonie Episode wie die deutsche Teilung bleiben, da sie das Selbständigkeitsbewusstsein Nordosteuropas nicht dauerhaft unterdrü- 390 Nordosteuropa: Ergebnis „ unvollendeter Penetration"? cken konnte. In dieser Situation wird das korrekte Nachfolgestaatsverhalten nun zur vorrangigen Aufgabe der Länder im Kernraum, die heute vielleicht erfolgreicher als in der Zwischenkriegszeit gelöst werden kann. Nordosteuropa heute wird im Kernraum gebildet von den drei Neu- staaten der Esten, Letten und Finnen, die sich gar nicht oder nur einge- schränkt auf mittelalterliche Vorbilder berufen können. Zugleich aber kön- nen sie sich auf einen erfolgreichen Rück- und Umbau ihrer Gesellschaften von einer Oberschichtherrschaft über fremde Ethnien zu demokratischen Nationalstaaten auf der Basis der Bevölkerungsmehrheiten zurückführen. Diese letztere Typologie trifft auch auf Litauen zu. Dass Litauen trotzdem wegen seiner Brückenfunktion zu Polen sich immer auch zu (Ost-)mitteleu- ropa rechnen wird, ist genauso natürlich, wie Finnlands Zugehörigkeit zu den Ländern des Nordischen Rats. Es gehört aber zu den Vorzügen des Nordosteuropabegriffs nach Zer- nacks Ansatz, dass er bei der Raumkonstitution Überlagerungszonen mit mehrfachen Bezügen ausdrücklich zulässt.

391 Karsten Brüggemann Das Baltikum im russischen Blick Russland und sein Anspruch auf die baltischen Staaten in der Perspektive des 19. Jahrhunderts

Im März 1999 antwortete der damalige estnische Präsident Lennart Meri ausweichend auf die Frage des Spiegel, ob sich „Moskau [...] jemals wirklich mit dem Verlust seiner baltischen Provinzen abfinden" werde: „Führt sie nicht in Versuchung. Dagegen hilft nur Demokratie — ein Parlament, eine freie Pres- se, eine unabhängige Justiz."' Fraglos kam dem Verhältnis Russlands zu den baltischen Staaten gerade in Bezug auf die Erweiterung der EU und vor allem der NATO eine nicht unerhebliche Bedeutung zu.' Ohne hier die Frage auf- werfen zu wollen, ob das heutige Russland Meris Vorstellungen von Demo- kratie entspricht, soll das zitierte Bild von „Moskaus baltischen Provinzen" für die folgenden Ausführungen den Ausgangspunkt bilden. Offenbar gab es im territorial gesehen weitestgehend unstrittig konturierten Westeuropa auch ein Jahrzehnt nach dem Ende der über ein halbes Jahrhundert in Osteuropa gültigen pax sovietica noch kein Gespür für die Virulenz geopolitischer Fein- heiten östlich der Oder. Dass man sich in den Hauptstädten der drei baltischen Staaten immer noch nicht vor Moskauer Expansionsgelüsten sicher fühlt, war zweifellos die wirkungsvollste Motivation für ihre Bestrebungen, in die NATO aufgenommen zu werden. Versuche der russischen Außenpolitik, nach dem EU-Beitritt über den Umweg des Kooperationsvertrages mit Brüssel auf die Minderheitenpolitik in Estland und Lettland Einfluss zu gewinnen, haben zuletzt bestätigt, dass die Moskauer Politik ihren Anspruch auf Mitsprache in den inneren Angelegenheiten dieser Länder keineswegs aufgegeben hat.' Den historischen Voraussetzungen für diesen Anspruch des russischen/ sowjetischen Staats auf die baltische Ostseeküste nachzugehen, soll Zweck der vorliegenden Überlegungen sein. Der Titel ist dabei bewusst unscharf formuliert. Die Metapher des „Blicks" zwingt jedoch zu einer analytischen Differenzierung: Das einst „fremde" Baltikum, das Baltikum außerhalb der 1 „Führt sie nicht in Versuchung", in: Der Spiegel 51 (1999), 15. März, S. 230-234, hier S. 234. 2 Eine Bestandsaufnahme bei Gerd Föhrenbach: Die Westbindung der baltischen Staaten: zur Integration Estlands, Lettlands und Litauens in die bi- und multilateralen europäischen und transatlantischen Sicher- heitsstrukturen während der 1990er Jahre, Baden-Baden 2000 (Schriften des Zentrum für Europäische In- tegrationsforschung; Bd. 23). Vgl. Dmitri Suslov: The Russian-Estonian Conflict in the European Context: in Search of a Platform for Resolution, in: Estonia and the European Union: in Search of Security / hrsg. v. Peeter Vares, Tallinn 1999 (EuroUniversity Series: International Relations; Vol. 2/3, 1999), S. 85-104. 3 Toomas Sildam: ELi-Vene suhted töid Eestisse poliitilise tormi [Die Beziehungen zwischen der EU und Russland entfachten einen politischen Sturm in Estland] in: Postimees, 24.4.2004; Mart Laar: Kas suudame välispoliitikas ajaloost öppida? [Können wir in der Aussenpolitik aus der Geschichte lernen?] in: Postimees, 5.5.2004. 392 Das Baltikum im russischen Blick

russischen Staatsgrenze, wurde erst nach der militärischen Eroberung durch Peter I. zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu einem Teil des russischen Staats. Aus dem Blick von außen wurde somit im Laufe der Zeit eine Binnensicht, in der die Fremdheit womöglich noch stärker registriert wurde. Der russische Blick musste schließlich in den Ostseeprovinzen Est-, Liv- und Kurland4 zwei „Fremdkörper" registrieren: zum einen die einheimischen Esten und Letten, zum anderen die in allen drei Provinzen politisch dominierende deutschbal- tische Minderheit. Deren exklusives Regionalverständnis' überlappte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend spannungsreich mit dem imperialen, großrussischen Staatsverständnis, das seinerseits vom aufkom- menden russischen Nationalismus unter Druck gesetzt wurde. Gleichzeitig wurden Russen und Deutschbalten mehr oder weniger verwundert Zeugen der kulturellen Emanzipation unter den Esten und Letten — ein Umstand, der gerade den russischen Blick, um den es hier speziell gehen wird, modifizierte. Ob „Verlust" oder „Gewinn" — beide möglichen Fälle territorialer Trans- formation rufen stets einen Prozess der Neudefinition nationaler Identität und der Umschreibung nationaler Geschichte hervor, dem die historischen Ereig- nisse unterworfen werden. Die Fixierung und Begrenzung eines Staatsgebiets ist dabei nicht nur Ausdruck strategischer Interessen oder politischer Macht- verhältnisse. „State territoriality" ist nach Auffassung von Tuomas Forsberg ein Produkt kultureller, gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen.6 Ein Produkt also der Geschichte und der historischen Diskurse, die auch im Falle Russlands den Blick auf seine multinationale Peripherie prägen. Der Aneig- nung des Territoriums folgte die Übernahme der Geschichte. Die regionale baltische Geschichte wurde in die imperial-russische Überlieferung integriert — eine nicht immer freundliche Übernahme — wie später in die proletarisch- sowjetische. Zweifellos lag bereits der Expansion Peters zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Tradition des „Sammelns russischer Erde" die These zugrunde, dass es sich bei der baltischen Ostseeküste um alten großfürstlichen Besitz gehan-

4 Diese drei Provinzen entsprachen territorial gesehen den heutigen Staaten Estland und Lettland. Für das 19. und bis in das 20. Jahrhundert hinein gehört Litauen gerade auch für den russischen Blick nach Westen in den polnischen Kontext, der in diesem Beitrag ausgespart bleiben muss. Vgl. Theodore R. Weeks: Nation and State in Late Imperial Russia. Nationalism and Russification on the Western Frontier, 1863-1914, De Kalb, IL 1996. 5 Vgl. Gert von Pistohlkors: Regionalism as a Concept of Baltic Historiography, in: Regional Identity Under Soviet Rule: the Case of the Baltic States / hrsg. v. Dietrich A. Loeber u.a., Hackettstown, NJ 1990, S. 1-8, sowie Hain Rebas: „Baltic Regionalism"?, ebda., S. 413-428. 6 Tuomas Forsberg: Theories on Territorial Disputes, in: Contested Territory: Border Disputes at the Edge of the Former Soviet Empire / hrsg. v. dems., Aldershot, Brookfield 1995, S. 23-41, hier S. 27; David Knight: Identity and Territory: Geographical Perspectives on Nationalism and Regionalism, in: Annals of the Associa- tion of American Geographers 72 (1982), S. 514-531. Vgl. The Frontier of National Sovereignty: History and Theory 1945-1992 / hrsg. v. Alan S. Milward u.a., London 1993.

393 Karsten Brüggemann delt habe.' Für diese Legitimation der Expansion spielte die ethnisch „frem- de" Komposition der „wieder" eroberten Gebiete keine Rolle — bis der erwa- chende russische nationale Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der als historisch legitim angesehenen Aneignung des Territoriums spezi- elle Forderungen in Bezug auf dessen innere Ordnung ableitete. Den intellek- tuellen Strategien, die diesen Forderungen als Begründung zugrunde lagen, soll unser Interesse zunächst gelten. Der Bezug zur aktuellen Situation ergibt sich dann von ganz allein, wie abschließend zu zeigen sein wird. Im Laufe der Existenz der russischen Staatlichkeit ist ihr von verschie- denen Zentren aus regiertes Gebiet immer wieder einschneidenden Verände- rungen ausgesetzt gewesen. Der Begriff der razdroblennost' (Zersplitterung) der Kiever Rus' ist wie die Formel des sobiranie russkoj zemli (Sammeln des russischen Landes) zu einem der Hauptmotive der russischen Geschichte durch die Jahrhunderte geworden. Die Trauer über territorialen Verlust prägte schon die Kultur der mittelalterlichen Rus', so z.B. in der „Klage vom Unter- gang des russischen Landes".8 Dass ein starkes Raumbewusstsein konstitutiv für die eigene Geschichte ist, zeigt aber auch die fest in der sowjetischen My- thologie verankerte Vorstellung der von einem Anti-Raum umgebenen „un- ermesslichen Heimat", die von ihren Söhnen und Töchtern zu Wasser, in der Luft und auf dem Lande geschützt wird. Der Gültigkeitsbereich des „Sozi- alismus in einem Lande" stellte einen hermetisch nach außen abgeriegelten Raum dar, der sich zwischen den Bergen im Süden, dem Pol im Norden und dem Kosmos bis in die Unendlichkeit erstreckte.9 Nicht erst in sowjetischer Zeit kam der Begriff des slijanie (Verschmelzung) als Metapher für den Pro- zess der inneren Konsolidierung und Homogenisierung des Vielvölkerreichs hinzu.10 Diese organische Vorstellung eines aufgrund gleichsam natürlicher Bedingungen zusammengehörenden Raums liegt auch heute noch manchen außenpolitischen Kommentaren zugrunde, in denen das Bild des von vielen Russen bevölkerten „nahen Auslands" eher vereinnahmenden denn abgren- zenden Charakter hat. Im Folgenden werden sehr verkürzt einige Stationen der russischen Sicht auf das Baltikum angerissen; beschränken muss ich

7 Aleksandr Filju§kin: Der Diskurs von der Notwendigkeit des Durchbruchs zur Ostsee in der russischen Geschichte und Historiographie, in: Narva und die Ostseeregion. Narva and the Baltic Sea Region / Beitr. d. II. internationalen Konferenz über die politischen und kulturellen Beziehungen zwischen Russland und der Ostseeregion = hrsg. v. Karsten Brüggemann, Narva 2004 (Studia humaniora et paedagogica Collegii Narovensis; Bd. 1), S.171-183. 8 Eine deutsche Übersetzung findet sich in: Oh Bojan, du Nachtigall der alten Zeit: sieben Jahrhunderte altrussische Literatur / hrsg. v. Helmut Grasshoff u.a., Berlin 1965, S. 170f. 9 Karsten Brüggemann: Von Krieg zu Krieg, von Sieg zu Sieg: Motive des sowjetischen Mythos im Massenlied der 1930er Jahre. Einführung, Texte, Übersetzungen, Hamburg 2002 (Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa; 9), S. 54-60. 10 Einige übersetzte Quellentexte bei: Frank Golczewski, Gertrud Pickhan: Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1998.

394 Das Baltikum im russischen Blick mich dabei auf das 19. Jahrhundert, das die entscheidenden Impulse für die Virulenz der These des historischen Anspruchs Russlands auf das Baltikum gab.

*** Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war eine imperiale, koloniale Vorstel- lung in der russischen Betrachtung der Ostseeküste keineswegs dominierend. Knapp hundert Jahre nach dem Einbezug Liv- und Estlands in das Russische Reich waren sie in manchen russischen Augen auf interessante, anregende Weise „anders", keineswegs inferior. Für Aleksandr Bestuev-Marlinskij (1797-1837) z. B. war Estland gleichzeitig geographisch nahe und kulturell faszinierend fremd.11 Hatte Nikolaj Karamzin (1766-1826), der Meister der „sentimentalen Reise" in Riga noch voller inszeniertem Trennungsschmerz ausgerufen: „Noch bin ich in Russland, und schon längst, scheint es mir, sei ich in fremden Lande (v cuzich krajach)" ,12 so trieb Bestuiev wirkliche Neu- gier ins so nahe, „eigene" Ausland. „Kennenlernen fremder Völker und ihrer Sitten und Gebräuche durch Reisen" — so lautete eine der zentralen Forde- rungen der Dekabristen» und Bestuiev fing sozusagen vor der eigenen Haus- tür damit an. Ihm imponierte, dass das deutsche Reval (estn. Tallinn) trotz al- ler Machtwechsel nie aufgehört habe, unabhängig zu sein und das Lübische Recht bewahrt hatte.' Eigentümlichkeit war kein Makel, ständisch-nationale Besonderheit interessantes Studienobjekt. In der ersten Hälfte des 19. Jahr- hunderts war es für „westlich" gesinnte Kreise wenig relevant, ob Reval auf- grund seiner bewegten Vergangenheit dänisch, schwedisch, deutsch oder russisch war. Für Petr Vjazemskij (1792-1878), dem Dichter und typischen Petersburger Ostseeurlauber der Zeit, war es noch 1843 alles zusammen: PeBemb garcmul, Pese.11t, nmegcm4ii, PeBenb pyccniii! — TOT xce Tm! H OJIaü -mori momogewcHil

roprjo CMOTIMT C BLICOTEJ.15

11 Angela Huber: Aleksandr Bestuievs „Reise nach Reval" (1821): ein Dekabrist begegnet deutscher und estnischer Kultur, in: Zeitschrift für slavische Philologie 53 (1993), S. 143-156, hier S. 144, 146. 12 N.M. Karamzin: Pis'ma russkogo putegestvennika [Briefe eines russischen Reisenden], in: ders.: S&Inenija v dvuch tomach, Bd. 1, Leningrad 1984, S. 55-502, hier S. 63; dt. n. Nikolai Karamsin: Briefe eines russischen Reisenden / übersetzt von Johann Richter, Stuttgart 1986, S. 17. 13 Ulrich Kuhnke: Nachwort, in: Alexander A. Bestushew: Reise nach Reval, Berlin 1992, S. 149-171, hier S. 165. 14 Bestushew (wie Anm. 13), S. 82. 15 „Dänisches Reval, schwedisches Reval, / Russisches Reval! — Das bist Du! / Und der prachtvolle Turm der Olaikirche / Schaut stolz von seiner Höhe hinab." P.A. Vjazemskij: NoC v Revele (Posvjak'aetsja knjagine E. N. Mekerskoj) [Nacht in Reval: der Fürstin E. N. Mekerskaja gewidmet], in: ders.: S&'inenija v dvuch tomach, Bd. 1: Stichotvorenija, Moskva 1982, S. 235-238, hier S. 238.

395 Karsten Brüggemann

Zwar blieb die Fremdheit, sie wurde jedoch als historische und kulturelle Bereicherung für Russland empfunden. Peter I. hatte Russland nicht nur den ökonomisch und geopolitisch wichtigen Zugang zur Ostsee verschafft. Für die populäre Imagination russischer Geschichte als Teil eines gesamteuropäischen Erbes war es beinahe noch wichtiger, auf Zeugnisse hanseatischer Städteblüte und westeuropäischer Ritterherrlichkeit verweisen zu können. Bestuiev, ganz Kind seiner Zeit, wies der baltischen Geschichte, deren „irgendwie roman- tischer Charakter" ihn faszinierte, einen „würdigen Platz in den Chroniken un- seres Vaterlandes" zu.16 Seine romantische Obsession mit baltischen Burgen, ritterlichen Helden und den von ihnen geknechteten Bauern'' öffnete der rus- sischen Literatur einen Themenkreis, der zwar weniger Exotik versprach als die literarische Entdeckung des Kaukasus — an der Bestuiev nicht minder be- teiligt war18 —, gleichzeitig jedoch eine Region dem russischen Publikum vor- stellte, in der mit der Bauernbefreiung gerade eine wichtige sozialpolitische Reform durchgeführt worden war, von der sich manch einer Impulse für den Rest des Reiches erhoffte. In diesem Sinne war das Baltikum gerade für die reformorientierte russische Intelligenz tatsächlich ein „Fenster zum Westen". Allerdings war Bestulevs Reise in dieser Hinsicht desillusionierend, denn die juristische Befreiung der Bauern hatte wenig bewirkt. Um so angenehmer erschien ihm die multikulturelle Gesellschaft im „ritterlichen Reval" (Alek- sandr Pugkin), in der er sich sichtlich wohl fühlte. Dass er hier nicht selten auf diejenigen Herren traf, deren Form der Selbstherrschaft er auf dem Land hef- tig kritisierte, focht ihn genausowenig an wie das Faktum, dass es sich bei ih- nen um Nachfahren der im Prinzip so verehrten „mittelalterlichen Ritter" han- delte, an denen zwar die grausame Behandlung ihrer Bauern zu verurteilen war — deren Lebensstil jedoch bedingungslos romantisiert wurde. Waren die Esten und Letten im 18. Jahrhundert kaum in den Fokus der Beobachter geraten,19 hatte Karamzin — wohl nicht zuletzt aus Rücksicht auf die Standessolidarität mit dem deutschbaltischen Adel — noch ein ambiva- lentes Bild geprägt: Während sich die Gutsherren im Gespräch mit dem Rei-

16 Bestushew (wie Anm. 13), S. 82. 17 Vgl. Bestu2evs Werke „Zamok Venden" (Burg Wenden, 1821/23), „Zamok Nejgauzen" (Burg Neuhausen, 1823/24), „Revel'skij turne (Das Turnier von Reval, 1824/25), die zuweilen an Walter Scott erinnern. 18 Vor allem wegen seiner Kaukasus-Erzählungen galt Bestuäev Zeitgenossen als „Pugkin der Prosa". Orlando Figes: Natasha's Dance: a Cultural History of Russia, London u.a. 2002, S. 385. 19 Nachdem das Interesse am Kriegsgeschehen in Estland und Livland zur Zeit des Nordischen Krieges abgeklungen war, finden sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nur wenige baltische Spuren in der rus- sischen Literatur. Sergej G. Isakov: Russkie pisateli i Estonija [Die russischen Schriftsteller und Estland], in: üstonija v proizvedenijach russkich pisatelej XVIII-nabla XX veka: antologija / hrsg. v. dems., Tallinn 2001, S. 3-38, hier S. 4-6. Vgl. die ältere Zusammenstellung Postitöllaga läbi Eestimaa: Eestimaa vene kir- janike kirjanduses (XVIII sajandi löpp - XX sajandi algus) [Mit der Postkutsche durch Estland: Estland in den Werken russischer Schriftsteller vom Ende des 18. bis zum Anfang des 20. Jh.] / hrsg. v. Sergei Issakov [Isakov], Tallinn 1971.

396 Das Baltikum im russischen Blick senden über die Faulheit der Bauern beklagen, stellte er selbst fest, dass der livländische oder estländische Bauer seinem Herrn einen vierfach höheren Ertrag als in Kazan' oder Simbirsk einbringe.2° Konstantin Batjugkov (1787- 1855) fügte 1807 einen Gesichtspunkt hinzu, der durchaus leitmotivisch für den russischen Blick auf die eigene Ostseeküste genannt werden könnte: „Un- glücklicher Sohn des kalten Landes / Er kennt den Hunger, den Krieg und die Russen."21 Die Feststellung, dass der „Finne", d.h. in diesem Fall der Este, auch unter den Russen gelitten habe, verschwindet im Laufe des Jahrhunderts jedoch; als die wahren Unterdrücker der Esten und Letten werden schon von den Dekabristen die Deutschbalten, die sogenannten „ Ostzejcy" präsentiert. So galt Bestuievs Sympathie in erster Linie den estnischen Bauern, obwohl er sie als „klein von Wuchs", „verräuchert", „im häuslichen Alltag den Tieren nicht unähnlich", als „verwegen, stets heimtückisch" und „von einem grob- schlächtigen und brutalen Menschenschlag" beschrieb. Demgegenüber lobte er den estnischen Aufstand von 1343 gegen den Deutschen Orden, der „Spar- ta und Helvetia zur Ehre gereicht" hätte.22 So fiel in Bestuievs Imagination auf die estnischen Bauern sogar ein Abglanz antiken Heldentums. Allerdings hielt die neben Bestuev von Vil'gel'm K. Kjuchel'beker (1797-1846) oder Ivan I. Lai&nikov (1792-1869) geprägte Blüte des „livländischen Themas" (livonskaja tema) in der russischen Literatur nur bis zum Beginn der 1830 Jahre an — von epigonalen Werken abgesehen. Sie legte aber über die unmit- telbare Gegenwart hinaus Topoi der russischen Baltikumbetrachtung fest, die später wirksam werden sollten.23

* * *

Im expandierenden Russischen Reich gab es viele „fremde" Gebiete. Mark Bassin hat darauf hingewiesen, welch große Bedeutung für das rus- sische Bewusstsein die im 18. Jahrhundert von Vasilij Tatikev (1686-1750) vorgenommene binnenimperiale Grenzziehung zwischen „Europa" und

20 Karamzin (wie Anm. 12), S. 61 (Pis'mo iz Rigi, 31. maja). Dass der Reisende sich und seine Beobach- tungen, die keineswegs als dokumentarisches Zeugnis gelten können, nach den Bedürfnissen der von ihm gewählten literarischen Gattung stilisierte, sei hier nur der Korrektheit halber erwähnt. 21 „Nesjastnyj syn strany cholodnoj / On s golodom, vojnoj i russkimi znakom." K.N. Batjugkov: N.I. Gnedinu, zit. n.: Isakov, Russkie pisateli (wie Anm. 21), S. 6. 22 Bestushew (wie Anm. 13), S. 25, 123, 66f. 23 Isakov: Russkie pisateli (wie Anm. 19), S. 16f. Kjuchel'beker war einer der bedeutendsten Kronzeugen für die Faszination des Fremden im eigenen Haus, vgl. seinen Roman „Ado" (1822/23). Vgl. auch Ivan Lai&'nikovs Roman „Poslednij Novik, ili Zavoevanie Lifljandii v carstvovanie Petra Velikogo" (Der letzte Novik oder die Eroberung Livlands durch Peter den Großen, 1831-33). Voller Bewunderung für Peter I. festigte er, einer der Begründer des historischen Romans in Russland, das von Mitleid charakterisierte Bild der von den Deutschbalten geknechteten Esten und Letten, selbst wenn er diese in seinen fast ethnogra- phischen Beschreibungen ihres Alltags zuweilen verwechselte.

397 Karsten Brüggemann

„Asien" am Ural hatte. Sibirien wurde „asiatisiert" und zum kolonialen Er- gänzungsraum eines „europäischen" Russland stilisiert. Nach Osten hin be- kam Russland eine schier unermessliche Kolonie, wurde schon dadurch „europäisch" und kulturell überlegen.24 Für die mentale Aneignung der Ostseeprovinzen war diese Werteskala von West nach Ost allerdings problematisch. Schließlich war die Ostseeküs- te bereits seit mehreren hundert Jahren kolonisiert, zudem durch eine christ- liche, dem Westen zuzurechnende Kraft, deren kulturelle Konkurrenzfä- higkeit nicht in Frage stand. Während Russland in Sibirien seine kulturelle Mission „europäisch" erfüllte, machte diese Denkfigur plötzlich die deut- sche Dominanz an der Ostsee für Russland zu einem Problem: Backsteingo- tik und Ritterburgen waren zweifellos älter als die russische „europäische" Mission. Das Land, das seit dem Sieg über Napoleon auf der Suche nach seiner Rolle in Europa war, suchte gleichzeitig verstärkt seine eigenen Wur- zeln. Was konkret als genuin „russisch" zu gelten hatte, war umstritten und musste nicht selten erst erfunden werden.25 Während Sibirien gerade auch diese Sehnsucht nach „echter" kultureller Tradition bedienen konnte, wa- ren die Ostseeprovinzen in dieser Hinsicht wertlos. Da sie wenig „eigenes" zu bieten hatten, stieß sich der russische Blick mehr und mehr an all dem Fremden, das seine Faszination und Inspirationskraft zunehmend verlor. Zwar ging es während der Regierungszeit Nikolai' I. noch nicht um poli- tische Dominanz. Die Loyalität der deutschbaltischen Oberschicht zur Kro- ne stand grundsätzlich noch nicht in Frage. Demgegenüber galt es aber, den Einfluss der Orthodoxie als einem der Grundpfeiler der Autokratie in den Ostseeprovinzen zu festigen. So wurde 1832 die Lutherische Kirche dem St. Petersburger Generalkonsistorium unterstellt. Allerdings richteten sich die Bemühungen der Russisch-orthodoxen Kirche, die seit 1836 in Pleskau (russ. Pskov) ein Seminar für orthodoxe Priester und einen orthodoxen Bischofs- sitz in Riga unterhielt, zunächst nur auf die in den Ostseeprovinzen lebenden Altgläubigen. Erst nach der anschwellenden Konversionsbewegung unter den Esten und Letten in den 1840er Jahren wurde die Tätigkeit im Pleskauer Se- minar auch auf Unterricht in deren Sprachen sowie auf die Übersetzung von orthodoxen Gebetsbüchern ausgeweitet.26 Gerade die Konversionsbewegung hatte jedoch den eher pragmatischen Umgang der Bauern mit Glaubensfragen gezeigt, strebten sie durch die Annahme des „Zarenglaubens" doch vor allem

24 Mark Bassin: Inventing Siberia: Visions of the Russian East in the Early Nineteenth Century, in: Ame- rican Historical Review 93 (1991), S. 763-794; Larry Wolff: Inventing Eastern Europe: the Map of Civili- zation an the Mind of Enlightenment, Stanford, CA 1994, S. 154; Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 45. 25 Ausführlich hierzu Figes (wie Anm. 18), S. 43-66 und Kap. 2. 26 Edward C. Thaden (with the collaboration of Marianna Forster Thaden): Russia's Western Borderlands 1710-1870, Princeton, NJ 1984, S. 176f.

398 Das Baltikum im russischen Blick nach angeblichen materiellen Vorteilen. Dies konnte wiederum weder der lu- therischen Kirche noch der Orthodoxie gefallen. In einer Zeit, in der das Russische Reich sich als „russisch" neu zu de- finieren begann, musste die Erkenntnis der religiösen, ethnischen und kul- turellen Heterogenität des Nordwestens verstörend wirken. Das protestan- tische und „germanische" Baltikum war kein einfach zu kolonisierender Raum, in den sich russische Kultur mehr oder weniger widerstandslos ergie- ßen konnte. Die Befremdung im russischen Blick stieg nun in dem Maße, in dem sich die Perspektive der Öffentlichkeit nationalisierte. Als „natio- nal other" waren die Ostseeprovinzen schließlich von einem Experimentier- feld der Autokratie zu einem Störfaktor innerhalb eines mehr und mehr als „russisch" antizipierten imperialen Raums geworden. Ziel imperialer Politik musste es hier nun sein, diesen Störfaktor stärker in die staatliche Struktur zu integrieren, die sich mehr und mehr vereinheitlichen sollte. Für den öffentlich ausgetragenen deutschbaltisch-russischen Konflikt in den 1860er Jahren, war es Voraussetzung, dass in der russischen Öffentlich- keit spätestens seit dem polnischen Aufstand von 1863 nationale Katego- rien zu dominieren begannen. Dies führte schließlich zu einer „Umdefini- tion bislang bewunderter oder zumindest doch respektierter Verhältnisse"27 und konnte nicht ohne Auswirkungen auf die deutschbaltische Rezeption der Angriffe bleiben." Gerade in den Ostseeprovinzen verlangte die rus- sische Herrschaft nun nach einer neuen Begründung, nach neuen Gesetzmä- ßigkeiten — der Verweis auf historische Besitzverhältnisse und Kapitulati- onsurkunden allein reichte nicht mehr aus. Diese „Umdefinition" war durch die um die Jahrhundertmitte einsetzende Einführung neuer historischer und geographischer Argumentationsstrategien vorbereitet worden. Während De- kabristen, zapadniki („Westler") und romantische Dichter noch ihr Westeu- ropa an der eigenen Ostseeküste entdeckten, entwickelte sich in slavophilen und nationalistischen Milieus eine neue Sicht auf das Baltikum, in der die politische Sonderstellung der Deutschbalten in Liv-, Est- und Kurland auf- grund der ihnen von den Zaren gewährten Privilegien immer mehr ins Zen- trum der Kritik geriet. Hierbei leisteten Historiker Vorschub. Russische Ansprüche im Baltikum waren seit dem 16. Jahrhundert stets his- torisch legitimiert worden. Ivan IV., der „Schreckliche", verwies in seiner Be- gründung des Livländischen Kriegs 1558 genauso wie das während seiner Herr- schaft kompilierte Stufenbuch (Stepennaja kniga) auf die Eroberung Livlands durch Jaroslav den Weisen im Jahre 1030, auf die Errichtung Dorpats (estn. Tar-

27 Andreas Renner: Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855-1875, Köln, Wei- mar, Wien 2000 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas; Bd. 31), S. 334. 28 Zu Inhalt und Wirkung der Kontroverse: Michael Haltzel: Der Abbau der ständischen Selbstverwal- tung in den Ostseeprovinzen Russlands 1855-1905, Marburg 1977, S. 33-40.

399 Karsten Brüggemann tu), dessen russischer Name Jur'ev auf Jaroslavs Taufnamen verweist, und auf die gleichzeitige Gründung orthodoxer Kirchen in livländischen Städten.29 Di- ese Interpretation ist von Tatigev und Karamzin im 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert fortgeschrieben worden." Die nun seit der Mitte des 19. Jahr- hunderts vorgebrachten historischen Argumente gingen jedoch über die Ver- wendung chronikalischer Informationen aus der Zeit Jaroslavs hinaus. Die schärfste Feder führte der slavophile Historiker Jurij Samarin.31 Zwan- zig Jahre vor seiner bekanntesten Schrift, den Okrainy Rossii (Grenzmar- ken Russlands), die Ende der 1860er Jahre die folgenschwere Kontroverse mit seinem Dorpater Kollegen Carl Schirren provozierte,32 führte er in sei- nen Pis'ma iz Rigi (Briefe aus Riga) das historische Argument in neuem Ge- wand ins Feld. Die Bewohner der Ostseeküste hätten seiner Auffassung nach im 13. Jahrhundert zu ihrem östlichen Nachbarn tendiert, unter dessen Füh- rung sie sich in den aussichtslosen Kampf gegen die „von Kopf bis Fuß in Eisen geschweißten" deutschen Ritter stürzten. Die Deutschen hätten, so Sa- marin wörtlich, den Russen ihren Pribaltijse kraj „weggenommen" (otnja- li), der Katholizismus ihn der Orthodoxie geraubt.33 Indem die Deutschen die Urbevölkerung versklavten, hätten sie, so Samarins These, die ursprüngliche Gemeinschaftsstruktur (obgannoe ustrojstvo) im Küstenland zerstört.34 Mit

29 Norbert Angermann: Studien zur Livlandpolitik Ivan Groznys, Marburg 1972 (Marburger Ostfor- schungen; 32), S. 7-10; Anti Selart: Vene ike ja muistne priius: Eesti-Vene suhete historiograafiast [Das russische Joch und die alte Freiheit: über die Historiographie der estnisch-russischen Beziehungen], in: Vikerkaar 2000, H. 8-9, S. 98-104, hier S. 99. 30 Anti Selart zufolge wurden die Auffassungen Tatik'evs und Karamzins von den zeitgenössischen deutschbaltischen Literati durchaus übernommen — die Autorität des gedruckten Wortes! —, wenn sie auch ihre Zweifel daran gehegt hätten, dass die Vorfahren der Esten und Letten jemals zu einer eigenen poli- tischen Organisation fähig gewesen seien; Selart (wie Anm. 29), S. 99, mit Verweis auf August Wilhelm Hupel: Ueber Nestors Zeugnis von Russlands altem Rechte auf Livland, in: Vermischte Aufsätze, und Urtheile über gelehrte Werke, Bd. 1/2 / hrsg. v. G. Schlegel, Riga 1776, S. 52-63. 31 Edward C. Thaden: Iurii Fedorovich Samarin and Baltic History, in: Journal of Baltic Studies 17 (1986), S. 321-328; ders.: Samarin's „Okrainy Rossii" and Official Policy in the Baltic Provinces, in: Rus- sian Review 33 (1974), S. 405-415; vgl. auch Evgenija L'vovna Nazarova: Reformy XVII v. v Lifljandii i perechod Pribaltiki pod vlast' Rossijskoj Imperii (&'erki russkoj istoriografii XIX - naala XX v.) [Die Reformen des 17. Jahrhunderst in Livland und der Übergang der Ostseeprovinzen unter der Macht des Russischen Reiches: ein Abriss der russischen Historiographie des 19. und beginnenden 20. Jh.], in: Refor- my v Rossii XVI - XIX vv. Sbornik naub'nych statej, Moskva 1992, S. 58-88. 32 Jurij Samarin: Okrainy Rossii [Die Grenzmarken Russlands]. Serija 1: Russkoe baltijskoe pomor'e. Vypusk 1, Prag 1868; übersetzt von Julius v. Eckhardt: Juri Samarins Anklage gegen die Ostseeprovinzen Russlands: Übersetzung nebst Kommentar, Leipzig 1869, Ndr. Münster 1996; Carl Schirren: Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin, Leipzig 1869. 33 Jurij F. Samarin: Pis'ma iz Rigi: Pis'mo pervoe [Briefe aus Riga: erster Brief], in: ders.: S&inenija, Bd. 7, Pis'ma iz Rigi i Istorija Rigi, Moskva 1889, S. 1-19, hier S. 4f. 34 In der alten Rus' sei das (unbewohnte) Land vom Fürsten als Lebensgrundlage für seine Dienstleute verteilt worden. Hiermit spielte Samarin auf das System des kormlenie an. Demgegenüber hätten die deut- schen Eroberer das Land den ursprünglichen Besitzern gewaltsam entrissen. Samarin: Pis'ma (wie Anm. 33), S. 5f. Für Samarin stellte die obetna die Grundlage der historischen Sonderentwicklung Russlands

400 Das Baltikum im russischen Blick der Verwendung des Begriffs der ohWina, d.h. der traditionellen Umvertei- lungsgemeinde als der Grundlage des russischen bäuerlichen Lebens, mach- te Samarin deutlich, dass die baltischen und finnougrischen Stämme der Ost- seeküste an ihrer „natürlichen", organischen Entwicklung in Richtung auf das russische Vorbild gehindert worden seien. „Natürlich" entwickelte sich in die- sem Kontext zu einem Synonym für „nach russischem Muster". In dieselbe Richtung verwies zur gleichen Zeit, auf dem Höhepunkt der Konversionsbewegung der estnischen und lettischen Bauern zum „Zarenglau- ben", der Rigaer Erzbischof Filaret. In einem Artikel unter der Fragestellung, „Von woher sind die Ureinwohner Livlands christianisiert worden, aus dem Osten oder dem Westen?" schrieb er, der orthodoxe Glaube habe sich fried- lich (und daher langsam und gleichsam „organisch") unter den Esten, Liven, Semgallern, Lettgallern usw. verbreitet. Der Katholizismus hingegen sei von den Deutschen mit „Feuer und Schwert" aufoktroyiert worden?' Spätestens mit Sergej Solov'evs (1820-1879) monumentaler, 29-bändiger Istorija Rossii s drevnejsich vremen (Geschichte Russlands seit den ältesten Zeiten) kam zusätzlich zum historischen Argument das geographische hin- zu'', das in Samarins „Briefen" noch fehlte. Solov'ev deutete die Entwicklung Russlands als Kolonialisierungsepos eines sich „organisch" entwickelnden Staatswesens. Der Russische Staat sei von Beginn an von enormen Dimensi- onen gewesen, und die natürlichen Bedingungen hätten einen geeinten Staat in der osteuropäischen Ebene mit Moskau im Zentrum eines Flussnetzes vom Schwarzen Meer zur Ostsee geradezu vorherbestimmt." Einer der Adepten Solov'evs, der aus „dem Wolmarschen" stammende Oberlehrer der Russischen dar. Vgl. Thaden: Samarin (wie Anm. 31), S. 322. 35 [Filaret]: Otkuda korennye iiteli Lifljandii pervona'al'no poluC'ili christianstvo, s vostoka ili zapada?, in: Moskovitjanin 1843, Nr. 7, S. 85-102. Zit. n. Selart (wie Anm. 29), S. 100. Dieses Bild wurde in der Folge stereotyp: Der Katholizismus sei — wie auch der Protestantismus — ohne Rücksicht auf die Bevölke- rung mit Gewalt (von außen) „eingeführt" worden, während die Orthodoxie innerhalb der einheimischen Völker „entstand". Vgl. Evgraf üegichin: Kratkaja istorija Pribaltijskogo kraja [Kurze Geschich- te der Ostseeprovinzen Russlands]. Izdanie vtoroe, prosmotrennoe i dopolnennoe, Riga 1894 (1. Aufl. Riga 1884), S. 1; Protoierej N. A. Lejsman: Sud'ba pravoslavija v Lifljandii s 40-ch do 80-ch godov XIX stoletija [Das Schicksal der Orthodoxie in Livland von den 40er bis zu den 80er Jahren des 19. Jh.], Riga 1910 [1908], S. 4f. 36 Marc Bassin: Turner, Solov'ev and the „Frontier Hypothesis": the Nationalist Signification of Open Spaces, in: Journal of Modern History 65 (1993), S. 473-511, hier S. 481f., siehe auch S. 493f. 37 Sergej Michailovic Solov'ev: Istorija Rossii s drevnejgich vremen: v pjatnadcati knigach, kn. 2, Mos- kva 1960, S. 655, 648; Bassin: Turner (wie Anm. 36), S. 494f., 498f., auch Anm. 70 und 77. Waldzone und Steppenland teilten die osteuropäische Ebene entlang einer Nord-Süd-Linie. Beide vegetativen Zonen waren jedoch für Solov'ev Teil des europäischen Bodens, den die Russen von den Asiaten (Nomaden) hät- ten säubern müssen. Solov'ev, Istorija Rossii, kn. 7, Moskva 1962, S. 7-11. Unter Weiterentwicklung der „Heartland"-Konzeption Halford Mackinders und weniger deterministisch als Solov'ev untersuchte John P. LeDonne (The Russian Empire and the World, 1700-1917: the Geopolitics of Expansion and Contain- ment, New York, Oxford 1997) die Expansion des Russischen Reichs, ohne jedoch den Faktur des „cultural encounter" zu berücksichtigen.

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Sprache und Literatur an der Revaler Domschule, Kollegienrat Carl Peter Mül- ler, fügte in einem Vortrag über den Einfluss der Natur auf die Geschichte 1852 hinzu, dass ein Land, das in Besitz der Quellen eines Flusses sei, selbstver- ständlich auch über dessen Mündung verfügen müsse. Daher habe das Mün- dungsgebiet der Düna gar nicht auf Dauer vom „östlichen Staat" getrennt sein können." Und Solov'ev konnte Wesenberg (estn. Rakvere) wie selbstverständ- lich als das „in der alten russischen Geschichte berühmte Rokovor" rühmen und nannte Dorpat und Narva „alte vaterländische Burgen"?' Ähnliche Passa- gen finden sich auch bei Vasilij Kljt&levskij (1841-1911), der Solov' evs Kolo- nialisierungsmotiv aufnahm und zur Leitidee der russischen Geschichte wei- terentwickelte. Er erklärte die Ostseeküste zur natürlichen Grenze Russlands und betonte neben der „nationalen" Aufgabe des russischen Staats — der Verei- nigung aller Ostslaven unter dem Szepter des Zaren — die „territoriale" Aufga- be, welche an der Ostsee erst Peter I. gelöst habe.4° Grenzen waren damit zu einer Funktion der Natur geworden, politische Grenzen waren an natürliche gebunden. Seit den 1860er Jahren verfügte das expandierende Zarenreich somit über einen variablen Raumbegriff, für den die historische Mission Russlands Gültigkeit beanspruchen durfte. Sied- lungsgebiete von inorodcy (Fremdstämmigen) stellten dabei keine „natür- liche" Barriere dar, wie sich auch im Baltikum zeigte. Nur wenige Stimmen kümmerten sich um Esten und Letten, von denen man ohnehin überzeugt war, dass sie sich assimilieren würden. Ob dies Russifizierung oder Germa- nisierung bedeutete, blieb vorerst dahingestellt. Für die St. Petersburger Re- gierung bestand die eigentliche „baltische Frage" um 1870 darin, für welche der beiden höheren Kulturen sich das „ethnographische Material" der Esten und Letten in der Zukunft entscheiden werde» Dies war der ständische Mi- nimalkonsens zwischen deutschbaltischer und zarischer Elite, womit letzte-

38 K. Miller: Kakoe vlijanie imela priroda russkoj zemli na istoriju russkogo gosudarstva i byt ego obytatelej? [Welchen Einfluss hatte die Natur des russischen Landes auf die Geschichte des russischen Staates und das Leben seiner Einwohner?]: Einladungsschrift der Ehstl. Ritter- und Domschule zu dem Entlassungsactus am 21. Juni 1852 um 9 Uhr Morgens, Reval 1852, S. 61. Die Identifizierung der Person Müller/Miller nach: Album der Ehstländischen Ritter- und Domschule zu Reval vom 2. März 1834 bis 2. März 1859 / hrsg. v. Director Dr. Julius Kichner, Reval 1859, S. 14, und Beiträge zur Geschichte der Ehstländischen Ritter- und Domschule. Einladungsschrift zu der 550jährigen Jubelfeier der Domschule zu Reval am 19. und 20. Juni 1869, Reval 1869, S. 56, 93. 39 Solov'ev (wie Anm. 37), kn. 8, S. 8, 10. 40 Vasilij Osipovic Kljudevskij: Russkaja istorija: polnyj kurs lekcij [Russische Geschichte: eine Vorle- sungsreihe], 3 Bde., Moskva 1995, hier Bd. 1, S. 19-23, Bd. 2, S. 493-496; auf Deutsch: W. Kljutschewskij: Geschichte Russlands / hrsg. v. Prof. Dr. Friedrich Braun, Reinhold von Walter, 4 Bde., Stuttgart, Leipzig, Berlin 1925/26, hier Bd. III, S. 97, 129. 41 Baltijskij vopros s pravitel'stvennoj toMci zrenja [Die baltische Frage aus dem Blickwinkel der Regierung], (St. Peterburg) 1870/71, zit. n. Sergej G. Isakov: Ostzejskij vopros v russkoj peb'ati 1860-ch godov [Die bal- tische Frage in der russischen Presse der 1860er Jahre], Tartu 1961 (Tartu riikliku ülikooli toimetised; Bd. 107), S. 178f.; vgl. Haltzel (wie Anm. 28), S. 52f.

402 Das Baltikum im russischen Blick re jedoch unter wachsenden Druck der russischen Öffentlichkeit geriet, die sich immer mehr gegenüber dem Staat als Interessenverwalterin der Nation profilierte. Erst nach der Jahrhundertwende scheint man in St. Petersburg akzeptiert zu haben, dass Esten und Letten ihre eigene nationale Identität durchaus zu verteidigen in der Lage waren.42 Für die Perspektive der russischen Öffentlichkeit lag der Fokus auf den Deutschbalten: Aus dem interessanten Studienobjekt, welches der „osobyj Ostzejskij reim" (Baltisches Sonderregime) zuvor dargestellt hatte, wurde nun ein politisiertes Thema auf einem Nebenkriegsschauplatz der innerrus- sischen Reformdebatten, ja die Provinzen selbst plötzlich zu einem wichtigen Zielgebiet für Russlands heilige Mission.43 Vor allem die „ Ostzejcy", d.h. die Verteidiger der deutschbaltischen Privilegien,44 wurden zu einem Fremdkör- per im „jungen Russland" der nationalen Publizistik etwa Michail Katkovs (1818-1887) erklärt.45 Auch die traditionell den loyalen Deutschbalten freund- lich gesonnenen Zaren mochten nun nicht mehr zurückstecken und forderten von ihnen ein Bekenntnis — wie zuvor bereits Katharina II. oder Nikolaus II. — zum russischen Staat: Zar Alexander II. erinnerte die ständische Oberschicht der Ostseeprovinzen bei einem Besuch im Juni 1867 daran, dass sie zur „eini- gen russischen Familie" gehöre und einen „untrennbaren Teil Russlands" dar- stelle.46 Aus den deutschen Ostseeprovinzen Russlands begann sich nun der russische Pribaltijskij kraj herauszuschälen.47 Die Verwendung des historisch- 42 Zur deutschbaltischen Sicht vgl. Gert v. Pistohlkors: Ständische, ethnische und nationale Argumen- tationen von deutschen Balten über Esten und Letten im 19. Jahrhundert, in: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte 7 (1998), S. 235-253. Zur russischen Sicht vgl. Robert Schweitzer: 'Ethnographie material' or `element of conservative stability': some observations an the attitude of hegemonial powers towards the nation-building capacity of the Finno Ugric peoples, in: Congressus primus historiae fenno- ugricae, Oulu 1996, Bd. 2 (Historia fenno-ugrica; 1:2), S. 385-395. —Als Ausnahme von der Regel kann in diesem Zusammenhang die Idee von V. Bervi-Flerovskij (Poloienie rab&ego klassa v Rossii, St. Peterburg 1869) gelten, der für die Integration der Esten und Letten ins Imperium einen denkbar einfachen Vorschlag parat hielt: In St. Petersburg solle je ein Beamter estnisch bzw. lettisch lernen. Hier zit. n. Isakov: Ostzejskij vopros (wie Anm. 41), S. 169. Vgl. Postitöllaga läbi Eestimaa (wie Anm. 21), S. 402-406. 43 Renner (wie Anm. 27), S. 301. 44 Zur Definition vgl. Isakov: Ostzejskij vopros (wie Anm. 41), S. 5, der aus dem Krongtadtskij vestnik, Nr. 115, 9.10.1863, S. 458, zitiert. 45 Renner (wie Anm. 27), S. 305. 46 Hier zit. n. Moskovskie vedomosti, Nr. 191, 5. September 1868. 22 Jahre später äußerte Großfürst Vladimir in Dorpat denselben Wunsch: „Möge Gott Ihnen dabei helfen, sich schneller und fester an die große russische Familie zu binden" (Daj Bog vam skoree i proC'nee splotit'sja v velikuju russkuju sem'ju). Konstantin Konstantinovi Sli&"evskij: Po Severu Rossii. T. 3: Baltijskaja storona. Putegestvija Ich Impera- torskich Veliesty Velikogo Knjazja Vladimira Aleksandrovia i Velikoj Knjagini Marii Pavlovny v 1886 i 1887 gg. [Durch Russlands Norden: Bd. 3: Die Reisen Ihrer Ksl. Hoheiten des Großfürsten Vladimir Aleksandrovic und der Großfürstin Maria Pavlovna in den Jahren 1886 und 1887], S-Peterburg 1888, S. 260; V.I. Godunov: 1710-1910 g.: kratkij oC'erk istorii Estljandii k 200-letnemu jubileju zavoevanija eja Rossieju [1710-1910: kurzer Abriss der Geschichte Estlands zum 200jährigen Jubiläum seiner Eroberung durch Russland], Revel' 1910, S. 74. 47 Als Beispiel hierfür vgl. Pribaltijskij kraj. Istorieskij oerk i opisanie gubernij Estljandskoj, Lifljands-

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geographischen Arguments ä la Samarin hatte zur Folge, dass aus einem an- geeigneten Territorium, dessen ethnisch-kulturellem Zustand man durchaus indifferent, oder, wie Peter I., sogar — als beispielhaft für Russland — positiv gegenüberstand, nun eine eigene Provinz wurde, in der das kulturelle Antlitz entscheidend für die Besitzverhältnisse wurde. Plötzlich war „Aneignung" nicht mehr eine Frage von bilateralen Verträgen und der politischen Oberherr- schaft — sie wurde zu einer Frage der Öffentlichkeit. Im russischen Elitendiskurs der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts stellte der Faktor Kolonisation — bezogen in erster Linie auf Mittelasien und Sibirien — den historisch programmierten triumphalen Marsch von Fortschritt, Zivilisation, Russentum und imperialer Einheit dar." Schon Solov'ev hatte den Faktor der Gesetzmäßigkeit historischer Entwicklung betont. So ent- stand zwischen dem Verständnis von Russland und seiner Geschichte als der einer kolonialisierenden Macht eine untrennbare Verbindung. Die Geo- graphie schuf für dieses Verständnis von nationalem Imperium bzw. impe- rialer Nation die gleichsam „natürlichen" Voraussetzungen. Hiermit einher ging das Stereotyp vom russischen Bauern, der im leeren, unkultivierten Raum — mehr oder weniger — erfolgreich „Kultur" sät.49 Russlands Grenzge- biete im Westen konnten zwar nicht mehr direkte Objekte einer russischen Bauernkolonisation werden. Die diskursive Verbindung zwischen Imperi- um und Kolonisation bedingte jedoch geradezu, dass das Fehlen einer rus- sischen Siedlung die Abwesenheit des Imperiums implizierte.50 Während sich der Zug der russischen Kolonisation in östlicher Richtung immer weiter von St. Petersburg entfernte, lag im Nordwesten, im Wind- schatten der Expansionsrichtung, direkt vor den Toren der Hauptstadt, ein fremdstämmiger Brückenkopf einer sich zudem seit 1871 vereinigenden eu- ropäischen Großmacht. Fremdheit war nicht mehr Bereicherung, sie stellte eine Bedrohung dar. Das nach historischer Kontinuität verlangende Kons- trukt der russischen nationalen Identität fand ihren Feind in der deutschen Herrschaft über Est-, Liv- und Kurland, deren Vertreter sich seit Jahrhun- derten als Kulturträger in den Ostseeprovinzen sahen. In russischer Per- spektive stellte dies einen Bruch mit der Vergangenheit dar, der in Bezug auf die „organische Entwicklung" eines Volks nur als historisch ungerecht-

koj i Kurljandskoj [Die Ostseeprovinzen. Historische Skizze und Beschreibung der Gouvernements Est- land, Livland und Kurland], Sanktpeterburg 1870. Hiernach habe der russische Staat trotz zeitweiliger „ausländischer Herrschaft" (inozemnoe vladyestvo) nie aufgehört, die Ostseeküste als sein Eigentum zu betrachten (S. 21f.). 48 Willard Sunderland: The `Colonization Question': Visions of Colonization in Late Imperial Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48 (2000), S. 210-232, hier S. 231. 49 Ebda., S. 220-226; vgl. Bassin: Turner (wie Anm. 36), S. 498, Anm. 77. 50 Sunderland (wie Anm. 48), S. 225.

404 Das Baltikum im russischen Blick fertigt empfunden werden konnte» Gleichzeitig erfuhr das Konstrukt der russischen Nation eine Aufwertung als Indikator für die Intensität des rus- sischen Staats in einem gegebenen Raum. Ihre Entfaltungsmöglichkeiten in den Ostseeprovinzen, „auf dem Territorium der russischen Nation", wie es hieß, erschienen durch die Privilegien der Deutschbalten und deren kultu- relle Intransigenz als stark eingeschränkt. Wo der russische Bauer als Ko- lonisator nicht in Frage kam, musste schließlich der Staat eingreifen. Auch der populäre Ruf nach einer Russifizierung war letztlich gleichbedeutend mit dem Ruf nach „mehr Staat"» Die Russifizierungspolitik der Petersburger Regierung seit den 1880er Jahren wurde von dem Rigaer Journalisten und Historiker Evgraf üegichin (1824-1888) begrüßt als „Verschmelzung aller Teile des Imperiums durch die Einheit des Gesetzes und der Institutionen in ein starkes Ganzes"." üegichin thematisierte in seinen Büchern über die Geschichte des Pribaltij- skij kraj den Bruch in der historischen Entwicklung des Baltikums, den die Errichtung der deutschen Vorherrschaft im 13. Jahrhundert dargestellt habe. Während Samarins Schrift im Ton noch kämpferische Züge trug, schrieb üegichin in der Sicherheit, die historische Wahrheit zu verkünden. So habe die im 11./12. Jahrhundert bestehende russische Tributherrschaft über man- che Grenzregionen „zur Vereinigung mit den Russen" geführt, welche durch den lange vor dem Katholizismus unter den Vorfahren der Letten und Esten verbreiteten orthodoxen Glauben gefestigt worden sei. Folglich wäre das „livländische Land" fast „zu einem Teil Russlands gemacht worden"» Hier seien dann aber die „Kreuzritter" angetreten, um dies zu verhindern." Diese Fehlentwicklung, der deutsche Sonderweg in der Geschichte des Baltikums, wurde nun von St. Petersburg korrigiert. Die von Katkov 1867 noch unterstellte „Differenz zwischen der russischen und der nur staatli- chen, imperialen Einheit" verschwamm, doch nahm der russische Natio- nalismus den Einheitsprimat des zarischen Reichspatriotismus unter einem neuen Vorzeichen und einer neuen Integrationsverheißung auf: Der moder-

51 Bassin: Turner (wie Anm. 36), S. 490-495. Vgl. Pribaltijskij kraj (wie Anm. 47), S. 54. 52 Renner (wie Anm. 27), S. 366. 53 üegichin: Kratkaja istorija (wie Anm. 35), S. 72. Zu üegichin vgl. Tijt Rozenberg [Tiit Rosenberg]: Russko-baltijskaja istoriografija vo 2-oj polovine XIX - na'ale XX veka [Die russisch-baltische Geschichts- schreibung in der 2. Hälfte des 19. Jh.], in: Russkie v ü,stonii na poroge XXI veka: progloe, nastojak'ee, budukee. Sbornik statej / hrsg. v. V. Bojkov, N. Bassel', Tallinn 2000, S. 140-145. 54 „Sdelalas' by a.st'ju Rossii." Die Deutschen hätten aufgehalten, was geschehen sollte und was sich schon vor ihrer Ankunft abgezeichnet hatte. Evgraf üegichin: Istorija Livonii s drevnejgich vremen [Ge- schichte Livlands seit den ältesten Zeiten], Bd. I, Riga 1884, S. IV, 26. Zitate im Text S. 25f. 55 Wie diese These von der jungen estnischen und lettischen Geschichtsschreibung um die Jahrhundert- wende aufgenommen wurde, wäre einmal genauer zu untersuchen. In der Tendenz wurde eine dauernde Abhängigkeit etwa der Esten von russischer Herrschaft abgelehnt. Vgl. Hendrik Prants: Eestimaa Wenerii- gi alla saamine [Wie Estland an den Russischen Staat fiel], Tallinn 1910, S. 12. 405 Karsten Brüggemann

ne Staat wurde zum Resultat der natürlichen Einigung einer Nation erklärt.56 Dieser Staat wurde zur Klammer des multiethnischen Imperiums und, ganz in Solov'evs Sinne, zum Garanten der „organischen" Entwicklung, die nun Staatsräson hieß. Wie „unvollkommen" dieser Prozess auch bis 1917 gewe- sen sein mag, hat er das Verhältnis der Russen zum Baltikum nicht weniger geprägt als die Bewohner des kraj selbst. Und seine Geschichte wurde durch den eben erwähnten üegichin 1884 in eine Formel mit ewigem Gültigkeits- anspruch gepresst, in der die russische Herrschaft am Ende einer Kette von irreleitenden Entwicklungen als die einzig natürliche sakrosankt wurde: „OglillaKOBOCTb iipHpOgHLIX yCJI0BP114 Kpa5i c yCJIOMINI14 cpezweii noi ocbI POCCHH IIOBJIeKJIa 3a C060ü H OgHHaKOBIDIii o6pa3 )1M3H14 wcHeremeii 3THX mecTHocTeii, a riogo6Ha5I OAHHaKOBOCTb, ripli cosepmemiom OTCyTCTBHH eCTeCTBeHHEIX ripe,DkemoB mexcre HHMH, H ripliBema K CJIH5IHHIO IlpH6airrHücKoro Kpam c pyccKoii rocygapcTBeHHA 06JIaCTMO, H60 crrpaHm, Hwiem He mgenemime Apyr OT gpyra H Hmeionwe ogHH H Te xce ripliporruime yCJI0B1/151, pamo HJIH HOMHO, H KaK 6b1 HH 6bIJI0 pa3H011J1eMeHHO HX HacemeHlle B Hatiame, Hemmiyemo g0J-DICHEI B0i4TH B COCTaB 0,./1-10F0 H Toro-xce FOcy,AapcTso."57

** * Der hier anklingende Besitzanspruch Russlands auf die baltische Ostsee- küste wirkt bis heute nach und findet sich auch in der sowjetischen Historio- graphie — schließlich konnte für die Auffassung, dass Russland sich mit den Ostseeprovinzen nur das einverleibt hatte, was für seine normale Entwicklung notwendig war, sogar Karl Marx zitiert werden.58 Allerdings ist hier nicht der Ort, um der Frage nachzugehen, wie bzw. ob sich die sowjetische Sicht auf das Baltikum von der zarisch-imperialen unterschieden hat, denn abschlie- ßend soll wie angekündigt die Gegenwart wieder mit einbezogen werden.

56 Renner (wie Anm. 27), S. 325 (Zitat Katkov), S. 376. 57 „Die Übereinstimmung der natürlichen Bedingungen des Pribaltijskij kraj mit denen der russischen Ebene brachte auch einen identischen Lebensstil der Bewohner dieser Gegenden mit sich; diese Gleichheit wiederum führte aufgrund des völligen Fehlens natürlicher Grenzen zwischen ihnen zu einer Verschmel- zung des Pribaltijskij kraj mit dem russischen Staatsgebiet, denn Länder, die durch nichts getrennt sind und die dieselben natürlichen Grundlagen haben, müssen unausweichlich früher oder später, und egal, von wie vielen unterschiedlichen Volksstämmen ihre Bewohner zunächst auch abstammten, einen gemeinsamen Staat bilden." üegichin, Kratkaja istorija (wie Anm. 35), S. 1. Mit beinahe denselben Worten umschrieb üegichin die Geographie des kraj in seiner ebenfalls 1884 erschienenen, monumental angelegten Istorija Livonii (wie Anm. 54), t. 1, S. II. Ähnlich im Duktus und der Betonung der „natürlichen" Gesetzmäßigkeit: Godunov (wie Anm. 46), z.B. S. 3. 58 Eesti ühendamisest Venemaaga ja selle ajaloolisest tähtsusest [Über die Vereinigung Estlands mit Russ- land und deren historische Bedeutung]. Lühiuurimisi / hrsg. v. Artur Vassar, Tallinn 1960, S. 3, verweist auf Karl Marx: Secret Diplomatie History of the 18th Century, London 1899, S. 87. 406 Das Baltikum im russischen Blick

Russlands Blick nach Westen hat, wie es Dietrich Geyer vor mehr als dreißig Jahren formuliert hat, seit jeher den Nexus von geographischer Kon- tinuität und internationaler Geltung des Staats im Auge gehabt. Die impe- riale Tradition begründete genuin russische macht- und sicherheitspolitische Interessen und fand Legitimation in der kaum einmal in Frage gestellten po- litischen Rolle der Historiographie." Diese ist wiederum cum grano salis der seit dem 19. Jahrhundert prominenten Auffassung treu geblieben, Ge- schichte und Geographie legitimierten die Zugehörigkeit der baltischen Ost- seeküste zu Russland. Im März 1993 wurde auf einer Konferenz von Histo- rikern und Diplomaten über „Russland und die Länder des nahen Auslands" diskutiert.6° Die Kontinuität der Begründungen für Russlands Ansprüche auf das „nahe Ausland" war dabei bestechend: Das europäische Russland bilde unter Einschluss der Ukraine, Belorusslands und des Baltikums einen auf- grund der geographischen Bedingungen ökonomisch, sicherheitspolitisch und selbst kulturell geeinten Raum (da ja die Bevölkerung des Russischen mächtig sei!), den bereits der mittelalterliche russische Staat beherrscht habe' „objektive Faktoren" würden schließlich ohnehin dazu führen, dass sich die Völker der ehemaligen UdSSR „so oder anders" wieder vereini- gten.62 Vladimir 2irinovskijs Auslassungen im Wahlkampf 2003 über Narva und Dorpat als russische Städte mögen zwar noch als Populismus abqualifi- ziert werden;63 Verteidigungsminister Sergej Ivanovs Äußerung, dass sich die Russische Föderation das Recht vorbehalte, auf dem ehemaligen Territorium der UdSSR ihre Interessen zu verteidigen, stimmt schon nachdenklicher.64 In der neueren Historiographie wird demgegenüber die russlandkritische Geschichtsschreibung in den ehemaligen Sowjetrepubliken zur Legitimati- 59 Dietrich Geyer: Voraussetzungen sowjetischer Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit, in: Sowjetunion. Außenpolitik I, 1917-1955 / hrsg. v. dems. Köln, Wien 1972 (Osteuropa-Handbuch), S. 1-85, hier S. 3f. 60 Rossija i strany bliinego zarubeija: istorija i sovremennost' [Russland und die Länder des nahen Aus- landes: Geschichte und Gegenwart], Moskva 1995. In der Einleitung von S. L. Tichvinskij (Vstupitel'noe slovo, S. 4-9, hier S. 5f.) heißt es vieldeutig, es sei für Diplomaten „sehr wichtig, die echte [podlinnuju] Geschichte zu kennen" [Hervorhebung K.B.]. 61 V.V. Aleksandrov: K voprosu formirovanija territorii Rossijskogo gosudarstva i ego sudeb [Zur Frage der Herausbildung des Territoriums des Russischen Staates und seiner Schicksale], ebda., S. 48-56, hier S. 49: „Das russische Volk wird sich niemals damit abfinden, dass ihm Territorien, die ihm historisch und eth- nographisch gehören, entrissen werden" (Russkij narod nikogda ne smiritsja s iz-jatiem u nego istorieski i etnografi&ski prinadlehkIch emu territorii). 62 Ebda., S. 55f. 63 Ilja Smimov: Vladimir Zirinovski vötaks Eestilt ära Narva ja Tartu [Vladimir 2irinovskij würde Est- land Narva und Tartu wegnehmen], in: Postimees, 28.10.2003. 64 Siehe die Analyse von Kadri Liik: Moskva testib Balti riikide uut olukorda [Moskau testet die neue Situation der baltischen Staaten], in: Postimees, 14.10.2003. Es dürfte in den Zusammenhang passen, dass die Okkupation des Jahres 1940 im offiziellen Sprachgebrauch des Außenministeriums als „Festigung der eigenen [militärischen, K.B.] Positionen" interpretiert wird. Vgl. Merki istorii Ministerstva inostrannych del Rossii 1802-2002 gg. v 3-ch tomach [Skizzen zur Geschichte des Außenministeriums Russlands 1802- 2002], Moskau 2002, hier Bd. 2, S. 262.

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an für eine Verherrlichung des Imperiums. So fordert ül'mira Fedosova in. ihrer 1999 vom Moskauer Akademieinstitut für Geschichte publizierten Mo- nographie über den „Kulturdialog" (kurturnyj dialog) zwischen Russland und dem Baltikum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass man das „Gute und Schöne", das Russland und das russische Volk für die Völker des Imperiums getan hätten, nicht verschweigen dürfe.65 Dementsprechend fällt die Arbeit aus: Man kann sich des bösartigen Verdachts nicht erweh- ren, dass die Autorin unter Alphabetisierung die Verbreitung der rus- sischen Sprache versteht. Grundsätzlich vertritt sie die These, dass die nati- onale Erweckung der Esten und Letten ohne Griboedov, Pugkin, Lermontov etc. (es folgt eine Aufzählung von zwölf „großen" russischen Schriftstel- lern) undenkbar gewesen sei.66 Aber auch die koloniale Denkfigur der kul- turell unterlegenen Esten und Letten ist wieder populär. In einer Arbeit des Militärhistorikers Valerij Sambarov zum Russischen Bürgerkrieg, ebenfalls aus dem Jahr 1999, werden sie bezüglich des Jahres 1919 als „rückständige und vergessene Grenzvölker" dargestellt, die ungebildeter als der typische Bauer in Mittelrussland gewesen seien.67 Hier erstaunt die Souveränität, mit der Sambarov nicht nur die sich gleichzeitig vollziehenden demokratischen Staatsbildungsprozesse dieser „rückständigen" Bauern ignoriert, sondern auch die Ergebnisse der Volkszählung von 1897, die bekanntlich den Bil- dungsvorsprung der „Grenzvölker" gegenüber den Russen recht deutlich zeigten. Festzuhalten bleibt, dass beide Thesen, die von der „guten Koloni- almacht", die zur Blüte der kleinen Völker geführt habe, sowie die von der noch 1919 hoffnungslosen kulturellen Unterlegenheit der Esten und Letten, inhaltlich in einem offensichtlichen Widerspruch zueinander stehen: Ist das russische Kulturträgertum denn komplett ergebnislos geblieben? Gerade da- mit wird jedoch wiederum deutlich, dass baltische Geschichte immer noch in erster Linie Objekt der russischen Geschichte ist und ihre Bewertung da- von abhängig gemacht wird, in welchem Licht Russland steht. Letzteres wird deutlich auch bei einem Beitrag, der in der provokativen Übertragung aktueller politischer Auseinandersetzungen auf die Vergan- genheit seines Gleichen sucht. Jurij Alekseevs von der Ausgangsfrage her spannender Aufsatz über die Seepolitik Ivans III." zeichnet sich durch sei- 65 trmira Petrovna Fedosova: Rossija i Pribaltika: Kul'turnyj dialog; vtoraja polovina XIX - nü'alo XX veka [Russland und das Baltikum: ein kultureller Dialog; von der zweiten Hälfte des 19. bis zum Anfang des 20. Jh.], Moskva 1999, S. 8. 66 Dies scheint eine zeitgenössische Version der These zu sein, erst die Orthodoxie habe seit der Kon- versionsbewegung in den 1840er Jahren die Bildung der Esten und Letten gefördert; so z.B. Lejsman (wie Anm. 35), S. 8f. 67 Valerij Sambarov: Belogvardejkina [Die Herrschaft der Weißen Garden], Moskva 1999, S. 199, 228. 68 Ju. G. Alekseev: Morskaja politika Ivana III (k postanovku voprosa), in: Ot Drevnej Rusi k Rossii novogo vremeni. Sbomik statej. K 70-letiju Anny Leonidovny Chorogkevi / hrsg. v. A. V. Jurasov, Mos- kau 2003, S. 108-125. Zitate S. 110, 111, 114. Vgl. meine Rezension in: Hansische Geschichtsblätter 122 408 Das Baltikum im russischen Blick ne deutlichen rhetorischen Parallelen zur Außenpolitik Russlands unter Vla- dimir Putin aus, welche dem Staat die Beschützerrolle für die Landsleute im „nahen Ausland" zuweist. Alekseev stellt den „Sammler der russischen Erde", Ivan III., als weitsichtigen, modernen Geostrategen vor, der nicht nur nach dem „Anschluss Novgorods an den Russischen Staat" und der „Über- nahme des Schutzes" für Pleskau beider Städte frühere Livlandpolitik auf eine machtpolitisch völlig neue Grundlage gestellt, sondern sich auch „die Bewachung des Glaubens und des Besitzes russischer Menschen, die im Ausland leben" auf die Fahnen geschrieben habe. Dabei sei Ivan trotz wiederholter Vertragsverletzungen der deutschen Seite und der „jahrhun- dertelangen" Benachteiligung der russischen Kaufleute durch die Hanse, die ja aufgrund „der Schwäche der politischen Institutionen Novgorods und Pleskaus" zuvor nicht hätte beseitigt werden können, noch moderat ge- blieben und habe keinerlei territorialen Forderungen gestellt. Ivans Politik wird gesehen als durch historisch-geographische Voraussetzungen determi- niert, er ist vornehmlich Exekutor der „gesetzmäßigen Konsequenzen der Gründung eines neuen Staates, dessen Bedürfnisse einen Zugang zum Meer gefordert" hätten. Rückschläge auf diesem Weg seien, wie z.B. der Sieg der Schweden über die Russen bei Ivangorod 1496, nur „zufällig" gewesen. Ein weiterer Aspekt russischer Auseinandersetzungen mit der Peripherie wird in einer 1994 erschienenen Arbeit von Gelli Staninskij deutlich, in del- ein detailliertes Panorama russisch-baltisch-finnischer Symbiose an der Ost- seeküste durch die Jahrhunderte präsentiert wird. Star&Inskijs Anliegen wird schnell klar, denn auch ihm geht es um die Zukunft Russlands. Diesbezüg- lich plädiert er für eine „russländische" anstelle einer „russischen" Idee.69 Als gleichsam „natürliche" Voraussetzung steht auch hinter diesem „mul- tiethnischen" Ansatz der Konstruktion Russlands unter Einschluss der Ost- seeküste eine Art historischer Geoökonomie. Staninskij arbeitet weder mit historischen Rechten Russlands auf Riga und Reval noch mit der These der kulturellen Überlegenheit der Russen gegenüber Esten und Letten. Dafür fin- det sich hier das neue historische Argument, dass die zwanziger und dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts die ökonomische Schwäche der unabhängigen bal- tischen Länder gezeigt habe." Dieser multiethnische Ansatz scheint ein typischer Versuch zu sein, jen- seits offener großrussischer Töne den Verlust des Imperiums zu verarbeiten. Hier fühlt man sich erinnert an den Volkssozialisten Vladimir Stankevi, der

(2004), S. 295-297. 69 Die „russische" Idee hätte, auch ohne in großrussischen Chauvinismus auszuarten, zentrifugale Kräfte in den Grenzregionen befördert, was nicht nur für Russland, sondern auch für die baltischen Völker kontrapro- duktiv gewesen sei: G.A. Staninskij: Russkie i Balty, Sankt-Peterburg 1994, S. 166, 158f. 70 Ebda., S. 98-115.

409 Karsten Brüggemann im Exil 1921 ein Buch über das Schicksal der Völker Russlands publizierte, in dem er Plus und Minus der neuen unabhängigen Staaten abwog und sich pointiert für einen freiwilligen Zusaminenschluss aller kleinen Völker mit Russland auf demokratischer Grundlage aussprach."' Allerdings hatte er als Sohn aus litauischem Kleinadel von vornherein eine Perspektive von außen, die in der russischen Historiographie selten anzutreffen ist. Wie immer gibt es Gegenbeispiele zum herrschenden Ton. So bemüht sich Evgenija Nazarova in ihren Publikationen um eine kritische Sicht auf die rus- sische Historiographie zum Baltikum. Und sie kritisiert, gestützt auf die Ar- chäologie, scharf den Mythos vom Kulturgefälle zwischen den „entwickelten" Russen und den „wilden" Esten und Letten im 12./13. Jahrhundert.72 Zugleich schreibt sie gegen die Tendenz an, die Errungenschaften der lettischen National- bewegung im 19. Jahrhundert dem russischen Einfluss gutzuschreiben: Schließ- lich hätten hier vor allem Letten etwas für ihr Volk erreicht, nicht selten gegen russische Widerstände. Insgesamt kommt auch sie zu dem Schluss, dass in der Mehrzahl der Fälle das russische Interesse am Baltikum durch aktuelle poli- tische und ökonomische Fragen in Russland selbst hervorgerufen worden sei.73 So oszilliert der russische Blick auf das stets fremde Baltikum zwischen Anzie- hung und Abstoßung, zwischen Vereinnahmung und Verachtung; er scheint da- bei jedoch zumeist abhängig davon zu sein, wie stark der Blick auf das Eigene von Überlegenheitsbewusstsein oder Minderwertigkeitskomplexen geprägt ist. Dieses Spannungsverhältnis bestimmt auch Russlands Verhältnis zu einem abstrakten geohistorischen Konstrukt wie Nordosteuropa. Klaus Zerhack hat zu Beginn der in diesem Band dokumentierten Tagung gefragt, ob in der rus- sischen Ostseepolitik ein Versuch zu sehen sei, die Außengrenze eines das Pe- tersburger Imperium ausschließenden „Nordosteuropa" nach Nordwesten zu- rückzudrängen, oder ob es sich nicht gerade auch um einen russischen Drang nach Nordosteuropa hinein gehandelt hat. Geht man von der Zugehörigkeit Novgorods bzw. St. Petersburgs zu Nordosteuropa aus, stellt sich die Frage zwar anders; solange die russische Selbst-Betrachtung jedoch darauf abzielt,

71 Vladimir Stankevis6: Sud'by narodov Rossii: Belorussija, Ukraina, Litva, Latvija, Estonija, Armenija, Gruzija, Azerbajd2an, Finljandija, Pol% [Die Geschicke der Nationalitäten Russlands: Weißrussland, die Ukraine, Litauen, Lettland, Estland, Armenien, Georgien, Aserbeidschan, Finnland, Polen], Berlin 1921. 72 Evgenija L'vovna Nazarova: Rossija i Latvija: istorija vzaimootnogenij; X - XIX v [Russland und Lettland: die Geschichte der gegenseitigen Beziehungen vom 10.-19. Jh.], in: Rossija i strany (wie Anm. 60), S. 100-111, hier 102-104. 73 Nazarova: Reformy (wie Anm. 31); vgl. dies.: Rossija (wie Anm. 72); dies.: Ju. Trusman o pra- voslavii i katoli&stve v Livonii XII - XIII vv. [Jurij Trusman über Orthodoxie und Katholizismus in Livland im 12. und 13. Jb.], in: Slavjane i ich sosedy: Katolicizm i pravoslavie v srednie veka; Sbornik tezisov, Moskva 1991, S. 15-17. Hier erinnert sie an Georg Trusman, einen orthodoxen Theologen estnischer Herkunft des 19. Jahrhunderts, den man z.B. in Fedosovas Arbeit (wie Anm. 65) vergeblich sucht. Siehe Trusmans Hauptwerk Vvedenie christianstva v Lifljandii [Die Einführung des Christen- tums in Livland], S.- Peterburg 1884.

410 Das Baltikum im russischen Blick von innen her die Grenzen russischer Staatlichkeit zu bestimmen — sei es auf- grund historischer „Fakten" (da, wo Russland einst war, ist auch heute Russ- land) oder „natürlicher" Gegebenheiten (so weit die osteuropäische Ebene mitsamt den Flüssen reicht) —, geht es jedoch tatsächlich um eine Abgrenzung bzw. sogar um ein Zurückdrängen eines Russland ausschließenden Nordost- europa. Für eine Auseinandersetzung mit der russischen Perspektive auf die Region Baltikum stellt sich diese Frage daher anders: Dient der Besitz der Ostseeküste dem jeweiligen russischen Staat für die Anbahnung von Kontak- ten über die Ostsee hinweg oder dient er der Reichsverteidigung. Womöglich hängt das Resultat erneut davon ab, ob Russland sich gerade selbstbewusst als europäische Macht fühlt oder vor lauter antizipierten Bedrohungsszenarien in seinen eurasischen Schmollwinkel verzieht. Zum guten Schluss sei als klassischer Außenseiter der russischen Balti- kum-Betrachtung Igor' Severjanin erwähnt, der 1915 zum „König der Dich- ter" gewählte „Ego-Futurist", der zwischen den Weltkriegen in Estland lebte und die herausragende Figur der literarischen Szene der russischen Minder- heit war. Sein Bild der Wahlheimat im Jahre 1919 war geradezu idyllisch — so idyllisch, wie es die Esten selbst kaum besser hätten zeichnen können:

KaK Cl)eHHKC BO3HHKIIIHil H3 Henna BO3HHKJIa K3 CMyThI cTpaHa. H ecirn ewe He oxpen.11a, 51 sem: oxpenHeT oHa. [...] H BC51 ThI Hoso6Ha HesecTe, 14 BC5I TM Ho) o6Ha Meine, 3CTOHH51, wumm 3cTH, 0a3HC B )KHTeüCKOü Twerre. 74

74 „Wie ein Phönix aus der Asche / Entstand aus der smuta ein Land. / Und wenn es auch noch nicht ge- festigt ist / bin ich doch sicher: Es wird sich festigen. [...] Du bist ganz wie eine Braut, Du bist ganz wie ein Traum / Estland, liebes Eesti / Oase in der alltäglichen Vergeblichkeit." Igor' Severjanin: Po&a ob Estonii [Gedicht über Estland], in: ders.: Lirika, Minsk 1999, S. 333f.

411 Reinhard Nachtigal Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet (bis 1941)

Das westliche Weißmeergebiet gehörte seit dem 13. Jahrhundert zu dem weitausgedehnten Machtbereich Novgorods, das bis 1470 eine sehr weitge- hende Selbständigkeit innerhalb des russischen Staatsverbands besaß. Seit den Vorstößen warägischer Seefahrer in das Eismeer ab dem 9. Jahrhundert war es zu Handelsbeziehungen mit der ansässigen Bevölkerung gekommen, die als Tauschobjekte vor allem Pelze, Häute und Walrosszähne anzubieten hatte.' Handelsbeziehungen dieser Art, vor allem mit wertvollen Pelzen, bestanden auch weiterhin, führten aber nicht zu einer systematischen Durchdringung des hohen Nordens, der über die Jahrhunderte nur lose mit Novgorod und später Moskau verbunden blieb. Dass das Zarenreich erst in seiner Endphase an die Erschließung des Territoriums von der Küste der Murman-Halbinsel bis nach Russisch-Karelien schritt, lag dabei an der Unwirtlichkeit und Unzugänglich- keit des ausgedehnten Tundren-Gebiets, in dem nur wenige Menschen ein karges Leben fristeten. Die schweren Existenzbedingungen und der Mangel an bedeutenden natürlichen Reichtümern führten dazu, dass das heute östlich der finnisch-russischen und norwegisch-russischen Grenze befindliche Gebiet — abgesehen vom schwedisch-russischen Interessenkonflikt — lange Zeit nicht zu einem Streitobjekt oder gar zum Kampfplatz der Mächte wurde. In einer diachronen Schau, die sich auf das Halbjahrhundert von 1890 bis 1941 konzentriert, sollen Merkmale der staatlichen Aneignung (russ. osvoe- nie) und Erschließung eines Gebietes aufgezeigt werden, das geographisch als Nordosten Europas bezeichnet werden kann, in dem Interessen des euro- päischen Westens sich mit solchen der eurasischen Großmacht Russland über- lappten. Dabei bildete die Weißmeerregion im historischen wie naturräum- lichen Sinne die nordöstliche Grenze des alten Europa, die gleichzeitig seit der Gründung des Hafens Archangel'sk 1584 eine Übergangsregion war, wo sich West und Ost trafen. In den hier betrachteten Zeitraum fallen bedeutende Erschließungsmaßnahmen mit unterschiedlichen Ergebnissen, die das rus- sische Staatsinteresse an dem ausgesprochenen Randgebiet spiegeln und die für die Region geschichtsbildend wurden. Erst in diesem Zeitrahmen rück-

1 Zu den ältesten Handelsbeziehungen im Eismeergebiet Gottfried Schramm: Altrußlands Anfang. His- torische Schlüsse aus Namen, Wörtern und Texten zum 9. und 10. Jahrhundert, Freiburg 2002, hier Kapitel IV: Waräger zwischen Ostsee, Wolga und Eismeer. Für die frühe Neuzeit vgl. Stefan Troebst: Handels- kontrolle — „Derivation" — Eindämmung: schwedische Moskaupolitik 1617-1661, Wiesbaden 1997 (Ver- öffentlichungen des Osteuropa-Instituts München, Reihe Forschungen zum Ostseeraum; Bd. 2) und dort angeführte Literatur. 412 Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet te das westliche Weißmeergebiet endgültig in das Blickfeld der russischen Staatsführung und gleichzeitig in das politisch-historische Bewusstsein des Westens. Vergleicht man, was zwei staatliche Erschließungsversuche, der eine in den letzten Jahren des Zarenreiches, der andere in der Frühzeit des Sowjet- staates, ausgerichtet haben, dann wird erkennbar, welchen politischen Stellen- wert die russische Führung dieser Region beimaß und welche Bedeutung sie für den russischen Gesamtstaat erlangte. Seit dem ausgehenden Mittelalter waren an den Weißmeerküsten Englän- der, Holländer und Norweger aufgekreuzt, die an den wenigen bewohnten Ankerplätzen Handel trieben. Gelegentlich tauchten beutegierige Piraten auf. Der russische Staat spannte daher eine lose Kette kleiner Holzfestungen zum Schutz der Ankerplätze und der Küste und siedelte in bescheidenem Umfang die Fischerdörfer bis in das 19. Jahrhundert durch Norweger, Samen, Kare- lier sowie durch Russen auf. Doch weiter reichten die staatlichen Maßnahmen kaum. Subsistenzwirtschaft blieb bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend cha- rakteristisch für die ansässige Bevölkerung. Die Bewohner der küstennahen Gebiete der Kola-Halbinsel wie der kare- lischen Weißmeerküste — teilweise auch die Binnenlandbewohner — fingen Fi- sche und Meeressäuger. Im küstenfernen Innern der Kola-Halbinsel lebten die Samen von Rentierherden. Nur in Russisch-Karelien spielte auch der Holz- einschlag seit jeher eine gewisse Rolle, denn die Baumstämme konnten über zahlreiche Flüsse und Seenketten leicht zu den Küsten transportiert werden. Jagd und Landwirtschaft deckten hingegen nur den Eigenbedarf. Die nörd- lich des Polarkreises gelegene Kola-Halbinsel war bis in die Zeit zwischen den Weltkriegen sehr viel dünner besiedelt als das von Kareliern bewohnte Ost-Karelien,2 einer Ethnie, die sich von ihren nahen Sprachverwandten, den Finnen, durch ihre Zugehörigkeit zur russischen Orthodoxie und wirtschaft- lich durch das in Russland übliche Umverteilungssystem des gemeinschaft- lichen bäuerlichen Landes unterschied. Ost-Karelien wurde auch nach der Annexion Finnlands durch den Zaren- staat im Jahre 1809 nicht mit dem stammverwandten Finnland vereint, son- dern blieb zwischen den russischen Gouvernements Olonec (finn. Aunus) und Archangel'sk etwa hälftig aufgeteilt. Die Provinz Archangel'sk reichte als eines der größten und bevölkerungsärmsten russischen Gouvernements von der norwegisch-russischen Grenze bis zu den nördlichen Ausläufern des

2 Bis zum Ersten Weltkrieg lebten auf der Kola-Halbinsel bis zu 10.000 Menschen, in Ost-Karelien hingegen rund 300.000, von denen etwa die Hälfte finnischstämmig war; nach Pekka Kauppala, Marina Vituchnovskaja: Ost-Karelien am Vorabend der Großen Russischen Revolution: Immobiler Staatsmonopo- lismus und innere Einmauerung, in: Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat: Rußland in der Spät- phase des Zarenreiches / hrsg. von Heiko Haumann und Stefan Plaggenborg, Frankfurt/M. 1994, S. 42-70, hier S. 45. Vgl. auch Terence Armstrong: Russian Settlement in the North, Cambridge 1965, S. 44.

413 Reinhard Nachtigal

Uralgebirges, umfasste also fast den ganzen Norden des europäischen Russ- land. Wirtschaftlich, sozial und politisch entwickelten sich das Archangel'sker „Weißmeer-" bzw. Dvina-Karelien und das näher an den altrussischen Bin- nengouvernements gelegene Olonec-Karelien in der Folge unterschiedlich. Während das auf die Hauptstadt Petersburg orientierte Olonec-Karelien eine den innerrussischen Gebieten ähnelnde Spur beschritt und wie diese einen ade- ligen Grundbesitz aufwies, blieb Weißmeer-Karelien wirtschaftlich ausgespro- chen unentwickelt. Hier bildete sich dafür in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts ein karelisches Sonderbewusstsein aus, das — unter dem Einfluss des in Finnland um die Jahrhundertmitte erwachenden Nationalbewusstseins — zu- nehmend auf das westliche Brudervolk sah. Dass der nördliche Teil Ost-Kare- liens diesen Weg beschritt, wird vor allem auf die wirtschaftliche Bedeutungs- losigkeit, ja Armut der Bewohner des gesamten Küstengebiets (russ. Pomor 'e) des Gouvernements Archangel'sk zurückgeführt. Dies war durch die Politik der russischen Regierung teilweise mitbedingt. Als durch den Staatsumbau des Reformzaren Alexander II. ein effektives, infrastrukturschaffendes Selbstver- waltungsorgan der Provinzialstände neben der staatlichen Verwaltungshierar- chie, das zemstvo, geschaffen war, wurde es 1870 im Gouvernement Olonec eingeführt, nicht aber in Archangelsk, wo man wegen der geringen Bevölke- rungszahl und der bescheidenden Wirtschaftsleistung keinen Bedarf dafür sah. Wanderhändler aus dem nördlichen Ost-Karelien schlugen zunächst eine ökonomische Brücke zu dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu- nehmend prosperierenden Finnland. Dort interessierte man sich außerdem für die traditionalistische Kultur der als stammesverwandt erkannten Karelier, so dass um die Wende zum 20. Jahrhundert ein erwachender „Karelianismus" auf einen großfinnischen Nationalismus stieß. Gleichzeitig war damit eine Front- stellung zum russischen Staat vorgegeben, die nicht nur auf politisch-kultu- rellen Gegensätzen beruhte. Anders als im sozial und wirtschaftlich stärker differenzierten Olonec-Karelien verfügte im ärmeren, unentwickelten Weiß- meer-Karelien der Staat als Monopolist über den einzigen natürlichen Reich- tum des Gebietes: das Holz aus den riesigen Staatsforsten. Die Exporterlöse aus dem Holzverkauf flossen nicht in das Land zurück, daher unterblieben in- frastrukturelle Maßnahmen. Die zunächst wirtschaftliche, dann aber auch kul- turelle, soziale und politische Orientierung Weißmeer-Kareliens auf Finnland, dessen Wirtschaft durch die Autonomie im Rahmen des russischen Staates vor Billigimporten von dort geschützt wurde, verstärkte sich um so mehr, je län- ger die russische Zentrale mit Maßnahmen zur Hebung der Lage im Pomor `e- Gebiet zögerte, während in den nichtkarelischen Teilen des Gouvernements Archangel'sk eine Orientierung auf Finnland wegen des großen Abstandes un- terblieb. In Olonec-Karelien, das stärker an der günstigen Entwicklung der in- nerrussischen Gouvernements teilhatte, kam es zu Akkulturationstendenzen an 414 Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet die russische Bevölkerung; so prägte sich ein südkarelischer Dialekt heraus, der sich stärker als das Weißmeer-Karelische vom Finnischen unterscheidet.' Ein weiteres Merkmal kennzeichnete beide Teile Ost-Kareliens. Die seit dem 17. Jahrhundert von der orthodoxen Staatskirche verfemten Altgläubigen suchten Schutz in geographischen Nischen des Staates und haben sich auch die Randlage Kareliens zunutze gemacht. Manche Ost-Karelier sind zu die- ser glaubensstarken Gruppe übergetreten, was bis zum Ende des Zarenreiches eine latente Russifizierung unter den orthodoxen Kareliern vorantrieb. Als es in Russisch-Karelien nach der Verkündung bürgerlicher Rechte im Revoluti- onsjahr 1905 zum offenen Gegensatz zwischen dem panfinnischen Karelianis- mus und dem russischen Staat kam, schlossen sich die Altgläubigen mit Staat, orthodoxer Kirche und der russischen Schwarzhundert-Bewegung zu einer ge- meinsamen Front gegen die karelisch-finnischen Ambitionen zusammen.4 Das dem Zaren abgetrotzte Oktobermanifest von 1905 lockerte den Zugriff des Staates auf seine Untertanen. Seit dieser Zeit kam es zur schwungvollen Wiederbelebung der politisch-nationalen Kontakte zwischen Karelien und Finnland, die Ende des 19. Jahrhunderts noch wirkungsvoll unterbunden wor- den waren. Die Staatsführung hatte guten Grund zur Sorge, dass sich im Nord- westen des Reiches, in dem die finnische Autonomie und der im Vergleich mit den innerrussischen Gebieten hohe soziale, wirtschaftliche und kulturelle Ent- wicklungsstand Finnlands ohnehin ein Problem für die Staatseinheit waren, ein zentrifugales Potential mit Tendenzen zum Abfall bildete. Im Jahrzehnt vor dem Weltkrieg leitete der Staat in Gemeinschaft mit dem zemstvo von Olo- nec Gegenmaßnahmen ein. Die nachhaltige Förderung des Bildungswesens in Olonec-Karelien verfolgte dabei nicht zufällig den Zweck, die Russifizierung voranzutreiben. Dagegen wurden keine Maßnahmen zur wirtschaftlichen He- bung ergriffen, da man eine noch stärkere Sogwirkung aus Finnland befürch- tete: die Vorbild- und Musterfunktion dieses Landes mit seinen weitreichenden Autonomierechten war offensichtlich. So konnte das Großfürstentum länd- liche Neusiedler für das benachbarte Ost-Karelien stellen, die mit effizienteren, modernen Arbeitsmethoden in der Landwirtschaft vertraut waren.5 Der wirt- schaftlichen Entwicklung Olonec-Kareliens hätte auch der Bau einer schon vor dem Ersten Weltkrieg ins Auge gefassten Eisenbahn gedient, die das regionale Wirtschaftszentrum Petrozavodsk (finn. Petroskoi) am Onega-See an das rus- sische Eisenbahnnetz angebunden hätte. Allerdings hätte eine solche Bahnli-

3 Kauppala, Vituchnovskaja (wie Anm. 2), S. 46-58. 4 Marina Vitukhnovskaya: Cultural and Political Reaction in Russian Karelia in 1906-1907: State Power, the Orthodox Church, and the "Black Hundreds" against Karelian Nationalism, in: Jahrbücher für Ge- schichte Osteuropas 48 (2001) S. 24-44. 5 Kauppala, Vituchnovskaja (wie Anm. 2), S. 59-62; die Autoren sprechen von der russischen Furcht einer „Finnlandisierung" Ost-Kareliens.

415 Reinhard Nachtigal nie am leichtesten nach Westen, nördlich des Ladoga-Sees, an die bestehende finnische Bahn Wiborg (finn. Viipuri, schwed. Viborg, russ. Vyborg) — Sorta- vala (früher russ. Serdobol') — Joensuu in Westkarelien angeschlossen werden können. Damit hätte sie jedoch der russischerseits unerwünschten West-Ost- Achse gedient, die gerade im Weißmeer-Karelien nicht mehr nur wirtschaftlich begründet war, sondern eine politisch-nationale Dimension herausgebildet hat- te. Die materielle Unterstützung der finnisch-karelischen Annäherung auf ei- ner solchen West-Ost-Achse kam aber nicht in Frage. So unterblieb jeglicher Bahnbau bis in das erste Jahr des Weltkrieges.6 Moderne Ansätze zur Erschließung des gesamten Weißmeergebietes zeichnen sich erst in der Anfangsphase der russischen Industrialisierung ab. Vor dem politischen Hintergrund einer neuen wirtschaftspolitischen Orien- tierung des russischen Staates unter dem energischen und weitschauenden Verkehrs- und Finanzminister Sergej Jul'eviZ Vitte (1892-1902) wurde die Industrialisierung des Staates in den 1890er Jahren vor allem als ein Finan- zierungsprojekt begonnen. Dies erklärt, weshalb der russische Finanzminis- ter, und nicht etwa der Wirtschaftsminister, für die Industrialisierung verant- wortlich zeichnete. Vitte führte den russischen Goldrubel ein, machte den russischen Staat dadurch für ausländische Kreditgeber vertrauenswürdig und bemühte sich um zusätzliche Geldquellen im Land, welche die Erlöse aus dem älteren Getreide- und Holzexport vermehren sollten. In seinem wirt- schaftlichen Denken musste daher jede gewinnbringende Möglichkeit aus- geschöpft werden, was konkret zum Bau der Transsibirischen Eisenbahn und damit zur raschen Entwicklung und Ausnutzung des sibirischen Potentials führte. Vittes expansive Industrialisierungspolitik kam jedoch mit der Nie- derlage im Russisch-japanischen Krieg 1904/05 an ein rasches Ende. Dass Vitte sich bereits in der Regierungszeit Alexanders III. (1882-1894) auch für das Gouvernement Archangel'sk interessiert hatte, ist jedoch kaum bekannt. Im Rahmen einer weit ausgreifenden Konzeption erweckte der äußerste Nor- den des europäischen Russlands Vittes Augenmerk im Zusammenhang mit der Entwicklung und Erschließung Sibiriens,' wie an den Polarexpeditionen offenkundig wird. Nach einem Besuch der Murmanküste im Jahre 1894 legte Vitte dem Zaren dar, welche strategische Bedeutung ein — dort allein mög- licher — eisfreier Hafen für den Fall eines großen europäischen Krieges hät- te — vorausgesetzt, er würde an das russische Bahnnetz angeschlossen. Dass 6 Tuomo Polvinen: Die finnischen Eisenbahnen in den militärischen Plänen Russlands vor dem Ersten Weltkrieg, Lahti 1962 (Studia historica; Bd. 4). 7 Siehe Samuil Venediktovi Slavin: K istorii zeleznodoroznogo stroitel'stva na severe v dorevolju- cionnoj Rossii [Zur Geschichte des Eisenbahnbaus im Norden des vorrevolutionären Russland], in: Leto- pis' Severa 2 (1952), S. 188-205 zum Getreideexport aus Westsibirien Ende des 19. Jahrhunderts, und ders.: Promyglennoe i transportnoe osvoenie Severa SSSR [Die wirtschaftliche und verkehrstechnische Erschließung des Nordens der Sowjetunion], Moskva 1961, S. 80-112 mit Karten S. 87 und 11011

416 Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet die ganzjährig mögliche Nutzung eines solchen Hafens natürlich auch wirt- schaftliche Auswirkungen in Friedenszeiten haben würde, wurde aber nicht explizit ausgesprochen. Dass es noch Mitte der 1890er Jahre zur Gründung des eisfreien Hafens Katharinenhafen (Ekaterininskaja Gavan') und der benachbarten Telegraphen- und Kohlenstation Aleksandrovsk (heute Poljamyj) auf dem Westufer der Kola-Bucht, nur 50 Kilometer nördlich des heutigen Murmansk, kam,' ist einem Mann zuzuschreiben, der von dem gleichen modernen Denken wie Vitte geprägt war: für knapp zehn Jahre wirkte Aleksandr Platonovi Engel'gardt als Gouverneur von Archangel'sk. Umgehend nach seinem Amtsantritt bereiste er weite Teile seines Gouvernements und legte seine Vorschläge für eine wirt- schaftliche Hebung und staatliche Nutzbarmachung seines Amtsbezirks in drei Memoranden nieder, die in der Gouvernementshauptstadt publiziert wurden. Das erste von 1893 („Vologodsko-Dvinskaja zeleznaja doroga") empfahl den Bau einer Trasse nach Archangel'sk, die 1897 als Normalspurbahn westeuro- päischen Zuschnitts gebaut wurde. 1894 erschien sein Rechenschaftsbericht über die Reise zur Murmanküste, zur Insel Novaja Zemlja sowie in den Ostteil des Gouvernements, den die Pet&Ta durchfließt („Merk pute,Westvija na Mur- man, Novuju Zemlju i v Pe'6orskij kraj"). Wiederum ein Jahr später berichtete er über das Pomor `e, also die Weißmeerküste sowie die westlichen Gouverne- mentsteile, Karelien und Lappland („Merk putd&stvija v Pomor `e, Koreliju i Lapljandiju").9 Seine Vorschläge zu Infrastrukturmaßnahmen betrafen nicht nur die Schaffung eines Verkehrsnetzes mittels Bahnbau,1° Telegraphenver- bindungen und Schifffahrtslinien, wofür er die Einrichtung des Hafens an der Murmanküste empfahl, sondern bezogen auch gesellschaftliche Institutionen auf unterer, bäuerlicher Ebene ein, die das im Gouvernement fehlende zemstvo zumindest teilweise ersetzen sollten. Dass der kleine Hafenposten Aleksandrovsk, an den die — ursprünglich in der ältesten Murmansiedlung Kola befindliche - u"ezd-Verwaltung des rie- sigen Kreises verlegt wurde, vor der Gründung der späteren Stadt Murmansk keine wirtschaftliche Bedeutung erlangte, ist auf das nachlassende Interesse der russischen Regierung unter Nikolaus II. zurückzuführen. Im Vergleich mit den großen Möglichkeiten, die nach Vittes Vision durch die Transsibi- rische Eisenbahn in Fernost und Zentralasien erschlossen wurden, trat die Öffnung nach Norden in den Hintergrund. Über den Bau einer Eisenbahn an 8 Ivan F. Ugakov: Kola, Murmansk 1983, S. 91f. und Aleksej Kiselev, Michail Tulin: Kniga o Murman- ske [Das Buch über Murmansk], Murmansk 1977, S. 9-11. 9 Al'manach sovremennych russkich gosudarstvennych dejatelej [Almanach der gegenwärtigen rus- sischen Staatsmänner], Sankt-Peterburg 1897, S. 8, und Richard J. Robbins: The Tsar's Viceroys: Russian Provincial Governors in the Last Years of the Empire, Ithaca NY 1987, S. 68-71. 10 Slavin (wie Anm. 7), S. 191-204 mit einer guten Übersicht zu den weitreichenden Bahnbauprojekten des späten Zarenstaates, die bis 1914 nicht verwirklicht wurden.

417 Reinhard Nachtigal die Murmanküste wurde in der Folge kein weiterer Gedanke verschwendet. Das durchaus modern ausgestattete Aleksandrovsk11 erlangte bis zum Welt- krieg nur eine gewisse regionale Bedeutung. Der Platz diente als ganzjährig unterhaltener Stützpunkt für mehrere langfristige Expeditionen, die seit 1897 zu wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Zwecken an die Murmanküste und in die Barentssee unternommen wurden. Diese Expeditionen hatten die wirtschaftliche Hebung und Erschließung des Gesamtgebietes zum Ziel. Die Fischerei sollte als Eckpfeiler der sozialen Hebung entwickelt werden, da- bei hoffte man, die Präsenz vor allem von Norwegern an der Murmanküste und ihre Konkurrenz im Fischfang und Warenhandel auf russischem Territo- rium zurückzudrängen.12 Gleichzeitig begann die Suche nach einer Nordost- passage für Frachtschiffe, die Agrarerzeugnisse aus Sibirien über die großen schiffbaren Ströme Jenissej, Ob und später auch Lena aufnehmen konnten. Auch dieses Unterfangen geht auf Witte zurück. Im Jahre 1897 wurde in St. Petersburg das Küstenland-Komitee (Komi- tet dlja pomaa pomor jam Russkago Severa) gegründet, das im selben Jahr eine Expedition unter dem Petersburger Zoologen Nikolaj Knipovic und dem deutschrussischen Polarforscher Leonid Breitfuß (Brajtfus) ausrüstete. Die Expedition sollte klimatische, meeresbiologische und ozeanographische Forschungen in der Barentssee und an der Murmanküste durchführen, aber auch die Entwicklungsmöglichkeiten für den Fischfang und Kommunikati- onen prüfen?' Konkreter Hintergrund dieser auf zehn Jahre veranschlagten Expedition und einer weiteren seit 1898 war die Absicht Russlands, der z. T. seit Jahrhunderten bestehenden wirtschaftlichen Präsenz englischer, hollän- discher, schwedischer, norwegischer und deutscher Kauffahrer und Fischer an seiner europäischen Nordküste wirksam entgegenzutreten. An der Wen- de zum 20. Jahrhundert beunruhigte vor allem die als bedrohlich empfunde- ne Konkurrenz norwegischen Kapitals. Denn die norwegische Fischfangflot- te dominierte den Handel in fast allen russischen Weißmeerhäfen, während die russische Seefischerei nur örtliche Bedeutung besaß. Um in Russland die Kenntnisse insbesondere der Barentssee zu vertiefen, wurden im Ausland Forschungsschiffe für Expeditionen angekauft. Die Verdrängung des auslän- dischen Kapitals und der ausländischen Handelspräsenz in seinem hohem Norden gelang Russland jedoch bis in den Ersten Weltkrieg nicht, weil es an russischem Kapital mangelte. Vielmehr kam es im Weißmeergebiet während 11 Pier Horensma: The Soviet Arctic, London 1991, S. 17-20. 12 Ebda., S. 16-20. 13 Komitet dlja pomog'ü'i pomor'jam Russkago Severa [Das Hilfskomitee für die Küsten des russischen Nordens], St. Petersburg 1897, und Leonid Breitfuß: Die Erschließung des eurasiatischen hohen Nordens, Gotha 1930 (Petermanns geographische Mitteilungen; Ergänzungsheft Nr. 207). Vgl. auch: Professor Dr. Leonid Breitfuß zu seinem 50jährigen Polarforschungs-Jubiläum (1898-1948) und seinem 85. Geburtstag: Biographie mit Portrait und Verzeichnis der Schriften, Holzminden 1949, S. 7-14.

418 Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet

des Weltkrieges zu einer modernen Neuauflage der wirtschaftlichen Aus- einandersetzung zwischen Russland und England, das dem Zarenstaat beim Aufbau seiner Kriegsindustrie keineswegs selbstlos half?' Obwohl Vitte im Jahre 1904, inzwischen russischer Ministerpräsident, die Weißmeerküste neuerlich bereiste, bekam die zehn Jahre zuvor mit großem Schwung begonnene, aber inzwischen erlahmte Entwicklung keinen neuen Rückenwind. Zwar war der Stützpunkt Aleksandrovsk für die — insgesamt eher wissenschaftlich ausgerichteten — Forschungszwecke gut ausgestattet, aber von einer Funktion als Verkehrs- und Wirtschaftshafen war er weit ent- fernt. Das galt umso mehr, als keinerlei Pläne für die ganzjährige Verbindung des Hafenpostens mit Innerrussland bestanden. So schlummerten Hafen und Stützpunkt Aleksandrovsk bis in den Weltkrieg hinein, weil sie zu nicht mehr als für die regionalen Expeditionen dienten. An der übrigen Weißmeerküste regte sich noch viel weniger Leben, ganz zu schweigen von denjenigen Ge- bieten, die von der Küste weit entfernt waren. Die in den 1890er Jahren weit- reichenden Entwicklungspläne für den Weißmeerraum blieben auf der Stre- cke, obwohl der Russisch-japanische Krieg einmal mehr und nun in äußerster Schärfe die Notwendigkeit eines eisfreien Etappenhafens unterstrich, der den Weg zu den russischen Besitzungen in Fernost verkürzen half. Da es kei- nen Hafen gab, der den Zugang zum Atlantik öffnete, und die Nordostpassa- ge entlang Russlands Arktisküste noch nicht durchgängig befahrbar war, war die russische Baltische Flotte zu dem weiten Umweg über Ost- und Nordsee, Mittelmeer und Pazifik gezwungen, wo sie — erschöpft und abgenutzt — vor die japanischen Schiffsgeschütze ins Verderben eilte. Statt verstärkt die Ent- wicklung eines eisfreien Zwischenhafens an der Murmanküste zu betreiben, verließ man sich weiterhin auf den im Winter etwa fünf Monate lang zuge- frorenen und dann nicht nutzbaren ältesten Hafen Russlands, Archangel'sk, schritt aber zu der Erforschung eines durchgehenden Seeweges von dort zur Bering-Straße.15 Das westliche Weißmeergebiet blieb bis zum Weltkrieg ein Stiefkind, von dem wenig zu hoffen war. In der ersten Hälfte des Kriegsjahres 1915 fiel die Entscheidung zum Bau der später sogenannten Murmanbahn, und zwar aus zwei Motiven. Der Bahn- anschluss des Industriestandorts Petrozavodsk an die 1901 fertiggestellte Bahn St. Petersburg — Vologda — Perm' nach Sibirien hatte schon früher nahegelegen. Der über Onega-See — Svir' — Ladoga-See und Neva führende Wasserweg, der über das Marienkanal-System einen wichtigen Südanschluss an die Wolga be-

14 Reinhard Nachtigal: Die Murmanbahn: die Verkehrsanbindung eines kriegswichtigen Hafens und das Arbeitspotential der Kriegsgefangenen 1915-1918, Grunbach 2001, S. 30f. 15 Horensma (wie Anm. 11), S. 19 f.; Constantine Krypton: The Northern Sea Route: Its Place in Russian Economic History Before 1917, New York 1953, S. 21-131; John McCannon: Red Arctic. Polar Explora- tion and the Myth of the North in the Soviet Union, 1932-1939, New York 1998, S. 16-19.

419 Reinhard Nachtigal saß, ist als Verkehrsweg während der langen Vereisung im Winter nicht nutz- bar. Lange Wartezeiten — auch für scheinbar wenig wichtige Massengüter wie Holz und Getreide — waren aber unter den Umständen eines modernen, d. h. vor allem auch technisch geführten Krieges nicht hinnehmbar. Als zweiter, wichtiger Grund ist anzuführen, dass Russlands Kriegsrüstung sich schon im Frühsommer 1915 sichtlich erschöpft zeigte und der Zarenstaat zu Rüstungs- importen vor allem aus England und den Vereinigten Staaten Zuflucht nahm. Für die Anlandung der ausländischen Rüstungsgüter fielen schon in den ersten Kriegsmonaten die russischen Häfen an der Ostsee und im Schwarzen Meer aus, wo die Flotten der Mittelmächte den Nachschub unterbanden. So verblieb Russland als einziger eisfreier Hafen Vladivostok am Pazifik, der zwar für Im- porte aus Amerika und Japan intensiv genutzt wurde, aber weit entfernt vom europäischen Kriegsschauplatz lag. Da die Transsibirische Eisenbahn zunächst noch eingleisig verlief und außerdem für wichtige Mobilisationsaufgaben wie Truppentransporte, seit 1915 auch für Evakuierungstransporte von russischen. Kriegsflüchtlingen und Mittelmächte-Kriegsgefangenen genutzt wurde, blie- ben ihre Transportkapazitäten auch nach dem zweigleisigen Ausbau 1915 der- art beschränkt, dass die amerikanisch-japanische Intervention nach der bolsche- wistischen Machtergreifung und vor Beginn des Bürgerkrieges in Sibirien im Juni 1918 die Absicht verfolgte, das noch von der Zarenregierung bestellte, aber noch nicht bezahlte Kriegsmaterial vor fremdem Zugriff zu schützen, weil es noch immer an der Strecke zwischenlagerte. Diese Umstände führten zu dem Doppelprojekt, für die Verbindung nach England einen eisfreien Stützpunkt an der Kola-Bucht zu nutzen und in kürzester Zeit eine Bahnverbindung dorthin zu bauen. In den ersten Kriegs- wintern wurde noch für Rüstungsgüter aus den westlichen Entente-Staaten. eine Schlittentrasse von der Kola-Bucht zum nordfinnischen Hauptort Ro- vaniemi benutzt. Zivile Wirtschaftsgüter scheinen auf eben diese Weise vom norwegischen Finnmarken-Hafen Kirkenes entlang der später gebauten Eis- meerstraße ebenfalls nach Rovaniemi geschafft worden zu sein, wo die fin- nische Staatsbahn endete, die mit der russischen Bahn verbunden war.16 Die zukünftige Bahnlinie nach Petrozavodsk war von dort bis zum Volchov-Fluss, wo sie von der Bahnlinie nach Perm' — Sibirien nach Norden abzweigte, schon 1912 trassiert worden. Vermutlich begann in jenem Jahr auch der Bau von 28 Brücken.' Der Bau des Südabschnittes der späteren Murmanbahn wurde im Juli 1914 aufgenommen und mit Intensität über das gesamte Kriegsjahr 1915 vorangetrieben, zum Jahresende ging die Bahn provisorisch in Betrieb, und

16 Norman Stone: The Eastern Front 1914-1917, London 1975, S. 158 f. Archivquellen deuten allerdings auch Schlittentrassen zwischen Kandalakscha und Rovaniemi an, vgl. Nachtigal (wie Anm. 14), S. 65. 17 Rossijskij Gosudarstvennyj Istorieskij Archiv (Russisches Historisches Staatsarchiv, St. Petersburg) Fond 350, opis' 30, dela 4, 29, 32-35, 39, 58, 275, 292, 294, 296: Akten zur Trassenplanung der Gesamtstrecke.

420 Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet zwar unter einer eigenen, in Petrograd ansässigen „Bauverwaltung der Olo- nec-Bahn (Pravlenie Ob:destva Oloneckoj "eleznoj- dorogi)".18 In der zweiten Jahreshälfte 1915 wurde die Trassierung und die Baufinanzierung der nörd- lich vom Vyg-See anschließenden Bahnlinie, der Murmanbahn (Murmans- kaja•-eleznaja doroga), geplant. Schon im Sommer 1915 wurde gleichzeitig mit deren Bau von ihrem nördlichen Ende an der Kola-Bucht her begonnen, zwischen Kola und dem nordwestlichsten Weißmeerhafen Kandalakga (finn. Kantalahti). Für diesen schwierigen, weil nördlich des Polarkreises in sump- fig-felsigem Gelände zu bauenden Abschnitt waren ausländische Bahnbau- Firmen vorgesehen, von denen als letzte ein britisches Konsortium unter Lord Austin French im Sommer 1915 die genauen Bedingungen für einen raschen Ausbau mit dem russischen Verkehrsministerium verhandelte. Diese Lösung bot der russischen Regierung mehrere Vorteile. Wie seinerzeit beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn, sparte man Zeit, wenn die über 1.450 Kilometer lange Linie von zwei Enden angelegt wurde. Auf der Murman-Halb- insel standen kaum einheimische Arbeitskräfte zur Verfügung. Das Baumateri- al musste deshalb mit Schiffen aus dem Ausland herangeführt werden, und die French-Gruppe sagte die Bereitstellung einer größeren Anzahl von Fachkräf- ten zu. Schließlich garantierte sie die Fertigstellung des nördlichsten Abschnitts bis zum Jahresbeginn 1916: ein nach Einschätzung des Verkehrsministeriums aufgrund der äußeren ungünstigen Momente schwer einzuhaltender Termin. Im Falle einer Verzögerung musste damit die Schuld auf die mit dem Bahn- bau beauftragten westlichen Entente-Verbündeten fallen, die zur militärischen Entlastung ihrer bedrängten Truppen an der Westfront in Nordfrankreich im- mer größere Kriegsanstrengungen Russlands an der Ostfront anmahnten. Die schnelle Inbetriebnahme wenigstens des Nordabschnitts hatte außerdem den Vorzug, dass ab Kandalakga mit Beginn der Schifffahrt im Weißmeer ein kombinierter Schiff-Bahnverkehr für Güter dort eingerichtet werden konnte, der bis nach Archangel'sk und zum Hafen in der Soroka-Bucht (heute Belo- morsk) reichte. Da über die Niva auch der Imandra-See schiffbar ist, werden solche Überlegungen bei der russischen Führung eine Rolle gespielt haben. Am Nordabschnitt, der bald nach dem Südabschnitt Volchov — Petrozavodsk An- fang 1916 in einen provisorischen Betrieb ging, bauten schließlich auch ameri- kanische Ingenieure; die Betriebsverwaltung lag jedoch in russischen Händen. Für eine größere Anzahl ausländischer Facharbeiter gibt es hingegen kaum Anhaltspunkte. Vielmehr zog der Staat außer einheimischen Kareliem, Finnen und russischen Militärarbeitern seit August 1915 auch Kriegsgefangene der Mittelmächte für diese Arbeiten heran, was die Aufmerksamkeit der Kriegsmi- nisterien in Berlin und Wien und bald auch der neutralen skandinavischen Staa- 18 Zu Einzelheiten des Baues der Olonec- und der Murmanbahn vgl. im weiteren Nachtigal (wie Anm. 14), S. 24-38.

421 Reinhard Nachtigal ten erregte. So drang endlich im 20. Jahrhundert das westliche Weißmeergebiet mit seiner wichtigen Lebensader, der ganzjährig nutzbaren Murmanbahn, in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Freilich scheiterte während des überstürz- ten Bahnbaus von Sommer 1915 bis zum Abzug der meisten Arbeiter im späten Frühjahr 1917 Russland an der schwierigen Aufgabe, die Versorgung von zeit- weise weit über 60.000 Menschen gleichzeitig an der Linie sicherzustellen. Kli- ma, Unwirtlichkeit des Territoriums und Menschenleere taten das Ihre, um die Lage zu verschlimmern. Obwohl schon im Herbst 1915 die Gouvernementsver- waltungen von Olonec und Archangel'sk diese Missstände zur Kenntnis nah- men und auf Massenfluchten von Kriegsgefangenen, Kareliern, Finnen und Russen mit Disziplinverschärfungen reagierten, gelangten über die Fluchtlän- der Finnland, Schweden und Norwegen solche alarmierende Nachrichten an die Mittelmächte, so dass Deutschland im Oktober 1916 endgültig zu Repressalien an 500 russischen Offizieren in deutschem Gewahrsam schritt, um eine Bes- serung der Lage der Mittelmächte-Gefangenen im Weissmeerraum zu erzwin- gen.19 Die neutralen skandinavischen Staaten erreichten Mitte Dezember 1916, dass auf die in Deutschland und Russland gegen die kriegsgefangenen Of- fiziere durchgeführten Vergeltungsmaßnahmen verzichtet wurde, nachdem schon im November die deutsche Führung die Nutzlosigkeit dieses Druck- mittels erkannt hatte. Zur gleichen Zeit wurde die Fertigstellung der Gesamt- strecke von Petrozavodsk nach der im Oktober 1916 gegründeten Hafenstadt Romanov-na-Murmane (April 1917 in Murmansk umbenannt) erwartet. Damit schien der Abzug der Kriegsgefangenen möglich, die seit Sommer rund 40.000 Mann und damit wahrscheinlich über die Hälfte aller Arbeiter an der Gesamtstrecke stellten. Nachdem Anfang 1917 der Betrieb auf die- ser Strecke provisorisch aufgenommen wurde, verblieben immer noch eini- ge Zehntausend Kriegsgefangene, die neben etwa 5.000 Chinesen und ande- ren Arbeitern vorläufig den Betriebsablauf zu bewerkstelligen und vor allem Klimaschäden am Schienenweg zu beheben hatten. Das russische Verkehrs- ministerium erwartete ausgiebige Reparaturarbeiten mit der im April dort beginnenden Schneeschmelze, die dann auch die Bahn für Wochen fast un- brauchbar machte. In Russlands letztem Kriegsjahr erlangte daher die Bahn keine kriegsentscheidende Bedeutung mehr, zumal die eingleisige Spur so überbeansprucht war, dass die im Hafen von Murmansk angelandeten Kriegsgüter nicht an die Front abtransportiert werden konnten und im Feb- ruar 1918 den wichtigsten Anlass für die britisch-französische Intervention bildeten. Auf lange Sicht hinterließ aber der untergehende Zarenstaat dem aufsteigenden Sowjetimperium mit dem Bahnbau eine große Vorleistung, die 19 Nachtigal (wie Anm. 14), S. 73-81. Nur Deutschland führte diese Repressalien durch, obwohl an der Mur- manbahn nachweislich 90 % aller Kriegsgefangenen Angehörige der österreichisch-ungarischen Armee waren.

422 Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet

schließlich für den Gesamtstaat wie für das westliche Weißmeergebiet über- ragende Bedeutung erlangen sollte, als Russland ein zweites Mal durch einen großen Krieg von seinen meisten Außenverbindungen abgeschnitten wurde. Die ausländische Intervention verhinderte in den ersten Jahren des Sow- jetstaates zunächst, dass diese nord-südliche Verkehrsachse zu einer Lebens- ader werden konnten, die einerseits das gesamte westliche Weißmeergebiet mit der innerrussischen Wirtschaft verbinden und sich andererseits güns- tig auf die Entwicklung Ost-Kareliens und der Murman-Halbinsel auswir- ken konnte: Der Aufmarsch der Entente-Truppen vollzog sich — zeitgleich mit dem Aufmarsch deutscher Truppen im Süden Finnlands — langsam im Frühjahr 1918,20 in dem sich die Bolschewiki in ihrer politischen Konsoli- dierungsphase befanden. Die Interventionstruppen schoben sich seit Som- mer 1918 entlang der nördlichen Murmanbahn bis zum Vyg-See vor, wo die Strecke zwischen den Kriegsparteien unterbrochen war. Die Rote Armee nutzte die südlichen Teilstrecken der Bahn, während das übrige Gouverne- ment Archangel'sk von russischen weißen Truppen besetzt war. Beide Seiten versuchten während des Bürgerkriegs, Vorteil aus der vom Zarenstaat unge- lösten Karelien-Frage zu ziehen und rekrutierten karelische Freiwillige. Ost- Karelien war dadurch nicht nur durch die Bürgerkriegsfront geteilt, sondern erlebte zusätzlich in den Jahren bis nach Ende des Bürgerkrieges in Nor- drussland (März 1920) Bauernaufstände und sogar eine finnische Invasion.21 Dass auf das „illoyale" Staatsverhalten der Ost-Karelier seitens der sieg- reichen Sowjetmacht nach der Vertreibung der Interventen und der weißen Russen keine Sanktionen folgten, sondern am 8. Juni 1920 vom Allrussischen Zentralkomitee eine karelische Teilautonomie in Gestalt der „Karelischen Arbeitskommune (Karel' skaja trudovaja kommuna)" dekretiert wurde, hat- te verschiedene Gründe. Sie rührten von einer gewissen Großzügigkeit der Lenin-Regierung nach dem siegreich beendeten Bürgerkrieg. Von Karelien aus hoffte die sowjetische Zentrale, die Brücke nach Finnland zu schlagen, wo man auf die prosowjetische Sympathie der starken politischen Linken im Lande zählte. Dazu gehörte auch das politische Konzept, mit der im April 1921 verkündeten Wirtschaftsautonomie für Ost-Karelien auf Finnland zu wirken, um dessen Bevölkerung mit ihrem starken Anteil an landlosen Ar- beitern für den jungen Sowjetstaat und die Weltrevolution zu gewinnen. Im gesamtsowjetischen Rahmen und vor dem Hintergrund der Neuen Ökono-

20 Charles Maynard: The Murmansk Venture, New York 1971 — die Memoiren des britischen Führers der Entente-Militärintervention. 21 Pekka Kauppala: Die qualvolle Geburt und das kurze Aufblühen des autonomen Sowjet-Karelien: Ost- Karelien 1917-1930, in: Finnland-Studien Bd. 1/ hrsg. von Edgar Hösch, Wiesbaden 1990, S. 191-227, hier S. 194-198. Zur Rolle Ost-Kareliens im finnischen Staatsbildungsprozeß 1917/18 vgl. Anthony F. Upton: The Finnish Revolution 1917-1918, Minneapolis 1980, passim.

423 Reinhard Nachtigal mische Politik (NtP) wurde das karelische Experiment schließlich zum Para- digma für die zukünftige sowjetische Minderheitenpolitik an den nichtslawi- schen Rändern des Staatsgebiets aufgewertet. Als in Verfolg dieses Zieles die Karelische Arbeitskommune am 25. Juli 1923 zur Autonomen Karelischen Sozialistischen Sowjetrepublik (Karerskaja ASSR, Karerskaja Avtonom- naja Sovetskaja Socialistdeskaja Respublika) umgewandelt wurde, befand sich das Land nach vier Bürgerkriegsjahren, die Hunger, Flucht und Ver- treibung gebracht hatten, auf dem Weg einer allmählichen Normalisierung. Dass sich bis in die ersten Regierungsjahre Stalins ein gewisser sozioöko- nomischer Aufschwung einstellte, lag, so Pekka Kauppala, an der geschick- ten Wirtschaftspolitik des finnisch-sozialistischen Autonomieverwalters und Wirtschaftsfachmanns Edvard Gylling, eines politischen Flüchtlings aus Finnland, im engen Rahmen der Moskauer Autonomiedekrete.22 Neben der Entwicklung der Gewinn abwerfenden Forst- bzw. Holzindustrie wurde auch an den Aufbau einer Fischindustrie geschritten. Die Murmanhalbinsel wurde nach Auflösung des Gouvernements Archangel'sk im Jahre 1922 administra- tiv dem Leningrader Gebiet (Leningradskaja oblast') zugeordnet, der strate- gisch wichtige Kreis Kandalakga wurde Karelien zugeschlagen. Der Verlauf der erst um 1925 wieder voll hergestellten und durchgängig befahrbaren Murmanbahn durch Karelien hatte dabei zunächst kaum Bedeu- tung. Die Bahn wurde aus der karelischen Autonomie ausgegliedert und mit einem breiten Gebietsstreifen längs des gesamten Linienverlaufs zur wirt- schaftlichen Ausbeutung einer sowjetischen Zentralverwaltung unterstellt. Im August 1922 wurde die „Verwaltung der Murmanbahn" gegründet und ihr bald eine „Kolonisationsabteilung" vorrangig für Besiedlungs- und andere Er- schließungszwecke beigestellt. Die Abteilung erhielt dazu außer dem Gebiets- streifen einen bescheidenen Geldfonds. Ihren Rechenschaftsberichten für die ersten drei Jahre zufolge bemühte sie sich seit Sommer 1923 um die Entwick- lung der Forstwirtschaft und um die landwirtschaftliche Entwicklung (Melio- rationen), wobei ihr auch die geologische Erforschung zufiel. Fünf zum Teil großräumige Gebiete zwischen Vyg-See und Kola-Bucht wurden ihr als Ex- perimentierfelder für Landwirtschaft und Ansiedlung schwerpunktmäßig über- lassen, das größte davon südlich des Tuloma-Flusses auf der Murman-Halb- inse1.23 Rückschläge bei der nun langsam anlaufenden Erschließung blieben

22 Kauppala: Qualvolle Geburt (wie Anm. 21), S. 198-206 und 222. 23 God kolonizacionnoj raboty Murmanskoj ieleznoj dorogi. Ot'et o rabotach Kolonizacionnogo ot- dela Pravlenija Murmanskoj 'ieleznoj dorogi za 1923-1924 god. [Das Jahr der Kolonisationsarbeit der Murmanbahn: Bericht der Kolonisationsabteilung der Murmanbahn-Verwaltung für 1923-1924, Lenin- grad 1925. Vtoroj god Kolonizacionnoj raboty Murmanskoj zeleznoj dorogi. Ot'etnyj sbornik Koloniza- cionnogo otdela Pravlenija Murmanskoj ieleznoj dorogi za 1924-1925 god. [Das zweite Jahre der Kolo- nisationsarbeit der Murmanbahn. Berichtsband der Kolonisationsabteilung der Murmanbahn-Verwaltung für 1924-25], Leningrad 1926. Tretij god Kolonizacionnoj raboty Murmanskoj sieleznoj dorogi. Otdetnyj

424 Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet

der Kolonisationsabteilung nicht erspart. Auch mussten Teile der Murmanbahn wegen Tauwetter-Schäden neu verlegt werden. Die Bahn blieb als eigenständi- ges Transportindustrie-Kombinat der karelischen Autonomie-Verwaltung ent- zogen. Ihr vollgültiger Ausbau zog sich bis 1927 hin und soll 20,7 Millionen Sowjetrubel gekostet haben.24 Ihr Betrieb verursachte jedoch solche Ausgaben, dass zeitweise an eine Schließung der Bahn gedacht wurde. Ein Wirtschafts- faktor war sie nur in einem bescheidenen, regionalen Maßstab — auch für Ka- relien. Für die sowjetische Außenwirtschaft ist wie für die innerrussischen Ge- biete eine Bedeutung in den 1920er Jahren daher nicht zu erkennen. Während Karelien bis Anfang der 1930er Jahre einen bescheidenen Wirt- schaftsaufschwung erlebte, wurden durch die geologischen Forschungen auf der Murman-Halbinsel Bodenschätze entdeckt, die seit den 1930er Jahren zum raschen Aufbau einer Industrie vor allem im Chibina-Gebiet, einem Mit- telgebirgs-Massiv von bis zu 1.200 Höhenmetern, führten. Die dort entdeck- ten Apatit- und Fettsteinerze wurden seit 1929 ausgebeutet und führten 1931 zur Gründung der Stadt Chibinogorsk, die heute nach Murmansk die größte Stadt auf der Halbinsel ist.25 Im Jahre 1935 wurde aus demselben Anlass an der Bahnlinie auf dem Ostufer des Imandra-Sees die Siedlung Apatity ge- gründet. 1937 entstand nordwestlich des Sees Monegorsk, wo Kupfer- und Nickelerze gefunden wurden, die zum Aufbau einer später kriegswichtigen Metallindustrie führten und im Zweiten Weltkrieg das gesamte Gebiet für den Sowjetstaat strategisch zusätzlich aufwerteten.26 Die Murmanbahn hatte somit erst in den 1930er Jahren für den Abtrans- port der Bodenschätze und mit der Zuwanderung von Arbeitskräften zur Aus- beutung derselben eine gewisse wirtschaftlich-innerrussische Bedeutung er- langt. Da die Bodenschätze auch über den Imandra-See und die Niva mit dem Schiff verbracht werden konnten, wurde für den eisfreien Hafen Mur- mansk ein anderer Faktor wichtiger. Schon nach dem Bürgerkriegsende in- teressierte sich die Moskauer Regierung für die Getreideausfuhr aus Sibirien über die schon vorher genannten Ströme Ob und Jenissej in das europäische Russland, wo Hunger herrschte. Seit dem Jahre 1932 begann dann aus mili- tärischen und wirtschaftlichen Gründen die systematische Erschließung des Nördlichen Seeweges entlang der polaren eurasischen Kontinentalküste vor sbornik Kolonizacionnogo otdela Pravlenija Murmanskoj ieleznoj dorogi za 1925-1926 god. [Das dritte Jahr der Kolonisationsarbeit der Murmanbahn. Berichtsband der Kolonisationsabteilung der Murman- bahn-Verwaltung für 1925-26], Leningrad 1927. - Das dreibändige Werk ist die bedeutendste Quelle für den Entwicklungsstand und die Erschließungsaktionen der sowjetischen Frühzeit, aus dem allerdings auch unsinnige Maßnahmen hervorgehen. 24 Borgaja Sovetskaja Enciklopedija [Große sowjetische Enzyklopädie], Bd. 31, Moskva 1937, S. 536. 25 Goroda Rossii [Die Städte Russlands] / hrsg. von G. M. Lappo, Moskau 1994, S. 505 (Chibinogorsk) und 195 f. (seit 1934: Kirovsk). 26 Ebda., S. 22 und 263.

425 Reinhard Nachtigal dem Hintergrund eines neuerlichen internationalen Wettlaufs an die Arktis." Die sowjetischen Arktisexpeditionen der 1930er Jahre — mit Schiffen und Flugzeugen — zielten auf Inlandsobjekte: neu entdeckte Rohstoffvorkommen im Norden Sibiriens, die über im Sommer schiffbare Nebenarme der groß- en Ströme leichter zu erreichen waren als über die entlegene Transsibirische Eisenbahn. Murmansk wurde als ganzjährig eisfreier Hafen neben dem wei- ter genutzten Archangelsk wichtigster und westlichster Ankerplatz, Ausgangs- und Endpunkt dieser auf wenige Sommermonate beschränkten, gefährlichen Reiseroute.28 Hier wuchs dem nun rasch ausgebauten Hafen seit Mitte der 1930er Jahre für den innersowjetischen Seeverkehr eine Rolle zu, die für die Zeit des Zweiten Weltkrieges noch nicht ausreichend erforscht ist. Die kosten- aufwendige Ausbeutung dieser Bodenschätze in menschenleeren, unwirtlichs- ten Großräumen hatte — ähnlich wie 20 Jahre zuvor beim Bau der Murman- bahn — die Entstehung der Lagerindustrie des GULag-Systems zur Folge, das vom Uralgebirge bis zum Kolyma-Fluss im nordöstlichen Sibirien reichte.29 Im Weißmeergebiet sind bei der wirtschaftlichen Erschließung und Ausbeu- tung der Bodenschätze in der Stalinzeit Terror und Zwangsarbeit am sichtbars- ten beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals zwischen dem Onega-See und dem nächsten Weißmeer-Hafen in der Soroka-Bucht, Belomorsk, festzustellen. Sys- temimmanenter Terror und Konzentration eines riesigen Potentials billigster Ar- beitskräfte für erzwungene Arbeitsleistung in menschenfeindlicher Umgebung koinzidierten hier wie an der Kolyma. Der zunächst Stalin-Kanal genannte, für die Binnenwirtschaft wie auch für den Verkehr von Hochseeschiffen vorgese- hene Wasserweg wurde als eines der ersten Stalinschen Großprojekte zwischen den Jahren 1931 bis 1933 mit primitiven Mitteln und überstürzt von 150.000 GULag-Zwangsarbeitern aus dem ganzen Sowjetreich gebaut, unter denen ähn- lich hohe Ausfälle wie 17 Jahre zuvor beim Bau der Murmanbahn auftraten. An- ders als die durch die politische Entwicklung in den 1930er Jahren strategisch und wirtschaftlich zunehmend aufgewerteten Murmanbahn hat der Weißmeer- Ostsee-Kanal nie eine größere Bedeutung für den Großraum westliches Weiß- meergebiet oder gar für den Gesamtstaat erlangt. Er teilt damit das Schicksal des sich südlich an den Onega-See anschließenden Marienkanal-Systems, das bis in die Zeit zwischen den Weltkriegen immerhin einen wichtigen Verbindungsweg

27 Horensma (wie Anm. 11), S. 35-66, und McCannon (wie Anm. 15), S. 33-80. 28 The Circumpolar North: A Political and Economic Geography of the Arctic and Sub-Arctic / hrsg. von Terence Armstrong, London 1978, S. 58-63, und ders.: Russian Settlement (wie Anm. 2), S. 135-141. — Die sowjetische Polar-Erschließung wurde am Vorabend des Zweiten Weltkrieges in Deutschland aufmerksam verfolgt; vgl. Roderich von Bistram: Rückschläge in der Sowjet-Arktis: Bericht über die Schiffahrt auf dem „Nördlichen Seeweg" 1937 und 1938, in: Osteuropa 14 (1938/39), S. 24-34. Vgl. auch McCannon (wie Anm. 15), S. 24-80. 29 Ralf Stettner: „Archipel GULag": Stalins Zwangslager — Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Ent- stehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928-1956, Paderborn 1996.

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zwischen der Wolga und dem gesamten europäischen Nordrussland darstell- te. Mit dem Ausbau der Bahnverbindungen in diesem Teil Russlands während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die nördlichen Wasserwege auch für weniger eilige Massengüter weitgehend uninteressant. Hauptgrund dafür ist die schon genannte mehrmonatige Vereisung im nordischen Winter," wobei der Stalin-Kanal von Anfang an — analog zur Murmanbahn im ersten Jahrzehnt ih- rer Nutzung — nur geringe Leistungsfähigkeit bewies. Die wirtschaftliche und verkehrstechnische Entwicklung des westlichen Weissmeergebiets zeigt bis zum Deutsch-sowjetischen Krieg 1941 eine stetige Aufwärtskurve. Gleichzeitig erlebte der Hafen Murmansk in den 1930er Jahren einen raschen Aufschwung. Bestanden die Hafenanlagen in der Zarenzeit noch ganz aus Holzkonstruktionen, so wurde noch vor Kriegsbeginn eine gründliche Modernisierung und Ausweitung in Angriff genommen:31 die nicht nur die mili- tärische Absicherung der nordwestlichen Flanke des Sowjetreiches bezweckte. Der Hitler-Stalin-Pakt hatte nach Beginn des Polenfeldzuges am 1. September zwischen den um ihre Machtsphären besorgten Diktaturen einen Wettlauf um politischen Einfluss bei den Nachbarstaaten ausgelöst, der Moskaus Interesse für Rumänien, Finnland und die baltischen Staaten entfachte. Gegenüber Finn- land wurde ein größerer russischer Sicherheitsbedarf auf der südkarelischen Landenge wegen Leningrad und seiner Rüstungsindustrie behauptet. Nach dem Frieden von Dorpat von Oktober 1920 war die finnisch-sowje- tische Grenze im südlichen Teil entlang der Vorkriegsgrenzen der Gouverne- ments Olonec auf russischer sowie Wiborg und Kuopio auf finnischer Seite be- lassen worden. Nur im nördlichsten Teil wurde auf Kosten des Gouvernements Archangel'sk mit dem Petsamo-Gebiet ein Gebietsstreifen östlich der norwe- gischen Finnmarken an den neuen finnischen Staat abgetreten, um diesem ei- nen Zugang zum Eismeer zu ermöglichen. Damit hatte der Sowjetstaat keine gemeinsame Grenze mit Norwegen mehr, durch den finnischen Gebietsstreifen wurde die Eismeerstraße gebaut, die die Buntmetall- und Stahlveredlervor- kommen von Pasretski zugänglich machte. Die Erzgruben wurden von auslän- dischen Konzessionären ausgebeutet, die Erze über den kleinen finnischen Eis- meerhafen Liinahamari an der P&enga- (finn. Petsamo-)Bucht exportiert. Die sowjetischen Ansprüche gegen Finnland von Oktober 1939 zielten auf Gebietsabtretungen bei Wiborg und auf Marinestützpunkte im Fin- nischen Meerbusen. Die Abtretungen sollten durch großzügige russische Ge- bietstausche im westlichen Sowjet-Karelien kompensiert werden, wie die nach Kriegsbeginn am 30. November 1939 sowjetischerseits in Terijoki eingesetz-

30 Andrei Lebed, Boris Yakovlev: Soviet Waterways: The Development of the Inland Navigation System in the USSR, München 1956, S. 37-41. Auch das Marienkanal-System hat heute vorrangig touristische Bedeu- tung, vgl. V. P. Vygolov, N. V. Uralova: V kraj belych n&"ej [Im Land der weißen Nächte], Moskva 1986. 31 Zum Hafenausbau in Murmansk vgl. Kiselev und Tulin (wie Anm. 8), S. 12-22.

427 Reinhard Nachtigal te finnisch-kommunistische Marionettenregierung unter Otto Kuusinen projek- tierte. Im finnisch-russischen Friedensvertrag vom 12. März 1940 musste das im Winterkrieg durch eine sowjetische Übermacht niedergerungene Finnland jedoch weit ausgreifendere territoriale und materielle Verluste hinnehmen, als vor Beginn des Krieges für das sowjetische Sicherheitsinteresse als notwen- dig angemeldet worden war: Nicht nur wurden weitere Teile des finnischen Wiborg-Gebiets annektiert, sondern auffallenderweise wurden auch zwei brei- te Gebietsstreifen des finnischen West-Kareliens an die Karelische Autonome SSR abgetreten, die bis zu 70 Kilometern Luftlinie an die Murmanbahn her- anreichten. Das betraf das Gebiet östlich von Salla und Kuusamo bzw. sow- jetischerseits den Streckenabschnitt von Kandalakga und Kovda, sowie das Gebiet nördlich des Ladoga-Sees, wo die Bahnstrecke sich zwischen Petro- zavodsk und Kondopoga bis auf 80 Kilometern der finnischen Grenze genä- hert hatte." Im finnischen Eismeer-Gebiet musste der Verlierer den Westteil der Fischer-Halbinsel abtreten, der einen gewissen Schutz gegen russische Prä- senz gewährleistet hatte: nun beherrschte die Rote Armee die Ausfahrt aus der Petsamo-Bucht. Das dahinterliegende Erzgebiet, wo ein britisch-kanadisches Konsortium Schürfkonzessionen besaß, verblieb bei Finnland." Letztlich war damit diese Grenzziehung in einer Weise durch ein strate- gisches Interesse bedingt, das weit über das 1939 von Moskau behauptete Si- cherheitsbedürfnis für Leningrad hinausreichte. Außer der militärischen Nie- derlage, die zu diesen Gebietsabtretungen geführt hatte, musste Finnland nun noch ein schweres Opfer mit der vollständigen Aussiedlung der finnisch-kare- lischen Bevölkerung aus den Abtretungsgebieten verkraften. Der kleine Staat hatte annähernd 450.000 Menschen zusätzlich innerhalb seines verkleinerten Gebietes unterzubringen. Moskau verlangte die Rückgabe bzw. Wiederherstel- lung der aus dem Abtretungsgebiet entfernten Wirtschaftsgüter und errichtete ein hartes Grenzregime, das den Verkehr über die neuen Grenzen zum Zwecke der Abschliefhing stark beschränkte.34 Die Sowjetunion schritt auch gleich an die Ausdehnung der schon seit Mitte der 1930er Jahre begonnenen Entwicklung der strategischen und verkehrstechnischen Infrastruktur im Gebiet westlich der Murmanbahn" und diktierte 1940 Finnland sogar den Bau einer ersten Stich-

32 Gerd R. Ueberschär: Die „Volksregierung Kuusinen" der „Demokratischen Republik Finnland" im Kalkül Stalins und Hitlers 1939/40, in: Finnland-Studien (wie Anm. 20), S. 228-247, hier Karten S. 246f. und Anssi Paasi: Territories, Boundaries, and Consciousness: the Changing Geographies of the Finnish- Russian Border, Chichester 1996, S. 100-105. 33 Anthony F. Upton: Finland in Crisis 1940-1941: a Study in small-power Politics, London 1964, S. 20-34. 34 Ebda., S. 66-72 und 89-95. Vgl. auch Zimnjaja vojna [Der Winterkrieg] 1939-1940, 2 Bde. / hrsg. von 0. A. Riegevskij und 011i Vehviljainen, Moskva 1998. Hier: Bd. 1 Politieskaja istorija [Politische Geschichte], S. 362-364. 35 Constantin Graf Stamati: Die karelische Frage im Rahmen der sowjetrussischen Nordwest-Politik, in: Osteuropa 11 (1935/36), 393-406, hier S. 394-399. Der Autor vermerkte in jenem Jahr bereits den Bau

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bahn, die die Murmanbahn mit dem finnisch-schwedischen Bahnnetz verbinden sollte. Sie führte von Kandalakga durch unbewirtschaftete und menschenleere Tundra über das durch die sowjetische Annexion gewonnene Salla/Alakurtti- Gebiet nach Kemijärvi und bis nach Rovaniemi, wo die finnische Bahn ende- te. Während der sowjetische Streckenteil mit etwa 150 Kilometern Länge bis zu Finnlands Kriegseintritt im Juni 1941 weitgehend fertig war, misstraute die finnische Führung der Absicht der sowjetischen Seite. Nach dem neuerlichen Kriegsausbruch beschwor der finnische Autor Kaarlo Hil&n die direkte Gefahr für ganz Skandinavien hinter den vermeintlich friedlichen Wirtschaftsmotiven für diese Bahnlinie, mit der Russland angeblich den Anschluss an den skandina- vischen Handel suche. Finnland verzögerte den Bau seines Streckenabschnittes. Als die Linie 1941 schließlich auf der russischen Seite eingleisig betrieben wur- de, wendete sich ihr ursprünglicher Zweck gegen die sowjetische Kriegführung in Karelien, da sie in dem wegelosen Gebiet die Richtung für den deutsch-fin- nischen Vorstoß — zu Luft und zu Lande — auf Kandalakga bestimmte." Der Bau einer weiteren Stichbahn erwies sich hingegen als kriegsentschei- dend. Im Jahr 1940 wurde die immer noch eingleisig betriebene Murmanbahn mit der Strecke Archangel'sk — Vologda und damit mit Innerrussland verbun- den. Die Verbindungsbahn überbrückt 350 Kilometer von Belomorsk über Onega nach Obozersk und geht, wie andere große Bahnbauprojekte in unwirt- lichsten Gegenden der Sowjetepoche, auf ein Projekt des späten Zarenstaates zurück, der die Notwendigkeit einer „Polarmagistrale" im Ersten Weltkrieg zu spüren bekommen hatte?' Bis Juni 1944 war das südliche Sowjet-Kareli- en zwischen Vyg-See und Svir' von Finnland besetzt, so dass Rüstungs- und Versorgungsgüter für die sowjetische Kriegführung von den Alliierten über die neue Verbindungsbahn geführt wurden. Die Kämpfe zwischen der deutschen Lapplandarmee und der Roten Armee im Gebiet westlich von Murmansk wa- von Flugplätzen und Bauprojekte für Stichbahnen entlang der Murmanbahn. Nach Finnlands Kriegseintritt („Fortsetzungskrieg") entstand Kaarlo Hilden: Die Murmanbahn. Eine Bedrohung für Finnland und Skan- dinavien, Helsinki 1942, S. 3-15. 36 Upton (wie Anm. 33), S. 22-25, 195f., 209f., 216 und 274f.; Roland Kaltenegger: Krieg am Eismeer: Gebirgsjäger im Kampf um Narvik, Murmansk und die Murmanbahn, Graz 1999, S. 279 ff. und den Au- genzeugenbericht von Konrad Knabe: Das Auge Dietls: Fernaufklärung am Polarkreis, Leoni am Starnber- ger See 1978, S. 54ff. 37 Trudy proizchodivkich 20, 21 i 22 oktjabra 1916 g. zasedanij sovekanija predstavitelej Central'nago i Oblastnych Voenno-Promyglennych Komitetov dlja obsuidenija plana ieleznodoroinago stroitel'stva na blaajk'ee pjatiletie [Ergebnisse der Konferenz der Vertreter des zentralen kriegswirtschaftlichen Komitee und der kriegswirtschaftlichen Komitees der Bezirke vom 20-22. Oktober 1916 zur Erörterung des Plans zum Bau einer Eisenbahn im nächsten Fünfjahreszeitraum], Petrograd 1916, Cast' II-ja, otzyvy, S. 3-6; Joachim Schäfer: Die Kriegswirtschaft der Sowjetunion 2. Teil: Die Bahnbauten für Aufmarsch und Etap- pe, in: Osteuropa 12 (1936/37), S. 228-242, hier S. 230-234 und John Golley: Hurricanes over Murmansk, Wellingborough 1987, S. 134. Zur „Polarmagistrale" vgl. Florian Mildenberger: Die Polarmagistrale. Zur Geschichte strategischer Eisenbahnprojekte in Rußlands Norden und Sibirien (1943 bis 1954), in: Jahrbü- cher für Geschichte Osteuropas 48 (2000) S. 407-419.

429 Reinhard Nachtigal ren außerordentlich hart, da die sowjetische Führung unter allen Umständen die Unterbrechung dieser kriegswichtigen Lebensader verhindern musste. Während die Wehrmacht ihr vorrangiges Ziel, die Einnahme des Hafens von Murmansk, nicht erreichte, wurde finnischerseits zu keiner Zeit während des Krieges an eine vollständige Unterbrechung der Murmanbahn gedacht. ** *

Im westlichen Weißmeergebiet bestand seit ältesten Zeiten eine Verkehrsach- se, die in Nord-Südrichtung als Schifffahrtsweg verlief und vor allem als Han- delsroute aufzufassen ist, aber bis in die Spätphase des Zarenreiches nicht zu ei- ner infrastrukturellen Durchdringung des riesigen Hinterlandes führte. Dessen dünn verteilte Bevölkerung bewahrte über Jahrhunderte Lebens- und Wirtschafts- weisen fast unverändert. Der Zarenstaat war gegenüber Karelien weitgehend in- aktiv geblieben, so dass es immer mehr zum westlichen Nachbar Finnland blick- te. Im Zeitalter des Nationalismus aber befürchtete man von einer Entwicklung des Landes über eine West-Ost-Achse bereits eine zentrifugale Wirkung und un- terließ weiterhin fast alle Schritte in diese Richtung. So wurde insbesondere die Orientierung Dvina-Kareliens auf Finnland durch die russische Politik unbeab- sichtigt, aber nachhaltig gefördert. Selbst der Bau der Murmanbahn zielte nicht auf eine Erschließung und Entwicklung dieses Randgebietes, sondern hatte wäh- rend des Ersten Weltkrieges ausschließlich eine Transportfunktion. Ab dieser Zeit trat zumindest Russisch-Karelien nicht nur in den Gesichtskreis des Westens, sondern rückte an die historische Ostseeregion heran, da erstmals der Gedanke einer Verbindung bzw. Vereinigung mit Finnland wirksam wurde und politisch möglich schien?' Denn die staatliche Durchdringung des Weißmeerge- biets war bis nach dem Ende des Bürgerkriegs in Russland 1921 unvollständig geblieben, während Ost-Karelien politisch, wirtschaftlich und kulturell in der hier untersuchten Zeitspanne von 50 Jahren stark nach Finnland gravitierte. Die- se Orientierung wirkte bis zum Ende des finnisch-sowjetischen „Fortsetzungs- krieges" im Jahre 1944. Auf der russischen Seite bestanden umgekehrt Projekte zur politischen Gewinnung ganz Finnlands nur in der Sowjetzeit: in den Jahren der karelischen Autonomie nach dem Bürgerkrieg, die sich vor einer gesamt- staatlichen Rahmenpolitik vor allem sozioökonomisch positiv für Ost-Karelien auswirkte, und mit dem sowjetischen Expansionsversuch in der Frühphase des Zweiten Weltkrieges, der am 31. März 1940 zur Umbenennung der im Westen vergrößerten Karelischen ASSR in eine Karelo-Finnische SSR führte.39

38 Pekka Kauppala: Die Republiken Karelien und Komi auf der Suche nach nationaler Identität und inter- nationalen Beziehungen, in: Regionalismus und Nationalismus in Rußland / hrsg. von Andreas Kappeler, Baden-Baden 1996, S. 105-127. 39 1938 wurde gleichzeitig mit der Schaffung der Murmanskaja oblast' der Kreis Kandalakga aus der Karelischen ASSR ausgegliedert.

430 Russlands Interesse am westlichen Weißmeergebiet

Die staatliche Aneignung und Erschließung des westlichen Weißmeerge- bietes hatten sich im späten Zarenstaat unter vorrangig militärisch-strategischen Gesichtspunkten vollzogen. Die Durchdringung des Raumes durch die Hege- monialmacht blieb unvollkommen — trotz des Baus der Murmanbahn. Nur für das erste Jahrzehnt der Sowjetmacht sind Ansätze einer wirtschaftlichen Er- schließung zur sozialen Hebung erkennbar. Durch den auch heute bestehenden Vorrang strategischer Erwägungen in dem unwirtlichen und menschenfeind- lichen Gebiet ist der wichtige Hafen Murmansk — als Verwaltungshauptstadt der seit 1938 gleichnamigen oblast' — mit einer Bevölkerung, die zwischen 1959 und 1992 von 222.000 auf rund 470.000 Einwohnern anstieg,4° getrennt von der übrigen Region, die mit der gesamtwirtschaftlichen und sozialen Ent- wicklung nicht Schritt halten konnte. Am Ende des 20. Jahrhunderts hatte die Murman-Halbinsel eine Bevölkerung von über 1 Million gegenüber 790.000 der Autonomen Republik Karelien, deren Bewohner sich nur noch zu 13 % Prozent als Karelier bzw. finnischstämmig bezeichnen.41 Neben der sozioöko- nomischen Verödung im Inland durch die Buntmetallausbeute weist das Ge- biet schwere ökologische Schäden auf.42 Zwei Merkmale erscheinen als konstitutive Elemente der hier aufgezeigten russischen Erschließungsmaßnahmen: das langwährende staatliche Desinteres- se am Hinterland des Weißmeergebiets und an seinen Bewohnern, und Krieg als vorrangiger modernisierender Katalysator. Die Erschließungsmaßnahmen führten zu einer weitreichenden Russifizierung der indigenen Bevölkerung. Am Ende des 20. Jahrhunderts hat sich mit dem Zusammenbruch der subventi- onierten Sowjetwirtschaft auch der Staat als einzige Kraft, die nachhaltige In- frastruktur schafft, zurückgezogen. Durch die historisch enge Nachbarschaft und teilweise ethnische Verwandtschaft mit Finnland sowie durch Russlands Suche nach einem unbehinderten Zugang zu den Weltmeeren ist die hier be- trachtete Region mit dem Ostseeraum als Geschichtsregion eng verbunden. Die historischen Strukturen Nordosteuropas waren jedoch durch den Zweiten Weltkrieg und den Eisernen Vorhang unterbrochen worden.

40 Goroda Rossii (wie Anm. 25), S. 285 und Borgaja Sovetskaja Enciklopedija, Bd. 40, Moskva 1938 Kolumnen 614-626, und Borgaja Sovetskaja Enciklopedija, Bd. 28, Moskva 1954 S. 569-575. Die Ver- gleichsdaten für verschiedene Jahre der Sowjetepoche bei: Circumpolar North (wie Anm. 28), S. 47. 41 Pekka Kauppala: The Russian North, Helsinki 1998, S. 16, und ders.: Karelien und Komi (wie Anm. 38), S. 112 f. 42 Kauppala: Russian North (wie Anm. 41), S. 11, denkt dabei vor allem an mit Finnen und Kareliern stammesverwandte finno-ugrische Völker, die als alteingesessene, an äußere Bedingungen angepasste Bevölkerung eines an Bodenschätzen reichen Gebiets mit staatlicher Teilautonomie gute Voraussetzungen für eine Sanierung nach finnischem Modell böten; ders.: Karelien und Komi (wie Anm. 38), S. 108-118.

431 Reinhard Nachtigal

No en (Finnma

Kol Tulom

Inari-See

.0nega

0 '''''' '''''' Vyg-See

Finnland Onega- See

Ladoga- Vytegra See

Zvanka (Volchov) Die Murmanbahn

432 Olaf Mertelsmann Sowjetisierung als Faktor nordosteuropäischer Geschichte. Das Beispiel Estland

Nachdem Hitler und Stalin im August 1939 mit dem geheimen Zusatzpro- tokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes ihre Interessengebiete abgesteckt hatten, sollte die Sowjetisierung zum Schicksal Nordosteuropas werden. Finnland konnte erfolgreich dem sowjetischen Angriff im Winter- krieg widerstehen. Aufgrund seiner geographischen Lage und strategischen Bedeutungslosigkeit sowie der Tatsache, dass kein weiteres renitentes Gebiet im sowjetischen Machtbereich gewünscht wurde, verzichtete Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine Annexion und begnügte sich mit der „Finnlandi- sierung" des Nachbarn.' Die UdSSR verleibte sich aber die baltische Staaten ein, und die sowjetische Okkupation wurde zur dominierenden historischen Erfahrung, die das kollektive Gedächtnis in den drei Ländern prägte und ihre gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung stärker verein- heitlichte als je zuvor. Doch es bestanden Unterschiede. Litauen blieb weiter- hin katholisch, hatte die geringste Einwanderung sowie den höchsten Anteil einheimischer Parteikader zu verzeichnen und wurde später industrialisiert, während Lettland die größte Immigration zu verkraften hatte und zusammen mit Estland eine weitgehende Säkularisierung erfuhr. Die Besatzung setzte einen Prozess der Sowjetisierung in Gang, unter dem hier die Maßnahmen zur Eingliederung der annektierten Gebiete in die Sow- jetunion verstanden werden.2 Die gesellschaftspolitische und sozioökono- mische Ordnung wurde nach sowjetischem Vorbild umgebaut. Dieser Prozess verlief bis 1953 sehr intensiv, danach diente er weitgehend der Vollendung dieses Umbaus.' Die Sowjetisierung war sicherlich ein zentraler Faktor, der zu einer parallelen Entwicklung in den baltischen Sowjetrepubliken führte. Die jahrzehntelange, unfreiwillige Zugehörigkeit zur Sowjetunion stellte eine weitere Ursache der Vereinheitlichung dar. Estland sei hier als Beispiel her- ausgegriffen. Im September 1939 zwang die Sowjetunion nach massiven militärischen Drohgebärden die Republik Estland, einen Beistandspakt mit ihr abzu-

1 Ruth Büttner: Sowjetisierung oder Selbständigkeit? Die sowjetische Finnlandpolitik 1943-1948, Ham- burg 2001 (Schriftenreihe Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 8), S. 348. 2 Gerhard Simon: Instrumente der Sowjetisierung in den annektierten westlichen Gebieten der Sowjetu- nion 1939-1950, in: Sowjetisches Modell und nationale Prägung / hrsg. von Hans Lemberg, Marburg 1991 (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien, Bd. 7), S. 13-20, hier S. 13. 3 Vgl.: Michal Reimann: „Sowjetisierung" und nationale Eigenart in Ostmittel- und Südosteuropa: zu Problem und Forschungsstand, in: Sowjetisches Modell (wie Anm. 2), S. 3-9.

433 Olaf Mertelsmann

schließen, der die Stationierung von 25.000 Rotarmisten im Lande vorsah.4 Im Schatten von Hitlers Siegen im Westen stellte Stalin der estnischen Re- gierung im Juni 1940 ein Ultimatum, forderte eine Regierungsumbildung und setzte die Stationierung von mindestens 80.000 Rotarmisten durch. Da- mit umfassten die fremden Truppen mehr als fünfmal so viele Soldaten wie die reguläre estnische Armee. Innerhalb von wenigen Tagen inszenierte Sta- lins Gesandter Zdanov in Reval (estn. Tallinn) eine Demonstration für eine neue prosowjetische Regierung, die später die Grundlage für den Mythos ei- ner angeblichen „Revolution" bilden sollte, diktierte dem estnischen Präsi- denten den neuen Regierungschef und stellte die Kabinettsliste zusammen.' Nach manipulierten Scheinwahlen, die eine demokratische Fassade vor- täuschten, und der Bitte des Scheinparlaments um die Aufnahme Estlands in die UdSSR wurde die Annexion am 6. August 1940 vollzogen. Der Umbau von Staat und Gesellschaft nach sowjetischem Muster be- gann, Vereine und andere unabhängige Institutionen wurden aufgelöst, die Kirchen drangsaliert,6 die Marionettenregierung drängte die Zivilgesell- schaft beiseite. Innerhalb von wenigen Monaten wurde der gesamte Staats- apparat umgestaltet. Die neue Macht vertrieb die estnische Elite von lei- tenden Posten und ließ einen Teil verhaften. Eine der ersten Maßnahmen war die drastische Verschärfung der bereits bestehenden Zensur sämtlicher Medien.' Da es im Sommer 1940 nur etwa 150 einheimische Kommunis- ten gab,' hatte das Regime bis in die 50er Jahre hinein außerordentliche Probleme, Führungsposten zu besetzen. Als Folge ergaben sich ungeahnte Karrieremöglichkeiten, und die Aufsteiger und Anpasser wurden zu Stüt- zen der Diktatur. Aber auch Vertreter der intellektuellen Elite kollaborierten. So diente der angesehene Historiker Hans Kruus dem Regime erst als Mit- glied der ersten Marionettenregierung, dann als Rektor der Universität Dor- pat (estn. Tartu), später als Außenminister und Präsident der Akademie der Wissenschaften der ESSR.9 Meist waren politische Zuverlässigkeit oder die

4 Vgl. Jüri Ant: Eesti 1939-1941: rahvast, valitsemisest, saatusest [Estland 1939-1941: Volk, Herrschaft, Schicksal], Tallinn 1999, S. 44-58. 5 Vgl. ebda., S. 101-118. 6 Zur Kirchenpolitik siehe Riho Altnurme: Eesti Evangeeliumi Luteriusu Kirik ja Nöukogude Riik 1944- 1949 [Die Estnische Evangelisch-Lutherische Kirche und der sowjetische Staat 1944-1949], Tartu 2001; Jaanus Plaat: Usuliikumised, kirikud ja vabakogudused Lääne- ja Hiiumaal [Glaubensbewegungen, Kir- chen und Freie Gemeinden in Wierland und auf Dagö], Tartu 2001. 7 Zur Zensur in Estland: Kaljo-Olev Veskimägi: Nöukogude unelaadne elu: tsensuur Eesti NSV-s ja tema peremehed [Sowjetisches Leben wie im Traum: Zensur in der Estnischen SSR und ihre Herren], Tallinn 1996. 8 Olaf Kuuli: Sotsialistid ja kommunistid Eestis 1917-1991 [Sozialisten und Kommunisten in Estland 1917-1991], Tallinn 1999, S. 46. 9 Diese Karriere endete mit der Verhaftung von Hans Kruus als „bürgerlichem Nationalisten" 1950. Nach seiner Freilassung 1954 arbeitete er wieder als Wissenschaftler, s. Eesti Elulood [Estnische Biographien],Tallinn 2000 (Eesti Entsüklopeedia; Bd. 14), S. 188f. 434 Sowjetisierung als Faktor nordosteuropäischer Geschichte soziale Herkunft aber wichtiger als die Qualifikation. Plötzlich fanden sich sogar halbe Analphabeten als Bürgermeister oder Polizeichefs wieder. Die Erinnerung an das niedrige Bildungsniveau zahlreicher neuer Funktionsträ- ger ist tief im kollektiven Gedächtnis verankert» Weiterhin wurden Kader aus der Sowjetunion importiert, darunter auch zahlreiche Russlandesten, die aber von den örtlichen Gegebenheiten oder der Landessprache mitunter we- nig oder gar keine Ahnung hatten. Der Prozess der Sowjetisierung 1940/41 war eben nicht wohlgeordnet oder gar im Detail geplant, sondern erscheint im Nachhinein als improvi- siertes und inkompetentes „Hindurchwursteln" nach dem trial-and-error- Prinzip. Dabei diente die Sowjetunion als Vorbild, wobei die örtlichen, estnischen Entscheidungsträger oftmals gar nicht wussten, wie das sowje- tische System funktionierte. So wurde im vierten Quartal 1940 die Planwirt- schaft eingeführt, ohne dass die Regierung in Reval und ihre Planer übel- ausreichende Informationen verfügten?' Der erste Plan fiel dann schließ- lich anders aus als sowjetische Pläne.12 Erst die Entsendung eines Moskauer Experten Ende 1940 brachte die estnische Planwirtschaft dann auf die sow- jetische Linie?' Der Umbau der Wirtschaft führte zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung. Der Lebensstandard sank infolgedessen schon seit dem Sommer 1940 rapide, was breiten Unmut hervorrief. Der Volksmund über- setzte die Abkürzung für die Estnische Sozialistische Sowjetrepublik mit „zuerst Hunger dann Elend" („ENSV — enne nälg siis viletsus").14 Schnell verbreitete sich die sowjetische Kunst des Fertigens gefälschter Statistiken. Ein damaliger Gemeindesekretär berichtet: „Von Seiten des Exekutivkommitees des Kreises verlangte man alle möglichen unsinnigen Daten. Besonders wenn wieder eine Kampagne in Gang war. [...] Rein phy- sisch war es aber unmöglich, jeden Tag das ganze Gebiet abzulaufen. Da- mit begannen die Probleme des Systems. Es gab keinen anderen Ausweg, als die Daten zu erfinden. Und so lief das Bluffen an jedem Ort und zu jeder Zeit. Das ganze System war auf Lügen aufgebaut.'

10 Bei der Durchsicht von Berichten der Partei aus den Landkreisen 1940/41 fällt ebenso die schlechte Ausbildung vieler Funktionäre auf (vgl. Eesti Riigiarhiivi Filiaal (im folgenden: ERAF) 1-1-45 bis 57). 11 Maie Pihlamägi: Eesti tööstus murrangulisel 1940-1941. aastal: turumajanduselt plaanimajandusele [Die estnische Industrie im Umbruch 1940-1941: Von der Markt- zur Planwirtschaft], in: Acta Historica Tallinnensia 1 (1997), S. 152-172, hier S. 162f. 12 Plan für das 4. Quartal 1940 (Eesti Riigiarhiiv (ERA) R-973-1-48). 13 ERAF 1-47-29, S. 167. 14 Diese Umbenennung wurde offensichtlich erstmals im November 1940 in Fellin (estn. Viljandi) akten- kundig (ERAF 1-1-57, S. 18). 15 Eesti Kirjandusmuusem (Dorpat / Tartu): Eesti Kuulturilooline Arhiiv (im folgenden zitiert als: EKLA (mit Fond- und Archiveinheitsnummer): Fond 350 - Eesti elulood [Estnische Lebensgeschichten], 154, S. 46f. Übersetzung vom Verfasser. Die Sammlung estnischer Lebensbeschreibungen im Literaturmuseum in Tartu umfasst über 1300 Exemplare und erscheint somit als eine besonders geeignete Quellensammlung

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Terror und willkürliche Gewalt erscheinen als ein essentieller Bestand- teil stalinistischer Herrschaft: Verhaftungen, Deportationen, die kriminelle Vernachlässigung von Lagerinsassen und Verschleppten, die systematische Anwendung der Folter, Erschießungen und Übergriffe auf die Zivilbevölke- rung forderten von 1940 bis zum Tode Stalins schätzungsweise 40.000 bis 70.000 Todesopfer16, zerstörten Existenzen und Familien. Juden und Estland- russen waren 1940/41 überproportional von der Gewaltherrschaft betroffen Selbst Esperantisten und Briefmarkensammlern konnte die Verhaftung we- gen „internationaler Kontakte" drohen.17 Ohne Tausende von einheimischen Denunzianten und Kollaborateuren wären Verbrechen dieser Größenord- nung allerdings nicht möglich gewesen. Das Begleichen alter Rechnungen, Rache für tatsächlich erlittenes oder eingebildetes Unrecht, Sozialneid und der persönliche Vorteil stellten Hauptmotive von Denunziationen dar, die politische Überzeugung spielte eher eine Nebenrolle. Dagegen machten sich aktiver und passiver Widerstand breit, am Partisanenkampf der „Wald- brüder" beteiligten sich nach dem Krieg wohl etwa 30.000 Menschen, der Kampf in den Wäldern dauerte bis in die fünfziger Jahre hinein an.18 Der Überfall auf die Sowjetunion und die dreijährige deutsche Besat- zung stoppten die Sowjetisierung, brachten ihrerseits aber Krieg und deut- schen Terror, der jedoch weniger Opfer forderte als der sowjetische.19 Die Fluchtwelle bei Kriegsende bedeutete einen weiteren Aderlass für die Ge- sellschaft, rund 70.000 Emigranten erreichten den Westen und Skandinavi- en, darunter ein großer Teil der gebildeten Elite. Der sowjetische Geheim- dienst sollte später noch großes Interesse für das estnische Exil zeigen?' zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte. Angelegt seit 1989, ist die Dichte für Osteuropa einmalig, fast 1 Promille der Bevölkerung trug durch seine persönlichen Erinnerungen bei. Eine Auswahl von 150 ge- kürzten und überarbeiteten Lebensbeschreibungen wurde von Rutt Hinrikus herausgegeben (Eesti Rahva elulood [Lebensgeschichten des estnischen Volkes], 3 Bde., Tallinn 2000-2003). 16 Exakte Zahlen lassen sich nur schwer ermitteln und einige Opferkategorien sind durchaus strittig. Mart Laar: Eesti ja kommunism, in: Kommunismi Must Raamat: kuriteod, terror, repressionid [Das Schwarzbuch des Kommunismus: Verbrechen, Terror, Unterdrückung] / hrsg. von Stephane Courtois u.a., Tallinn 2000, S. 823-894, hier S. 857; Enn Sarv: Eesti inimkaotused kommunistliku vöimu all [Der estnische Menschenver- lust unter der kommunistischen Herrschaft], in: Akadeemia (2001), S. 1404-1415 und 1752-1768.

17 Romuald Misiunas, Rein Taagepera: The Baltic States: Years of Dependence 1940-1990, London 2 1993, S. 41. 18 Sehr umfassend, aber etwas einseitig aus der Perspektive der antisowjetischen Partisanen: Mart Laar: The War in the Woods: Estonia's Struggle for Survival, Washington, DC 1992. 19 Zur deutschen Okkupation: Alvin Isberg: Zu den Bedingungen des Befreiers: Kollaboration und Frei- heitsstreben in dem von Deutschland besetzten Estland, Stockholm 1992 (Acta Universitatis Stockholmi- ensis: Studia Baltica Stockholmiensia; Bd. 10); Seppo Myllyniemi: Die Neuordnung der baltischen Länder 1941-1944, Helsinki 1973 (Historiallisia tutkimuksia; Bd. 90). 20 Vgl. Indrek Jürjo: Pagulus ja Nöukogude Eesti: vaateid KGB, EKP ja VEKSA arhiivdokumentide pöhjal [Die Emigration und das Sowjetische Estland: Ansichten des KGB, der Estnischen KP und des VEKSA (Verei- nigung zur Entwicklung kultureller Kontakte mit den Auslandsesten) nach Archivdokumenten], Tallinn 1996. 436 Sowjetisierung als Faktor nordosteuropäischer Geschichte

Die Zwangskollektivierung 1949, der erst eine Welle der Gewalt, dann eine Phase hoher Steuerbelastung sowie eine Massendeportation voraus- gingen und die auch der endgültigen Machtsicherung des Regimes auf dem Dorf diente, änderte das Leben auf dem Lande massiv. Die Desintegration der Dorfgemeinschaft erfolgte nur unter großen Widerständen und mit Ge- waltanwendung. Der ganze Ablauf wies starke Widersprüchlichkeiten, or- ganisatorische Unzulänglichkeiten und Reibungsverluste auf.21 Doch auch eine effizientere Organisation hätte nichts am Ergebnis geändert. Aus freien Bauern wurden abhängige kolchozniki, die an die Scholle ge- bunden waren und keinen Pass besaßen. Die landwirtschaftliche Produktion brach durch Misswirtschaft ein; so lagen die Hektar-Erträge der Weizen- ernte 1950-54 laut amtlicher Statistik, die eventuell noch zu hohe Zahlen ansetzte, auf einem ähnlichen Niveau wie fast 100 Jahre zuvor.22 Das Jah- reseinkommen aus dem Kolchos, auf dem 150 bis 180 Pflichttage geleistet werden mussten, war anfangs extrem niedrig und reichte im Einzelfall nur aus, um die eigenen Hühner einen Tag lang zu füttern.23 In einigen Kolcho- sen erhielten die Kolchosbauern überhaupt keine Vergütung für ihre Norm- tage. Das Interesse an der kollektiven Arbeit schwand schnell, und die Bau- ern konzentrierten sich auf ihr privates Hofland. Die Ähnlichkeiten des sich formierenden Kolchossystems mit der Leibeigenschaft sind jedenfalls frap- pierend. Neben der fehlenden Freizügigkeit der Bauern besaß die Arbeit oft- mals einen Zwangscharakter, zumal deren Ergebnis zum größten Teil dem Staat und nicht dem einzelnen kolchoznik zugute kam. Ein Augenzeuge beschreibt folgendermaßen, was er 1950 sah: „Zuhause gab es eine äußerst erschütternde Situation. Großvater hatte zu trinken begon- nen. Dafür waren auch sehr gute Voraussetzungen geschaffen worden. Wod- ka und Bier wurde von morgens bis abends im Laden verkauft, der Durstige erhielt es auch mitten in der Nacht. Tagsüber bekam man Wodka und ande- re starke Getränke auch am Bahnhof [...] Rund um alle Verkaufsstellen tor- kelten Menschen oder lagen betrunkene Männer und Frauen auf dem Boden. Morgens um fünf bildete sich vor dem Laden eine Schlange, eine vollkom- men neue Erscheinung in unserer Gegend. Es handelte sich um die berühmte „Brotschlange". [...] Das war also nun das Ergebnis der viel gelobten Kollek- tivierung und des Aufbaus des Sozialismus. Ich sah die stolzen und überheb- lichen Kolchosvorsitzenden [...], die sich mit betonter Arroganz aufführten und in großen Mengen Wodka soffen."24 Ein Student berichtet: „Zusammen- fassend kann man sagen: Arbeit war unwichtig, Essen eine Nebensache, das 21 Vgl. David Feest: Terror und Gewalt auf dem estnischen Dorf, in: Osteuropa 50 (2000), S. 656-671. 22 Eve Tomson: Eesti majandusajalugu 20. sajandil [Estnische Wirtschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert], Tartu 1998, S.91. 23 Laine Villenthal, in: Eesti Rahva elulood, Bd. 1 (wie Anm. 15), S. 295-304, hier S. 300. 24 EKLA 350-148, S. 80f.

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Einkommen minimal, Diebstahl die Hauptsache. Schon begannen sich die einfachen und ehrlichen Landbewohner umzuqualifizieren. Die schlaueren Köpfe hatten sich bereits zurückgezogen und das Dorf verlassen."" Landflucht, Überalterung und Feminisierung veränderten die Sozialstruk- tur auf dem Land. Nur wenige Dorfgemeinschaften blieben intakt, folgten nicht den Mustern des sowjetischen Alltags und boten ihren Mitgliedern Raum für eine freie Entwicklung und Meinungsäußerung ohne Angst vor De- nunzianten.26 Erst nach dem Tode Stalins besserte sich die ökonomische Si- tuation der Landwirtschaft, da der Staat begann, kostendeckende Preise für Agrarprodukte zu zahlen.27 Später griff die Regierung zu umfangreichen Sub- vention und erzielte so eine Scheinblüte des kollektivierten Agrarwesens. 1949 erscheint als Wendejahr in der sowjetischen Geschichte. In der UdSSR setzte nach einem Zyklus permanenter existenzbedrohender Krisen zwischen 1916 und 1948, in dem nur drei Jahre vergangen waren, in denen Hunger und Unterernährung nicht zum Alltag ganzer Regionen und Bevöl- kerungsgruppen zählten, eine Phase der Stabilisierung und Normalisierung ein.28 In Estland dagegen sank der Lebensstandard der ländlichen Bevölke- rungsmehrheit nach der Zwangskollektivierung auf einen Tiefpunkt, wäh- rend er in den Städten langsam anstieg. Der Schock der größten Massende- portation musste ebenfalls 1949 verkraftet werden. Gleichzeitig steigerte sich die Jagd auf „bürgerliche Nationalisten", die nach dem berüchtigten Märzplenum, dem VIII. Plenum der Estnischen Kommunisten Partei 1950, kulminierte und zu massiven Säuberungen der Partei, der Kulturlandschaft und des Bildungssystems führte. Während also in der Sowjetunion das Jahr 1949 eine Wende zum Besseren markierte, bedeutete es für die Mehrheit der Bevölkerung Estlands den Beginn einer Verschlechterung. Eine zentrale Rolle für das Regime spielte das Bildungswesen. Ziel der Schule sei es, den neuen Menschen und damit die sozialistische Gesell- schaft zu formen. „Der Lehrer ist ein ‚Seeleningenieur', der die Erbauer der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft mit der richtigen Mentalität und den nötigen Kenntnissen ausstattet",29 äußerte ein führender Funktionär 1944. Zu diesem Zweck wurden massenhaft Lehrer entlassen, die Verblie- 25 EKLA 350-149, S. 78. 26 So das Dorf eines ehemaligen Polithäftlings, Valdur Raudvassar, in: Eesti Rahva elulood, Bd. 2 (wie Anm. 15), S. 301-312, hier S. 305. 27 Zur staatliche Preisbildung im Agrarwesen siehe M. Rubin: Varumishinnad ja kolhooside rahalised sissetulekud Eesti NSV-s aastail 1950-1960 [Erfassungspreise und Geldeinnahmen der Kolchosen in der Estnischen SSR in den Jahren 1950-1960], in: Eesti NSV Teaduste Akadeemia Toimetised. Ühiskonnatea- dused 30 (1981), S. 349-361. 28 Vgl. Julie Hessler: Postwar Normalisation and its Limits in the USSR: the Case of Trade, in: Europe- Asia Studies 53 (2001), S. 445-471, hier 445f. 29 E. Siilivask: Öpetaja osatähtsus sotsialistlikus ülesehitus töös [Die Bedeutung des Lehrer in der sozia- listischen Aufbauarbeit], in: Rahva Hääl, 22.10.1944.

438 Sowjetisierung als Faktor nordosteuropäischer Geschichte benen politisch geschult und überwacht, und es wurden neues, ideologisch verläßlicheres, jedoch oft unqualifiziertes Personal eingestellt sowie der sowjetische Lehrplan eingeführt. Als Agenten des Umbruchs traten Schuldi- rektoren und -inspektoren auf, die aber durchaus einen Ermessensspielraum. besaßen. Sie entschieden weitgehend selber über die Entlassung und Ein- stellung von Lehrern. Die vielschichtige estnische Bildungslandschaft wur- de allmählich gleichgeschaltet. Im Schuljahr 1949/50 verfügten 58 % aller Lehrer über keinerlei pädagogische Ausbildung und 16 % der Unterrichten- den waren von auswärts importiert worden, meist aus Russland.3° Vor der Sowjetisierung ließ der Staat nicht ausgebildete Pädagogen überhaupt nicht zum Lehramt zu, da es keinen Mangel an Lehrkräften gab. Die Schule wurde zum Ort ideologischer Indoktrinierung, die bei einigen Schülern auf fruchtbaren Boden fiel: „Wir wollten damals tatsächlich das Leben verbessern, die Ideale des Komsomol waren beeindruckend. Wir, die Kinder des Krieges, versuchten sie umzusetzen. Dass die Realität den Idea- len nicht entsprach, konnte man mit dem Krieg und zeitweiligen Schwierig- keiten erklären. Wir waren gläubig und versuchten unsererseits das Beste. Wir waren jung und naiv und verrückt gemacht worden",31 so ein Schüler der Nachkriegszeit. Eine Bildungsexpansion erfolgte, die Zahl von Abiturienten und Stu- denten stieg rapide an, um die Lücken zu schließen, die Krieg, Terror und Emigration gerissen hatten, und um die Gesellschaft im Sinne des Systems umzuerziehen. Gleichzeitig sank in vielen Bereichen die Qualität der Bil- dung. Ausbildungszeiten wurden gekürzt. Die Zensur, die Kontaktsperre mit dem Ausland, sowjetische Pseudowissenschaft wie in der Genetik, ideolo- gische Denkverbote und eine niedrigere Qualifikation vieler Lehrkräfte trugen zum Qualitätsverlust bei. Dieser war besonders in den Geisteswissenschaften ausgeprägt.32 Innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelte sich die Zahl der Wis- senschaftler und Hochschullehrer, um noch weiter zuzunehmen. Gleichzei- tig verfügten aber 1950 nur 19,5 % der Wissenschaftler über einen wissen- schaftlichen Abschluss, also einen Kandidaten- oder Doktorgrad." Der Anteil von Kandidaten und Doktoren sollte zwar bis 1956 auf rund 30 % ansteigen,34 aber die Folgen für das Niveau des Hochschulunterrichts sind trotzdem leicht 30 A. Raud: Saavutusi ja edusamme Nöukogude Eesti hariduse alal [Errungenschaften und Fortschritte im Bereich der Bildung Sowjetestlands], in: Nöukogude Kool 1950, S. 386-402, hier S. 396f. 31 EKLA 350-147, 5.114. 32 Zur Gleichschaltung der Universität Dorpat/Tartu siehe Lembit Raid: Vaevatee: Tartu Ülikool kommu- nistlikus parteipoliitikas aastail 1940-1952 [Ein mühsamer Weg: die Universität Dorpat in der kommunis- tischen Parteipolitik in den Jahren 1940-1952], Tartu 1995. 33 Eesti NSV Rahvamajandus [Die Volkswirtschaft der Estnischen SSR] / hrsg. v. Eesti NSV Statistika- valitsus, Tallinn 1957, S. 261. 34 Narodnoe chozjastvo SSSR v 1956 godu [Die Volkswirtschaft der UdSSR 1956] / hrsg. v. CSU SSSR, Moskau 1957, S. 259.

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vorstellbar. Diese quantitative Expansion, die in Kunst, Kultur und Verwal- tung ebenfalls stattfand, führte jedoch auch zu einer Systemstabilisierung, denn sie ermöglichte die Flucht aus der realen Produktion sowie den sozialen Aufstieg oder zumindest einen sauberen Arbeitsplatz. Andererseits blieben viele Traditionen der Zeit der Unabhängigkeit er- halten. Ausschlaggebend hierfür erscheint die Kontinuität innerhalb von Institutionen. So war bis ungefähr 1960 die Mehrheit aller Professoren der Universität Dorpat in der Estnischen Republik ausgebildet worden.35 An manchen Schulen konnten ältere und erfahrene Lehrkräfte eine tonan- gebende Position behaupten. Aber auch das kollektive Gedächtnis konser- vierte die Ära der Unabhängigkeit als eesti aeg, die estnische Zeit. Die Er- innerung erschuf ein idealisierendes Gegenbild zur Realität der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik, das die tatsächlichen Konflikte und die Pro- bleme während des Präsidialregimes weitgehend ignorierte. Die estnische Zeit stand der deutschen und der russischen gegenüber. Trotz aller Bevölkerungsverluste und Kriegszerstörungen verfügten Est- land und Lettland nach dem Krieg immer noch über das dichteste Netz der Infrastruktur und die am besten ausgebildeten Arbeitskräfte der Sowjetuni- on. Deshalb und wegen der geographischen Nähe zu Leningrad wurden beide Länder zu bevorzugten Zielen von Investitionen und einer groß angelegten In- dustrialisierung, obwohl sie nur über geringe Bodenschätze verfügten. Diese Industrialisierung orientierte sich aber nicht an regionalen Erfordernissen und Gegebenheiten, sondern an den Zielen der Zentrale in Moskau.36 Gewaltiger Landschaftsverbrauch und große Umweltverschmutzung besonders durch die Ölschieferindustrie in Nordostestland zählten zu den Folgen. Doch die sowje- tische Industrialisierung ist letztlich gescheitert. Dies illustriert der Vergleich der durchschnittlichen Löhne 1938 und 2000. In heutigen US-Dollar gerech- net lag das estnische monatliche Durchschnittseinkommen vor dem Krieg bei 240 $, im Jahr 2000 betrug es 300 $." Fast fünfzig Jahre sowjetischen Wirtschaftswachstums entpuppen sich weitgehend als Übertreibung oder Fäl- schung der Statistiken. So rechneten Statistiker die estnischen Industriepro-

35 Toomas Hiio: Rektori amet ja au okupatsioonide ajal [Amt und Würde des Rektors in der Okkupa- tionszeit], in: Album rectorum Universitatis Tartuensis 1632-1997 / hrsg. von Sirje Tamul, Tartu 1997, S. 138-154, hier S. 150. 36 Vgl. Misiunas, Taagepera (wie Anm. 17), S. 108-111. 37 Das Durchschnittseinkommen 1938 betrug laut sowjetischen und nicht-sowjetischen Quellen rund 72 Estnische Kronen, umgerechnet damals 19 US-$. Unter Berücksichtigung der Inflation entspricht dieser Wert heutigen 240 $. H. Allik: Eesti töölisklassi elatustase kodanlikul ajal ja praegu [Der Lebensstandard der estnischen Arbeiterklasse in der bürgerlichen Zeit und heute], in: Eesti Kommunist 10/1956, S.9-21; Arvo Horm: Eesti elatusstandard [Der Lebensstandard Estlands], Tartu 1940; R. Sörmus: Palgaolud tööstus [Lohnverhältnisse in der Industrie], in: Eesti Statstika 1940, S. 265-286; zur Umrechnung s. John J. Mc Cuslar: Comparing the Purchasing Power of Money in the United States from 1665 to Any Other Year Including the Present. Economic History Service, 2001. . 440 Sowjetisierung als Faktor nordosteuropäischer Geschichte duktion schön, indem sie die Ausgangsbasis zu niedrig ansetzten und die In- flation im System der Planpreise nicht berücksichtigten.38 Aufgrund der technologischen Rückständigkeit und der systemimma- nenten Mängel der Planwirtschaft wuchs die sowjetische Industrie hauptsäch- lich extensiv, eine Zunahme der Produktion wurde weniger durch eine ge- steigerte Produktivität als vielmehr durch die Einstellung neuer Arbeitskräfte erreicht. Gleichzeitig stieg das Qualifikationsniveau der Beschäftigten jedoch nicht, sondern sank eher ab. Die Berufsschulen wiesen in den fünfziger Jah- ren etwa ebenso viele Absolventen wie 15 Jahre zuvor auf, bei einer Verdop- pelung der Arbeiterschaft." 14 % der Industriearbeiter galten 1952 als „malo- gramotnye", waren also halbe oder komplette Analphabeten.4° Die Industrialisierung erforderte eine massive Einwanderung, so dass heu- te fast ein Drittel der Einwohner Estlands russischsprachige Immigranten sind. Begleitet wurde die Masseneinwanderung von ethnischen Säube- rungen; in bestimmten Gebieten durften sich keine Esten mehr ansiedeln, zahlreiche Finnen und Ingermanländer wurden ausgewiesen, die wenigen verbliebenen Deutschbalten nach dem Krieg deportiert.41 An manchen Or- ten erfolgte eine Segregation russischsprachiger Migranten. In bestimmten Berufen wurden Esten aufgrund ihrer Nationalität benachteiligt. Eine vom. Regime nie zugegebene Russifizierungspolitik scheiterte jedoch weitge- hend an der mangelnden Attraktivität und Ärmlichkeit der sowjetischen Zi- vilisation, stärkte im Gegenteil eher noch das estnische Selbstbewusstsein» Gleichzeitig unterstützte die Russifizierung die lokale russische Kultur nur

38 Die estnische Bruttoindustrieproduktion von 1940 wurde zum Kurs von 1,25 Rubel der unveränderten Preise von 1926/27 je Estnischer Krone von 1939 umgerechnet (vgl. ERA R-12-1-31, S. 58). Angemessen wäre vielleicht ein Verhältnis von 6:1 gewesen. Zur Inflation von Planpreisen siehe Mark Harrison: Soviet Industrial Production, 1928-1955: Real Growth and Hidden Inflation, in: Journal of Comparative Econom- ics 28 (2000), S. 134-155. 39 Zwischen 1935 und 1939 beendeten durchschnittlich 2348 Schüler jährlich die Berufsschule, 1945 bis 1960 waren es rund 2000 Absolventen industrieller Berufe pro Jahr; vgl. Kulno Kala, Raul Juursoo: Nöuk- ogude Eesti töölisklass 1940-1960 [Die Arbeiterklasse Sowjetestlands, 1940-1960], in: Eesti NSV Teaduste Akadeemia Toimetised. Ühiskonnateadused 38 (1989), S. 131-140, S. 249-259; A. Lepp: Löpetanute arv öppeasutuses [Die Zahl der Absolventen im Bildungsbereich], in: Eesti Statistika 1940, S. 217-234. 40 Istorija rabodego klassa Sovetskoj Estonii [Geschichte der Arbeiterklasse Sowjetestlands] / hrsg. von Raimo Pullat, Tallinn 1965, S. 345. Estland wies 1937 eine Analphabetenquote von 5,4 % auf, weitere 2,2 % konnten nur lesen, somit waren 7,6 % der Bevölkerung „malogramotnye", dabei handelte es sich jedoch zum großen Teil um Kinder von 7 bis 9 Jahren und über 70jährige und nicht um die arbeitende Bevölkerung. Demnach waren die ungebildeten Arbeiter 1952 vermutlich meist Zuwanderer. H. Reiman: Kirjaoskus ja haridus Eestis [Schreibfähigkeit und Bildung in Estland], in: Eesti Statistika 1937, S. 49-57. 41 Enn Sarv: Genotsiid ja apartheid okupeeritud Eestis [Genozid und Apartheid im besetzten Estland], in: Akadeemia (1997), S. 245-285, 573-596 und 675-692; Viktor Sieben: Sakslased [Deutsche], in: Eesti Rah- vaste Raamat / hrsg. von Jüri Viikberg, Tallinn 1999, S. 429-433, hier S. 429; Terje Anepaio: Soomlased [Finnen], ebda., S. 437-445, hier S. 439. 42 Rein Ruutsoo: Venestamine Eestis. Nöukogude okkupatsiooni ajal [Die Russifizierung Estlands. In der Zeit der sowjetischen Okkupation], ebda., S. 550-560, hier S. 557.

441 Olaf Mertelsmann in sehr geringem Maße, denn sie orientierte sich weitgehend an den Zentren Moskau und Leningrad. Als Folge der Sowjetisierung entstand eine „Mitmach-Gesellschaft"43, an der die Menschen aktiv, freiwillig oder unfreiwillig teilnahmen. Diese Ge- sellschaft besaß teilweise neo-traditionelle und ständische Elemente, sie war von personalen Netzwerken, Korruption und Schattenwirtschaft durchzogen, ohne die sie in Abwesenheit von Demokratie, Marktwirtschaft und Rechts- staat nicht funktionieren konnte. Die Differenzierung von Gesellschaft und System im Sinne Luhmanns erfolgte langsamer als im Westen. So wechselte beispielsweise das Führungspersonal nicht nur sehr häufig seine Posten, son- dern auch vom Parteiapparat in die Industrie sowie die Verwaltung und umge- kehrt, was einer Spezialisierung und qualifizierten Leitung zuwiderlief. Die Mechanismen der Herrschaft erscheinen als vor- und antimodern, ins- besondere Terror, massive Zensur und Unterdrückung. Der Staat war jedoch nicht monolithisch aufgebaut trotz aller Zentralisierung, sondern es domi- nierten Machtrivalitäten und Kompetenzengerangel .zwischen den einzelnen Institutionen einer ausufernden Bürokratie. Das Prinzip der Ein-Mann-Lei- tung erzeugte sozusagen viele kleine Stalins und somit zahlreiche verantwort- liche Täter. So fiel die Entscheidung zur Massendeportation von 1949 zwar in Moskau, aber die Organe der Sowjetrepublik Estland führten sie aus. Die erforderlichen Namenslisten von „Kulaken" und „Volksfeinden" wurden auf lokaler Ebene erstellt. Ob jemand tatsächlich deportiert wurde, hing auch von den örtlichen Machthabern des Landkreises oder der Gemeinde ab.44 Die Rückständigkeit des Systems im Vergleich zu Westeuropa nahm im. Laufe der Zeit noch zu. Nach dem Tode Stalins ging der staatliche Druck wäh- rend des Tauwetters zurück und das Regime verabschiedete sich vom offenen Terror. Durch die Professionalisierung des Staatsapparates, die schon im Spät- stalinismus eingeleitet wurde, gelang es aber, den staatlichen Einfluss zu ver- stärken und die Unabhängigkeit der Entscheidungsträger zu reduzieren.45 Die zweite Phase der Sowjetisierung begann Mitte der fünfziger Jahre, endete in den achtziger Jahren und erscheint im Nachhinein als tiefer gehend. In dieser Zeit wurden verstärkt sowjetische Werte und Denkmuster übernommen. Als Besonderheit des Baltikums bestand ein größerer kultureller Spiel- raum als im Rest der Sowjetunion, und allgemein wurden die baltischen Re- publiken als der „Westen" der UdSSR betrachtet. Estland entwickelte sich zur „Muster"-Republik mit überdurchschnittlichem Lebensstandard und einem 43 Klaus Gestwa: Reflektierte Archivarbeit — der „Königsweg" osteuropäischer Zeitgeschichte, in: Osteu- ropa 50 (2000), S. 549-561, hier S. 555. 44 Vgl. Aigi Rahi: 1949. aasta märtsiküüditamine Tartu linnas ja maakonnas [Die Märzdeportation 1949 in Stadt und Landkreis Dorpat], Tartu 1998, S. 35-46. 45 Diese Entwicklung wird von Solomon überzeugend am Beispiel des sowjetischen Rechtswesens dar- gelegt. Peter H. Solomon: Soviet Criminal Justice under Stalin, Cambridge 1996, S. 465.

442 Sowjetisierung als Faktor nordosteuropäischer Geschichte wichtigen Beitrag zur Gesamtwirtschaft der Sowjetunion bis zu deren Zusam- menbruch 1991. Das liberalere Klima zog bedeutende Gelehrte wie Jurij Lot- man an und machte das Land beispielsweise zum Pionier des sowjetischen Jazz. Das erste Jazzfestival nach dem Krieg fand 1948 in Reval statt, als in anderen Gebieten der UdSSR diese Musikrichtung noch verboten war.46 Die Sowjetisierung vermochte nicht, das Denken und die Traditionen aus der Zeit der Unabhängigkeit vollkommen zu ändern. Der relativ hohe Anteil von Vertretern der „bürgerlichen" Zeit im Kulturleben der 40er-Jahre oder das Fortbestehen privater Bauernhöfe bis zur Kollektivierung 1949 und dar- über hinaus spielten eine Rolle.47 Wichtig war auch das Fortbestehen einer estnischsprachigen Schul- und Hochschulbildung. Ein Teil der Machthaber in Reval sowie die meisten lokalen Funktionäre stammten aus Estland, und sie waren durchaus in der estnischen Kultur und den dort herrschenden Denk- mustern verwurzelt. Ein geflügeltes Wort jener Zeit war das „Radieschen" als Bezeichnung für einen Funktionär, außen rot und innen weiß. Der Staat ver- suchte, die estnische Volkskultur wie die großen Sängerfeste oder die Volks- musik für seine Nationalitätenpolitik nach dem Motto „in der Form national, im Inhalt sozialistisch" zu instrumentalisieren. Die Erinnerungen der Zeitge- nossen belegen aber, dass er dadurch auch das Nationalgefühl stärkte.

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Die Erfolge der estnischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der schwierigen Transformationsphase seit 1991, die schnelle Entwicklung zu einem Mitglied der Europäischen Union und der NATO belegen, dass die Sow- jetisierung Estlands nicht erfolgreich beendet wurde und weniger tief ging als in vielen anderen Sowjetrepubliken. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen: Das sowjetische System hatte 26 Jahre weniger Zeit die Gesellschaft zu durch- dringen. Anders als das Vorkriegsterritorium der Sowjetunion, das erst von den Bolschewiki endgültig alphabetisiert wurde, verfügte Estland 1940 über ein Bildungssystem, das den Vergleich mit West- und Nordeuropa nicht zu scheu- en brauchte, während die UdSSR eine Analphabetenrate von fast einem Fünf- tel aufwies. Im Baltikum findet sich der Fall der Kolonialisierung einer höher entwickelten Peripherie durch ein unterentwickeltes Zentrum. Aktiver und passiver Widerstand sowie die geringe Zahl einheimischer Kommunisten zwangen das Regime in Estland trotz Kollaboration und An- passungsbereitschaft vieler Einwohner zu Konzessionen. Der Lebensstandard erreichte frühestens in den sechziger Jahren den Vorkriegsstand bei ständiger Defizitwirtschaft. Ausländische Radiosendungen, finnisches Fernsehen, Kon-

46 S. Frederick Starr: Red and Hot. Jazz in Russland 1917-1990, Wien 1990, S. 191f. 47 Vgl. Olaf Kuuli: Sula ja hallad Eesti NSV-s: kultuuripoliitikast aastail 1953-1969 [Tauwetter und Frost- perioden in der Estnischen SSR: zur Kulturpolitik in den Jahren 1953-1969], Tallinn 2002, S. 14 u. 16.

443 Olaf Mertelsmann

takte mit den Emigranten und die kollektive Erinnerung an die Unabhängig- keit lieferten ein Gegenbild zur offiziellen Propaganda. Die Brutalität des Sta- linismus und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von denen fast jede Familie betroffen waren, machten es schwer, die sowjetische Ordnung zu un- terstützen: die Mehrheit arrangierte sich irgendwie. Die Fremdheit und Ärm- lichkeit der sowjetischen Zivilisation, die Orientierung nach Westen und die Russifizierungs- und Einwanderungspolitik schufen Distanz zum Regime. Hobbies, insbesondere Sport, Musik und Lektüre, boten ebenso wie Tanz- veranstaltungen, Feste und das Kino Fluchtmöglichkeiten aus dem Alltag. Die korporativen Traditionen der Gesellschaft ließen unzählige registrierte und nicht registrierte Vereine, Treffpunkte und Netzwerke entstehen oder fortbe- stehen, von den Mitgliedern einer aufgelösten Burschenschaft, die sich wei- terhin trafen und unterstützten, bis zur Gesangs- oder Volkstanzgruppe, die eine alternative Artikulationsmöglichkeit bildeten in Abwesenheit einer Öf- fentlichkeit." Gerade in der kleinen und überschaubaren estnischen Lebens- welt darf die Rolle von Verwandtschaftsbeziehungen, Freundschaften und Be- kanntschaften nicht unterschätzt werden. Traditionen und Kontinuitäten aus der Zeit der Unabhängigkeit überdauerten so die Okkupation. Die Sowjetisierung trennte Estland von alten Beziehungen über die Ost- see und nach Süden ab, dennoch blieben Relikte von ihnen noch erkennbar oder neue Kontakte etwa nach Schweden entstanden. Gleichzeitig verein- heitlichte sie die Entwicklung in den drei baltischen Republiken und näherte sie der Situation im Nordwesten Russlands an. Doch die Sowjetisierung hat sich in Estland insgesamt weniger durchgreifend ausgewirkt als in Russ- land, weil sie eben nicht vollendet wurde. Durchaus lässt sich von einer „unvollkommenen Penetration" durch die Sowjetunion sprechen. Insgesamt wirkte die Sowjetisierung aber als ein bedeutender Faktor in der jüngeren Geschichte Estlands.

48 Die Bedeutung von weiter bestehenden Netzwerken und Kontakten in der korporativ geprägten est- nischen Gesellschaft wird deutlich am Beispiel von Jaan Roos, der untertauchte und sich neun Jahre lang von 1945 bis 1954 der Verhaftung durch die sowjetischen Sicherheitsbehörden entziehen konnte. Roos, ein Literat und Pädagoge, verbarg sich an über 100 Übernachtungs- und Versteckplätzen bei Verwandten, Bekannten, ehemaligen Schülerinnen und Mitschülern, Studienkollegen und vormaligen Mitgliedern der Gesellschaft estnischer Studenten (Eesti Üliöpilaste Selts, EÜS), der bedeutendsten studentischen Verei- nigung des unabhängigen Estland. Ohne seine vielfältigen Kontakte und seinen großen Bekanntenkreis wäre das jahrelange Untertauchen nicht möglich gewesen. Seine zum Teil publizierten Tagebücher aus dem Untergrund stellen eine interessante Quelle zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte der estnischen Nachkriegszeit dar. (Jaan Roos: Läbi punase öö [Durch die rote Nacht], 4 Bde., Tartu 1997-2004; hier: Hans Karro: Saateks [Vorwort], ebda., Bd. 1, S. 7-11, hier S. 9E)

444 NORDOSTEUROPA ALS SUBJEKTRAUM

Kalervo Hovi Nordosteuropa als Akteur: War die „Randstaa- tenpolitik" eine Illusion oder versäumte Chance?

Die Schwierigkeit, die im Titel formulierte Frage nach der „Randstaaten- politik" als Illusion oder versäumte Chance sowie die allgemeinen Fragen der Tagung zu beantworten, liegt darin, dass es keine einheitliche „Rand- staatenpolitik" oder eine gemeinsame Politik der baltischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg gab. Vielmehr gab es verschiedene Politiken und Ziel- setzungen innerhalb der Randstaatenpolitik, ganz abgesehen von den zahl- reichen unterschiedlichen Diskursen. Ausdehnung und innere Grenzen Was die geographische Ausdehnung der Randstaatenpolitik anbelangt, so war sie am weitesten zwischen den beiden ersten großen Konferenzen von Helsinki im Januar und dem lettischen Bulduri (dt. Bilderlingshof) im August und September 1920. Den Kern bildeten die fünf Staaten Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Daneben wurde in der lettischen, estnischen und litauischen Diskussion der Wunsch geäußert, auch die skandinavischen Staa- ten einzubeziehen. Diese hielten die Idee jedoch für lächerlich und nahmen an der baltischen Zusammenarbeit nicht teil. Das gilt sowohl für die Blütezeit der Randstaatenpolitik in den Jahren von 1919 bis 1926 als auch für die Bal- tische Entente in den Jahren von 1934 bis 1939. Zwei weitere Kandidaten der Randstaatenpolitik waren Weißrussland und die Ukraine. Sie nahmen zusammen mit Polen als Beobachter an einer Kon- ferenz im Jahr 1919 teil. Im nächsten Jahr wurde der ukrainischen Delegation der Zutritt zu mehreren Zusammenkünften gewährt, offensichtlich wegen ih- rer zu den anderen Randstaaten analogen geopolitischen Lage und ihrer engen Verbindung zu Polen. Nach den Konferenzen von 1920 konnte sie allerdings nicht mehr an der baltischen Politik teilnehmen, da sich die Bolschewisten mit der Errichtung einer Sowjetrepublik durchgesetzt hatten. Darüber hinaus war vor allem der finnische Außenminister Rudolf Holsti an einer Teilnahme der Tschechoslowakei, Rumäniens und den Staaten der Kaukasusregion interes- siert. Die weiteste Ausdehnungsmöglichkeit stellte eine Fühlungnahme Persi- ens dar, in die Zusammenarbeit der Randstaaten einzutreten. Von diesen Staa- ten hat Rumänien tatsächlich eine Rolle in der Randstaatenpolitik gespielt. Nach der Randstaatenkonferenz von Bulduri wurde die Zusammenarbeit nur noch zwischen vier Staaten weitergeführt, und zwar zwischen Finnland, Estland, Lettland und Polen beziehungsweise zwischen Finnland, Estland, Lettland und Litauen. Der Konflikt um die Stadt Wilna (lit. Vilnius, poln.

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Wilno) hatte sich so zugespitzt, dass Polen und Litauer nicht mehr gemein- sam an den Verhandlungstisch zu bringen waren. Eine engere Zusammenar- beit wurde letztlich nur zwischen den drei baltischen Staaten verwirklicht, nachdem sich Finnland 1922 ebenfalls aus der Randstaatenpolitik zurückge- zogen hatte. Die Zusammenarbeit zwischen den baltischen Staaten mündete dann in die Baltische Entente in den 1930er Jahren ein. Abgesehen von dem polnisch-litauischen Konflikt gab es auch zwischen den anderen baltischen Staaten Grenzprobleme und nationale Gegensätze. Neben dem Wilna-Pro- blem waren nationale Gegensätze in den estnisch-lettischen Beziehungen der am längsten währende Störfaktor. Aber selbst der lettisch-litauische Grenzvertrag wurde erst 1921 ratifiziert. Diese Gegensätze könnten auch als eine mentale Kluft und eine innere Grenze zwischen den Nationen interpre- tiert werden. Insofern kann man mit Bezug auf die Randstaatenpolitik nicht von einer Ostseeregion und nicht einmal von einer baltischen Region im en- geren Sinne sprechen. Die Region der Randstaatenpolitik lässt sich dage- gen in ihrer weitesten Ausdehnung gut mit dem Terminus Nordosteuropa beschreiben.

Randstaatenpolitik — eine versäumte Chance? Eine Antwort auf die Frage, inwieweit die Randstaatenpolitik als ver- säumte Chance bezeichnet werden kann, beruht erneut darauf, was für eine Zusammenarbeit für die Teilnehmer wünschenswert erschien. Zur militä- rischen Bündnisfrage, über die vor allem auf den ersten Konferenzen ge- sprochen wurde, gab es im Grunde zwei unterschiedliche Entwürfe. Die potentiell stärkste Alternative zu einem Bündnis der Ostseeanrainerstaaten hätte der polnische Entwurf einer Tripelallianz zwischen Finnland, Polen und Rumänien sein können. Polen lancierte auch die Idee einer Einteilung nach Interessensphären im Baltikum in den Jahren 1919-1920. Finnland wäre der nördliche Hauptpartner Polens gewesen, und die baltischen Staa- ten sollten dazu als untergeordnete Klienten einbezogen werden, und zwar so, dass Estland der finnischen Einflusszone und Litauen und Lettland der polnischen zugeordnet worden wären. Im März 1920 wurde sogar ein Mi- litärpakt zwischen Polen und Finnland paraphiert, und ein entsprechendes Bündnis wurde auch zwischen Polen und Rumänien verhandelt. Gestützt auf Frankreich hätte eine solche Tripelallianz sogar einen Machtfaktor dar- stellen können. Diese Pläne wurden jedoch nicht realisiert, ebenso wenig wie ein neuer polnischer Entwurf im Frühjahr 1922. Die meisten finnischen Parteien kehrten zu ihrer vorsichtigen Einstellung gegen eine Verwicklung in die baltischen, polnischen und französischen Angelegenheiten zurück. Eigentlich befürwor- teten nur die Zentrumsparteien die Randstaatenpolitik. Jedenfalls war die fin- 448 Nordosteuropa als Akteur

nisch-polnisch-rumänische Option damit verspielt. Sie lebte nur für eine kur- ze Weile Anfang der 1930er Jahre wieder auf Über die militärische Bündnispolitik zwischen Finnland und den bal- tischen Staaten wurde ausführlicher gesprochen. Vor allem die kleinen bal- tischen Staaten bangten um ihr Dasein, und daher wurde eine militärische und politische Defensivallianz auf mehreren Randstaatenkonferenzen bespro- chen. In der Anfangsphase war auch Polen einbegriffen, und es wurden sogar zwei Verträge in Bulduri 1920 und Warschau 1922 unterschriftsreif ausgehan- delt. Der erste Versuch scheiterte jedoch völlig, nicht zuletzt an der finnischen Abneigung, und das finnische Parlament lehnte dann auch den Vertrag von Warschau ab. Die estnische Regierung wollte in den Jahren 1921-1922 tat- kräftig eine Defensivallianz mit Finnland schließen, teilweise zusammen mit Lettland, aber nur die kleinstmögliche Allianz zwischen Estland und Lettland wurde im Juli 1922 vereinbart, und es war bezeichnend für die noch erregten Stimmungen, dass sie zunächst nicht ratifiziert wurde. Erst im November 1923 waren die Gemüter soweit beruhigt, dass die Defensivallianz auch tat- sächlich geschlossen werde konnte. Das Bündnis blieb bis zum Februar 1934 in Kraft und wurde dann für weitere zehn Jahre verlängert und politisch er- weitert. Das Abkommen sah eine Koordinierung der Außenpolitik und regel- mäßige Zusammenkünfte der Außenminister vor. Der Vertrag war offen für andere Staaten, und Litauen schloss sich im April 1934 der Baltischen En- tente an. Nur das mit Polen strittige Wilnaproblem und die mit Deutschland strittige Memelfrage wurden in dem Vertrag ausgeklammert. Vor allem die baltischen Staaten waren klein und ohne Traditionen, und insofern mussten sie tatsächlich um ihre Sicherheit und sogar um ihre Exis- tenz als selbständige Staaten fürchten. In diesem Sinne war nicht einmal die kleinstmögliche Allianz eine gänzlich versäumte Chance, geschweige denn die erweiterte Baltische Entente in den 1930er Jahren. Aber das Defensivbündnis war nicht das einzige Ziel der Randstaatenpolitik und auch nicht der baltischen Politik der kleineren baltischen Staaten. Auch die Friedensfrage beschäftigte die ersten Konferenzen. Hier lag ein Versäumnis in dem Sinne vor, dass eine einheitliche Linie in der Friedensfrage mit Sowjetrussland nicht erreicht wur- de. Alle Parteien verfolgten aber aufmerksam die Entwicklung in dieser Frage, und Finnland und Polen verabredeten sogar, gegenseitig ihre Friedensziele zu unterstützen. Aber auch das scheiterte, und jeder der fünf Staaten schloss letzt- lich einen separaten Friedensvertrag mit Sowjetrussland. Es gab aber auch weitere Bestrebungen, die besonders für die kleineren baltischen Staaten wichtig waren, die noch nicht international anerkannt worden waren. Auf der Konferenz von Bulduri wurde ernsthaft über die brennenden praktischen Probleme verhandelt, wurden Empfehlungen ausge- sprochen und sogar Verträge vorgeschlagen. Diese Angelegenheiten reich-

449 Kalervo Hovi ten von wirtschaftlichen, konsularischen, verkehrstechnischen, postalischen, sozialen und juristischen bis hin zu kulturellen Problemen. Die meisten Ver- einbarungen wurden jedoch nicht realisiert. Außerhalb und nach der Kon- ferenz wurden einige Verträge unter anderem über Post-, Telefon- und Te- legrafen- sowie Eisenbahnverbindungen geschlossen. Der wichtigste war vielleicht das Abkommen, das aus dem finnisch-estnisch-lettisch-polnischen Schiedsspruchverfahren 1925 hervorging. Außerdem wurden in Bulduri ein Baltischer Rat und ein Rat der militärischen Vertreter in Riga gegründet. Der erste sollte über die baltische Zusammenarbeit zwischen den großen Konferenzen beraten, aber er tagte tatsächlich nicht länger als ein Jahr. Der militärische Rat war noch kurzlebiger, tauchte aber später von neuem auf und hatte eine bedeutende Funktion für die spätere Baltische Entente. Kann die Randstaatenpolitik als eine Illusion bezeichnet werden? Die Antwort auf diese Frage hängt erneut von den verschiedenen Ziel- setzungen und Erwartungen ab. Für die finnische Regierung scheint es am wichtigsten gewesen zu sein, über die Entwicklungen im Baltikum auf dem laufenden zu bleiben. Im finnischen Denken bedeutete eine Zusammenar- beit, bei der sich die Ministerpräsidenten und Außenminister sowie die an- deren Minister und Beamten mehrmals im Jahr trafen, eine so starke Inter- essengemeinschaft, dass sie ebenso effektiv war wie ein formales Bündnis. Darum haben die Finnen drei verhandelte Verträge fallen lassen, aber trotz- dem an den Konferenzen bis zum Ende teilgenommen. In dem Sinne war die Randstaatenpolitik keine Illusion für Finnland. Polen scheint keine baltische Allianz ebenbürtiger Partner intendiert zu haben. Eher wollte es die kleinen baltischen Staaten, gegebenenfalls auch Finnland, seinen eigenen Interessen unterordnen. In dem Sinne waren die polnischen Erwartungen jedoch eine Illusion. Die baltischen Staaten ha- ben nur die kleinstmögliche Defensivallianz realisieren können. Falls sie eine erweiterte politische, wirtschaftliche und kulturelle Gemeinschaft an- gestrebt haben, wie es teilweise scheint, erwies sie sich ebenfalls als eine Illusion. Auf der einen Seite waren die Staaten viel zu gleich, um sich wirt- schaftlich ergänzen zu können, und auf der anderen Seite waren sie zu ver- schieden, um eine funktionierende Gemeinschaft zu bilden. Das erwies sich auch in den 1930er Jahren, als ein neuer Versuch in einer stark zugespitzten internationalen Lage in der Gestalt einer Baltischen Entente gestartet wur- de. Die Interessen liefen in verschiedene Richtungen, und letzten Endes hat- te man nicht den Willen, auch die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen. Das gilt auch für die geheimen Vorbereitungen für eine Kooperation der fin- nischen und estnischen Generalstäbe, der Küstenartillerien und der Marine. Diese Zusammenarbeit hatte ihre Wurzeln in einem militärischen Informa- tionsaustausch in Riga in den 1920er Jahren. Die Vorbereitungen zu einem

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Zusammengehen wurden so weit geführt, dass die Küstenartillerien noch im Sommer 1939 gemeinsame Manöver abhielten. Alles war vorbereitet, aber es scheint so, dass gerade die estnische Regierung davon keinen Ge- brauch machte. Finnland trat jedoch in den Krieg mit der Sowjetunion ein und verwirkliche die Pläne zur Sperrung des finnischen Meerbusens später mit den Deutschen. Insgesamt waren die vielen Pläne und Diskussionen der kleineren baltischen Staaten vor dem Hintergrund der außenpolitischen Ent- wicklung jedoch letztlich illusorisch.

Weiterführende Literatur: Kalervo Hovi: Die Randstaatenkonferenzen 1919 bis 1927, in: Reval und die Baltischen Länder: Festschrift für Hellmuth Weiss zum 80. Geburtstag / hrsg. von Jürgen von Hehn und Csaba Janos Kenez, Marburg/Lahn 1980, S. 91-103. Kalervo Hovi: Interessensphären im Baltikum: Finnland im Rahmen der Ostpolitik Polens 1919-1922, Helsinki 1984 (Studia Historica; Bd. 13). Kalervo Hovi: Aspekte der Zusammenarbeit zwischen Finnland, Est- land, Lettland, Litauen und Polen, in: Beiträge zur Geschichte des Ostsee- raumes: Vorträge der ersten und zweiten Konferenz der Ständigen Konfe- renz der Historiker des Ostseeraumes / hrsg. von Horst Wernicke, Hamburg 2002 (Greifswalder Historische Studien; Bd. 4), S. 353-362. Marko Lehti: A Baltic League as a Construct of the New Europe: Envi- sioning a Baltic Region and Small state Sovereignty in the Aftermath of the First World War. Frankfurt am Main 1999 (European University Studies Se- ries 3: History and Allied Studies; Bd. 817).

451 Michael Garleff Deutschbalten als Träger eines nordost- europäischen Identitätsgedankens?

In einer kurzen Ansprache über „Geschichtsbewußtsein und Identität" hob Georg von Rauch (1904-1991) im Jahre 1980 zwei wesentliche Elemente deutschbaltischen Geschichtsbewusstseins hervor: die „geradezu existenti- elle Bedeutung" baltischer Geschichte für die Identität der Deutschbalten so- wie deren historische Mitwirkung an der Gestaltung einer Region, die stets „an der Schnittlinie übergreifender politischer und geistiger Kräfte" gelegen habe.' Mit Bezug auf Graf Peter Suvalovs (1827-1889) Wort vom Baltikum als dem „Schlachtfeld der großen Politik"2 betonte auch von Rauch, dass bal- tische Geschichte „immer auch ein Stück Weltgeschichte" und „niemals nur provinziell" gewesen sei — so habe dem Geschichtsbild trotz gelegentlicher nationaler Übersteigerungen „meist ein Zug ins Universale" angehaftet. Diese baltische Geschichte im engeren Sinne einerseits und der universa- listische Zug übergreifender Kräfte andererseits markieren auch den Rahmen für die Beantwortung unserer Titelfrage, etwa in der naheliegenden Präzisie- rung, ob darin nicht auch ein „nordosteuropäischer Identitätsgedanke" Platz haben konnte. Bei der Suche nach einschlägigen Zitaten und Belegstellen aber erfahren wir eher, was ein anderer bekannter deutschbaltischer Histori- ker prononciert äußerte — nämlich Carl Schirren (1826-1910) in seiner Kieler Rektoratsrede von 1878, die er mit dem Hinweis einleitete, die Beschäftigung mit Geschichte „vernichtet vor Allem Illusionen der Geschichtsschreiber".3 Am nächsten kamen unserer Fragestellung noch einige der konservativen Minderheitentheoretiker der Zwischenkriegszeit, indem sie eine Art skandi- navischer Komponente in ihre Überlegungen einbezogen. So lobte Max Hil- debert Boehm (1891-1968) in Auseinandersetzung mit (und Ablehnung) der Minderheitentheorie Paul Schiemanns (1876-1844) die Verhältnisse in Finn- land, wo die schwedische Minderheit seiner Ansicht nach „in vorbildlicher Weise" eine Entwicklung „zum teilhabenden Staatsvolk" erreicht habe. Im Gegensatz zu Schiemanns sogenannter Theorie vom anationalen Staat sei hier stärker noch als in der Schweiz „der Gegensatz von Mehrheit und Min- derheit durch legitime nationalitätenstaatliche Verfassungsformen in wei- tem Ausmaße überwunden worden".4 Und der Boehm nahestehende Jurist 1 Georg von Rauch: Geschichtsbewußtsein und Identität, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 30:1983 (1982), S. 14f. 2 Zitiert bei Alexander von Tobien: Die Livländische Ritterschaft in ihrem Verhältnis zum Zarismus und russischen Nationalismus, Bd. 1, Riga 1925, S. 372. 3 Carl Schirren: Über Macchiavelli, in: ders.: Charaktere und Menschheitsprobleme. Kiel 1912, S. 238. 4 Max Hildebert Boehm: Die Nationalitätenfrage, in: Nation und Nationalität / hrsg. von Friedrich Hertz

452 Deutschbalten — Träger eines Identitätsgedankens? und Minderheitenpolitiker Werner Hasselblatt (1890-1958) setzte sich dafür ein, dem „nordisch-protestantischen Kulturkreis" mehr politisches Gewicht zu verleihen mit folgendem Ziel: „Das System des einzelstaatlichen Indivi- dualismus rund um die Ostsee muss abgelöst werden durch eine Dominante, die das Abrücken vom staatspolitischen Materialismus fördert und solche Ge- meinsamkeiten weckt, die ein Bollwerk der wiederaufzurichtenden abendlän- dischen Kultur gegen alle Elemente ihrer Gefährdung darstellen könnten."5 Hier kommt also wieder einmal jene Bollwerkfunktion zum Tragen, in der sich Deutschbalten alternativ zu ihrer Vermittlungsfunktion in der Geschich- te häufig sahen. Sie war unmissverständlich gerichtet gegen den „eurasischen Koloss", gegen die „Dampfwalze russischer Macht und Menschenmassen". Polen, Litauen und Russland galten Hasselblatt gleichermaßen als „Fremd- linge an der Ostsee" — und zwar explizit „im Sinne des Kulturraumes der Ost- see". So sah er die „Prägung der Kultur der baltischen Länder, das geistige Profil seiner Menschen [...] vom Protestantismus" geschaffen, dessen „Träger und Hüter" eben Schweden und Deutsche waren. Selbst vor dem internationalen Forum der Europäischen Nationalitä- tenkongresse beschwor Hasselblatt die Gemeinsamkeit des Protestantis- mus in Nordosteuropa als Repräsentant des abendländischen Kulturkreises gegen Russland.' Die Kulturgeschichte sowohl des finnischen als auch des estnischen und lettischen Volkes war in seinen Augen wesentlich eine „Ge- schichte der protestantischen Kirche und ihres Kampfes gegen Orthodoxie und Slawentum". Unter Landespolitik verstand Hasselblatt „Kultur, Kirche und Politik", die zu einer „gegenseitigen Durchdringung und Verschmelzung" geführt hätten. Resümierend gilt für ihn als "geschichtliche Tatsache": „Pro- testantismus, Kultur und Recht bedeuteten in der Geschichte des baltischen Raumes eine Abgrenzung gegen Slawentum und Orthodoxie und eine Bin- dung an die abendländische Kultur schwedischer und deutscher Prägung."' u. Sebald Rudolf Steinmetz, Karlsruhe 1927 (Jahrbuch für Soziologie; Ergänzungsbd. 1), S. 116-151, hier S. 145. 5 Dieses und die folgenden Zitate bei Werner Hasselblatt: Der nordisch-protestantische Kulturkreis und die baltischen Länder, in: Auslanddeutschtum und evangelische Kirche, Jahrbuch 1933, S. 145f. 6 „Es ist für mich eine absolut unbestreitbare Tatsache, daß zum Beispiel in Nordosteuropa das volle Wirken von Menschengruppen in rein nationaler Arbeit erst über die Kirchen möglich wurde, ja ich gehe sogar noch weiter: Wenn ich mir das finnische, lettische, estnische Volk ansehe, so glaube ich, daß die einzige volksnahe Form für die Bindung dieser Völker an den abendländischen Kulturkreis im Protestantismus liegt und daß anderseits der Protestantismus zum mindesten in diesen Ländern die Gemeinsamkeit ist, die es uns möglich machte, in den schweren Jahren der Nachkriegszeit, aber auch schon im Rahmen des russischen Reiches eine gemeinsame Front zu halten, eben zugunsten dieses abendländischen Kulturkreises" (Sitzungsbericht des Kon- gresses der organisierten nationalen Gruppen, 9 (1933), Bern, S. 84). 7 Hasselblatt: Der nordisch-protestantische Kulturkreis (wie Anm. 5), S. 152. Ähnlich argumentiert er in einem an der Geopolitik Friedrich Ratzels orientierten Beitrag: ders.: Kräftespiel um die Ostsee, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 1930, S. 93-98.

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Dass diese „Kulturbezirke" eine eindeutige „Rangordnung und Wertfol- ge" aufweisen, verbindet Hasselblatts Vorstellungen — angereichert um den Kampf gegen „politische Parteiwirtschaft" und „Materialismus" — in den Kernelementen mit jener deutschbaltischen Geisteshaltung, die von dem be- reits erwähnten Carl Schirren 1869 in seiner politischen Kampfschrift „Liv- ländische Antwort" gegen Jurij Samarin (1819-1876) begründet worden war.' Sie sollte deutschbaltische Identität für mehr als ein Jahrhundert in wesentlichem Maße mitbestimmen.9 Dieser Bezug auf den „nordisch-protestantischen Kulturkreis" stellt so- mit bestenfalls eine Teilidentität dar, als welche er selbst angesichts der deutlich aggressiven Elemente gelten mag. Denn zur Identitätsbildung trägt offensichtlich gerade auch die Abgrenzung gegen andere bei, wie die neuere Stereotypen- und Imagologieforschung nachgewiesen hat.'° Aber selbst diese Teilidentität begegnet uns bei Deutschbalten nicht um- fassend. Es ist vielmehr ein erst relativ spät einsetzender Prozess, der im 19. Jahrhundert noch kleinere Begrenzungen nur allmählich überwindet. In die- ser Entwicklung spielt das Entstehen einer liberalen deutschbaltischen Pu- blizistik und Öffentlichkeit eine ausschlaggebende Rolle." Mit der Begrün- dung der „Baltischen Monatsschrift" im Jahre 1859 erfolgte dieser Schritt von einer bis dahin auf die drei Ostseeprovinzen Est-, Liv- und Kurland ori- entierten Sicht zu einem „gesamtbaltischen" Denken. Julius Eckardt (1836- 1908) formulierte 1870 in der Einleitung zu seinem Werk „Bürgerthum und Bureaukratie" ein deutschbaltisches Regionalprogramm, in dem „die Sache des gesamten Vaterlandes [d.h. aller drei Provinzen; M.G.] zum Leitstern" des Handelns gemacht werde.12 Von den Anfängen seiner Redakteurstätig- keit bis zu seinen umfassenden Werken als vielgelesener Publizist wurde Eckardt nicht müde, gegen deren „isolirtes, in sich abgeschlossenes Dasein" zu polemisieren und den Partikularismus mit seiner ständischen oder pro- vinziellen Absonderung anzuprangern: „Trotzdem dass der Boden, aus dem das baltische Provinzialleben erwachsen ist, auf dem es sich entwickelt und ausgebildet hat, ein ziemlich eng begrenzter ist, ist er dennoch kein einheit- licher, sondern zerfällt er in eine Anzahl Provinzen und innerhalb dieser in

8 Carl Schirren: Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin, Leipzig 1869. 9 Zu Schirren und seinen Nachwirkungen vgl. Reinhard Wittram: Carl Schirrens „Livländische Antwort" (1869), in: Ostdeutsche Wissenschaft 1 (1954), S. 278-298; Irene Neander: Carl Schirren als Historiker, in: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung / hrsg. v. Georg von Rauch, Köln, Wien 1986 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; Bd. 20), S. 175-202. 10 Vgl. die jüngste Forschungsübersicht bei Berit Pleitner: Die „vernünftige" Nation: zur Funktion von Stereotypen über Polen und Franzosen im deutschen nationalen Diskurs 1850 bis 1871. Frankfurt am Main 2001 (Mitteleuropa — Osteuropa; Bd. 3); S. 19-62, insbes. S. 53ff. 11 Vgl. Reinhard Wittram: Liberalismus baltischer Literaten: zur Entstehung der baltischen politischen Presse, Riga 1931. 12 Julius Eckardt: Bürgerthum und Bureaukratie, Leipzig 1870, S. XV.

454 Deutschbalten — Träger eines Identitätsgedankens? verschiedene Partikulargruppen mit scharf ausgeprägten, wesentlich ausein- andergehenden Verschiedenheiten."13 Das im Generalgouvernement „staatlich gegipfelte" Ostseegebiet zerfalle in „zahlreiche verschiedene Gruppen von wesentlich auseinandergehender Ei- genthümlichkeit, hergebrachten Sympathien und Antipathien, traditionellen, Gegensätzen und Rivalitäten",14 es werde bestimmt von einer „Befangenheit in partikularen Sonderinteressen".15 Kennzeichnend dafür sei nicht zuletzt die Tatsache, dass ‚jeder der drei Stän- de der baltischen Provinz sein eigenthümlich Privat- und Prozeßrecht" habe — in den von nur knapp zwei Millionen Menschen bewohnten Ostseeprovinzen gäbe es „nicht weniger denn zehn verschiedene Privatrechte".16 Prononciert äußerte sich auch der liberale Redakteur der „Baltischen Monatsschrift", Ernst von der Brüggen (1840-1903): „Die baltischen Provinzen sind ein ziemlich abgelegenes Kirchdorf"?' Und der estophile deutschbaltische Arzt und Schriftsteller Georg Julius von Schultz-Bertram (1808-1875) setzte sich als Ziel seiner Schriften, „den alten Schlendrian aufzurütteln, damit Livland aus seinem Schneckenhaus- Leben erwacht und einen weiteren Gesichtskreis gewinnt."18 In dem meistgelesenen seiner Werke über „Die baltischen Provinzen Ruß- lands" kennzeichnete Julius Eckardt wohl „drei verschiedene Culturgebiete", die sich hier an der Ostsee „zu einer Kette zusammenschließen: ein schwe- disches, ein deutsches und ein polnisch-litthauisches, die gemeinsam die Westgrenze des russischen Reiches bildend, unter sich ebenso fremd, wie sie durch historische und ethnographische Eigenthümlichkeiten von dem Stam- me geschieden sind, der sie seinem Staate einverleibt hat".19 Ein jeweils eigenes Hinterland stütze diese Gebiete „wenn nicht poli- tisch, so doch geistig und moralisch": „Wie Finnland eine skandinavische, ist Litthauen eine polnische, Liv-Est-Kurland eine deutsche Colonie." Diese Gedanken weisen eine deutliche Nähe zu den oben erwähnten, späteren Ausführungen Hasselblatts auf, unterscheiden sich aber von diesen noch durch ein geringeres Maß an Aggressivität gegenüber den Nachbarn — 13 Julius Eckardt: Beiträge zur Charakteristik unserer Provinzialen, in: Rigascher Almanach für 1863, 6 (1862), S. 31-49; Wiederabdruck unter dem Titel: Zur Charakteristik der Balten, Hamburg-Rahlstedt 1962; Zitate hier S. lf. 14 Ebda., S. 3. 15 Ebda., S. 10. 16 Eckardt nennt im einzelnen: "zu den Land-, Stadt- und Bauerrechten von Liv- und Estland kommen das öselsche Bauerrecht, das kurische und das piltensche Privatrecht und das kurl. Bauerrecht" (ebda., S. 10). 17 Ernst von der Brüggen: Zur diesjährigen baltischen Ausstellung, in: Baltische Monatsschrift 20 (1871), S. 292. — Vgl. auch Reinhard Wittram: Meinungskämpfe im baltischen Deutschtum während der Reforme- poche des 19. Jahrhunderts, Riga 1934. 18 Dr. Bertram: Baltische Skizzen, Reval 41904, S. 120 (1. Aufl. 1852); ders.: Briefe eines baltischen Idealisten an seine Mutter 1833-1875. / hrsg. v. Johannes Werner, Leipzig 21934, S. 237. 19 Julius Eckardt: Die baltischen Provinzen Rußlands: politische und culturgeschichtliche Aufsätze, Leip- zig 21869, S. 1f.

455 Michael Garleff wie übrigens in bemerkenswerter Weise auch von den älteren Zeitgenossen Carl Schirren und Victor Hehn (1813-1890).20 Es ist somit nicht ein umfassender nordosteuropäischer Identitätsgedanke, der von Deutschbalten vertreten wurde, sondern seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine die Partikularität der Provinzen übergreifende gesamtbaltische Vorstellung etwa in dem Sinne, wie sie in einer historischen Abhandlung Georg von Rauchs deutlich wird: „Der Deutsche Orden und die Einheit des baltischen Landes".21 Diese Versuche gewannen Aktualität unter den zunehmenden russifizierenden Maßnahmen der Zentralbehörden und fanden einen Höhepunkt zwischen der russischen Revolution von 1905 und dem Ende des Ersten Weltkrieges. Dabei wäre im einzelnen allerdings zu fragen, inwieweit sich gesamtbaltische Einstel- lungen im deutschbaltischen Denken letztlich haben durchsetzen können ge- genüber regionalem und landsmannschaftlichem Denken. Ergiebige Untersu- chungsfelder böten hierfür u.a. die Universität Dorpat oder auch die zahlreichen Vereinsgründungen im Baltikum mit ihren unterschiedlichen Zielsetzungen. Eine Rolle für das Nichtherausbilden einer nordosteuropäischen Identität bei den Deutschbalten werden mehrere Faktoren gespielt haben. Da wäre zum ei- nen ein „streng gehütetes Bewusstsein davon, dass man in einer permanenten Ausnahmesituation lebte und in vielen Beziehungen eine Ausnahmeerscheinung darstellte" — ein „Bewußtsein, eine Kategorie für sich zu sein", wie es Reinhard Wittram (1902-1973) formuliert hat.22 Eng damit verbunden war das verbreite- te Bewusstsein, als „Eingangstor europäischer Gesinnung" eine „Kulturbrücke" zu bilden. Diese von Hans Rothfels (1891-1976) auch als eine „Form des bal- tischen Missionsgefühls"" bezeichnete Haltung schloss das erwähnte „Problem der Doppelseitigkeit" mit ein: Sowohl Sperrblock als auch Verbindungsstück, also Bollwerk und Brücke zugleich zu sein. Diese „Doppelheit der baltischen geschichtlichen Lebensform, das Nebeneinander kultureller Besonderheit und staatlicher Loyalität, die zweifache Tatsache der Treue zum deutschen Volkstum und zum russischen Reich" enthält in der Tat ein „Programm von stärkstem all- gemeingeschichtlichen Interesse".24 Eben diese Doppelheit der Lebensform aber könnte die eigentliche Ursache dafür gewesen sein, dass es nicht gelang, über die Ansätze einer baltischen die umfassendere nordosteuropäische Iden- tität zu erreichen.

20 Vgl. hierzu Michael Garleff: Deutschbalten zwischen den Kulturen, in: Russen und Rußland aus deut- scher Sicht: 19./20. Jahrhundert: Von der Bismarckzeit bis zum Ersten Weltkrieg / hrsg. v. Mechthild Kel- ler, München 2000 (West-östliche Spiegelungen; Reihe A, Bd. 4), S. 427-481. 21 Georg von Rauch: Der Deutsche Orden und die Einheit des baltischen Landes, Hamburg-Rahlstedt 1961. 22 Reinhard Wittram: Über die Figur einiger politischer Traditionen, in: Die Welt als Geschichte 14 (1959), hier S. 71. 23 Hans Rothfels: Reich, Staat und Nation im deutschbaltischen Denken, in: ders.: Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 21962, S. 182-204, hier S. 183. 24 Ebda., S. 185.

456 Deutschbalten — Träger eines Identitätsgedankens?

So bleibt abschließend festzuhalten, dass ein nordosteuropäischer Iden- titätsgedanke bei Deutschbalten nicht virulent war. Ihre Teilidentitäten könnten aber bei der Bestimmung untergeordneter regionsbildender wie re- gionsabgrenzender Faktoren für eine Binnengliederung eine Rolle spielen, wobei bis 1918 die Überschneidungen und Gegensätze in den Auffassungen der herrschenden Schichten zu jenen der Bevölkerungsmehrheit der Esten und Letten von erheblicher Bedeutung sind.

457 Jörg Hackmann Vom Objekt zum Subjekt Kleine Nationen als konstituierender Faktor der Geschichte Nordosteuropas

Mit dem Beitritt der drei baltischen Staaten zur Europäischen Union und. zur NATO im Frühjahr 2004 ist zweifellos die Epoche der zweiten Nach- kriegszeit im nordöstlichen Europa endgültig zu Ende gegangen. Zugleich ist auch eine Übergangsepoche „heißer" Entwicklung an ihr Ende gekommen. Die mitunter scharfen Konfliktlagen in sicherheits- und minderheitenpoli- tischer Fragen haben sich abgeschliffen, und die innenpolitischen Entwick- lungen östlich der Elbe zeigen, dass in den ehemals sozialistischen Gesell- schaften, die von vielen ihrer Repräsentanten auf einem geraden Weg zur immer schon erstrebten Verwestlichung präsentiert wurden, die sozialisti- schen Jahrzehnte nicht mit einem Tastendruck gelöscht werden können. Von dieser Perspektive aus mag es sinnvoll sein, einen Rückblick zu werfen auf die Kräfte, die zur Wiederbelebung der Ostseeregion in den 1980er Jahren ge- führt haben. Es steht dabei gänzlich außer Zweifel, dass das friedliche Streben der drei baltischen Nationen nach der Wiederherstellung ihrer staatlichen Unabhän- gigkeit die Wahrnehmung der Region, die wir gemeinhin als Ostseeraum oder Ostseeregion bezeichnen, radikal gewandelt hat, und zwar in der Perspektive der internationalen Politik ebenso wie in human- und sozialwissenschaftlichen Sichtweisen. Die jüngste Renaissance der Ostseeregion ist daher von den po- litischen Veränderungen seit Mitte der 1980er Jahre gar nicht zu trennen. Die „singende Revolution" der baltischen Nationen in der Sowjetunion und die völkerrechtliche Wiederherstellung der Unabhängigkeit der baltischen Staa- ten haben nicht nur die betroffenen Nationen bewegt, sondern insbesondere auch die Nachbarn in der Ostseeregion einschließlich Islands. Die Wiederkehr der Ostseeregion ist jedoch keineswegs nur eine Folge weltpolitischer Verän- derungen im östlichen Europa gewesen, sondern hat diese — etwa in der kul- turpolitischen Initiative Schleswig-Holsteins unter dem mittlerweile bereits historischen Motto der „neuen Hanse" und in nordeuropäischen Ansätzen zur Regionalisierung der Sicherheitspolitik' — zumindest teilweise auch bedingt. 1 Zur neuen Hanse s. die Nachweise bei Jörg Hackmann: Not only Hansa. Images of History in the Baltic Sea Region, in: Mare Balticum (1996), S. 23-35; und Marko Lehti: Possessing a Baltic Europe: Retold National Narratives in the European North, in: Reinventing Europe. Northern and Baltic Experiences of Post-Cold War Identity Politics / hrsg. v. Marko Lehti und David J. Smith, London 2003, S. 11-49, hier S. 18-21; die Diskussion über Regionalisierung unter sicherheitspolitischen Aspekten wurde vor allem angestoßen von: Pertti Joenniemi, Ole Waever: Regionalism around the Baltic Rim. Notions an Baltic Sea politics, in: Co-operation in the Baltic Sea Area. The Second Parliamentary Conference an Co-operation

458 Vom Objekt zum Subjekt

Zugleich, auch das ist für die Raumwahrnehmung wichtig, hat die zivilge- sellschaftliche Mobilisierung in den ehemals sozialistischen Ländern auch auf die anderen Ostseeanrainer ausgestrahlt. Schließlich wurden auch die humanwissenschaftlichen Betrachtungs- weisen von diesen Veränderungen geprägt: Wenn man mit Karl Schlögel von einer „Wiederkehr des Raumes"2 in die Geschichtswissenschaft spre- chen kann, dann hängt das eben auch mit den politischen Veränderungen zusammen, also mit der Möglichkeit, konkrete Orte und ihre Geschichte — im Wortsinn — zu „erfahren". Karl Schlögel und Martin Pollack etwa haben das bereits vor der Wende von 1989 für das östliche Europa anschaulich de- monstriert.' Diese wiederbelebte Erfahrung des Raumes ist nicht zu trennen von der Wahrnehmung historischer Räume, die sich nicht mit den heutigen decken, und dem Interesse, sich mit ihrer Bedeutung für die Gegenwart aus- einanderzusetzen. Im „alten" Denken vor 1989 konnte, ja musste, eine sol- che Perspektive als ein Indiz für Revisionismus, also für eine politisch nicht korrekte Haltung gelten. Insofern hatte bis in die 1980er Jahre hinein das Sprechen über die Ostseeregion in Geschichte und Gegenwart entweder ei- nen nostalgischen Beiklang oder aber einen bitteren antisowjetischen Beige- schmack, wenn nicht das sowjetische Schlagwort von der Ostsee als „Meer des Friedens" aufgegriffen wurde. Aus diesen Beobachtungen ergeben sich für die Erörterung Nordosteu- ropas in historischer Perspektive zwei zentrale Fragen: Erstens, welche Rol- le spielen in ihr die „kleinen" baltischen Nationen für die Konstituierung der Region? Lässt sich aus ihrem Emanzipationsstreben und dem anschlie- ßenden Streben nach staatlicher Selbstbehauptung ein historisches Struk- turmerkmal der Region ableiten? Falls ja, so wäre zweitens zu fragen, wie die Konturen und Kohäsionskräfte einer solchen Region beschaffen sind und in welchem Verhältnis eine solcherart konstruierte Region zu anderen Regionalkonzepten steht. in the Baltic Sea Area / hrsg. v. The Nordic Council, Stockholm 1992 (Nord; Bd. 24), S. 118-156; s. auch: The Baltic Sea area: a region in the making: contributions from 16 authors / hrsg. v. Sverre Jervell, Mare Kukk, Pertti Joenniemi, Oslo, Karlskrona 1992. 2 Karl Schlögel: Die Wiederkehr des Raumes. Die Konkretwerdung der Welt nach dem Verschwinden der Systeme. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Juni 1999, Bilder und Zeiten; ders.: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 11. 3 Martin Pollack: Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Wien [u.a.] 1984; Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa, Berlin 1986. Ähnliches ließe sich über erste Reiseberichte aus den baltischen Ländern und Kaliningrad seit Ende der 1980er Jahre sagen; einen Eindruck von der Umbruchszeit vermitteln: Marianna Butenschön: Estland, Lettland, Litauen. Das Baltikum auf dem langen Weg in die Freiheit, München 1992; Anatol Lieven: The Baltic Revolution: Estonia, , Lithuania and the path to independence, New Haven, CT 21994.

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Was ist baltisch? Vorab ist jedoch knapp zu skizzieren, was „baltisch" bedeutet. Dass im zeitgenössischen deutschen Verständnis „baltisch" mehrdeutig ist und ent- weder die drei Staaten Estland, Lettland und Litauen oder auch nur Estland und Lettland — und damit nur einen kleinen Bereich der Ostseeküstenre- gionen — umfasst, zählt bereits zu den zu erklärenden Sachverhalten. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war „baltisch" im deutschen Sprachge- brauch jedoch noch auf die ganze Ostseeregion bezogen, es bedeutete nicht nur die russländischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland, son- dern ebenso Königsberg, Stettin, Greifswald und Kiel, ähnlich der Semantik von englisch „baltic" oder polnisch „baltycki". Auch G. H. F. Nesselmanns Begriffsprägung der „baltischen Sprachen" ging noch von diesem Raum- zusammenhang aus.4 Ab der Jahrhundertmitte, und insbesondere nach der Reichsgründung und den unter der Herrschaft Alexanders III. seit 1881 zu- nehmenden Konflikten um die ständischen Privilegien der ehemals schwe- dischen und polnischen Ostseeprovinzen im Zarenreich, verengte sich der Begriff „baltisch" im Deutschen räumlich und ethnisch-sozial. Räumlich be- zeichnete er nun nur noch die russländischen Ostseeprovinzen, die zugleich über die Grenzen der einzelnen Provinzen hinaus als eine räumliche Einheit betrachtet wurden. Die Gründung der „Baltischen Monatsschrift" in Riga 1859 markiert diesen semantischen Wandel.' Wenn in der deutschen Litera- tur seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Ostseeprovinzen als „deutsch-rus- sisch" und dann zumeist als „deutsch"' bezeichnet wurden, so spiegelt sich darin eine ethnische Einengung auf die in kultureller und sozialer Hinsicht dominant erachteten deutschen Oberschichten in der Region. In etwa zeit- gleich verlor „baltisch" seine Rolle als Selbstbezeichnung bei den Letten und Esten. Umgekehrt bezeichnete das russische Wort „ostzejcy" nicht alle

4 Georg Heinrich Ferdinand Nesselmann: Die Sprache der alten Preußen. An ihren Ueberresten erläutert, Berlin 1845, S. XXIX. Er wandte sich dort gegen frühere Benennungen dieser Sprachfamilie als lettisch oder borussisch-lettisch und schlug vor, „diese Familie die der Baltischen oder sonst irgend wie zu nennen" [meine Hervorhebung, JH]. 5 Die Bezeichnung der Region als „baltisch" war zunächst ein Projekt der deutschsprachigen städtischen und gelehrten Mittelschichten; zur Begriffsgeschichte siehe den Beitrag des langjährigen Redakteurs der Monatsschrift: Georg Berkholz: Geschichte des Wortes „baltisch", in: Aus baltischer Geistesarbeit. Reden und Aufsätze / hrsg. v. Deutschen Verein in Livland, Riga 1909, Bd. 2, S. 86-98 (zuerst gedruckt 1884). Mehr dazu in: Jörg Hackmann: Was bedeutet „baltisch"? Zum semantischen Wandel des Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Erforschung von mental maps, in: Buch und Bildung im Baltikum. Festschrift für Paul Kaegbein zum 80. Geburtstag / hrsg. v. Heinrich Bosse, Otto-Heinrich Elias, Robert Schweitzer, Münster 2005 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 13) S. 15-39. 6 Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Julius Eckardt: Die deutsch-russischen Ostsee-Provinzen. Of- fenes Schreiben an Herrn Professor H. v. Treitschke, in: ders., Baltische und russische Cultur-Studien aus zwei Jahrhunderten, Leipzig 1869, S. 1-23; s. auch ders.: Die baltischen Provinzen Rußlands, Leipzig 1868; die Begriffsprägung „deutsch-russisch" auch schon bei: Johann Georg Kohl: Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen oder Natur- und Völkerleben in Kur-, Liv- und Esthland, Dresden, Leipzig 1841. 460 Vom Objekt zum Subjekt

„Ostseeleute", sondern nur die deutschbaltischen Eliten in Est-, Liv- und Kurland, und war in der Folge von Jurij Samarins Kritik an den politischen und sozialen Zuständen im „russisch-baltischen Küstengebiet"' negativ konnotiert.8 Aus dem hier Skizzierten lässt sich erkennen, dass die von „bal- ticum" abgeleiteten Bezeichnungen inhaltlich wie zeitlich differierende Be- deutungen annahmen; dabei ist etwa im Englischen und im Polnischen der Bezug zur Gesamtheit des Ostseeraumes noch deutlich präsent. Zur Klar- heit wird im Folgenden von den ostbaltischen Nationen oder Ostbaltikum die Rede sein, wenn es um Estland, Lettland und Litauen geht. Nordosteuropa und die kleinen Nationen Blickt man auf die deutschen historiographischen Stellungnahmen zu Nordosteuropa, so ist die Frage nach den kleinen Nationen im historischen Kontext von Klaus Zernack so beantwortet worden, dass sich in der Staa- tenstruktur der Zwischenkriegszeit ältere Strukturen spiegeln, was vor allem mächtepolitisch gemeint war. In einem Vortrag in Oulu 1983 hatte Zernack ausgeführt: „Durch die Gleichordnung Russlands und Deutschlands mit den übrigen zahlreichen Staaten der Zwischenkriegszeit und die staatenpoli- tische Machtbalance konnte noch einmal für kurze Zeit der große nordost- europäische Geschichts- und Kulturzusammenhang aufleben, sogar in einer nie gekannten politischen Vielfalt."9 Stefan Troebst, der in den letzten Jahren mehrfach den Nordosteuropa- Begriff in der umfassenden Bedeutung Zernacks aufgegriffen und dabei re- gional wie zeitlich ausgeweitet hat, nahm für unsere Fragestellung das Dik- tum von Karl Renner auf, dass die (kleinen) Nationen die (großen) Staaten zerreißen und sich damit mächtiger als diese erweisen; er nennt in diesem Zusammenhang für die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts Norwegen, Finn- land, Estland, Lettland, Litauen und Polen.m Gewiss kann man diskutieren, ob denn der Begriff „zerreißen", der ja auf Habsburg gemünzt war, für den Nordosten zutrifft» aber die Feststellung, dass sich die kleinen Nationen als geschichtsmächtige Konstruktionen erwiesen haben, ist unbestritten.

7 Jurij Samarin: Okrainy Rossii. Serija 1: Russkoe Baltijskoe pomor'e [Russlands Grenzgebiete. Erste Serie: Das russische Ostseeküstengebiet], Praga 1868. Berlin 31869. 8 Ausgeprägt bei: Maksim M. Duchanov: Ostzejcy. Politika ostzejskogo dvorjanstva v 50-70-ch gg. XIX v. i kritika ee apologetieskoj istoriografii [Die Ostseeleute. Die Politik der ostseeischen Gutsbesitzer in den 1850-1870er Jahren und eine Kritik ihrer apologetischen Geschichtsschreibung], Riga 1978, S. 5; siehe dazu auch Hackmann: Was bedeutet „baltisch"? (wie Anm. 5). 9 Klaus Zernack: Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschichte der Ostseeländer, Lüneburg 1993, S. 20f. 10 Stefan Troebst: Nordosteuropa. Begriff— Traditionen — Strukturen, in: Mare Balticum (1996), S. 7-14, hier S. 9; weitere Fassungen: ders: Nordosteuropa: Geschichtsregion mit Zukunft, in: NORDEUROPA- forum (1999), Nr. 1, S. 53-69; und ebenso in: Scandia 65 (1999), S. 153-168. 11 Kritisch: Andreas Kappeler: Nationsbildung und Nationalbewegungen im Russländischen Reich, in:

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Etwas näher ist Ralph Tuchtenhagen in seiner knappen Skizze der Ge- schichtsregion Nordosteuropa12 auf die Nationalbewegungen Nordosteuro- pas eingegangen, allerdings mit einem deutlich engeren Fokus. Er erwähnt die Nationalbewegungen der Finnen, Esten und Letten, und ebenso natio- nale Aspirationen der Karelier und Ingrier. Von den Litauern heißt es dage- gen etwas kryptisch, sie seien ebenfalls auf der Bildfläche erschienen. Nord- osteuropa in diesem Sinne bezeichnet für Tuchtenhagen die Peripherie in dem sich überschneidenden Einflussbereich der Ostseemächte — Dänemark, Schweden, Russland, Polen — und ist durch eine eigene regionale Identität gekennzeichnet, solange sich keine Nationalstaaten ausdifferenziert hatten. Für das 20. Jahrhundert beschreibt er den regionalen Zusammenhalt als von einer charakteristischen kleinstaatlichen Identität geprägt, die sich auf kul- turellen Traditionalismus und das Streben nach Zusammenarbeit stützt. In diesem Kontext, und nur in diesem, sieht Tuchtenhagen einen balto-skan- dinavischen Zusammenhang, der sich vor allem im Streben der baltischen Staaten nach Anschluss an die nordischen Staaten geäußert habe. „Kleinheit" in der Ostseeregion Das Problem der kleinen Nationen in Nordosteuropa in supranatio- naler, großregionaler Perspektive stellt sich zum einen in der Frage nach vergleichbaren gesellschaftlichen Ausgangslagen und Entwicklungslinien und zum anderen in den Bemühungen der kleinen Staaten, sich innerhalb der Mächtestrukturen des 20. Jahrhunderts zu behaupten. Für den ersten Punkt sind wir vor allem auf die jeweiligen nationalgeschichtlichen Forschungen angewiesen, die hier nicht im Einzelnen charakterisiert werden können. Es sei daher nur angedeutet, dass eine vergleichende oder zumindest zusammen- schauende Betrachtung bisher am ehesten bei den kleinen Nationen innerhalb des Zarenreichs° oder innerhalb Nordeuropas angestellt worden ist. Verglei- che von nord- und osteuropäischen Fällen sind dagegen noch selten. Miroslav Hrochm etwa hat in seine Fallstudien auch Norwegen und Finnland einbezo- gen, und im zweiten Band der „Baltic World" von David Kirby15 finden sich ebenfalls einige Anhaltspunkte. Dagegen bietet das Projekt der European Sci- ence Foundation zu „Comparative Studies an Governments and Non-domi- Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), S. 67-90, hier S. 67, S. 75. 12 Ralph Tuchtenhagen: Nordosteuropa, in: Studienhandbuch östliches Europa. Bd. 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas / hrsg. v. Harald Roth, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 73-80, hier S. 76-78. 13 Als Einstieg siehe Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 21993. 14 Miroslav Hroch: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Praha 1968 (Acta Universitatis Carolinae, Philosophica et Historica; Bd. 24). 15 David Kirby: The Baltic World 1772-1993. Europe' s northern periphery in an age of change, Lon- don 1995.

462 Vom Objekt zum Subjekt nant Ethnic Groups"16 bereits durch seine Anlage kaum Ausgangspunkte für einen nordosteuropäischen Vergleich, da der Fokus auf non-dominant ethnic groups etwa im Falle Norwegens nur auf die Gegenwart bezogen wird. Im Hinblick auf die zweite Frage nach den Mächtestrukturen sind vor allem die Arbeiten finnischer Historiker zu nennen?' Zunächst aber stellt sich die Frage nach dem Kern der Begriffe „kleines Volk", „kleine Nation" und „kleiner Staat"?' In die politische wie wissen- schaftliche Diskussion ist der Begriff „kleines Volk" von Tomäg Garrigue Masaryk 1902 mit Bezug auf die tschechische Nation eingeführt worden,19 wobei der politische Kontext eindeutig von der Herstellung nationalstaatli- cher Strukturen in Mitteleuropa und deren Existenzsicherung geprägt war. Damit unterschied er sich klar von Frantigek PalackSTs Konzeption von 1848, der die Habsburgermonarchie noch als den geeigneten Rahmen für die austroslavischen Nationen betrachtet hatte. Masaryk sah dagegen klar, dass die Situation 1918 für die Staatsbildung der kleinen Nationen günstig war.2° Seine Argumentation zeigt zugleich, dass Kleinheit nicht allein durch die absolute oder relative Größe eines Staates bedingt ist, sondern dass sie auch eine kulturelle Dimension hat, nämlich dann, wenn die Rivalität mit großen Staaten zu verstärkten Anstrengungen kleiner Nationen führt, ihre kulturelle Bedeutung herauszustellen.21 Diese Haltung spiegelt sich auch in der Feststellung von Anthony D. Smith, dass für die kleinen Nationen ihre distinktive Kultur die „very raison d' &re" sei.22 Die Frage, was denn ein kleines Volk sei, lässt sich auf recht unterschied- liche Weisen beantworten: Naheliegend ist zunächst eine Perspektive, die auf die absolute Größe zielt23 und diese problematisiert. Deutlich zeigen lie-

16 Comparative studies an governments and non-dominant ethnic groups in Europe, 1850-1940 / hrsg. v. European Science Foundation, Bd. 1-8, New York 1991-1993. Natürlich ließe sich aus der Sami-Frage ein Vergleich von Minderheiten in Nordosteuropa ableiten, damit sind wir jedoch außerhalb des historischen Bezugsrahmens. 17 Siehe dazu unten die Einzelnachweise in Anmerkung 52. 18 Eine knappe Einführung in die Problematik bietet D[omokos] Kosäry: The development types of the minor states in Europe, 1715-1919, in: Les „Petits Etats" face aux changements culturels, politiques et &onomiques de 1750 ä 1914 / hrsg. v. dems., Lausanne 1985, S. 3-13. 19 Günther Stökl: Die kleinen Völker und die Geschichte, in: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 19-40, hier S. 19f. 20 Tomag Garrigue Masaryk: Das Problem der kleinen Völker in der europäischen Krisis, Praha 1922; vgl. auch Jürgen Kocka: Das östliche Mitteleuropa als Herausforderung für eine vergleichende Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 49 (2000), S. 159-174, hier S. 164f. 21 Masaryk: Problem (wie Anm. 20), S. 34f. 22 Anthony D. Smith: The ethnic origins of nations, Oxford 1986, S. 217. In diesem Zusammenhang wäre auch auf die Diskussion über — vor allem innerstaatlich wahrgenommene — Multikulturalität hinzuweisen, siehe dazu neben Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993, auch Peter M. Blau: Inequality and heterogeneity. A primitive theory of social structure, New York 1977, vor allem Kap. 2, S. 19-44, zu unterschiedlichen Verhaltensmustern von kleinen und großen Gruppen. 23 So etwa: Walther Leitsch: Die Esten und die Probleme der Kleinen, in: Kleine Völker in der Geschichte

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ße sich das an der estnischen Diskussion: Toivo Raun hat dieses Problem. 1989 auf die historische Kernfrage gebracht: „Why are there so few Estoni- ans?"24 Eine solche quantitative Perspektive, das hatte auch Masaryk schon gesehen,25 hat allerdings eine Berechtigung nur dann, wenn sie — synchron oder diachron vergleichend — demographische sowie geopolitische Relati- onen berücksichtigt. Eine solche zweite Betrachtungsweise zielt also auf die relative Größe und damit auf mächtepolitische Konstellationen. „Klein" in diesem Sinne ist eine Nation oder ein Staat vor allem in der Nachbar- schaft von „großen", zahlenstärkeren und politisch mächtigeren Einheiten. In dieser Hinsicht ist auch die Ukraine ein kleines Volk.26 Für eine „klei- ne" Nation an der Peripherie ist dagegen Kleinheit womöglich ein geringe- res Problem als in unmittelbarer Nachbarschaft einer größeren Nation. Eine dritte Perspektive, die ebenfalls an Masaryk anknüpfen kann, konzentriert sich auf spezifische Merkmale „kleiner Nationen", die sich mit dem Begriff „nicht dominant" umschreiben lassen.27 „Kleinheit" in diesem Sinne kenn- zeichnet Miroslav Hroch durch drei Defizite: eine unvollständige Sozial- struktur bedingt durch die Dominanz einer andersethnischen Oberschicht, „Geschichtslosigkeit" in dem Sinne, dass die Nation keine oder keine unun- terbrochene Hochkultur aufweist, und schließlich fehlende politische Eigen- ständigkeit, die freilich nicht die Existenz einer früheren eigenen Geschich- te — im Gegensatz zum vorherigen Punkt — ausschließt.' Das impliziert, dass eine Nation solange „nicht dominant" bleibt, bis sie in einem Staat die Titularnation stellt.29 Freilich möchte ich hier noch einen Schritt weitergehen, und auch die Staatsbildungen der kleinen Nationen, also die kleinen Staaten einbeziehen, die sich der Bezeichnung „nicht dominant" zwar innergesellschaftlich entziehen, nichtsdestotrotz aber mentalitätsge-

Osteuropas. Festschrift für Günther Stökl zum 75. Geburtstag / hrsg. v. Manfred Alexander, Frank Kämpfer und Andreas Kappeler, Stuttgart 1991 (Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N. F., Beiheft; Bd. 5), S. 149- 160; Hinweise auf die ältere politikwissenschaftliche Diskussion bei: Kosäry: The development types (wie Anm. 18), S. 4. 24 Toivo U. Raun: Some key questions in Estonian history, in: Öpetatud Eesti Seltsi Aastaraamat 1988- 1993, Tartu 1995, S. 67-71, hier S. 67. 25 Stökl: Völker (wie Anm. 19), S. 27. 26 Andreas Kappeler: Ein „kleines Volk" von 25 Millionen: Die Ukrainer um 1900, in: Kleine Völker (wie Anm. 23), S. 33-42; zur Diskussion s. auch: Kosäry: The development types (wie Anm. 18), S. 5. 27 Frank Hadler: Zum „Problem der kleine Nation" bei der Beurteilung politischer Kultur(en) in Ost- mitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Überlegungen am tschechischen und slovakischen Beispiel, in: Politische Kultur in Ostmittel- und Südosteuropa / hrsg. v. Werner Bramke, Thomas Adam, Leipzig 1999 (Forschungsseminare des ZHS; Bd. 2), S. 105-123, hier S. 116 f.; sowie ausführlich: Jözef Chlebowczyk: On small and young nations in Europe. Nation-forming processes in ethnic borderlands in East-Central Europe, Wroclaw 1980 (Polish Historical Library. Anthologies, monographs, opera minora; Bd. 1). 28 Hroch: Vorkämpfer (wie Anm. 14), S. 16. 29 Das war der Ansatz des oben erwähnten Projekts „Comparative Studies an Governments and Non- dominant Ethnic Groups, 1850-1940".

464 Vom Objekt zum Subjekt schichtlich auch weiterhin als „klein" im Sinne der eben beschriebenen Merk- male zu kennzeichnen sind. Hier geht es also um die Fortwirkungen gesell- schaftsgeschichtlicher Strukturdefizite oder „Verspätungen". In einer solchen Erweiterung des Hrochschen Ansatzes können wir eine Überlegung des est- nischen Historikers Hans Kruus aufgreifen und von spezifischen mentalen Prägungen3° der kleinen Nationen und Staaten sprechen, die neben den ge- nannten Strukturmerkmalen ebenso von der zuvor erwähnten Tatsache der quantitativen wie qualitativen Kleinheit bestimmt sind. Wenn sich der Problemzusammenhang auf „Kleinheit" im Kontext der Mächtestruktur des Ostseeraums einerseits und — im breiten Sinne verstan- dene — gesellschaftliche Merkmale von „Kleinheit" in der Region ande- rerseits zuspitzen lässt, dann ist das Problem der Mächtestruktur bereits in zahlreichen Untersuchungen genauer betrachtet worden. Kleinheit in die- sem Sinne ist eng verbunden mit der Analyse der politischen Beziehungen innerhalb des Systems der Großen Mächte und seiner modernen Transfor- mationen. Das neuzeitliche System der Großen Mächte hat Klaus Zerhack in seinen Studien zum Großen Nordischen Krieg als Totengräber Nord- osteuropas als historischer Region ausgemacht. Um die einzelnen Etappen knapp zu benennen: 1772 verlor Polen zunächst seinen — im 20. Jahrhundert so stark beschworenen — Zugang zur Ostsee und wurde schließlich ganz unter den drei Schwarze-Adler-Mächten geteilt; Schweden wurde mit der Abtrennung Finnlands mächtepolitisch demontiert. Und schließlich verlor Dänemark 1814 Norwegen an Schweden, und 1864 büßte es zudem seine verbliebene mächtepolitische Stellung in der Auseinandersetzung mit Preu- ßen um Schleswig-Holstein ein und wandelte sich zu einer kleinen Nation, mit großen Folgen für seine Mentalitätsgeschichte, auf die noch einzugehen ist.31 In der Folge dieses mächtepolitischen Strukturwandels entwickelte die Erklärung des schwedischen Königs Karl XIV. Johan 1834 die Vorstellung vom „Norden" als räumlicher Einheit und von nordischer Neutralität als

30 So Leitsch: Die Esten (wie Anm. 23), mit Bezug auf: Hans Kruus: Väikerahvalik tunnetus eesti ühis- kondlikus möttes. Jakob Hurda 100. sünnepäeva puhul [Das Kleinvolkbewusstsein im estnischen gesell- schaftlichen Danken. Zu Jakob Hurts 100. Geburtstag], in: Ajalooline Ajakiri 18 (1939), S. 136-147. Das impliziert jedoch nicht, dass aus der „Kleinheit" die Legitimation für das Abgehen von ethischen Standards abzuleiten sei, wie Leonidas Donskis am litauischen Fall kritisch angemerkt hat: Leonidas Donskis: The Promise of certainty, safety and security in an uncertain, unsafe and insecure world: The emergence of Lithuanian populism, in: The Baltic States and their region: New Europe or old? / hrsg. v. David J. Smith, Amsterdam, New York 2005 (On the Boundary of Two Worlds: Identity, Freedom, and Moral Imagination in the Baltics; Bd. 3), S. 143-157. 31 Uffe Ostergärd: The geopolitics of Nordic identity. From composite states to nation states, in: The Cultural Construction of Norden / hrsg. v. Oystein Sorensen und Bo Sträth, Oslo 1997, S. 25-71, hier S. 26; Uffe Ostergärd: The Nordic Countries in the Baltic Region, in: Neo-nationalism or regionality. The restruc- turing of political space around the Baltic rim / hrsg. v. Pertti Joenniemi, Stockholm 1997 (NordREFO; Bd. 1997:5), S. 26-53, hier S. 38f. 465 Jörg Hackmann

Reaktion auf beziehungsweise in Abgrenzung zu den beiden Ostsee-Flügel- mächten Preußen-Deutschland und dem zaristischen Russland.32 Damit ein- her ging in Skandinavien die Idee einer „inneren Konsolidierung' der natio- nalen Gesellschaften. Somit lässt sich zweierlei für unser Regionskonzept festhalten: Erstens lassen sich als kleine Nationen bis 1945 alle Ostseeanrainer außer Deutsch- land und Russland definieren. Schweden und Polen bedürfen allerdings ei- ner modifizierten Betrachtung: In Schweden stand die Wahrnehmung sei- ner Geschichte als Großmacht im Widerspruch zur nationalen „Kleinheit", aber man kann den schwedischen Armutsdiskurs34 ebenso wie die Forde- rung von Esaias Tegn& dem Älteren, „Finnland innerhalb von Schwedens Grenzen zurückzuerobern"," und die Ausbildung des Konzepts der natür- lichen Grenzen Schwedens bei Martin Weibull36 auch als Ausprägung des Kleinheitsdiskurses deuten. Oder umgekehrt: Mit der Abkehr von der his- torischen Großmachtrolle ging im 20. Jahrhundert die Vorstellung von einei- sich auf das schwedische Modell des Wohlfahrtsstaats stützenden „mora- lischen Großmacht" einher. In Polen stellt sich die Situation für die Zwi- schenkriegszeit sowohl im Hinblick auf seine Selbstwahrnehmung wie auf die Litauen- und Minderheitenpolitik anders dar. Zweifellos demonstrierte der neue polnische Staat seine Macht im Inneren gegenüber seinen Minder- heiten wie gegenüber schwächeren Nachbarn wie Litauen und der Tsche- choslowakei; gemessen an der mächtepolitischen Konstellation der Zwi- schenkriegszeit wie auch in der mentalitätsgeschichtlichen Prägung des Verhältnisses zu Deutschland blieb Polen aber „klein". Zweitens entstand im Konzept des „Nordens" bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Gegenmodell zur Ostseeregion, in dessen Konsequenz Nordosteuropa mit dem Baltikum im engeren, heutigen Sinne weitgehend zusammenfiel. Der Ostseeraum in den Regionskonzeptionen der „kleinen" Nationen Aus dem bisher Angeführten schält sich die These heraus, dass gerade die kleinen „nicht-nordischen" Nationen eine zentrale Rolle in der Konstitu- ierung Nordosteuropas als Geschichtsregion spielen. Dieser Sachverhalt sei hier mit einigen recht groben Strichen skizziert. 32 Vgl. Bo Sträth: The Baltic as image and Illusion: The construction of a region between Europe and the Nation, in: Myth und memory in the construction of community. Historical patterns in Europe und beyond / hrsg. v. dems., Bruxelles 2000 (Series Multiple Europest Bd. 9), S. 199-214, hier S. 209. 33 Oystein Sorensen, Bo Sträth: The cultural construction of Norden, in: Cultural construction (wie Anm. 31), S. 1-24, hier S. 15. 34 Bo Sträth: Poverty, neutrality and welfare: Three key concepts in the modern foundation myth of Swe- den, in: Myth und memory (wie Anm. 32), S. 375-401, hier S. 380-387. 35 Esaias Tegn& d. Ä.: Svea [2. Fassung von 1812], in: Samlade Skrifter. Ny kritisk uppl., Bd. 2: 1808- 1816. Stockholm 1919, S. 73-84, hier S. 77. Für den Hinweis danke ich Jan Hecker-Stampehl, Berlin. 36 Ostergärd: Geopolitics (wie Anm. 31), S. 59.

466 Vom Objekt zum Subjekt

— Die Perspektive der Großmächte In der politischen Diskussion in Deutschland und Russland, aber auch in England, wurde die Ostsee seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem mit mächtepolitischen Begriffen konzeptualisiert: Es ging zum einen um das Gleichgewicht der Mächte, etwa in der dauerhaften Neutralisierung der Aland-Inseln nach dem Krimkrieg, zum anderen um Einflusssphären, etwa in der deutschen „Hansa"-Ideologie und der wilhelminischen Flottenpoli- tik, und schließlich um Sicherung des baltischen Vorfeldes für Russland. Dazu traten nationalistische Deutungen der Ostsee als deutsches oder spä- ter germanisches Meer in Deutschland." In Russland ist die Situation kom- plizierter; aber hier kam mit dem russischen Nationalismus ein Blick auf die Ostseeprovinzen auf, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts deutliche Kritik an den deutschbaltischen adligen und bürgerlichen Eliten — den „ostzejcy" — übte." Deutlich wird das in dem publizistischen Konflikt zwischen Jurij Sa- marin und Carl Schirren" in den 1860er Jahren, in dessen Folge — wie oben gezeigt — „baltisch" im Deutschen eine regional und später auch ethnisch eng begrenzte Deutung erhielt4° und auf der anderen Seite zugleich russlän- disch und ethnisch russisch zusammenfielen.41 Daraus ergab sich als Konse- quenz, dass nun erst die Russifizierung als Garant der Sicherheit im Zaren- reich galt. Zudem gab es Ansätze, aus der wissenschaftlichen Betrachtung der Ostseeslaven an der Südküste der Ostsee den Ostseeraum als einen einst slavisch geprägten Raum zu konzipieren.' Die russischen und deutschen Ostseekonzeptionen blieben also von einer mächtepolitischen Perspektive geprägt, die — wie die Überlegungen Friedrich Ratzels zeigen — sich nicht auf die Ostseeregion beschränkte, sondern in der der Zugang zu den Welt- meeren als notwendige Voraussetzung „großer Völker" betrachtet wurde.43 37 S. dazu: Jörg Hackmann: Mare germanicum? Anmerkungen zur deutschen Geschichtsschreibung über den Ostseeraum, in: Mare Balticum (1995), S. 31-40; besonders deutlich ist: Erich Maschke: Das germanische Meer. Geschichte des Ostseeraums, Berlin, Stuttgart 1935 (Schriften zur Volkswissenschaft; Bd. 11). 38 In klassisch negativer Formulierung von Duchanov: Ostzejcy (wie Anm. 8), S. 5: „Die Ostseeleute. Ein in unseren Tagen fast vergessener Begriff. Selbst im Baltikum, in dessen Vergangenheit die Ostsee- leute eine finstere Spur hinterließen, ist er nicht allen geläufig"; und weiter: Der von Ostsee im Deutschen abgeleitete Begriff „klingt im Russischen etwas seltsam. Aber gerade die deutschen privilegierten Schich- ten [...]wurden in Russland Ostseeleute genannt. Der Grundlage der Herrschaft der Ostseeleute über das lettische und estnische Volk" war der „Drang nach Osten". 39 Auf Samarin: Russkoe (wie Anm. 7) antwortete Schirren mit: Carl Schirren: Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin. Leipzig: 1869. 40 Dazu mehr in: Hackmann: Was bedeutet „baltisch"? (wie Anm. 5). 41 Kappeler: Nationsbildung (wie Anm. 11), S. 87; Andreas Renner: Erfindendes Erinnern. Das russische Ethnos imrussländischen nationalen Gedächtnis, in: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), S. 91-111, hier S. 98. 42 Aleksandr F. Gil' ferding [Hilferding]: Ostatki Slavjan na juinom beregu Baltijskago morja [Die Über- reste der Slaven an der Südküste der Ostsee], Sanktpeterburg 1862. 43 Friedrich Ratzel: Das Meer als Quelle der Völkergröße. Eine politisch-geographische Skizze, Mün- chen, Berlin 21911.

467 Jörg Hackmann

— Die Perspektive der kleinen Nationen im Zarenreich Dagegen definierten die Regionskonzeptualisierungen der kleinen Na- tionen innerhalb des Zarenreichs einerseits das eigene ethnische Terrain jeweils in Opposition zu den jeweiligen anderssprachigen Eliten. Dabei spielten andererseits auch übergreifende, vor allem sprachverwandtschaft- liche Beziehungen eine Rolle: die Esten orientierten sich seit dem Beginn ihres „nationalen Erwachens" kulturell an den Finnen; deutlich zu sehen ist das in der Schaffung des Nationalepos „Kalevipoeg" durch Friedrich Reinhold Kreutzwald nach Elias Lönnroths Vorbild für Finnland.44 Außer- dem gab es Forderungen nach einem lettisch-litauischen Zusammenge- hen, die sowohl von lettischer wie litauischer Seite erhoben wurden; auf der lettischen Seite ist Atis Kronvalds zu nennen,45 auf der litauischen Jo- nas Sliupas 1918.46 Schließlich gab es auch Beziehungen der drei ostbal- tischen und finnischen Nationalbewegungen — vor allem nach 1905; so trat etwa der litauische Priester und Patriot Juozas Tumas-Vai4antas bei der Er- öffnung des „Estonia"-Theaters 1913 in Reval (estn. Tallinn) auf.47 Es lie- ßen sich noch zahlreiche weitere Bezugspunkte für die Kontakte der kleinen Nationen ausmachen, kulturell manifest ist etwa die Rezeption finnischer na- tionalromantischer Architektur in Estland und Lettland,48 die zumindest die Abgrenzung von deutschen neogotischen sowie zaristischen eklektizistischen Architekturformen konnotierte. Freilich waren auch Petersburger Architekten wie Aleksej Bubyr'49 an der Produktion nationalromantischer „finnischer" Ar- chitektur beteiligt, so dass wir gut daran tun, die imperiale Metropole auch in

44 Cornelius Hasselblatt: Die Bedeutung des Nationalepos „Kalevipoeg" für das nationale Erwachen der Esten, in: Estland — Partner im Ostseeraum / hrsg. v. Jörg Hackmann, Lübeck 1998 (Travemünder Proto- kolle; Bd. 2), S. 41-56. 45 Kirby: Baltic World (wie Anm.15), S. 128; auch S. 175 zu Krigjänis Valdemärs und Jonas Basanavilus, vgl. Andrejs Plakans: The Latvians, in: Russification in the Baltic Provinces and Finland, 1855-1914 / hrsg. v. Edward C. Thaden, Princeton, NJ 1981, S. 207-284, hier S. 222-224. 46 Weitere Beispiele bei: Marko Lehti: Non-reciprocal region-building. Baltoscandia as a national coordinate for the Estonians, Latvians and Lithuanians, in: NORDEUROPAforum (1998), Nr. 2, S. 19-47, hier S. 35. 47 H[ugo] Peets: „Estonia" teatri- ja kontserthoone ajalugu [Geschichte des Theater und Konzerthauses „Estonia"], Tallinn 1938, S. 225 f.; hinzuweisen ist aber auch auf die Bestrebungen von Kri§jänis Valdemärs in Estland, s. dazu: C[hristian] Woldemar: Über die Heranziehung der Letten und Esten zum Seewesen, nebst Notizen und Aphorismen in Bezug auf die industriellen, intellectuellen und statistischen Verhältnisse der Letten und Esten und der drei baltischen Provinzen überhaupt, Dorpat 1857; ein estnischer Text von Valdemärs wurde noch 1878 von Carl Robert Jakobson herausgegeben. 48 Siehe dazu Jörg Hackmann: Architektur als Symbol. Nation-"building" in Nordosteuropa. Estland und Lettland im 20. Jahrhundert, in: Riga im Prozeß der Modernisierung. Studien zum Wandel einer Ostsee- metropole im 19. und frühen 20. Jahrhundert / hrsg. v. Norbert Angermann, Eduard Mühle, Marburg 2004 (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung; Bd. 21), S. 149-172. 49 Boris Michailovid Kirikov: Architektura Peterburgskogo Moderna [Architektur der Petersburger Mo- derne], Sankt-Peterburg 2003; sowie: [17.6.2005]. 468 Vom Objekt zum Subjekt der Frage nach der Entstehung der kleinen Nationen nicht aus unserem Blick- feld auszuschließen.5°

— Ansätze zur Ostseekooperation der Randstaaten Das hier geschilderte Regionskonzept, das auf den Kontakten und par- allelen Strategien der kleinen Ostseenationen im Zarenreich beruhte, lässt sich vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg weiterverfolgen, als die kleinen Staaten, um mit Hans Kruus zu sprechen, vom Objekt zum Sub- jekt der Geschichte geworden waren» Hier geben vor allem die Untersu- chung von Marko Lehti über den Baltischen Bund sowie frühere Studien von Seppo Zetterberg und Kalervo Hovi weiteren Aufschluss» Tatsäch- lich waren es die ostbaltischen Nationen, denen seit 1917 — ganz ähnlich wie dann seit 1988 — am meisten an ostseeübergreifenden Kontakten gele- gen war. Der erste Ansprechpartner war Finnland, was in Hinblick auf des- sen Lösung aus der Zerfallsmasse des russischen Imperiums nahelag. Der finnische Senat hatte bereits im Juli von Lenin die Zusicherung erhalten, dass die Sowjets — sobald sie an der Macht wären — die Souveränität Finn- lands anerkennen würden. Für die estnische Nationalbewegung war die „finnische Brücke" (estn. soome sild) bereits seit den 1860er Jahren eine geläufige Metapher, die von Gustav Suits, dem Begründer der Bewegung „Junges Estland" (estn. Noor-Eesti) und Mitglied der Sozialrevolutionäre, im Herbst 1917 auch als politisches Konzept propagiert wurde. Etwas frü- her hatte Jaan Tönisson, der Führer der konservativen Volkspartei, auf dem estnischen Landesrat (estn. Maanöukogu) im Juli eine Föderation ins Spiel gebracht, die die drei ostbaltischen Nationen sowie Finnland und Skandi- navien umfassen sollte." Die Idee eines Baltischen Bundes, die auch dem Foreign Office vorgetragen wurde, beruhte explizit auf der Denkfigur, dass sich die kleinen Staaten gegen Russland und Deutschland zusammenschlie- ßen müssten.54 Das zunächst weit gefasste Konzept verengte sich dann auf 50 S. dazu vor allem Max Engman: Petersburgska vägar [Petersburger Wege], [Esbo] 1995; sowie: Marko Lehti: The Petersburgian Europe in the Finnish identity, in: Saint-Petersburg: Russian, European and bey- ond / hrsg. v. Pertti Joenniemi, Saint-Petersburg 2002, S. 3-20. 51 Hans Kruus: Grundriss der Geschichte des estnischen Volkes, Tartu 1932, S. 5f. 52 Seppo Zetterberg: Die finnisch-estnischen Unionspläne 1917-1919, in: Jahrbücher für Geschichte Os- teuropas 32 (1984), S. 517-540; Kalervo Hovi: Die Sonderstellung Estlands in der finnischen Außenpolitik 1919-1920, in: Kleine Völker (wie Anm. 23), S. 142-148; Marko Lehti: A Baltic League as construct of the New Europe. Envisioning a Baltic region and small state sovereignty in the aftermath of the First World War, Frankfurt am Main 1999. 53 Lehti: Baltic League (wie Anm. 52), S. 11; Kalervo Hovi: Estland in den Anfängen seiner Selbständig- keit. Die Tagebuchaufzeichnungen des dänischen Generalkonsuls in Reval Jens Christian Johansen, 13.12.1918 - 29.5.1919, Vammala 1976 (Publikationen des Instituts für Geschichte, Allgemeine Geschich- te, Universität Turku, Finnland; Bd. 8), S. 38-49; Georg von Rauch: Geschichte der baltischen Staaten, Hannover-Döhren Nachdruck der 2. Aufl. 1986, S. 41. 54 Lehti: Baltic League (wie Anm. 52), S. 83.

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den Konferenzen der Ostseestaaten in den Jahren bis 1922 auf den Entwurf eines Vertrages, in dem sich Finnland, Estland, Lettland und Polen wohl- wollende Neutralität im Konfliktfalle zusicherten. Das Projekt wurde jedoch schließlich im Finnischen Parlament 1922 zu Fall gebracht, wobei die litau- ische Agitation, der finnische Außenminister Rudolf Holsti sei bei den Ver- handlungen in Warschau ständig betrunken gewesen, zumindest für öffent- liches Aufsehen sorgte." Dass der polnisch-litauische Konflikt um Wilna (lit. Vilnius) seit dem Sommer 1920 eine wichtige Rolle im Scheitern dieses Baltischen Bundes spielte, liegt auf der Hand. Mindestens ebenso wichtig war aber auch die Tatsache, dass die finnische außenpolitische Orientierung in zwei unterschiedlichen Bahnen verlief: Gesellschaftspolitisch orientierte man sich nach Skandinavien, und seit 1924 gab es eine finnische Sektion der Vereinigung für nordische Einheit (Föreningarna Norden), die zentraler Wegbereiter der nordischen Zusammenarbeit war." Die Kontakte zur Süd- küste der Ostsee waren für Finnland dagegen vor allem unter Verteidigungs- aspekten im Hinblick auf Russland von Bedeutung." Der polnisch-litauische Konflikt und das finnische Ausscheiden hatten dazu geführt, dass sich die Gruppe von fünf kleinen „baltischen" Staaten auf vier und schließlich auf drei reduzierte. Die baltische Entente von 1934 muss freilich bereits unter den Vorzeichen der veränderten internationalen Situation der 1930er Jahre gesehen werden. Sie kann weder als eine vollwer- tige Alternative zur breit angelegten Ostseekooperation der frühen 1920er Jahre noch als eigenständige Sicherheitspolitik gedeutet werden. Eine ge- meinsame Sicherheitspolitik wurde erst mit der gemeinsamen Neutralitäts- erklärung und der durch die Litauen von Polen aufgezwungene „Normali- sierung" des polnisch-litauischen Verhältnisses im März 1938 entwickelt. Wenn man nun den Blick auf die zivilgesellschaftlichen Akteure richtet, so lässt sich fragen, ob sich neben den Kontakten innerhalb der nordischen Staaten (einschließlich Finnlands)" auch solche zu den ostbaltischen Staaten konstatieren lassen. Hier ist das Bild unscharf, aber es zeigt doch, dass die Abgrenzungen nicht so klar wie im Falle der außenpolitischen Beziehungen waren: Zwar wurden 1928 Anträge aus Estland und Lettland — anders als im Falle Finnlands 1924 — auf Bildung eigener nationaler Abteilungen der 1919 gegründeten Föreningarna Norden nach einem Widerspruch aus Norwe-

55 Ebda., S. 394. 56 Ostergärd: Geopolitics (wie Anm. 31), S. 45; ähnlich auch: ders.: Nordic Countries (wie Anm. 31), S. 43f.; außerdem allgemein: Svein Olav Hansen: Drommen om Norden. Den norske foreningen Norden og det nordiske samarbeidet 1919-1994 [Der Traum vom Norden. Die norwegische Vereinigung Norden und die nordische Zusammenarbeit], Oslo 1994. 57 Lehti: Baltic League (wie Anm. 52), S. 281. 58 Ebda., S. 281.

470 Vom Objekt zum Subjekt gen abgelehnt, aber es gab etwa Kontakte zwischen den Gewerkschaften." Nachdem die Ostsee-Konferenzen für ein gemeinsames Bündnis der „klei- nen" Ostseestaaten 1925 endgültig gescheitert waren, und sich die Zusam- menarbeit auf klassisch bilaterale Beziehungen beschränkte, blieb jedoch ein Interesse an symbolischer Aufrechterhaltung der Ostseebeziehungen durch Besuche der Staatsoberhäupter, so etwa des schwedischen Königs Gustav V., der 1929 Estland besuchte, bestehen.6° Geographische Einheit und historische Bindungen blieben Diskurselemente» die sich an mehre- ren Punkten auch in den 1930er Jahren verfolgen lassen. Ein Beispiel ist der Conventus Primus Historicorum Balticorum vom August 1937 in Riga, wo die Ostseeregion als „commune patrie" präsentiert wurde." An ihm nahmen auch Historiker aus BALTIJAS UNIJA Westeuropa teil, und ebenso pol- L'Union Baltique nische und deutsche, allerdings keine sowjetischen und auch keine deutschbaltischen." Die Konferenz war jedoch nicht frei von nationalistischen Einflüssen; der gastgebende Präsident Kärlis Ulmanis verstand dieses Ereig- nis als Beitrag zur historischen Legitimierung des lettischen Staates. Internationale Ansätze wie die Rigaer Konferenz blie- ben jedoch die Ausnahme, das Zentrum des Interesses an der Baltijas Jnta Mai vieno, nekaa müs neelp5. Halti meri tihendab meid, midagi ei lahuta meid. Ostseekooperation blieb weiter- Baltijos pita mus Junpia, nide, tost, neskiria. Itämeri yirdistää meidät, rnikään ei etuifa weitet. Ostersfön enat oss, intet sktyer oss iit. Ostetajden forenet os, tutet Adler os, hin in der ostbaltischen Regi- Det battiske Hav totener w, lotet skttlet os. The Baltic Sea unites U3 and there is nothin on. So wurde etwa 1933 in Riga La mer Saltique nous untt, riet, ne nous separe separates us. eine Baltijas ünija mit einer RIGA gleichnamigen Zeitschrift ge- Titelblatt der Zeitschrift „Baltijas fJnija — L'Union Bal- gründet, die ihren Slogan „The tique", 1933, H. 1. 59 Ebda., S. 495-502; Ostergärd: Geopolitics (wie Anm. 31), S. 44f. 60 Lehti: Baltic League (wie Anm. 52), S. 472; s. auch: Kaido Jaanson: The Baltic Sea region in interna- tional relations of the twentieth century: The seminal nature of the Interwar period, in: Journal of Baltic Studies 32 (2001), S. 267-288, hier S. 273. 61 Lehti: Baltic League (wie Anm. 52), S. 473. 62 M. Lhritier: L'Historie internationale de la Baltique et la coop&ation des historiens, in: Conventus primus historicorum Balticorum. Pirmä Baltijas NT- sturnieku konference, Rigä,16.-20. VIII. 1937. Acta et relata. Runas un referäti, Riga 1938, S. 577-585, hier S. 585. 63 Zur Kritik von deutschbaltischer Seite siehe Jürgen von Hehn: Der Baltische Historikerkongreß in Riga. Ein Rückblick, in: Baltische Monatshefte (1938), S. 483-493.

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Baltic Sea unites us and there is nothing that separates us" auch auf Eng- lisch und Französisch, nicht aber auf Deutsch, Polnisch oder Russisch ver- breitete.'

— Ostseeraumkonzepte in der Zwischenkriegszeit Für unseren Problemzusammenhang ist entscheidend, dass 1918 eine Vorstellung der Ostseeregion als Region der kleinen Nationen ins Spiel ge- bracht wurde, die als politische — wenn auch eher als kultur- denn als außen- politische — Idee in der Zwischenkriegszeit wiederholt diskutiert wurde. Der estnische Diplomat Kaarel Pusta etwa teilte 1918 den Ostseeraum in Skandi- navien, Ostbaltikum (Finnland, Estland, Lettland) und Südbaltikum (Litauen, Polen) ein.65 Masaryk unterteilte die Zone der neuen, kleinen Staaten in Mit- teleuropa in den Ostseeraum und den Donauraum.66 Tatsächlich lässt sich hier erkennen, dass die Diskussionen über Ostseekooperation und die Kooperati- on der kleinen Nationen — oder „jungen Staaten" in der Begrifflichkeit An- fang der 1920er Jahre — praktisch deckungsgleich waren. „Die Freiheit der Ostsee" (estn. Baltimere vaba- dus) war in diesem Kontext ein wichtiges Schlagwort der est- nischen Diskussion.67 Die Ost- see war dabei das „Label", das diese politisch erstrebte Verbin- dung als „natürlich" erscheinen ließ.68 Dass es sich hier um eine Raumkonstruktion handelte,

Übersicht über die Definitionen von Balto- skandia des estnischen Geographen Edgar Kant, 1934. Die von Kant favorisierte fünf- te Linie umfasst Dänemark (einschließlich Islands und der Färöer), die skandinavische Halbinsel, Finnland einschließlich des ka- relischen Isthmus sowie Estland und Lett- Fig. 1. land. Die kartographische Synthese Baltoskandias. (Nach Sten De Geer.) Quelle: Edgar Kant: Estlands Zugehörigkeit Die Zahlen zeigen die nach Gebieten zusammen auftretenden Faktoren, d. h. die Intensität der einzelnen Gebiete. Die fünfte synthetische Linie ist zu Baltoskandia, Tartu, 1934 (Tartu Ülikoo- die Mittellinie und von allen neun Linien in praktischer Hinsicht zur li majandusgeograafia seminari toimetised; Bezeichnung der Grenze des geographischen Nordeuropas, d. h. Baltoskan- dias, die geeignetste. Bd. 9), S. 7

64 Baltijas Unija / L'Union Baltique 1933-1934; vgl. Lehti: Non-reciprocal (wie Anm. 46), S. 37. 65 Lehti: Baltic League (wie Anm. 52), S. 134. 66 Ebda., S. 166. 67 Ebda., S. 307. 68 Ebda., S. 209-211.

472 Vom Objekt zum Subjekt lässt sich plastisch greifen in der Diskussion um alter- native Regionskonzepte, die in den 1930er Jahren in dem Baltoskandia-Konzept mün- deten, das vor allem in den Ausführungen des litauischen Geographen Kazys Paktas von 193469 bekannt gewor- den ist. Der Begriff war zu- nächst von dem schwe- dischen Geographen Sten de Geer 1928 geprägt worden, der die Fennoskandia-Kon- zeption des ausgehenden 19. Jahrhunderts weiterent- wickelt hatte. Beide Ansätze hatten eine deutlich geopo- litische Komponente im tra- ditionellen Sinne, lieferten sie doch geographische Ar- gumente für politische Zu- Die Grenzen von Baltoskandia nach der Definition des litau- sammenhänge. Ging es bei ischen Geographen Kazys Pakgtas. Im Gegensatz zu Kant um- fasst sein Verständnis auch Litauen einschließlich Vilnius Fennoskandia um die Bezie- Quelle: Kazys Pakkas: The Baltoscandian Confederation, Chi- hung zwischen Finnland und cago, 1942 [Reprint Kaunas: 1994], S. 11. Skandinavien, so bezog die schwedische Erweiterung zu Baltoskandia, die sich auch auf historisch-kulturelle Merkmale wie den Pro- testantismus stützte, Estland und Lettland mit ein, Litauen jedoch nicht.7° Der estnische Geograph Edgar Kant definierte Balto-Skandinavien dann auch als eine naturräumliche Einheit, die sich aus sechs »Halbinselstaaten« zu- sammensetze.7' Gegen diese Auffassung entwarf Paktas sechs Klassifika- tionen für sein Regionskonzept, zu denen er unter anderen die überwiegend nördliche Mentalität der Nationen und die Einheit der nördlichen Staatenfa-

69 Kazys Pakkas: The Baltoscandian confederation, Chicago 1942, Reprint Kaunas 1994; vgl. Lehti: Non-reciprocal (wie Anm. 46). 70 Lehti: Non-reciprocal (wie Anm. 46), S. 21. 71 Edgar Kant: Estlands Zugehörigkeit zu Baltoskandia, Tartu 1934 ( Tartu Ülikooli majadusgeograafia seminari toimetised; Bd. 9), S. 32: Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, Estland, Lettland; Kant diskutierte jedoch auch ökonomische und soziale Differenzen und nahm somit wichtige Themen der Dis- kussion seit den 1990er Jahren bereits vorweg. S. auch ders.: Bevölkerung und Lebensraum Estlands. Ein anthropoökologischer Beitrag zur Kunde Baltoskandias, Tartu 1935.

473 Jörg Hackmann milie bei kultureller Vielfalt analog zum Mittelmeer zählte, daraus leitete er schließlich als letztes Kennzeichen „a zone of smaller nations of common cultural interests and mutual sympathies" ab.72 Das letzte Argument war freilich bei Lichte besehen vor allem wishful thinking: Nirgendwo auf der Welt gebe es eine Region, so Pakkas, in der sieben Staaten in solcher Har- monie zusammenlebten und friedlich komplizierte Grenzprobleme lösen würden. Das ließ sich freilich nur behaupten, wenn die Konflikte Litauens mit Polen und dem Deutschen Reich ausgeblendet blieben. Während in den Plänen eines Baltischen Bundes in den 1920er Jahren Litauen auf Grund des Konflikts mit Polen um Wilna das Nachsehen hatte, verfuhr Pakkas' Konzept der Ostseeregion umgekehrt und schloss nun Polen aus.

— „Norden " als alternatives Raumkonzept Als das wichtigste regionale Gegenkonzept zu der hier beschriebenen Ostseeregion als Region der kleinen Staaten können wir unschwer den „Norden" ausmachen. Die nordische beziehungsweise skandinavische po- litische Diskussion in der Zwischenkriegszeit setzte sich unübersehbar von solchen Vorstellungen von Ostseekooperation ab. Außenpolitisch manifest wurde dieser Gegensatz bereits, als die skandinavischen Staaten eine Teil- nahme an der Konferenz der Ostseestaaten in Bilderlingshof (lett. Bulduri) in Lettland im August 1920 ablehnten,73 und damit ihrer bereits im Ersten Weltkrieg erprobten Zusammenarbeit den Vorzug gaben. Deutlich zu seh- en war dieser Gegensatz Anfang der 1920er Jahre auch in Finnland, wo — wie beschrieben — skandinavische und Randstaaten-Orientierung aufeinan- derstießen und schließlich die Gegner der Randstaatenpolitik die Oberhand gewannen.74 In den letzten Jahren hat es eine umfangreiche skandinavische und fin- nische Diskussion über seine Entstehung und den materiellen Gehalt des „Norden"-Konzepts gegeben. Dabei sind die Zeitumstände in dem Auf- schwung des Konzepts, wie die Attraktivität des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 und dann in den 1960er Jahren hervorgehoben worden.75 Wenn wir die Traditionen des „Norden"-Begriffs vor 1800 außer acht lassen, können wir uns hier auf den Skandinavismus als historischen Ausgangspunkt konzentrieren. Der „Nor- den" stellt sich so in einer mächtestrukturgeschichtlichen Perspektive als ein Vorläufer des eben erörterten Ostsee-Konzepts der Zwischenkriegszeit dar. In dieser Hinsicht kann das „Norden"-Konzept als eine Reaktion auf

72 Pakgtas: Baltoscandian confederation, (wie Anm. 69); vgl. Lehti: Non-reciprocal (wie Anm. 46), S. 10-14. 73 Lehti: Baltic League (wie Anm. 52), S. 263. 74 Ebda., S. 235-241. 75 Sorensen, Sträth: Cultural construction (wie Anm. 33), S. 19. 474 Vom Objekt zum Subjekt den Verlust der Machtpositionen Schwedens und Dänemarks zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesehen werden, die nun zu einer defensiven Haltung glei- chermaßen gegenüber Deutschland und Russland führte, selbst wenn der Skandinavismus für Schweden bis zum Krimkrieg eine revisionistische Komponente in Bezug auf Finnland hatte. Nach dem Scheitern des Skandi- navismus im deutsch-dänischen Konflikt um Schleswig-Holstein 1864 stand der „Norden" als politisches Konzept jedoch hinter den modernen Nations- bildungen in den einzelnen Staaten zurück.76 Der dänische Historiker Uffe Ostergärd hat zudem im Skandinavismus und im Konzept des Nordens im 19. Jahrhundert schwedische Dominanzversuche ausgemacht. Als augen- fälliges Beispiel verweist er auf die monumentale Statue Gustav Vasas von Carl Milles in dem 1907 errichteten Gebäude des Nordischen Museum in Stockholm, die die Aufschrift „Warer Swenske" trägt.77 — Die polnische Konzeption der Ostseeregion Einen Ansatz zur Konzeptualisierung der Ostseeregion sehen wir auch in Polen. Zunächst hatte die Frage nach dem eigenen Zugang zum Meer die polnische Politik dominiert. Mitte der 1930er Jahre nahmen jedoch Ver- suche zu, Polens kulturelle Kontakte in der Ostseeregion wissenschaftlich und publizistisch zu unterstreichen. Seit 1935 gab das (1925 gegründete) Ostsee-Institut (Instytut Baltycki) eine aufwendig eingerichtete Zeitschrift Baltic Countries78 heraus, die Polen als Ostseestaat präsentierte und vor allem auf Skandinavien ausgerichtet war. Im Editorial wurden als Einzugs- bereich Estland, Lettland und Litauen als baltische Staaten neben Polen und den skandinavischen Staaten — Dänemark, Schweden und Finnland — ange- sprochen; bei Finnland schwankte die Zuordnung allerdings. Ausgeschlos- sen blieben Norwegen und Russland und ebenso Deutschland, abgesehen von Pommern und Ostpreußen, die dem polnischen Einzugsbereich zuge- ordnet wurden. Der Herausgeber, Jözef Borowik, ging dabei auch der Frage nach, ob der „Skandinavismus" ein Problem für die größere Regionsbildung darstelle. Als Basis skandinavischer Regionsbildung sah er Neutralitäts- und Sozialpolitik und insbesondere „materiellen Wohlstand, Respekt vor dem Gesetz und demokratische Bürgerschaft". Allerdings handle es sich dabei nicht um exklusive Kriterien, so dass er dennoch Ausgangspunkte für eine

76 Siehe dazu Norbert Götz: Norden: Structures that do not make a region, in: European Review of His- tory 10 (2003), Nr. 2, S. 323-341. 77 Vgl. Ostergärd: Nordic Countries (wie Anm. 31), S. 31; siehe auch: Nordiska museet under 125 är / hrsg. von Hans Medelius, Stockholm 1998. 78 Baltic Countries 1-2 (1935-1936); 3-5 (1937-1939) dann unter dem Titel Baltic and Scandinavian Countries; der Namenswechsel spiegelt den oben diskutierten semantischen Wandel von „baltisch" auch in Polen.

475 Jörg Hackmann

Zusammenarbeit der „acht Staaten rund um die Ostsee" — das heißt ohne Deutschland und die Sowjetunion — sah." Wenn Jözef Borowik bereits in den 1930er Jahren den „Norden" als eine soziale Konstruktion und nicht als natürliche Entität betrachtete, so ging es ihm vor allem um ein politisches Kalkül: Der Kreis derjenigen, die einem ostseeregionalen Raumzusammenhang zuzurechen sind, sollte unter Einschluss Polens weiter gefasst werden, und in einer solchen erweiterten Konstellation hätte Polen gewiss eine führende Rolle beansprucht. Unge- achtet der politischen Zielsetzung, war diese Einstellung als kulturell-his- torischer Reflex auch in der zweiten Nachkriegszeit in Polen noch anzutref- fen. 80 Die Mentalität der „Kleinen"— Bausteine zu einer neuen Karte der Ostseeregion? Für unseren Kontext ist jedoch nicht nur die Spannung zwischen nati- onalen und supranationalen Raumkonstruktionen von Bedeutung, sondern ebenso die Tatsache, dass sich ausgehend von einem Vergleich historischer Strukturen auch Verbindungslinien zwischen dem Norden, Polen und der ostbaltischen Region ziehen ließen. Dies sei hier am Beispiel Dänemarks illustriert, wo der Prozess der Trans- formation zu einer kleinen, modernen Nation als Reaktion auf den mächtepo- litischen Abstieg deutlich greifbar ist. Hier ist vor allem N.S.F. Grundtvig zu nennen, der sich bereits 1810 für die nordische Vereinigung eingesetzt hat- te.81 Wichtiger für unsere Erörterung ist jedoch die Integration der bäuerlichen Schichten in die Nation durch ein national-theologisches Konzept, das in Po- len nach dem gescheiterten Aufstand von 1863 als „organische Arbeit" be- zeichnet wurde. Das dänische Konzept spiegelt sich in dem Slogan: „Was nach außen verloren geht, das soll im Inneren wiedergewonnen werden".82 Die kulturelle und ökonomische innere Kolonisation Jütlands als Folge von 1864, die in einem Kulturradikalismus als nordischem Phänomen mündete,83

79 Jözef Borowik: The equilibrium in the Baltic, in: Baltic and Scandinavian Countries 5 (1939), S. 95- 100, hier S. 95 f.; im Gegensatz zu Pakkas: Baltoscandian confederation (wie Anm. 69) bezog Borowik sowohl Polen als auch Litauen in sein Konzept ein. 80 Jörg Hackmann: „Zugang zum Meer": Die Ostsee in der polnischen Historiographie, in: NORDEU- ROPAforum (2004), Nr. 2, S. 43-66, hier S. 61f. 81 Lorenz Rerup: Nationalisme og skandinavisme indtil ferste verdenskrig udbrug [Nationalismus und Skandinavismus bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs], in: Den jyske Historiker 69-70 (1994), Nr. De Nordiske Fatlleskaber. Myte og realitet i det nordiske sarnarbejde, S. 79-87, hier S. 79; Bernd Henningsen: Die Politik des Einzelnen. Studien zur Genese der skandinavischen Ziviltheologie. Ludvig Holberg, Soren Kierkegaard, N.F.S. Grundtvig, Göttingen 1977 (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts; Bd. 26), S. 16111 82 "Hvad udad tabtes skal indad vindes", s. Ostergärd: Nordic Countries (wie Anm. 31), S. 42. 83 Ebda., S. 43; vgl. auch Henningsen: Politik (wie Anm. 81), S. 168-172, zu Grundtvigs Konzept von

476 Vom Objekt zum Subjekt die Heimvolkshochschulbewegung (folkehojskoler), die sich gerade unter der ländlichen Bevölkerung in Skandinavien verbreitete, ebenso wie Konferenzen von Lehrern wären hier zu nennen. Es lassen sich unschwer eine Reihe von ähnlichen Strukturen und Trends in den Regionen an der Ostküste der Ostsee ausmachen, die nicht zuletzt auf gemeinsamen historischen Traditionen beruhen. Zu nennen wären beispiels- weise Parallelen in der Gutswirtschaft zwischen Dänemark und (Alt-)Liv- land sowie im frühneuzeitlichen Kirchen- und Bildungswesen. Daraus ergibt sich die Überlegung, ob ausgehend von den Merkmalen der „Kleinen" sich — analog zur Konstruktion des Nordens — nicht auch Konturen eines größe- ren historischen Raumzusammenhangs ausmachen lassen. Zur Untermaue- rung eines solchen Versuchs, bei dem sich der Historiker erneut als Konstruk- teur einer Region'4 präsentieren würde, sollen hier aber nicht allein ähnliche Merkmale addiert werden, sondern es soll vielmehr versucht werden, mentali- tätsgeschichtliche Grundlinien einer größeren historischen Region zu skizzie- ren, und damit die eingangs angesprochene Frage nach der Konstruktion der Region über vergleichbare gesellschaftsgeschichtliche Entwicklungen erörtert werden. Obwohl es Indizien für zumindest einige vergleichbare Ausgangspunkte zwischen den „nordischen" und „baltischen" Ländergruppen gibt, überwie- gen in der Alltagswahrnehmung zweifellos die Unterschiede zwischen ih- nen in ökonomischer Situation, politischer Kultur und ähnlichem. Dennoch, so wird hier argumentiert, lassen sich mit einem Fokus auf die — zugege- benermaßen etwas unscharfen — mentalitätsgeschichtlichen Kategorien Ge- meinsamkeiten feststellen, die als ein spezifisches „Kleinvolkbewusstsein"85

„folkelighed". 84 Die bisherigen Ansätze zielten eher auf die Nationen, vgl. etwa: Historians as nation-builders. Cen- tral and South-East Europe / hrsg. v. Dennis Deletant und Harry Hanak, Basingstoke 1988. Gerade in der Konstruktion der Ostseeregion seit den 1980er Jahren haben jedoch Historiker eine wichtige Rolle, siehe dazu den Beitrag von Hilde Dominique Engelen in: Die Ordnung des Raums. Mentale Karten in der Ostseeregion / hrsg. v. Norbert Götz, Jörg Hackmann und Jan Hecker-Stampehl, Berlin 2005, (The Baltic Sea Region: Nordic Dimensions — European Perspectives; Bd. 5), S. 61-90 sowie: Jörg Hackmann: Past Politics in North-Eastern Europe: The Role of History in Post-Cold War Identity Politics, in: Reinventing Europe. Northem and Baltic Experiences of Post-Cold War Identity Politics / hrsg. v. Marko Lehti und David J. Smith, London 2003, S. 78-100. 85 Kruus: Väikerahvalik tunnetus (wie Anm. 30); vgl. Leitsch: Die Esten (wie Anm. 23); sowie Toomas Karjahärm, Väino Sirk: Vaim ja vöim. Eesti haritlaskond 1917-1940 [Geist und Macht. Die estnische In- telligenz 1917-1940], Tallinn 2001, S. 259-261, 266-268; in diesem Zusammenhang ist auch das häufig zitierte Diktum des estnischen Finnougristen Uku Masing zu nennen, dass kleine Völker schon deshalb einen breiteren Horizont haben, weil sie an der Existenz der größeren nicht vorbeisehen können, hier nach: Butenschön: Estland, Lettland, Litauen. Das Baltikum auf dem langen Weg in die Freiheit, (wie Anm. 3), S. 10, und [31.1.2004]; dass diese Auffassung einer spezifischen Ausprägung eines Nationalismus der „Kleinen" nicht den Spurrillen der deutschen Nationalis- musforschung folgt, sei hier nur am Rande erwähnt, vgl. dazu exemplarisch Hans-Ulrich Wehler: Nationa-

477 Jörg Hackmann bezeichnet worden sind. Zwei Eckpunkte einer solchen Mentalität als Grundlage des neuen Ostseediskurses sind zu nennen: Der erste betrifft die Frage der Macht in internationalen Beziehungen. Die Absenz äußerer Macht ist von Jacob Burckhardt als die notwendige Bedingung für „wirkliche Frei- heit' beschrieben worden: Kleine Völker haben in dieser Denkfigur, die in der Herderschen Tradition steht, einen Vorteil gegenüber den großen Natio- nen. Zweitens stehen die kleinen Völker für die Schaffung neuer kultureller und sozialer Werte ein." Wahrhafte Größe, so Hans Kruus mit Bezug auf den estnischen Patrioten Jacob Hurt, beruhe auf Geist und Bildung." Kulturelle Leistungen, Friedfertigkeit verbunden mit Alteingesessenheit (Autochthonie) — so lässt sich diese Haltung umschreiben — haben hier einen höheren Stel- lenwert als in den großen Nationen." Deutlich werden diese Züge, wie be- reits am Beispiel Dänemarks skizziert, in den nordischen Ländern: Finnland und Norwegen, so Matti Klinge, machten aus dem Fehlen adliger und bür- gerlicher Strukturen und ihrer peripheren Lage eine Tugend, die in starkem Maße auf ziviltheologischen Fundamenten beruhte und ältere Traditionen des friedlichen Nordens aufgriff. Das gilt in ähnlicher Weise auch für Schweden und Dänemark, eben durch deren oben beschriebenen Machtverlust,9° und es lässt sich auch auf die anderen „kleinen" Nationen übertragen. Im Fall Polens ist insbesondere die Tradition des katholischen Messianismus zu nennen: Als Reaktion auf die Unterdrückung Polens durch die Teilungsmächte entwickel- te Adam Mickiewicz in seinen „Büchern des polnischen Volkes und der pol- nischen Pilgerschaft" von 1832 ein religiös fundamentiertes Selbstbild von Polen als dem Christus der europäischen Völker. Ebenso war die „organische" Arbeit an den „Grundlagen" der Nation und Ausdehnung des ursprünglich adeligen Nationskonzeptes auf die bäuerliche Bevölkerung eine Folge auf die Einwirkung der großen Mächte.9' Wenn wir die Ähnlichkeiten in der Mentalität der kleinen Nationen im Einzugsbereich der Ostsee zu rekonstruieren versuchen, dann wäre auch an Ähnlichkeiten in sozialen Strukturen zu denken. Tatsächlich waren die lismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 22004. 86 Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Pfullingen 1949, S. 60. 87 Leitsch: Die Esten (wie Anm. 23), S. 151. 88 Ebda., S. 152. 89 In den 1990er Jahren verteilte das dänische Außenministerium ein Plakat, auf dem das dänische Kö- nigshaus als die älteste noch regierende Dynastie der Welt bezeichnet wird. Auch die zahlreichen zivilthe- ologischen Bezüge wären hier zu nennen, so heißt es bei Johan Ludvig Runeberg etwa, der Arme sei näher zu Gott als der Reiche, siehe Matti Klinge: Aspects of the Nordic seif, in: Dedalus 113 (1984), Nr. 2, S. 257-277, hier S. 260; vgl. auch auch Henningsen: Politik (wie Anm. 81), S. 170f. 90 Klinge: Aspects (wie Anm. 89), S. 261. 91 Die kulturellen Folgen war jedoch unterschiedlich, die Einbeziehung bäuerlicher und bürgerlicher Schichten in die polnische Nation führte hier zu einer kulturellen Veradeligung der Nation, s. Tadeusz Lepkowski: Polska — Narodziny nowoczesnego narodu 1764-1870 [Polen — Die Entstehung der modernen Nation], Warszawa 1967.

478 Vom Objekt zum Subjekt skandinavischen wie die finnische Nation vor allem bäuerliche Nationen," die sich teils auf kommunaler Ebene und teils durch freiwillige Assoziati- onen formierten." Außerdem sehen wir direkte Parallelen in der Entstehung von Assoziationen bis hin zu Volksbewegungen,94 die sich auch in Skandi- navien gegen die alte Ordnung richteten." Die enge Beziehung zwischen ökonomischen und kulturellen Phänomenen im Vereinswesen des 19. Jahr- hunderts war nicht nur ein charakteristischer Zug der organischen Arbeit in Polen, sondern auch in Lettland und Estland und ebenso in Finnland und Schweden. Weitere Vergleichspunkte ergeben sich, wenn der Einfluss der protestantischen Ethik und des Pietismus und Bildungsstand der ländlichen Bevölkerung berücksichtigt wird, hier finden wir weitere Ähnlichkeiten in- nerhalb des frühneuzeitlichen schwedischen Reiches.96 Parallelen lassen sich jedoch über die Konfessionsgrenzen hinweg erkennen: Die katholische Nüchternheitsbewegung in Litauen vor 1863 ist ganz offensichtlich in einem Zusammenhang mit den (protestantischen) Mäßigungsbewegungen in Skan- dinavien zu sehen." Schließlich sind auch die kulturellen Avantgarden der baltischen Nationen um die Jahrhundertwende zu nennen: Sie orientierten sich an den Tendenzen der europäischen Moderne wie die nordeuropäischen Nationen (vor allem Norwegen) und kleinen Nationen Ostmitteleuropas ein- schließlich Polens. Die bekannte Forderung von Gustav Suits: „Mehr euro-

92 „Bauernvölker", so: Hovi: Sonderstellung (wie Anm. 52), S. 142. 93 Henrik Stenius: Frivilligt, jämlikt, samfällt: föreningsväsendets utveckling i Finland fram till 1900- talets början med speciell hänsyn till massorganisationsprincipens genombrott [Freiwillig, gleich, gemein- sam. Die Entwicklung des Vereinswesens in Finnland bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung des Durchbruchs zum Massenorganisationsprinzip], Helsingfors 1987 (Skrifter utgivna av Svenska Literatursällskapet i Finland; Bd. 545); Torkel Jansson: Samhällsförändring och sammanslut- ningsformer: Det frivilliga föreningsväsendets uppkomst och spridning i Husby-Rekame frän omkring 1850 till 1930 [Gesellschaftswandel und Formen des Zusammenschlusses. Entstehung und Verbreitung des freiwilligen Vereinswesens in Husby-Rekarne von ca. 1850 bis 1930], Uppsala, Stockholm 1982 (Acta Universitatis Upsaliensis. Studia historica Upsaliensia; Bd. 124); ders: Adertonhundratalets associationer: forskning och problem kring ett sprängfullt tomrum eller sammanslutningsprinciper och föreningsformer mellan tvä samhällsformationer c:a 1800-1870, [Die Vereine im 19. Jahrhundert], Uppsala, Stockholm 1985 (Acta Universitatis Upsaliensis. Studia historica Upsaliensia; Bd. 139) 94 Kirby: Baltic World (wie Anm. 15), S. 161. 95 Sorensen, Sträth: Cultural Construction (wie Anm. 33), S. 4. 96 David Feest: Die Entstehung der estnischen Nation, in: Estland — Partner im Ostseeraum / hrsg. v. Jörg Hackmann, Lübeck 1998 (Travemünder Protokolle; Bd. 2), S. 19-39; Torkel Jansson: Aufklärung, lokale Selbstverwaltung und freiwillige Vereine — ähnliche Ideen in verschiedenen Staaten. Ein balto-skandina- vischer Umriß des 19. Jahrhunderts, in: Aufklärung in den baltischen Provinzen Rußlands. Ideologie und soziale Wirklichkeit / hrsg. von Otto Heinrich Elias, Köln, Weimar, Wien 1996 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; Bd. 15), S. 95-106. 97 Ein Vergleich steht jedoch noch aus. Zur litauischen Abstinenzbewegung s. Kazimierz Gieczys: Bract- wa trzeiwo§ci w diecezji Zmudzkiej w latach 1858-1864 [Die Abstinenzbrüderschaften in der Diözese emaiten 1858-1864], Wilno 1935 (Studja teologiczne; Bd. 4); und Egidijus Aleksandravilus: Blaivyb Lietuvoje XIX amiiuje [Abstinenz in Litauen im 19. Jahrhundert], Vilnius 1990 (Lietuvii atgimimo isto- rijos studijos; Bd. 2).

479 Jörg Hackmann päische Kultur! Lasst uns Esten und Europäer werden"," lässt sich so als Haltung derjenigen deuten, die einen engstirnigen Nationalismus überwin- den wollten. Eine solche Haltung, nota bene, kennzeichnet auch große Teile der intellektuellen Eliten Estlands im vergangenen Jahrzehnt. Der letzte Punkt zeigt, dass neben strukturellen Ähnlichkeiten Faktoren wie Transfer, Diffusion und wechselseitigem Austausch ein wichtiger Stellenwert eingeräumt werden muss. In der Tat lassen sich in den ostbaltischen Nationen direkte Anlehnungen an bäuerliche Bildung in Nordeuropa feststellen.99 In kul- tureller Hinsicht hatte die nordeuropäische Nationalromantik oder die nordeuro- päische Moderne einen großen Einfluss auf die ostbaltischen Nationen um die Jahrhundertwende.10° Aber auch in der Geschichtskultur, der Zuwendung zum vorchristlichen Zeitalter, gab es Gemeinsamkeiten zu den anderen kleinen Nati- onen. Allerdings traten anstelle der Zuwendung zur Wikingerzeit, die sich 1845 in Dänemark öffentlich manifestierte,101 im Ostbaltikum eigene Volksmythen hervor — Kalevala, Kalevipoeg, Läc'plüsis und Witolorauda102. Gewiss ist die nationale Mythisierung des freien Bauerntums in Nordeuropam im Baltikum so nicht anzutreffen, aber zumindest in Estland und Lettland hatten die National- bewegungen einen starken folkloristischen Einschlag. Damit stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Unterschiede, die sich unschwer in den differierenden Verfassungsstrukturen ausmachen lassen, für die Konstruktion einer Geschichtsregion. Diese Unterschiede sind zahlreich: Als Bestandteil des Zarenreichs konnte Finnland seine eigene Verfassung

98 Gustav Suits: Noorte püüded. Üksikud mötted meie olewiku kohta [Die Bestrebungen der Jungen. Einige Gedanken über unsere Gegenwart], in: Noor Eesti 1 (1905), S. 3-19, hier S. 17, vgl. Ea Jansen: Es- tonian culture - European culture in the beginning of the 20th century, in: The Baltic countries 1900-1914 / hrsg. von Aleksander Loit, Stockholm 1990 (Studia Baltica Stockholmiensia; Bd. 5:1), S. 311-326, hier S. 315. 99 Toivo U. Raun: Die Rolle Finnlands für das nationale Erwachen der Esten, in: Zeitschrift für Ostfor- schung 34 (1985), S. 568-578 100 Zahlreiche Details bei Kari Alenius: The cultural relations between the Baltic countries and Finland, in: Relations between the Nordic countries and the Baltic nations in the XX century / hrsg. von Kalervo Hovi, Turku 1998, S. 128-187, hier S. 131 zu Estland, S. 142-144 zu Lettland; für Litauen spielten dagegen Kontakte zum „Jungen Polen" ein wichtige Rolle, s. etwa Laima Petruseviiüt: Mikalojus üiurlonis, in: Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarde in Mittel- und Osteuropa / hrsg. von Ryszard Stanislaw- ski und Christoph Brockhaus, Bonn 1994, S. 60-63. 101 Ostergärd: Geopolitics (wie Anm. 31), S. 37. 102 Der erste Teil des Epos „Anafielis" von Jözef Kraszewski erschien zunächst 1840-1845 auf polnisch, 1881 dann auch auf litauisch, s. Friedrich Scholz: Die Literaturen des Baltikums. Ihre Entstehung und Entwicklung, Opladen 1990 (Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 80), S. 80, 284-286; vgl. auch Kirby: Baltic World (wie Anm. 15), S. 127; und Darius Staliünas: Die litauische Nationalidentität und die polnischsprachige Literatur, in: Literatur und nationale Identität II: Themen des literarischen Nationalismus und der nationalen Literaturen im Ostseeraum / hrsg. v. Yrjö Varpio und Maria Zadencka, Tampere 1999 (Tampereen yliopisto, Taideaineiden laitos, Julkaisuja; Bd. 2), S. 201-216. 103 Sorensen, Sträth: Cultural construction (wie Anm. 33), S. 3f. 480 Vom Objekt zum Subjekt durchsetzen — im Gegensatz zu den Ostseeprovinzen104 und erst recht zu den litauischen Gouvernements. So ist denn auch die Umwandlung der Staatskir- chen in Volkskirchen1°5 in Estland und Lettland durch den nationalen Gegensatz zwischen den deutsch-baltischen Pastoren und den als „Nationalen" bezeich- neten estnischen und lettischen Gemeindegliedern nicht möglich gewesen.'°6 In Litauen wiederum wurde die Nationalbewegung in starkem Maße von ka- tholischen Priestern getragen. Die zentralen Unterschiede sind aber wohl vor allem im 20. Jahrhundert zu sehen, in der Rolle der Sozialdemokratie und des Wohlfahrtsstaats,107 wie auch autoritärer Tendenzen in den 1930er Jahren. Die friedliche Bewältigung sozialer Konflikte und die Resistenz gegen Formen des Faschismus, haben den „nordischen" Diskurs in der Tat geprägt.1°8 Damit stellt sich freilich die Frage, ob das nordische Modell auch Finnland einbezieht, das in der Zwischenkriegszeit auch durch Bürgerkrieg und Faschismustendenzen in der Lapua-Bewegung gekennzeichnet war.1°9 Das führt uns nun zu einem be- reits erörterten Problem: Die nordeuropäische Diskussion der letzten Jahre hat herausgearbeitet, dass „Norden" eine diskursive, und zwar eine erfolgreiche Konstruktion war, nicht aber ein quasi-natürliches Regionskonzept.11° Dies ist auch ein zentrales Element der jüngeren Kritik am „Norden"-Konzept von Bo Sträth, Uffe Ostergärd und Pertti Joenniemi. Ostergärd hat vehement die An- sicht vertreten, die Mehrheit der Dänen und Schweden habe den Ostseecharak- ter und damit Determinanten ihrer gemeinsamen Geschichte ignoriert.111 Vor diesem Hintergrund hat das hier diskutierte Nordosteuropa-Konzept, das von der entscheidenden Rolle der kleinen nicht-nordischen Nationen für die Konst- ituierung der Ostseeregion ausgeht, in den letzten Jahren durchaus eine poli- tische und zum Teil auch eine moralische Komponente erhalten.112

104 Eine instruktive Skizze eines Vergleichs bietet: Osmo Jussila: From province to state: Finland and the Baltic provinces (1721-1920). A comparative survey, in: Les „Petits Etats" (wie Anm. 18), S. 55-67. 105 Sorensen, Sträth: Cultural Construction (wie Anm. 33), S. 11. 106 Siehe exemplarisch A[do] Grenzstein: Herrenkirche oder Volkskirche? Eine estnische Stimme im baltischen Chor, Jurjew 1899. 107 Sorensen, Sträth: Cultural construction (wie Anm. 33), S. 7. 108 Uffe Ostergärd: Geopolitics (wie Anm. 31), S. 30. 109 Sorensen, Sträth: Cultural construction (wie Anm. 33), S. 5. 110 Ostergärd: Nordic countries (wie Anm. 31); Sträth: The Baltic (wie Anm. 32); Lehti: Non-reciprocal (wie Anm. 46). 111 Ostergärd: Geopolitics (wie Anm. 31), S. 27. 112 Dieser Aspekt spielte neben der Einbeziehung Russlands eine Rolle in der finnischen Initiative von 1997 zur „Nördlichen Dimension" der Europäischen Union, vgl. A Northem Dimension for the Poli- c ie s of the Union [12.8.2005].

481 Jörg Hackmann

Schlussbemerkungen Ein solches politisch-moralisches Unterfangen war hier freilich nicht in- tendiert, sondern es soll abschließend um die Frage nach der Tragfähigkeit von Nordosteuropa als geschichtsregionalem Konzept und um die Frage nach dem spezifischen Beitrag der kleinen ostbaltischen Nationen zur Ent- stehung von Nordosteuropa gehen. Dazu sei noch einmal von einem bereits angesprochenen kulturgeschichtlichen Befund ausgegangen: In der Rezep- tion der modernen Kunst und Architektur um die Wende zum 20. Jahrhun- dert sind die Zusammenhänge nicht zu übersehen, etwa zwischen dem „Jun- gen Estland" und der norwegischen Avantgarde oder auch der litauischen Avantgarde und dem „Jungen Polen" sowie zwischen finnischen, lettischen und russischen Architekten. Diese Beziehungen wurden durchaus auch po- litisch gedeutet, wie der Leitartikel in der estnischen Tageszeitung Päeva- leht vom 17. (30.) März 1911 illustriert: Er hob hervor, dass die Esten zu ähnlichen kulturellen Leistungen fähig seien wie die kleinen nordischen Völker.113 Freilich war der Umfang des Kulturtransfers nicht in beide Rich- tungen gleich stark, und auch das Maß der jeweiligen Wahrnehmung dif- ferierte deutlich. Offensichtlich waren die ostbaltischen Nationen eher Re- zipienten, was denn auch der skizzierten Hauptrichtung in den politischen Beziehungen entspricht. Ein solches Verhältnis ließe sich mit dem traditio- nellen Deutungsmuster von „Kulturträgern" interpretieren, denen eine kul- turbringende, zivilisatorische Funktion zugeschrieben wird. Dagegen hat die skandinavische Kunstgeschichte114 darauf hingewiesen, dass für das Verständnis von Kulturtransfer nicht allein der Sender, wie in der Betrach- tung von Kulturträgern und Kulturausstrahlung üblich, sondern dass eben- so die aneignende Leistung des Empfängers gleichermaßen beachtet werden muss. Regionsbildung ist also ein Prozess, der nicht allein von Kulturaus- strahlung, sondern ebenso von aktiver Aneignung geprägt ist. Die Rezeption des 1912 bis 1923 errichteten Stockholmer Stadthauses von Ragnar Ostberg spiegelt das Problem: In Riga und Reval wurde ähnliche Projekte entwor- fen, sie wurden jedoch mit der Okkupation durch die Sowjetunion zur Ma- kulatur,115 während das Stadthaus in Oslo 1916-1950 von Arnstein Arneberg 113 NN: Eestisöbra süüdistused [Die Anschuldigungen des Estenfreundes], in: Päewaleht Nr. 62, 17. (30.)3.1911, S. 1; vgl. Toivo U. Raun: Culture wars in Estonia at the beginning of the 20th century, in: Acta Historica Tallinnensia 4 (2000), S. 49-58, hier S. 57. 114 Lars Olof Larsson: The significance of Nordic art, in: The Source of liberty. The Nordic contribution to Europe / hrsg. v. Svenolof Karlsson, Stockholm 1992, S. 115-151; Jan von Bonsdorff: Der Blick von innen. Das Kunstwerk als historische Quelle, in: Die Stadt im europäischen Nordosten. Kulturbeziehungen von der Ausbreitung des Lübischen Rechts bis zur Aufklärung / hrsg. v. Robert Schweitzer, Waltraud Bastman-Büh- ner, Jörg Hackmann, Helsinki, Lübeck 2001 (Aue-Säätiön julkaisuja; Bd. 12), S. 337-352. 115 Zu Tallinn siehe Mart Kalm: Palee vöi büroo. 1930-ndate aastate Tallinna raekoja projektidest [Palais oder Büro. Zu den Projekten für das Tallinner Rathaus in den 1930er Jahren], in: Kunstiteaduslikke uurimusi 7 (1994), S. 294-312, hier S. 302-305; zu den Plänen für Riga in den 1930er Jahren siehe Jänis Lejnieks: Riga,

482 Vom Objekt zum Subjekt und Magnus Poulsson errichtet wurde. Die Tatsache, dass solche Rathäuser in den ostbaltischen Hauptstädten — die zugleich zweifellos auch die Nation repräsentiert hätten — nicht entstanden sind, trifft den zentralen Punkt die- ser Betrachtung: Der Molotov-Ribbentrop-Pakt von 1939 und die anschlie- ßende Okkupation der baltischen Staaten von 1940 bis 1991 haben das Ent- stehen einer Ostseeregion entscheidend verhindert.116 Das Bestrebungen der ostbaltischen Nationen, vom Objekt zum Subjekt der Geschichte zu werden und die Orientierung an einer Karte der Ostseeregion, die mehr umfasste als die (sowjetische) Pribaltika, können als die zentralen Momente identifiziert werden, die die Region Nordosteuropa in einem „nicht-reziproken" Pro- zess117 konstituierten. Diese beschränkt sich nicht auf die (ost)baltische Re- gion, sondern sie bildete für das 20. Jahrhundert den Kern des Ostseeraums als historischer Region. Ein solches Regionsverständnis zielt also nicht auf klare lineare Grenzziehungen, sondern auf Interaktion und Vernetzung. Die Karte, die auf der Grundlage dieser Konzeption und der ihr inhärenten Dy- namik zu zeichnen wäre, folgt freilich nur indirekt jenen mental maps, die etwa führende estnische Politiker in den 1990er Jahren propagierten,118 denn die erstrebte nahtlose Integration in den „Norden" oder „Westen" stellte die bestehenden Raumkonzepte zur Diskussion und verlieh somit den natur- räumlichen Tatsachen erneut Bedeutung.

kuras nav. Never-built Riga. Ein Riga, das es nie gegeben hat, Riga 1998, S. 103-122, S. 128. 116 Kirby: Baltic World (wie Anm. 15), S. 292. 117 So Lehti: Non-reciprocal (wie Anm. 46) für die Zwischenkriegszeit. 118 In einer Rede auf dem ersten Treffen des Ostseerates 1992 in Kopenhagen hatte der estnische Präsident Lennart Meri die Ostsee — die im estnischen Läänemeri (=Westsee) heißt — als „Mittelmeer der nordischen Länder" bezeichnet und die baltische Region dagegen mit einem „Europa der Baracken" assoziiert, s. Lenn- art Meri: Läänemeri an meie elu telg [Die Ostsee ist unsere Lebensachse], in: ders.: Presidendiköned, Tartu 1996, S. 279-281; Der frühere estnische Außenminister und jetzige Präsident Toomas Hendrik Ilves, trug in einer Rede „Estonia as a Nordic Country" im Schwedischen Institut für Internationale Beziehungen am 14.12.1999 die Idee des „Jule-Lands" vor, siehe [15.8.2005].

483

SCHLUSSBETRACHTUNG

Matti Klinge Der Ostseeraum als Kulturraum* Ich werde versuchen, ein Gesamtbild des Ostseeraums als Kulturraum zu zeichnen und dabei ganz besonders die geschichtlichen Faktoren hervor- heben. Wir sind heute hier versammelt, weil uns eine Idee, die Idee der Ost- seegemeinschaft verbindet. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, Fragen über dieses Identitätsbewusstsein zu stellen. Natürlicherweise stehen die so- genannte Real- und die Ideengeschichte in einem dynamischen und dialo- gischen Verhältnis zueinander. Hier besteht heute, so glaube ich, besonders ein Bedürfnis, über Ideen, Begriffe und Gedanken zu sprechen. Ich stelle drei Themen, die derartige dynamische und dialogische Ver- hältnisse aufzeichnen, zur Diskussion: 1. Imperium und Peripherie 2. Stadt und Land 3. Deutsches und Nichtdeutsches hier in unserem Teil der Welt. Imperium und Peripherie Die Imperientradition ist eine wichtige Tradition und reicht von der Zeit des römischen Imperiums bis zu dem heutigen Wirtschaftsimperium, der EU. Ebenso tief ist die Gegenposition zu dieser zentralisierenden Traditi- on verwurzelt. Pro- und antiimperiale Ideen tauchen immer wieder auf. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Das gleiche gilt auch für den Gedanken, ob Rom, das römische Imperium, wiederhergestellt wer- den sollte oder nicht; ein Gedanke, der seit der Schlacht im Teutoburger Walde vor cirka 2.000 Jahren bis zu den heutigen Fragen der Partner- und. Mitgliedschaft zur EU für die Länder der Ostseewelt seine Gültigkeit be- halten hat. Und diese Fragen kennt man auch in Deutschland, in England und in anderen großen europäischen Nationen. Die Idee, ob man Teil des Römischen Reiches gewesen sei oder nicht, ist oft der Grundstein für Zu- kunftsdiskussionen.

* Während der Beitrag von Marko Lehti in der Schlussdiskussion auf ein längeres Korreferat angelegt war, das für die Veröffentlichung ausgearbeitet wurde, zielten Matti Klinges Ausführungen auf einen Dia- log mit den Konferenzteilnehmern. Anstatt zu versuchen, dieses lebhafte Gespräch zusammenzufassen, kamen Autor und Herausgeber überein, einen Beitrag von Matti Klinge hier erneut abzudrucken, der seine Perspektivgedanken zu Konstituenten einer Geschichtsregion im Osteeraum wiedergibt, wie sie auch in der Diskussion thematisiert wurden. Die Herausgeber danken dem Verlag Saur und den Herausgebern des Erstdrucks für die freundliche Genehmigung hierzu. Der Beitrag erschien zuerst in: Bibliotheca Baltica: Symposium vom 15.-17. Juni 1992 in der Bibliothek der Hansestadt Lübeck... / hrsg. von Jörg Fligge und Robert Schweitzer, München u.a. 1994 (Beiträge zur Bibliothekstheorie und Bibliotheksgeschichte; Bd. 10). S. 20-26. Hier ist er mit geringen redaktionellen Veränderungen abgedruckt, die hauptsächlich zeit- und anlassgebundene Passagen betrafen.

487 Matti Klinge

Allerdings knüpft diese Vorstellung von der Kontinuität oder Diskontinu- ität des Römischen Reiches nicht so sehr an die römische Geschichte und das römische Imperium an, sondern vielmehr an das Imperium der Karolinger. Der skandinavische Norden, zumindest der Teil, den wir heute als die Nor- dischen Länder bezeichnen, ist aus der Negation entstanden, als ein Teil Eu- ropas weder dem karolingischen Herrschaftskreise noch dem griechisch-by- zantinischen Imperium eingegliedert zu werden. Dieses Gebiet spielte für eine lange Zeit sozusagen eine Außenseiterrolle. Die Ablehnung des Imperiumsge- danken war die Ursache für die drei- bis vierhundert Jahre später eintretende Europäisierung oder Christianisierung des Nordens vor allem im Vergleich mit Deutschland und selbst Norddeutschland. Hier stoßen wir auf ein Faktum, das heute immer wieder in einigen nordischen Ländern besonders dann ange- führt wird, wenn es um die Diskussion pro und contra EU geht. Diese Grund- differenz zwischen Deutschland und Dänemark ist bis heute hochaktuell. Stark beeinflusst wird der nordische Identitätsgedanke von der Idee, dass Imperium stets Gefahr bedeute, dass Imperium und Papismus, Imperium und Katholizismus identisch seien. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges selbst spielte diese Idee für die nordische Identitätsgeschichte vielleicht noch kei- ne entscheidende Rolle, umso mehr dafür aber später im Rückblick, be- dingt durch die Geschichtsschreibung, den Geschichtsunterricht und das Ge- schichtsbewusstsein. Und noch heute herrscht besonders in Norwegen und auch in Dänemark die Meinung vor, dass die EG ein katholisches Imperium sei. Deshalb beobachten wir in diesen Ländern starke antiimperiale, antizen- tralistische Kräfte. Die Gedanken an die klassischen Imperien — Römisches Imperium, Karo- lingisches Imperium, Deutsch-Römisches Imperium, Katholisches Imperium — beeinflussen das Bewusstsein in unserem Raume, dasselbe gilt aber auch für die östlichen Imperien. Als erstes ist Byzanz am Norden interessiert und dringt durch die Tau- fe Russlands weit in diese Richtung vor. Die Mongoleninvasionen sorgen jedoch für eine Zäsur. Zur Zeit Peters des Großen beginnt sich ein neues östliches Imperium im Ostseeraum zu etablieren. Dieser neue Imperiums- gedanke bietet große Möglichkeiten zur Integration, zur gegenseitigen Durchdringung auf ökonomischem, kulturellem, politischem und militä- rischem Gebiet, gleichzeitig aber besteht die Furcht vor den expansiven Ten- denzen dieses Imperiums. Aus diesem Grund sehen manche Nationen im Ostseeraum eine Doppelgefahr heraufziehen, teils ausgehend vom südlichen imperialen Gedanken — vor allem von Deutschland —, teils vom östlichen imperialen Gedanken, insbesondere von Russland. Die meisten Länder des Ostseeraumes — Polen, die baltischen Länder, Finnland, Schweden — haben von der Meinungsverschiedenheit, der dialo-

488 Der Ostseeraum als Kulturraum gischen Disputation dieser beiden Mächte Vorteile gehabt. Sie haben abel- auch negative Erfahrungen gemacht, besonders wenn sich die großen Mäch- te wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg bekämpften. Dann wurde die Situ- ation der dazwischen liegenden kleineren Nationen äußerst schwierig. Schließlich haben wir die Imperien der Nachkriegszeit: das kommuni- stisch-russische und das amerikanische. Diese beiden Imperien, die Euro- pa geteilt haben, verlieren zur Zeit an Einfluss und Stärke. Deswegen be- stehen im Augenblick mehrere Möglichkeiten für rein europäische Mächte, insbesondere für die Nationen hier in unserem Ostseeraum. Diese Aussa- gen sind allerdings höchst generalisierend. Denn wenn wir von Russland sprechen, müssen wir uns daran erinnern, dass Russland in seinem nord- westlichen Teil immer ein Ostseevolk und eine Ostseemacht gewesen ist. Daneben aber existiert im russischen Reiche selbstverständlich auch vieles andere, was in keinem Zusammenhang mit der Ostsee steht. Da sehen wir noch einen weiteren Antagonismus, einen Widerstreit zwischen Imperium und Peripherie, Imperium und Nichtimperien, der unser Bewusstsein im Ostseeraum, so glaube ich, tief beeindruckt. Stadt und Land Von ganz anderer Art, aber damit natürlich noch nicht sehr weit entfernt, ist die Dichotomie „Stadt und Land". Der Begriff Stadt stellt im Ostseeraum eine Kulturform dar und ist stark mit dem Deutschtum verbunden. Stadtkul- tur bedeutet natürlich Innovation, bedeutet Vermittlung von nicht nur deut- schen, sondern auch anderen europäischen und außereuropäischen Wer- ten, Waren und Sitten, bedeutet Dynamik, bedeutet Erneuerung. Auf der anderen Seite haben wir die Entwicklung der Gegenseite: die Bauern auf dem Lande, auf das Bauerntum bezogene Ansätze staatlicher Strukturen, eine antistädtische Entwicklung. Seien es nun in alten Zeiten Haithabu und Birka, seien es in den Hansezeiten Lübeck, Danzig und Riga, seien es im 17. Jahrhundert Stockholm, Kopenhagen oder St. Petersburg — Stadtkultur bedeutet etwas allgemein Europäisches im Gegensatz zur Bauernkultur. Diese Stadtkultur, wie etwa sehr typisch in Lübeck, wird dann im letzten Jahrhundert von den nationalen Bewegungen in vielen nordischen Ländern als etwas Negatives gesehen. In den meisten nordischen Ländern sind die modernen Nationalgefühle auf Anti-Stadt-Ideologien aufgebaut. Das gilt für Schweden und Dänemark und auch für Finnland. So sagt unser National- dichter Runeberg sehr klar, dass das Land- und Bauernleben moralisch bes- ser sei, da man auf dem Lande, auch wenn man arm ist, enger bei Gott sei als in den reichen Städten mit ihrer Stadtkultur. In den Baltischen Ländern wird diese Opposition gegen die Stadtkultur sehr kräftig unterstrichen. Vor allem in der Zwischenkriegszeit wird im estnischen und lettischen Nationa-

489 Matti Klinge lismus die Anti-Stadt-Ideologie besonders betont, die Bauernwelt ideologi- siert. In einigen von unseren Ländern kann man direkt von einem Landle- ben- und Bauernexotismus sprechen — als Alternative zur Stadtkultur. Stadtkultur wird sehr oft vereinfacht dargestellt, und es gibt relativ we- nige Schriftsteller, Ideologen und Geschichtswissenschaftler, die Stadt und Städte beschreiben. Die großen Epen und Dichtwerke behandeln teils Bau- ernkultur, teils unbebautes Land und Exotismus. Mit Stadtkultur verbindet man klassisch aus Bauernsicht die Kaufleute, die vielleicht Partner, abel- auch Gegner der Bauern waren. Aber auch die Handwerker sollten in die- sem Zusammenhang nicht vergessen werden, denn durch sie verbreiteten sich sehr viele Innovationen. Hier denke ich auch an meine eigenen Vor- fahren. Eine meiner Urgroßmütter väterlicherseits war eine Handwerkstoch- ter aus Petersburg, und mütterlicherseits war eine meiner Urgroßmütter eine Handwerkstochter aus Kopenhagen. Dieses Beispiel aus meiner Familie do- kumentiert Ostseekultur, zeigt die persönlichen Verhältnisse und Verbin- dungen, die durch die städtischen Emigrations- und Immigrationszüge her- vorgerufen wurden und von großer Bedeutung waren. Diese bürgerliche und städtische Kultur — ich sage es erneut — vermittelt vieles, was nicht direkt aus unserem eigenen Kulturraum stammt, sondern allgemeineuropäisches Kulturgut verkörpert wie zum Beispiel Oper, Thea- ter und Ballett. Aber auch die Wissenschaft, das Latein, und selbstverständ- lich die Religion gehören dazu. Deutsches und Nichtdeutsches Meine dritte Leitidee wäre mit dem Vorangegangenen stark verbunden: also deutsch und antideutsch. Ist Deutschtum etwas Imperiales? Ist Deutsch- tum etwas Städtisches im Gegensatz zu dem Peripheren und Bauernhaften der anderen Ostseeländer? Wenn man heute sehr viel über die Hanse und den neuen Hansegedan- ken spricht — wie der frühere schleswig-holsteinische Ministerpräsident Engholm — so sollte man nicht vergessen, dass es auch sehr viele Anti-Han- se-Tendenzen im Ostseeraume gegeben hat und dass die ganze dänische Geschichte eigentlich eine Anti-Hanse-Identität aufweist. Obwohl Schwe- den mit Lübeck gegen Dänemark zusammengearbeitet hat, so sind auch hier antihansische und antideutsche Kulturströmungen zu finden. Vielleicht ist diese Tatsache nicht allgemein bekannt. Man kann zwar über die Hanse sprechen, allerdings ist die Resonanz in anderen nordischen Ländern nicht so positiv wie in Schleswig-Holstein und Lübeck. Luthertum ist in meinen Augen etwas sehr Wichtiges und Zentrales für die Ostseekultur, allerdings nicht für die ganze — nicht für Polen, Litau- en und Russland. Der lutherische Glaube fügt zwar viele Ostseeländer zu

490 Der Ostseeraum als Kulturraum einem gemeinsamen Kulturkreis zusammen, aber natürlich besteht eine Di- vergenz mit der katholischen polnisch-litauischen Welt. Dieses Auseinan- derstreben ist hier stärker als in Russland, denn auch St. Petersburg war zu einem hohen Grad eine protestantische Stadt, zumindest keine sehr ortho- doxe Stadt. Mit der Lutherkultur, mit der religiösen Kultur sind auch Tu- gendsysteme verbunden, werden das Schul- und Universitätswesen, werden allgemein Bücher in Verbindung gebracht. Diese Kulturgemeinschaft ist im Ostseekreise sehr wichtig gewesen. Wie wichtig sie aber heute in unserem Geschichtsbewusstsein ist, muss zur Diskussion gestellt werden. Es ist nicht klar, wieviel das Luthertum, wieviel die Religion, wieviel diese alte wis- senschaftliche Gemeinschaft uns heute bedeutet oder bedeuten kann. Das kommt sehr darauf an, wieviel wir im Geschichtsunterricht erfahren, wie stark unser Geschichtsbewusstsein ist, wie allgemeinverständlich Geschich- te dargestellt wird — im Fernsehen wie in Romanen. Diese verschiedenen Facetten sind mitentscheidend, welche Bedeutung die Realgeschichte ei- gentlich hat. Das Deutsche, das Beamtentum deutschen Charakters zusammen mit dem Luthertum, ist sehr einflussreich gewesen und war immer mit der Re- zeption, der Übernahme des Römischen Rechts und anderer legalistischer Traditionen verknüpft. Daher ist der ganze Norden mit den baltischen Län- dern geeint in einer Rechtstradition, die mit dem deutschen, deutsch-rö- mischen Beamtentum sozial verbunden ist. Man sollte auch — und das finde ich äußerst wichtig — von den Deutschen als Lehrern der Gefühlswelt für die nordischen Länder sprechen. Ob Ro- mantik oder Klassizismus, die ästhetischen Werte dieser Epochen wie Mu- sik, Architektur oder Poesie tragen zur nordischen Identifikation bei. Vor allem wird die Identifikation mit romantischen Begriffen wie Wälder, Bä- che oder Wasser mühelos nachvollzogen. Deutschland als Vorbild der Ge- fühle ist äußerst wichtig, wenn wir den Vergleich mit der französisch-ro- manischen oder englischen Gedankenwelt heranziehen. Vielleicht könnte dieses sehr positive deutsche Empfinden auch in unseren nichtdeutschen Ostseeländern Anklang finden. Kommen wir dann zu dem wissenschaftlich-technischen, elektro-che- mischen Deutschland. Überall im Norden übt dieses Deutschland einen enormen Einfluss aus, so in Lettland, Livland und Estland und besonders in St. Petersburg. Industrietradition kommt sozusagen direkt aus deutschen Quellen, wie deutsche Innovationen oder deutsche Meisteringenieure. Doch mit diesem deutschen Einfluss läuft sehr viel deutsche Besserwisserei und Schulmeisterei einher. Letzteres wird, wie wir es z. B. aus dem berühmten Roman „Oblomov" von Go&'arov wissen, als etwas nicht nur hundertpro- zentig Positives gesehen, sondern auch stark kritisiert.

491 Matti Klinge

Und schließlich müssen wir das Deutsche natürlich von außenpolitisch- militärischen Gesichtspunkten betrachten. In Dänemark gibt es sehr klare Vorstellungen. Die dänische Identität war jahrhundertelang vom Antischwe- dentum geprägt. Dänisch sein bedeutetet, dass man nicht schwedisch war. Es herrschte eine alte und starke Antipathie zwischen der dänischen und der schwedischen Welt. Doch durch die Politik Bismarcks trat sehr schnell eine Veränderung ein. Aus dem dänischen Antischwedentum wurde ein dä- nisches Antideutschtum. Natürlich sehen die Dänen heute sehr viele Paral- lelen zwischen der Vereinigung Deutschlands unter Bismarck und der Ver- einigung Deutschlands heutzutage. Sie machen sich Gedanken, was diese Vereinigung vielleicht für die kleinen Nationen bedeuten könnte, denn Bis- marck wird besonders in Dänemark als etwas Negatives verstanden. Es folgen die wilhelminische Ära und das Hitler-Deutschland. Beide Ge- schichtsabschnitte werden in den verschiedenen nordischen Ländern unter- schiedlich gesehen. In den baltischen Ländern sind bedingt durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg weder die Deutschen noch die Russen beliebt, denn diese Länder haben unter den beiden Großmächten in den beiden Kriegen sehr schwer gelitten. In Norwegen wiederum ist das Antideutschtum durch Hitler und die deutsche Besatzungszeit hervorgerufen. In Finnland dagegen haben wir ein positives Bild sowohl von Kaiser Wil- helm II. als auch von Hitler, weil beide gemeinsam mit den Finnen gegen die Versuche angekämpft haben, Finnland zu bolschewisieren. Das Resul- tat war für uns jedes Mal positiv. Aus diesen Gründen ist in den nordischen Ländern die politische Einschätzung Deutschlands nicht einheitlich. Was bedeuten Deutschland und Deutschtum heute? Welche Bedeutung die deutschen Traditionen — die Stadttraditionen, die Imperiumstraditionen — für unsere heutige Ostseekultur haben, ist eine schwierige Frage. Die deutsche Sprache ist von hervorragender Bedeutung, und viele von uns wie z. B. ich selbst benutzen die deutsche Sprache als eine lingua franca. Das hat also nicht nur etwas mit der deutschen Sprache zu tun, sondern mit der deutschen Kultur. Aber natürlich sind die Sprachen immer mit großen Im- perien verknüpft. Das zeigten die Sprachverhältnisse in der Nachkriegszeit, als sowohl der englisch-amerikanische wie auch der russische Imperialis- mus vorherrschten. Die deutsche Sprache spielt in Europa und vor allem in Nordeuropa eine sehr große und wichtige Rolle und muss gemeinsam mit den positiven deut- schen Kulturtraditionen gepflegt werden. Die kleineren Nationen bewahren sich vor sprachimperialistischen Tendenzen. Sie sind lieber multikulturell, möchten mehrere große Sprachen sprechen. Ihre nationalen Kulturen sind aus den Eindrücken erbaut, die sie von mehreren großen Nationen gewonnen haben. Deswegen sind für uns Französisch, Italienisch oder Spanisch wich-

492 Der Ostseeraum als Kulturraum tige Sprachen. Wir können nicht nur ausschließlich die Sprachen lernen, die in diesem Kulturkreis von den großen Nationen gesprochen werden. Ich habe hier von ideologischer Dynamik, vom Dialog und dialogischen Verhältnissen gesprochen, weil ich finde, dass Geschichtsbewusstsein und Identitätsbewusstsein keine Fragen der positivistischen oder positiven In- formationen oder Dokumentationen sind. Hier geht es um Verständnis, um kreatives Verständnis, und nicht nur um kalte oder mechanische Informati- onen und Dokumentationen. Geschichte und Zukunft müssen Teile einer dialogischen Lebensform sein, denn dann wird klar, zu welchem Kulturraum man gehört und gehö- ren will.

493 Marko Lehti Paradigmen ostseeregionaler Geschichte: Von Nationalgeschichten zur multinationalen Historiographie

„Ostseeraum", „Nordosteuropa" und „Nordeuropa" sind Raumbegriffe, die von Historikern mehr oder weniger vage benutzt werden. Alle drei decken ziemlich ähnliche Regionen ab, so dass sie als überlappende Deskriptoren in- terpretiert werden können. So kann zum Beispiel Finnland ohne Schwierig- keiten unter jeden dieser drei Begriffe subsumiert werden; das bedeutet aber keine Beliebigkeit, denn andererseits haben Namen eine wichtige Funkti- on. Ohne einen Namen kann nichts existieren, und der Name übermittelt die grundlegende Identität einer jeweiligen Erscheinung. Deshalb geht es hier nicht einfach um verschiedene Namen für die gleiche Region. Diese Benen- nungen sind in der Tat verschiedene Raumbegriffe —nur, dass sie vielleicht die gleiche geographische Region abdecken. Daher soll nach den Gründen für die drei verschiedene Benennungen für dieselbe Region gefragt werden, und ob es immer noch nützlich ist, alle drei zu verwenden. In diesem Artikel sollen die verschiedenen Weisen, in denen Historiker diese Raumbegriffe benutzen, dargelegt und dabei untersucht werden, wel- cher jeweiligen Gebrauchsweise diese drei verschiedenen Bezeichnungen ent- sprechen. Welche Botschaft übermitteln sie? Dies setzt eine sorgfältige Un- tersuchung der sogenannten „historischen Regionalstudien" voraus. Dahinter steht die Grundsatzfrage, ob Historiker nicht auch in gewisser Hinsicht ihre Gedanken im Lichte der laufenden Diskussion über Räumlichkeit bzw. Regi- onalität unter den Geographen und Sozialwissenschaftlern revidieren sollten. Wenn ja — welche neuen Optionen für das Verständnis von Räumlichkeit in geschichtlichen Untersuchungen bietet sich an?

*** Um 1980 haben Matti Männikkö (Turku) und Klaus Zerhack (Berlin) eine theoretische Debatte über die Begriffe „Ostseeraum" und „Nordosteu- ropa" eröffnet und damit die Basis für die bis heute andauernde Benutzung dieser Termini unter den Historikern gelegt.' Damals drückte Zerhack auch erstmals seinen Gedanken aus, den Begriff „Ostseeraum" durch den neuen Begriff „Nordosteuropa" zu ersetzen, den er einige Jahre früher eingeführt

1 Klaus Zernack: Osteuropa: eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, S. 51-59; Matti Män- nikö: Itämeren piiri historiallisena käsitteenä: ongelmia ja näkökulmia [Der Ostseeraum als historischer Begriff: Probleme und Standpunkte], in: Faravid 1979, S. 5-29.

494 Paradigmen ostseeregionaler Geschichte hatte.2 Nach Zerhack war der deutsche Begriff „Ostseeraum" mit dem nega- tiven Konnotat aus der nationalsozialistischen Vergangenheit belastet, und weiterhin wollte er sich von Interpretationen distanzieren, die den Ostseeraum einfach als eine von Deutschen dominierte Region ansahen. Da auch weitere geographische Bezeichnungen nach den Himmelsrichtungen für Geschichts- räume in Gebrauch sind — zum Beispiel Ostmitteleuropa oder Südosteuropa — war nach Zerhack auch die Notwendigkeit einer begrifflichen Harmonisie- rung für den europäischen Norden gegeben. So sehr man die Bedeutung und die Kühnheit dieses Einstiegs in eine theo- retische Diskussion betonen muss, so hat man sich zugleich zu vergegenwärti- gen, dass diese Artikel in dem Jahrbuch „Faravid", einer Veröffentlichung der Historischen Gesellschaft von Oulu in Nordfinnland und zudem in Finnisch er- schienen. Es ist wohl kaum eine entlegenere Publikationsweise für so wichtige und interessante Diskussionsbeiträge denkbar.' Damals gab es kein breiteres Publikum für eine solche Diskussion. Diese frühen Beiträge waren in der Tat herausragend in ihrer Zeit, aber zeigten zugleich, wie marginal ein Thema wie der Ostseeraum vor dem Ende des Kalten Krieges war. Für die Zeitgenossen während des Kalten Krieges hatte die Ostsee ja keine zweite Küste. Der „Ostseeraum" als historischer Regionalbegriff war jedoch nicht eine Erfindung von Männikkö und Zerhack, sondern es hatten ihn bereits in der Zwischenkriegszeit Historiker und Geographen benutzt. Der estnische Geo- graph Edgar Kant führte die Idee eines „Baltoscandia" in die Debatte ein, die von dem Litauer Kazys Paktas weiterentwickelt wurde. Das Argument da- für war damals, dass die Baltischen Staaten, Finnland und Skandinavien eine einheitliche und (natürliche) geographische Region formieren, und besonders Paktas schrieb explizit, dass diese Einheit auch ihren Ausdruck in der Po- litik finden sollte.' Der Ostseeraum war auch ein den Historikern vertrauter Begriffsrahmen, aber sie vermieden solche direkten politischen Schlussfol- gerungen wie die Geographen. Die erste (und einzige)4a Konferenz der bal- tischen Historiker (im Sinne der Historiker des Ostseeraums) wurde 1937 in Riga organisiert, und einige Themen aus ihrem Programm zeigen, dass der Ostseeraum seinerzeit von vielen Gelehrten als ein nützlicher Begriffsrah- 2 Klaus Zernack: Koillis-Euroopan historian peruskysymyksiä, in: Faravid 7 (1983), S. 39-52; dt. Fas- sung: Grundfragen der Geschichte Nordosteuropas in: ders.: Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschichte der Ostseeländer, Lüneburg 1993, S. 9-21 3 Eine Fortsetzung der Diskussion bildet Klaus Zernack: Stand und Aufgaben beziehungsgeschichtlicher Forschungen in Nordosteuropa, in: Geschichtsbild in den Ostseeländern 1990 / hrsg. v. Schwedischen Zen- tralamt für Universitäts- und Hochschulwesen und Finnischen Unterrichtsministerium, Stockholm 1991, S. 99-106; vgl. weiterhin ders.: Nordosteuropa (wie Anm. 2). 4 Marko Lehti: Non-Reciprocal Region-Building: Baltoscandia as a National Coordinate for the Estoni- ans, Latvians and Lithuanians, in: NORDEUROPAforum 1998, H. 2, S. 19-47. 4a Auf dem Deutschen Historikertag in Kiel 2004 tagte ein Panel als Conventus secundus historicorum Balticorum; es wurde von Haim Rebas initiiert.

495 Manko Lehti men für geschichtliche Untersuchungen, zumindest in der Mediävistik, ange- sehen wurde. Hier wird der Einfluss der starken Tradition der hansischen Stu- dien fühlbar.5 Das Ostsee-Institut (Instytut Baltycki) in Thom (poln. Tormi) und Gdingen (poln. Gdynia) in Polen und insbesondere dessen in den späten. 1930er Jahren veröffentlichtes Periodikum „Baltic [and Scandinavian] Coun- tries" lieferten ebenfalls wichtige Beiträge zu der Diskussion um den Ostsee- raum.6 Die im Vorwort des Herausgebers zu diesem Periodikum vorgestellte Definition des „Ostseeraums" umfasste die Baltischen Staaten, Polen und drei skandinavische Staaten (Finnland [sicl, Schweden und Dänemark);' Norwe- gen, Russland und Deutschland hingegen sollten nur wenn nötig eingeschlos- sen werden, da ihre Orientierung nicht in erster Linie „baltisch" — „not predo- minantly Baltic in their orientation" — war.' Die Erstreckung des Begriffs „Ostseeraum" auf Deutschland, Russland und Polen war ein klassisches Problem für Jahrzehnte, wobei die Antwort gewöhnlich schon festgelegt ist, wenn das Grundcharakteristikum der Regi- on definiert wird. Mit dem Begriff „Baltoscandia" waren eigentlich alle drei Nationen von dem „Ostseeraum"-Begriff ausgeschlossen. Nichtsdestotrotz wollten viele Wissenschaftler eigentlich nur Russland vom „Ostseeraum" ausschließen, wie es insbesondere in der frühen deutschen Tradition aus den Zwischenkriegsjahren bis hinein in die Nachkriegsjahre der Fall war. 1935 hatte Erich Maschke eine Darstellung veröffentlicht, in der er die Ostsee als ein in erster Linie deutsches Meer definierte — eine Vision, die die politische Atmosphäre der späten 1930er Jahre widerspiegelt.' In den ersten Nach- kriegsjahren wurde diese Tradition von Walther Hubatsch und Johannes Paul fortgesetzt. Interessanterweise beschrieb Hubatsch den Ostseeraum als eine richtiggehende „Seelandschaft Ostsee" (ein Begriff, der auch in die laufende Diskussion passen würde), die in der Interaktion zwischen Mensch und Natur entstanden sei. Er sprach über die Anziehungskraft des Meeres, die zu einer Konzentration menschlicher Aktivität an deren Küsten geführt hatte.' Jedoch war damit das Problem von Deutschland und Russland als Ostseeraumlän- dem nicht zu lösen: Wie konnte man den „Ostseeraum" mit politischen und. nationalen Grenzen zur Deckung bringen? Für Hubatsch waren Hanse und lu-

5 Die Beiträge sind veröffentlicht als: Conventus primus historicorum balticorum = Pirmä Baltijas Wsturnieku Konference, Rigä 16.-20.8.1937 / hrsg. v. Latvijas Vdstures Institiits, Riga 1938. 6 Baltic Countries: a survey of the people and states of the Baltic with special regard to their history, geography and economics, 1-2 (1935-1936). 7 Die Fortsetzung des Periodikums hieß zur Verdeutlichung: Baltic and Scandinavian Countries, 3-5 (1937-1939). 8 Editorial policy, in: Baltic and Scandinavian Countries 3 (1937), H. 1. 9 Erich Maschke: Das germanische Meer: Geschichte des Ostseeraums, Berlin, Stuttgart 1935 (Schriften zur Volkswissenschaft; 11). 10 Walther Hubatsch: Im Bannkreis der Ostsee: Grundriss einer Geschichte der Ostseeländer in ihren gegenseitigen Beziehungen, Marburg 1948.

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therische Konfession der Kern der Kultur des Ostseeraums, und so folgte er mit der neuen Idee von einer historischen Seelandschaft der Tradition, den Ostseeraum als eine Art germanische Subregion zu definieren. Johannes Paul — einst ein aktiver Nationalsozialist — veröffentlichte sei- ne Studie" auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, und so ist es keine Über- raschung, dass nach seiner Ansicht der Kampf zwischen den Slaven und den Germanen charakteristisch für den Ostseeraum gewesen sei und diese Region bis zum Zweiten Weltkrieg zur Sphäre der westlichen Welt gehört habe.12 Das Ende des Kalten Krieges stellte den Ostseeraum in das Scheinwerfer- licht politischer und kultureller Kooperation. Innerhalb eines Jahrzehntes er- reichte er eine starke Position als dynamische Subregion des neuen Europa, in der über 100 Organisationen und Netzwerke von Staaten, Provinzen, Städten und Nichtregierungsorganisationen verknüpft sind. In diesem Prozess des re- gion building ist die Vergangenheit ein Schlüsselargument, um den Ostsee- raum als natürliche Region darstellen zu können.13 Dieser neue Boom griff auch auf die Geschichtsforschung über. In den frühen 1990er Jahren haben zwei Historiker, David Kirby und Matti Klinge, voneinander getrennt den neuen Begriff „Ostseewelt" / „Baltic World" eingeführt, um die Region als ein Ganzes zu beschreiben.14 Trotzdem wäre zu hoffen gewesen, dass diese Rückkehr zum „Ostseeraum"-Begriff Ausgangspunkt von mehr neuen An- sätzen und Fallstudien mit Blick auf die Region geworden wäre. Diese Hin- wendung ist keineswegs ohne Einfluss auf die Geschichtsschreibung geblie- ben, aber auf der anderen Seite hat sich nichts dramatisch verändert, und die Diskussion ist seit den Initialthesen von Männikkö und Zerhack über zwei Jahrzehnte nicht viel weiter vorangekommen. Besonders die Historiker in den nordischen Ländern haben sich fast gar nicht geäußert und die Definition des Ostseeraums den Politikern und Politologen überlassen. Während der letzten Jahre sind die einzigen Ausnahmen in Finnland und Deutschland zu finden, und alles in allem hat Männikkö schon vor 20 Jahren richtig zusammenge- fasst: „Die historische Erforschung des Ostseeraums ist also schon lange und in vielen verschiedenen Ländern betrieben worden, aber das Schlüsselkonzept selbst hat überraschend wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen."15

11 Johannes Paul: Europa im Ostseeraum, Göttingen 1961. 12 Männikkö (wie Anm. 1), S. 9-11. 13 Vgl. Marko Lehti: Possessing a, Baltic Europe: Retold National Narratives in the European North, in: Reinventing Europe: Northem and Baltic Experiences of Post-Cold War Identity Policies / hrsg. v. Marko Lehti und David J. Smith, London 2003, S. 11-49, hier S. 31f. 14 David Kirby: Northem Europe in the Early Modem Period: The Baltic World 1492-1772, London 1990, und ders.: The Baltic World 1772-1993: Europe' s Northem Periphery in an Age of Change, London 1995; Matti Klinge: Die Ostseewelt, Helsinki 1995 (zuerst 1995 als: Itämeren maailma, in zahlreiche Spra- chen übersetzt). 15 Männikkö (wie Anm. 1), S. 6.

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Seit den späten 1970er Jahren haben die vorherrschenden Theorien über den „Ostseeraum" und „Nordosteuropa" diese als historische Regionen defi- niert — größer als Staaten, aber kleiner als Zivilisationen. Zu den letzteren ste- hen jedoch beide Regionen in Beziehung, da sie von vielen als Grenzregionen von zwei Zivilisationen, der östlichen und der westlichen, als Vermittlungs- zonen oder als Konfliktfelder zwischen ihnen angesehen wurden. Dabei hat sich die Diskussion darauf konzentriert, die Hauptcharakteristika zu suchen, die den „Ostseeraum" als historische Region ausmachen. Männikkö und Zemack definierten eine Region durch gemeinsame kultu- relle, wirtschaftliche und/oder politische Strukturen. Den Grenzen des „Ost- seeraums" widmeten sie ihre Aufmerksamkeit nur kurz, und ihre Debatte drehte sich in der Hauptsache um die Frage, wie lang diese Einheit existiert hat: wann diese gemeinsamen Strukturen sich herausbildeten und wann sie verschwanden. Für Männikkö hat der „Ostseeraum" als Region vom Hoch- mittelalter bis in das späte 17. Jahrhundert existiert und seine Blütezeit gehabt. In diesem Zeitraum bildete er nach seiner Meinung eine einheitliche Kultur- zone und einen einheitlichen Wirtschaftsraum; danach lebte er nur noch als Szenerie der Machtpolitik fort.16 Zemack unterstreicht bei dem Gebrauch des von ihm entwickelten Terminus die Existenz von gemeinsamen Strukturen, die den Raum schon während der Wikingerzeit zu einem „Nordosteuropa" zusammenführten, und er glaubt, dass diese Strukturen bis ins 19. Jahrhundert erhalten blieben?' Der Begriff „Ostseewelt" / „Baltic World" bei Kirby und Klinge war für sich genommen ein wichtiger Ansatzpunkt, aber keiner der beiden Gelehrten hat versucht, in eine theoretische Diskussion über die Rolle historischer Re- gionen einzutreten. Sie nahmen den „Ostseeraum" mehr oder minder als eine vorgegebene Szenerie für eine Geschichtsdarstellung vom Mittelalter bis heu- te. Trotzdem versuchten beide, die Hauptzüge der „Baltic World" zu unter- suchen. Für Kirby ist der „Ostseeraum" eine Peripherie Europas mit einem rau- en Klima; die Region war mehr Rezipient als Ausstrahlungspunkt von Kultur.18 Deshalb benutzt Kirby auch „Nordeuropa" und sogar „Europas nördliche Peri- pherie" als Synonyme für den „Ostseeraum". Weiterhin hat seiner Meinung nach der Ost-West-Konflikt den Ostseeraum beherrscht, und in dieser Weise bestätigt er im Grundsatz die Ansichten der Zeit des Kalten Krieges. Klinge unterstreicht in seiner Benutzung des Terminus, dass der Ostsee- raum die Verbindung zwischen den Nationen und Staaten des Nordens und dem übrigen Europa gebildet hat.19 Außerdem führte er drei dynamische Di-

16 Ebda., S. 27 f. 17 Zemack: Koillis-Euroopan (wie Anm. 2), S. 41-51. 18 Kirby: Northern Europe (wie Anm. 14), S. IX-X. 19 Klinge: Ostseewelt (wie Anm. 14), S. 174.

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chotomien ein, die er für die Region charakteristisch hielt: Imperium und Pe- ripherie, Stadt und Land, deutsch und nicht-deutsch.2° Jörg Hackmann inter- pretiert diese Parameter als Dauerprobleme oder Faktoren von historischer Dynamik in der longue dur'ee des Ostseeraums.21 So gesehen kann die erste Dichotomie als der Kampf der Freiheit der kleinen Staaten und Nationen ent- lang der Ostseeküste mit den hegemonialen Zielen der umgebenden Groß- mächte gesehen werden. Je nachdem, ob eine einzige Macht oder eine Mehr- zahl von Mächten die Herrschaft ausübten, war das Ergebnis eine jeweils anders abgegrenzte Region. Die zweite Dichotomie betraf den Ostseeraum nur als Region städtischer Zentren mit der konsequenten Ausdehnung ihres Einflusses in ihr jeweiliges Hinterland. Hackmann hat die dritte Dichotomie allgemeiner interpretiert, indem er in ihr die Spannungen zwischen der Fo- kussierung auf eine einzige Nation und multiethnischen Beziehungen sieht: Hat der Ostseeraum seine eigene dominierende Nation oder ist er eine Kon- taktzone verschiedener Identitäten? Ende der 1990er Jahre flammte in Deutschland und Finnland wieder eine theoretische Diskussion über die Konzepte „Nordosteuropa" und „Ostsee- raum" auf In Deutschland blieb der Nordosten als vorherrschendes Konzept erhalten, während in Finnland die Rolle der See unterstrichen wurde. Jörg Hackmann, Ralph Tuchtenhagen und Stefan Troebst haben sich an der „Nord- osteuropa"-Debatte beteiligt und die Rolle Nordosteuropas als Treffpunkt oder Kontaktzone — der Begriff wird von Troebst verwendet22 — zwischen Os- ten und Norden hervorgehoben. Insbesondere Tuchtenhagen23 hat die engere Interpretation des Begriffs „Nordosteuropa" unterstützt, indem er es als einen räumlich eingeschränkten Grenzraum bzw. eine Übergangszone im östlichen Ostseeraum bezeichnete. Troebst hat seinerseits die Multiethnizität von Kon- taktzonen im allgemeinen unterstrichen. „Nordosteuropa" ist somit nicht klar definiert als kulturelle oder wirtschaftliche Region, sondern eher als ein ab- strakter Raum für Kontakte, Austausch und Interaktion, der sich im Norden bis Murmansk und im Süden bis zu den Küstenregionen Polens erstreckt. In der finnischen Diskussion ist der „Ostseeraum" immer noch der bevor- zugte Terminus geblieben, und die Aufmerksamkeit hat sich auf die Rolle der See anstelle der Region verschoben. Yrjö Kaukiainen begründete seine Sicht- 20 Matti Klinge: Der Ostseeraum als Geschichtsraum, in diesem Buch, S. 487-493, zuerst in: Bibliotheca Baltica: Symposium vom 15.-17. Juni 1992 in der Bibliothek der Hansestadt Lübeck / hrsg. von Jörg Flig- ge u. Robert Schweitzer, München u.a. 1994 (Beiträge zur Bibliothekstheorie und Bibliotheksgeschichte; Bd. 10), S. 20-25. 21 Jörg Hackmann: North Eastern Europe — a useful concept? Vortrag auf dem „Thinking North"-Sym- posium, Eckerö (Aland-Inseln), 5.6.2000 [unveröff. Manuskript]. 22 Stefan Troebst: Nordosteuropa: Geschichtsregion mit Zukunft, in: NORDEUROPAforum 1999, H. 1, S. 53-69. 23 Ralph Tuchtenhagen: „Nordosteuropa", in: Studienhandbuch östliches Europa / hrsg. v. Harald Roth, Bd. 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 73-80.

499 Manko Lehti weise mit der zugleich verbindenden und trennenden Rolle des Meeres.24 Das Meer ist für ihn ein selektiver Verbindungsfaktor — eine Art Filter: zum Bei- spiel hat die örtliche Landbevölkerung keine Möglichkeiten gehabt, das of- fene Meer zu überqueren, so dass der Ostseeraum vor allen Dingen die Welt der oberen Klassen der Gesellschaft blieb. Nach Kaukiainens Ansicht hat die Ostsee als Schifffahrtsstraße in den vergangenen Jahrhunderten Infrastrukturen und Interaktionspraktiken erfordert, die eine kosmopolitische und urbane „Ost- see"-Kultur hervorgebracht haben. Merja-Liisa Hinkkanen und David Kirby unterstreichen ebenfalls die vereinigenden oder zumindest verbindende Ele- mente des Meeres, die sich ihrer Ansicht jedoch nur bis zur Küste und auf mit der Seefahrt verbundene Bevölkerungsteile ausdehnt.25 Besonders heben sie die Bedeutung der Verbindung zwischen der Ostsee und der Nordsee hervor. Max Engman hat die Rolle der städtischen Zentren unterstrichen und eine neue Periodisierung in die Geschichte des Ostseeraums eingeführt.26 Nach Engman kann seine Geschichte in vier Perioden aufgeteilt werden, die jeweils von einer Metropole bestimmt sind. Die Ära Lübecks reichte vom Spätmit- telalter bis zum Aufstieg der Territorialstaaten im frühen 16. Jahrhundert; in dieser Ära waren neben Lübeck Wisby, Danzig (poln. Gdafisk), Riga, Re- val (estn. Tallinn), Wiborg (finn. Viipuri, russ. Vyborg) und Novgorod wich- tige Zentren. Auf diese Ära folgte die Ära Stockholms, die bis zur Niederla- ge Schwedens bei Poltava (1709) dauerte; während dieser Zeit war die Ostsee fast ein schwedisches Binnenmeer. Mit der gleichen Berechtigung könnte man aber statt von der Ära Stockholms auch von der Ära Amsterdams sprechen wegen des wirtschaftlichen und kulturellen Einflusses der Holländer, wenn nicht gar in dieser Zeit Danzig die führende Stadt im Ostseeraum war. Die nächste Periode ist nach Engman die Ära St. Petersburgs, die bis 1917 andau- erte; sie war das Goldene Zeitalter für die Deutschbalten und Finnlandschwe- den, die eine neue kosmopolitische Klasse des multinationalen russischen Imperiums bildeten. Auf die Ära St. Petersburgs folgte die Ära Leningrads, die hauptsächlich von Machtpolitikinteressen bestimmt war.

*** Der Grundgedanke beim Studium historischer Regionen ist die Suche nach über die existierenden Staaten hinausreichenden Räumen, die in ir- gendeiner Weise wichtig für die jeweiligen Zeitgenossen gewesen sind. Die wirkliche Bedeutung der Aussage, dass es einheitliche historische Regionen gebe, die von den jeweiligen politischen Einheiten — zum Beispiel den Terri-

24 Yrjö Kaukiainen: Itämeri, pohjoisen Euroopan Välimeri [Die Ostsee, Nordeuropas Mittelmeer], in: Historiallinen Aikakauskirja 95 (1997), S. 211-217, hier S. 215. 25 David Kirby und Merja-Liisa Hinkkanen: The Baltic and the North Seas, London 2000. 26 Max Engman: Petersburgska vägar [Wege nach Petersburg], Esbo 1995, S. 21-33.

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torialstaaten der Neuzeit — verschieden sind, muss überprüft werden. Wie fin- det man diese Regionen, wie definiert man sie und wie untersucht man sie? In den Untersuchungen unser Zeit ist die Region manchmal nur als eine erwei- terte Szenerie für eine historische Darstellung mit mehren Nationen und Staa- ten als Akteuren gewählt. Zerhack und Männikkö haben sich auf die Identi- fikation einheitlicher Strukturen konzentriert. Für sie sind diese Strukturen in einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Raum omnipräsent. Die Teil- nehmer an der jüngsten „Ostseeraum"debatte heben nicht mehr solche ein- heitlichen Strukturen hervor, sondern suchen verbindende Elemente wie zum Beispiel die See oder die von Interaktionen ausgehende Dynamik. Trotzdem ist es meiner Ansicht nach eine sekundäre Frage, wie die Ein- heit des „Ostseeraums" definiert ist. Viel grundlegender ist, wie man Geo- graphie oder Räumlichkeit versteht. Geographie bildet einen Gesamtrahmen bei der Untersuchung historischer Regionen, weil in diesem Falle die funda- mentale Präsupposition darin besteht, dass Geographie menschliche Gemein- schaften definiert und voneinander unterscheidet. Die Vorstellung von einer historischen Region — so wie sie alle oben genannten Historiker beschrieben haben — geht weitgehend auf Fernand Braudel und seine Interpretation der Mittelmeerwelt zurück.27 Männikkö und Zerhack berufen sich nicht direkt auf Braudel, aber alle anderen beziehen sich auf ihn in ihren Texten. Die Ein- führung des Begriffs „Ostseewelt" ist ebenfalls eine deutliche Rezeption von Braudels Rethorik. An seinem monumentalen Werk — bereits vor gut einem halben Jahrhundert veröffentlicht — kann man sicherlich nicht vorbeigehen, wenn man historische Regionalität analysiert. Seine Hauptidee beruht auf der Vorstellung von drei parallelen Zeitschienen — der Schiene von fast unverän- derlichen geographischen Rahmenbedingungen, der von langsam sich verän- dernden politischen und sozialen Strukturen und der von individuellen Hand- lungen. Danach hilft uns die Geographie, „auch jene strukturellen Realitäten ausfindig zu machen, die sich am langsamsten entfalten, eine Perspektive her- zustellen, deren Fluchtlinien auf die beständigste Dauer [la plus longue dure.e] verweist."28 Aber ohne den Wert von Braudels Werk zu bestreiten, bin ich doch überzeugt, dass diese wirkliche monumentale Monographie kein echtes Vorbild für andere Historiker sein kann — sie ist zu riesig und zu überlastet. Ich bin der Ansicht, dass wir eine viel flexiblere Definition für den „Ostsee- raum" brauchen, als Braudels auf den unveränderlichen geographischen Rah- menbedingungen basierendes Modell anbietet.

27 Fernand Braudel. La mediterranee et le monde mediterraneen ä l'epoque de Philippe II, Paris 1949, 8. Aufl. ebda. 1987; deutsche Fassung: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Frankfurt 1990. 28 Braudel: Mittelmeer (wie Anm. 28), Bd. 1, S. 31.

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Die Diskussion der 1980er Jahre über den Begriff Mitteleuropa öffnete ei- nen alternativen Blick auf Regionalität. Damals hat Milan Kundera die Defi- nition von Mitteleuropa als einer Kulturregion jenseits politischer Realitäten. eingeführt. Es wurde damals eher als eine Geisteshaltung oder sogar ein Pro- gramm beschrieben, denn als eine klar definierte geographische Region.29 Claudio Magris' eloquente Beschreibung des Donauraums ist ein weiteres interessantes Mode11.3° Für ihn ist die Donau als lebende Kraft durch einen Raum geflossen und hat durch die Geschichte hindurch Völker und Gemein- schaften, die an ihren Ufern lebten, miteinander vereinigt und eine einzigar- tige Donau-Kultur oder -Atmosphäre hervorgebracht, die einen Knotenpunkt dessen darstellt, was man als Mitteleuropa bezeichnet. Selbst wenn Deutsch die herrschende Sprache der Kommunikation gewesen ist, liegt diese Welt jenseits von Nationalität und ist durch die Diversität von Identitäten charak- terisiert. Trotzdem haben Mündung und Quelle des großen Flusses nicht ge- rade sehr viel miteinander gemein, und es ist unmöglich zu definieren, wie weit der kulturelle Einfluss über die Flussufer hinausreicht. Aber die Gren- zen des „Ostseeraums" sind auch verschwommen, vage und sich überlagernd, wie in der Tat alle obengenannten Historiker unterstrichen haben. Man muss sich nur an das Problem erinnern, ob Russland als ein Ostseeland betrachtet werden kann. Die meisten Forscher haben Russland explizit aus dem „Ost- seeraum" ausschließen wollen und es als eine Arena des Ost-West-Konflikts gesehen, aber aus meiner Sicht ist es wirklich schwierig, die Rolle von Nov- gorod und Pleskau (russ. Pskov) im Mittelalter und den Einfluss von St. Pe- tersburg auf dem Ostseeraum im 18. und 19. Jahrhundert zu verneinen. Aber wie weit nach Osten erstreckt sich der Ostseeraum nach Russland hinein — bis Pleskau und Novgorod oder noch weiter? Das Grundproblem besteht da- rin, diese stimulierenden Ansichten von Essayisten in eine wissenschaftliche Untersuchung mit den zugehörigen Forderungen nach strengen Kriterien zu überführen. Der entscheidende Nachteil von Braudels Modell ist, dass die geographischen Rahmenbedingungen eine zu passive Bühne sind, obwohl er von dem Einfluss des Menschen auf die Natur zum Beispiel im Fall von Ero- sion durchaus Notiz genommen hat. Braudels Ansicht beruht auf einer Auf- fassung von Geographie, die inzwischen weitgehend aufgegeben und von den Geographen selbst neu definiert worden ist. Infolgedessen muss auch die Defi- nition einer historischen Region revidiert werden. Die jüngste Diskussion hat hervorgehoben, wie stark Geographie ein soziales Konstrukt ist. Anssi Paasi zum Beispiel schreibt über die Geographie: "(It) is actively produced, reprodu- ced, maybe maintained or transformed, in the struggles of individuals, in their

29 Vgl. Maria Todorova: Imagining the Balkans, New York, Oxford 1997, S. 140-160. 30 Claudio Magris: Danubio, Milano 1986, dt.: Donau, Biographie eines Flusses, München 1988.

502 Paradigmen ostseeregionaler Geschichte local, day-to-day practices of life and in the collective forms of practice an a lar- ger spatial scale".31

*** Was wären aber nun die neuen Optionen, den „Ostseeraum", Nordost- oder Nordeuropa zu definieren? Ich schlage drei verschiedene Alternativen vor: Die erste besteht darin, nach Netzwerken zu suchen, die eine Region oder Regionen konstituieren, die zweite läge in der Suche nach Räumen, in denen Kontakte stattfinden — Räumen mit einer Pluralität von Identitäten — und drittens könnten wir auch den Sprachgebrauch der Zeitgenossen unter- suchen und ihre Raumvorstellung — wie sie ihre räumliche Realität mental organisiert haben. Der Begriff „Netzwerk" ist gewiss ein Modebegriff, aber er öffnet tat- sächlich einen alternativen Zugang zur Definition einer historischen Regi- on. In Vergleich zu früheren Sehweisen legt das Konzept eines Netzwerks das Schwergewicht auf Kontakte, Interaktionen und die persönlichen Bezie- hungen von Individuen und Gesellschaften anstelle von Institutionen, der Wirtschaft oder der Kultur als solcher. Dies unterstreicht, dass sich alles ver- ändert und dass es keine feststehenden Bedeutungen gibt. Manuel Castells macht einen Unterschied zwischen hierarchischen Beziehungen und solchen in einem Netzwerk von mehr oder weniger Gleichen." Castells charakterisiert die jetzige Welt als eine Netzwerkgesellschaft, die auf der letzten technolo- gischen Revolution und der Globalisierung der Wirtschaft beruht. Diese Idee kann auch auf die Geschichte angewendet werden, selbst wenn die Welt der Vergangenheit nicht in erster Linie als eine Gesellschaft von Netzwerken an- gesehen werden kann. Anderseits war die Vergangenheit keine Welt von ex- klusiven Gesellschaften. Eine ganze Reihe von Verbindungen zwischen den Gesellschaften lässt sich finden. Auch unter den Bedingungen hierarchischer Beziehungen, die die soziale Basis für eine bestimmte Gesellschaft in einem bestimmten Raum bildeten, haben Netzwerke im Sinne von Castells Sprach- gebrauch einen „Raum der Fließrichtungen" (a space of flows) im Unter- schied zu einem „Raum von Plätzen" (a space of places) geschaffen. Die Hanse hat sicherlich eines oder mehrere Netzwerke dieser Art auf der Grundlage von Interaktion zwischen Städten, aber auch zwischen Bürgern an den verschiedenen Endpunkten des Ostseeraums gebildet. Eine kosmopoli- tische Gruppe von Beamten und Offizieren des kaiserlichen Russlands, die sich zwischen St. Petersburg, den Ostseeprovinzen und dem Großfürstentum

31 Anssi Paasi: Territories, boundaries and consciousness: the changing geographies of the Finnish-Rus- sian border, Chichester 1996, S. 67. 32 Manuel Castells: The Information Age: Economy, Society and Culture, Vol. 1: The Rise of the Net- work Society, Cambridge 1996, S. 423-428.

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Finnland bewegten, bildeten ein ebensolches Netzwerk. Die politische Elite der neu entstandenen Baltischen Staaten mit Einschluss Finnlands und Polens in den 1920er Jahren war ein weiteres solches Netzwerk usw. Der Vergleich mit einem Netzwerk passt auch ausgezeichnet als Definition des gegenwär- tigen Ostseeraums, der auf der Basis von verschiedenen Arten von koopera- tiven Aktionen von Nichtregierungsorganisationen, Nationen, Staaten, Pro- vinzen und Individuen besteht. Diese Netzwerke beruhten auf persönlichen Kontakten zwischen Indivi- duen gleicher sozialer Stellung oder aufgrund wirtschaftlicher Interaktion — oder einfach auf Familienbeziehungen. In der Hansewelt und im Russischen Reich waren die Mitglieder einer einzelnen Familie, insbesondere aus den oberen Klassen, über den gesamten Ostseeraum verteilt. Es scheint in diesen Netzwerken ein bestimmtes Niveau von Gemeinsamkeit im sozialen Raum, aber auch in der Topographie notwendig zu sein, wie es in den Hansestädten der Fall war. Mentale Räume dieser Art, Räume von Fließrichtungen, können nicht so genau definiert werden, haben aber sicher auch existiert, und diese Netzwerke waren von Bedeutung für die Zeitgenossen und haben mit der zu- nehmenden Bedeutung politischer Grenzen Alternativen zu diesen in der Vor- stellung ihrer räumlichen Realität geboten. Wenn man den Netzwerkbegriff verwendet, wird die Definition von Gren- zen bedeutungslos. Worauf man ebenfalls ein Augenmerk richten muss, ist die Existenz verschiedener „Ostseeräume" zur gleichen Zeit — von überlap- penden Netzwerken, die verschiedene Regionen definieren und abdecken. Dies ermöglicht auch die Annahme von und die Suche nach Subregionen — nicht alle Netzwerke müssen die gesamte Weite des Ostseeraums abdecken. Es können auch kleinere Regionen gefunden werden, die sich der aktiven Ko- operation erfreuen. Einer dieser kleineren Räume wäre der finnische Meerbu- sen, wie es Max Engman vertreten hat." Die Netzwerke sind niemals allum- fassend in Zeit und Raum; sie umfassen weder alle Völker noch alle Regionen des Ostseeraums in einer bestimmten Zeit. Wie sollte man das Netzwerk nennen? Bisweilen — wie heutzutage — haben die Zeitgenossen versucht, Netzwerken Namen zu geben, aber das war nicht verbreitet in der Vergangenheit. Es ist aber die Pflicht des Historikers, die hi- storische Existenz solcher Netzwerke aufzuzeigen und ihnen Namen zu geben — also eine Geschichte über sie zu erzählen. Mit Blick auf unsere drei verschie- denen Bezeichnungen für den „Ostseeraum" kann man sagen, dass die Ent- scheidung für einen Namen zugleich ein Argument für den zentralen Knoten- punkt des Netzwerks ist. Wird dieses von der vermittelnden Rolle des Meeres zusammengehalten oder von seiner Funktion als Treffpunkt von Nord und Ost,

33 Engman (wie Anm. 26), S. 33-36.

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West und Ost? Oder ist das subarktische Klima der dominante Faktor hinter dem Prozess der Netzwerkbildung? Nach meiner Auffassung ist die Ostsee die Grundlage für die Mehrheit, wenn auch nicht für alle im Ostseeraum und in Nordosteuropa existierenden Netzwerke der Vergangenheit gewesen. Der Gebrauch der Netzwerk-Metapher schließt jedoch eine wichtige Di- mension der Ostseewelt aus. Kosmopolitische Metropolen wie Riga, St. Pe- tersburg oder Wiborg kann man gut als Symbole für die Region ansehen. Aber wie soll man beispielsweise die Geschichte von einer Stadt erzählen, die von Letten, Deutschen, Juden, Russen, Esten, Polen und anderen bewohnt wurde? Es existierten ja einige verschiedene „Rigas" gleichzeitig. Man dürf- te sogar nicht einmal diese Nationenbezeichnungen benutzen, weil sie sich zu sehr auf Staaten beziehen, während z.B. die Deutschbalten in Riga jahr- hundertealte Wurzeln ausschließlich in ihrer Stadt hatten. Ihre Identifizierung war nicht national vor dem 20. Jahrhundert; bis dahin waren sie ein Volk des Ostseeraums. Für diesen Fall ist die neueste Diskussion in Deutschland inte- ressant und nützlich. Es gibt sicher eine ganze Reihe von Kontakt- oder Über- gangszonen vor allen Dingen im östlichen Ostseeraum — aber die Grundfrage ist, zwischen wem im einzelnen Kontakte bestehen. Riga war mit Sicherheit nicht nur ein Treffpunkt für die orthodoxe, russische Welt mit der westlichen oder deutschen Welt, da es ja auch die nördlichste Spitze der jiddischspra- chigen Kulturzone34 war und ein Punkt, bis zu dem sich die volkssprachige Kultur der Letten erstreckte. Man kann ähnliche multiethnische Regionen in ganz Europa finden — be- sonders in Ländern des Habsburgerreichs und des Osmanischen Reichs. Diese Art von Diversität ist typisch für diese Imperien, aber sie erstreckt sich nicht notwendigerweise über ihr ganzes Territorium. Hauptstädte und wich- tige städtische Zentren in großen Imperien sind immer multiethnisch, multi- kulturell und multikonfessionell. Bezogen auf einzelne Provinzen wird diese ethnische und konfessionelle Diversität mit grenznahen Gegenden wie Sie- benbürgen, dem Banat oder Bosnien assoziiert, aber eine ähnliche Struktur kann auch in wichtigen Übergangszonen wie z.B. Mazedonien entstehen." Die Grenzen der Imperien waren nicht so exklusiv und unzweideutig wie die von Nationalstaaten, sondern es ist in vielen Fällen besser, über Grenzräume zu sprechen, wo Grenzen zwischen sozialen Bedeutungen, Identitäten, Prak- tiken und Loyalitäten miteinander verschwammen. In all dieses Fällen wird derselbe physische Raum von mehreren Gemeinschaften geteilt, und derselbe Raum wird auf dem Wege über verschiedene historische Narrative interpre- tiert. Die Kontakte zwischen Gemeinschaften können eng oder nur lose sein, aber darauf kommt es hier nicht an. Hier geht es eher um die Koexistenz von 34 G&ard Silvain und Henri Minczeles: Yiddishland, Paris 1999, S. 8-18. 35 Todorova (wie Anm. 29), S. 176.

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Gemeinschaften und die Vielzahl von Identitäten in einem begrenzten Raum. Seit dem Ersten Weltkrieg wurde diese Form von Diversität von den neuen Nationalstaaten nicht geduldet. Die älteren Konstellationen wurden in das Schema von Minderheitsfragen gepresst, und Regierungen entwickelten Inte- grations- und Assimilationsprogramme, um Homogenität zu erreichen. Anstelle des Terminus Kontaktzone würde ich den von Hugh Seton- Watson vor über einem halben Jahrhundert eingeführten Begriff „Region ge- mischter Bevölkerung"" vorziehen, weil es bei diesen nicht um die Frage von Kontakten geht, die die Knotenpunkte eines Netzwerkes bilden, sondern über die Vorstellung von miteinander geteilten Räumen. Wenn man meinte, Seton- Watsons Begriff müsste modernisiert werden, könnte man „Raum gemischter Identitäten" wählen. In der Ostseewelt kann man gemischte Räume dieser Art in den großen urbanen Zentren des östlichen Ostseeraums finden, aber auch die früheren Baltischen Provinzen Russlands und Karelien sind solche Räume.

*** Als diese dritte alternative Methode zur Definition von Regionen wäre die Namensgebung (naming) zu untersuchen. Als Denkmodell findet sie sich schon in den 1970er Jahren bei Edward Said,37 aber in ihrer Betonung des methodologischen Ansatzes ist Larry Wolffs ausgezeichnete Studie über die Erfindung Osteuropas am relevantesten." Wolff argumentiert, dass im späten 18. Jahrhundert Europa wegen der veränderten politisch-kulturellen Ordnung eine neue Aufteilung brauchte, und einen neuen Kern — den Westen, der ge- gen ein neues „Anderes" im Osten definiert wurde. Die Nord-Süd-Aufteilung wurde dann langsam von der Ost-West-Aufteilung überlagert. Sprache spielt bei dieser Analyse eine zentrale Rolle, denn wir untersuchen hier Namen und Narrative, die mit geopolitischen Vorstellungen verbunden sind. Daher sind Zeiten des Wechsels oder der abrupten Wende in der Geschichte, wie z.B. das Ende des Kalten Krieges, wichtige Zielpunkte von Untersuchungen, weil an diesen die alten Bedeutungen und Narrative in Frage gestellt und neue erfun- den werden. Dies sind Zeiten, in denen die sich ändernde Welt erneut mental in Besitz genommen werden muss. So kann man neue Namen als Zeichen für die neue Ordnung verstehen.39 Im Falle des Ostseeraums könnte die Frage gestellt werden, wie die jeweiligen Zeitgenossen ihre eigene Realität definiert haben. Welche Arten von Raumkoordinaten und Raumbegriffen haben sie benutzt? Daher zielt eine solche Untersuchung auf die räumliche Imagination ab.

36 Hugh Seton-Watson: Eastern Europe between the wars 1918-1941, Cambridge 1946, S. 270f. 37 Edward Said: Orientalism, London 1978. 38 Larry Wolff: Inventing Eastern Europe: the Map of Civilization an the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994. 39 Zu diesen methodologischen Fragen vgl. ausführlicher Lehti: Possessing (wie Anm. 13), S. 11-13.

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Der früheste Gebrauch der Ostsee in der politischen Rhetorik ist mit dem Kampf um Vorherrschaft im Ostseeraum, um das Dominium marin Baltici verbunden — ein Schlüsselbegriff des 17. Jahrhunderts. Trotzdem war der Ost- seeraum keine Koordinate für Identitätsbildung bis zur Zwischenkriegszeit. Erst diese eröffnete neue Möglichkeiten, den Raum als ein Meer mit kleinen Nationen als Anrainern zu sehen, die sich von Russland und Deutschland ab- grenzten. Die „Ostseeraumkoordinate" war damals vor allen Dingen von Es- ten, Letten und Litauern in Anspruch genommen, aber auch andere nahmen an der Diskussion teil, wie oben gezeigt wurde. Der Kalte Krieg tilgte den „Ostseeraum" aus dem öffentlichen Gedächtnis, aber die Idee kehrte in noch stärkerem Maße und in einer veränderten Form in den späten 1980er Jahren zurück, als es nötig war, die aufbrechende alte Ordnung mit neu erdachten Vorstellungen zu versehen. Für die Neuzeit, insbesondere für das 20. Jahrhundert, muss man im Ge- dächtnis behalten, dass Namensgebung auch ein bewusstes politisches Pro- jekt zur Konstruktion neuer Regionen sein kann.4° So muss man das Augen- merk auf region-builder und ihre Motive richten und bestimmte Verfahren ins Auge fassen, solche Regionen als „natürlich" erscheinen zu lassen. Nicht alle Projekte sind erfolgreich, aber sie alle sind alternative Zukunftsvorstellungen. So kann man die Art, wie Björn Engholm, der Ministerpräsident Schleswig- Holsteins in den späten 1980er Jahren, die „Neue Hanse" propagierte, als ein hervorragendes Beispiel für region-building bezeichnen. Aber selbst damals stand er nicht allein mit seinen Vorstellungen, und die „Neue Hanse" war nicht der einzige Name für die neue Region — den Raum, in dem die alte Ost- West-Teilung überwunden werden sollte:11 Fragt man unter dem Gesichtspunkt der Namensgebung nach einem heute angemessenen Begriff für die Region, sollte „Nordeuropa" der Vorzug gege- ben werden. Dieser Begriff hat eine viel längere Geschichte als die beiden an- deren — „Ostseeraum" und „Nordosteuropa". Es gibt zwei Traditionen für den Begriff des „Nordens". In beiden Fällen bildet Skandinavien das Herzstück der Definition, aber eine öffnet sich nach Osten und bezieht Russland mit ein und oft auch Polen, während der andere nach Süden ausgreift und sich von ei- ner breiteren Tradition der „gotischen" Nationen inklusive Deutschlands und sogar Englands ableitet. Somit kann in östlicher Richtung „Nordeuropa" in- klusiv oder exklusiv in Hinblick auf Russland sein.

40 Iver B. Neumann: A region-building approach to Northern Europe, in: Review of International Studies 20 (1994), S. 53-58; vgl. auch Paasi (wie Anm. 31), S. 35f., 52. 41 Lehti: Region-Building (wie Anm. 4), S. 18-20; und ders., Possessing (wie Anm. 13); vgl. auch Jörg Hackmann: Not only Hansa. Images of history in the Baltic Sea Region, in: Mare Balticum 1996, S. 23-53, hier S. 27-29.

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Im 18. Jahrhundert war der Norden eine Subregion Europas, das sein Gleichgewicht im Spiel der Großmächte zwischen den skandinavischen Rei- chen, Russland, Polen und Preußen suchte.42 Historiker übernahmen diese Aufteilung Europas; das zeigen die „Allgemeine Nordische Geschichte" des St. Petersburger Akademiemitglieds August Ludwig Schlözer43 und ebenso auch Leopold Rankes Essay „Die großen Mächte" von 1833.44 Dieser „Nor- den" im weiteren Sinne wurde langsam von einer neuen Ost-West-Teilung im 19. Jahrhundert überlagert, die den „Norden" auf Skandinavien — den nor- den der skandinavischen Sprachen — beschränkte. Der Wechsel verlief jedoch nicht so schnell, wie Wolff es darstellt. Erst der Krimkrieg, die bolschewis- tische Revolution und der Kalte Krieg waren die letzten Schritte zu einer ex- klusiven Ost-West-Aufteilung, nach der der Norden wirklich auf allein die nordischen Staaten begrenzt war.45 Der frühere Diskurs um den „Norden" war nach Süden hin offen, weil er auf die Idee der gotischen Abstammung aufbaute, die auch von den Deut- schen und Engländern in ihren Nationalmythologien geteilt wurde.46 Diese Gesichtspunkte wurden jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst verges- sen, weil sie durch den Missbrauch der nordischen Themen im nationalsozi- alistischen Deutschland belastet waren.47 Seit jener Zeit ist der „Norden" auf die nordischen Länder beschränkt. Trotzdem brach in den Jahren nach dem Kal- ten Krieg eine neue Diskussion über die nördliche Dimension (Europas) und ei- nen „Neuen Norden" in die alten Bedeutungsgeflechte ein und öffnete den Be- griff „Norden" wieder für eine breitere und vielgestaltige Verwendung.48 „Nordosteuropa" ist ein Begriff, der von Zernack und in seiner Nachfolge von weiteren deutschen Wissenschaftlern Mitte der 1970er Jahren eingeführt worden ist. Dieser Begriff ist hauptsächlich in der akademischen Diskussi-

42 Jeremy Black: The Rise of European Powers 1679-1793, London 1990, S. 158. 43 August Ludwig Schlözer: Allgemeine Nordische Geschichte, Halle 1771. 44 Leopold von Ranke: Die großen Mächte, zuerst in: Historisch-politische Zeitschrift 2 (1833-36), S. 1- 51; separat zuerst Leipzig 1916; auch in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 24, Leipzig 1872, S. 3-40; vgl. dazu Männikkö (wie Anm. 1), S. 6. 45 Robin Okey: Central Europe/Eastern Europe: behind Definitions, in: Past and Present 137 (1992), S. 110 f.; Hans Lemberg: Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert: vom „Norden" zum „Osten" Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, N.F. 33 (1985), S. 90. 46 Patrik Hall: The Social Construction of Nationalism: Sweden as an Example, Lund 1998, S. 151; vgl. Colin Kidd: British Identities before Nationalism: Ethnicity and Nationhood in the Atlantic World 1600- 1800, Cambridge 1999, S. 211-249. 47 Kasimierz Musial: „Nordisch — nordic — nordisk": die wandelbaren Topoi-Funktionen in den deut- schen, anglo-amerikanischen und skandinavischen Diskursen, in: Die kulturelle Konstruktion von Ge- meinschaften: Schweden und Deutschland im Modernisierungsprozess / hrsg. v. Alexandra Bänsch und Bernd Henningsen, Baden-Baden 2001 (Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften im Moderni- sierungsprozeß; 6), S. 95-122. 48 Pertti Joenniemi und Marko Lehti: The Encounter between the Nordic and the Northern: Torn Apart but Meeting Again? in: Reinventing Europe (wie Anm. 13), S. 131-133.

508 Paradigmen ostseeregionaler Geschichte on verwendet worden. Zernack wollte offensichtlich die Bewertung der Rol- le des Meeres relativieren und auch der älteren Tradition, die Ostsee als ein deutsches Meer zu interpretieren, entgegentreten. Für den Gebrauch in wei- teren Kreisen war der Begriff etwas problematisch, weil er den Osten zu ei- ner Zeit einschloss, als niemand zum Osten gehören wollte. Nichtsdestotrotz kommt die neue Verwendung des Begriffes „Norden" dem wissenschaftlichen Begriff „Nordosteuropa" ziemlich nahe, so dass sich daraus auch für den letz- teren Möglichkeiten einer breiteren Verwendung ergeben können. Neben der Analyse von Namensgebungen ist auch die Denkfigur einer „mentalen Landschaft" (mindscape) nützlich, wenn räumliche Imagination un- tersucht wird. In seiner Studie über die deutsche Politik im sogenannten Besat- zungsgebiet Ober-Ost während des Ersten Weltkriegs hat Vejas Liuleviäus die- sen Begriff in den Kontext des Ostseeraums eingebracht." Er sprach von einer „mentalen Landschaft" des „Ostens", um zu beschreiben, wie die Deutschen ein Bild des eroberten Ostens aus verschiedenen Aspekten formulierten — wobei eben das Bild des „Ostens" gar nicht primär geographisch geprägt war. Quellen dieser Art von räumlicher Imagination waren die herrschende Ideen der Geo- politik, die von Geographen und Politikern gleicher Maßen verbreitet wurden — und mit ihnen ein Idealbild einer deutschen „Heimat" als dem Gegenteil von dem Osten, wie man ihn den Deutschen vorführte. Der Osten wurde als ein cha- otischer, ungeordneter, ethnizistisch geprägter, grenzenloser, unzivilisierter und. schmutziger Raum gesehen. Diese mentale Landschaft war nicht nur eine De- finition, sondern auch ein Programm — der Osten war ein Raum, der zu seinem eigenen Besten von anderen regiert und organisiert werden sollte. Neben der mentalen Landschaft des „Ostens" kann man natürlich von mentalen Landschaften des „Nordens" oder „der Ostsee" sprechen. Von den Tagen der alten Griechen und Römer bis zur Erfindung Osteuropas haben die Europäer die Peripherie ihrer Welt in Nordeuropa gesehen. Der Norden reprä- sentierte Marginalität, Brutalität und unzivilisierten Raum mit einem stren- gen Klima. Aber „Nordisch sein" wurde auch für die Identitätsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert benutzt — besonders in Schweden, aber auch anderen- orts wurde ein Bild eines anderen Nordens gezeichnet. Am Anfang war es im Fall Schwedens ein Epitheton für ein Reich, das sein Gravitationszentrum in Europa sehen wollte, und später wurde es eine Eigenschaft einer Nation, die ihren Platz in Europa definierte. Dabei wurde der Norden in erster Linie als eine Art Wiege der Menschheit dargestellt — er war der Ort des verlorenen Paradieses, der versunkenen Atlantis und auch der Urheimat der Goten. Spä- ter, nach der Niederlage bei Poltava, änderte sich die mentale Landschaft des

49 Vejas Gabriel Liulevicius: War Land on the Eastern Front: Culture, National Identity and German Occupation in , Cambridge 1999; dt. als: Kriegsland im Osten: Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002.

509 Manko Lehti

„Nordens" und wurde mehr mit der nordischen Natur verbunden. Nach neu- eren Narrativen steht das Land der klaren blauen Himmel und der weißen Sommernächte für bestimmte Werte wie Ehrlichkeit, Tapferkeit und die Be- scheidenheit seines Volkes.5° In ähnlicher Weise bezog sich „Nordisch-Sein" in Finnland — wie in der Zwischenkriegszeit argumentiert wurde — auf das raue Klima und die endlosen Wälder, die die Finnen als ein ehrenhaftes und nicht von Zivilisation verdorbenes Volk erschaffen hätten.51 Eine solche men- tale Landschaft des „Nordens" war nicht mit den Augen der Außenstehenden gesehen, sondern ein Identitätsnarrativ eines nordischen Volkes, das seinen Platz in Europa und seine eigenen, einzigartigen Charakteristika suchte. Diese mentale Landschaft hat eine Identität von Nation und Staat definiert und da- her politische Programme geprägt.

*** Meine Schlussbemerkungen konzentrieren sich auf weitere Aufgaben der Forschung. Wie gezeigt sind bis jetzt nur wenige Historiker am „Ostseeraum" interessiert. Die Nationalgeschichte dominiert immer noch an seinen Küsten. Heute wird der Begriff „Ostseeraum" immer noch am meisten von Politi- kern und Amateurhistorikern benutzt, um ihre Visionen über eine neue Re- gion zu rechtfertigen. Es ist ziemlich natürlich, dass ihre Narrative auf histo- rische Kenntnissen aus nationen-zentrierter Geschichtsdarstellungen beruhen — aber die nächste Wende in Ostseeraum-Studien sollte von den professio- nellen Historikern eingeleitet werden, die das bessere Handwerkszeug haben, um sich von den alten Narrativen zu lösen. Meiner Meinung eröffnen die Be- griffe „Ostseeraum" (oder „Nordosten" oder „Norden") als Benennungen sti- mulierende Möglichkeiten, ganze Nationalgeschichten neu zu erzählen und sie durch geschichtliche Narrative einer anderen Art zu ersetzen, die über die gegenwärtigen nationalgeschichtlichen Darstellungen hinausgehen und damit auch Möglichkeiten zur Definition einer multiethnischen, vielsprachigen und multikulturellen Region und der einstmaligen Diversität von Identitäten bie- tet. Der Begriff „Ostseeraum" und andere Benennungen können und sollten verwendet werden, um nicht-nationale oder wenigstens transnationale histo- rische Narrative zu schafften und dadurch die Zwangsjacke der nationen-zen- trierten Geschichtsdarstellungen zu durchbrechen.

Aus dem Englischen übersetzt von Robert Schweitzer

50 Bernd Hennigsen: The Swedish Construction of Nordic Identity, in: The Cultural Construction of norden / hrsg. v. Oystein Sorensen u. Bo Sträth, Oslo 1997, S. 91-120, hier S. 97-101, 107-112. 51 Matti Klinge: The Finnish Tradition: Essays an structures and identities in the North of Europe, Hel- sinki 1993, S. 225-235; Joenniemi und Lehti (wie Anm. 49), S. 145-147.

510 ANHANG

Autoren und Herausgeber

Norbert Angermann, Hamburg Prof. Dr. phil., geb. 1936 in Forst in der Lausitz/Deutschland. Promotion über die Livlandpolitik des Zaren Ivan Groznyj, 1977-2002 Lehrtätigkeit im Fach Mittlere und Neuere Geschichte, Schwerpunkt: Osteuropäische Ge- schichte, an der Universität Hamburg, mit Konzentration auf die Geschich- te der baltischen Länder und die deutsch-russischen Handels- und Kulturbe- ziehungen vor Peter dem Großen. Auswärtiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften Lettlands und Zweiter Vorsitzender der Baltischen Historischen Kommission.

Wacholderweg 7a, D-21244 Buchholz [email protected]

Karsten Brüggemann, Hamburg und Tallinn Dr. phil., geb. 1965 in Hamburg/Deutschland. Studium der Geschichte und Ostslawistik an der Universität Hamburg sowie an der Staatlichen Universi- tät Leningrad, Promotion 1999, Dozent für Allgemeine Geschichte am Nar- va Kolleg der Universität Tartu/Estland, Lehrbeauftrager an der Universität Hamburg sowie Projektmitarbeiter (DFG) am Nordost-Institut Lüneburg.

Chemnitzstr. 17, D-22767 Hamburg; Pämu mnt. 131b, EE-11314 Tallinn k.brueggemann@ikgn, karsten.bryggemann@utee

Boguslaw Dybag, Tormi/Thorn Dr. habil., geb. 1958 in Warschau/Polen. Promotion 1988, Habilitation, 1998, 1998-2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Geisteswissenschaft- lichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leip- zig. Seit 2001 Prof. für Geschichte Osteuropas an der Nikolaus-Kopernikus- Universität in Thom, Mitarbeiter im Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2003 Redakteur der Zeitschrift „Zapiski Historyczne".

Uniwersytet Mikolaja Kopemika, Instytut Historii i Archiwistyki, Plac Teatralny 2a, PL 87-100 Toruri [email protected]

513 Autoren und Herausgeber

Klaus Friedland, Heikendorf Prof. Dr. phil., geb. 1920 in Erfurt/Deutschland. Studium der Geschichte und Alten Sprachen in Kiel, Oxford und Bern, Promotion 1952, Gymna- sial- und Universitätslehrer, Schriftführer des Hansischen Geschichtsver- eins und Redakteur der Hans. Geschichtsblätter, Präsident der Internat. See- fahrtsgesch. Kommission CISH bis 1990, Dt. Seefahrtsgesch. Kommission, Association Hist. Northem Seas, Nieders. Hist. Kommission, Mitarbeit an: Neue Deutsche Biographie, Europ. Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Kreienholt 1, D-24226 Heikendorf Fax:+49- (0) 431-5708424

Michael Garleff, Oldenburg Prof. Dr. phil., geb. 1940 in Kiel/Deutschland. Studium der Germanistik, der allgemeinen und osteuropäischen Geschichte in Hannover, Marburg und Kiel, Promotion 1969, Habilitation 1998, Tätigkeit im höheren Schuldienst und als Assistent am Hist. Seminar der Universität Kiel. 1990-2004 am Bundesinsti- tut für ostdeutsche Kultur und Geschichte (jetzt: Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa) in Oldenburg, seit 1997 zunächst kommis- sarischer, 2000 bis 2004 Direktor des Instituts. Seit 1991 Lehrbeauftragter, seit 2002 apl. Professor an der Universität Oldenburg. Ord. Mitglied der Bal- tischen Historischen Kommission und des J. G. Herder-Forschungsrates, seit 2006 Vorsitzender der Carl-Schirren-Gesellschaft Lüneburg.

Wabenweg 22, D-26125 Oldenburg [email protected]

Kristian Gerner, Lund Prof. Dr. phil., geb. 1942 in Piteä/Schweden. Promotion 1985 an der Univer- sität Lund. 1994-2002 Professor für osteuropäische Kultur und Geschichte an der Universität Uppsala. Seit 2002 Professor für Geschichte an der Uni- versität Lund. Seit 2002 Mitglied des Forschungsprojekts „Der Holocaust in der europäischen Geschichtskultur" an der Universität Lund.

Historiska institutionen, Lunds universitet Box 2074, SE-220 02 Lund [email protected]

514 Autoren und Herausgeber

Manfred Gläser, Lübeck Prof. Dr. phil., geb. 1949 in Sulingen/Deutschland. Nach der Promotion Stadtarchäologe in Lübeck, 1991-1994 Direktor des Kulturhistorischen Mu- seums in Rostock. Seit 1994 Leiter des Bereiches Archäologie der Hanse- stadt Lübeck. Lehrtätigkeit an der Universität Kiel. Herausgeber von drei Publikationsreihen und Initiator des Archäologischen Museums in Lübeck.

Hansestadt Lübeck/Fachb. Archäologie, Meesenring 8, D-23566 Lübeck [email protected]

Jörg Hackmann, Greifswald Dr. phil., geb. 1962 in Göttingen/Deutschland. Studium der Geschichts- wissenschaft, Germanistik, Politikwissenschaft und Slavistik in Bonn und an der Freien Universität Berlin, Promotion 1994. Von 1992 bis 1999 Stu- dienleiter und stellvertretender Akademieleiter an der Ostsee-Akademie Travemünde. Seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter für osteuropäische Geschichte am Historischen Institut der Universität Greifswald und Lehr- tätigkeit an den Universitäten in Riga, Tartu und Turku. Vorstandsmitglied des Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrates.

Universität Greifswald, Historisches Institut, Osteuropäische Geschichte, Domstraße 9a, D-17487 Greifswald [email protected]

Eugen Helimski, Hamburg Prof. Dr. phil., geb. 1950 in Odessa/UdSSR. Studium an der Philologischen Fakultät der Universität Moskau, Promotion 1979, Habilitation 1988 an der Universität Tartu, 1974-1998 Tätigkeit an der Akademie der Wissen- schaften und an der Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau, seit 1998 Professor und Geschäftsführender Direktor am Institut für Finnougri- stik/Uralistik der Universität Hamburg.

Institut für Finnougristik/Uralistik, Bogenallee 11, D-20144 Hamburg [email protected]

515 Autoren und Herausgeber

Jürgen Heyde, Halle (Saale) Dr. phil., geb. 1965 in Wolffiagen/Deutschland. Studium der Osteuropäischen Geschichte, Slavistik und Mittleren Geschichte in Gießen, Mainz, Warschau und Berlin; Promotion 1998 an der Freien Universität Berlin, 1998-2003 wiss. Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau; seit 2003 wiss. Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Universität Halle Mitherausgeber der Eesti Ajalooarhiivi Toimetised [Veröffentlichungen des Estnischen Historischen Archivs], Tartu (seit 2001); Mitglied der Polnischen Vereinigung für Jüdische Studien sowie der Baltischen Historischen Kom- mission.

Martin-Luther-Universität, Hoher Weg 4, D-06120 Halle (Saale) [email protected]

Kalervo Hovi, Turku Prof. Dr. phil., geb. 1942 in Oulu/Finnland. Promotion 1975. Seit 1986 Pro- fessor für Allgemeine Geschichte an der Universität Turku, außerdem Lehr- tätigkeit an den Universitäten Oulu und Helsinki. Mitglied der finnischen Akademie der Wissenschaften.

Institut für Geschichte, FIN-20014 Universität Turku [email protected]

Ulla Christine Johansen, Köln Prof. Dr. phil., geb. 1927 in Tallinn/Estland. Studium der Völkerkunde, Ge- schichte, Geographie und orientalistischer Disziplinen. Im Museumsdienst tätig, 1956/57 Feldforschungen bei türkischen Nomaden in Südost-Anato- lien. 1959-61 wissenschaftliche Angestellte der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Leningrad. Habilitation 1968, von 1972-1990 Professor für Völkerkunde an der Universität zu Köln. Seit der Emeritierung 1990 Gastvorlesungen und -seminare in Tartu und Tallinn. Präsidentin der internationalen Gesellschaft Societas Uralo-Altaica.

Institut für Völkerkunde der Universität zu Köln, Albertus Magnus-Platz, D-50923 Köln Ulla. [email protected]

516 Autoren und Herausgeber

Jürate Kiaupienk, Vilnius Prof. Dr. phil., geb. 1947 in Vilnius/Litauen. Studium der Geschichte an der Universität Vilnius, Promotion 1984. 1972-1981 und seit 1988 wissenschaft- liche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte Litauens in Vilnius. Seit 1992 Lehrtätigkeit an der Vytautas Magnus Universität, Kaunas.

Lietuvos istorijos institutas, Kraiiq g. 5, LT-01108 Vilnius [email protected]

Jüri Kivimäe, Toronto Prof. Dr. phil., geb. 1947 in Pärnu/Estland. Studium der Geschichte an der Universität Tartu, Promotion 1981. 1970-1975 wissenschaftlicher Redak- teur beim Enzyklopädieverlag in Tallinn, seit 1972 Lektor an der Universität Tartu, 1975-1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften, 1990-1996 Leiter des Stadtarchivs Tal- linn. Seit 1996 Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Tar- tu und seit 1999 Professor für Geschichte und Inhaber des Lehrstuhls für estnische Studien an der Universität Toronto.

University of Toronto, Dept. of History, 100 St. George Street, Toronto, Ontario, M5S 3G3 Canada [email protected]

Matti Klinge, Helsinki Prof. Dr. phil., geb. 1936 in Helsinki/Finnland. Cand. phil 1959, mag. phil. als "ultimus" (Ehrenstelle) 1960, Promotion 1967. 1968-1975 Dozent an der Universität Helsinki. Professeur associe in Paris (Sorbonne) 1970-1972, Professor der Geschichte an der Univ. Helsinki 1975-2001. Dr. phil. h.c. in Upsala 1989 und in Greifswald 2006, Vorsitzender der Societas Scientia- rum Fennica seit 2004. Mitglied der Königl. Schwedischen Akademie der Geschichte, Literatur und Antiquitäten und anderer Akademien; außerdem Hauptredakteur der Finnischen Nationalbiographie I-VIII (bis X).

Ullankatu 3, FI-00140 Helsinki [email protected]

517 Autoren und Herausgeber

Lea Köiv, Tallinn Geb. 1961 in Haapsalu/Estland. 1979-1984 Studium der Geschichte an der Universität Tartu. (Abschluss mit dem Grad Magister artium) 1984-1991 Geschichtslehrerin in Tallinn. 1991-1996 Archivarin im Stadtarchiv Tal- linn, seit 1996 stellvertretende Leiterin des Stadtarchivs. Seit Herbst 2006 Doktorandin an der Universität Tartu (Kirchenwesen in Reval 1561-1710). Mitglied der Leitung des Verbands der Estnischen Archivare und Mitglied des Herausgeber-Kollegiums der Zeitschrift der estnischen Archive „Tuna".

Tallinna liinarhiiv, Tolli 6, EE-10113 Tallinn [email protected]

Jukka Korpela, Joensuu Prof., Dr. phil., geb. 1957 in Helsinki/Finnland. Studium der Geschichte, Archäologie, römischen Literatur und Jura an der Universität Helsinki, Pro- motion 1987. Tätigkeit im diplomatischen Dienst und als Abteilungsdirektor an der Universität Helsinki sowie als Direktor des Konzert- und Kongress- zentrums der Stadt Mikkeli. Seit 1998 Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Joensuu; Lehrtätigkeit an den Universitäten Helsinki, Jy- väskylä und Petrozavodsk.

Joensuun yliopisto, Historian laitos, P.F. 111, FI-80101 Joensuu [email protected]

Janis Kreslins, Stockholm Geb. 1955 in New York. Studium am Haverford College und an der Harvard University, Promotion 1989 an der Universität Stockholm. Seit 15 Jahren pflegt er die historischen Sammlungen der Königlichen Bibliothek (Kungliga Biblioteket), der Nationalbibliothek Schwedens. In seinen Publikationen ist die komplexe, aber auffallend miteinander verwobene kulturelle Landschaft des europäischen Nordostens während der frühen Neuzeit dargestellt und ana- lysiert, das intellektuelle Milieu geschildert, in welchem sich die Schriftspra- chen mehr als 100 Jahre nach der Reformation entwickelten, verschiedene Identitätsgrenzen verzeichnet und die religiöse Topographie aufgezeigt.

Kungl. biblioteket, Box 5039, SE-102 41 Stockholm [email protected]

518 Autoren und Herausgeber

Marko Lehti, Tampere und Turku Dr. phil., geb. 1965 in Salo/Finnland. Studium der Geschichte an der Uni- versität Turku, Promotion 1998. Seit 2004 Forschungstätigkeit am Institut für Friedensforschung der Universität Tampere und akademischer Leiter des Magisterprogramms für Baltische Studien der Universität Turku.

TAPRI, Yliopistonkatu 58-60 A, FI-33014 Tampereen yliopisto [email protected], [email protected]

Olaf Mertelsmann, Tartu Dr. phil., geb. 1969 in Hamburg/Deutschland. Studium der Geschichte, Germanistik, Erziehungswissenschaft und Finnougristik in Hamburg, Pro- motion 2000. Deutsch-Lektor in Tartu und Novosibirsk, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tartu und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Seit 2005 Assoziierter Professor für Zeitgeschichte an der Uni- versität Tartu.

Tartu Ülikool, Ajaloo Osakond, Lossi 3-418, EE-51003 Tartu [email protected]

Heinz von zur Mühlen, Neubiberg bei München (t) geb. 1914 in Reval (Tallinn)/Estland. Studium der Geschichte, Germani- stik und Kunstgeschichte in Dorpat/Tartu und Breslau 1934-1941, Promo- tion Hamburg 1947, nach Anstellung beim Suchdienst des DRK 1956-1979 im Bundesdienst bei München, Mitglied (1995 Ehrenmitglied) der Bal- tischen Historischen Kommission. Veröffentlichungen: „Reval vom 16.-18. Jh.: Gestalten und Generationen eines Ratsgeschlechts" (1985), wesentliche Teile (Anfänge bis 1710) des Bandes „Baltische Länder" der „Deutschen Geschichte im Osten Europas" (1994) sowie zahlreiche Aufsätze, weiter- hin aus Paul Johansens Nachlass die Arbeiten: „Deutsch und Undeutsch im mittelalterlichen Reval" (1973) und „Balthasar Rüssow als Geschichts- schreiber und Humanist" (1996); Hrsg. des „Baltischen historischen Orts- lexikons" (2 Bde., 1985-1990). Gestorben 2005 in München.

519 Autoren und Herausgeber

Ulrich Müller, Kiel Prof. Dr. phil., geb. 1963 in Hamburg/Deutschland. Studium der Ur- und Frühgeschichte, Mittleren und Neueren Geschichte und Geographie in Kiel, Mainz, Konstanz. Promotion 1992, Habilitation 2000. Seit 2003 Prof. für Ur- und Frühgeschichte in Kiel mit Schwerpunkt Mittelalter und Neuzeit. Mitherausgeber der Offa-Zeitschrift und der Offa-Bücher, der Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters sowie der Studien zur Siedlungsgeschichte und Archäologie der Ostseegebiete.

Universität Kiel, Institut für Ur- und Frühgeschichte, D-24098 Kiel. [email protected]

Aleksandr Sergeevie Myl'nikov, St. Petersburg (t) Prof. Dr., geb. 1929 in Leningrad. Slavist, Historiker und Ethnograph. Stu- dium der Rechtswissenschaft und Geschichte in Leningrad bis 1952, 1958 Kandidat nauk, 1972 Doktor der Geschichtswissenschaft, seit 1977 Profes- sor. Von 1952 bis 1973 Mitarbeiter der Saltykovedrin-Bibliothek in Le- ningrad. Von 1973 bis 1992 Mitarbeiter am Institut für Ethnographie der Akademie der Wissenschaften in Leningrad, 1992-1997 Direktor des Mu- seums für Anthropologie und Ethnographie „Peter der Große" (Kunstkam- mer). Seit 1994 Mitglied der Akademie der Geisteswissenschaften. Gestorben 2003 in St. Petersburg.

Reinhard Nachtigal, Freiburg im Breisgau Dr. phil., geb. 1963 in Freiburg/Deutschland. Studium der Neueren und Osteuropäischen Geschichte, Anglistik und Slavistik an den Universitäten Münster/Westf., Edinburgh und Freiburg/Brsg. Promotion 2000. Wissen- schaftlicher Mitarbeiter beim Freiburger Emeritus für Osteuropäische Ge- schichte, Gottfried Schramm. Veröffentlichungen zu Russland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, zur Behörden- und Militärgeschichte Russlands und Österreich-Ungarns und zu den Russlanddeutschen. Historiker und freier Publizist.

Gerwigplatz 5, D-79102 Freiburg [email protected]

520 Autoren und Herausgeber

Michael North, Greifswald Prof. Dr., geb. 1954 in Gießen. Studium der Osteuropäischen Geschichte, Mittleren und Neueren Geschichte und Slavistik in Gießen, dort Promoti- on 1979, Habilitation 1988 an der Universität Kiel. Wissenschaftlicher Mu- seumsdienst in Hamburg und Kiel. Seit 1995 Professor für Allgemeine Ge- schichte der Neuzeit an der Universität Greifswald; seit 2000 Sprecher des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs „Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostseeraum".

Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Historisches Institut Domstr. 9 A, D-17487 Greifswald [email protected]

Jens E. Olesen, Greifswald Prof. Dr. phil., geb. 1950 in Casablanca/Französ. Marokko. Promotion 1980 an der Universität Aarhus. Seit 1996 Professor für Nordische Geschichte (Skandinavien und Finnland) an der Ernst Moritz Arndt Universität Greifs- wald. Schwerpunkte: Nordische Geschichte und Ostseeraumgeschichte. Herausgeber der Reihen „Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Ge- schichte" und „Nordische Geschichte".

Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Historisches Institut Domstr. 9 A, D-17487 Greifswald olesenguni-greifswald.de

Urmas Oolup, Tallinn Geb. 1956 auf Saaremaa/Estland. 1974-1979 Studium der Germanistik an der Universität Tartu. 1979-1982 Lehrer der deutschen Sprache, seit 1982 im Stadtarchiv Tallinn, 1990-1996 Stellvertretender Leiter des Stadtarchivs seit 1996 Leiter des Stadtarchivs. Mitglied der Leitung der Gesellschaft für Deutschbaltische Kultur in Est- land, des Vorstands des Deutschen Kulturinstituts in Tallinn und des Est- nischen Archivrats.

Tallinna liinarhiiv, Tolli 6, EE-10113 Tallinn [email protected]

521 Autoren und Herausgeber

Tiit Rosenberg, Tartu Prof. Dr. phil., geb. 1946 in Tsirgulinna/Estland. Studium der Geschichte an der Universität Tartu, Promotion 1980. 1972-1977 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Estnischen Akademie der Wis- senschaften. Seit 1977 Lehrtätigkeit an der Universität Tartu, ab 1994 als ordentlicher Professor für Geschichte Estlands. Seit 1995 Präsident der Ge- lehrten Estnischen Gesellschaft.

Möisavahe 20-9, EE-50707 Tartu [email protected]

Valters geerbinskis, Riga Dr. phil., geb. 1969 in Riga/Lettland. Studium der Geschichte an der Uni- versität Lettlands, Promotion 2003. Seit 1997 Forscher am Lettischen His- torischen Staatsarchiv, seit 2002 Dozent und Leiter des Instituts für Poli- tische Studien an der Strading-Universität Riga.

Latvijas Valsts Wstures Arhivs, Slokas 16, LV-1048 Riga [email protected]

Robert Schweitzer, Lübeck Dr. phil., Oberbibliotheksrat, geb. 1947 in Kassel/Deutschland. Studium der Geschichte, Slavistik und Politologie in Marburg/Lahn und Helsinki, Promotion 1978. Wiss. Bibliothekar, Lehrbeauftragter für osteuropäische Geschichte an der Universität Stuttgart (1982-1988), seit 1988 Stv. Direk- tor und Betreuer des Sammelgebiets Ostseeraum an der Stadtbibliothek Lübeck; Sekretär der AG Bibliotheca Baltica. Seit 1991 ehrenamtlicher Forschungsleiter der Aue-Stiftung (Helsinki), Mithrsg. der Zs. „Arcturus", Vorstandsmitglied der Baltischen Historischen Kommission, korrespondie- rendes Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften in Finnland.

St.Jürgen-Ring 11, D-23560 Lübeck [email protected], [email protected]

522 Autoren und Herausgeber

Anti Selart, Tartu Dr. phil., geb. 1973 in Tallinn/Estland. Studium der Geschichte an der Uni- versität Tartu, Promotion 2002, seit 2003 Dozent für mittelalterliche Ge- schichte an der Universität Tartu.

Tartu Ülikooli, Ajaloo Osakond, Ülikooli 18, EE-50090 Tartu [email protected]

Enn Tarvel, Tallinn Prof. emer., Dr. sc. hist., geb. 1932 in Virumaa/Estland. 1950-1955 Studi- um der Geschichte an der Universität Tartu, Kandidat der Geschichtswis- senschaften 1961, Doktor der Geschichtswissenschaften 1972. 1960-1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Estnischen Akademie der Wissenschaften in Tallinn, 1983-1993 außerdem Lehrkraft für Wirtschaftsgeschichte an der ökonomischen Fakultät des Tallinner Polytech- nischen Instituts, seit 1988 als Professor. Von 1993-1998 Professor für Ge- schichte und Kultur des Baltikums und Direktor des Baltischen Forschungs- instituts an der Stockholmer Universität.

Trummi pöik 5A-30, EE-12616 Tallinn [email protected]

Ralph Tuchtenhagen, Hamburg Prof. Dr., geb. 1961 in Karlsruhe/Baden, Deutschland. Studium der Ge- schichte, Skandinavistik und Germanistik in Freiburg i.Br. und Paris. Pro- motion 1992, Universität Freiburg i.Br. 1993-1995 wiss. Mitarbeiter, 1995-2001 wiss. Assistent, 2001-2003 Hochschuldozent an der Universität Heidelberg. Habilitation 2001, Universität Heidelberg. Gastdozent an der Universität des Saarlandes 2002/03. Seit 2003 Professor für Ost- und Nord- europäische Geschichte, Universität Hamburg.

Universität Hamburg, Historisches Seminar, Abt. Europäische Geschichte Von-Melle-Park 6, D-20146 Hamburg [email protected]

523 Autoren und Herausgeber

Klaus Zernack, Berlin Prof. em. Dr. phil., Drs. h. c., geb. 1931 in Berlin/Deutschland. Studium der Geschichte, Slavistik, Nordischen Philologie und Philosophie in Ber- lin, Münster und Uppsala, Promotion 1957 in Münster, Habilitation 1964 an der Universität Gießen, 1965-78 Professor für osteuropäische Geschichte in Frankfurt/M. und bis 1984 in Gießen. Seit 1984 Prof. an der Freien Univer- sität Berlin. Mitglied der Akademien der Wissenschaften in Krakau, War- schau und Berlin.

Friedrich-Meinecke-Institut, FB Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin, Koserstraße 20, D-14195 Berlin [email protected]

524 DER FINNISCHE MEERBUSEN ALS BRENNPUNKT Wandern und Wirken deutschsprachiger Menschen im europäischen Nordosten (enthält die Referate von 27 namhaften Wissenschaftler/innen aus sechs Ländern anläßlich des I. Inter- nationalen Symposiums zur deutschen Kultur im europäischen Nordosten in Tallinn 1995) Helsinki 1998. 407 S. ISSN 1237-7422 Publikation der AUE-Stiftung/Stiftung zur Förderung deutschsprachiger Kultur Herausgeber: Robert Schweitzer und Waltraud Bastman-Bühner 39,— € (Preis zuzügl. Versandkosten. Sonderpreise bei Sammelbestellungen auf Anfrage) Bestellungen bitte an die AUE Stiftung, Munkkiniemen puistotie 18 B 47 FIN - 00330 Helsinki Fax +358-9-485 787 E-mail: sekretariat@ aue-stiftung.org Bestellung/Tilaus: Ex./kpl

Die Stadt im europäischen Nordosten Kulturbeziehungen von der Ausbreitung des Lübischen Rechts bis zur Aufklärung II. Internationales Symposium zur deutschen Kultur im europ. Nordosten, Tallinn (Estland) 1998 der Aue-Stiftung in Zsarb. mit dem Stadtarchiv Tallinn, dem Estnischen Kunstmuseum, der Ostsee-Akademie Lübeck-Trave- münde und dem Deutschen Kul- turinstitut Tallinn Hrsg.: Robert Schweitzer u. Wal- traud Bastman-Bühner unter Mit- arb. v. Jörg Hackmann. 2001. (Veröff. d. Aue-Stiftung/ Aue-Säätiön julkaisuja; 12) • 18 Referate der Sekt. Geschichte u. Kulturgeschichte, u. a. zum Lü- bischen, Magdeburger und Ham- burger Recht in Nordosteuropa, Pilger und Kulturtransfer etc. • 11 Referate der Sekt. Kunstge- schichte, u.a. über Bernt Notke, Hermen Rode, Stadtkirchen in DIE STADT IM EUROPÄISCHEN NORDOSTEN Finnland etc. Kulturbeziehungen von der Ausbreitung des Lübischen Rechts 575 S., 76 Abb., € 46,00 (+ Ver- bis zur Aufklärung sandk./lähetyskulut)

Datum / pvm Unterschrift / allekirjoitus

Adresse / osoite Telefon / puhelin

Bestellungen an: Aue-Säätiö • Munkkiniemen puistotie 18 B / 47 FIN-00330 Helsinki • Finnland Fax +358-(0)9-485787 • [email protected] TURUS

Deutschsprachiger Raum und europäischer Nordosten

3 21:11:15

Deutsch-finnische Juristentagung in Berlin 17.11121E3

Finnlands aussenpolitikstruktur während des Ilst-West-Konfliktes

Botschafter berichten (II)

Preisverleihung der Aue-Stiftung HH

Kulturinstitutionen stellen sich vor (III) Blätter der Aue-Stiftung für Geschichte und Kulturkontakt

Interdisziplinäres Periodicum mit Dokumentationen von Arbeitstagungen der Aue-Stiftung und ihrer Partner, einem Feature-Artikel, einer Serie von Selbstdarstellungen von Kontaktinstitutionen und -vereinen. Erscheint nach Bedarf - bereits 3 Nummern (2003-2006). Nr. 4 ist in Vorbereitung. Einzelpreis ca. 10 € zzgl. Versandkosten. Die Hefte 1-3 im Angebot für 12 €. Zu bestellen über Fax +358-9-485787 oder [email protected]

ach dem Kalten Krieg wurde die Ostseeregion als Geschichtsregion „wieder- entdeckt". Zu ihrer räumlichen Definition wie der Bestimmung ihrer Struk- Nturmerkmale gibt es aber ganz unterschiedliche Ansätze. Für die geschichts- wissenschaftliche Diskussion aktuell ist der Versuch, den Raum als eine historische Großregion Nordosteuropa zu bestimmen. Zum 100. Geburtstag von Paul Johansen (Archivar in Reval/Tallinn, nach 1945 Professor in Hamburg), der dazu frühe Impulse gegeben hatte, versammelten sich an seiner ersten Wirkungsstätte 34 Historiker aus neun Ländern. Themen des Symposiums waren die geographische Bedingtheit der Region, ihre Rolle als Objektraum (für die Hanse, Schweden, Russland, Polen) wie als Subjektraum (als Entfaltungsraum „kleiner Nationen"), mögliche Binnengrenzen (die etwa von Religion, Ethnien und Agrarverfassung bedingt sind) wie Außengrenzen. Dabei zielt die Kon- zeption von Geschichtsregionen nicht auf Ausgrenzungen ab, sondern verdankt ihr analytisches Potenzial der Einbeziehung prägender Faktoren. Die Tagung wurde in bewährter Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Tallinn von der Aue-Stiftung (Helsinki) und der Universität Greifswald mit großzügiger Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln, veranstaltet.

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