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Rechtspopulismus

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bbis2017_01_cover.inddis2017_01_cover.indd 2 228.03.178.03.17 10:2610:26 Heft 1-2017, 67. Jahrgang Thema im Folgeheft:

»Bürger & Staat« wird von der Landeszentrale Bundestagswahl 2017 für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. Direktor der Landeszentrale Lothar Frick Redaktion Prof. Siegfried Frech, [email protected] Inhaltsverzeichnis Redaktionsassistenz Barbara Bollinger, [email protected] Marcel Lewandowsky Was ist und wie wirkt Rechtspopulismus? ...... 4 Anschrift der Redaktion Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart Frank Decker Telefon: 07 11/16 40 99-44 Rechtspopulismus in Europa ...... 12 Fax: 07 11/16 40 99-77 Rolf Frankenberger, Steffen Kailitz Herstellung Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa ...... 18 Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG Alexander Pollak Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Die Stärken der Rechtspopulisten und mögliche Gegenstrategien – Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 74 Das Beispiel Österreich ...... 27 Gestaltung Titel VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart Thomas Handrich Erscheinungsformen und Ursachen des Rechtspopulismus in Polen .....34 Gestaltung Innenteil Schwabenverlag Media Stine Marg der Schwabenverlag AG Besorgte, Wut- und Protestbürger: Gefahr für die Demokratie? ...... 41 Vertrieb Alexander Hensel Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm Rechtspopulisten im Ländle: Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Telefon: 07 31/94 57-0, Fax: 07 31/94 57-2 24 Die Entwicklung der AfD Baden-Württemberg ...... 48 www.suedvg.de Matthias Quent Druck Rechtspopulismus und Radikalisierung: wenn Wut zu Hass wird ...... 55 Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Anja Besand Nach Pegida – Rechtspopulismus als Herausforderung Preis der Einzelnummer 3,33 EUR. für die politische Bildung ...... 63 Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung. Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit Stephanie Garff, Anne Stelzel dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Konsequenzen für die Entwicklung lokaler Handlungsansätze: Kundennummer an. Rechtspopulismus und abwertende Haltungen thematisieren ...... 71 Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht Buchbesprechungen ...... 79 unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder.

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Auflage dieses Heftes: 15.000 Exemplare

Redaktionsschluss: 25.03.2017

ISSN 0007-3121

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bbis2017_01_cover.inddis2017_01_cover.indd 3 228.03.178.03.17 10:2610:26 Nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, in nahezu allen europäischen Gesellschaften gewinnen rechtspopulistische Bewegungen und Parteien an Einfluss. Rechtspopulisten nutzen gezielt subjektive Benachteiligungsgefühle aus, die nicht mit tatsächlichen Nachteilen einhergehen müssen, und schüren die Kritik an Parteien und Politikern. picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 1 27.03.17 16:00 Rechtspopulismus

„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des sich Orientierungsverluste, Statusängste, Zukunftsunsi- Rechtspopulismus“ – so der Politikwissenschaftler Ernst Hil- cherheit und politische Entfremdungsgefühle bestimmter lebrand in der Einführung des von ihm unlängst herausge- Bevölkerungsgruppen zunutze. Analysiert man die ideolo- gebenen Buches „Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für gischen bzw. programmatischen Inhalte sowie die Typolo- die Demokratie?“. Trump, Brexit, AfD: Der Rechtspopulis- gien der rechtspopulistischen Parteien resultieren daraus mus hat 2016 einen ungeahnten Aufschwung erfahren. mehrere Handlungsstrategien. Die Frage nach dem ange- Jenseits und diesseits des Atlantiks konnten Kandidaten messenen politischen Umgang mit Rechtspopulisten bildet und Parteien mit einer harschen Kritik am politischen Esta- den abschließenden Schwerpunkt des Beitrags. blishment bei Wahlen reüssieren. In Deutschland zog die Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien befinden AfD 2016 mit zweistelligen Ergebnissen in fünf Länderpar- sich in Europa im Aufwind. In fast allen europäischen Staa- lamente ein und hat beste Aussichten, im Herbst 2017 den ten haben rechtspopulistische Parteien Sitze im EU-Par- Sprung in den zu schaffen. lament und/oder im nationalen Parlament gewonnen. In Rechtspopulistischen Parteien unterschiedlicher Couleur einigen Ländern sind oder waren sie an der Regierung ist gemeinsam, dass sie sich zugleich nach oben und nach beteiligt. Über die Ursachen, Entwicklungen und Folgen unten abgrenzen. Nach oben erfolgt die Abgrenzung ge- des Aufstiegs rechtspopulistischer und -extremistischer genüber den traditionellen Parteien, deren Repräsentan- Parteien in Europa diskutierten Ursula Birsl, Adrian Vatter, ten, aber auch gegen Journalisten und die Medien. Nach Michael Minkenberg und Daniel Stockemer mit den Mode- unten erfolgt die Abgrenzung gegenüber sozial schwä- ratoren Rolf Frankenberger und Steffen Kailitz im Rahmen cheren Gruppen, gegen Einwanderer, Muslime, Sinti und der Tagung „Regionalismus in einer entgrenzten Welt“ Roma, aber auch gegen Empfänger staatlicher Transfer- (29.09.–01.10.2016). Nach einer Konkretisierung und Ab- leistungen. Rechtspopulismus ist eine eher subtile Spielart grenzung der beiden Begriffe Rechtspopulismus und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und daher we- Rechtsextremismus konzentriert sich die nachfolgend do- niger offenkundig als rechtsextreme Einstellungen. Nicht kumentierte Diskussion auf die Einordnung rechtspopulisti- nur in der Bundesrepublik Deutschland, in nahezu allen eu- scher Parteien sowie auf deren Erfolgsbedingungen und ropäischen Gesellschaften gewinnen rechtspopulistische Wählerklientel. Abschließend wird der Themenkomplex Parteien an Einfluss. Rechtspopulisten nutzen gezielt sub- Einstellungen und politische Kultur erörtert. jektive Benachteiligungsgefühle aus, die nicht mit tatsäch- Am Beispiel von Österreich und Polen wird das Phänomen lichen Nachteilen einhergehen müssen, und schüren die der rechtspopulistischen Konjunktur in Europa exempla- Kritik an der Demokratie bzw. an Parteien und Politikern. risch erörtert. In beiden Ländern kann man beobachten, Länder, die lange Zeit vor rechtspopulistischen Bewegun- welche Regierungspraxis mit dem Rechtspopulismus ver- gen gefeit schienen, sind inzwischen mit rechtspopu- bunden ist. listischen Parteien konfrontiert. Mit den Wahlerfolgen Österreich steht kurz vor einem politischen Dammbruch. rechtspopulistischer Parteien in Deutschland, in Europa, Die rechtsextrem durchsetzte Freiheitliche Partei (FPÖ) der Bildung rechtsgerichteter Regierungen in Polen oder führt seit mehr als einem Jahr stabil in den Umfragen. Der Ungarn und jüngst in den USA stellen sich grundlegende Bundespräsidentschaftskandidat der FPÖ, Norbert Hofer, Fragen: Was ist eigentlich Rechtspopulismus? Welche wurde beinahe in eines der höchsten Ämter des Staates Themen besetzen Rechtspopulisten? Warum bekommen gewählt. Rechtspopulisten und Rechtsextreme haben in rechtspopulistische Parteien einen derartigen Zuspruch? Österreich gute Chancen, in nächster Zeit auf nationaler Marcel Lewandowsky klärt im einführenden Beitrag zu- Ebene in wichtige Machtpositionen zu gelangen. Auf nächst, was unter „Populismus“ und „Rechtspopulismus“ zu Bundesländerebene haben sie das bereits geschafft. Im verstehen ist. Mit den beiden kurzen Formeln „Gegen-die- Burgenland regiert die Sozialdemokratische Partei (SPÖ) da-oben“ und „Gegen-die-da-draußen“ lässt sich das zusammen mit der FPÖ. In Oberösterreich hat die konser- Kernkonzept rechtspopulistischer Parteien prägnant be- vative Österreichische Volkspartei (ÖVP) ein Arbeitsüber- schreiben. In einem weiteren Schritt wird analysiert, wel- einkommen mit der FPÖ geschlossen. Nach einem kurzen che Ursachen den Aufstieg und die Wahlerfolge rechtspo- Abriss der Geschichte des Aufstiegs rechtspopulistischer pulistischer Parteien begünstigen. Abschließend wird nach und rechtsextremer Parteien erörtert Alexander Pollak den politischen Auswirkungen des Rechtspopulismus so- mehrere Fragen: Woher rührt die Stärke der extremen wie nach möglichen Gegenstrategien für die Einhegung Rechten? Was können sie, was die anderen Parteien in Ös- dieses Phänomens gefragt. terreich nicht können? Und welche Gegenstrategien bie- Seit den 1990er Jahren ist der Rechtspopulismus in Europa ten sich für diejenigen an, die für eine offene, von Vielfalt zu einem flächendeckenden Phänomen geworden. Das geprägte Demokratie und gegen rassistische und nationa- Anwachsen rechtspopulistischer Parteien und Bewegun- listische Tendenzen eintreten? gen hat europaweit eine neue Qualität erreicht und das Das Phänomen Rechtspopulismus machte auch vor den politische Koordinatensystem der europäischen Demokra- jungen Demokratien Mittelosteuropas nicht Halt. Im Okto- tien merklich verschoben. Frank Decker erörtert eingangs ber 2015 gewann die Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość/ entlang dreier Phasen das Aufkommen der rechtspopulisti- Recht und Gerechtigkeit) die polnischen Parlamentswah- schen Parteien. In einem zweiten Schritt werden Ursachen len, nachdem wenige Monate zuvor der PiS-nahe Andrzej und Entstehungshintergründe für das Erstarken populisti- Duda als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hervor- scher Parteien und Bewegungen benannt. Frank Decker zu- gegangen war. Neben Ungarn ist Polen der zweite EU- folge sind rechts- und auch linkspopulistische Parteien ein Staat, in dem eine rechtspopulistische Partei eine außeror- Produkt von Modernisierungskrisen. Populisten machen dentliche politische Gestaltungsmacht gewonnen hat. Die

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bis2017_01_inhalt.indd 2 27.03.17 16:00 Programmatik der PiS ist eine rigide national-katholische lisiert und billigt letztlich auch Gewalttaten gegen ge- Ideologie, in deren Zentrum der Nationalstaat als „Be- flüchtete Menschen. Perfide ist das vordergründige wahrer“ von Normen und Moralvorstellungen steht. Der Bekenntnis zum Konservatismus und zur freiheitlich-demo- Aufstieg der rechtspopulistischen PiS ist untrennbar mit der kratischen Grundordnung, die permanent desavouiert und Person von Jarosław Kaczyński verbunden, der – so Tho- in Wort und Tat missachtet wird. Matthias Quent plädiert mas Handrich – als Strippenzieher und Stratege die abso- in seinem Beitrag daher für ein energisches Eintreten der lute Autoritätsperson der Partei ist. Aufstieg und Wahler- Zivilgesellschaft für demokratische Werte: Gegen den folg der PiS sind eine Folge der ökonomischen Entwicklung Hass helfen Haltung, engagierte Gegenrede und Auf- nach dem Ende des Staatssozialismus. Die neoliberale klärung. Spielart des polnischen Kapitalismus hat Verlierer produ- Nach einer Annäherung an den schillernden Begriff Popu- ziert und ins Abseits gedrängt. Die gezielte Ansprache die- lismus skizziert Anja Besand drei Beobachtungen aus ih- ser Menschen durch sozial- und wirtschaftspolitische Ver- rem (Arbeits-)Umfeld: Suchte die Sächsische Landeszent- sprechen garantierte den Wahlerfolg der PiS. rale für politische Bildung den Dialog mit Pegida-Anhän- Trotz vieler Studien und Analysen halten sich hartnäckig gern, sind sächsische Lehrerinnen und Lehrer hingegen Vorurteile über die Dresdner Protestbewegung Pegida. eher zurückhaltend. Aufgrund einer Fehlinterpretation des Stine Marg beschreibt zunächst die unvermittelte Entste- Beutelsbacher Konsenses wird das Phänomen Pegida nur hung Pegidas und wirft sodann einen Blick auf die Pegida- selten im Unterricht thematisiert. Die Angst Studierender Anhänger, die der soliden Mitte und nicht einer prekari- schließlich, sich im Zusammenhang mit diesem Thema auf sierten oder abgehängten Bevölkerungsgruppe zuzurech- Emotionen im Unterricht einzulassen, ist die dritte Beob- nen sind. Des Weiteren ist auffallend, dass die mit Pegida achtung. Die Interpretation dieser drei Beobachtungen Demonstrierenden politisch interessiert sind. Sie äußern mündet in mehrere Schlussfolgerungen: (1) Politische Bil- keine grundsätzliche Unzufriedenheit mit der Idee der De- dung muss inklusiver werden und sich an alle Bürgerinnen mokratie, kritisieren aber vehement das politische Perso- und Bürger richten. (2) Der Beutelsbacher Konsens ist nicht nal, das ihrer Meinung nach in alltagsrelevanten Politikbe- mit einem Neutralitätsgebot gleichzusetzen. Vielmehr gilt reichen über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg es, Kontroversen im Unterricht nicht auszusparen. (3) Politi- entscheidet. Diese öffentlich bekundete Politikverdrossen- sche Bildung ist zwar der Rationalität verpflichtet, ist aber heit darf allerdings nicht verschleiern, dass Pegida-Anhän- genauso auf Emotionen angewiesen. (4) Will man päda- ger durch eine starke Fremdenfeindlichkeit und Islamopho- gogisch angemessen auf Rechtspopulismus reagieren, be- bie geprägt sind und diese Geisteshaltung auch in den darf es einer merklichen Stärkung der institutionellen sozialen Netzwerken kommunizieren. Insofern ist die ab- Strukturen der politischen Bildung. schließende Frage von Stine Marg, ob der von Pegida ge- Stephanie Garff und Anne Stelzel erörtern im abschließen- äußerte Protest ein Indikator gesellschaftlichen Wandels den Beitrag lokale und vernetzte Handlungsansätze, die und gleichzeitiger Ausdruck einer Legitimationskrise ist, Rechtspopulismus und abwertende Haltungen thematisie- politisch durchaus brisant. ren. Das von den Autorinnen betreute und bei der Landes- Für die Entwicklung des Populismus war das Jahr 2016 arbeitsgemeinschaft Offene Jugendbildung Baden-Würt- fraglos von Bedeutung. Nicht nur in zahlreichen Mitglied- temberg (LAGO) angesiedelte Förderprogramm „lokal ver- staaten der Europäischen Union (EU) gelang es rechtspo- netzen – demokratisch handeln“ begleitet Praxisprojekte, pulistischen Parteien, Wählerinnen und Wähler zu mobili- die sich gegen abwertende Haltungen und für eine leben- sieren. In der Bundesrepublik gelang der Alternative für dige Demokratie einsetzen. In Kooperation mit der Landes- Deutschland (AfD) ein spektakulärer Erfolgslauf, der viele zentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) Beobachterinnen und Beobachter überraschte. Erstmals werden lokale Initiativen gefördert, beraten und unter- erzielte die AfD auch bei Landtagswahlen im Westen der stützt. Beide Einrichtungen nehmen eine Scharnierfunktion Republik Ergebnisse deutlich oberhalb der Zehn-Prozent- wahr, indem sie im Dialog mit Praktikerinnen und Praktikern Marke. Gerade in Baden-Württemberg ist die AfD damit wirksame und nachhaltige Handlungsansätze zur Demo- zu einer relevanten Akteurin im regionalen politischen kratieentwicklung vor Ort implementieren und beratend Wettbewerb aufgestiegen. Vor diesem Hintergrund skiz- begleiten. ziert Alexander Hensel die Entwicklungslinien und Cha- Die Beiträge des vorliegenden Heftes gehen auf die Fach- rakteristika des baden-württembergischen Landesverban- tagung „Rechtspopulismus: Befindet sich die Gesellschaft des der AfD. im Krisenmodus?“ zurück, die im Oktober 2016 im Haus auf Erleben wir im Osten der Republik eine neue Spielart von der Alb stattfand. Veranstalter waren die Landeszentrale Rechtspopulismus oder eine popularisierte Form von für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) mit der Rechtsextremismus? Der extrem rechte Flügel um Björn Hö- Stabsstelle „Demokratie stärken“, dem Fachbereich Europa cke, den Thüringer Landesvorsitzenden der AfD, pro- und der Redaktion von „Bürger & Staat“ sowie die Landes- pagiert ein völkisches „Selbstbestimmungsrecht“ und arbeitsgemeinschaft Offene Jugendbildung Baden-Würt- grenzt mit dieser völkisch-nationalistischen Parole andere temberg (LAGO). Allen Autorinnen und Autoren, die we- Ethnien in menschenfeindlicher und antidemokratischer sentlich zum Entstehen des Heftes beigetragen haben, sei Manier gezielt aus. Die Nähe zu rechtsextremen Welt- an dieser Stelle gedankt. Dank gebührt auch dem Schwa- bildern ist offenkundig. „Wutbürgern“ wird so eine Platt- benverlag und der Druckvorstufe für die stets gute und ef- form geboten, um ihre Wut in Hass zu kanalisieren. Dieser fiziente Zusammenarbeit. Hass richtet sich gegen Angehörige marginalisierter Grup- pen und Andersdenkende, plädiert für Selbstjustiz, radika- Siegfried Frech

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bis2017_01_inhalt.indd 3 27.03.17 16:00 WAS IST RECHTSPOPULISMUS? Was ist und wie wirkt Rechtspopulismus? Marcel Lewandowsky

ein konsistentes Programm. Inwiefern er eine (neue?) Form Rechtspopulistische Parteien gewinnen in fast allen eu- des Rechtspopulismus repräsentiert, wird sich erst ex post ropäischen Gesellschaften an Einfluss. Länder, die lange zeigen. Das Beispiel der AfD zeigt wiederum, wie stark die Zeit vor rechtspopulistischen Bewegungen gefeit schie- programmatische Ausrichtung einer Partei in relativ kurzer nen, sind inzwischen mit rechtspopulistischen Parteien Zeit variieren kann. Handelte es sich zunächst um eine eu- konfrontiert. Mit den Wahlerfolgen rechtspopulistischer roskeptische Partei mit gesellschaftlich-konservativem und Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, in Europa, wirtschaftsliberalem Profil, schälte sich im Zuge der weite- der Bildung rechtsgerichteter Regierungen in Polen oder ren Entwicklung eine den rechtspopulistischen Parteien in Ungarn und jüngst in den USA stellen sich grundlegende Westeuropa sehr ähnliche ideologische Ausrichtung her- Fragen: Was ist eigentlich Rechtspopulismus? Welche aus (Lewandowsky 2015; Lewandowsky u. a. 2016). Den- Themen besetzen Rechtspopulisten? Warum bekommen noch rechtfertigt ein gemeinsames ideologisches Kernkon- rechtspopulistische Parteien einen derartigen Zuspruch? zept die Zuordnung zu einer rechtspopulistischen Parteien- Marcel Lewandowsky klärt im einführenden Beitrag zu- familie. Rechtspopulismus besteht nach dieser Lesart zum nächst, was unter „Populismus“ und „Rechtspopulismus“ einen im Populismus, zum anderen aus einer Form rechter zu verstehen ist. Mit den beiden kurzen Formeln „Gegen- politischer Orientierungen, die Cas Mudde als „Nativis- die-da-oben“ und „Gegen-die-da-draußen“ lässt sich mus“ bezeichnet (Mudde 2007: 18 ff.). das Kernkonzept rechtspopulistischer Parteien prägnant Mit den Wahlerfolgen rechtspopulistischer Parteien in Eu- beschreiben. In einem weiteren Schritt wird analysiert, ropa, der Bildung rechtsgerichteter Regierungen in Polen welche Ursachen die Wahlerfolge rechtspopulistischer oder Ungarn und sowie in den USA stellt sich eine ganze Parteien begünstigen. Abschließend wird nach den poli- Reihe grundlegender Fragen, für die die folgenden, an tischen Auswirkungen des Rechtspopulismus sowie nach aktuellen Forschungen angeschlossenen Überlegungen möglichen Gegenstrategien für die Einhegung dieses wenn schon keine erschöpfenden Antworten, so doch zu- Phänomens gefragt. mindest Orientierung bieten sollen. Hierzu soll zunächst geklärt werden, was unter den Begriffen „Populismus“ bzw. „Rechtspopulismus“ zu verstehen ist. Im Anschluss wird es darum gehen, welche Ursachen den Erfolg rechtspopulis- Zur Bestimmung eines umstrittenen Konzepts tischer Parteien begünstigen. Daraufhin soll abschließend nach den politischen Auswirkungen des Rechtspopulismus „Rechtspopulismus“ war lange Zeit ein in der Politikwissen- und nach möglichen Gegenstrategien gefragt werden. schaft höchst strittiger Begriff. Populismus galt nicht als ideologisches Merkmal, sondern eher als Stilmittel; und selbst wo man ihm ideologische Qualität zusprach, er- schien er beliebig und schillernd, sodass eine eindeutige begriffliche Erfassung kaum möglich schien (Decker 2004: 21). Das gilt auch für den Rechtspopulismus im Besonderen. So ist es vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass sich in der Forschung unzählige Begriffe für diese Parteien- familie etablierten (vgl. Mudde 1996; 2007): Anti-Immigra- tionsparteien (van Spanje 2011), rechtspopulistische Par- teien (Decker 2004) oder populistische rechtsradikale Par- teien (Mudde 2007; 2010) bezeichneten im Wesentlichen Rechtspopulisten betonen ihre Vertreterinnen und Vertreter sehr ähnlicher, wenn nicht gar rigorose Parteinahme für das derselben ideologischen Zugehörigkeit. Volk. Sie sehen das Volk durch Das Problem der begrifflichen Zuordnung lag auf der das politische „Establishment“ Hand: Die Parteien nahmen in wesentlichen Punkten zum in seiner Souveränität, durch Teil unterschiedliche Positionen ein. So verfügte der fran- kulturell „Fremde“ zudem in zösische Front National unter seinem Vorsitzenden Jean- seiner Identität bedroht. Die Marie Le Pen lange Zeit über ein extremistisches Profil. Im Warnung vor „Überfremdung“ Vergleich dazu trat die niederländische Lijst Pim Fortuyn ist ein Schlüsselmerkmal (LPF) unter ihrem gleichnamigen Vorsitzenden zwar anti- rechtspopulistischer Fremden- muslimisch, aber prodemokratisch auf. Auch andere Expo- feindlichkeit. Seit dem Anstei- nenten dieser Parteienfamilie, wie die Alternative für gen der Flüchtlingszahlen sind Deutschland (AfD), die Freiheitliche Partei Österreichs Migranten und Asylbewerber (FPÖ) oder die ungarische Fidesz unterscheiden sich zum wieder zum negativen Bezugs- Teil in ihren Positionen. Der jüngst gewählte US-Präsident punkt rechtspopulistischer Donald Trump gilt in der Wahlkampfberichterstattung als Bewegungen geworden. Rechtspopulist, verfügt aber eher über ein eklektisches als picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 4 27.03.17 16:00 Populismus: „Wir“ gegen „die-da-oben“ WAS IST UND WIE WIRKT RECHTSPOPULISMUS? Das erste konstituierende Element der rechtspopulistischen Parteienfamilie ist der Populismus. Populismus – abgeleite- ten vom lateinischen populus (das Volk) – wird umgangs- bei die Rolle zu, den Volkswillen – als einzige politische sprachlich häufig mit opportunistischer Politik gleichge- Kraft – nicht nur zu verteidigen, sondern auch als dessen setzt. Populisten stehen im Verdacht, „dem Volk aufs Maul originäre Sprachrohre aufzutreten. Sie verkörpern das ge- zu schauen“, ohne originär eigene, auch unpopuläre Posi- predigte Politikverständnis, indem sie von ihrem Außensei- tionen zu vertreten. Beliebigkeit definiert den Populismus terstatus im Parteienwettbewerb geradezu zehren (Roodu- allerdings nur vordergründig. Bei genauerer Betrachtung ijn 2014) und sich dabei jenen Wählerinnen und Wählern erweist sich diese Deutung als wenig ertragreich. Der Po- anbieten, die den etablierten Politikern und Parteien skep- pulismus konstituiert sich – im Sinne einer Minimaldefini- tisch bis ablehnend gegenüberstehen. tion – vielmehr einerseits als Appell an das „Volk“, anderer- Die Kritik des Populismus adressiert ein „demokratisches seits durch den Versuch, dieses gegen das politische Esta- Paradoxon“, das repräsentativen Demokratien innewohnt blishment zu mobilisieren (Mudde 2004). Das Volk wird (Canovan 2002; kritisch Abts/Rummens 2007). Es besteht dabei nicht als die Gesamtheit unterschiedlicher Gruppen, in einem Widerspruch zwischen zwei Säulen. Die demo- Interessen und Lebensentwürfe in einem Gemeinwesen kratische Säule garantiert die größtmögliche Teilhabe und verstanden, sondern als eine homogene Interessenge- Souveränität des Volkes. Die liberale bzw. konstitutionelle meinschaft. Populisten sehen sich daher als vox populi; die Säule gewährt verfassungsmäßige Rechte und Schutz, die populistische Auffassung von Politik besteht in der Artikula- in der Konsequenz die Volkssouveränität einhegen und be- tion und Exekution eines einheitlichen Willens. Sie beruht grenzen. Dadurch sind moderne, verfassungsstaatliche nicht auf der Aushandlung widerstreitender Interessen und Demokratien nicht frei von Widersprüchen. Populismus dem Erstreben von Kompromisslösungen, sondern auf der besteht gewissermaßen in der „Überbetonung“ der Volks- unmittelbaren Durchsetzung der Interessen der Mehrheit souveränität gegenüber der konstitutionellen Säule: Gibt (Albertazzi/Mueller 2013: 348). es einen einheitlichen, „schweigenden“ Volkswillen, so sei Die Dichotomie, in der Volk und Establishment voneinander es zum einen demokratisch, diesem auch unmittelbar abgegrenzt werden, beruht auf antagonistischen morali- Ausdruck zu verleihen, und zum anderen undemokratisch, schen Zuschreibungen (Mudde/Rovira Kaltwasser 2012: 8 wenn dieser durch die politischen Eliten nicht vollständig f.). Während der Populismus das Volk mit tugendhaften Ei- exekutiert werde. Frank Decker (2006: 26) bezeichnet dies genschaften belegt (z. B. Ehrlichkeit, Anstand, Fleiß), wer- als „populistisch-plebiszitäre Demokratiekonzeption“. Die den dem politischen Establishment Eigeninteresse, Korrup- Forderung nach der Durchsetzung der Mehrheitsinte- tion und Inkompetenz unterstellt. Aufgrund dieser Dichoto- ressen ist für den Schutz von Minderheiten ebenso blind mie zeichnet der Populismus ein Bedrohungsszenario, in wie für die Einigung durch Kompromisslösungen. Zugleich dem die politische Souveränität des Volkes – also die Um- werben Populisten regelmäßig für die Einführung direkt- setzung seines ungeteilten Willens – durch das Establish- demokratischer Elemente und Verfahren, in denen sie den ment ausgehöhlt wird. Populisten schreiben sich selbst da- institutio nellen Hebel für die Umsetzung des Volkswillens sehen (Decker 2006: 27).

Rechtspopulismus: Gegen „die-da-oben“ und „die-da-draußen“

Bei Populismus handelt es sich um ein Kernkonzept (Mudde 2004), das an unterschiedliche andere Ideologien an- docken kann. Es gibt, abgesehen vielleicht von einigen schillernden Unternehmerparteien wie etwa dem „Team Stronach“ in Österreich, wenige Formationen, die ohne ideologisches Attribut daherkommen. Wenn von originär populistischen Parteien die Rede ist, dann handelt es sich meist um Rechtspopulisten (Decker 2004: 29). Rechtspopu- listen sehen, wie beschrieben, das Volk durch das politi- sche Establishment in seiner Souveränität, durch kulturell „Fremde“ zudem in seiner Identität bedroht. Das apokalyp- tische Szenario, nach dem die angestammte Kultur sich in der Zersetzung befinde, stellt auf innere wie äußere Feind- bilder ab. Dabei stellt die Warnung vor „Überfremdung“ ein Schlüsselmerkmal rechtspopulistischer Fremdenfeind- lichkeit dar. Es richtet sich also gegen Migranten sowie ethnische und reli giöse Minderheiten. Das äußere Feind- bild des Rechtspopulismus ist dabei einem Wandel unter- worfen. Noch in den späten 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre bildeten vor allem Asylbewerber die negati- ven Bezugspunkte rechtspopulistischer Bewegungen; in Deutschland etwa der Republikaner, die insbesondere in

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bis2017_01_inhalt.indd 5 27.03.17 16:00 Baden-Württemberg Wahlerfolge feiern konnten. Im und der Appell an das Volk, also der Populismus, den die Nachgang der Terroranschläge auf New York und Wa- ostmitteleuropäischen Vertreter, wie die Beispiele Polen shington am 11. September 2001 kaprizierten sich die und Ungarn belegen, auch dann ausspielen, wenn sie Rechtspopulisten in Westeuropa auf den Islam. Parteien selbst an der Regierungsmacht sind, sowie die skeptische wie die Dansk Folkeparti, die Freiheitliche Partei Öster- bis ablehnende Haltung gegenüber der Europäischen reichs oder die niederländische Partij Voor de Vrijheid se- Union (ebd.).

Marcel Lewandowsky hen im Islam eine Bedrohung für die westlichen Gesell- schaften. Dabei inszenieren sich die Rechtspopulisten häu- fig als eigentliche Verteidiger der liberalen Gesellschaft Rechtspopulismus und Rechtsextremismus gegen einen atavistischen, antidemokratischen Islam (Le- wandowsky 2012: 392 f.). Zumindest implizit wird der Islam Oftmals entsteht der Eindruck, als würden die Begriffe – den der Rechtspopulismus nicht als Oberbegriff frag- Rechtsradikalismus, Rechtsextremismus und Rechtspopulis- mentierter Deutungen und Glaubensgemeinschaften, son- mus synonym verwendet. Die Begriffe bezeichnen durch- dern als homogene Religion und Kultur begreift – mit dem aus sehr ähnliche Phänomene. Gemein ist ihnen etwa der islamistischen Terrorismus gleichgesetzt. Im Zuge der bereits beschriebene Nativismus, also das Postulat von Flüchtlingsbewegungen in der zweiten Dekade des neuen Vorrechten der autochthonen Bevölkerung gegenüber ver- Jahrtausends haben Rechtspopulisten die Warnungen vor meintlich „Fremden“. Rechtspopulismus und Rechtsextre- „Islamisierung“ und „Überfremdung“ erneut aufgegriffen. mismus – der Einfachheit halber ziehe ich nur diese beiden Auch in der Kampagne des 45. US-Präsidenten Donald Varianten der politischen Rechten heran – unterscheiden Trump fanden sich im Wahlkampf immer wieder deutliche sich allerdings in mehrerlei Hinsicht. Hinweise auf entsprechende Positionen, wie etwa das mit Sicherheitsrisiken begründete vollständige Einreiseverbot Verhältnis zur Demokratie für Muslime. Der wesentliche Unterschied zwischen Rechtspopulismus Es versteht sich von selbst, dass rechtspopulistische Par- und Rechtsextremismus besteht im Verhältnis zur liberalen teien in der Empirie keine einheitliche Parteienfamilie bil- Demokratie (Decker/Lewandowsky 2011: 337). Rechtsext- den, sondern sich nach der Ausprägung des Populismus‘, remisten lehnen wesentliche Bestandteile dieser Staats- ihrer sozio-ökonomischen und ihrer sozio-kulturellen Positi- form ab. Sie präferieren eine autoritär organisierte „Volks- onierung, wenn auch graduell, unterscheiden können (Le- gemeinschaft“, die einerseits durch die gemeinsame eth- wandowsky u. a. 2016). Besonders deutlich fällt dies im nisch-kulturelle Identität, andererseits durch eine dem Vergleich zwischen west- und ostmitteleuropäischen Ver- Führerstaat ähnliche Struktur, mangelnde Gewaltenteilung tretern ins Auge (siehe zum europäischen Vergleich auch und das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit gekennzeichnet ist. den Beitrag von Frank Decker in diesem Heft). Während Diese explizit antidemokratischen Elemente sind im aufgrund des Fehlens einer entsprechenden Migrations- Rechtspopulismus in der Regel nicht zu finden. Im Gegen- geschichte der Islam im mittelosteuropäischen Rechtspo- teil: Rechtspopulisten sehen sich selbst gerade als Vertei- pulismus bislang keine Rolle spielte, kaprizieren sich Par- diger der Demokratie gegen deren vermeintliche Bedro- teien hier vor allem auf ethnische Minderheiten, zuvorderst hung durch „die da oben“ und „die da draußen“. Aus ihrer Sinti und Roma. So spielt der Irredentismus, also die Zu- Sicht schränken die vermeintlich korrupten und unfähigen sammenführung einer Ethnie unter dem Dach der Nation, politischen Eliten die politische Souveränität des Volkes eine ungleich größere Rolle als in den kulturell eurozen- ein, indem sie es systematisch von der politischen trischen Spielarten des westeuropäischen Rechtspopulis- Machtausübung fernhalten. Sie lehnen deshalb nicht die mus (Pirro 2014). Gemein mit ihren westlichen Vertretern ist Strukturen der repräsentativen Demokratie ab, sondern ihnen die Abgrenzung gegenüber den politischen Eliten begegnen dem vermeintlichen Demokratiedefizit von Na-

Abbildung 1: Schemati- sche Darstellung des Rechtspopulismus Quelle: Modifizierte und erweiterte Darstellung nach Berbuir u. a. (2015: 157).

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bis2017_01_inhalt.indd 6 27.03.17 16:00 tionalstaaten zum einen durch grundlegendes Misstrauen WAS IST UND WIE WIRKT in die etablierten Politiker und Parteien, zum anderen durch RECHTSPOPULISMUS? die Forderung nach Volksentscheiden auf allen politischen Ebenen. kriegsgeschichte einfahren können. War der Achtungser- Grad der kulturellen Abgrenzung folg des damaligen FN-Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen, Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen Rechtspo- der bei der französischen Präsidentschaftswahl 2002 noch pulisten und -extremisten besteht in der Qualität der kultu- 16,86 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang auf sich rellen Abgrenzung. Namentlich geht es um die Frage, was vereinte, ein Schock für die politische Öffentlichkeit in im jeweiligen Menschen- und Gesellschaftsbild als „fremd“ Frankreich, so sind hohe zweistellige Wahlergebnisse für gilt. Der Rechtsextremismus basiert auf einem ethnisch- Rechtspopulisten seit einigen Jahren nahezu der Normal- rassistischen Menschenbild (Jaschke 1994: 31). Rechtsext- fall. Selbst Länder, die vor rechtspopulistischen Bewegun- reme Parteien und Bewegungen gehen von der grund- gen gefeit schienen, wie die Niederlande oder die Bun- legenden biologischen Ungleichheit und damit Wertigkeit desrepublik, sind inzwischen mit relativ erfolgreichen Par- von Menschen aus. Ihr politischer Bezugspunkt ist die teien jenseits der Konservativen bzw. Christdemokraten „Rasse“. Die Entwicklung der menschlichen Geschichte in- konfrontiert. terpretieren Rechtsextremisten als Kampf abgrenzbarer Wie konnte es zu diesem Aufstieg kommen, noch dazu in menschlicher Rassen um die Vorherrschaft in Gestalt der dieser Gleichzeitigkeit? Ein einzelner, isoliert wirkender Ausbreitung ihrer Kulturräume. Auch die eigene (natio- Mechanismus, der zur Wahl rechtspopulistischer Parteien nale) Kultur wird im Rechtsextremismus idealtypisch aus führt, kann freilich nicht herausgearbeitet werden. Die Em- der Ethnie abgeleitet. Der Rechtsextremismus interpretiert pirie zeigt hinsichtlich der jeweiligen wirtschaftlichen, ins- menschliche Gesellschaften und ihre Entwicklung also un- titutionellen oder gesellschaftlichen Voraussetzungen ein ter dem Paradigma der „Natürlichkeit“, womit die Unab- hohes Maß an Varianz (Mudde 2007: 201ff.). Auf einem änderlichkeit gesellschaftlicher Unterschiede und Wertig- höheren Abstraktionsniveau lassen sich aber drei Entwick- keiten einhergeht. Im Vergleich dazu stellt der Rechtspo- lungen identifizieren, die den Aufstieg rechtspopulistischer pulismus in der Regel nicht auf die Ethnie ab, sondern auf Parteien begünstigen (Decker 2004: 25 ff.; 2006: 14). Kultur und Religion, die er nicht zwingend an „Rassenun- Ökonomisch profitieren rechtspopulistische Parteien von terschiede“ anbindet (Mudde 2007: 19). Kulturelle und re- den negativen sozialen Effekten der wirtschaftlichen Mo- ligiöse Eigenschaften sind veränderlich. So ist es zu erklä- dernisierung und Globalisierung. Die Verlagerung von Ar- ren, dass sich etwa im französischen Front National oder beitsplätzen – insbesondere im industriellen Sektor – in der Alternative für Deutschland – zu geringen Teilen – Schwellenländer, die damit einhergehende steigende Ar- auch Angehörige ethnischer Minderheiten finden. So beitslosigkeit (und die Angst vor derselben), aber auch die lange sie eine „gelungene Integrationsbiografie“ aus Sicht Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an diese wirt- der Rechtspopulisten vorweisen können, fallen sie nicht schaftlichen Veränderungsprozesse scheinen die Unter- unter das Verdikt, der eigenen nationalen Kultur fremd zu stützung für Rechtspopulisten, die oftmals soziale Gratifi- sein. Diese Unterscheidung ist allerdings zuvorderst ana- kationen versprechen und im gleichen Atemzug Politiker lytischer Natur. In der Empirie zeigen sich immer wieder und Migranten als Sündenböcke identifizieren, zu stärken. Übergänge zwischen kulturellem und ethnischem Rassis- Mit den wirtschaftlichen Veränderungen gehen in zweier- mus. Das liegt unter anderem daran, dass rechtspopulisti- lei Hinsicht kulturelle Wandlungsprozesse einher (Decker sche Parteien allein aufgrund ihres elektoralen Erfolges 2006: 14). Zum einen prägen Migrationsbewegungen vor auch für weitaus extremer eingestellte Personen attraktiv allem die westlichen Gesellschaften nachhaltig. Andere sind, die dann wiederum die Programmatik und die Au- religiöse und kulturelle Orientierungen prägen insbeson- ßendarstellung der Partei prägen. In anderen Parteiensys- dere die städtischen Gesellschaften. Zum anderen hat der temen wiederum existieren sowohl rechtspopulistische als ökonomische und soziale Fortschritt, der etwa in den auch rechtsextremistische Parteien. In Griechenland etwa 1960er und 1970er Jahren in den westlichen Demokratien wird der extremistische Strang durch Chrysi Avgi („Gol- einsetzte, zur Herausbildung postmaterieller Wertorien- dene Morgenröte“) repräsentiert, während mit Anexartiti tierungen (Inglehart 1977), einem relativ toleranten ge- Ellines („Unabhängige Griechen“) eine populistische Par- sellschaftlichen Klima und in der Folge zur größeren Ak- tei sogar an der Regierung beteiligt ist. In Ungarn hat sich zeptanz und Sichtbarkeit anderer sexueller Orientierun- mit Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) eine rechtspopulisti- gen und alternativer Lebensstile geführt. Teile der sche Formation als größte Regierungspartei etabliert, Bevölkerung empfinden die multiethnische, gemeinhin als während der Rechtsextremismus von Jobbik („Bewegung „vielfältig“ apostrophierte Gesellschaft nicht als Verhei- für ein besseres Ungarn“) vertreten wird. ßung, sondern fühlen sich in ihrer eigenen Identität be- droht. Allerdings bilden Modernisierungstheorien die Erfolgsbe- Ursachen für den Wahlerfolg von Rechtspopulisten dingungen der Rechtspopulisten nicht in Gänze ab (Mudde 2007: 205): So bringen Modernisierungsprozesse nicht al- Besetzten rechtspopulistische Parteien in den 1980er und lein rechtspopulistische Parteien hervor, sondern stärken 1990er Jahren eher elektorale Nischen und kamen in der auch andere Gruppierungen. So können in Deutschland Regel nicht über einstellige Wahlergebnisse hinaus, so ha- etwa der Aufstieg der Grünen und der späte Erfolg der ben sie sich in den letzten Jahren fest in den europäischen Partei Die Linke auf unterschiedliche Auswirkungen von Parteiensystemen etabliert und im Nachgang der Wirt- Modernisierungsprozessen zurückgeführt werden. Auf der schafts- und der Flüchtlingskrise in der zweiten Dekade der anderen Seite liegt die Wahrscheinlichkeit, für eine 2000er Jahre die höchsten Wahlergebnisse der Nach- rechtspopulistische Partei zu stimmen, bei jungen, im indus-

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bis2017_01_inhalt.indd 7 27.03.17 16:00 triellen Sektor beschäftigten Männern mit formal niedriger Parteienwettbewerb ein. Werden die Rechtspopulisten Bildung auch relativ hoch (Arzheimer/Carter 2006). Dabei von den Etablierten geächtet, so bleibt ihr impact auf das handelt sich um jene soziale Gruppe, die von den Negativ- politische System freilich gering (Minkenberg 2001: 18). folgen der Globalisierung mit am stärksten betroffen ist. Mit steigenden Wahlergebnissen sind die gemäßigten Generell zeigen die Befunde jüngerer Arbeiten jedoch, Parteien links und rechts der Mitte gezwungen, auf die He- dass die sozio-ökonomische Situation kein zufrieden- rausforderer zu reagieren. Dabei spielt es eine wichtige

Marcel Lewandowsky stellender Prädiktor für die Unterstützung von Rechtspopu- Rolle, wie die Mainstream-Parteien selbst ideologisch listen ist. Ausschlaggebend ist vielmehr, inwiefern sich ausgerichtet sind. Für Parteien rechts der Mitte ist der An- Menschen subjektiv von sozialem Abstieg bedroht sehen reiz, ihre Positionen denen der Rechtspopulisten anzuglei- (Spruyt u. a. 2016). chen, größer als für linke Parteien (Han 2015: 571). Gleich- Ob sich die aus diesen strukturellen Veränderungen erge- wohl haben in der Vergangenheit auch sozialdemokrati- benden sozialen Folgen auch tatsächlich in Unterstützung sche Parteien schon versucht, ihre Positionen denen der für rechtspopulistische Parteien niederschlagen, hängt Rechtspopulisten anzupassen, bezahlten dies allerdings maßgeblich von der Übersetzungsleistung des politischen in vielen Fällen mit Stimmenverlusten und internen Konflik- Systems ab. Politische Parteien fungieren als Scharniere ten (Bale u. a. 2010). zwischen den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger Allerdings geht eine Regierungsbeteiligung auch an den und dem politischen System. Versagt dieser Mechanismus, Rechtspopulisten selbst nicht spurlos vorbei. Indem sie sich können rechtspopulistische Parteien die entstehenden Ni- vor der Wahl als Alternative zum politischen Establishment schen besetzen (Norris 2005: 52). Politisch profitieren empfehlen und radikale, einfache Lösungen anbieten, ste- Rechtspopulisten also vom sinkenden Vertrauen in die Pro- hen sie als Teil einer Regierung in der Pflicht, ihre Verspre- blemlösungskompetenz der etablierten Parteien sowie Po- chungen auch umzusetzen. Die österreichische FPÖ schei- litikerinnen und Politiker, der zunehmenden Komplexität terte während ihrer Regierungsbeteiligung zwischen 2000 des Regierens in supranationalen Entscheidungssystemen und 2007 auf spektakuläre Weise (Heinisch 2003). So ver- sowie von der gefühlten, zunehmenden ideologischen lor die Partei nicht nur massiv an Zuspruch, sondern hatte Ähnlichkeit der etablierten Parteien nach dem Epochenum- auch die Abspaltung des Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) bruch und dem Wegfall der Systemalternative nach zu verkraften. Auf der anderen Seite zeigen die zum Teil 1989/1990. Immerhin ist es auch genau das, was die langjährigen Regierungen rechtspopulistischer Parteien in Rechtspopulisten dem politischen Mainstream regelmäßig Italien, Ungarn oder Polen, dass ein Scheitern keineswegs unterstellen. Tatsächlich argumentieren einige Autoren, ausgemacht ist. Gerade in Parteiensystemen mit zersplit- dass ideologische bzw. programmatische Konvergenz der terter Opposition können die Rechtspopulisten sich an der etablierten Parteien den Erfolg der politischen Rechten bei Regierung für eine weitere Amtszeit empfehlen. Einmal an Wahlen begünstigt (Spies/Franzmann 2011). Rechtspopu- der Macht, zeitigt der Populismus Konsequenzen für die li- listische Parteien gewinnen also nicht bei denen, die tat- berale Demokratie, wie sich in Ungarn und Polen sehen sächlich sozial abgehängt sind, sondern dies so empfin- lässt. Der Kampf gegen Institutionen wird weitergeführt: den oder sich von sozialem Abstieg bedroht sehen und die durch Einschränkungen der Pressefreiheit, durch Verfas- sich zugleich von politischen Entscheidungsprozessen aus- sungsänderungen (Müller 2016: 70ff.) geschlossen glauben (Spruyt u. a. 2016). In Deutschland etwa weisen sowohl die Wähler als auch die Programma- tik der AfD ein hohes Maß an Parteienverdrossenheit auf Gegenstrategien (Schwarzbözl/Fatke 2016). Wie sieht es nun mit den Gegenstrategien aus? Tatsäch- lich gibt es hierzu noch keine breit angelegten Vergleichs- Auswirkungen des Rechtspopulismus studien (Mudde 2007: 243), sondern lediglich eine Reihe fallbezogener Arbeiten. Folglich lässt sich empirisch auch Erhalten rechtspopulistische Parteien bei Wahlen Zu- keine eindeutig erfolgreiche Strategie ableiten. Welche spruch, ziehen sie in die Parlamente ein oder schließen sie Gegenstrategien die anderen politischen Parteien wählen nach Stimmenanteilen gar zu den etablierten Parteien auf, und inwiefern diese dann tatsächlich zur Schwächung der so stellen sich zwei zentrale Fragen. Erstens: Welche Aus- rechtpopulistischen Herausforderer führen, dürfte von den wirkungen haben rechtspopulistische Parteien auf das Par- jeweiligen Kontextbedingungen abhängen. Gleichwohl teiensystem? Zweitens: Welche Konsequenzen hat umge- hat William S. Downs (2012: 25 ff.) einige Metastrategien kehrt die Etablierung im Parteiensystem auf die Rechtspo- identifiziert, die als Folie für den Umgang mit Rechtspopu- pulisten selbst? Bewahrheitet sich hier die weit verbreitete listen fungieren können und hier grob dargelegt werden Ansicht, dass sich die Parteien, einmal im Parlament oder sollen.1 an der Regierung, selbst entzaubern, weil sie den Pro- Dabei unterscheidet er zwei grundlegende Kontinuen, auf testansprüchen ihrer Wählerschaft nicht mehr gerecht denen sich die Strategien anordnen lassen. Das erste Kon- werden können? tinuum fußt auf in der Frage, inwieweit die Akteure des po- Bleiben wir zunächst bei den Auswirkungen auf die etab- litischen Mainstreams bereit sind, die intolerante Position lierten Parteien. Rechtspopulistische Parteien sind in ei- der jeweiligen Partei selbst zu tolerieren. Das andere Kon- nem gewissen Sinne „Nischenparteien“ (siehe Meguid tinuum fragt danach, zu welchem Grad sich die anderen 2005), was im Wesentlichen bedeutet, dass sie sich, Parteien strategisch mit den Rechtspopulisten auseinan- jenseits der klassischen Konfliktlinien des politischen dersetzen. Wettbewerbs, auf spezifische Themen konzentrieren. Auf dieser Grundlage können vier Basisstrategien unter- Rechtspopulistische Parteien bringen vor allem konserva- schieden werden (vgl. Abbildung 2). Die erste setzt darauf, tive bis xenophobe migrationspolitische Positionen in den rechtspopulistische Parteien weder positiv noch negativ in

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bis2017_01_inhalt.indd 8 27.03.17 16:00 die politische Auseinandersetzung einzubeziehen ( Igno- WAS IST UND WIE WIRKT rieren). Es versteht sich von selbst, dass dieses Vorgehen RECHTSPOPULISMUS? mit Problemen verbunden ist, je erfolgreicher die rechtspo- pulistische Partei ist. Spätestens dann, wenn sie Abgeord- nete in einem Parlament stellt, sind die anderen Akteure wären „echte“ Koalitionen, wie sie beispielsweise zwi- gezwungen, in irgendeiner Form auf sie zu reagieren. Die schen der Österreichischen Volkspartei und der Freiheitli- zweite Basisstrategie fußt darauf, der intoleranten Ideolo- chen Partei Österreichs auf der Bundesebene stattfanden. gie der Rechtspopulisten mit militanter Ablehnung zu be- Theoretisch wäre aber auch eine regelrechte Form der gegnen, sie aber wie in der ersten Strategie in keiner Form Normalisierung denkbar, in denen Rechtspopulisten im strategisch einzubeziehen (Isolation). Das entspricht in wei- politischen Diskurs wie jede andere Partei behandelt wer- ten Teilen der Strategie, mit der man über Jahrzehnte den. rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien in Wie eingangs bereits genannt, lässt sich keine einzelne Deutschland begegnete. Ein Beispiel hierfür ist der „Schwe- Strategie ausmachen, die – gemessen an sinkenden Wahl- riner Weg“, auf den sich die demokratischen Parteien in ergebnissen für die Rechtspopulisten – allein erfolgreich Mecklenburg-Vorpommern einigten, nachdem die Natio- wäre. Deren vermeintliche „Entzauberung“ an der Regie- naldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 2006 erst- rung trifft etwa auf das Scheitern der FPÖ bzw. des BZÖ in mals in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern ein- Österreich oder der Lijst Pim Fortuyn in den Niederlanden gezogen war. Dabei ging es vor allem darum, keine Initia- zu. Die FPÖ zerbrach in der Regierungskoalition zwischen tiven zu unterstützen, die die NPD in den Landtag 2000 und 2007 demnach nicht an dem externen Druck, einbrachte, sie also auf parlamentarischer Ebene zu isolie- den andere europäische Staaten und Organisationen auf ren. Zugleich fällt hierunter eine ganze Reihe anderer Stra- Österreich aufbauten, sondern an internen Konflikten und tegien, etwa rechtliche Schritte, in denen Rechtspopulisten mangelnder Professionalität (Fallend/Heinisch 2016: 338). aufgrund öffentlicher Aussagen strafrechtlich belangt Demgegenüber wurden die dänischen und schweizeri- werden. Die dritte Strategie beschreibt Downs als Koopta- schen Rechtspopulisten für ihre Regierungsperformanz so- tion. Dabei ächten die Parteien des politischen Main- gar noch an der Wahlurne belohnt (Akkerman/de Lange streams die rechtspopulistischen Parteien, sind aber offen 2012: 595). Auf der anderen Seite kann die Isolations- bzw. für Formen (punktueller) Zusammenarbeit. Man könnte bei- Stigmatisierungsstrategie in Deutschland angesichts der spielsweise Tolerierungsmodelle hierunter subsumieren, Wahlerfolge der AfD zumindest zeitweise als gescheitert wie sie in Dänemark oder den Niederlanden praktiziert angesehen werden. wurden: Dabei verzichteten bürgerliche Regierungspar- teien auf eine Koalition mit der Dansk Folkeparti bzw. der Partij Voor de Vrijheid, waren aber im Parlament auf deren Fazit Unterstützung angewiesen. Die letzte Strategie besteht in der realen Kooperation. In dieser Variante sind die Parteien In den vorangegangenen Ausführungen wurde zunächst des politischen Mainstreams bereit, mit den Rechtspopulis- dargestellt, welche ideologischen Inhalte Populismus im ten zusammenzuarbeiten. Sie bringen also selbst ein ho- Allgemeinen und Rechtspopulismus im Besonderen kenn- hes Maß an Toleranz gegenüber der Intoleranz auf und zeichnen. Dabei wurde gezeigt, dass Populismus im We- entscheiden sich zugleich für eine starke strategische Ein- sentlichen den Appell an das Volk und dessen Mobilisie- bindung. Ein typisches Beispiel für ein solches Vorgehen rung gegen das politische Establishment bezeichnet, wäh-

Militancy

Ban/Isolate Co-opt Tolerance of Intolerance Tolerance Ignore Collaborate

Tolerance

Disengage Engage Abbildung 2: Basisstrate- Extent of Strategic Engagement gien für den Umgang mit Rechtspopulisten Quelle: Downs (2012: 31).

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bis2017_01_inhalt.indd 9 27.03.17 16:00 Marcel Lewandowsky

„No Pegida!“ steht am Skate- park in Dresden gesprüht. Eine vor allem von linken Aktivisten praktizierte Gegenstrategie fußt darauf, der intoleranten Ideologie der Rechtspopulisten mit militanter Ablehnung zu begegnen. picture alliance/dpa

rend Rechtspopulismus diesem Kernkonzept die Ablehnung LITERATUR kulturell „Fremder“ hinzufügt. Im Nachgang wurde darge- Abts, Koen/Rummens, Stefan (2007): Populism versus Democracy. In: Poli- stellt, welche Ursachen für das Erstarken rechtspopulisti- tical Studies, 2/2007, S. 405–424. scher Parteien ausgemacht und welche möglichen Gegen- Akkerman, Tjitske/de Lange, Sarah L. (2012): Radical Right Parties in Office: strategien seitens des politischen Mainstreams identifi- Incumbency Records and the Electoral Cost of Governing. In: Govern- ment and Opposition, 4/2012, S. 574–596. ziert werden können. Albertazzi, Daniele/Mueller, Sean (2013): Populism and Liberal Democra- Der Aufstieg der rechtspopulistischen Parteien und Bewe- cy: Populists in Government in Austria, Italy, Poland and Switzerland. gungen in West- und Mittelosteuropa sowie zuletzt in den In: Government and Opposition, 3/2013, S. 343–371. Arzeimer, Kai/Carter, Elisabeth (2006): Political Opportunity Structures Vereinigten Staaten stellt sowohl die liberalen Kräfte der and Right-wing Extremist Party Success. In: European Journal of Political Zivilgesellschaft als auch die Parteien des politischen Research, 3/2006, S. 419–443. Mainstreams vor ein nahezu unlösbares Dilemma. Auf der Bale, Tim/Green-Pedersen, Christoffer/Krouwel, André/Luther, Kurt Rich- ard/Sitter, Nick (2010): If You Can’t Beat Them, Join Them? Explaining einen Seite müssen sie sich als bessere Alternative zu den Social Democratic Responses to the Challenge from the Populist Radical Herausforderern empfehlen, auf der anderen Seite sind sie Right in Western Europe. In: Political Studies, 3/2010, S. 410–426. selbst eben jenes politische und gesellschaftliche Estab- Berbuir, Nicole/Lewandowsky, Marcel/Siri, Jasmin (2015): The AfD and its Sympathisers: Finally a Right-wing Populist Movement in Germany? In: lishment, das einen wachsenden Teil der Bevölkerung nicht German Politics, 2/2015, S. 154–178. mehr erreicht. Die Probleme sind zum Teil hausgemacht. Po- Canovan, Margaret (2002): Taking Politics to the People. Populism as the litische Entscheidungen, die aufgrund vermeintlicher Ideology of Democracy. In: Mény, Yves/Surel, Yves (Hrsg.): Democra- cies and the Populist Challenge. Basingstoke, S. 25–44. „Sachzwänge“ getroffen wurden, der teilweise Abbau des Decker, Frank (2004): Der neue Rechtspopulismus. Opladen. über Jahrzehnte gewachsenen Wohlfahrtsstaates und die Decker, Frank (2006): Die populistische Herausforderung. Theoretische zunehmende soziale Verunsicherung sind nicht zuletzt auf und ländervergleichende Perspektiven. In: Decker, Frank (Hrsg.): Popu- lismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv? Wiesba- Reformprojekte zurückzuführen, für die die etablierten Par- den, S. 9–32. teien – insbesondere die Sozialdemokratie – die Verant- Decker, Frank/Lewandowsky, Marcel (2011): Populismus. Erscheinungsfor- wortung tragen und die viele ihrer Wähler nachhaltig von men, Entstehungshintergründe und Folgen eines politischen Phäno- mens. In: Agard, Olivier/ Helmreich, Christian/Vinkel-Roisin, Hélène ihnen entfremdet hat. Zugleich ist es offenbar nicht gelun- (Hrsg.): Das Populäre. Untersuchungen zu Interaktionen und Differen- gen, auf antimodernistische Reflexe eine Antwort zu fin- zierungsstrategien in Literatur, Kultur und Sprache. Göttingen, S. 331– den. Eben dies kann ein Hinweis darauf sein, dass die Par- 351. Downs, William S. (2012): Political Extremism in Democracies. Combating teien in Westeuropa von weiten Teilen der Bevölkerung Intolerance. Basingstoke. abgekoppelt sind. Fallend, Franz/Heinisch, Reinhard (2016): Collaboration as Successful Die steigenden Wahlerfolge der Rechtspopulisten und die Strategy against Right-wing Populism? The Case of the Centre-right Coalition in Austria, 2000–2007. In: Democratization, 2/2016, S. 324– wachsende Akzeptanz ihrer Positionen in weiten Teilen der 344. Bevölkerung dürfte die Debatte um mögliche Gegenstra- Han, Kyung Joon (2015): The Impact of Radical Right-Wing Parties on the tegien jedenfalls intensivieren. Ob es gelingt, die zum Teil Positions of Mainstream Parties Regarding Multiculturalism. In: West European Politics, 3/2015, S. 557–576. strukturellen, langfristigen Entkopplungsprozesse in kurzer Zeit aufzufangen, dürfte allerdings fraglich sein.

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bis2017_01_inhalt.indd 10 27.03.17 16:00 Heinisch, Reinhard (2003): Success in Opposition – Failure in Government: Explaining the Performance of Right-wing Populist Parties in Public Of- WAS IST UND WIE WIRKT fice. In: West European Politics, 3/2003, S. 91–130. RECHTSPOPULISMUS? Inglehart, Ronald (1977): The Silent Revolution: Changing Values and Po- litical Styles among Western Publics. Princeton. Jaschke, Hans-Gerd (1994): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit.

Begriffe, Positionen, Praxisfelder. Opladen. UNSER AUTOR Lewandowsky, Marcel (2012): Rechtspopulismus als Herausforderung für die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. In: Krell, Christian/ Mörschel, Tobias (Hrsg.): Demokratie in Deutschland. Zustand, Heraus- forderungen, Perspektiven. Wiesbaden, S. 389–411. Lewandowsky, Marcel (2015): Eine rechtspopulistische Protestpartei? Die AfD in der öffentlichen und politikwissenschaftlichen Debatte. In: Zeit- schrift für Politikwissenschaft, 1/2015, S. 121–135. Lewandowsky, Marcel/Giebler, Heiko/Wagner, Aiko (2016): Rechtspopu- lismus in Deutschland: Eine empirische Einordnung der Parteien zur Bundestagswahl 2013 unter besonderer Berücksichtigung der AfD. In: Politische Vierteljahresschrift, 2/2016, S. 247–275. Meguid, Bonnie M. (2005): Competition Between Unequals: The Role of Mainstream Party Strategy in Niche Party Success. In: American Politi- cal Science Review, 3/2005, S. 347–359. Dr. Marcel Lewandowsky, Jg. 1982, ist Wissenschaftlicher Mitar- Minkenberg, Michael (2001): The Radical Right in Public Office: Agen- da-setting and Policy Effects. In: West European Politics, 4/2001, beiter am Institut für Politikwissenschaft der Helmut-Schmidt-Uni- S. 1–21. versität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Seine Forschung Mudde, Cas (1996): The War of Words Defining the Extreme Right Party konzentriert sich auf Parteien und Parteiensysteme und im Beson- Family. In: West European Politics, 2/1996, S. 225–248. Mudde, Cas (2004): The Populist Zeitgeist. In: Government and Opposi- deren auf den Rechtspopulismus im europäischen Vergleich. tion, 4/2004, S. 542–563. Mudde, Cas (2007): Populist Radical Right Parties in Europe. Cambridge. Mudde, Cas (2010): The Populist Radical Right: A Pathological Normalcy. In: West European Politics, 6/2010, S. 1167–1186. Mudde, Cas/Rovira Kaltwasser, Cristóbal (2012): Populism and (Liberal) Democracy. A Framework for Analysis. In: Dies. (Hrsg.): Populism in Eu- rope and the Americas. Threat or Corrective for Democracy? Cam- Spruyt, Bram/Keppens, Gil/van Droogenbroeck, Filip (2016): Who bridge, S. 1–26. Supports Populism and What Attracts People to It? In: Political Re- Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Ein Essay. Frankfurt am search Quarterly. URL: https://www.researchgate.net/publication/ Main. 299412979_Who_Supports_Populism_and_What_Attracts_People_ Norris, Pippa (2005): Radical Right: Voters and Parties in the Electoral to_It [17.11.2016]. Market. Cambridge. Van Spanje, Joost (2011): The Wrong and the Right: A Comparative Ana- Pirro, Andrea L. (2014): Populist Radical Right Parties in Central and East- lysis of ‘Anti-Immigration’ and ‘Far Right’ Parties. In: Government and ern Europe: The Different Context and Issues of the Prophets of the Opposition, 3/2011 46 (3), S. 293–320. Patria. In: Government and Opposition, 4/2014, S. 600–629. Rooduijn, Matthijs (2014): The Nucleus of Populism: In Search of the Lowest Common Denominator. In: Government and Opposition, 4/2014, S. 573–599. ANMERKUNGEN Schwarzbözl, Tobias/Fatke, Matthias (2016): Außer Protesten nichts ge- wesen? Das politische Potenzial der AfD. In: Politische Vierteljahres- 1 Downs bezieht sich in seinen Ausführungen allgemein auf pariah par- schrift, 2/2016, S. 276–299. ties (dt. etwa „geächtete Parteien“). Aufgrund ihrer ideologische Positio- Spies, Dennis/Franzmann, Simon T. (2011): A Two-Dimensional Approach nierung und ihrer Ablehnung im politischen Diskurs bilden rechtspopulis- to the Political Opportunity Structure of Extreme Right Parties in Western tische Parteien deren Teilmenge, sodass die Strategien auch im Speziellen Europe. In: West European Politics, 5/2011, S. 1044–1069. auf den Umgang mit ihnen angewendet werden können.

Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg. Direktor der Landeszentrale: Lothar Frick Redaktion: Prof. Siegfried Frech, Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99-77 Herstellung: Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit), Telefon (07 11) 44 06-0, Telefax (07 11) 44 06-174 Vertrieb: Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm, Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm, Telefon (07 31) 94 57-0, Telefax (07 31) 94 57-224, E-Mail: www.suedvg.de Preis der Einzelnummer: EUR 3,33, Jahresabonnement EUR 12,80 Abbuchung. IMPRESSUM Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

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bis2017_01_inhalt.indd 11 27.03.17 16:00 RECHTSPOPULISTISCHE PARTEIEN UND BEWEGUNGEN IN EUROPA Rechtspopulismus in Europa Frank Decker

mehr mit seinen Erfolgen als mit einer nachlassenden Emp- Seit den 1990er Jahren ist der Rechtspopulismus in Eu- fänglichkeit der Wählerinnen und Wähler für die rechtspo- ropa zu einem flächendeckenden Phänomen geworden. pulistischen Botschaften zu tun haben. Ein Beleg dafür ist, Das Anwachsen rechtspopulistischer Parteien und Bewe- dass der Populismus auf die etablierten Parteien des politi- gungen hat europaweit eine neue Qualität erreicht und schen „Mainstreams“ immer stärker übergriff. Diese mach- das politische Koordinatensystem der europäischen De- ten sich nicht nur die Themen der rechtspopulistischen Ak- mokratien merklich verschoben. Frank Decker erörtert teure zu eigen, sondern auch deren Politikstil. Zugleich kam eingangs entlang dreier Phasen das Aufkommen der es zu einem Aufschwung linkspopulistischer Parteien und rechtspopulistischen Parteien. In einem zweiten Schritt Bewegungen, die manches von dem, was die Wählerinnen werden Ursachen und Entstehungshintergründe für das und Wähler umtrieb, glaubwürdiger adressieren konnten Erstarken populistischer Parteien und Bewegungen be- als ihre rechten Kontrahenten. Zwei – sich häufig auch in nannt. Frank Decker zufolge sind rechts- und auch links- Parteienform überlappende – Spielarten des Populismus populistische Parteien ein Produkt von Modernisierungs- nehmen die christdemokratisch-konservativen und sozial- krisen. Populisten machen sich Orientierungsverluste, demokratischen Parteien heute in ihren Zangengriff – ein Statusängste, Zukunftsunsicherheit und politische Ent- kapitalismuskritischer und/oder wohlfahrtschauvinistisch fremdungsgefühle bestimmter Bevölkerungsgruppen zu- geprägter Sozialpopulismus und ein kulturalistisch unter- nutze. Nimmt man die ideologischen bzw. programmati- fütterter Anti-Islam-Populismus. schen Inhalte sowie die Typologien der rechtspopulis- In Westeuropa lässt sich das Aufkommen der rechtspopu- tischen Parteien in den Blick, so resultieren daraus listischen Parteien in eine Vorreiter-, Haupt- und Nachzüg- mehrere Handlungsstrategien. Die Frage nach dem an- lerphase einteilen. Vorreiter waren die zu Beginn der gemessenen politischen Umgang mit Rechtspopulisten 1970er Jahre in Dänemark und Norwegen entstandenen bildet den abschließenden Schwerpunkt des Beitrags. Fortschrittsparteien. Beide verstanden sich zunächst als antiwohlfahrtsstaatliche Steuerprotestparteien, bevor sie ab Mitte der 1980er Jahre die Einwanderung als neues Schlüsselthema für sich entdeckten. Aus der dänischen Das politische Koordinatensystem europäischer Fortschrittspartei ging 1995 die Dänische Volkspartei her- Demokratien verschiebt sich vor. Unter allen Parteien des westeuropäischen Rechtspo- pulismus sind die dänischen und norwegischen Vertreter Seit Mitte der 1980er Jahre ist es in zahlreichen westeuro- heute neben der Schweizerischen Volkspartei am stärksten päischen Ländern zur Herausbildung einer neuen und zu- in ihre jeweiligen politischen Systeme integriert. gleich neuartigen Parteienfamilie gekommen, für die sich in der Wissenschaft und im journalistischen Sprachgebrauch der Begriff „rechtspopulistisch“ eingebürgert hat.1 Als die Neuankömmlinge am rechten Rand (Front National, Lega Nord, Vlaams Blok, FPÖ) in ihren Ländern auf den Plan tra- ten und die ersten Wahlerfolge erzielten, war man noch geneigt, sie als flüchtige Protesterscheinungen abzutun, wie es sie in den westlichen Demokratien – auch in popu- Das Anwachsen rechtspopulis- listischer Gestalt – schon immer gegeben hatte. Es tischer Parteien hat europaweit herrschte also die Erwartung, dass die Herausforderer eine neue Qualität erreicht über kurz oder lang wieder auf Normalmaß zurückgestutzt und das politische Koordina- und aus den Parteiensystemen ganz verschwinden wür- tensystem merklich verscho- den. Die weitere Entwicklung sollte dies gründlich widerle- ben. Anfang des Jahres fand in gen. Nicht nur, dass die Rechtspopulisten ihre Stellung ver- Koblenz der Kongress „Freiheit teidigen und sogar noch weiter ausbauen konnten. Das für Europa “ statt, auf dem sich Phänomen begann sich nun auf andere westeuropäische rechtspopulistische Politikerin- Länder auszudehnen und machte auch vor den neuen De- nen und Politiker inszenierten, mokratien Mittelosteuropas nicht Halt. In einigen Ländern ein „Jahr der Patrioten“ und repräsentieren Rechtspopulisten dort heute sogar die ein nationalistisches Europa Hauptströmung im Mitte-Rechts-Lager, in Polen etwa die beschworen. Das Bild zeigt Partei Recht und Gerechtigkeit, in Ungarn Fidesz.2 Geert Wilders, den Vorsitzen- Nach einem kontinuierlichen Aufwuchs bis zum Jahre 2000 den der Partij voor de Vrijheid neigte sich die Erfolgskurve der rechten Herausforderer bis der Niederlande, Mitte der 2000er Jahre zunächst leicht nach unten; da- (AfD) und Marine Le Pen, Vor- nach stieg die Resonanz wieder deutlich an. Der Rechtspo- sitzende des Front National pulismus erfasste jetzt auch Länder, die von ihm vorher ver- (FN) in Frankreich. schont geblieben waren. Das zwischenzeitliche Tief dürfte picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 12 27.03.17 16:00 In die 1980er Jahre fielen Gründung und Durchbruch der RECHTSPOPULISMUS IN EUROPA Parteien, die seither den harten Kern des Rechtspopulismus umschreiben: Front National in Frankreich, Vlaams Blok (später: Vlaams Belang) in Belgien und Lega Nord in Ita- lien. Die schon seit 1956 bestehende Freiheitliche Partei Einen Sonderfall des europäischen Populismus stellt der Österreichs (FPÖ) wurde zur selben Zeit unter Jörg Haider von dem italienischen Blogger und Komiker Beppe Grillo in eine rechtspopulistische Partei transformiert. Der Front 2009 gegründete MoVimento 5 Stelle (Fünf-Sterne-Bewe- National war von Jean-Marie Le Pen bereits 1972 gegrün- gung) dar, der – ohne ein dezidiert linkes Profil aufzuwei- det worden, fristete aber bis Anfang der 1980er Jahre ein sen – programmatisch zwar eher der linkspopulistischen Schattendasein. Keinen durchschlagenden Erfolg hatten Familie zuzuordnen ist, sich im Europaparlament aber ge- die 1983 als Abspaltung von der CSU entstandenen Repu- meinsam mit UKIP und den Schwedendemokraten der blikaner in Deutschland, die nach einigen spektakulären rechten Fraktion „Europa der Freiheit und Demokratie“ Landtagswahlergebnissen (in Berlin und Baden-Württem- (EFDD) angeschlossen hat. Bei den italienischen Parla- berg) ab Mitte der 1990er Jahre wieder in der Bedeu- mentswahlen 2013 erzielte die neue Gruppierung auf An- tungslosigkeit versanken. hieb 25,6 Prozent der Stimmen, womit sie nur knapp hinter Seit den 1990er Jahren ist der Rechtspopulismus in Europa den beiden großen Parteien lag; bei den Europawahlen zu einem flächendeckenden Phänomen geworden. Als 2014 kam sie auf 21,2 Prozent. Nachzügler des harten Kerns traten zuerst auf: die 1994 aus der Taufe gehobene Sammlungspartei Forza Italia des italienischen Medienunternehmers Silvio Berlusconi und Ursachen und Entstehungshintergründe die von Christoph Blocher auf einen rechtspopulistischen Kurs geführte Schweizerische Volkspartei (SVP). In den Populistische Parteien und Bewegungen sind ein Produkt 2000er Jahren folgten die niederländische Liste Pim von Modernisierungskrisen. Sie entstehen, wenn in einer Fortuyn, aus deren „Konkursmasse“ 2006 die von Geert Gesellschaft die Balance „von wirtschaftlichen Notwen- Wilders angeführte Partij voor de Vrijheid hervorging, die digkeiten, sozialstrukturellen Machtverteilungen und kultu- United Kingdom Independence Party (UKIP), die bereits rellen Bewusstseinsformen in Bewegung gerät.“3 Der ameri- 1993 gegründet worden war, aber erst bei den Europa- kanische Historiker Lawrence Goodwyn bezeichnet solche wahlen 2009 ihren Durchbruch erzielte, die ebenfalls be- Konstellationen als „populistischen Moment.“4 Verläuft der reits 1995 als Nachfolger der finnischen Landpartei ent- gesellschaftliche Wandel zu rasch oder erzeugt er (zu) standene Partei Die Finnen, die 2011 nach einer Verfünffa- starke Verwerfungen, erleiden bestimmte Bevölkerungs- chung ihres Stimmenanteils zur drittstärksten Kraft des gruppen Orientierungsverluste, die mit Statusangst, Zu- Landes aufstieg, und die 2013 gegründete Alternative für kunftsunsicherheit und politischen Entfremdungsgefühlen Deutschland (AfD). In Schweden, wo der Etablierungsver- einhergehen. Populisten, die sich dies zunutze machen, hat such der rechtspopulistischen Neuen Demokratie zu Beginn es auch zu früheren Zeiten gegeben – etwa die ausgangs der 1990er Jahre noch erfolglos geblieben war, konnten des 19. Jahrhunderts in den USA entstandene Populist Party die rechtsextremen Schwedendemokraten ihr Ergebnis bei (der das Phänomen seinen Namen verdankt) oder die Pou- den Parlamentswahlen 2010 und 2014 jeweils verdoppeln. jadisten in der IV. Französischen Republik. Dabei handelte es sich jedoch um historisch versetzte Erscheinungen, wäh- rend für die heutigen Populismen gerade ihr zeitliches und räumliches Zusammentreffen kennzeichnend ist. Weil im Zuge der beschleunigten Globalisierung die Gesellschaf- ten in ihrer Problembetroffenheit immer enger aneinander- rücken, teilen sie auch die durch die Negativfolgen der Mo- dernisierung ausgelösten populistischen Reaktionen. Ökonomisch zeigen sich diese Folgen in steigender Lohn- konkurrenz und einen allmählichen Abbau wohlfahrts- staatlicher Sicherungen, der die Polarisierung zwischen Arm und Reich verschärft. Wachsende Teile der Mittel- schicht sehen sich von Abstieg bedroht. Die Betroffenen müssen dabei nicht zwingend objektive Verluste erleiden (des Einkommens oder des Arbeitsplatzes). Entscheidend ist das Gefühl der eigenen Benachteiligung, das sich aus der Orientierung an bestimmten Erwartungen oder Refe- renzgruppen ergibt. Ein solches Gefühl kann sich auch bei Gewinnern einstellen, wenn sie glauben, im Verteilungs- kampf von anderen ausgenommen zu werden. In kultureller Hinsicht bedeutet Globalisierung, dass Diffe- renzen des Lebensstils und der moralischen Orientierung sichtbarer werden. Da sich die Migration heute – anders als früher – in zunehmendem Maße auf Angehörige ande- rer Kulturkreise erstreckt, verwandeln sich die einstmals homogenen Nationen über kurz oder lang in multiethni- sche und -kulturelle Gesellschaften. Die Konfrontation mit den Fremden wird von Teilen der eingesessenen Bevölke-

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bis2017_01_inhalt.indd 13 27.03.17 16:00 Der griechische Ministerpräsi-

Frank Decker Frank dent Alexis Tsipras am Redner- pult anlässlich einer Sitzung des Zentralkomitees der sozia- listischen Partei Syriza. Seit dem Ausbruch der Eurokrise konnten linkspopulistische Parteien wie Syriza und Pode- mos vor allem in den südlichen Krisenländern reüssieren. Die Kritik an der Austeritätspolitik, die die Südländer aus ihrer Sicht zu „wirtschaftspolitischen Befehlsempfängern“ degra- dierte, konnte von der popu- listischen Linken glaubhaft vertreten werden. picture alliance/dpa

rung als Verlust der hergebrachten Identität empfunden. rungsverlierer-These lassen sich sowohl sozialstrukturell Dieser Verlust wiegt umso schwerer, als im Zuge von Indivi- als auch auf der Einstellungsebene finden.6 Männer, junge dualisierungsprozessen auch andere Gruppenbindungen und mittlere Altersgruppen sowie niedrige bis mittlere in Auflösung geraten. formale Bildungsabschlüsse sind unter den Wählerinnen Soziale Unsicherheit und Entfremdung führen schließlich und Wählern überdurchschnittlich vertreten. Mit dem Sie- dazu, dass Teile der Gesellschaft sich politisch nicht mehr geszug des „Neoliberalismus“ wandten sich seit den repräsentiert fühlen. Da der Staat seiner souveränen 1990er Jahren über die Angehörigen des alten Mittel- Handlungsfähigkeit durch die Globalisierung zunehmend stands hinaus Arbeiter und Arbeitslose vermehrt dem beraubt wird, kann er dies nicht mehr ohne weiteres durch Rechtspopulismus zu. Die Wählerzusammensetzung nä- Leistungssteigerung wettmachen. Verlorene Handlungs- herte sich dadurch der linkspopulistischen/-sozialistischen spielräume lassen sich zwar auf der supra- und transnatio- und sozialdemokratischen Konkurrenz an. Auf der subjekti- nalen Ebene partiell zurückgewinnen; gerade dadurch ven Ebene hat sich gezeigt, dass die Wahlbereitschaft po- werden sie aber der demokratischen Kontrolle und Beein- pulistischer Parteien unter anderem mit starker politischer flussbarkeit entzogen, die bislang ausschließlich im natio- Unzufriedenheit, xenophoben Einstellungen und fehlen- nalstaatlichen Rahmen ihren Platz hatten. dem sozialen Vertrauen zusammenhängt. Weil auch viele Hatte es zu Beginn der 2000er Jahre noch Anzeichen für Anhänger linker Parteien konservativ-autoritäre Wertvor- eine allmähliche Erschöpfung der populistischen Mobili- stellungen hegen, gibt es hier ebenfalls starke Überschnei- sierungsfähigkeit gegeben, so verschärften die am 11. Sep- dungen mit deren Wählerschaft. tember 2001 in den USA beginnende Serie islamistischer Richtet man die Aufmerksamkeit auf die Parteien im Einzel- Terroranschläge, die durch die Bürgerkriege im Nahen nen, geraten neben den allgemeinen Ursachen eine Reihe Osten und die sich verschlechternde Lebenssituation in von anderen Bedingungen in den Blick, die stärker system- großen Teilen des afrikanischen Kontinents und den Län- und kontextspezifisch interpretiert werden müssen. Legt dern des südlichen Balkans seit 2013 stark ansteigenden man die oben vorgenommene Einteilung zugrunde, dürften Flüchtlingszahlen sowie die 2007 ausgebrochene Finanz- die länderbezogenen Unterschiede bei den politischen und Eurokrise diese allgemeinen Tendenzen.5 Während Konflikten am größten sein, wurzeln diese doch primär in die Angst vor dem Islam Wasser auf die Mühlen der rechten den historischen, institutionellen und kulturellen Eigenar- Einwanderungskritiker lenkte, verschaffte die Finanz- und ten der jeweiligen Regierungssysteme. Ein gutes Beispiel Eurokrise den populistischen Kritikern des „neoliberalen“ ist Österreich, wo das als Konkordanzdemokratie euphe- Modernisierungsprojekts – von links wie von rechts – neuen mistisch verbrämte Machtkartell von SPÖ und ÖVP maß- Zulauf. Dessen Schattenseiten hatten sich in Europa schon geblich mit dazu beigetragen hat, den Anti-Establishment- in den 1990er Jahre zunehmend bemerkbar gemacht und Diskurs der FPÖ zu legitimieren. dafür gesorgt, dass auch jene Rechtspopulisten, die wie Deutliche Abweichungen zeigen sich aber auch bei den etwa die Lega Nord vorher zum Teil noch proeuropäisch ökonomischen und kulturellen Faktoren. Seit dem Aufstieg aufgestellt waren, nun zu rigorosen EU-Gegnern mutier- Hitlers in den 1930er Jahren hat sich in den Sozialwissen- ten. Folgt man deren Argumentation, steht die Europäische schaften die Idee verbreitet, dass rechtsextreme Parteien Union stellvertretend für die genannten Kehrseiten der vorzugsweise in wirtschaftlichen Krisenzeiten reüssieren, Modernisierung: materielle Wohlstandsverluste, multikul- wenn Arbeitslosigkeit und Inflation steigen. Vergleicht man turelle „Überfremdung“ und Krise der politischen Reprä- die Wahlergebnisse der europäischen Rechts- und Linkpo- sentation. Die sonst so abstrakte Globalisierung findet mit pulisten seit Ausbruch der Eurokrise, ergibt sich ein ande- ihr einen konkreten Schuldigen. res Bild. Während die linken Vertreter wie Syriza, Podemos Die Entstehungsursachen spiegeln sich in der Wählerstruk- oder die Fünf-Sterne-Bewegung vor allem in den südlichen tur der populistischen Parteien. Belege für die Modernisie- Krisenländern reüssierten, schnitten die Rechtsparteien in

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bis2017_01_inhalt.indd 14 27.03.17 16:00 den Ländern am besten ab bzw. erzielten ihre stärksten RECHTSPOPULISMUS IN EUROPA Zugewinne, die von den Folgen der Krise vergleichsweise wenig betroffen waren: Österreich, Dänemark, Deutsch- land, Frankreich, Niederlande und Schweden. Dies deutet zum einen auf eine unterschiedliche Priorität der Konflikte schen Stoßrichtung einen im Kern individualistischen An- hin: In den südeuropäischen Ländern geht der ökonomi- satz, der die Verantwortung des Einzelnen in den Vorder- sche dem kulturellen Konflikt voraus, im wohlhabenderen grund rücke und sich gegen staatliche Bevormundung und Norden der kulturelle Konflikt dem ökonomischen. Zum an- kollektiv verordnete „Zwangssolidarität“ wende. Und drit- deren verweist es auf die ideologischen Implikationen der tens sei der Populismus dem Wesen nach rückwärtsge- durch die Schuldenkrise hervorgerufenen Interessenge- wandt, indem er ein durch die Modernisierungsprozesse gensätze. Die Kritik an der Austeritätspolitik, die die Süd- überholtes Gesellschaftsbild konservieren möchte, das als länder zu wirtschaftspolitischen Befehlsempfängern der „Goldenes Zeitalter“ romantisch verklärt wird. sogenannten „Institutionen“ degradiere, konnte am glaub- Von den drei Argumenten steht das letzte auf den würdigsten von der populistischen Linken vertreten wer- schwächsten Füßen. Das Festhalten oder Bewahren frühe- den, die Absage an jegliche Form der Transferunion, die rer Zustände ist längst kein Monopol der Rechten mehr die Mitgliedstaaten der EU ihrer nationalen Eigenverant- (wenn es das je war), sondern inzwischen ein ebenso wich- wortung und Eigenständigkeit beraube, von der populisti- tiges Anliegen der Linken – man denke etwa an den Um- schen Rechten. welt- und Klimaschutz oder die Absicherung des durch den internationalen Standortwettbewerb unter Druck gerate- nen Wohlfahrtsstaates. Ergeben sich hier möglicherweise Typologisierung und ideologische Spielarten Schnittmengen zwischen rechtem und linkem Populismus, so weisen die beiden zuerst genannten Argumente zu- Populismus kann sich mit unterschiedlichen ideologischen gleich auf die Bandbreite ideologischer Positionen inner- und programmatischen Inhalten verbinden.7 Während halb der populistischen Rechten. linke Populismen vor allem in Lateinamerika anzutreffen Der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde, sind, stellen sie in Südeuropa ein neueres Phänomen dar. Im dem wir die bis heute beste vergleichende Gesamtdarstel- übrigen Europa dominiert – wie gesehen – der Rechts popu- lung des europäischen Rechtspopulismus verdanken, setzt lismus. 8 Strittig bleibt, ob der Populismus selbst ideologi- diesen mit der radikalen Rechten gleich.10 Als ideologische sche Attribute aufweist. Seine rigorose Parteinahme für das Hauptbestandteile identifiziert er dabei den Nativismus Volk und gegen die Eliten betont die individuelle Freiheit und den Autoritarismus. Der Nativismus steht für eine illibe- ebenso wie die Notwendigkeit gemeinschaftlicher Einbin- rale (aber nicht zwingend rassistische oder völkische) dung. Daraus ergibt sich ein weites Spektrum inhaltlicher Spielart des Nationalismus, die für einen in kultureller Hin- Positionen, die den Populismus bestenfalls als „schlanke“ sicht möglichst homogenen Nationalstaat eintritt, diesen oder Bindestrich-Ideologie erscheinen lässt. Adressat und also von „fremden“ Personen und Ideen freihalten will. Die ideologische Grundlage aller Formen des Populismus ist Bedrohung der Homogenität kann von einwanderungsbe- das „Volk“ als identitätsstiftendes Ideal. Anstelle der Aner- dingten und/oder Nationalitätenkonflikten ausgehen, was kennung der Komplexität moderner Gesellschaften setzen einen wichtigen Unterschied zwischen den meisten west- die Populisten moralische Werte und Tugenden. Die inhalt- und mittelosteuropäischen Vertretern der radikalen Rech- liche Füllung des Volksbegriffes variiert je nach ideologi- ten markiert. Die Autoritarismus-Definition schließt wiede- scher Ausrichtung. Rechte Parteien verweisen vor allem auf rum an das klassische sozialpsychologische Verständnis die nationale Identität, während linke Gruppierungen stär- der Frankfurter Schule an, die das Festhalten an traditio- ker an den sozialen Status der Arbeitnehmer und Arbeitslo- nellen Moralvorstellungen und den Glauben an die hierar- sen appellieren. Beiden ist gemeinsam, dass sie die Partiku- chische Gliederung der Gesellschaft als Kern der autoritä- larinteressen der von ihnen angesprochenen Wähler als ren Persönlichkeit begreift. „wahren“ Volkswillen propagieren. Muddes Begriffsbestimmung nimmt die in der neueren For- Für das Überwiegen des rechten Populismus in Westeu- schung verbreitete These auf, wonach „Identität“ das ropa lassen sich empirische und theoretische Gründe an- Schlüsselthema des rechten Populismus sei. Deren wich- führen. Die empirische Erklärung verweist auf den Bedeu- tigste Quelle bildet nach wie vor die Nation, die aber nicht tungsanstieg der kulturellen (wertebezogenen) Konfliktli- mehr nur (oder primär) in einem partikularen Sinne aufge- nie in den Parteiensystemen, die in den 1970er Jahren zur fasst wird, sondern eingebettet ist in ein nationenübergrei- Entstehung zuerst der neuen sozialen Bewegungen und fend-gemeinsames, (west)europäisches Verständnis von dann der grünen (ökologischen) Parteien geführt hat, be- kultureller Zugehörigkeit, dessen Gegenbild die überwie- vor sich in den 1980er Jahren – gleichsam als „postmateri- gend nichtwestliche Zuwandererbevölkerung verkörpert. alistische“ Gegenreaktion von rechts – die neuen populis- Das Problem von Muddes Definition liegt darin, dass sie tischen Parteien formierten. Die theoretische Erklärung be- den ideologischen Kern der populistischen Identitätspoli- tont den inneren Zusammenhang von rechtem Denken und tik zu eng fasst.11 Einerseits zeigen Parteien wie Front Na- populistischer Ideologie. Erstens sei die Gegenüberstel- tional, Vlaams Blok/Vlaams Belang oder die Schweden- lung von einfachem Volk und abgehobener Elite prädesti- demokraten, dass Rechtspopulismus durchaus mit rassisti- niert, das Volk auch in sich als homogene Einheit zu be- schen und extremistischen Positionen einhergehen kann. trachten. Die damit einhergehende Ausgrenzung von ver- Andererseits ist er auch an nicht nativistische Begründun- meintlich nichtzugehörigen Personen oder Gruppen auf gen der kulturellen Identität und gesellschaftspolitisch li- der horizontalen Ebene unterscheide die Rechte von den beralere Positionen anschlussfähig, wie etwa bei Pim universalistischen Prinzipien der Linken.9 Zweitens verfolge Fortuyn, der sich in seiner Islamkritik ausschließlich auf li- der Populismus trotz seiner antiliberalen und antipluralisti- berale und demokratische Werte des Westens berief –

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bis2017_01_inhalt.indd 15 27.03.17 16:00 Trennung von Kirche und Staat, Gleichberechtigung von Mann und Frau und Freiheit der sexuellen Orientierung. Ähnlich facettenreich wie seine „Identitätspolitik“ gestaltet

Frank Decker Frank sich die wirtschaftspolitische Programmatik des Rechts- populismus. In der Entstehungsphase verfolgten dessen Vertreter noch fast allesamt einen „neoliberalen“ Kurs, bevor in den 1990er Jahren bei den meisten Parteien protektionistische Positionen die Oberhand gewannen. Statt den Wohlfahrtsstaat zu verschlanken, sollte dieser nun verteidigt und sogar weiter ausgebaut werden. Dazu galt es, auch der europäischen Politik in den Arm zu fallen, die sich einseitig auf die Beseitigung der Marktschranken kon- zentrierte. Mit diesem Wechsel nach links entsprachen die neuen Rechtsparteien einerseits ihrer veränderten Wähler- basis, andererseits ließen sich die sozialpopulistischen For- derungen an die identitätspolitischen Kernthemen der Zu- wanderungsbegrenzung und Multikulturalismuskritik gut anschließen. Die Rechtspopulisten konnten damit den linken Parteien zum Teil das Wasser abgraben bzw. das Aufkom- men neuer linkspopulistischer Konkurrenten verhindern. Die in der Literatur als „Wohlfahrtschauvinismus“ bezeichnete Haltung, wonach der eigene Wohlstand vor der ungerecht- fertigten Inanspruchnahme durch „Dritte“ (seien es Zuwan- Das Anti-Minarett-Plakat der SVP sorgte im Vorfeld einer derer oder seien es Angehörige anderer Nationen) zu Volksabstimmung im Jahr 2009 für Diskussionen. Der anhal- schützen sei, traf und trifft vor allem in den wirtschaftsstar- tende Wahlerfolg der Schweizerischen Volkspartei (SVP) ken Ländern auf fruchtbaren Boden, die ein vergleichsweise zeigt, dass sich Widerstand gegen die europäische Integra- hohes sozialstaatliches Leistungsniveau aufweisen. tion, Einwanderungsskepsis und Anti-Islamismus für politische Zwecke durchaus instrumentalisieren lassen. Die SVP erreichte bei den Nationalratswahlen 2015 29,4 Prozent. Wirkungen und Bekämpfungsstrategien Auf der regionalen Ebene ist die SVP in Kantonen und Gemeinden gut verankert. picture alliance/dpa Die populistischen Herausforderer haben die Parteiensys- teme in den europäischen Demokratien nachhaltig verän- dert. Ihre Bezeichnung als „Protestparteien“ täuscht über Die Politikunfähigkeit des Populismus muss von seinen An- die Langlebigkeit des Phänomens hinweg. Treffender er- hängern aber nicht unbedingt als Problem empfunden wer- scheint es, die neu entstandenen Parteien als „Sprachrohre den. Wäre das der Fall, dann könnten die populistischen der Unzufriedenheit“ zu betrachten, die Repräsentations- Parteien ihre Glaubwürdigkeit nur in der Oppositionsrolle lücken der etablierten Politik offenlegen und ausgleichen.12 ausspielen bzw. bewahren. Die Realität hat diese Erwar- In diesem Sinne und soweit sie sich im Rahmen des „Verfas- tung zum Teil widerlegt.13 Während die Liste Pim Fortuyn in sungsbogens“ bewegen, erfüllen die Populisten eine für den Niederlanden und die FPÖ in Österreich nach ihrem die Demokratie potenziell nützliche Funktion. Regierungseintritt einen dramatischen Absturz in der Wäh- Die Einschränkung „potenziell“ ist wichtig. Sie weist darauf lergunst hinnehmen mussten, zeigt der anhaltende Erfolg hin, dass die herausgeforderten Parteien unterschiedliche der Schweizerischen Volkspartei, dass sich Widerstand ge- Möglichkeiten haben, auf die Herausforderer zu reagie- gen europäische Integration, Einwanderungsskepsis und ren. Dabei geht es nicht einfach um die Alternative „Anpas- Anti-Islamismus mit einer Regierungsbeteiligung sehr wohl sung oder Abgrenzung“, wie es häufig plakativ heißt. So vertragen. Auch Italien wurde lange von einer rechtspopu- macht es z. B. einen Unterschied, ob die Formen und Stilmit- listischen Allianz der Forza Italia Berlusconis mit der Lega tel des Populismus übernommen werden oder dessen in- Nord regiert. Die Dänische Volkspartei ist zwar nicht direkt haltliche Positionen. Eine Abgrenzungsstrategie muss nicht in Regierungsverantwortung gewesen, bestimmte aber von ausschließen, dass man sich der unliebsamen Konkurrenz 2001 bis 2011 als tolerierender Partner der liberal-konser- in der Substanz annähert. Umgekehrt kann eine Anpas- vativen Regierung deren Kurs maßgeblich mit. Unter ihrem sungsstrategie von heftigen verbalen Attacken auf die po- Druck wurden die Einwanderungs- und Asylgesetze dras- pulistischen Akteure begleitet sein. tisch verschärft sowie eine Renationalisierung der Europa- Zu fragen ist weiter, worauf sich die Abgrenzung oder An- politik eingeleitet. Mit der Neuauflage des Tolerierungs- passung genau bezieht. Wenn die etablierten Parteien bündnisses nach der Wahl 2015, aus der die Dänische sich der Probleme und Themen annehmen, die von den He- Volkspartei als stärkste Kraft im bürgerlichen Lager hervor- rausforderern aufgebracht werden, heißt das noch lange ging, könnte sich ihr Einfluss weiter erhöhen. nicht, dass sie auch die Antworten oder Lösungsvorschläge Auf der anderen Seite stehen Länder, die um die populisti- für diese Probleme teilen. Zum Wesen des Populismus ge- sche Konkurrenz einen „Schutzgürtel“ (cordon sanitaire) le- hört, dass er solche Antworten entweder gar nicht gibt – gen und ihr gegenüber strikte Distanz halten. So ist z. B. in oder die Antworten gehen an der Komplexität der Prob- Schweden jegliche Form der Zusammenarbeit mit den leme vorbei. Wenn Politikerinnen, Politiker und Parteien Schwedendemokraten verpönt, es gibt nicht einmal Ge- sich gegenseitig Populismus vorwerfen, ist in der Regel ge- sprächskontakte. Auch politikinhaltlich wetteiferten die nau dieses gemeint. etablierten Vertreter lange Zeit darum, sich von den restrik-

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bis2017_01_inhalt.indd 16 27.03.17 16:00 tiven Positionen der rechten Herausforderer in der Einwan- RECHTSPOPULISMUS IN EUROPA derungs- und Asylpolitik möglichst stark abzuheben. Falls das Ziel dieser Politik darin bestanden haben sollte, den Vormarsch der Rechtspopulisten zu stoppen, war der libe- rale schwedische Ansatz genauso wenig erfolgreich wie Und viertens müssen die Parteien sich nach außen hin die dänische Anpassungsstrategie. Bei den Reichstags- gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern öffnen. Dies ver- wahlen im Herbst 2014 konnten die Schwedendemokraten langt nach einem anderen Repräsentations- und Organi- mit einem Ergebnis von 12,9 Prozent zu den Rechtspopulis- sationsverständnis, das mit dem heutigen Modell der von ten in den skandinavischen Nachbarländern aufschließen. oben gesteuerten Mitglieder- und Funktionärsparteien Inzwischen liegen sie in den Umfragen bei über 20 Prozent. bricht. Überlegt werden sollte auch, ob und in welcher Welche Handlungsempfehlungen lassen sich nun aus dem Form man die repräsentative Parteiendemokratie durch di- Scheitern der gegensätzlichen Bekämpfungsstrategien rektdemokratische Beteiligungsverfahren ergänzen kann ableiten? Neben der unmittelbaren politischen Auseinan- – damit sich die Rechtspopulisten dieser Forderung nicht dersetzung, die sich als Empfehlung von selbst versteht, er- exklusiv bemächtigen. Vor allem braucht es eine neue scheinen folgende vier Aufgaben(-felder) wesentlich, um Kultur des Zuhörens und des Aufeinander-Zugehens. Die das Übel bei der Wurzel (der gesellschaftlichen und politi- in einer Demokratie unverzichtbare Volksnähe der Politi- schen Probleme) zu packen: kerin bzw. des Politikers gebietet nicht, dem Volkswillen Erstens bedarf es auf der nationalen wie auf der euro- hinterherzulaufen, sondern den Bürgerinnen und Bürgern päischen Ebene einer Politik, die den ökonomischen und Gehör zu schenken. Dies setzt voraus, dass man die sozialen Zusammenhalt der Gesellschaften wieder stärker Lebenswirklichkeiten seiner Wählerinnen und Wähler in den Mittelpunkt rückt. Das Bewusstsein der Bedeutung, kennt oder ihnen zumindest nicht ausweicht. die der Wohlfahrtsstaat für diesen Zusammenhalt gewinnt, ist in der Vergangenheit mehr und mehr abhanden- gekommen. Sie zeigt sich gerade mit Blick auf den in- ANMERKUNGEN ternationalen Wettbewerb: Je weiter sich die Volks- 1 Vgl. Frank Decker (2015): Art. „Rechtspopulismus“. In: Dieter Nohlen/Flori- wirtschaften nach außen öffnen, umso wichtiger werden an Grotz (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik. 6. Aufl., München, S. 535–358. Bildung und Ausbildung (um sich für den Wettbewerb zu 2 Für einen kompakten Überblick vgl. Ernst Hillebrand (Hrsg.) (2015): wappnen), aber auch die Absicherung gegen die durch Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie? Bonn. 3 Helmut Dubiel (1986): Das Gespenst des Populismus. In: Helmut Dubiel den Wettbewerb entstehenden Risiken im Inneren. Gelingt (Hrsg.): Populismus und Aufklärung. Frankfurt am Main, S. 47. es der Politik nicht, eine Gesellschaft auf der Basis von 4 Lawrence Goodwyn (1976): Democratic Promise. The Populist Moment Chancengleichheit und Fairness zu errichten, kann das Po- in America. New York. 5 Vgl. Hanspeter Kriesi/Takis S. Pappas (Hrsg.) (2015): European Popu- pulismus-Potenzial nicht reduziert werden. lism in the Shadow of the Great Recession. Colchester. Zweitens muss man beim Rechtspopulismus versuchen, der 6 Vgl. Tim Spier (2010): Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft Konkurrenz auf deren eigenem Feld zu begegnen – der rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa. Wiesbaden. 7 Vgl. Karin Priester (2012): Rechter und linker Populismus. Annäherung Wertepolitik. Dies stellt vor allem für die in ihrem Wertever- an ein Chamäleon. Frankfurt am Main. ständnis eher materialistisch geprägten Sozialdemokra- 8 Vgl. Carlos de la Torre (Hrsg.) (2015): The Promise and Perils of Popu- ten ein schwieriges Problem dar, die verloren gegangenen lism. Global Perspectives. Lexington. 9 Vgl. Jan-Werner Müller (2016): Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin. Kredit aber nur zurückgewinnen können, wenn sie der 10 Cas Mudde (2007): Populist Radical Right Parties in Europe. Cam- rechten „Gegenmodernisierung“ ein eigenes, nichtregres- bridge. sives Modell einer guten Gesellschaft entgegenstellen, 11 Vgl. Frank Decker/Marcel Lewandowsky (2012): Die rechtspopulisti- sche Parteienfamilie. In: Uwe Jun/Benjamin Höhne (Hrsg.): Parteienfamili- das die Bedürfnisse der Menschen nach Zugehörigkeit en. Opladen, S. 268–218. aufnimmt. Dies gilt vor allem für die Zuwanderungspolitik.14 12 Vgl. Stijn van Kessel (2015): Populist Parties in Europe. Agents of Dis- So entschieden man der rechtspopulistischen Perfidie ent- content? Basingstoke, New York. 13 Vgl. Frank Decker/Bernd Henningsen/Kjetil Jakobsen (Hrsg.) (2015): gegentreten muss, soziale Konflikte in rein kulturelle oder Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa. Die Herausforderung der nationale Konflikte umzudeuten, so wenig sollte man um- Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien. Baden-Baden. gekehrt der Versuchung unterliegen, kulturelle Differenz 14 Vgl. Paul Collier (2014): Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. München. (und den Umgang mit ihr) auf ein ausschließlich soziales Problem zu reduzieren.

Drittens gilt es deutlich zu machen, warum eine Politik, die UNSER AUTOR die Märkte auf der europäischen und transnationalen Ebene reguliert und dazu nationale Zuständigkeiten ab- gibt (bzw. abzugeben bereit wäre), dennoch im nationalen Interesse ist. Diese Herausforderung stellt sich in der Ausei- nandersetzung mit dem rechten und linken Populismus glei- chermaßen. Die zunehmend europamüden Bürgerinnen und Bürger lassen sich für das Integrationsprojekt nur zu- rückgewinnen, wenn die sozialen und kulturellen Neben- folgen, die sich aus dem Marktgeschehen ergeben, nicht mehr ausschließlich der nationalstaatlichen Politik aufge- bürdet werden. In anderen Bereichen – etwa der Außen- Prof. Dr. Frank Decker ist Universitätsprofessor für Politikwissen- und Verteidigungspolitik – wäre es geboten, dass die poli- schaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn tischen Eliten selbst über ihren Schatten springen; hier und Wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie für Forschung scheitert die Überwindung des nationalen Denkens nicht und Lehre praktischer Politik (BAPP). an den Widerständen der Bevölkerung.

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bis2017_01_inhalt.indd 17 27.03.17 16:00 RECHTSPOPULISTISCHE PARTEIEN EUROPAWEIT IM AUFWIND Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa Eine Debatte mit Ursula Birsl, Michael Minkenberg, Daniel Stockemer und Adrian Vatter

Rolf Frankenberger, Steffen Kailitz

servatismus und auch die radikale Rechte als eine imma- Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien sind in nente Gegenbewegung zur Demokratisierung und Demo- Europa auf dem Vormarsch. In fast allen europäischen kratie begreifen sollten. Diese Debatte haben wir in der Staaten haben rechtspopulistische Parteien Sitze im EU- Politik- und Geschichtswissenschaft in den 1970er und Parlament und/oder im nationalen Parlament gewonnen. 1980er Jahren lange geführt. Es ist eine Debatte, die leider In einigen Ländern sind oder waren sie an der Regierung versiegt ist und von der ich glaube, dass wir sie wieder auf- beteiligt. Über Ursachen, Entwicklungen und Folgen des leben lassen müssen. Was bei der radikalen Rechten rele- Aufstiegs rechtspopulistischer und -extremistischer Par- vant ist – deswegen auch insbesondere die Abgrenzung teien in Europa diskutierten Ursula Birsl, Adrian Vatter, zum Begriff der extremen Rechten –, dass man hier unter- Michael Minkenberg und Daniel Stockemer mit den Mo- stellen kann, dass sie sich immer noch im Rahmen oder im deratoren Rolf Frankenberger und Steffen Kailitz im Rah- Referenzrahmen der liberalen Demokratie bewegt, was men der Tagung „Regionalismus in einer entgrenzten wir bei der extremen Rechten so nicht sagen können. Und Welt“ (29.09.–01.10.2016). Nach einer Konkretisierung die radikale Rechte ist durchaus in der Lage – und das auch und Abgrenzung der beiden Begriffe Rechtspopulismus programmatisch –, mit den Verfahren und Institutionen der und Rechtsextremismus konzentriert sich die nachfolgend Demokratie umzugehen. Das Risiko, das von diesen Bewe- dokumentierte Diskussion auf die Einordnung rechtspo- gungen und Organisationen ausgeht, ist die Umformung pulistischer Parteien sowie auf deren Erfolgsbedingun- und Aushöhlung der Demokratie von innen heraus. Und gen und Wählerklientel. Abschließend wird der Themen- zwar so, dass wir die Etiketten der Institutionen der Demo- komplex Einstellungen und politische Kultur erörtert. kratie weiterhin behalten, die politische Praxis aber entde- mokratisiert wird. Der Begriff des Rechtspopulismus ver- schleiert eher diese Gefahr für Demokratie und Demokrati- sierungsprozesse, da er den Blick nicht schärft für das, was Rechtspopulistische Parteien gewinnen an Einfluss sich dort programmatisch und auch in Bewegungen und Organisationen real abspielt. Steffen Kailitz: Wir beobachten in den letzten Jahren einen Steffen Kailitz: Michael Minkenberg, wie würden Sie die Be- rasanten Aufstieg des Rechtsextremismus und Rechtspopu- grifflichkeiten abgrenzen? lismus in Europa. Dabei gewinnt man den Eindruck, dass Michael Minkenberg: Im Grunde hat Ursula Birsl die Hälfte gehäuft auftretende Krisenphänomene wie die Finanz- meiner Überlegungen vorweggenommen. Ich möchte das krise, die Brexit-Diskussion oder die aktuelle Flüchtlings- noch durch einen anderen Blickwinkel ergänzen. Mir wird frage den Mobilisierungserfolg von rechtsextremistischen im Grunde seit 20 Jahren immer ein bisschen unbehaglich, und rechtspopulistischen Parteien begünstigen. Ausge- wenn vom Rechtspopulismus die Rede ist und dann die üb- hend von der konzeptionellen Abgrenzung zentraler Be- lichen Verdächtigen aufgezählt werden. Denn der Begriff griffe wie Rechtspopulismus und Rechtsextremismus wer- des Populismus lenkt unseren Blick auf etwas, das meines den wir solche und andere Aspekte diskutieren und an- Erachtens nicht das eigentliche Problem ist. Das Problem schließend vor allem auf die deutschsprachigen Länder ist, was diese Gruppierungen inhaltlich wollen, wohin sie Deutschland, Österreich und die Schweiz sowie auf Frank- streben und wo sie ansetzen. Die meisten Gruppen eint – reich eingehen, um abschließend die gesamteuropäische mit wenigen Ausnahmen – unter anderem eine starke nati- Entwicklung in den Blick zu nehmen. Zunächst eine Frage onalistische oder ultranationalistische Grundhaltung. Der an Ursula Birsl: Wie können wir die Begriffe Rechtsextre- Begriff Populismus ist auf einer anderen analytischen mismus und Rechtspopulismus voneinander abgrenzen? Ebene anzusiedeln. Dabei geht es vor allem um Kritik an Sind dies überhaupt die beiden sinnvollsten Begriffe, um der repräsentativen Demokratie, am „Establishment“, an das Feld zu strukturieren? vorgeblich korrupten Eliten und so weiter. Lässt sich das als Ideologie fassen, so wie wir zum Beispiel von Sozialismus, Liberalismus oder Faschismus als Ideologie sprechen? Da Begriffe und Konzepte kommt die Forschung zu sehr unterschiedlichen Einschät- zungen. Ich schließe mich dem niederländischen Politik- Ursula Birsl: Ich selbst benutze den Begriff Rechtspopulis- wissenschaftler Cas Mudde an. Er kommt zu dem Schluss, mus nicht. Ich verwende alternativ drei Abgrenzungen be- dass es sich – wenn überhaupt – um eine dünne Ideologie ziehungsweise drei Phänomene, deren Übergänge und handelt. Für ihn ist Populismus eher ein politischer Stil, eine Verflechtungen mich besonders interessieren. Das sind der Inszenierungsform und nicht so sehr eine programmatische Konservatismus, die radikale Rechte sowie die extreme oder ideologische Schwerpunktsetzung. Insofern folge ich Rechte. Und zwar deshalb, weil wir schon allein den Kon- Ursula Birsl. Ich denke, der Begriff eignet sich nicht, eine

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bis2017_01_inhalt.indd 18 27.03.17 16:00 Gruppe im Sinne einer Parteienfamilie zu definieren. Er RECHTSPOPULISMUS UND eignet sich höchstens, um zu fragen, wie sich diese Grup- RECHTSEXTREMISMUS IN EUROPA pen gegenüber anderen politischen Akteuren inszenieren. Man sollte also vielmehr nach dem inhaltlichen Kern und nach den Übereinstimmungen dieser Parteien fragen. Dies zu bringen, um ihre Themen zu setzen, um ihre eigene Wäh- ist der Ultranationalismus, der von der ethnozentrischen lerschaft zu mobilisieren. Ich würde bei der SVP nicht von Überhöhung des eigenen Kollektivs bis hin zu radikalen, einer rechtsextremen Partei sprechen, obwohl es durchaus völkischen und rassistischen Varianten gehen kann. Und personelle Verknüpfungen gibt. Aber grundsätzlich ist die das würde dann auch den Extremismus einschließen. SVP doch auf dem Boden des demokratischen Verfas- sungsstaates. Ein wichtiges programmatisches Ziel der Partei ist jedoch die Erhöhung des Prinzips der Volkssouve- Einordnung politischer Parteien ränität. Dies erreicht sie durch den Versuch, die anderen Institutionen der liberalen Demokratie, wie etwa Gerichte, Steffen Kailitz: Nachdem wir nun in die theoretische De- zu schwächen und vor allem die direkte Demokratie zu for- batte eingestiegen sind, wollen wir direkt auf einen Fall cieren. blicken, auf die Schweizerische Volkspartei (SVP). Adrian Michael Minkenberg: Ich möchte hier ergänzen, dass die Vatter, wie würden sie die SVP einzuordnen? Machen die Begriffe Volk, Volkssouveränität und Volkspartei ganz zen- beiden Kategorien rechtspopulistisch und/oder rechtsext- tral sind. Diese gibt es auch in anderen Ländern, und es ist remistisch hier Sinn? gerade deswegen wichtig, weil im deutschen Begriff „Volk“ Adrian Vatter: Es gibt in der wissenschaftlichen Debatte und auch im englischen Begriff „people“ zwei ganz unter- durchaus auch andere Positionen, welche mit der Bezeich- schiedliche Dimensionen enthalten sind: Der Demos und nung von Parteien als rechtspopulistisch gerade die anti- der Ethnos. Man muss daher genau schauen, welche Vor- elitistischen und antipluralistischen Merkmale hervorhe- stellung von Volk gemeint ist. Folgende Frage ist zu erör- ben wollen. Bei der SVP haben wir mit dem Begriff „Volk“ tern: Wie viel Anteil von beidem ist enthalten, wenn je- dieses antielitistische und damit auch antipluralistische mand, der als populistisch bezeichnet wird, vom Volk Element schon im Namen der Partei verankert. Insofern spricht? Die SVP spricht im Namen des Volkes, wie der kann man bei der SVP von einer rechtspopulistischen Partei Name schon sagt. Aber was für eine Vorstellung vom sprechen, die gerade mit den in der Schweiz stark ausge- Schweizer Volk ist das? Sie ist antipluralistisch. Es ist eben bauten Instrumenten der direkten Demokratie sehr gut nicht Volk im Sinne eines politisch verfassten Kollektivs, des spielen kann und diese auch permanent nutzt, um das Demos als Souverän, sondern eine Vorstellung von Volk als Misstrauen gegenüber der politischen Elite zum Ausdruck eine kulturelle oder ethnisch definierte Einheit – und das

Schaubild 1: Rechtspo- pulistische Parteien in Europa Nach: http://www.bento.de/politik/uebersicht-rechtspopulistische-und-rechtsextreme-parteien-in-europa-88341/; Stand: April 2016

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bis2017_01_inhalt.indd 19 27.03.17 16:00 heißt Ethnos. Dieser Volksbegriff ist im Grunde genommen immer aufzuteilen. Zu erörtern ist deshalb die Frage, wie viel Anteil von beidem ist jeweils enthalten, wenn jemand, der als populistisch bezeichnet wird, vom Volk spricht. Ursula Birsl: Damit sprechen Sie zentrale Unterschiede an, die wir auch im Vergleich zu anderen Ländern finden. In der Bundesrepublik herrscht in der radikalen Rechten und in Teilen des Konservatismus ein organisches Verständnis von Volk vor. In Frankreich sind sowohl das Volksverständnis als auch das Verständnis von Nation eher kulturalistisch und Rolf Frankenberger, Steffen Kailitz Steffen Frankenberger, Rolf weniger über den Ethnos definiert, aber dennoch mit dem Versuch der sinnstiftenden Vergemeinschaftung verbun- den, die dann andere Fragen sozialer Konflikte einebnet. Was an der Schweizerischen Volkspartei noch mal beson- ders interessant ist, ist deren marktradikale Ausrichtung. Dies finden wir in Westeuropa in dieser radikalen Ausprä- gung sonst weniger, einmal abgesehen von der norwegi- schen Fortschrittspartei (Fremskrittspartiet/FrP). In Westeu- ropa konnte man seit dem Ende der 1970er Jahre eine neue Entwicklung in der radikalen Rechten beobachten, die als Phänomen die Moderne und Prozesse der Demokratisie- rung schon seit dem 19. Jahrhundert begleitet. Wirklich neu war, dass der Front National (FN), die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), die SVP und die skandinavischen Par- teien der radikalen Rechten im Grunde wirtschaftsliberale Parteien und Steuerprotestparteien waren, auch wenn ei- nige wie der FN das wirtschaftsliberale Programm inzwi- schen wieder abgelegt haben. Die SVP bleibt jedoch eine solche wirtschaftsliberale Partei, die es schafft, dies und eine radikal rechte Sinnstiftung über Vergemeinschaf- tungsprozesse miteinander zu verbinden. Frank Decker ar- die sich gegen Eliten, etablierte Parteien, Medien, Europa gumentiert in diesem Zusammenhang, dass der Populismus und Einwanderung wendet. Und genau diese Anti-Haltung das Scharnier zwischen neoliberalen oder wirtschaftslibe- ist ein weiteres Kennzeichen von rechtsradikalen und ralen Programmatiken und rechter oder rechtskonservati- rechtspopulistischen Parteien. Im Unterschied etwa zur ver Ideologie bilde. Ich glaube, dieses Scharnier braucht SVP hat sich der FN von seinen marktliberalen Positionen es nicht, denn auch der Wirtschaftsliberalismus benötigt distanziert. Er erhebt den Anspruch, das einfache Volk und diese Art der Sinnstiftung. Und da braucht es nicht zwin- die eher niedrigen Einkommensgruppen zu repräsentieren. gend eine bestimmte politische Strategie. Deshalb ist die Im Zuge dieser Umorientierung hat er stark sozialistische SVP so interessant. Bei dieser können wir nämlich genau und kommunistische Positionen übernommen und ist in beobachten, wie so etwas zusammengeht. Frankreich die von Arbeitern am meisten gewählte Partei. Adrian Vatter: Ich stimme Ihnen zu, die SVP ist eine starke Der FN steht zum Beispiel für Reindustrialisierung, Protekti- neoliberale, marktradikale Partei, allerdings mit einer Aus- onismus und Sozialchauvinismus. So sollen beispielsweise nahme: Wenn es um Agrarpolitik geht, dann ist sie stark Sozialmaßnahmen ausschließlich für Franzosen gelten. protektionistisch und setzt sich für ihre alte Wählerklientel Gerade diese nationale Präferenz ist im Programm des FN der Bauernschaft und der Gewerbetreibenden ein. stark ausgeprägt. Steffen Kailitz: Und wie könnte man den schon angespro- chenen Front National (FN) einordnen, Daniel Stockemer? Gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung der letzten Erfolgsbedingungen und Wählerklientel Jahre. Ist der FN rechtspopulistisch, rechtsextremistisch oder beides zugleich? Steffen Kailitz: Eine der bedeutenden Thesen der Rechtspo- Daniel Stockemer: Der Front National ist aus meiner Sicht als pulismus- und Rechtsextremismusforschung lautet, dass in rechtsradikal zu bezeichnen. Er akzeptiert – zumindest besonderem Maße Modernisierungsverlierer zur Wahl formal – die demokratische Grundordnung und geht ge- dieser Parteien neigen. Nun ist die Schweiz eines der wohl- richtlich gegen jeden vor, der die Partei als extremistisch habendsten Länder Europas. Warum also kann eine bezeichnet. Kennzeichen des Front National sind zum rechtspopulistische Partei gerade in der Schweiz derart Beispiel ein ethnozentrisches Weltbild, Nationalismus, große Erfolge feiern? Und worin unterscheidet sich die SVP Stärkung der Staatssouveränität, Ablehnung traditioneller von rechtspopulistischen Parteien in anderen Ländern Eu- Organisationen, Stärkung der nationalen Identität, Ableh- ropas? Wendet sie sich vielleicht gar nicht in dem Maße an nung alles Fremden. Ferner benutzt der Front National Po- die Modernisierungsverlierer, wie das in anderen Ländern pulismus als rhetorische Strategie. In diesem Sinn ist Popu- der Fall ist? lismus kein inhaltliches, sondern ein rhetorisches Merkmal, Adrian Vatter: Hier kommen verschiedene Punkte zusam- gekennzeichnet durch das Aufstellen von Feindbildern, men. Die SVP hatte bei den letzten Nationalratswahlen ei- durch Emotionalisierung und das Schüren von Angst, etwa nen Wähleranteil von 29,4 Prozent. Sie sitzt mit Ausnahme vor dem Islam. Darüber hinaus ist der FN eine Anti-Partei, eines Jahres seit über 80 Jahren in der Regierung. Erstens

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bis2017_01_inhalt.indd 20 27.03.17 16:00 RECHTSPOPULISMUS UND RECHTSEXTREMISMUS IN EUROPA

Wählerschaft sind Modernisierungsverlierer nicht so sehr im objektiven, sondern in einem subjektiven Sinne einer Verunsicherung, man könnte der Nächste sein. Und inso- fern ist es eine Gruppe, die noch etwas zu verlieren hat und nicht schon eine, die alles verloren hat. Ursula Birsl: Man kann auch gerade bei der Wahlentschei- dung für die Alternative für Deutschland (AfD) beobachten, dass es vor allem die Facharbeiter sind, die untere und mitt- lere Mittelschicht und kleine Unternehmer, die rechtspopu- listisch wählen. Und interessanterweise dann auch häufig Marine Le Pen und der Front eher im ländlichen Raum als in den Städten. Dort kommt es National erheben den sozusagen zu einer Allianz zwischen Arbeitgebern und Ar- Anspruch, das einfache Volk beitnehmern. Gerade kleinere Unternehmer teilen häufig und die eher niedrigen Ein- politische Einstellungen und Interessen ihrer Facharbeiter kommensgruppen zu repräsen- und Angestellten. Wir unterstellen häufig, dass Arbeiter tieren. Der Front National und Arbeiterinnen grundsätzlich links und sozialdemokra- wendet sich gegen Eliten, etab- tisch orientiert zu sein haben und unterschätzen oder ver- lierte Parteien, Medien, Europa nachlässigen den konservativen Teil der Arbeiterschaft, und gegen Migration. Die Par- den es schon immer gab und der nun gezielt von rechtspo- tei hat inzwischen sozialistische pulistischen und -radikalen Parteien angesprochen wird. Positionen übernommen und ist Und das sind in der Tat diejenigen, die noch etwas zu ver- in Frankreich die von Arbeitern lieren haben. am meisten gewählte Partei. Steffen Kailitz: Deutschland scheint in gewisser Hinsicht bis- picture alliance/dpa lang im europäischen Vergleich ein Sonderfall zu sein. Bis vor kurzem hat es keine rechtspopulistische Partei ge- schafft, in Deutschland auf Dauer Fuß zu fassen. Mit dem bietet die direkte Demokratie einen idealen Rahmen für Aufkommen der AfD scheint sich das zu ändern. Zum einen eine solche populistische Partei. Sie kann dadurch perma- stellt sich nun die Frage, warum sich so lange keine erfolg- nent Themen auf die Agenda setzen, und die offizielle Po- reiche rechtspopulistische Partei etablierten konnte, zum litik ist darauf angewiesen, jeweils darauf zu reagieren. anderen, warum gerade jetzt? Zweitens ist die SVP aufgrund des Konkordanzsystems in Michael Minkenberg: Man könnte zur Antwort auf die erste der Schweiz schon lange Regierungsmitglied. Es gibt kei- Frage auf das Diktum von Franz Josef Strauß zurückgreifen, nen institutionellen Raum, in dem die SVP ausgegrenzt dass rechts von der CDU/CSU kein Platz für eine demokra- wird. Im Gegenteil: Sie wird durch die Regierungsbeteili- tisch legitimierte Partei sei. Die CDU/CSU konnte manch- gung akzeptiert und auch legitimiert. Drittens ist das stark mal gemeinsam, manchmal arbeitsteilig das rechte Wäh- neoliberale Element der SVP bedeutsam. Wenn wir uns die lerpotenzial ganz oder zumindest teilweise binden. Im Um- Wählerschaft anschauen, dann haben wir auf der einen kehrschluss würde das bedeuten, dass die CDU/CSU unter Seite die Gruppen mit niedrigeren Einkommen, die die SVP und in einer Großen Koalition eben nicht aufgrund ihrer nationalkonservativen Positionen wählen. mehr so wahrgenommen wird. Schon in den 1960er Jahren Auf der anderen Seite haben wir die höheren Einkommens- gab es die These, dass die Große Koalition zum Erstarken gruppen, die die SVP aufgrund ihrer neoliberalen Politik der NPD beigetragen habe. Hinzu kommt ein politisch-kul- wählen. Als Folge hat sie eine Wählerschaft, die durchaus tureller Aspekt. In Deutschland gab es eine im Vergleich zu entgegengesetzte Interessen vertritt. Und es gibt Studien, Frankreich oder Österreich sehr viel höhere Hemmschwelle, die zeigen, dass eben gerade niedere Einkommensschich- sich einer rechtsradikalen Partei zuzuwenden. Bisherigen ten die SVP trotz ihrer neoliberalen Position wählen, vor Parteien wie die Republikaner oder die Deutsche Volks- allem, weil sie eine stark EU-skeptische Position einnimmt union (DVU) haftete immer das Etikett an, zu weit rechts zu und natürlich für eine restriktive Migrationspolitik einsteht. stehen und die deutsche Vergangenheit nicht aufgearbei- Michael Minkenberg: Es ist ja nicht so, dass es in einem tet zu haben. Dies sehen wir auch heute immer wieder. Die wohlhabenden Land niemanden gibt, der sich als benach- Diskussion, die gerade in der AfD um Frauke Petrys Vor- teiligt einstuft. Es geht häufig nicht um die objektiven Wohl- schlag, den Begriff des Völkischen zu rehabilitieren, ge- standskriterien. Was für den FN gilt, kann man in ganz führt wird, zeigt, dass hier Sensibilitäten im Spiel sind, die Westeuropa beobachten. Die treueste Wählerschaft man vielleicht in anderen europäischen Ländern so nicht rechtsradikaler Parteien findet sich häufig in der Arbeiter- hat. Insofern ist es eine Mischung aus institutionellen und schaft. Sie sind mit wenigen Ausnahmen die neuen Arbei- kulturellen Faktoren. terparteien. Woran liegt das? Es sind eben nicht die abso- Steffen Kailitz: Adrian Vatter, wie ist der Blick aus der lut Abgehängten und die Arbeitslosen, sondern vor allem Schweiz heraus auf die Entwicklung in Deutschland? die manuell Arbeitenden, die seit über 20 Jahren in West- Adrian Vatter: Aus der Außenperspektive war die Entwick- europa rechtsradikal wählen. Es geht also nicht um objek- lung der letzten Jahre schon eine Überraschung, insbeson- tive Verlusterfahrung in dem Sinne, dass man auf der dere mit den Landtagswahlen 2016 und den Erfolgen der Straße steht, sondern es geht um die Angst vor Verlust. Die AfD in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Ba-

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bis2017_01_inhalt.indd 21 27.03.17 16:00 den-Württemberg, Berlin und Rheinland-Pfalz. Für mich den 1960er Jahren die Nationale Aktion, später die Schwei- war lange eine mögliche Erklärung, dass es vor allem die zer Demokraten, die Republikaner, die Vigilance. Das hängt klassischen Konkordanzdemokratien wie die Niederlande damit zusammen, dass wir eine hohe Persistenz des Über- mit Geert Wilders Partij voor de Vrijheid (PVV), Belgien mit fremdungsdiskurses in der Schweiz haben. Schon in den dem Vlaams Belang, Österreich mit der FPÖ und die 1960er Jahren haben die Migrationsdebatte und die harte Schweiz mit der SVP sind, in denen es rechtspopulistische Auseinandersetzung im öffentlichen Diskurs angefangen. und rechtsradikale Parteien einfacher haben. Denn hier Man spricht immer von einer Verrohung der öffentlichen findet sich oft nicht das klassische Bild von Regierung und Debatte. Aber wenn wir uns die Debatten der 1970er Jahre Opposition, so dass der Eindruck entsteht, dass „Hinter- in der Schweiz anschauen, dann wurden die auch schon zimmer-Kompromisse“ durch Eliten stattfinden. Dies ist ein sehr hart geführt. Das hängt natürlich wiederum mit der di- Rolf Frankenberger, Steffen Kailitz Steffen Frankenberger, Rolf Ansatzpunkt für populistische Parteien, ihren Antielitismus rekten Demokratie zusammen. Wir hatten in den 1970er und Populismus in Stellung zu bringen. Allerdings ist in den Jahren schon die erste sogenannte Überfremdungsinitia- letzten Jahren auch in anderen Demokratien wie Deutsch- tive, in der es um eine Begrenzung des Ausländeranteils auf land oder Großbritannien ein Erstarken rechtsradikaler zehn Prozent ging. Diese Initiative führte zu einer Stimmbe- Parteien zu beobachten. Das ist besonders problematisch. teiligung von über 70 Prozent, was sehr hoch ist für die Es bedeutet, dass nicht mehr nur ein ganz bestimmter De- Schweiz. Es gab eine sehr intensive Debatte, die auch eine mokratietypus mit begünstigenden Bedingungen betrof- Grundlage für die SVP darstellte, da sie auf diesen Diskurs fen ist, sondern rechtspopulistische Parteien nun unabhän- aufbauen konnte. Eine gewisse Verrohung des politischen gig vom Demokratietypus und quer zu Mehrheits- und Kon- Diskurses hat also schon viel früher stattgefunden. kordanzdemokratien Erfolge feiern. Ursula Birsl: In Deutschland hatten wir nie ein extrem rechtes Michael Minkenberg: Wenn wir fragen, wo der Aufstieg Einstellungspotenzial von 25 bis 30 Prozent. Wir haben rechtsradikaler und rechtspopulistischer Parteien begüns- eine andere interessante Konstellation: Auch in den ganz tigt wurde, würde ich zunächst einmal zeithistorisch fra- aktuellen Einstellungsuntersuchungen wird keine Zunahme gen: In welchen Ländern haben sich diese Parteien früh extrem rechter Einstellungspotenziale verzeichnet. Das Ni- und dann dauerhaft etabliert? Frankreich, Österreich, Bel- veau liegt seit mehreren Jahren unter zehn Prozent. Gleich- gien, dann Italien. Nicht in den Niederlanden, in Deutsch- zeitig explodieren die Zahlen rechter Gewalttaten gegen- land oder Großbritannien. Aber wiederum durch Reformen über Asylunterkünften, Geflüchteten und denen, die als Mi- und innerparteiliche Änderungsprozesse in den skandina- grantinnen und Migranten identifiziert werden. Und auch vischen Ländern, zumindest in Dänemark und Norwegen. Gewalttaten gegen Politikerinnen und Politiker haben sich Diese Länder haben hinsichtlich des Demokratietyps nicht im Vergleich zum letzten Jahr etwa verdoppelt. Es werden viel gemeinsam. Was sie aber gemeinsam haben, ist eine immer mehr „Normalbürgerinnen und -bürger“ gewalttätig. starke kulturelle Homogenität im Sinne einer dominanten Rechte Gewalt gibt es also jenseits des rechtsextremen historischen, wenn auch nicht unbedingt aktuell gelebten, Spektrums; und dieses Spektrum profitiert davon nicht. Im Religionsgemeinschaft. Erst durch Migration und demo- Gegenteil: Die Mitgliederzahlen extrem rechter Organisa- graphische Veränderungen ist diese Homogenität ab den tionen und Parteien gehen zurück. Gleichzeitig werden 1980er Jahren aufgebrochen. Und genau in den Ländern, diese Gruppierungen gewalttätiger und militanter. die bis in die 1980er Jahre relativ homogen waren und dann einen Sprung in Richtung kultureller Pluralisierung er- lebten, konnten sich rechtsradikale Parteien früh und dau- erhaft etablieren. Hinzu kommen noch andere Faktoren wie etwa der Demokratietyp.

Einstellungen und politische Kultur

Rolf Frankenberger: Wir haben jetzt relativ viel über die An- gebotsseite, über die Parteien, die Strukturen der Parteien, das Aufkommen der rechtspopulistischen Parteien und Ein Mitglied der AfD bei einer über institutionelle Rahmenbedingungen gesprochen. Wahlveranstaltung seiner Par- Über die Nachfrageseite, die Wählerinnen und Wähler, tei in Mainz (Rheinland-Pfalz). haben wir bisher weniger erfahren. Was gerade im deut- Die AfD-Wählerschaft ist schen Fall häufig debattiert wird, ist die Frage, ob sich die momentan eher männlich. Die politische Kultur geändert hat? Und dass so eine Ände- AfD spricht zumeist Wählerin- rung, d. h. eine Verrohung der politischen Kultur und der nen und Wähler an, die mit Debattenkultur, überhaupt die Möglichkeitsbedingungen ihrer aktuellen wirtschaftlichen für den Erfolg rechtspopulistischer und rechtsradikaler Par- und sozialen Situation unzu- teien geschaffen hätte. Wie ist das einzuschätzen? Hat frieden sind. Ein Teil der Wäh- sich die politische Kultur geändert oder ist die neuere Ent- lerschaft will keine Argumente wicklung etwas, das im Einstellungspotenzial der Bevölke- hören, sondern das „System“ rung immer da war und nun wirklich stärker auf diese Mög- bestrafen. Dieser Teil freut sich lichkeitsbedingungen zurückzuführen ist? am Wahlabend über die lan- Adrian Vatter: Zumindest für die Schweiz möchte ich darauf gen Gesichter bei den „Alt- hinweisen, dass rechtsradikale Parteien nicht erst seit den parteien“. 1990er Jahren mit der SVP bestehen. Wir hatten schon in picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 22 27.03.17 16:00 Was wir aus Einstellungsuntersuchungen in der Bundesre- RECHTSPOPULISMUS UND publik allerdings ablesen können, sind zwei Befunde: Ers- RECHTSEXTREMISMUS IN EUROPA tens gibt es in einzelnen Dimensionen rechtsextremisti- scher Einstellungen wie Fremdenfeindlichkeit, Antisemitis- mus oder Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit immer Daniel Stockemer: Die These der Mobilisierung von Nicht- wieder Schwankungen. Gerade letztere steigt immer mal wählern macht intuitiv Sinn, allerdings gibt es meines Wis- wieder an und ist am ausgeprägtesten gar nicht unbedingt sens keine Panel-Analysen, die genau das untersuchen und gegenüber Asylsuchenden, sondern gegenüber Langzeit- über die Frage nach der Wahlentscheidung bei der letzten arbeitslosen. Das ist sozusagen immer die Top-Gruppe, Wahl hinausgehen. Warum macht die These dennoch gegen die sich die Feindlichkeit richtet. Und hier messen Sinn? Bei den Landtagswahlen 2016 stieg die Wahlbeteili- dann Studien wie die des Instituts für interdisziplinäre Kon- gung zwischen vier und zehn Prozent. Es wurde daher eine flikt- und Gewaltforschung in Bielefeld Werte von konstant große Anzahl von neuen Wählerinnen und Wählern rekru- über 50 Prozent. Erst dann kommen Asylsuchende und an- tiert. Wen spricht die AfD in diesem Falle an? Es sind eher dere Gruppen. Diese Gruppenbezogene Menschenfeind- Menschen mit niedrigerem Bildungsstand, die unzufrieden lichkeit korreliert zunehmend und statistisch signifikant mit mit ihrer politischen, sozialen oder kulturellen Situation dem so genannten marktförmigen Extremismus, also einer sind. Da diese Gruppen in hoher Zahl Nichtwähler sind, ist ausgeprägten ökonomistischen Wertehaltung gegenüber es einleuchtend, dass sich diese Nichtwähler dann einer Menschen und auch einer Selbstoptimierungshaltung. Partei wie der AfD zuwenden. Inwieweit das gut oder Rolf Frankenberger: Wenn das rechte Spektrum nicht davon schlecht für die Demokratie ist, sei dahingestellt. profitiert, aber es trotzdem immer mehr rechte Gewalt gibt, Adrian Vatter: Im Fall der Schweiz sehen wir, dass wir seit dann rückt doch dieses ganze rechte Potenzial in die Mitte? den 1990er Jahren einen starken Aufstieg bei der SVP ha- Ursula Birsl: Entweder rückt es in die Mitte oder wir haben ben, die heute auf eine sehr treue Wählerschaft zählen bisher zu wenig beachtet, was sich da entwickelt und ab- kann. Die Wahlbeteiligung ist in der Schweiz – auch be- spielt. Es sind oft Männer und Frauen, die bisher mit Ge- dingt durch die vielfältigen direktdemokratischen Abstim- walttaten überhaupt nichts zu tun hatten und kaum dem mungen – mit 45 bis 50 Prozent vergleichsweise gering und extremen rechten Spektrum zuzuordnen sind. hat kaum zugenommen. Die schweigende Mehrheit bleibt Steffen Kailitz: Kommen wir zurück zum Wählerpotenzial also trotz rechtspopulistischer Partei weiterhin zuhause. rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Parteien. Steffen Kailitz: Wie sieht es insgesamt mit dem ideologi- Betrachtet man die Wahlanalysen der letzten Zeit, so fällt schen Profil der Wählerschaft aus? Gibt es ein länderüber- auf, dass in hohem Maße auch Nichtwähler mobilisiert greifendes Profil der rechtspopulistischen und rechtsextre- werden. Nun könnte man aus demokratietheoretischer Per- men Wählerinnen und Wähler? spektive befürworten, wenn wieder Menschen zurück in Daniel Stockemer: Traditionell war der rechtspopulistische das politische System geführt werden und überhaupt an Wähler alt, konservativ und männlich, häufig Arbeiter. Bei Wahlen teilnehmen. Man hat hier im Grunde widerstrei- meinen Studien über den Front National sehe ich, dass im- tende Gefühle, wenn man das beobachtet. Wie ist da in mer mehr junge Menschen den FN wählen und diese mitt- der Runde so der Eindruck? lerweile überrepräsentiert sind. Bei vielen jungen Men- schen, die noch keine gefestigte Ideologie haben, kommt die einfache, populistische Rhetorik rechter Parteien mit ihren einfachen Botschaften gut an. Michael Minkenberg: Beim FN finden sich zwei inhaltliche Konstanten: Erstens eine überproportionale Orientierung am starken Staat – also der Staat als Konfliktlöser in einer dirigistischen Art. Das mag man jetzt als typisch französisch bezeichnen, aber das findet sich auch in anderen Ländern. Und zweitens ein übersteigerter Ethnozentrismus. Wir wis- sen nicht genau, wer die Nichtwähler sind. Waren sie schon immer Nichtwähler oder solche, die früher andere Parteien gewählt hatten? In den 1990er Jahren gab es Studien, die zeigten, dass es sich um ehemalige Wähler etablierter Par- teien handelte, die nach einer Wahlabstinenz zum FN ge- kommen waren. Neben einer ideologischen Grundhaltung ist es auch die Art der Interaktion dieser Parteien mit ihrem politischen Umfeld, die für die Wahlerfolge verantwortlich ist. Es gibt zudem Radikalisierungsprozess in Teilen der Wählerschaft, eine Verfestigung von Vorstellungen, die zu Beginn vielleicht noch etwas offener sind. Insofern kann man bei diesen Wählerinnen und Wählern kein rechtsext- remes Weltbild unterstellen. Aber es gibt typische Grund- haltungen, die sich über verschiedene Länder hinweg bei den Wählerinnen und Wählern rechtsradikaler Parteien finden: Verunsicherung, autoritäre Vorstellungen und Eth- nozentrismus. Ursula Birsl: Beim FN und der SVP gilt aber heute: es sind etablierte Parteien. Bei der AfD muss sich erst noch zeigen,

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bis2017_01_inhalt.indd 23 27.03.17 16:00 Viele Fernsehzuschauer erhal- ten ihr „Flüchtlingsbild“ über die mediale Berichterstattung. Die „Kraft der Bilder“ kann zu Fehlwahrnehmungen und Ver- zerrungen führen, so dass die Rolf Frankenberger, Steffen Kailitz Steffen Frankenberger, Rolf tatsächlichen Flüchtlingszahlen oftmals keine Rolle mehr spie- len. Solange Migration in der Wahrnehmung der Bevölke- rung ein gravierendes Problem ist, solange erfahren populi- stische Parteien durch die Propagierung einer „Flücht- lingskrise“ Zuspruch. picture alliance/dpa

ob sie sich etablieren und ein Stammwählerpotenzial auf- len spielen keine Rolle. Nur ein Beispiel: Bei den Landtags- bauen kann. Die AfD-Wählerschaft ist momentan eher wahlen 2016 war die AfD in den Bereichen in Ostdeutsch- männlich, mittleren Alters, viele Arbeiter. Das entspricht land, in denen es am wenigsten Zuwanderung gibt, am nicht unbedingt dem, was wir insgesamt im Einstellungspo- stärksten. Das heißt, die Zahlen an sich sagen wenig aus. tenzial finden. Denn gerade die Kombination aus Grup- Und ich finde auch das Wort Krise hat eine negative Konno- penbezogener Menschenfeindlichkeit und marktförmigem tation; haben wir wirklich eine Flüchtlingskrise? Aus deut- Extremismus ist auch das Potenzial für die AfD, allerdings scher Sicht vielleicht, aus europäischer Sicht nein. In die EU ganz anders verteilt als die bisherige Wählerschaft. Denn mit ihren mehr als 500 Millionen Einwohnern sind letztes es sind vor allen Dingen Jüngere und Frauen, die diese Ein- Jahr ungefähr zwei Millionen Menschen gekommen. Leider stellungsmuster teilen, die wiederum nicht die AfD wählen. hat es die EU nicht geschafft, diese Menschen zu verteilen Man könnte sagen: Glücklicherweise haben sie noch nicht und aufzunehmen. Das heißt, die Krise ist vor allem eine po- gemerkt, dass sie mit der AfD eine Partei hätten, die sie litische Krise. Solange es da seitens der Politiker keine ge- dann wählen könnten. Es spiegelt sich darin ein Muster wi- fühlten oder richtigen Lösungsangebote gibt, solange kann der, das auf die meisten extrem rechten Parteien in Deutsch- die „Flüchtlingskrise“ noch ein starker Mobilisator für die land zutrifft: Sie werden im Wesentlichen von Männern ge- AfD oder andere rechtsgerichtete Parteien sein. wählt, obwohl es in den Einstellungen wenige Unterschiede Michael Minkenberg: Ich glaube, der Blick auf andere Län- zwischen Männern und Frauen gibt. Und die Frage der der ist ein Teil der Antwort. Frankreich, Österreich oder Nichtwählerinnen und -wähler sollte man sehr relativ se- auch die nordischen Länder, in denen solche Parteien hen. Denn nicht nur die AfD, sondern auch die anderen Par- schon seit 30 Jahren im Parteiensystem fest verankert sind, teien waren sehr wohl in der Lage, Nichtwählerinnen und zeigen, man braucht so eine Krise nicht für die Konsolidie- -wähler zu mobilisieren. rung solcher Parteien. Es hat damit zu tun, dass zunächst Steffen Kailitz: Ein zentraler Faktor bei der Mobilisierung mal in einigen Ländern, zumindest Frankreich oder auch in rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien ist die Belgien, der Cordon Sanitaire gut funktioniert hat. Das Anti-Zuwanderungshaltung. Heute ist die Flüchtlingsfrage heißt, sie haben ihre Nische gefunden, konnten diese Ni- ein offenkundiger Mobilisierungsfaktor beim Wahlerfolg sche halten, haben nicht besonders viel zugelegt, das ging der AfD. Wie groß ist diese Bedeutung einzuschätzen und dann mal von Wahl zu Wahl hoch und runter, aber sie hat- wie sind die Perspektiven von Rechtspopulismus und ten ihre zehn bis 15 Prozent. Das ist jetzt ein bisschen in Rechtsextremismus, wenn diese Krise bewältigt wird? Kön- Bewegung geraten durch die neue Situation, aber die nen wir damit rechnen, dass wir dann hier wieder eine Krise ist nicht notwendiger Bestandteil einer Erklärung, ganz andere Landkarte vorfinden, oder sind diese Parteien dass solche Parteien sich etablieren können. gekommen, um zu bleiben? Ursula Birsl: Die AfD ist ähnlich wie der FN schon nicht mehr Daniel Stockemer: Ich glaube, die tatsächlichen Flüchtlings- beim Thema Flucht und Asyl, sondern bei der grundlegen- zahlen sind gar nicht so wichtig, entscheidend ist die Wahr- den Frage nach der Rolle des Islam angelangt. Man hat nehmung. Und solange Krisen wie die Flüchtlingsfrage in dann durchaus das nächste Thema, das muss dann in der der Wahrnehmung der Bevölkerung ein starkes Problem Tat auch nicht unbedingt mit einer Krise zusammenhängen. sind, solange hat auch die AfD das Potenzial, stark zu blei- Was mich momentan viel mehr beunruhigt, ist die Frage, ben. Natürlich wird die AfD auch alles tun, das Interesse wie die etablierten und insbesondere die konservativen an der Flüchtlingsfrage in der Bevölkerung aufrechtzuerhal- Parteien darauf reagieren. Zwischen Front National, Nico- ten. Und ich glaube, für den Wahlerfolg der AfD auf lange las Sarkozy und den Republikanern in Frankreich, bei uns Sicht kommt es wirklich darauf an, wie sich die Wahrneh- zwischen AfD und vor allem der CSU verschwinden die mungen in der Bevölkerung über die Flüchtlingfrage und scharfen Grenzen in der Argumentation. Da wird von den andere Krisen entwickelt. Die tatsächlichen Flüchtlingszah- konservativen Parteien vieles über- und aufgenommen.

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bis2017_01_inhalt.indd 24 27.03.17 16:00 Und da stellt sich mir die Frage, was verändert sich da- RECHTSPOPULISMUS UND durch? Rechtspopulistische Parteien sind für mich nicht al- RECHTSEXTREMISMUS IN EUROPA lein das Problem. Brisant ist vielmehr die Frage, wie sie nach und nach die politische Kultur verändern. Und die zweite, größere Frage lautet: Wie viel Gegenbewegung teien kommen und gehen. Aber das Spektrum verschiebt gegen die Demokratie kann eine etablierte Demokratie sich. Dies führt dann dazu, dass sich über die Zeit hinweg aushalten? rechtskonservative Parteien wie in Ungarn und in Polen im- Adrian Vatter: Gerade die Reaktion der etablierten Par- mer weiter radikalisieren. teien erscheint auch mir zentral. Ich denke, man muss hier Frage aus dem Publikum: Ein bisher wenig diskutierter As- vielleicht noch einen Schritt weitergehen und nach Politik- pekt, der aber mehrfach angeklungen ist, ist die europa- feldern differenzieren. Das heißt in der Tat, dass wir in vie- feindliche und insbesondere EU-feindliche Haltung und len Ländern eine restriktivere Migrationspolitik beobach- Rhetorik rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien, ten können, d. h. man versucht, sich der Agenda rechtsradi- die vom FN bis hin zur AfD quer durch Europa zu finden kaler Parteien anzupassen. Wenn wir beispielsweise die sind. Kann diese Haltung den Erfolg der Parteien erklären? EU-Politik betrachten, dann sieht das etwas anders aus. Michael Minkenberg: Das Europabild ist extrem skeptisch Zwischen der Europapolitik der SVP auf der einen und der und greift die Idee de Gaulles eines Europas der Vaterlän- der anderen Parteien haben wir einen klaren Graben. der auf. Ich glaube, der Schaden für oder die Effekte auf Rolf Frankenberger: Wir haben bislang viel über die Ent- die EU oder den europäischen Integrationsprozess sind wicklungen in Westeuropa gehört. Wenn wir über Europa nicht auf der europäischen Ebene zu suchen, sondern in sprechen, so gehören dazu aber auch die osteuropäischen den nationalen Arenen. Wenn es diesen Parteien gelingt, Staaten. Ein Blick auf die Karte verrät, dass auch hier ihre Europaskepsis auf andere Parteien zu übertragen, rechtspopulistische Parteien in Parlamenten vertreten sind dann sehe ich ein Problem für den europäischen Einigungs- und auch – wie in Polen oder Ungarn – die Regierung stel- prozess und die Weiterentwicklung der EU. Das Problem len. Sind die Entwicklungen vergleichbar? sehe ich eher auf der nationalstaatlichen Ebene, immerhin Michael Minkenberg: Dort laufen ganz unterschiedliche haben es diese Parteien jetzt zum allerersten Mal ge- Prozesse ab. Ich würde zum Beispiel nicht davon reden, schafft, mit dem „Europa der Nationen und der Freiheit“ im dass es einen Vormarsch der radikalen Rechten in Osteu- Europaparlament ein Bündnis zu schaffen, das tatsächlich ropa gibt, der mit der Entwicklung in Westeuropa ver- alle wichtigen westeuropäischen Parteien vereint. Vorher gleichbar wäre. Greift man die prominentesten Beispiele gab es immer nur lockere Zusammenschlüsse, die fast nie Ungarn und Polen heraus, in denen Fidesz und PiS Regie- die gesamte Legislaturperiode überdauert haben. Dieses rungsparteien sind, so sind diese keine klassisch rechtsra- Bündnis scheint etwas dauerhafter angelegt. Das heißt, dikalen Parteien. Beide waren rechtskonservative Parteien, diese Parteien haben bereits untereinander ein Problem, die sich aus unterschiedlichen Gründen radikalisiert ha- überhaupt ein Europaprogramm zu finden und sich zusam- ben und nach rechts abgewandert sind. Lässt man Fidesz menzuschließen. Insgesamt würde ich das nicht als so be- und PiS außen vor, so ist in ganz Osteuropa ein ständiges ängstigend einstufen. Ob die Europaskepsis jetzt wahlent- Auf und Ab des Wählerzuspruchs für rechtsradikale Par- scheidend ist in dem Sinne, dass die Parteien davon profi- teien zu beobachten. Mit Ausnahme der Slowakei und der tieren? Soweit ich die Wahlforschung verfolgt habe, ist Slovenská národná strana (SNS) gibt es kein Land, in dem das kein zentrales Motiv der Wählerinnen und Wähler. eine solche Partei dauerhaft mehr als drei Prozent in Parla- Europaskepsis spielt mit rein, wenn man das in Umfragen mentswahlen erringen konnte. Die Lebensdauer rechtsra- abfragt. Wenn man aber genauer schaut und fragt, was dikaler Parteien in Osteuropa ist etwa halb so lang wie in waren die wahlentscheidenden Gründe, dann sind es we- Westeuropa. Die Volatilität der Wähler übersetzt sich niger die europapolitischen, sondern eher die national- auch in eine dünne Mitgliederdecke dieser Parteien. Dies staatlichen Themen. gilt übrigens auch für andere Parteien in der Region, die im Daniel Stockemer: Ich stimme zu. Noch kurz zur Ergänzung: Wesentlichen auf Führungscliquen ausgerichtete Wahl- Die europakritischen Meinungen in der Bevölkerung neh- maschinen darstellen. Es gibt keine Konfliktlinien (Cleava- men zu. Wenn man sich zum Beispiel den Euro-Barometer ges) mit stabilen Zuordnungen von Wählergruppen zu Par- anschaut, war die Zustimmung für Europa vor 20 Jahren bei teien. Die ganze Arithmetik, die wir in Westeuropa disku- 80 Prozent und jetzt ist sie gerade noch zwischen 50 und tieren und die dann zu neuen Konfliktstrukturen (Realignment) 60 Prozent. Es gibt klare Tendenzen in der Bevölkerung, führt, können wir so nicht übertragen. Und in dieser Ge- d. h. immer mehr Bürgerinnen und Bürger werden zuneh- mengelage tauchen immer wieder solche Parteien auf; mend europakritischer. Rechtspopulistische oder rechtsra- auch vor dem Hintergrund, dass es keinen Cordon Sanitaire dikale Parteien nehmen diese Tendenzen dann gerne auf. seitens des Mainstream gibt. Regierungsbildung funktio- Rolf Frankenberger: Vielen Dank. Aus den Beiträgen können niert daher relativ einfach. In der Slowakei ist beispiels- wir folgern, dass uns das Phänomen Rechtspopulismus und weise die SNS seit März 2016 zum dritten Mal an einer Rechtsextremismus wahrscheinlich noch eine ganze Weile Regierung beteiligt, und zwar unter Führung eines nominell beschäftigen wird in Europa. Und wahrscheinlich nicht nur sozialdemokratischen Ministerpräsidenten. Es ist in West- in Europa. Wenn wir den Blick weiten in Richtung USA, ge- europa zurzeit undenkbar, dass Sozialdemokraten mit gebenenfalls auch in Richtung Asien, sehen wir in einigen Rechtsradikalen eine Regierungskoalition auf nationaler Ländern ganz ähnliche Tendenzen. Die Diskussion hat Ebene bilden. Was jedoch jenseits dieser Unterscheide zu aber auch gezeigt, dass wir in Europa und selbst in Län- sehen ist, ist ein Rechtsruck fast des gesamten politischen dern, die sich in der Sprache relativ ähnlich sind, letztlich Spektrums. Demgegenüber gibt es in Osteuropa kaum unterschiedliche Erklärungsmuster für diese Phänomene noch nennenswerte Linksparteien, so dass ein Korrektiv und für die Stabilität von rechtspopulistischen und rechts- fehlt. Insofern ist die politische Situation viel offener. Par- extremen Phänomenen heranziehen müssen.

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bis2017_01_inhalt.indd 25 27.03.17 16:00 Rolf Frankenberger, Steffen Kailitz Steffen Frankenberger, Rolf Prof. Dr. Adrian Vatter ist Professor für Schweizer Politik und Prof. Dr. Ursula Birsl ist Professorin für Demokratieforschung Direktor am Institut für Politikwissenschaft an der Universität am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität in in Bern. Er arbeitet über schweizerische Politik, politische Marburg. Sie arbeitet zu den Themen Rechtsextremismus Institutionen, insbesondere Föderalismus, direkte Demokra- und Gender, Demokratie und Geschlecht sowie zu Migra-

DISKUTIERENDE UND MODERIERENDE UND DISKUTIERENDE tie und Konkordanz sowie über subnationale und verglei- tion und Interkulturalität. chende Demokratieforschung.

Prof. Daniel Stockemer ist Associate Professor for Political Dr. Rolf Frankenberger ist Akademischer Rat am Institut für Studies an der Universität Ottawa, Kanada. Er ist derzeit Politikwissenschaft der Universität Tübingen. Seit 2009 ist Gastprofessor und Humboldt-Forschungsstipendiat an der er Sprecher des Arbeitskreises „Vergleichende Diktatur- Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Er arbeitet zu und Extremismusforschung“ in der Deutschen Vereinigung politischer Partizipation, Wahlen, sozialen Bewegungen, für Politikwissenschaft (DVPW). In den Jahren 2015/16 ge- Rechtextremismus, Demokratie und Demokratisierung, der hörte er dem Vorstand der DVPW an. Er arbeitet zu Auto- politischen Repräsentation von Frauen sowie qualitativen kratie und Transformation, Vergleich und Analyse politi- und quantitativen Methoden. scher Systeme Osteuropas, insbesondere Russlands.

PD Dr. Steffen Kailitz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Prof. Dr. Michael Minkenberg ist Professor für vergleichen- Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dres- de Politikwissenschaft an der Europa-Universität Viadrina den und Privatdozent an der TU Dresden. Er ist seit 2012 in Frankfurt/Oder. Er arbeitet zu Rechtsradikalismus in West- Mitglied im Sprecherrat der Sektion „Vergleichende Politik- europa, den USA sowie Mittel- und Osteuropa. Er forscht wissenschaft“ und Gründungsmitglied des Arbeitskreises darüber hinaus über das Verhältnis von Religion und Politik „Vergleichende Diktatur- und Extremismusforschung“ der in der modernen Demokratie. Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW). Er arbeitet vergleichend über Autokratien und Demokratien und politischen Extremismus.

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bis2017_01_inhalt.indd 26 27.03.17 16:00 RECHTSPOPULISMUS IN ÖSTERREICH Die Stärken der Rechtspopulisten und mögliche Gegenstrategien – Das Beispiel Österreich Alexander Pollak

SPÖ und FPÖ unter dem SPÖ-Bundeskanzler Fred Sino- Österreich steht an der Kippe zu einem politischen watz und dem FPÖ-Vizekanzler Norbert Steger kam. Dammbruch. Die rechtsextrem durchsetzte Freiheitliche Auch Steger war um ein liberaleres Image der FPÖ bemüht. Partei Österreichs (FPÖ) führt seit mehr als einem Jahr Diese FPÖ-Strategie änderte sich schlagartig im Jahr stabil in den Umfragen. Der Bundespräsidentschaftskan- 1986, als Jörg Haider die Kampfabstimmung um den Par- didat der FPÖ, Norbert Hofer, wurde beinahe in eines teivorsitz gegen Steger gewann und die Parteiführung der höchsten Ämter des Staates gewählt. Rechtspopulis- übernahm. Die SPÖ kündigte daraufhin umgehend die Ko- ten und Rechtsextreme haben in Österreich gute Chan- alition mit der FPÖ auf. Es kam zu Neuwahlen und, wie cen, in nächster Zeit auf nationaler Ebene in wichtige schon zwischen den Jahren 1945 und 1966, zur Bildung Machtpositionen zu gelangen. Auf Bundesländerebene einer Großen Koalition bestehend aus SPÖ und ÖVP. haben sie das bereits geschafft. Im Burgenland regiert Haider machte aus der FPÖ eine rechtspopulistische Partei die Sozialdemokratische Partei (SPÖ) zusammen mit der mit nationalistischem und rechtsextremem Einschlag und FPÖ. In Oberösterreich hat die konservative Österreichi- feierte bis zum Regierungseintritt der FPÖ Anfang 2000 sche Volkspartei (ÖVP) ein Arbeitsübereinkommen mit Wahlerfolge in Serie. Obwohl die FPÖ bei der Wahl mehr der FPÖ geschlossen. Nach einem kurzen Abriss der Stimmen bekommen hatte als die ÖVP, überließ Haider Geschichte des Aufstiegs rechtspopulistischer und dem ÖVP-Politiker Wolfgang Schüssel die Position des rechtsextremer Parteien erörtert Alexander Pollak meh- rere Fragen: Woher rührt die Stärke der extremen Rech- ten? Was können sie, was andere Parteien in Österreich nicht können? Und welche Gegenstrategien bieten sich für diejenigen an, die für eine offene, von Vielfalt ge- prägte Demokratie und gegen rassistische und nationa- listische Tendenzen eintreten?

Aufstieg des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Österreich nach 1945

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildete sich in Ös- terreich unter Aufsicht der Alliierten ein politisches System, das über viele Jahre und Jahrzehnte von den zwei Parteien SPÖ und ÖVP dominiert wurde. Die Anfangs noch im Nati- onalrat vertretene Kommunistische Partei (KPÖ) verlor bald an Bedeutung. Im Jahr 1949 kam es zur Gründung des Verbands der Un- abhängigen (VdU). Der Verband war die politische Vertre- tung ehemaliger NSDAP-Mitglieder, Kriegsheimkehrer und deutschsprachiger Vertriebener. Nach dem Abzug der Alli- ierten aus Österreich im Jahr 1955 wurde die FPÖ gegrün- det, die bald darauf den Großteil des VdU absorbierte. Erster Parteiobmann der FPÖ war der ehemalige SS-Briga- deführer Anton Reinthaler. Auf Reinthaler folgte der ehe- malige SS-Obersturmführer Friedrich Peter als Parteiob- mann der FPÖ. Unter Peter kam es ab den 1960er Jahren zu einer Annäherung der FPÖ an die SPÖ, wodurch sich Teile Heinz-Christian Strache beim Bundesparteitag der FPÖ in des rechtsextremen Flügels von der Partei abspalteten. Pe- Klagenfurt. Strache übernahm 2005 die Obmannschaft der ter unternahm den Versuch, die FPÖ koalitionsfähig zu ma- FPÖ. Er verordnete der FPÖ einen strammen Rechts- und chen und bemühte sich um ein liberaleres Image. Auch Oppositionskurs. Die FPÖ stabilisierte sich unter Strache seine Nachfolger setzten diese Bemühungen fort. Mit dem zusehends. Sie erreichte elf Prozent bei der Wahl 2006, Erfolg, dass es nach den Nationalratswahlen 1983, als die 17,5 Prozent bei der Wahl 2008 und übersprang 2013 die FPÖ mit fünf Prozent das schwächste Ergebnis ihrer Ge- 20-Prozent-Grenze. Derzeit ist sie in der Gunst der schichte erzielte, zu einer Koalitionsregierung zwischen Wählerinnen und Wähler die deutlich stärkste Partei. picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 27 27.03.17 16:00 Bundeskanzlers und installierte seine Stellvertreterin Su- sanne Riess-Passer als Vizekanzlerin. Haider selbst zog sich politisch nach Kärnten zurück, wo er als Landeshaupt- mann fungierte. Bald nach dem Regierungseintritt der FPÖ kam es zum Ab- Alexander Pollak Alexander sturz der Partei in der Wählergunst und zu internen Strei- tigkeiten. Bei der Wahl 1999 erhielt sie noch 26,9 Prozent; bei der Wahl 2002 hingegen nur noch zehn Prozent der Stimmen. Die Spannungen innerhalb der Partei führten schließlich im Jahr 2005 zur Spaltung. Haider gründete das Bündnis Zu- kunft Österreich (BZÖ). Heinz-Christian Strache übernahm die Obmannschaft der FPÖ. Strache verordnete der FPÖ einen strammen Rechts- und Oppositionskurs. Personal vom rechten Rand gewann wieder zunehmend an Gewicht in der Partei, während liberal-nationale Funktionäre die Partei verließen. Strache gelang es, die FPÖ wieder zu stabilisieren. Er er- reichte elf Prozent bei der Wahl 2006, 17,5 Prozent bei der Wahl 2008 und übersprang 2013 wieder die 20-Prozent- Grenze. Derzeit liegt die FPÖ in Umfragen sogar bei 33 Prozent und ist damit in der Gunst der Wählerinnen und Wähler die deutlich stärkste Partei.

Konsequenzen des Aufstiegs rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte

Die Konsequenzen des Aufstiegs der FPÖ in Österreich sind mannigfaltig. Das Auseinanderdividieren der Gesell- schaft, das gegenseitige Ausspielen und Aufwiegeln von Menschen hat in den vergangenen Jahren wieder an Ge- wicht in der politischen Auseinandersetzung gewonnen. Es droht die Wiederkehr einer Politik, die mit Sündenböcken den vergangenen Jahren wurde insbesondere die Flücht- arbeitet, auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit beruht lingsaufnahme, aber auch die Anwesenheit von Muslimen und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zum politi- in Österreich für das „Geschäftsmodell“ der Frontenbil- schen Programm erklärt. Damit wird auch die soziale und dung genutzt. Denn die Aufnahme geflüchteter Menschen rechtliche Ungleichbehandlung von Menschen wieder sa- – wie überhaupt die Einwanderung im Allgemeinen – steht lonfähig. für Veränderung, durchlässige Grenzen und für Menschen, Von Seiten der FPÖ erschallt immer wieder der Ruf nach die als fremd oder unbekannt gelten, und denen vielfach der Installierung eines politischen und sozialen Systems mit Misstrauen begegnet wird und denen oftmals nicht der strikten Trennung in Menschen mit und Menschen ohne gleiche Rechte zugestanden werden. österreichische Staatsbürgerschaft – letztere sollen, wenn Geflüchtete Menschen und Einwanderer eignen sich vor es nach der FPÖ geht, von Sozialleistungen ausgeschlos- allem dort sehr gut als Feindbild, wo es kaum Kontakt zu sen und, wenn sie kein Einkommen haben, der Verelendung ihnen gibt. Dann ist der Spielraum groß, Ängste, Miss- preisgegeben oder des Landes verwiesen werden. trauen, Neid und Unzufriedenheit in die Anwesenheit die- Darüber hinaus soll es, wenn es nach der FPÖ geht, zu ei- ser Menschen hineinzuprojizieren. Jeder Fall von Fehlver- ner Abkehr von einer Politik der allgemeinen Menschen- halten oder Kriminalität, der von einem dieser Menschen rechte und zu einer Wiederkehr einer ethnischen, nationa- ausgeht, kann zur Bestätigung von Ängsten und Vorurtei- len und religiösen Herrschaftspolitik kommen, die klare len sowie zur Aufwiegelung benutzt werden. Und die FPÖ ethnische, nationale und religiöse Über- und Unterordnun- tut das auch. gen vorsieht. Allerdings: Die Flüchtlingsaufnahme erklärt den Aufwind Zu guter Letzt bedeutet das Vordringen der FPÖ in politi- der extremen Rechten in Österreich nur zum Teil. Die FPÖ sche Ämter, dass mit ihr auch rechtsextreme und rassisti- steht heute in Umfragen nicht besser da als vor der Öff- sche Personenkreise in politische Positionen gelangen und nung der Grenzen Ende August 2015. Ihren größten Auf- dort Einfluss ausüben. schwung hatte die extreme Rechte vor der Grenzöffnung, als die FPÖ im Zeitraum von April bis September 2015 in Umfragen innerhalb weniger Monate sieben Prozent- Frontenbildung als „Geschäftsmodell“ punkte dazugewann. Zwischen September 2015 und Ja- nuar 2016 verlor die FPÖ wieder etwas an Boden, bevor sie Zum „Geschäftsmodell“ der FPÖ gehört die Frontenbil- ab Februar 2016, also nach den Ereignissen von Köln und dung entlang von Kriterien wie Herkunft, Hautfarbe, Reli- ab der Schließung der Balkanroute, wieder dazugewann. gion und Staatszugehörigkeit sowie die Ablehnung der Ihren Umfragenhöchststand erreichte die FPÖ im Juli 2016 Gleichwertigkeit homosexueller Lebensgemeinschaften. In mit 35 Prozent. Derzeit hält sie bei 33 Prozent.

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bis2017_01_inhalt.indd 28 27.03.17 16:00 DIE STÄRKEN DER RECHTSPOPULISTEN UND MÖGLICHE GEGENSTRATEGIEN – DAS BEISPIEL ÖSTERREICH

FPÖ, auch weil sie eine wesentlich härtere Oppositionsli- nie verfolgt als etwa die Grünen. Kamen SPÖ und ÖVP bei der Koalitionsbildung im Jahr 1986 noch zusammen auf mehr als 84 Prozent der Stimmen, so waren es bei der Wahl 2013 nur noch 50,8 Prozent, und laut derzeitigem Umfragenstand sind es nur noch 47 Pro- zent. Wären heute Neuwahlen, dann hätten SPÖ und ÖVP keine Mehrheit mehr im Parlament.

Allgemeine Unzufriedenheit mit Regierungen In nahezu ganz Europa wurden seit dem Ausbruch der Spekulations- und Finanzkrise bestehende Regierungen abgewählt, nur in Österreich nicht. SPÖ und ÖVP waren so fest zusammengeschweißt, dass sie auch durch Wahlnie- derlagen nicht aus der Regierung zu bringen waren. Doch Die österreichische „Kronenzei- auch in Österreich hat sich bei vielen Wählerinnen und tung“ erreicht ca. 2,3 Millionen Wählern große Unzufriedenheit aufgestaut. Relativ hohe Leserinnen und Leser. Das sind Arbeitslosigkeit, sinkende Reallöhne, weniger Aufstiegs- 31 Prozent der österreichischen möglichkeiten, steigender Zukunftspessimismus und Ban- Medienkonsumenten. Die kenpleiten sorgen dafür, dass der Wunsch nach einem po- „Kronenzeitung“ arbeitet stark litischen Wechsel groß ist. Die FPÖ versteht es, diese mit Emotionalisierungen und Wechselwünsche anzusprechen und sich als Verände- Dramatisierungen. Somit spielt rungskraft zu präsentieren. sie dem „FPÖ-Geschäftsmo- dell“ durch Angstmache und Medien, die Ängste schüren Frontenbildung in die Hände. Österreich ist ein Land mit einer extrem hohen Medienkon- picture alliance/dpa zentration. Einige wenige Medien sind besonders aufla- genstark und dominieren die Berichterstattung. Allein die „Kronenzeitung“ erreicht 2,3 Millionen Leserinnen und Le- Das heißt: In der Hochphase des zivilgesellschaftli- ser. Das sind 31 Prozent der österreichischen Medienkon- chen Engagements und der sogenannten Willkommens- sumenten. Es folgen die Blätter „Heute“ mit knapp einer kultur konnte die FPÖ nicht dazugewinnen. Das ist eine Er- Million Leserinnen und Leser und „Österreich“ mit mehr als kenntnis, auf die ich im Weiteren noch zurückkommen 600.000 Leserinnen und Leser. möchte. Alle drei Blätter vereint, dass sie mit Emotionalisierungen und Dramatisierungen arbeiten – und teilweise auch mit der ethnisierenden Aufladung von Ereignissen. Somit spie- Strukturelle Erfolgsfaktoren der extremen Rechten len sie dem „FPÖ-Geschäftsmodell“ durch Angstmache und Frontenbildung stark in die Hände. Zu diesem „Ge- Doch was macht die FPÖ so attraktiv für die Wählerschaft? schäftsmodell“ gehört eben auch, dass Fälle von Fehlver- Wie gelingt es ihr zu mobilisieren? Auf die kommunikativen halten und Kriminalität von der FPÖ für Generalisierungen Mittel, mit denen sich die FPÖ einen Vorteil verschafft, und zur ethnischen, nationalistischen und/oder religiösen möchte ich später zu sprechen kommen. Zuerst will ich ei- Aufwiegelung genutzt werden. nen Blick auf die strukturellen Faktoren werfen, die die FPÖ Teilweise kommt es sogar zu symbiotischen Beziehungen in Österreich stark machen. zwischen Medien und der FPÖ, d. h. die Medien verfassen Beiträge mit dem Hintergedanken, dass sie dann von der Die Große Koalition FPÖ via soziale Medien verbreitet und zigtausendfach an- Starkmacher Nummer eins für die FPÖ war und ist das Re- geklickt werden. gierungsmodell der Großen Koalition. Von den 71 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Österreich Fehlende politische Protestalternativen über einen Zeitraum von 45 Jahre von einer Koalition be- Derzeit sind im österreichischen Parlament vier Opposi- stehend aus SPÖ und ÖVP regiert. Die ÖVP ist in den letz- tionsparteien vertreten. Zwei davon versuchen vergleichs- ten 30 Jahren durchgehend in der Regierung vertreten ge- weise konstruktive Oppositionsarbeit zu leisten, die wesen. Die SPÖ ist seit zehn Jahren wieder Teil der Regie- Grünen und die liberalen NEOS (Das Neue Österreich und rung. Das Problem dabei ist: Wenn beide Zentrumsparteien Liberales Forum). Die anderen beiden Oppositionspar- die Regierung bilden, leidet zum einen die Unterscheid- teien treten populistisch auf, die FPÖ und das inzwischen barkeit der beiden Parteien und zum anderen wird das nahezu bedeutungslose „Team Stronach“. Damit hat die Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition ge- FPÖ im Parlament weitgehend eine Monopolstellung als stört, weil eine Abwahl der Regierung nur bei einer Abwahl Partei, die eine harte, populistische sowie Wut und Pro- der beiden Zentrumsparteien möglich ist. Das wiederum test aufgreifende und verstärkende Oppositionspolitik stärkt die Randparteien, und davon profitiert vor allem die macht.

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bis2017_01_inhalt.indd 29 27.03.17 16:00 Das Gewicht identitätsbezogener Themen verlangen oder als Lösung anzubieten, deren Umsetzung Die FPÖ profitiert auch davon, dass in den vergangenen im Widerspruch zu nationalem oder internationalem Recht Jahren das Gewicht identitätsbezogener Themen zuge- steht oder deren Umsetzung rein faktisch gar nicht möglich nommen hat. Während sich etwa im Jahr 1986 im Zuge der ist. Jegliche kommunikative Ethik und Handlungsethik wird Debatte um Kurt Waldheim und der anschließenden Wahl dem Ziel des Stimmenfangs und des Verhelfens der eige- Alexander Pollak Alexander Waldheims zum Bundespräsidenten identitätsbezogene nen Ideologie zum Durchbruch zumeist untergeordnet. Themen vor allem auf den Umgang mit der NS-Vergangen- heit bezogen, geht es inzwischen in der Regel um Fragen nationaler, religiöser und sexueller Identität in einer von Kommunikative Erfolgsfaktoren der Vielfalt geprägten Gesellschaft und einem (noch) verein- extremen Rechten ten Europa. Solche Identitätsthemen eignen sich beson- ders gut zur Frontenbildung und zur politischen Arbeit mit Die FPÖ versteht es jedoch nicht nur, strukturelle Vorteile zu Feindbildern – dem Spezialgebiet der FPÖ. Hinzu kommen nutzen. Sie hat unter Jörg Haider und später unter Heinz- gegenwärtige Krisensituationen und damit einhergehende Christian Strache sehr wirkungsvolle kommunikative Stra- Unsicherheiten durch die Kriege in Syrien und in der Ukra- tegien entwickelt und perfektioniert, die für ihre Wahler- ine, die Fälle islamistischen Terrors in Europa und die ge- folge mitentscheidend sind. stiegene Anzahl an Menschen, die nach Europa flüchten. l Kommunikationstraining: Jörg Haider galt kommunikativ Die FPÖ und andere Rechte profitieren von einem Zeitalter als großes Talent. Er hat von frühester Jugend an das mannigfaltiger Bedrohungen, von denen man sich abwen- Reden und Überzeugen trainiert und Wege gefunden, det oder deren kraftvolle Beherrschung mittels einfacher, Massen zu begeistern. Seitdem betreibt keine andere rascher, harter und endgültiger Lösungen man will. Partei in Österreich unter ihren Funktionärinnen und Funktionären so systematisch Kommunikationstraining Rassismus bricht hervor wie die FPÖ. Das ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Parteien wie die FPÖ profitieren auch davon, dass viele es l Agenda bestimmen: Rechtspopulistische Parteien be- als Erleichterung empfinden, wenn ihnen jemand zu verste- herrschen vor allem eines sehr gut: so zuzuspitzen und hen gibt, dass es wieder in Ordnung ist, Ressentiments zu provozieren, dass sie die Tagesordnung bestimmen. freien Lauf zu lassen. Viele haben die Entwicklung der ver- Wenn sie dabei über das Ziel hinausschießen, rudern gangenen Jahre, dass Gruppenbezogene Menschen- sie etwas zurück, um dann gleich wieder in den Angriffs- feindlichkeit nicht mehr in Ordnung, Rassismus verpönt und modus überzugehen und die eigenen Botschaften unter Diskriminierung in vielen Bereichen verboten ist, innerlich die Menschen zu bringen. Auf diese Weise schaffen es nicht oder nur teilweise mitvollzogen. Sie wollen nicht mehr die FPÖ und andere rechte Parteien, sehr viel Aufmerk- dafür kritisiert werden, wenn sie Witze auf Kosten anderer samkeit auf sich zu ziehen und sich immer im Gespräch machen oder Menschen zu Gruppen erklären und diese zu halten. Sie profitieren davon, dass sich Medien und kollektiv abstempeln und abwerten. Sie empfinden diese Kritik, diese Aufrufe zu Bedachtsamkeit und zur Sachlich- keit bzw. Korrektheit als Einschränkung, manchmal sogar als „Terror“ – und werden darin von rechten Parteien be- stärkt. Diese bieten Menschen insbesondere in sozialen Netzwerken ein Forum, wo sie ihren Vorurteile und negati- ven Emotionen freien Lauf lassen können.

Soziale Medien als Katalysator Die FPÖ profitiert von den Möglichkeiten sozialer Netz- werke und nutzt diese geschickt aus. Soziale Netzwerke können dazu beitragen, Geschichten und Gerüchte ra- send schnell zu verbreiten, auch gezielte Falsch- und Ver- schwörungsgeschichten. Soziale Netzwerke dienen auch als Echokammern für die Bestätigung und Verfestigung von Haltungen und zum Schüren von Emotionen. Und sie erlau- ben es, Starkult zu betreiben und eine Nähe zu prominen- ten Persönlichkeiten herzustellen. So wurde von der FPÖ schon sehr früh ein Kult um die Facebook-Seite von Ob- mann Strache aufgebaut. Inzwischen zählt Straches Seite mehr als 500.000 Fans und damit deutlich mehr als jede andere Politikerseite in Österreich.

Skrupellosigkeit Die FPÖ spricht in Wahl- Nicht zuletzt gehört es auch zu den strukturellen Vorteilen kämpfen häufig direkt zu den der extremen Rechten, dass sie meist ohne Skrupel agieren Wählerinnen und Wählern und und ihnen ihre Wählerinnen und Wähler dies nicht nach- nicht (nur) über sich. So titelte tragen. Die FPÖ hat meist kein Problem damit, Unwahrhei- Heinz-Christian Strache im ten zu verbreiten, zu diffamieren und zu verleumden, Men- Jahr 2008: „Sie sind gegen ihn, schen gegeneinander auszuspielen und aufeinander zu weil er für euch ist.“ hetzen. Die FPÖ schreckt auch nicht davor zurück, Dinge zu picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 30 27.03.17 16:00 politische Gegner zu profilieren versuchen, indem sie DIE STÄRKEN DER RECHTSPOPULISTEN jede Provokation aufgreifen, meist ohne zu unterschei- UND MÖGLICHE GEGENSTRATEGIEN – den, ob es sich um eine Provokation handelt, die den DAS BEISPIEL ÖSTERREICH Provokateuren nutzt oder ihnen schadet. l Einfache Sprache: Die FPÖ legt sehr viel Wert auf eine tionen gemacht. Das heißt, die FPÖ präsentiert sich nicht einfache Sprache. Kurze Sätze. Keine Fremdwörter. Oft- nur als Opposition zu den gerade Regierenden, son- malige Wiederholungen. Reime, die man sich leicht mer- dern auch als Opposition zum „System“, ohne genauer ken kann. Die Presseaussendungen der FPÖ gleichen zu definieren, wo sie innerhalb bzw. außerhalb „des oftmals Artikeln in Boulevardmedien. Und das ist kein Systems“ steht. Erleichtert wird diese Taktik durch das Zufall. Rechtspopulisten schreiben und sprechen wie lange Bestehen der Großen Koalition in Österreich, wo- Boulevardmedien, damit das Geschriebene und Ge- mit SPÖ und ÖVP leicht als „Systembeherrscher“ darge- sprochene von diesen gut aufgegriffen und verarbeitet stellt werden können. werden kann. l Immer das Opfer: Zu den rhetorischen Strategien der l Lob für „das Volk“: Die FPÖ ist die einzige Partei in Öster- FPÖ gehört auch, sich prinzipiell zum Opfer zu erklären. reich, die nicht nur sich, sondern auch regelmäßig „das Zum Opfer „des Systems“, zum Opfer von Medien, die Volk“ lobt, das „klug“, „mündig“ und auf „ihrer Seite“ ist. gegen sie sind und sie viel härter angreifen als andere; Zugleich vereinnahmt die FPÖ ihre Wählerinnen und zum Opfer von Leuten, die sie immer kritisieren, und zum Wähler – jeder Angriff auf die Partei wird zum Angriff Opfer eines „Establishments“, das auf sie herabsieht, sie gegen alle, die die Partei gewählt haben, umgedeutet. ausgrenzt und verspottet. Diese Opferrhetorik wendet Die FPÖ spricht auch in ihren Wahlkampagnen häufig die FPÖ auch und gerade dann an, wenn sie selbst durch zu den Wählerinnen und Wählern und nicht nur über provokative oder rassistische Äußerungen zur verbalen sich. Schon Jörg Haider titelte „Er hat Euch nicht belo- Täterin geworden ist. gen“ oder „Sie sind gegen ihn, weil er für Euch ist“. Auch l „Superdemokraten“: Eine weitere rhetorische Strategie Norbert Hofer hatte im Präsidentschaftswahlkampf un- rechtspopulistischer Politiker ist es, sich als „Super- ter anderem auf Slogans wie „Deine Heimat braucht demokraten“ zu präsentieren, indem sie mehr Volksab- Dich jetzt“ oder „In Eurem Sinne entscheiden“ gesetzt. stimmungen fordern. Demokratie wird auf Abstimm- l Gegen das System: Die FPÖ präsentiert sich als Bewe- ungen und Mehrheitsentscheide reduziert bzw. Volks- gung von unten. Obwohl die FPÖ bereits mehr als 60 entscheidungen werden zur (einzig) „wahren Demokra- Jahre existiert und auch schon in Bundesregierungen tie“ erhoben. Grund- und Minderheitenrechten wird vertreten war und in Landesregierungen vertreten ist, dem gegenüber kein Gewicht gegeben und die reprä- stellt sie sich als Gegenpol zum „Establishment“ und als sen tative Demokratie erfolgreich als „Elitendemokratie“ außerhalb „des Systems“ stehend dar. In Wahlkämpfen diskreditiert. wird Stimmung gegen „die Politik“ und politische Institu- l Einzige Retter vor dem Untergang: Es gehört zum fixen Re- pertoire der FPÖ, apokalyptische Bilder zu zeichnen, die vom kulturellen Untergang, verursacht durch Einwande- rung und die Unmöglichkeit des Zusammenlebens in Vielfalt, bis hin zu einem bevorstehenden Bürgerkrieg reichen. Zugleich präsentieren sich FPÖ-Politiker als die einzigen Beschützer und Retter „des österreichischen Volkes“. l Sprechen die „wahren“ Probleme an: FPÖ-Politiker prä- sentieren sich als die einzigen, die „den Mut haben“, die „wahren Probleme“ anzusprechen. Sie sagen, sie wür- den sich nicht von der „Political Correctness“ unterdrü- cken lassen. Das Schüren von Ressentiments wird dabei oftmals mit „Probleme ansprechen“ gleichgesetzt und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zum „Akt des Mutes“ und der Überwindung von „Political Correct- ness“ erklärt. Das fällt bei vielen, die das Ausleben von Vorurteilen, Sündenbockdenken und Pauschalisierun- gen als befreiend empfinden, auf fruchtbaren Boden. l Beherrschen das Spiel mit Emotionen: Unter Jörg Haider hat die FPÖ wiederentdeckt, dass Emotionen politisch viel wirkungsvoller sind als Fakten und dass es zur Schaf- fung von Wahrheiten keine Wahrhaftigkeit braucht, sondern Beharrlichkeit. Das Hauptziel der Kommunika- tion der FPÖ ist es, einen emotionalen Nerv zu treffen. Dazu zählt das Spiel mit Identitäten sowie mit Angst, Neid, Missgunst, Wut und Egoismus. l Immer eine Lösung parat: Nicht zuletzt offeriert die FPÖ immer eine „Lösung“, und zwar nicht irgendeine, son- dern eine einfache, harte, kraftvolle „Lösung“, die mäch- tig bzw. mächtig machend wirkt. Dass viele dieser „Lö- sungen“ nicht (ohne Rechtsbruch) umsetzbar sind und/

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bis2017_01_inhalt.indd 31 27.03.17 16:00 Bundesparteiobmann der FPÖ Heinz-Christian Strache am Mittwoch, 1. März 2017, beim Alexander Pollak Alexander Politischen Aschermittwoch der AfD in Osthofen (Bayern) am Rednerpult. Erfolgreiche Stra- tegien, um den Aufstieg der Rechtspopulisten stoppen zu können, müssen auch deren „Seilschaften“ und Bündnis- partnerschaften in den Blick nehmen. Rechtspopulisten pro- fitieren von den Erfolgen gleichgesinnter Parteien, ler- nen voneinander und besetzen mit ihrer Kommunikationsstra- tegie bestimmte Themen, die von der Öffentlichkeit Zuspruch erfahren. picture alliance/dpa

oder auf dem Ausschluss von Menschen allein aufgrund massiv eine Grenzverletzung ist und ob (und auf welche ihrer Herkunft oder Religion beruhen und/oder gravie- Art und Weise) eine Thematisierung den Rechten eher rende negative Folgewirkungen hätten, stört die FPÖ schadet oder eher nutzt. nicht. l Über das reden, was DU tust, was DIR wichtig ist: Um die themenbestimmende Kraft der Rechten zu durchbre- chen, bedarf es nicht nur mehr Gelassenheit und Diffe- Strategien gegen den Erfolg der extremen Rechten renzierung in Bezug auf ihre Provokationen, sondern auch mehr Eigeninitiativen. Man muss über das reden, Was sind nun mögliche Strategien, um den Aufstieg der was einem selbst wichtig ist und was man selbst tut – Rechtspopulisten und Rechtsextremen zu stoppen? Wiede- und weniger darüber, was die Rechten tun. rum spielen sowohl strukturelle als auch kommunikative l Auf die Kraft von positiven Handlungen setzen: Anknüp- Faktoren eine Rolle. Doch zuallererst gilt es, ein Bewusst- fend an dem letzten Punkt ist es wichtig, auf die Kraft sein für die Stärken der Rechten und für die eigenen Stär- positiver Handlungen zu setzen. Wie bereits eingangs ken zu entwickeln. erwähnt, konnte die FPÖ in den Monaten der offenen l Sich der Stärken der Rechten bewusst sein: Es ist immer wie- Grenzen und der sogenannten Willkommenskultur in der erstaunlich, wie wenig sich Parteien und Personen, den Umfragen nicht zulegen. Im Gegenteil, für einige die gegen Rechts auftreten, mit den Stärken der Rechten Wochen wurde es sehr still um die FPÖ. Die positiven beschäftigt haben. Dabei ist diese Beschäftigung der Handlungen tausender Menschen gegenüber Hilfsbe- Grundstein dafür, dass erfolgreich dagegengehalten dürftigen zogen nahezu alle Aufmerksamkeit auf sich. und am eigenen Erfolg gearbeitet werden kann. So kann Diese Macht positiver Handlungen sollte im Auge be- beispielsweise aus dem Bewusstsein darüber, dass die halten und genutzt werden. FPÖ systematisch an ihrer Kommunikation feilt und ihre l Fragen, wo der Schuh drückt: Was sind Deine Träume? Leute schult, abgeleitet werden, dass Kommunikations- Der direkte Kontakt, das direkte Gespräch mit Men- training und die Auseinandersetzung mit kommunikati- schen in unterschiedlichen Lebenslagen und mit unter- ven Strategien zum professionellen Rüstzeug jedes Poli- schiedlichen Einstellungen und Meinungen sollte mehr tikers gehören sollte, der erfolgreich handeln will. als bisher gesucht werden. Nur durch das Zugehen auf l Sich der eigenen Stärken bewusst sein: Die Rechtspopulis- Menschen und das miteinander Reden können Prob- ten und Rechtsextremisten zu beobachten und zu analy- leme erkannt und ein offeneres Denken unterstützt wer- sieren reicht nicht, um erfolgreich zu sein. Daher braucht den. es auch ein Bewusstsein bezüglich der eigenen Stärken. l Dialoge schaffen: Es gilt, mehr Begegnungsräume und Wie kann ich Aufmerksamkeit auf mein Handeln und Dialogforen zu schaffen, wo Menschen unterschiedli- meine Anliegen lenken? Womit kann ich überzeugen? cher Herkunft, Hautfarbe, Religion, sexueller Orientie- Was ist attraktiv an meinen Vorschlägen? rung, Geschlecht usw. einander auf einer Augenhöhe l Nicht auf jede Provokation reagieren: Im Wissen, dass kennen lernen und Vorurteile relativieren oder gänzlich Rechte Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen, indem sie abbauen können. Provokatives sagen, gilt es, nicht auf jede Provokation zu l Menschen, die sich gegen Flüchtlinge äußern, nicht gleich in reagieren. Gelassenheit ist vielfach die stärkste Waffe ein Eck stellen: Es ist wichtig zwischen Personen, die Hass gegen das rechte Eifern um Aufmerksamkeit. Das heißt schüren, und Menschen, die verunsichert sind, zu unter- nicht, dass auf gar keine Provokation reagiert werden scheiden. Es gibt nicht nur die, die sich „besorgte Bür- soll, sondern es heißt vielmehr, dass abzuwägen ist, wie ger“ nennen, aber in Wahrheit eine rassistische Agenda

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bis2017_01_inhalt.indd 32 27.03.17 16:00 verfolgen, sondern es gibt auch tatsächlich besorgte DIE STÄRKEN DER RECHTSPOPULISTEN Bürgerinnen und Bürger, die nachvollziehbare Ängste UND MÖGLICHE GEGENSTRATEGIEN – haben. DAS BEISPIEL ÖSTERREICH l Emotionen ansprechen: Die Rechten machen erfolgreich vor, wie wichtig es ist, Emotionen anzusprechen und Bil- ihrer Parteikollegen zu üben, und manchmal kann man der in den Köpfen von Menschen zu aktivieren bzw. zu sie auch zum Austritt aus ihrer Partei bewegen. verankern. Diesbezüglich braucht es auch ein stärkeres l Keine Große Koalition: Ein wichtiges Lebenselixier der Bewusstsein und Handlungsrepertoire bei anderen po- FPÖ ist die Große Koalition. Die Große Koalition bindet litischen Kräften. die Zentrumsparteien aneinander und unterbindet das l Informieren, Aufklärungsarbeit leisten: Neben dem An- Wechselspiel aus Regierung und Opposition zwischen sprechen von Emotionen gilt es jedoch nach wie vor, mit den Zentrumsparteien. Von der Bildung von Großen Ko- Fakten zu arbeiten und Informations- und Aufklärungs- alitionen ist daher, wo immer möglich, abzuraten. arbeit zu leisten. Es sollte keine Unterwerfung unter das l Oppositionsalternativen: Nicht zuletzt braucht es auch Diktat der „Faktenbefreiung“ bzw. des „Postfaktischen“ „Wutalternativen“ zu rechten Parteien. Es braucht Pro- erfolgen. testbewegungen und Protestparteien, die ihr Personal l Kampagnen gegen das Gelangen von Rechtsextremen in nicht aus dem rechtsextremen Lager rekrutieren und die Machtpositionen: Neben Kritik an rechten Äußerungen, nicht auf rassistisch motivierte Frontenbildung setzen. wenn diese eine massive Grenzverletzung darstellen, gilt es auch weiterhin, klar gegen das Vordringen von Rechtsextremen in Machtpositionen aufzutreten. Dass Abschlussbemerkung Rechtsextreme in politische Ämter gelangen, sollte nie- mals als Normalität hingenommen werden. Die obige Abhandlung der Stärken der Rechtspopulisten l Demokratiebildung an Schulen und in der Öffentlichkeit: und Rechtsextremisten und möglicher Gegenstrategien Demokratie ist kein Selbstläufer. An Demokratie muss speist sich aus meinen – in den vergangenen sechs Jahren gearbeitet werden. Für Demokratie muss immer wieder gemachten – Erfahrungen und Überlegungen als Mitge- Bewusstsein erzeugt werden. Das sollte im Bildungsbe- schäftsführer und Sprecher der österreichischen Men- reich anfangen, aber sich nicht nur auf die Arbeit mit schenrechtsorganisation SOS Mitmensch. SOS Mitmensch Kindern und Jugendlichen beschränken. Es braucht wurde vor 24 Jahren als Gegenpol zu rassistischen Ten- auch darüber hinausgehende wiederkehrende Initiati- denzen und zum Aufstieg der FPÖ gegründet. Schaut man ven zur Stärkung und Förderung des Demokratiebe- sich die Wahlergebnisse und Umfragen in Österreich an, wusstseins. könnte man zum Schluss kommen, dass die Arbeit von Or- l Fortwährendes Engagement: Demokratie, Antirassismus ganisationen wie SOS Mitmensch nicht erfolgreich ist. und das Zusammenleben in Vielfalt brauchen fortwäh- Doch es konnten im Bereich der Antidiskriminierung und rendes Engagement. Es braucht Integrationsinitiativen bei der Stärkung antirassistischer Projekte und Bewegun- und -strukturen, die permanent wirken und möglichst gen durchaus Erfolge erzielt werden. Viel Arbeit und Enga- breite Teile der Bevölkerung mit einbeziehen. gement in einer gerade in Unruhe befindlichen Welt liegen l Gelebte Willkommenskultur: Auch wenn der Begriff „Will- jedoch noch vor uns. kommenskultur“ für viele inzwischen zu einem Unwort verkommen ist, weil er von rechter Seite erfolgreich dis- kreditiert und mit „Naivität“ und „Chaos“ gleichgesetzt wurde, so braucht es eine Fortsetzung der Kultur der Menschlichkeit, Solidarität, Freiheit, Hilfsbereitschaft und Gleichberechtigung – und zwar in Bezug auf alle

Menschen, nicht nur in Bezug auf Menschen auf der UNSER AUTOR Flucht. Denn es gibt kaum eine stärkere integrative Kraft als eine gelebte Willkommenskultur. l Keine Arroganz, keine Überheblichkeit: Ein schwerer Feh- ler, den Gegner der Rechten immer wieder machen, ist, diese als dumm herunterzumachen und zu verspotten. Die Arroganz und Überheblichkeit ihrer Gegner gehört mit zu den schärfsten Waffen der Rechtspopulisten und Rechtsextremen. Das spielt ihrer Strategie der Selbst- darstellung als Opfer und der Behauptung, ständig von „denen da oben“ schlecht behandelt und abgewertet zu werden, in die Hände. Alexander Pollak ist seit Ende 2010 Sprecher der österreichischen l Nicht verharmlosen, aber auch nicht dämonisieren: Par- Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch. Davor leitete er teien und Bewegungen der extremen Rechten sollten fünf Jahre lang Antidiskriminierungsprojekte bei der EU-Grund- nicht verharmlost, aber auch nicht undifferenziert dä- rechteagentur (FRA) in Wien. Er hat an der politikwissenschaftlichen monisiert werden. In der FPÖ gibt es nicht nur Hasspre- Fakultät der Universität Wien gelehrt und zahlreiche Bücher und diger, sondern auch einige Personen, die eine konstruk- Artikel zu wissenschaftlichen Themen und zum politischen Zeitge- tive, wenn auch stark nationalistisch eingefärbte Politik schehen verfasst. Zuletzt erschienen sind 2013 „Gut gegen Möl- machen wollen. Mit diesen Personen kann man ins Ge- zer. Exkursion ins rechte Eck“ und 2015 „Hassprediger. Der auf- spräch kommen. Diese Personen kann man manchmal haltsame Aufstieg des Johann G.“ auch dazu bewegen, Kritik an rassistischen Aussagen

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bis2017_01_inhalt.indd 33 27.03.17 16:00 POLENS RIGIDER NATIONAL-KATHOLISCHER POPULISMUS Erscheinungsformen und Ursachen des Rechtspopulismus in Polen Thomas Handrich

Moderatoren entlassen. Die PiS will Polens nationale und Das Phänomen Rechtspopulismus machte auch vor den kulturelle Identität vor einer linken, kosmopolitisch denken- Demokratien Mittelosteuropas nicht Halt. Im Oktober den Elite innerhalb und außerhalb des Landes bewahren. 2015 gewann die Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość/ Dieser als korrupt beschriebenen Elite wird unterstellt, den Recht und Gerechtigkeit) die polnischen Parlamentswah- Ausverkauf Polens an internationale Konzerne zu betrei- len, nachdem wenige Monate zuvor der PiS-nahe An- ben. Zudem drohe durch die Internationalisierung die Ge- drzej Duda als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen fahr, dass Polen seine traditionellen moralischen Werte ver- hervorgegangen war. Neben Ungarn ist Polen der zweite liere: Respekt, Würde, Unabhängigkeit und Freiheit sowie EU-Staat, in dem eine rechtspopulistische Partei eine au- die große Bedeutung von Familie und zweigeschlechtlicher ßerordentliche politische Gestaltungsmacht gewonnen Ehe. Als klerikale Partei sind die moralischen Wertvorstel- hat. Die Programmatik der PiS ist eine rigide national- lungen der PiS mit denen der katholischen Kirche in Polen katholische Ideologie, in deren Zentrum der National- identisch: Es gelte, ungeborenes Leben zu beschützen vor staat als „Bewahrer“ von Normen und Moralvorstellun- dem krankhaften Westen mit seiner entarteten Freizügig- gen steht. Der Aufstieg der rechtspopulistischen PiS ist keit und Genderdiktatur. Insbesondere Feministinnen und untrennbar mit der Person von Jarosław Kaczyński ver- LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten4 fürchten sich im heuti- bunden, der – so Thomas Handrich1 – als Strippenzieher gen Polen mehr als je zuvor vor Diskriminierung. und Stratege die absolute Autoritätsperson der Partei ist. Ebenso geraten zivilgesellschaftliche Organisationen ins Aufstieg und Wahlerfolg der PiS sind eine Folge der Visier der Regierung und müssen um ihre materielle Exis- ökonomischen Entwicklung nach dem Ende des Staatsso- tenz fürchten. Die Bürgerinnen und Bürger, die sich gleich zialismus. Die neoliberale Spielart des polnischen Kapi- nach dem Wahlsieg in der außerparlamentarischen Op- talismus hat Verlierer produziert und diese ins Abseits positionsbewegung KOD5 (Komitet Obrony Demokracji/ gedrängt. Die gezielte Ansprache dieser Menschen Komitee zur Verteidigung der Demokratie) formierten, wur- durch sozial- und wirtschaftspolitische Versprechen ga- den als „vaterlandslose Polen minderer Sorte“ bezeichnet rantierte den Wahlerfolg der PiS. – ein neues Feindbild war geschaffen. In der Europäischen Union (EU) verlangt die PiS mehr Mit- sprache bei politischen Entscheidungen. In der Vergan-

Die rechtspopulistische PiS: Schleichender Putsch von oben

Die PiS erfüllt alle wesentlichen Kriterien einer rechtspopu- listischen Partei. Ihre Führungspersönlichkeiten vertreten die Haltung, das einfache Volk gegen das Establishment verteidigen zu müssen. Sie argumentieren, dass sich in der Nachwendezeit korrupte Ex-Kommunisten, Geheimagen- ten und neureiche Wendegewinner das Land angeeignet und Polen nicht in eine liberale Demokratie, sondern in eine postkommunistische Scheindemokratie geführt hätten. Ob- wohl ihr nur 19 Prozent der Wahlberechtigten die Stimme gaben2, ist sie im Parlament mit absoluter Mehrheit ausge- stattet. Sie geriert sich als Bewahrerin der „wahren“ Interes- Der Aufstieg der rechtspopu- sen der polnischen Nation und positioniert sich sowohl listischen Partei PiS (Prawo i stramm antikommunistisch als auch antipluralistisch. Dabei Sprawiedliwość/Recht und möchte sich die PiS nicht vom Verfassungsgericht blockie- Gerechtigkeit) ist untrennbar ren lassen und begründet dies damit, dass ihre Vorgänger- mit der Person von Jarosław regierung kurz vor der Wahl Richterposten illegal besetzt Kaczyński verbunden, der als habe.3 Bereits während ihrer ersten Regierungszeit zwi- Strippenzieher und Stratege schen 2005 und 2007 hatte das Verfassungsgericht mehr- die absolute Autoritätsperson fach Gesetzesvorhaben der PiS zurückgewiesen. Nun soll der Partei ist. Kaczyński domi- eine Gleichschaltung des Verfassungsgerichtes mit den In- niert als charismatische Führer- teressen der PiS eine Blockade der „nationale Wiederge- figur die polnische Regierung burt“ verhindern. Ähnlich agierte die PiS gegenüber den und auch den Staatspräsiden- Medien. Alle staatlichen Medien wurden direkt dem Kultur- ten Andrzej Duda. ministerium unterstellt, zahlreiche Moderatorinnen und picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 34 27.03.17 16:00 genheit hätten die Deutschen fast immer die Zügel in der ERSCHEINUNGSFORMEN UND URSACHEN Hand gehalten und sich dabei auf polnische Helfershelfer DES RECHTSPOPULISMUS IN POLEN verlassen können wie den gegenwärtigen EU-Ratspräsi- denten und Polens Ex-Ministerpräsidenten Donald Tusk. In der Flüchtlingspolitik verweigert Polen seine Teilnahme an schwörungstheorie basierende Film „Smolensk“ mit der Ex- der europäischen Kontingentregelung: Das Land müsse plosion als Höhepunkt uraufgeführt. sich schützen und abgrenzen vor fremden Mächten und Auch Lech Walęsa, Ikone der polnischen Solidarność- Kulturen. Seit Regierungsantritt schürt die PiS mit ihrem Me- Bewegung und zwischen 1990 und 1995 Staatspräsident dienapparat und mit Unterstützung der katholischen Kir- Polens, geriet ins Visier: Ihm wird unterstellt, mit dem Ge- che Ängste gegenüber Muslimen. Sie ließen sich nicht as- heimdienst kooperiert zu haben. Der wahre Held der similieren, importierten ihre Probleme und stellten so eine Solidarność und des Umsturzes von 1989 sei sein damali- Bedrohung dar.6 Flüchtenden müsse in ihren Ländern ge- ger enger Weggefährte Lech Kaczyński gewesen, wird holfen werden. Deutschland handelt aus Eigeninteresse, suggeriert. Der Mythos und Heldenkult um seinen Zwillings- um sein demografisches Problem zu lösen, so die PiS-Posi- bruder sichert Jarosław Kaczyński die Macht ohne Amt. tion. Doch nicht nur jüngste historische Ereignisse werden neu Typisch für Rechtspopulismus ist eine charismatische Füh- interpretiert. Auch historische Kapitel erfahren eine Neuin- rerschaft. Der Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński ist für terpretation im Rahmen der „guten Wende“ – so der PiS- die Regierung, inklusive Staatspräsident, die absolute Au- Slogan. Verbrechen, die von Polen vereinzelt im Zweiten toritätsperson und zugleich unbestrittener Strippenzieher Weltkrieg begangen wurden, werden ausgeblendet. Hel- und Stratege. Als einfacher Parlamentsabgeordneter hat dengeschichten über polnische Partisanen, die nach dem er nahezu diktatorische Gestaltungsmacht und schafft mit Zweiten Weltkrieg gegen die kommunistische Regierung Verschwörungstheorien neue Mythen. 2010 war sein Zwil- und die sowjetische Besatzungsmacht kämpften, rücken in lingsbruder Lech Kaczyński, damals polnischer Präsident, den Fokus.8 bei einem Flugzeugabsturz nahe bei Smolensk7 ums Leben gekommen. Seither behauptet Jarosław Kaczyński, nicht ein Flugfehler bei schlechtem Wetter sei die Ursache des Populistische Wirtschafts- und Sozialpolitik Unglücks gewesen, sondern eine Explosion im Flugzeug. garantierte den Wahlerfolg Dahinter vermutet er ein Komplott der Russen. Immer wie- der lässt er neue Gerüchte streuen – bis dahingehend, Zentral für den Wahlerfolg der PiS ist jedoch ihre Program- dass Ex-Premier Donald Tusk im Bund mit Russlands Präsi- matik einer populistischen Wirtschafts-und Sozialpolitik. denten Wladimir Putin für den Absturz verantwortlich ge- Die wirtschafts- und sozialpolitische Agenda der PiS ba- macht wird. Obwohl eine staatliche Untersuchungskom- sierte auf Umfragen, bei denen Menschen gefragt wurden, mission keine Hinweise auf eine Explosion fand, lässt er wo der Schuh drückt und welche Änderungen wünschens- nun alle Leichen exhumieren; die Untersuchungen werden wert sind. Darauf aufbauend entwickelte die PiS Strate- ein Jahr dauern. Außerdem wurde kürzlich in Warschau gien und kündigte Änderungen in der Sozial- und Arbeits- unter Anwesenheit der Regierung der völlig auf dieser Ver- marktpolitik an. Ein monatliches Kindergeld in Höhe von 500 Polnischen Zloty (PLN)9 wurde versprochen, ebenso die Senkung des Renteneintrittsalters für Frauen von 65 auf 60 Jahre und bei Männern von 67 auf 65 Jahre sowie kos- tenfreie Medikamente für Bürger ab dem 75. Lebensjahr. Mietwohnungen für sozial schwache Familien sollen ge- baut, die Mehrwertsteuer von 23 auf 22 Prozent gesenkt, nicht sozialversicherte Arbeitsverträge abgeschafft und Mindeststeuersätze angehoben werden. Diese sozialpolitischen Vorhaben10 deuten darauf hin, dass Polen vom Wirtschaftsmodell der letzten 25 Jahre ab- weicht. Das dafür notwendige Geld soll durch die Einfüh- rung einer Vermögensbesteuerung von Banken und Fi- nanzunternehmen in Höhe von 0,44 Prozent in die Staats- kasse fließen. Geplant sind außerdem Sondersteuern zwischen 0,8 und 1,4 Prozent für Supermarktketten, die sich in ausländischer Hand befinden. Damit sollen kleinere Händler und Unternehmer vor der Übermacht ausländi- scher Konzerne geschützt werden. Mittlerweile ist die Regierung bei einigen, die Staatskasse belastenden Versprechungen zurückgerudert. So soll das neue Renteneintrittsalter erst zum 1. Oktober 2017 in Kraft treten, und die Rentenzahlungen sollen möglicherweise viel niedriger ausfallen. Auch Kindergeld gibt es erst ab dem zweiten Kind unter 18 Jahren. Die Anhebung der Min- deststeuersätze wird noch diskutiert. Es tun sich erhebliche Finanzierungslücken auf, aber vor einer wirksamen Um- verteilung von oben nach unten schreckt die Regierung zu- rück.

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bis2017_01_inhalt.indd 35 27.03.17 16:00 Wo die Regierung massiven Gegenwind spürt wie bei der geplanten Verschärfung des sowieso schon restrikti- ven Abtreibungsrechts im Oktober 2016, lässt Jarosław Kaczyński die PiS rasch zurückrudern. Umgekehrt werden der aktuellen Stimmungslage folgend im Hauruckverfah- Thomas Handrich Thomas ren neue Gesetze auf den Weg gebracht und der Öffent- lichkeit als „Volkswille“ präsentiert. Nicht linke Umvertei- lungsvorstellungen sind Grundlage der PIS-Politik, son- dern aktuelle Umfragen und Stimmungstrends in der Bevölkerung bestimmen den Kurs. Zur populistischen Wirt- schaftspolitik gehört auch, den Staat wieder stärker an Unternehmen zu beteiligen. Die seit Beginn der Transfor- mation geförderte Privatisierung ist beendet, der Einfluss ausländischen Kapitals wird von der Regierung als Teil des gegenwärtigen Übels betrachtet.

Vordergründige Erklärungsansätze für den Wahlsieg der PiS

Dass sich das freiheitsliebende Polen 26 Jahre nach dem politischen Wandel der Jahre 1989/1990 eine Regierung wählt11, die demokratische Grundsätze wie Gewaltentei- lung und Medienpluralismus missachtet und eine Kultur der Kerzen brennen am Vorabend des 1. November (Allerhei- Missachtung und Ausgrenzung innerer und äußerer ligen) auf einem Friedhof in Krakau. Die moralischen Wert- „Feinde“ propagiert, hat in Polen – und auch außerhalb vorstellungen der PiS sind mit denen der katholischen Kirche des Landes – viele überrascht und schockiert. in Polen identisch: Es gelte, ungeborenes Leben zu beschüt- In den Erklärungsversuchen für die Wahlergebnisse wird zen vor dem krankhaften Westen mit seiner entarteten Frei- auf die abgewirtschaftete und sich selbst bloßstellende zügigkeit und Genderdiktatur. Ebenso wichtig ist in diesem Führungsriege der vorherigen Regierungspartei PO (Plat- Moralkanon die Bedeutung der Familie und die absolute forma Obywatelska/Bürgerplattform) verwiesen, die ihre Wertschätzung der zweigeschlechtlichen Ehe. Anhängerschaft nicht mobilisieren konnte. Geschadet hat picture alliance/dpa der PO-Regierung insbesondere eine Abhöraffäre, bei der vertrauliche Gespräche von Regierungsvertretern in War- schauer Restaurants aufgezeichnet und im Jahr 2014 und Viele polnische Publizisten haben lange Zeit den Einfluss wenige Monate vor den Wahlen veröffentlich wurden. Die von klerikalen, konservativen Gruppierungen auf die Ent- Protokolle führten der Öffentlichkeit vor, wie korrupt die Re- wicklung der polnischen Gesellschaft unterschätzt. Man gierungsmitglieder agierten und wie abschätzig sie sich ging davon aus, dass die nachwachsende Generation sich über ihr Land und seine Menschen äußerten. Zwar wurden mehrheitlich zum europäischen Gedanken bekennen und mehrere Minister entlassen, doch das änderte nichts da- sich die Debatte von selbst erledigen werde. ran, dass die Regierungspartei bereits vor den Wahlen bei Unterschätzt wurde aber auch, dass die Bevölkerung nicht Umfragen weit hinter der PiS lag. bereit war, die klientelistische und korrupte Politik der Re- Polarisiert hat im Wahlkampf auch die Entscheidung von gierungskoalition aus PO und PSL (2007–2015) länger zu Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Grenze für Flüchtlinge akzeptieren. Minister konnten nicht die Herkunft teurer Au- im September 2015 zu öffnen. Die Grenzöffnung sei nicht tos oder Luxusuhren erklären, und absolut unqualifizierte mit der polnischen Regierung abgestimmt gewesen, habe Günstlinge der politisch Verantwortlichen bekamen gut Chaos verursacht und ganz Europa belastet, begründen bezahlte Jobs in Staatsunternehmen und in der Verwal- viele Beobachter das polnische Wahlergebnis. Viele radi- tung. Der Regierungswechsel im Herbst 2015 bedeutete kale Islamisten seien im Strom der Flüchtlinge unkontrolliert tatsächlich das Ende langjähriger Seilschaften. nach Europa eingereist. Analysten gehen davon aus, dass auch dies der PO Stimmen gekostet hat, zumal Donald Tusk und die PO als enge Verbündete Merkels gelten. Wurzeln des Rechtspopulismus in Polen Einige erklären den Wahlausgang auch mit historischen Erblasten, die Polen immer noch sozial und kulturell spalten: In vielen Analysen wird ein zentraler Ursachenkomplex für Vor allem in den rückständigen Gebiete im Osten und Süd- den Aufstieg des Rechtspopulismus – nicht nur in Polen – osten habe sich durch ausbleibende Verbesserungen viel ausgeblendet. Dass Demokratien erodieren, ist wesentlich Unzufriedenheit angesammelt.12 In der Tat hat die PiS in den auf die Folgen des neoliberalen kapitalistischen Modells14 ländlichen Regionen des Ostens die größte Unterstützung. zurückzuführen, auf denen sie fußen. Angela Merkel nennt Andere sehen in mentalen Überbleibseln aus der kommu- das „marktkonforme Demokratie“. Zunächst wuchsen in nistischen Zeit das größte Hindernis für eine Modernisie- Großbritannien (Thatcherismus, später New Labour) und rung des Landes. Eine Versorgungsmentalität und das An- den USA (Reaganomics) die ökonomischen, sozialen und spruchsdenken des Homo Sovieticus13 verhindere Selbst- kulturellen Gegensätze, später breitete sich dieser Trend verantwortung, das Lebenselixier moderner Gesellschaften auch in Kontinentaleuropa aus. Der Abbau der sozialen – so diese Interpretation. Marktwirtschaft unter Helmut Kohl und die Agenda 2010

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bis2017_01_inhalt.indd 36 27.03.17 16:00 ERSCHEINUNGSFORMEN UND URSACHEN DES RECHTSPOPULISMUS IN POLEN

merte sich der Staat nicht mehr darum – fast bis heute. Auf- grund fehlenden heimischen Kapitals waren es vor allem Banken und ausländische Investoren, die von dieser Art der „schöpferischen Zerstörung“15 profitierten. Zunächst nahmen breite gesellschaftliche Schichten die Einführung neoliberaler Prinzipien und Mechanismen als Fortschritt gegenüber ineffektiver staatlicher Klüngelwirtschaft wahr.16 Zugleich mussten sie aber auch mitansehen, dass durch Korruption und Gesetzeslücken manche über Nacht zu Millionären wurden. Es bildete sich eine neue Wirt- schaftsoligarchie17, während ein Großteil der Bevölkerung zunächst einen Reallohnverlust von über 20 Prozent hin- nehmen musste.

… und seine Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung

Der eingeschlagene Weg der wirtschaftlichen Trans- formation hatte tiefgreifende Konsequenzen für die wei- tere Entwicklung in Polen. Die neue wirtschaftliche und po- unter Gerhard Schröder waren in Deutschland wichtige litische Elite, in die sich auch einflussreiche Mitglieder der Meilensteine. Dabei sind es die Mechanismen der Wachs- alten Nomenklatura hinüberretten konnten, war geprägt tums- und Leistungsfixierung, die die Gesellschaften spal- von Eigennutz, skrupellosem Durchsetzungsvermögen und ten, den Individuen künstliche Bedürfnisse suggerieren, die Klientelismus. So verspielte die weitgehend aus der Umwelt zerstören und die politische Klasse nicht selten zu Solidarność-Bewegung hervorgegangene neue politische einem Anhängsel von Wirtschaftsoligarchien degradie- Klasse rasch ihren moralischen Rückhalt in der Gesell- ren. In der Folge wandten sich große Teile der Bevölkerung schaft. Die Vorstellung, dass „die da oben“ ihren eigenen vom etablierten politischen System und vom gesellschaftli- Interessen folgen und sich nicht dem Gemeinwohl ver- chen Grundkonsens ab. Diese Auflösungserscheinungen pflichtet fühlen, verfestigte sich weiter.18 finden im wachsenden Populismus ihre Ausdrucksform, wie sich unlängst in den USA gezeigt hat. Ein sozial und kulturell gespaltenes Land

Neoliberalismus auf Polnisch: Therapie des In der Folge vertieften sich die sozialen und kulturellen heilsamen Schocks … Spaltungen in der Gesellschaft. In den größeren Städten mit weit verzweigter Wirtschaftsstruktur profitierten zu- In Polen, wie in den anderen postsozialistischen Ländern, nächst auch viele Kleinstbetriebe und Einzelhändler von fiel die Einführung der neoliberalen Politik mit dem Ende der beginnenden Privatisierung. Eine breite Mittelschicht, des Staatssozialismus zusammen. Weil es keine den Kapi- gemeinhin Träger einer neuen Gesellschaftsformation, talismus einhegenden Traditionen und Institutionen gab, konnte sich jedoch nicht herausbilden. Die Bediensteten im konnte das System mit voller Wucht durchgesetzt werden. staatlichen Sektor und in staatlichen Großbetrieben ver- In der postkommunistischen Variante des Kapitalismus dienten in den ersten Jahren viel weniger als ihre Kollegin- fehlten sowohl ein funktionierendes System der sozialen nen und Kollegen im florierenden privaten Dienstleistungs- Sicherung als auch ein selbstbewusstes Bürgertum, starke bereich. Sie teilten zwar die Faszination für die Glitzerwelt Arbeitnehmerorganisationen und eine lebendige, organi- in den neuen Konsumtempeln Warschaus, Posens oder sierte Zivilgesellschaft. In Polen verordnete der damalige Krakaus, doch ihr spärliches Gehalt ermöglichte ihnen Finanzminister Leszek Balcerowicz dem Land eine Schock- kaum Teilhabe. Von der Modernisierung wenig erfasst therapie: Er gab die Preise frei, baute Subventionen ab, wurden ländliche Regionen und alte Industriegebiete mit fror Löhne ein, liberalisierte den Außenhandel und sorgte einer Monoindustriestruktur.19 Die Globalisierung zer- für eine Teilkonvertibilität der polnischen Währung. Alle störte die alten landwirtschaftlichen Strukturen. Bereits Wirtschaftssubjekte sollten zu marktkonformem Verhalten nach wenigen Jahren lagen Lebensmittelproduktion und gezwungen werden. Der Staat ordnete alles diesem -vertrieb weitgehend in der Hand ausländischer Konzerne. Hauptziel unter und zog sich zugleich aus ökonomisch re- Schulabgängerinnen und Schulabgänger finden bis heute gulierenden Funktionen zurück; der Aufbau sozialstaat- in ländlichen Regionen kaum Arbeit. Vor allem aus diesen licher Sicherungssysteme sollte irgendwann später statt- strukturschwachen Regionen emigrierten in den vergange- finden. Große Staatsbetriebe mussten einer restriktiven nen 20 Jahren Millionen Menschen insbesondere nach Lohn- und Investitionspolitik folgen, vieles wurde zu Dum- England, das als erstes EU-Land polnische Arbeitskräfte pingpreisen verschleudert. Wo es keine Kaufinteressenten legal aufnahm. gab wie bei der Bahn oder im Gesundheitssystem, küm-

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bis2017_01_inhalt.indd 37 27.03.17 16:00 Nostalgie, Ironie oder „spiele- rische“ Aufarbeitung der kom- munistischen Vergangenheit? Im vorweihnachtlichen Kon- sumrausch des Jahres 2014 Thomas Handrich Thomas war das Spiel „Reglamentacja“ (Rationierung) der Renner. Das Brettspiel erinnert an Zeiten der Mangelwirtschaft. Die Spielkarten wurden nach dem Vorbild echter Lebensmit- telmarken angefertigt. Nährt das Brettspiel Zweifel an der Glitzerwelt in den Konsumtem- peln Polens oder am neolibe- ralen Wirtschaftsmodell? Oder ist es ein „Lobgesang“ auf neue Zeiten mit unbegrenzten Ein- kaufsmöglichkeiten im westlich angehauchten Warensorti- ment? picture alliance/dpa

Psychosoziale Atomisierung Rechtspopulistische Führergestalten und Parteien konnten immer wieder Einfluss auf Parlaments- und Präsident- Der radikale Umbruch veränderte nicht nur den Alltag der schaftswahlen nehmen.27 Menschen, sondern auch sie selbst. Individualistische Hal- Immer wieder thematisierten polnische Politikerinnen und tungen und Egoismus grassieren. Zeit wurde zu Zeitdruck, Politiker nationale Identitätsfragen und beschworen eine die Pflege von Freundschaften zum Luxusgut. Gemein- heldenhafte gemeinsame Geschichte. Die Historisierung schaft wird oft nur noch als Event erlebt.20 Das polnische sollte eine Gemeinschaftlichkeit erzeugen, die der Markt Schulsystem fördert nicht gemeinsames Lernen, sondern nicht herstellen konnte. Der Populismus nahm also seinen Ellenbogenmentalität.21 Viele Kinder werden sich selbst Aufschwung, lange bevor die PiS von 2005 bis 2007 zum oder den Großeltern überlassen, wenn die Eltern im Wes- ersten Mal regierte und die Bewahrung der polnischen ten arbeiten; manche der „Eurowaisen“22 mussten sogar ins Identität zum programmatischen Kernthema machte. Heim. Auch aus der Arbeitswelt wird von demütigenden Behandlungen seitens der Arbeitgeber berichtet. „Müll- verträge“23 hebeln die Menschenwürde aus.24 Es gibt keine Woher kommt die Anziehungskraft des dem Autor bekannten wissenschaftlichen Studien, die die Rechtspopulismus? weitreichenden und weitverzweigten Auswirkungen des Transformationsprozesses auf das psychische Wohlerge- Wer sozial verunsichert ist oder keine Perspektive für sich hen und das soziale Verhalten in Polen umfassend unter- sieht, hat ein gesteigertes Bedürfnis nach Orientierung sucht haben. Eigene Recherchen lassen jedoch darauf und Welterklärung. Dass der Kapitalismus in Polen Freiheit schließen, dass auch das soziale Vertrauen außerhalb der und ein besseres Leben gebracht haben, glauben vor al- Familie und zwischen den Generationen grundlegend ge- lem viele junge Polinnen und Polen nicht mehr. Der städti- stört ist. sche Alltag ist geprägt von der Angst vor Arbeitslosigkeit. Gut bezahlte, sichere Jobs sind nur wenigen vergönnt, von günstigen Wohnungen ganz zu schweigen. Auf dem Land Die diskreditierte politischen Klasse wachsen viele in zerrütteten Familienstrukturen auf, ohne sinnstiftende Freizeitaktivitäten und Kontakte zu Menschen Ein Mangel an Vertrauen prägt das Verhältnis zwischen außerhalb Polens. Blickte die Mehrzahl der Jugendlichen Gesellschaft und Politik seit langem. Die Parteien verfüg- vor einigen Jahren noch optimistisch in die Zukunft und be- ten seit 1989 nie über eine breite Mitgliederbasis. Die eng fürwortete die westliche Lebensweise und das politische mit der Privatwirtschaft verbandelten politischen Entschei- System, scheint die Stimmung gekippt zu sein. Viele fühlen dungsträger versuchten stets, ihre geringe politische Ge- sich ausgeschlossen. Antisoziale Haltungen und eine mas- staltungsmacht zu verbergen.25 Aber auch die Selbstor- sive Ablehnung als fremd empfundener Lebensstile – wie ganisation der Gesellschaft ist zu schwach, um die jewei- z. B. gleichgeschlechtliche Liebe – greifen um sich. Hass lige Regierung zur Kursänderung zwingen zu können. und Fremdenfeindlichkeit stoßen kaum auf Widerstand. Allerdings wurden mehrere Regierungen abgestraft. Zwi- Über 60 Prozent der 18- bis 29-Jährigen haben Parteien schen 1989 und 1994 gab es nicht weniger als fünf Regie- gewählt, die mehr oder weniger fremdenfeindliche und eu- rungswechsel. Bei den Präsidentschaftswahlen 1991 ließ ropaskeptische bis die EU gänzlich ablehnende Positionen der vorher völlig unbekannte, aus den USA zugereiste vertreten. Nach Angaben des polnischen Meinungsfor- Stanisław Tymiński im ersten Wahlgang den amtierenden schungsinstituts CBOS (Centrum Badfania Opinii Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki hinter sich.26 Po- Społecznej) bezeichnet ein Drittel der Menschen im Alter len kennt das „Phänomen Trump“ bereits seit dieser Zeit. von 18 bis 24 Jahren seine Weltanschauung als rechts.28

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bis2017_01_inhalt.indd 38 27.03.17 16:00 Linke Jugendbewegungen wie beispielsweise Nigdy ERSCHEINUNGSFORMEN UND URSACHEN 29 Więcej , die gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit DES RECHTSPOPULISMUS IN POLEN protestieren, haben bei weitem nicht die Organisations- kraft wie beispielsweise in Deutschland.

ANMERKUNGEN Quo vadis Polen? 1 Der Autor vertritt in diesem Beitrag seine persönliche Meinung. Seit seinem Auslandsstudium an der Warschauer Universität im Jahre 1985 ist er dem Land und seinen Menschen eng verbunden. Die PiS-Regierung ist nach der Wahl im Oktober 2015 in 2 Sie erhielt 37,6 Prozent der abgegebenen Stimmen; die Wahlbeteili- der Gunst der Wählerinnen und Wähler nicht gesunken. gung lag bei 50,92 Prozent. 3 In der Tat hatte die Vorgängerregierung (2007–2015), die liberal- Das zeigt die falsche Annahme, dass rechtspopulistische konservative Bürgerplattform PO (Platforma Obywatelska/Bürgerplatt- Parteien an Anziehungskraft verlieren, sobald sie selbst form) und die Bauernpartei PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe), den Vor- politische Verantwortung übernommen haben. wand für die Entmachtung des polnischen Verfassungsgerichts als demo- kratische Kontrollinstanz geliefert. Sie verabschiedeten noch kurz vor den Es wird höchste Zeit, den Aufstieg rechtspopulistischer Be- Wahlen im Oktober 2015 ein Reformgesetz zum Verfassungsgericht, das wegungen und Parteien als das wahrzunehmen, was er ist: dem damaligen Parlament das Recht zusprach, auch die beiden erst im Ein Produkt des Zerfallsprozesses von Gesellschaftsforma- November – also nach den Parlamentswahlen – frei werdenden Richter- stellen im Verfassungsgericht zu besetzen. Das war verfassungswidrig, tionen, die wir gemeinhin als „westliche Demokratien“ be- denn dieses Recht stand laut polnischer Verfassung dem neuen Parlament zeichnen. Die Politik der PiS ist deshalb so erfolgreich, weil zu. Die PO-PSL-Koalition ernannte also im Oktober fünf Richter, obwohl sie sie an den beiden Schwachstellen unseres Demokratiemo- nur drei hätte ernennen dürfen. Nachdem die PiS die absolute Mehrheit gewonnen hatte, erklärte sie die Wahl aller fünf Richter für ungültig und dells ansetzt. Die neoliberale Politik erzeugt nicht nur sozi- ernannte selbst fünf Richter, die sofort von Staatspräsident Andrzej Duda ale Kälte, sondern ihre Hauptakteure verbarrikadieren sich vereidigt wurden. Nun ist die Wahl von drei Richtern verfassungswidrig. auch hinter dem Credo der Alternativlosigkeit. Politikerin- 4 Die Abkürzung LGBT kommt aus dem Englischen und steht für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender. nen, Politiker und staatliche Institutionen ignorieren bisher 5 Das KOD hat sich zu einer Protestbewegung gegen die PiS-Regierung konsequent Möglichkeiten nichtmarktkonformer, menschli- entwickelt. Die Namensgebung soll erinnern an das KOR (Komitet Obrony cher Vergesellschaftungsmodelle, mit denen in der Zivilge- Robotników/Komitee zur Verteidigung der Arbeiter). Dieses wurde 1976 von Arbeiterinnen, Arbeitern und Intellektuellen gegründet und zur Keim- sellschaft vieler Länder schon eifrig und intensiv experi- zelle der späteren Solidarność-Bewegung. mentiert wird. 6 Als häufig nach Polen Reisender ist es frappierend, wie monoton, auch Da es in Polen keine glaubwürdige linksliberale bzw. linke aus dem Freundeskreis, seit Herbst 2015 bei Besuchen ähnliche Fragen 30 gestellt werden: „Lebst Du sicher in Berlin? Was war da in Köln zu Silvester politische und gesellschaftliche Kraft gibt , konnte die PiS los? Denkst Du wirklich, dass Deutschland es schafft, die Flüchtlinge zu ungehindert kapitalismuskritische Stimmen für sich gewin- integrieren?“ Mein Eindruck ist, dass die Kampagne erfolgreich Ängste nen. Umgekehrt gewinnen extrem rechte Gruppierungen, insbesondere vor Muslimen geweckt hat. Vor zwei Jahren gab es diese Ängste noch nicht. bestärkt durch die ausländer- und flüchtlingsfeindliche Po- 7 Zu den Passagieren gehörten auch Lech Kaczyńskis Ehefrau, zahlrei- litik der PiS, an öffentlichem Raum.31 che Abgeordnete, Regierungsmitglieder, hochrangige Offiziere, Kirchen- Ob die PiS-Regierung dauerhaft Zustimmung erntet, wird vertreter, leitende Vertreter von Zentralbehörden sowie Vertreter von Ver- bänden der Opferangehörigen des Massakers von Katyn. Sie waren un- davon abhängen, ob es ihr gelingt, ihre sozialen Verspre- terwegs zu einer Gedenkveranstaltung anlässlich des Jahrestages von chungen einzulösen. Woher aber das Geld nehmen? Sie Katyn. In Polen steht der Name Katyn für das Leiden Polens unter sowjeti- will weder die Existenz oder die Profitmöglichkeiten der mitt- scher Herrschaft. 1940 ließ Stalin ca. 4.400 polnische Offiziere in Katyn ermorden. lerweile etablierten Privatunternehmen aus dem In- und 8 So wurden die sterblichen Überreste von zwei jungen Partisanen, die Ausland gefährden, noch die Staatsverschuldung nach beide im Sommer 1946 vom kommunistischen Regime zu Tode verurteilt oben treiben. Ob die Konjunktur die Steuern sprudeln lässt, wurden, im August 2016 mit einem Staatsakt beerdigt. 9 Das entspricht ca. 110 Euro und ist bei Löhnen, die netto oft zwischen hängt weniger von Entscheidungen innerhalb Polens als von 300 und 600 Euro liegen, ein erheblicher Zugewinn für das Familienein- der Weltkonjunktur ab. Von großer Bedeutung wird das Ver- kommen. halten der Polinnen und Polen sein, die sich zu einem weltof- 10 Es gibt noch weitere Verbesserungen im Sozialbereich für Familien und sozial Schwache. Siehe: http://europa.eu/epic/countries/poland/index_ fenen, pluralistischen Europa bekennen. Wenn sie sich mas- de.htm [04.01.2017]. siv äußern, gibt es durchaus Chancen, die Politik zu beein- 11 Die Wahlergebnisse vom Oktober 2015: Mit 37,6 Prozent der Stimmen flussen. Das belegt u. a. die Kampagne „Schwarzer Montag“ gewann die PiS die absolute Mehrheit. Die zuvor regierende liberal-konserva- tive PO (Bürgerplattform) erhielt 24,1 Prozent. Weitere, allesamt rechts der gegen eine geplante weitere Verschärfung des Abtrei- Mitte stehende Parteien: Die nationalkonservative Kukiz´15 mit 8,8 Prozent, die bungsrechts: Jarosław Kaczyński und seine PiS zogen das wirtschaftsliberale Nowoczesna PL (Das moderne Polen) 7,6 Prozent, die christ- Gesetzesvorhaben zurück. Ähnliches geschah mit der ge- demokratische PSL (Bauernpartei) 5,1 Prozent. Alle links von der Mitte stehen- den Parteien scheiterten an der Fünfprozenthürde bzw. ein linkes Wahlbündnis planten Diätenerhöhung für die Parlamentarierinnen und schaffte mit 7,5 Prozent nicht die für Wahlbündnisse geltenden acht Prozent. Parlamentarier. Eine restriktive Politik gegenüber unliebsa- Die Wahlbeteiligung lag bei 50,92 Prozent. men Lehrkräften, Polizistinnen, Polizisten und unbequemen 12 Im weitgehend ländlich geprägten Osten und Südosten Polens ist der Einfluss der katholischen Kirche größer. Hier wurde immer konservativer Journalistinnen bzw. Journalisten wie in der Türkei Erdogans gewählt als im Rest des Landes. wäre in Polen dagegen wohl kaum durchführbar. 13 Der Homo Sovieticus ist eine Wortschöpfung des russischen Dissiden- Der Schlüssel zur Überwindung der kulturellen und ökono- ten und Schriftstellers Alexander Sinowjew. Der Homo Sovieticus ist im Kern ein Opportunist, der sich von seiner Regierung alles gefallen lässt mischen Spaltung liegt im Abschied vom Wirtschaftsmodell, und möglichst wenig Verantwortung übernimmt. dass für die Transformation Polens die Blaupause lieferte: 14 Unter Neoliberalismus ist zu verstehen, wenn ausschließlich die per- Die marktkonforme Demokratie. Wann beginnt eindlich – in sönliche Leistungsfähigkeit Richtschnur von Demokratie und Freiheit ist. Folglich werden Privatisierung und „weniger Staat“ (Deregulierung) als Polen wie in Deutschland und anderswo – ein breiter Diskurs Voraussetzung für mehr persönliche Freiheit gesehen. darüber, wie eine inklusive, demokratische Gesellschaft zu 15 Diesen Begriff prägte – in Anlehnung an Joseph A. Schumpeter – Fried- gestalten ist? rich August von Hayek, Vordenker des modernen Wirtschaftsliberalismus und Spiritus Rector der radikalen Marktreformer in Mittelosteuropa zu Be- ginn der 1990er Jahre. Radikale Marktreformer sind der Auffassung, dass der Prozess des Übergangs zur Marktwirtschaft nicht gestaltet werden kann. Die Menschen müssen die Resultate wie ein Schicksal hinnehmen.

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bis2017_01_inhalt.indd 39 27.03.17 16:00 16 In der polnischen Gesellschaft herrschten damals Vorstellungen von 20 Die Erlebnis- und Konsumorientierung in der Freizeitkultur hat sich mitt- fast paradiesischen Segnungen der sozialen Marktwirtschaft. Mit plan- lerweile ihren westlichen Vorbildern angepasst. und strukturwirtschaftlichem Denken hatte man am häuslichen Küchen- 21 Hierzu Tomasz Szlandak: http://www.bpb.de/internationales/euro- tisch ebenso gebrochen wie in den Universitäten. Es gab keine Diskussion pa/polen/209638/analyse-die-jungen-polen-und-die-politik über Alternativen zum eingeschlagenen Weg, die Theorien der neolibe- [04.01.2017]. ralen Schulen aus dem Westen wurden bereitwillig übernommen. 22 2008 enttabuisierte der Videofilm „Eurowaisen“ das Thema. Siehe zum 17 Obwohl m. E. zutreffend, wird der Begriff in Bezug auf Polen in der Beispiel: „Alex allein zuhause“. URL: http://www.taz.de/!5175414/. Thomas Handrich Thomas Fachliteratur nicht benutzt. [04.01.2017]. 18 In Polen verbirgt sich in dem Begriffspaar „My i Oni“ (Wir und Sie) 23 „Umowy smieciowe“ nennt die jüngere Generation ihre kurzfristigen exakt dieser Gegensatz zwischen dem gemeinen Volk und der moralisch Verträge von einmonatiger Dauer ohne sozialen Schutz. diskreditierten Elite. Durch die jahrhundertelange Fremdbestimmung 24 Es ist erstaunlich, dass das Land der einst erfolgreichen Gewerkschafts- stand das „My“ für die polnische Nation, dass „Oni“ für die fremden Statt- bewegung Solidarność einerseits den Sturz des sich kommunistisch nennenden halter oder für die kommunistische Elite, welche im Gefolge der Roten Regimes mit herbeigeführt hat und andererseits im neuen System keinen Einfluss Armee nach dem Zweiten Weltkrieg in der Volksrepublik Polen das Regime auf die soziale Gestaltung der Arbeitswelt nehmen konnte. übernahm. 25 Es gab und gibt in Polen keine politische linksliberale oder linke Kraft mit 19 Zur eigenen Anschauung empfehle ich einen Ausflug nach Wałbrzych, nicht marktkonformem Einfluss auf die Regierungspolitik. Die aus der PVAP (Pols- 130 Kilometer südöstlich von Görlitz gelegen. Wałbrzych (deutsch Wal- ka Zjednoczona Partia Robotnicza/Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) her- denburg) ist eine von der Kohleproduktion und Verarbeitung geprägte vorgegangene SLD (Sojusz Lewicy Democratycznej/Vereinigung der Demo- und heute weitgehend verarmte Stadt in Niederschlesien. kratischen Linken) war zwischen 1993 und 1997 wieder an der Macht, stellte den eingeschlagenen Weg aber nicht in Frage. Im aktuellen Parlament gibt es keine Partei mit sozialdemokratischem oder sozialistischem Profil. Das Versa- gen der Linken in Polen wäre ein eigenes Kapitel wert. 26 Im zweiten Wahlgang siegte damals Lech Wałesa und wurde polni- scher Präsident. 27 Seitdem gab es mehrere populistische Führergestalten und Parteien in der polnischen Politik: Andrzeji Lepper und seine Bauernpartie Samoobrona (Selbstverteidigung der Republik Polen), Janusz Palikot, Janusz Korwin-Mikke und jetzt aktuell Kukiz`15. Bis auf Palikot sind allesamt Rechtspopulisten. 28 Informationen und einzelne Textbausteine von Krzysztof Ignaciuk, Ra- zem Berlin (aus: www.heute.de/europas-jugend-polen-rechtsruck-der- jungen [kein Zugriff mehr möglich]. 29 Vgl.: http://www.nigdywiecej.org/de/ [04.01.2017].

AUTOR UNSER 30 Es bleibt abzuwarten, ob sich die neuentstandene Partei Razem (Ge- meinsam) zu einer Keimzelle einer neuen Linken entwickeln kann. 31 Hervorzuheben sind hier zwei rechtsextreme Bewegungen: Die RN (Ruch Narodowy/Nationale Bewegung) und die NOP (Narodowe Odrod- Thomas Handrich, Diplom-Politikwissenschaftler, ist seit seinem zenie Polski/Nationale Wiedergeburt Polens). Siehe hierzu: http://www. fr-online.de/polen/-polen-das-braune-problem-in-polen- Auslandsstudium im Jahr 1985 mit Polen verbunden, u.a. als Ost- waechst,33055758,32972978.html und http://www.zeit.de/politik/aus- europareferent der Heinrich-Böll-Stiftung und zuletzt in der Krei- land/2016–11/polen-warschau-marsch-unabhaengigkeitstag-nationa- sau-Initiative Berlin. listen [04.01.2017].

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bis2017_01_inhalt.indd 40 27.03.17 16:00 PEGIDA – EIN INDIKATOR GESELLSCHAFTLICHEN WANDELS? Besorgte, Wut- und Protestbürger: Gefahr für die Demokratie? Stine Marg

sich an einigen Montagen auf den Straßen und Plätzen zu- Trotz vieler Studien und Analysen halten sich hartnäckig sammen4. Aus einem der wenigen Selbstzeugnisse Lutz Vorurteile über die Dresdner Protestbewegung Pegida. Bachmanns, neben René Jahn, Siegfried Däbritz, Tom Ba- Stine Marg beschreibt zunächst die unvermittelte Entste- lasz, Thomas Tallaker, Kathrin Oertel und einigen anderen hung Pegidas und wirft sodann einen Blick auf die Pe- der Gründer und bis heute führende Kopf der Protestforma- gida-Anhänger, die der soliden Mitte und nicht einer tion, ist die Öffentlichkeit darüber informiert, dass Pegida prekarisierten oder abgehängten Bevölkerungsgruppe als Reaktion auf eine angeblich in Dresden beobachtete zuzurechnen sind.1 Des Weiteren ist auffallend, dass die Demonstration, auf der u. a. Waffen für die PKK gefordert mit Pegida Demonstrierenden politisch interessiert sind. worden seien, gegründet worden ist. Man wollte auf die Sie äußern keine grundsätzliche Unzufriedenheit mit der Straße gehen, um gegen die „Glaubens- und Stellvertreter- Idee der Demokratie, kritisieren aber vehement das po- kriege zu protestieren, die Zug um Zug auf unseren friedli- litische Personal, das ihrer Meinung nach in alltagsrele- chen deutschen Boden gebracht werden“.5 Während die vanten Politikbereichen über die Köpfe der Bürgerinnen Pegida-Organisatoren offenbar von den eigenen Erfolgen und Bürger hinweg entscheidet. Diese Politikverdrossen- überrascht worden sind, fanden sich insbesondere bei den heit darf allerdings nicht verschleiern, dass Pegida-An- ersten Demonstrationen zahlreiche vorbestrafte Personen hänger durch eine starke Fremdenfeindlichkeit und Isla- aus dem rechten Milieu sowie Anhänger rechtsextremer mophobie geprägt sind und diese Geisteshaltung auch Gruppierungen6 ein. Durch eine konsequent umgesetzte in den sozialen Netzwerken kommunizieren. Insofern ist Demonstrationsordnung (kein Alkohol, keine Gewalt, keine die abschließende Frage von Stine Marg, ob der von Pegida geäußerte Protest ein Indikator gesellschaftli- chen Wandels und gleichzeitiger Ausdruck einer Legiti- mationskrise ist, politisch durchaus brisant.

Die (plötzliche) Entstehung Pegidas

Besorgte, Wut- und Protestbürger – dieser Dreiklang steckt voller Zuschreibungen, Implikationen und unterschwelliger Botschaften über die Legitimität dessen, was die interes- sierte Öffentlichkeit und viele Sozialwissenschaftler mit großem Elan und besorgten Blicken seit dem Herbst 2014 in Dresden beobachten. Das kreative und eingängige Ak- ronym Pegida für die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ ist mittlerweile weithin bekannt, doch trotz zahlreicher Studien und Analysen2 hal- ten sich weiterhin hartnäckig Vorurteile über die Dresdner Protestbewegung. Daher wird im Folgenden das Phäno- men zunächst beschrieben, bevor ein einordnender Ver- such erfolgt. Auch wenn Tino Heim in einer jüngeren Studie über Pegida argumentiert, dass nicht das Auftauchen der Bewegung an sich überraschend sei – da doch die Dresdner Protestieren- den mit den Kölner HoGeSa-Demonstrationen, den Mon- tagsmahnwachen und sogenannten Nein-zum-Heim-Kam- pagnen organisatorische Vorläufer gehabt hätten und la- tente rechtsextreme beziehungsweise rechtsextremistische Der Gründer der islamkritischen Pegida-Bewegung, Lutz Einstellungen schon immer in der breiten Bevölkerung vor- Bachmann, spricht während einer Kundgebung auf dem Alt- handen gewesen seien3 – ist die plötzliche Entstehung Pe- markt in Dresden. Anfang 2015 wurde bekannt, dass Bach- gidas doch verwunderlich. Dies gilt insofern, als dass die mann auf Facebook Migranten als „Dreckspack“, „Gelumpe“ Bewegung von teilweise politisch unbekannten und uner- und „Viehzeug“ bezeichnet hatte. Die Staatsanwaltschaft fahrenen Personen ins Leben gerufen wurde, denen es ge- nahm daraufhin Ermittlungen auf wegen Verdachts auf lang, im Winter 2014/15 wöchentlich mehr und mehr Teil- Volksverhetzung. Zudem tauchte ein Foto auf, auf dem Bach- nehmer zu mobilisieren. Bis zu 30.000 Menschen fanden mann als Adolf Hitler posierte. picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 41 27.03.17 16:00 Bitte nennen Sie Ihren höchsten erreichten Bildungsabschluss!

Stine Marg Stine 40%

30%

20%

10% Pegida Jan 2015 0% Pegida Nov 2015

Abbildung 1: Bitte nennen Sie Ihren höchsten erreich- ten Bildungsabschluss! Quelle: Eigene Darstellung, Stine Marg

verfassungsfeindliche Symbolik) gelang es jedoch, diese Die Ergebnisse sind – insbesondere im Vergleich mit den Gruppierungen zu disziplinieren beziehungsweise auch anderen Befragungen und trotz aller Problematik, dass sie zurückzudrängen. Darüber hinaus nahmen Woche für Wo- selbstverständlich nur Aussagen über diejenigen zulassen, che auch Dresdner Bürgerinnen und Bürger sowie aus dem die sich an den Umfragen beteiligt haben und nicht über Umland Zugereiste an den sogenannten Spaziergängen die gesamte Demonstrationsmenge an sich – recht eindeu- teil, deren Ansinnen für die Öffentlichkeit insbesondere im tig: Pegida-Anhänger sind eher männlich und mittleren Al- Herbst 2014 noch vage erschien. Als „überparteiliches Ak- ters, sie sind, da die Befragten mehrheitlich aus Dresden tionsbündnis“ wolle man die Eingriffe von religiösen Min- bzw. Sachsen kommen ist dies kaum überraschend, wenig derheiten – insbesondere des Islams – in die Gesellschaft kirchlich gebunden und eher in einer Ehe lebend, denn Sin- zurückdrängen, hieß es in einer der ersten Selbstdarstellun- gle. Sie sind Vertreter einer soliden Mitte mit Realschul- und gen. Anfang Dezember veröffentlichte das sogenannte Universitäts- sowie Fachhochschulabschlüssen. Ein knap- Orga-Team ein 19 Punkte umfassendes Positionspapier, das pes Prozent gibt an, die Haupt- und Volksschule absolviert im Januar 2015 auf eine Sechs-Punkte-Forderung einge- zu haben, demgegenüber liegt der sächsische Bevölke- kürzt wurde: Man forderte ein „Zuwanderungsgesetz“, rungsanteil in diesem Bildungssegment im Schnitt bei 32 mehr direkte Demokratie, mehr Finanzmittel für die innere Prozent10, auch der Arbeiteranteil von sieben Prozent unter Sicherheit und Frieden mit Russland.7 den Pegida-Demonstranten ist im Verhältnis zur sächsi- schen Bevölkerung gering. Das Gros der Befragten sind An- gestellte und Freiberufler beziehungsweise Selbstständige. Wer nimmt an den Pegida-Demonstrationen teil? Die Pegida-Anhänger gehören also nicht zu einer sozial prekarisierten oder abgehängten Bevölkerungsgruppe. Mit dem Anstieg der Teilnehmerzahlen in Dresden entstan- Während die Sozialstruktur eher als mittig zu bezeichnen den zahlreiche Pegida-Ableger in anderen Städten, ist, trifft dies für die politische Einstellung keinesfalls zu. gleichzeitig entwickelte sich eine außergewöhnlich große Dürften bei der kommenden Bundestagswahl nur Pegida- mediale Aufmerksamkeit für das sächsische Phänomen. Anhänger wählen, hätte die Alternative für Deutschland Überdies schien sich in diesem Winter die bundesrepubli- (AfD) die absolute Mehrheit sicher. kanische Zivilgesellschaft zu polarisieren: Während sich Und: Wer mit Pegida demonstriert, interessiert sich für Poli- zwei Tage vor Weihnachten bei kaltem Wetter und schar- tik. Während die Aktivierung zum gesellschaftlichen Enga- fem Wind in Dresden rund 17.500 Personen einfanden, ka- gement und zum politischen Interesse jahrelang im Fokus men zeitgleich in München ungefähr 12.000 Menschen zu- der bundesrepublikanischen Engagementpolitik stand, ist sammen, um gegen Pegida zu demonstrieren.8 Das Institut Pegida ein Repräsentant der aktiven Zivilgesellschaft. Le- für Demokratieforschung befragte mittels einer im Januar diglich 14 Prozent der von uns Befragten gaben an, bei der 2015 durchgeführten Onlineumfrage sowie einer postali- letzten Landtagswahl 2014 nicht gewählt zu haben. Dem- schen Umfrage am 30. November 2015 die Dresdner Pe- gegenüber blieben insgesamt rund 51 Prozent der Sachsen gida-Anhänger. Während den Onlinefragebogen 547 zu Hause. Überdies sind rund neun Prozent der im Januar Personen ausfüllten, beteiligten sich 610 Demonstranten befragten Pegida-Anhänger Mitglied in Parteien – selbst an der postalischen Umfrage.9 Ferner sind wir seit Beginn Protestbündnisse gegen den Stuttgarter Bahnhof oder ge- der Pegida-Demonstrationen in regelmäßigen Abständen gen das Handelsabkommen TTIP weisen selten einen höhe- in Dresden vor Ort, konnten mit zahlreichen Vertretern der ren Parteimitgliederanteil aus.11 Oftmals wurde den Pe- Dresdner Zivilgesellschaft als professionelle Beobachter gida-Anhängern auch eine gewisse Demokratiefeindlich- der Bewegung sprechen und haben mehrere Gruppendis- keit attestiert. Schaut man jedoch darauf, was sie von der kussionen und Interviews mit Pegida-Anhängern durchfüh- Demokratie als Idee im Allgemeinen halten, kann keine ren können. grundsätzliche Unzufriedenheit konstatiert werden.

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bis2017_01_inhalt.indd 42 27.03.17 16:00 Wenig überraschend ist, dass die Pegida-Anhänger mit der BESORGTE, WUT- UND PROTESTBÜRGER: Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik funktioniert, deut- GEFAHR FÜR DIE DEMOKRATIE? lich weniger einverstanden sind. Nun könnte man meinen, dass ein gewisses Missbehagen mit der Ausgestaltung der Demokratie ursächlich für Protest ist – aber das gilt nicht für ten sie hingegen ein ebenso negatives Urteil wie die alle aktuellen Formen des Widerstandes in der Bundesrepu- schriftlich Befragten. blik. So artikulieren TTIP- und Pegida-Gegner beispiels- Die Politikerinnen und Politiker, so die Pegida-Anhängerin- weise in unseren Umfragen eine deutlich höhere Zufrieden- nen und Pegida-Anhänger, haben sich vom „wahren Volk“, heit mit dem demokratischen Ist-Zustand.12 Auch in den das sie selbst durch ihre Präsenz auf der Straße repräsen- Gruppendiskussionen mit Pegida-Anhängern wurde grund- tieren, abgekoppelt. Politikerinnen und Politiker beschränk- sätzlich positiv und differenziert über die Funktionsweise ei- ten ihre Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, stünden für ner modernen Demokratie geurteilt. Demokratie sei, so der eine Parteiendemokratie, die Schuld an den beobachteten Tenor der Aussagen, grundsätzlich schwierig, da man sich Entdemokratisierungseffekten sei, und würden dem deut- aufeinander einlassen und kompromissfähig sein müsse. schen Volk mit ihrer Migrations- und Flüchtlingspolitik in den Rücken fallen. Insbesondere die harschen Urteile eini- ger Politiker über die Demonstranten in Dresden als „Pack“, Unzufriedenheit mit der Politik „Rattenfänger“, „Neonazis in Nadelstreifen“ oder „komi- sche Mischpoke“ waren für zahlreiche Protestierende An- Über die gegenwärtige Ausgestaltung und Funktionsweise lass, sich Pegida, unabhängig von den proklamierten 19 der demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik fäll- Punkten oder sechs Forderungen, anzuschließen. Die Un-

Wenn heute Bundestagswahl wäre, welche Partei würden Sie wählen? *

88,6% AfD 77,4%

2,3% CDU/CSU 0,3%

0,3% Die Grünen 0,2%

2,6% Die Linke 0,5%

1,3% FDP 0,2%

Freie Wähler 0,8% 0,3% Pegida Januar 2015 3,4% Pegida November 2015 NPD 4,9%

0,3% Piratenpartei 0,0%

0,5% SPD 0,2%

2,1% andere 0,2% Abbildung 2: Welche Par- 14,9% tei würden Sie wählen, ich weiß es noch nicht 7,1% wenn heute Bundestags- 9,2% ich werde nicht wählen 2,3% * an 100% fehlende wahl wäre? Angaben = k.A.

Wie zufrieden sind Sie mit der Demokratie als Idee?

50,0%

40,0%

30,0%

Pegida Januar 2015 20,0% Pegida November 2015

10,0%

0,0% sehr zufrieden eher zufrieden teils teils eher sehr Abbildung 3: Wie zufrie- unzufrieden unzufrieden den sind Sie mit der Demokratie als Idee? Quellen: Eigene Darstellung, Stine Marg

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bis2017_01_inhalt.indd 43 27.03.17 16:00 Wie zufrieden sind Sie mit der DemokraƟĞ͕ wie sie in der

Stine Marg Stine BRD funkƟŽŶŝĞrt? 70,0%

60,0%

50,0%

Pegida Januar 2015 40,0% Pegida November 2015 30,0% TTIP-Gegner 2015 NoPegida 2015 20,0%

10,0% Abbildung 4: Wie zufrie- den sind Sie mit der 0,0% Demokratie, wie sie in der sehr zufrieden eher zufrieden teils teils eher unzufrieden sehr unzufrieden BRD funktioniert? Quelle: Eigene Darstellung, Stine Marg

zufriedenheit mit dem amtierenden politischen Personal, der Neubau einer Erstaufnahmeeinrichtung auf einer vor- den regierenden Parteien und den angestrebten politi- mals freien Fläche, bedeutet im Kern die (bauliche) Verän- schen Projekten, nicht jedoch ein Desinteresse an der Poli- derung des unmittelbaren Wohnumfeldes. In den letzten tik an sich oder die Angst vor einer „Islamisierung“, war in Jahren erregten die durch die Politik vorangetriebene bau- der Hochzeit Pegidas entscheidende Motivation vieler liche Umgestaltung des Lebensraumes und die damit zu- Protestierender. Pegida-Anhänger sind umfangreich poli- sammenhängenden Effekte zahlreiche Gemüter, und sie tisch informiert, setzen sich dezidiert mit Reformvorhaben, waren immer wieder Anstoß für Konflikte und Ursachen von Parteiprogrammen oder politischen Projekten auseinan- Protest. Dies gilt nicht nur für die Gegner des Stuttgarter der. Auch wenn zahlreiche Argumentationsmuster ebenso Bahnhofs oder des Frankfurter Flughafens, sondern ebenso durch ein dichotomes Weltbild (hier der „gute Osten“ mit für Protestierende gegen Windkraftanlagen, Stromtrassen einem in die Ecke gedrängten Putin und dort der „böse oder Erdölleitungen. Damit jedoch eine größere Protest- Westen“ mit den imperialistischen USA), als auch durch menge mobilisiert werden kann, braucht es unter anderem den Glauben an eine kollektive Moral eines organisch ein- ein Thema, das eine umfänglichere gesellschaftliche Rele- heitlichen Volkes geprägt sind, sind die „Patriotischen Eu- vanz hat, beziehungsweise mehrere Personengruppen und ropäer“ jedoch nicht diejenigen, die sich vor der Politik Interessen anspricht. Nur ein solcher Frame erzeugt Reso- vollkommen verschließen, sich apathisch zurückziehen nanz über die eigentliche Bewegung hinaus. Die Gegner- oder sich nicht zivilgesellschaftlich beteiligen. schaft zur Energiewende beispielsweise eignet sich hierfür nicht. Auch daher erreichen die meist lokal agierenden Gruppen, die sich gegen den Windkraftausbau engagie- Politik im Nahbereich und übergangener Bürgerwille ren, kaum vermehrten Zulauf oder eine größere Bedeu- tung. Der Widerstand gegen Flüchtlingsunterkünfte und Neben der Unzufriedenheit mit der Politik kann – insbeson- die Furcht vor einer „Flüchtlingswelle“ taugen hierfür ge- dere vor dem Hintergrund der Frage, warum die Pegida- genwärtig schon eher. Die ablehnende Haltung gegen Demonstrationen ausgerechnet in Dresden so erfolgreich (gesellschaftliche) Veränderungen in ihrem unmittelbaren sind – eine Art Gelegenheitsfenster identifiziert werden: Lebensumfeld kann somit als ein weiterer Auslöser für die Nach der Kommunal- und Landtagswahl im Frühsommer Proteste interpretiert werden und erklärt auch die immer 2014 verkündete die Stadt Dresden – vorwiegend mit Hilfe wieder verhandelte Frage, warum ausgerechnet in einem der Medien und weniger beispielsweise über die direkte Bundesland mit einem der niedrigsten Anteile an Information an die Ortsräte und betroffenen Kommunen – Migranten, Geflüchteten und Ausländern eine antiislami- ihr Konzept zur Unterbringung Geflüchteter für die kom- sche Kampagne derart erfolgreich sein konnte. menden Jahre. In diesem Punkt der praktischen Politik- All jene erklärenden Faktoren sollen jedoch keinesfalls ver- umsetzung fühlten sich zahlreiche Dresdner übergangen: schleiern, dass in den durchgeführten Gruppendiskussio- Man habe seine Wahlentscheidung, so ihre Interpretation, nen deutlich wurde, dass Pegida-Anhänger durch eine getroffen, ohne über entscheidende Prämissen aufgeklärt starke Xenophobie und Islamophobie geprägt sind, ge- worden zu sein. Gerade in dem Moment, wenn die Konse- flüchteten Menschen jegliche Partizipationsmöglichkeiten quenzen der Politik im Nahbereich spürbar werden, so die radikal verwehren wollen, Hilfe nur unter eingeschränkten Deutung der Fokusgruppenteilnehmer, lässt man Bürgerin- Bedingungen in Form von Almosen gewähren möchten und nen und Bürger, die sich interessieren, nicht mitentscheiden die Religionszugehörigkeit als klassifizierendes Merkmal beziehungsweise zerstört Vertrauen durch eine nachläs- für „gute“ und „schlechte“ Individuen verwenden. Den- sige Kommunikation über alltagsrelevante Politikbereiche. noch: Eine Reduzierung der Anliegen der Pegida-Anhän- Die Umwidmung beispielsweise eines ehemaligen Hotels ger ausschließlich auf diese rassistischen und diskriminie- im Stadtzentrum in eine Unterkunft für Geflüchtete oder renden Einstellungen ist eine vereinfachte Sichtweise.

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bis2017_01_inhalt.indd 44 27.03.17 16:00 Der politische Diskurs hat sich verändert BESORGTE, WUT- UND PROTESTBÜRGER: GEFAHR FÜR DIE DEMOKRATIE? Nachdem sich die mediale Aufregung gelegt und die öf- fentliche Fokussierung auf das Phänomen nachgelassen hat, könnte man durchaus die Auffassung vertreten, dass rechte, Umweltschutz oder der Friedensbewegung in Ver- die höchstens 3.000 Personen, die im Winter 2016/17 mit bindung gebracht. Dass nun Bürgerinnen und Bürger für den „Patriotischen Europäern“ durch die sächsische Lan- den Schutz der Nation, die strikte Abweisung von deshauptstadt spazieren, getrost ignoriert werden kön- Flüchtenden und gegen eine vermeintliche „Islamisierung“ nen. Viele meinen überdies, dass sich Pegida ohnehin auf mit Erfolg im Sinne einer großen massenmedialen den sächsischen Raum beschränke und daher kaum eine Aufmerksamkeit protestierten, war im Winter 2014/15 neu.17 größere Rolle spielen solle.13 Doch Pegida und die öffentli- Zwar gab es in den letzten Jahren immer wieder Bemühun- che Diskussion über das Phänomen haben, so die These, gen darum, auch rechten Protest zu etablieren, jedoch blie- den politischen Diskurs, das Sprechen über Geflüchtete, ben diese Versuche ohne nennenswerten Mobilisierungs- über Migranten, die „deutsche Identität“ oder auch die erfolg, zogen eher Straftäter und Radikale an, die wiede- Aufgaben des Sozialstaates verändert.14 Und: Pegida ist rum die bürgerliche Mitte abschreckten. Mit Pegida gelang mehr als die Handvoll an Demonstranten, die sich montäg- es, diese Differenz zu überbrücken. lich noch immer in Dresden versammeln. Dies wird insbe- Doch lässt sich anhand von Pegida auch nüchterner fra- sondere durch eine Betrachtung der Diskursräume im Inter- gen, was eigentlich Protest ist18, um das Phänomen mögli- net deutlich.15 Wurde die Facebook-Präsenz von Pegida cherweise etwas unaufgeregter und weniger reflexhaft anfangs ausschließlich für die Bekanntgabe der Demonst- einordnen zu können. Protest kann ein Indikator gesell- rationstermine und -routen benutzt, avancierte das Me- schaftlichen Wandels sein.19 Womöglich wird man in eini- dium im Laufe der mehr als zweijährigen Existenz der Pro- gen Jahren auf den Winter 2014/15 zurückblicken und auf- testbewegung mehr und mehr zur Kommunikationsinstanz grund der Ereignisse in Dresden eine Zäsur in der Entwick- und inhaltlichen Plattform zwischen den Pegida-Organi- lung der politischen Kultur Deutschlands ausmachen. satoren und den Anhängern. Themen werden auf Face- Dennoch: Pegida hat, auch aufgrund der dieser Bewegung book lanciert und auf ihre Resonanz hin getestet. Sie zu Teil gewordenen großen Aufmerksamkeit, viele Dinge werden geteilt, verbreitet, mit weiteren (vermeintlichen) In- lediglich offensichtlich gemacht, die bereits in zahlreichen formationen, Bildern, Videos sowie Nachrichtensegmen- anderen Teilen der Bevölkerung verhandelt wurden und ten unterfüttert und erneut kommentiert. Die Schlagzeilen, hat diese nicht erst hervorgerufen oder erzeugt.20 Hierfür die einen großen Kreis an Interessenten anlocken, werden muss man nicht ausschließlich auf die Gruppenbezogene am Montag ebenso in den Reden von Bachmann, Däbritz Menschenfeindlichkeit der „Patriotischen Europäer“ allein oder anderen, die sich ihrem Publikum meist nur mit Vorna- verweisen, sondern kann auch auf die unter dem Stichwort men vorstellen, aufgegriffen. Während Pegida, die als ein- der „Lügenpresse“ verhandelte Medienkritik hindeuten. getragener Verein mittlerweile eine Parteigründung umge- Unsere qualitativen Befragungen von Bürgerprotestlern, setzt haben, über keine eigene Webpräsenz verfügen, den sogenannten „Wutbürgern“, beispielsweise gegen kommunizierte man ausschließlich über die Facebook- den Stuttgarter Bahnhof im Jahr 2010/11 oder unsere Inter- Seite. Bevor das durch die sogenannte „Hatespeech“-De- views über die Politikwahrnehmung und Sicht auf die Ge- batte weltweit in die Kritik geratene Unternehmen im sellschaft der Aufsichtsräte, Manager und Geschäftsfüh- Herbst 2016 die Seite endgültig sperrte, hatte sie mehr als rer großer bundesrepublikanischer Unternehmen im Jahr 250.000 sogenannte Fans. Damit kann sie ohne Weiteres 2013 hatte bereits zu Tage gefördert, dass nichts so sehr als größte und auch aktivste politische Internetseite im die Gemüter erhitzt und Kritik auf sich zieht, wie die Rolle deutschen Sprachraum bezeichnet werden, kommen doch und Funktion der Medien. Sowohl in den Augen der Bür- die Internetpräsenzen der sogenannten Volksparteien bei gerprotestler als auch der CEOs (Chief Executive Officers) einer deutlich größeren organisatorischen Basis und einer erfüllen die Medien in Deutschland in keiner Weise mehr durch hauptamtliche Mitarbeiter betreuten professionelle- ihre Aufgaben der gründlichen Recherche und Information, ren Performanz lediglich auf ungefähr die Hälfte an „Ge- sondern sind parteiische, allein durch unternehmerische fällt mir!“-Angaben. Zwar konnte die aufgrund der Sper- Notwendigkeiten getriebene sowie unethische Agenten rungen notwendig gewordene Kopie der Seite die Fanzah- und oberflächliche Distributoren von Falschmeldungen. len bisher nicht erreichen, dennoch zeichnen sich die Neben der Indikatorenfunktion kann Protest auch als Aus- Anhänger weiterhin durch eine hohe Aktivität aus. Sie be- druck einer Legitimitäts- beziehungsweise Vertrauenskrise dienen zahlreich und intensiv die (rechts-)populistischen und somit als Symptom einer politischen Krise verstanden Diskursräume, auch auf den AfD-Seiten bzw. den Webprä- werden. Durch ihr Aufbegehren entzieht die Bevölkerung senzen von Markus Pretzell, Björn Höcke oder Frauke Petry der Regierung ihr Vertrauen – immerhin rufen sie beinahe sowie der Jungen Freiheit oder Epoch Times16. jeden Montag in einer Landeshauptstadt: „Merkel muss weg!“ Überdies kann die These vertreten werden, dass Protest- Ist Pegida ein Indikator gesellschaftlichen Wandels? handeln zu einer modernen Form der Demokratie dazuge- hört – wir haben nur noch nicht die adäquaten Begriffe Pegida erregte auch deshalb eine solch große Aufmerk- gefunden, um dies mit dem Wesen einer modernen oder samkeit, weil vormals soziale Bewegungen, Protest und der auch postmodernen Demokratie in Einklang zu bringen Widerstand auf der Straße eher als Artikulationsform von und greifen daher auf antiquierte Vokabeln wie beispiels- links interpretiert worden sind. Protest war in der Geschichte weise Widerstand zurück, die einer zielführenden Analyse der Bundesrepublik bisher überwiegend linker Protest, der Ereignisse im Weg stehen. Oder anders gesagt: Pro- wurde eher mit Themen wie Anti-Atomkraft, Minderheiten- test ist auch Ausdruck von politischem Streit, der kein Stör-

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bis2017_01_inhalt.indd 45 27.03.17 16:00 Stine Marg Stine

Die harschen Urteile einiger Politiker über die Demonstran- ten in Dresden als „Pack“, „Rat- tenfänger“ „Neonazis in Nadelstreifen“ oder „komische Mischpoke“ waren für zahlrei- che Protestierende Anlass, sich Pegida anzuschließen. Es ist allerdings zweifelhaft, ob die Diffamierung seitens der Politik eine angemessene Strategie der Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Parteigän- gern ist. picture alliance/dpa

faktor ist, sondern zum Wesen einer modernen Demokratie che. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen Pegida, Politik, Me- dien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften. Wiesbaden; Patzelt, gehört und Ausdruck eines Begehrens, eines Ringens um Werner J./Klose, Joachim (2016): PEGIDA. Warnsignale aus Dresden. Teilhabe ist. Somit kann der Straßenprotest der Pegida- Dresden; Reuband, Karl-Heinz (2016): Pegida im Wandel? Soziale Rekru- Anhängerinnen und Pegida-Anhänger, der mehr oder we- tierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen der Kundge- bungsteilnehmer. In: MIP, Jg. 22, 2016, S. 52–69; Rucht, Dieter u. a. (2015): niger stille Protest der patriotischen Internet-Fangemeinde Protestforschung am Limit. Eine soziologische Annäherung an Pegida. sowie der Rekurs all jener, die sich im öffentlichen politisch- Berlin.URL: https://www.wzb.eu/sites/default/files/u6/pegida-report_ gesellschaftlichen Diskurs positiv auf die Bewegung bezie- berlin_2015.pdf [zuletzt eingesehen am 02.11.2016]. 3 Heim, Tino (2017): Pegida als leerer Signifikant, Spiegel und Projekti- hen (nach dem Motto „Man wird ja wohl noch sagen dür- onsfläche – eine Einleitung. In: Heim, Tino (Hrsg.): Pegida als Spiegel und fen!“ oder „Wie Pegida bereits gefordert hat ….“), auch als Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen Pegi- Ausdruck politischer Verwaisung oder Verlust konzeptio- da, Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften. Wiesba- den, S. 1–31, vgl. hier S. 4. neller Perspektiven interpretiert werden, wie es Franz Wal- 4 Vgl. zur Entstehungsgeschichte sowie als Basis zahlreicher hier prä- ter formuliert hat. Pegida-Anhängerinnen und Pegida-An- sentierter Ergebnisse: Geiges, Lars/Marg, Stine/Walter, Franz (2015): hänger demnach als „Schmutz“ und „Dreck“ zu diffamieren Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld, hier S. 11–13. 5 Vgl. hierzu: Jung, Christian (2015): Pegida-Gründer im blu-News In- und damit per se aus der Zivilgesellschaft auszuschließen, terview, 11.01.2015. URL: www.blu-news.org/2015/01/11/pegida-gruen- ist unter diesem Aspekt auch deshalb eine zweifelhafte der-im-blu-news-interview/ [zuletzt eingesehen am 06.02.2015]. Strategie, weil die Vertreter der Bewegung mindestens 6 o. V.: Demo in Dresden bleibt friedlich. In: Osterländer Volkszeitung, 27.10.2014. ebenso Teil dieser Zivilgesellschaft sind, wie all jene, die 7 Vgl. Ursprünglich wurden das 19-Punkte-Papier und die 6-Punkte- man eigentlich gemeinhin als Protestierende auf den Stra- Forderung auf der mittlerweile gesperrten Facebook-Präsenz der Gruppe ßen der Republik erwartet: Immerhin gaben bei unseren veröffentlicht. Derzeit finden sie sich beispielsweise noch unter: http:// de.europenews.dk/Nationalisten-Rassisten-Im-Wortlaut-19-Punkte-Posi- Umfragen nicht nur über neun Prozent der Befragten an, tionspapier-von-PEGIDA-79421.html bzw. http://www.epochtimes.de/ Mitglied in Parteien zu sein, sondern auch knapp achtzig politik/deutschland/pegida-6-forderungen-das-sind-die-6-forderungen- Prozent sind nach eigenem Bekunden aktive Mitglieder in von-lutz-bachmann-auf-der-pegida-demo-dresden-12012015-a1214131. html [zuletzt eingesehen am 28.11.2016]. Vereinen, Bürgerinitiativen, NGOs oder Verbänden. 8 Die hier verwendeten Zahlen beziehen sich auf die verdienstvolle Ar- beit des Teams „durchgezählt“ (www.durchgezaehlt.org) rund um Stephan Poppe und Mathias Schuh. 9 Zu einer ausführlichen Diskussion über die verschiedenen Umfragen ANMERKUNGEN unter Pegida-Anhängern und die damit zusammenhängenden Vor- und Nachteile vgl. die übersichtliche Darstellung von Reuband, Karl-Heinz 1 An dieser Stelle gilt ein großer Dank den Kolleginnen und Kollegen (2015): Wer demonstriert in Dresden für Pegida? Ergebnisse empirischer des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, mit denen ich gemeinsam Studien, methodische Grundlagen und offene Fragen. In: MIP, Jg. 21, 2015, über Pegida geforscht habe und die mit Fokus auf die Folgen der Protest- S. 133–143. bewegung weiterhin zu dem Thema arbeiten. Sie waren nicht nur maßgeb- 10 Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.) (2014): lich an der Durchführung und Auswertung der Umfragen und Fokusgrup- Statistisch betrachtet. Bildung in Sachsen – Ausgabe 2014, S. 5. URL: pen beteiligt und haben somit zu den Ergebnissen beigetragen, sondern https://www.statistik.sachsen.de/download/300_Voe-Faltblatt/SB_ mit ihnen gemeinsam sind auch viele hier präsentierte Thesen entstanden. Bildung_2014.pdf [zuletzt eingesehen am 28.11.2016]. Allen voran sind zu nennen: Julian Schenke, Katharina Trittel, Christopher 11 11,7 Prozent der von uns befragten S21-Gegner gaben an, Parteimit- Schmitz, Florian Finkbeiner, Sören Isele, Lars Geiges, Verena Hambauer, glied zu sein, bzw. 12,3 Prozent der TTIP-Gegner vgl. hierzu: Bebnowski, Julia Kopp, Daniela Kallinich und schließlich Professor Franz Walter als David u. a.: Neue Dimensionen des Protests? Ergebnisse einer explorativen Direktor des Instituts. Studie zu den Protesten gegen Stuttgart 21. URL: http://www.demokratie- 2 Hier sind vor allem zu nennen: Vorländer, Hans/Herold, Maik/Schäl- goettingen.de/content/uploads/2010/11/Neue-Dimensionen-des-Protests. ler, Steven (2016): PEGIDA. Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung pdf sowie Finkbeiner, Florian u. a.: Stopp-TTIP-Proteste in Deutschland. einer Empörungsbewegung. Wiesbaden; Rehberg, Karl-Siegbert/Kunz, Wer sie sind, was sie wollen und was motiviert die Freihandelsgegner, Franziska/Schlinzig, Tino (Hrsg.) (2016): PEGIDA. Rechtspopulismus zwi- 2016, online einsehbar unter: http://www.demokratie-goettingen.de/ schen Fremdenangst und „Wende“-Enttäuschung? Analysen im Überblick. content/uploads/2016/01/Bericht_TTIP_2016–01–28_web.pdf [zuletzt Bielefeld; Heim, Tino (Hrsg.) (2017): Pegida als Spiegel und Projektionsflä- eingesehen am 28.11.2016].

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bis2017_01_inhalt.indd 46 27.03.17 16:00 12 Zu den Ergebnissen der Umfrage unter TTIP-Gegner vgl. Fußnote 11, zu No-Pegida siehe: Marg, Stine u. a. (2016): No-Pegida. Die helle Seite BESORGTE, WUT- UND PROTESTBÜRGER: der Zivilgesellschaft? Bielefeld 2016. GEFAHR FÜR DIE DEMOKRATIE? 13 Vgl. zur These über den Sächsischen Exzeptionalismus exemplarisch Steinhaus, Maria/Heim, Tino/Weber, Anja (2017): „So geht sächsisch!“ Pegida und die Paradoxien der ‚sächsischen Demokratie‘. In: Heim, Tino (Hrsg.): Pegida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen Pegida, Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften. Wiesbaden, S. 143–196. 14 Felix Korsch formuliert es mit den Worten, dass der Erfolg von Pegida darin bestünde, „den demokratischen Diskurs […] entstellt zu haben“. Korsch, Felix (2016): Einmal den Zirkel um Dresden schlagen. Pegida – Grundzüge und Abgründe einer Protestserie ohnegleichen. In: Häusler, Alexander/ Virchow, Fabian (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen von rechts? Zukunftsängste, Abstieg der Mitte, Ressentiments. Eine Flugschrift.

Hamburg, S. 52–62, hier S. 57. AUTORINUNSERE 15 Vgl. hierzu auch Scharf, Stefan/Pleul, Clemes (2016): Im Netz ist jeden Tag Montag. In: Rehberg, Karl-Siegbert/Kunz, Franziska/Schlinzig, Tino (Hrsg.): Pegida. Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und „Wende“- Enttäuschung? Analysen im Überblick. Bielefeld, S. 83–98; sowie Institut für Demokratieforschung (Hrsg.) (2016): Büchse der Pandora? PEGIDA im Jahr 2016 und die Profanisierung rechtspopulistischer Positionen. Göttingen; ähnlich in der Argumentation auch: Kronauer, Jörg (2016): Die internationalen „Counter-Jihad“-Netzwerke. In: Häusler, Alexander/Vir- chow, Fabian (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen von rechts?, Zukunfts- ängste, Abstieg der Mitte, Ressentiments. Eine Flugschrift. Hamburg, S. 32–40. 16 Dies lässt sich in Ansätzen mit vorhandenen Auswertungsmethoden untersuchen, vgl. hierzu Fußnote 15. 17 Dies ist umso erstaunlicher, da Pegida eine der ersten Protestbewe- gungen in Deutschland ist, die die herkömmlichen Medien nicht als ver- Dr. Stine Marg ist geschäftsführende Leiterin des Göttinger In- stärkendes Instrument nutzen, sondern sie als dezidierte Gegner erklärt stituts für Demokratieforschung. Sie hat Geschichte und Politikwis- haben. senschaft studiert und wurde über die Politikwahrnehmung und 18 Vgl. hierzu grundlegend: Roth, Roland/Rucht, Dieter (2008): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Deutungsmuster der gesellschaftlichen Mitte promoviert. Ihre For- Handbuch. Frankfurt am Main, S. 9–38. schungsschwerpunkte sind die qualitativ-empirische Erforschung 19 Vgl. Keane, John (2009): The Life and Death of Democracy. London. der Einstellungen zu politics, policy und polity unterschiedlicher 20 Vgl. auch Fehser, Stefan (2017): Demaskierung und Kontinuitäten. Pe- gida als Offenlegung und Entfesselung bestehender Dispositionen. In: gesellschaftlicher Schichten, Milieus und Subgruppen im Rahmen Heim, Tino (Hrsg.): Pegida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwir- der Politische Kulturforschung sowie die Zivilgesellschaftsfor- kungen und Abgrenzungen zwischen Pegida, Politik, Medien, Zivilgesell- schung mit den Schwerpunkten Protest und Engagement. schaft und Sozialwissenschaften. Wiesbaden, S. 55–78, hier S. 57.

Politische Tage Für Schülerinnen und Schüler aller weiterführenden Schularten sowie Grundschulen ab Klasse 2

Politische Tage – ein Angebot der Landeszentrale für politische Bildung für Schulen in Baden Württemberg Veranstaltungen zu ausgewählten politischen Themen als Ergänzung zum normalen Schulunterricht durch Teamerinnen und Teamer der Landeszentrale. Ziele Besonderheiten Ansprechpartner • altersgemäße Auseinandersetzung • methodisch abwechslungsreiche mit • Außenstelle Freiburg für Schulen im mit politischen Fragen auf Grundla- Planspielen, Szenario-Workshops, Regierungsbezirk Freiburg ge des „Beutelsbacher Konsenses“ Aktionstage www.lpb-freiburg.de • ausführlichere Auseinandersetzung • Anregungen zum gesellschaftlichen • Außenstelle Heidelberg für Schulen mit politischen Themen und politischen Engagement in den Regierungsbezirken • Themenvielfalt: Demokratie, Kom- • Erwerb methodischer Kompetenzen Karlsruhe und Stuttgart munalpolitik, Europa, Globalisie- und Einüben sozialer Lernformen www.lpb-heidelberg.de rung, Frieden/Sicherheit, u.a. • Ergänzung und Vertiefung von • „Peer education“ durch junge poli- • Fachbereich „Politische Tage“ für Unterrichtsthemen der gesellschafts- tisch geschulte Teams Schulen im Regierungsbezirk kundlichen Fächer • Durchführung an Schulen oder Tübingen. www.lpb-bw.de/ außerschulischen Lernorten politische-tage-rb-tuebingen.html

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bis2017_01_inhalt.indd 47 27.03.17 16:00 DIE AFD IN BADEN-WÜRTTEMBERG Rechtspopulisten im Ländle: Die Entwicklung der AfD Baden-Württemberg Alexander Hensel

Begrenzung der europäischen Integration ein inhaltliches Trump, Brexit, AfD: Für die Entwicklung des Populismus „Alleinstellungsmerkmal“ im Parteienwettbewerb (Nieder- war das Jahr 2016 fraglos von Bedeutung. Jenseits und mayer 2014: 186). Programmatisch vereinigte sich in der diesseits des Atlantiks konnten Kandidatinnen, Kandida- AfD von Beginn an eine ungewöhnliche Melange: In sozio- ten und Bewegungen mit einer harschen Kritik am politi- ökonomischen Fragen plädierte die AfD, ähnlich wie die schen Establishment bei Wahlen und Volksabstimmungen FDP, für liberale Marktfreiheit; in soziokulturellen Fragen punkten. In der Bundesrepublik gelang der Alternative positionierte sie sich dagegen deutlich konservativer als für Deutschland (AfD) ein spektakulärer Erfolgslauf, der die deutsche Christdemokratie (Decker 2015: 114). Ver- viele Beobachterinnen und Beobachter überraschte. schiedene Positionen und Strömungen wurden durch eine Erstmals erzielte die AfD auch bei Landtagswahlen im populistische Grundsatzkritik am politischen Establish- Westen der Republik Ergebnisse deutlich oberhalb der ment sowie durch den Anspruch, als grundlegende Alter- Zehn-Prozent-Marke. Gerade in Baden-Württemberg ist native zu fungieren, verbunden.3 Mit „Mut zur Wahrheit“ die AfD damit zu einer relevanten Akteurin im regionalen und unter Rückgriff auf den „gesunden Menschenverstand“ politischen Wettbewerb aufgestiegen. Vor diesem Hin- schickte die AfD sich ab 2013 an, dem vermeintlich nicht- tergrund skizziert Alexander Hensel im Folgenden die repräsentierten Volkswillen zu seinem Recht zu verhelfen. Entwicklungslinien und Charakteristika des baden-würt- Bei Parteineugründungen kommt es zwischen Apologeten tembergischen Landesverbandes der AfD.1 verschiedener Positionen oftmals zu Friktionen und Macht- kämpfen – so auch bei der AfD, die dort alsbald offen und brutal zutage traten (vgl. etwa: Förster 2014). Dabei kristal- lisierte sich zusehends eine Konfliktlinie heraus zwischen AfD – Erfolg und Etablierung einer neuen Partei dem von Bernd Lucke angeführten wirtschaftsliberal orien- tierten Lager und einem stärker rechts- und nationalkon- Der AfD scheint derzeit ganz offenbar ein parteienhistori- servativ bis völkisch ausgerichteten Flügel, dessen ostdeut- sches Kunststück zu gelingen. Erstmals seit dem Aufstieg sche Ver treter bei den Landtagswahlen 2014 erstmals der Grünen in den 1980er Jahren überspringt eine neu ge- zweistellige Ergebnisse erlangt hatten. Aufgrund seines gründete Partei geradezu spielend die Hürden des politi- zusehends als abgehoben-professoral und autoritär wahr- schen Wettbewerbs und scheint sich flächendeckend zu genommenen Führungsstils geriet der Bundesvorsitzende etablieren. Inzwischen ist die AfD in zehn der 16 deutschen Landesparlamente vertreten, ihre Parteiorganisation ent- wickelt sich hochdynamisch. Die Wahl- und Umfrageer- gebnisse deuten seit Sommer 2015 darauf hin, dass sich die AfD dauerhaft konsolidieren könnte (Mielke 2016: 15). Analog zu anderen europäischen Parteiensystemen erlebt damit auch die Bundesrepublik fortschreitend flächende- ckende parlamentarische Erfolge einer rechtspopulisti- schen Partei.2 Zugleich ist der Aufstieg der AfD nur mit Blick auf die kurze Parteigeschichte zu verstehen, in deren Rah- men sich sowohl der politische Markenkern als auch die Machtverhältnisse innerhalb der Partei merklich verscho- ben haben. Frauke Petry beim Bundes- Gegründet wurde die AfD im Februar 2013 in Reaktion auf parteitag der AfD neben die Euro- und Finanzkrise (Niedermayer 2014: 177ff.). Ob- Bernd Lucke: Durch geschickt gleich sich die Partei aus einer Vielfalt politischer Strömun- orchestrierte Vorstöße geriet gen, aus euroskeptischen, wirtschaftsliberalen wie auch Bernd Lucke zusehends in die christlich-konservativen Netzwerken heraus gegründet Defensive und wurde auf hat (Bebnowski 2015: 19ff.), profilierte sich die frühe AfD einem Bundesparteitag im primär als Hüterin eines vorgeblich nicht-ideologischen Sommer 2015 gestürzt. Die ökonomischen Sachverstands und als radikale Alternative Parteiführung übernahmen zu der von der Regierung unter Angela Merkel als alterna- daraufhin die sächsische Lan- tivlos ausgerufenen Krisen- und Eurorettungspolitik. Wäh- des- und Fraktionsvorsitzende rend die etablierten Parteien am „alt-bundesrepublikani- Frauke Petry und der damals schen Pro-Europadenken“ festhielten (Korte u. a. 2015: 61), noch weithin unbekannte Jörg entwickelte die AfD mit ihren Forderungen nach einer ge- Meuthen. ordneten Auflösung des Euro-Währungsgebiets und einer picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 48 27.03.17 16:00 Lucke auch von anderen Seiten in die Kritik (Decker 2015: RECHTSPOPULISTEN IM LÄNDLE: 118; Koschmieder 2016). Durch geschickt orchestrierte Vor- DIE ENTWICKLUNG DER stöße vor allem vonseiten der ostdeutschen Fraktions- und AFD BADEN-WÜRTTEMBERG Landesvorsitzenden geriet Lucke zusehends in die Defen- sive und wurde schließlich auf einem Bundesparteitag im (vgl. Hensel u. a. 2016: 20). Kölmel zog daraufhin als einer Sommer 2015 gestürzt. Die Parteiführung übernahmen da- von sieben Abgeordneten der AfD ins Europaparlament raufhin die sächsische Landes- und Fraktionsvorsitzende ein. Bei den im Mai 2014 abgehaltenen Kommunalwahlen Frauke Petry und der damals noch weithin unbekannte Jörg in Baden-Württemberg konnte die AfD 18 Mandate in Meuthen. Die AfD vollzog in diesem Zusammenhang einen Kreistagen und 28 Mandate in Gemeinderäten erringen merklichen politischen und personellen Rechtsruck sowie (Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 2014). ihre endgültige Transformation zu einer rechtspopulisti- Die Parteispaltung im Sommer 2015 erfasste indes auch schen Partei (vgl. Korte u. a. 2015; Hensel 2016) den Landesverband Baden-Württemberg, erzeugte hier allerdings verschiedene, teils widersprüchliche Dynami- ken sowie machttektonische Verschiebungen. Zum einen Alternative im Ländle – Entwicklung der Landespartei kam es zu einem erheblichen Verlust von Ressourcen und Kompetenzen – verließen doch etwa 20 Prozent der Mit- Eine ähnliche Entwicklungslinie lässt sich für den Landes- glieder die Partei (Breining 2015). Darunter befanden sich verband der AfD in Baden-Württemberg ausmachen. Die- vornehmlich ehemalige Angehörige des wirtschaftslibera- ser gründete sich, kurz nach dem Bundesverband, im April len Lagers als auch einige prominentere Köpfe, wie der 2013 in Karlsruhe und gliedert sich aktuell in 44 Kreisver- Landesvorsitzende Bernd Kölmel oder der Europaabge- bände (AfD-BW 2016a) – mit rund 3600 Mitgliedern stellt ordnete Joachim Starbatty, sowie einige kommunale Man- Baden-Württemberg derzeit den zweitgrößten Landesver- datsträger. Insgesamt wurden so die organisatorischen band der AfD (AfD-BW 2016b). Als offizielle Jugendorgani- und politischen Potenziale der AfD in der Region erheblich sation wurde 2014 die Junge Alternative (JA) anerkannt, die geschwächt. Zum anderen wurden im Zuge der Spaltung sich ein Jahr zuvor im Land gegründet hatte (JA 2015a). Zum radikalere Kräfte gestärkt. Äußerst rechts orientierte Zu- ersten AfD-Landesvorsitzenden in Baden-Württemberg sammenschlüsse wie die „Patriotische Plattform“ oder der wurde der ehemalige Polizist und Ministerialrat Bernd Köl- „Pforzheimer Kreis“ gewannen an Aufmerksamkeit und re- mel gewählt, der u. a. aus Enttäuschung über Angela Mer- gionaler Bedeutung (vgl. Häusler/Roeser 2015; Wehaus kels Europolitik nach dreißig Jahren Mitgliedschaft aus der 2015a). Mitglieder des letzteren hatten sich ab 2014 an CDU aus- und wenig später in die AfD eingetreten war der Bewegung „Demo für alle“ beteiligt, die vehement ge- (Wedekind 2013). Als erfahrener Parteipolitiker half Kölmel gen den rot-grünen Bildungsplan und eine dadurch be- beim Aufbau des Landesverbands im Südwesten und führte fürchtete „Frühsexualisierung“ protestiert hatte (Schöne/ dessen Kandidatenliste für die Bundestagswahl 2013 an. Immerfall 2015: 190f.). Immerhin sechs der 14 Mitglieder Bei dieser erlangte die Südwest-AfD mit 5,2 Prozent gegen- des im Juli 2015 neu gewählten Landesvorstandes waren über dem bundesweiten ein leicht überdurchschnittliches überdies Unterzeichner der „Erfurter Resolution“, welche Ergebnis im Land, bei der Europawahl im Mai 2014 mit 7,9 die Spaltung und den Rechtsruck der AfD wesentlich vor- Prozent sogar den höchsten Wert für Westdeutschland angetrieben hatte.4 Entgegen diesen Tendenzen zur Destabilisierung und Ra- dikalisierung schuf der partielle Neubeginn auch Profilie- rungsmöglichkeiten für den Landesvorstand, dessen per- sonelles Profil nach außen hin den Nimbus der AfD als Akademiker- und Professorenpartei erneuerte. Als Landes- sprecher wurde ein betont seriös wirkendes Triumvirat ge- wählt: Lothar Maier, emeritierter Professor an der Hoch- schule für Angewandte Wissenschaft in Hamburg und ehe- maliges SPD-Mitglied, hatte sich zuvor beruflich in verschiedenen internationalen Entwicklungsprojekten so- wie auf europäischer Ebene für Verbraucherpolitik enga- giert; Bernd Grimmer, promovierter Wirtschaftswissen- schaftler, war einst Gründungsmitglied der Südwest-Grü- nen und später als Vorsitzender der Freien Wähler sowie Abgeordneter im Pforzheimer Gemeinderat aktiv gewe- sen; und schließlich: Jörg Meuthen, Hochschulprofessor für Finanzwissenschaft und Volkswirtschaftslehre, war nach seinem Eintritt in die AfD 2013 auf dem Essener Bundespar- teitag im Sommer 2015 infolge des Sturzes von Bernd Lucke zum Bundessprecher aufgerückt. In den Vorstand wurde ebenfalls gewählt, Philosophiedozent an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und zu- ständig für die Programmkoordination im Landesverband. Das zentrale Personal der AfD Baden-Württemberg ver- mittelte damit ein gebildetes, situiertes und moderates Pro- fil, das den Ruf der Landespartei als Hochburg der Gemä- ßigten unterstrich. Vor allem Meuthen galt nach dem Ab-

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bis2017_01_inhalt.indd 49 27.03.17 16:00 gang von Lucke in der Öffentlichkeit zunächst als Garant der wirtschaftsliberalen und professoralen Wurzeln sowie als „bürgerliches Gesicht der AfD“ (Müller 2016). Obgleich er auf sein dezidiert konservatives Gesellschaftsbild hin- wies, distanzierte er sich von den „schrillen Tönen“ des thü-

Alexander Hensel Alexander ringischen Rechtsauslegers Björn Höcke (Neuerer 2015)5, vermied als Bundesvorsitzender gleichwohl die Konfronta- tion mit der ostdeutschen Parteirechten (Amann 2016). Ähnlich seriös erschien auch Ko-Sprecher Maier, der sich u. a. als Abgeordneter im Stuttgarter Stadtrat als sach- orientierter und gemäßigter Pragmatiker profiliert hatte (Braun/Nauke 2015). Die radikaleren Mitglieder und Funk- tionäre des Landesverbands drängten erst später offensi- ver in die Öffentlichkeit.

„Für unser Land“, „Gegen das Asylchaos“ – Landtagswahlkampf 2016

Nachdem die AfD infolge ihrer Parteispaltung im Sommer 2015 insgesamt in eine kurze Krise gerutscht war, eröffnete sich der Partei bald ein neues politisches Gelegenheits- fenster: Mit dem deutlichen und abrupten Anstieg der Zahl von Asylsuchenden sowie der von Kanzlerin Angela Merkel entschiedenen Grenzöffnung polarisierte sich die asyl- und migrationspolitische Debatte heftig (Münkler/Münkler 2016: 7ff.). Die AfD reagierte prompt und kompromisslos: Unter dem Motto „Asylchaos und Eurokrise stoppen“ lan- Neben ihrer Forderung nach einer restriktiven Asyl- und cierte sie eine als „Herbstoffensive“ bezeichnete, bundes- Einwanderungspolitik empfiehlt sich die AfD als Bewahrerin weite Protestkampagne, in der sie die von der Regierung eines ungebrochenen, regional fundierten Heimat-, getragene Asylpolitik und Willkommenskultur scharf kriti- Geschichts- und Nationalbewusstseins – damit, so ein Wahl- sierte und einen prononciert restriktiven asylpolitischen kampfslogan 2016 – „Baden-Württemberg Heimat bliebt“. Forderungskatalog präsentierte. Jenseits der administrati- Das Haus Hohenzollern wehrte sich gegen die parteipoli- ven Kritik an Merkels Krisenmanagement wurden dabei tische Instrumentalisierung der Burg Hohenzollern durch schnell fremden- und vor allem islamfeindliche sowie nati- die AfD. picture alliance/dpa onalistische Parolen laut, während zugleich die populisti- sche Rahmenerzählung der AfD erneuert und forciert wurde (Häusler 2016: 171ff.; Hensel 2016). zu geben (ebd.: 5). Zentraler Bezugspunkt sind eine Reihe innerer und äußerer Bedrohungen. So wird einerseits angesichts einer gegenwärtigen „Massenzuwanderung“ Wahlprogramm und Wahlkampfagenda kulturfremder Personen vor einem Verfall „der deutschen Eine im Kern ähnliche, jedoch merklich breiter angelegte und europäischen Kultur“ (ebd.: 19) sowie vor einer Agenda findet sich auch im Landtagswahlprogramm der Überforderung sozialstaatlicher und administrativer Struk- AfD Baden-Württemberg, das die Partei im Oktober 2015 turen gewarnt. Andererseits wird an fortgeschrittene Ent- auf einem Parteitag in Horb beschlossen hatte (AfD-BW fremdungsgefühle und an Verlustängste im Kontext kul- 2016c). Unter dem Titel „Für unser Land – für unsere Werte“ tureller und politischer Modernisierungen appelliert, die präsentierte sie darin im Kern ein Set von Forderungen, das thematisch u. a. stark mit dem regionalpolitischen Konflikt von der Innen- über die Bildungs- und Familien- bis zur um den rot-grünen Bildungsplan verkoppelt werden. Asyl-, Migrations- und Wirtschaftspolitik reichte und durch Zugleich präsentiert die AfD ein Set aus rechtskonservati- weitere, unverbunden wirkende Programmteile ergänzt ven, vornehmlich gesellschaftspolitisch ausgerichteten wurde. Stilistisch und rhetorisch ist das Programm für AfD- Wahlkampfforderungen. Erstens diagnostiziert sie mit Ver- Verhältnisse weitgehend um Sachlichkeit bemüht – ob- weis auf illegale Masseneinwanderung, fortgesetzte Kür- gleich Schwerpunktthemen passagenweise zugespitzt zungen bei der Polizei und eine ideologische Kontrolle der und polemisch vorgetragen werden. Insgesamt bewegen Justiz einen eklatanten Verlust an Sicherheit, öffentlicher sich die politischen Forderungen im Spannungsfeld zwi- Ordnung und Geltung des Rechts. Demgegenüber positio- schen wirtschaftspolitischem Liberalismus und gesell- niert sie sich als Hüterin von Recht und Ordnung – sowie schaftspolitischem Konservatismus, der mit zum Teil deut- tendenziell auch als Standesvertretung der Polizei. Zwei- lich rechtskonservativen und rechtspopulistischen Akzen- tens prangert die AfD mit Blick auf Ökonomisierung, Libe- ten verknüpft ist. ralisierung und Globalisierung einen Verfall alther- Als übergreifender und wiederkehrender Deutungsrahmen gebrachter lebensweltlicher Ordnung an. Entgegen einer fungiert der in der Präambel formulierte Anspruch der staatlich subventionierten Gleichstellungspolitik und AfD, politische Advokatin eines durch vielfältige Entwick- „Gender-Ideologie“ verteidigt sie klassische Familien- und lungen bedrängten Bürgertums zu sein und dessen „Wider- Erziehungsmodelle und geriert sich als Anwältin traditio- stand […] gegen seine Abschaffung“ eine politische Form neller Mütterrollen und kinderreicher Familien. Drittens

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bis2017_01_inhalt.indd 50 27.03.17 16:00 RECHTSPOPULISTEN IM LÄNDLE: DIE ENTWICKLUNG DER AFD BADEN-WÜRTTEMBERG

Veranstaltungen und Aktionen wurden tendenziell in über- schaubaren und kontrollierbaren Kontexten, etwa als Bür- gersprechstunde in Gaststätten oder als Vortragsabende in Turnhallen, die gerade zum Ende des Wahlkampfes oft- mals aus allen Nähten platzen, abgehalten. Wie oft im Fall junger Parteien offenbarte die AfD dabei ein durchaus feines Sensorium für regional- wie milieuspezifische Kon- fliktlagen sowie medial und politisch unterrepräsentierte Interessen, Haltungen und Erfahrungen. Im Gegensatz zur tendenziell radikaler und offen national-völkisch argu- mentierenden AfD in Sachsen-Anhalt präsentierte sich die AfD im Südwesten als bürgerlich-moderate und rechtskon- servative Partei, die sich selbstgewiss als Nachfolgerin ei- ner ideologisch entkernten Merkel-CDU wähnte. Zugleich bot die asylpolitische Debatte, die sich vor allem durch die Ereignisse der Silvesternacht in Köln abermals polarisierte, der AfD die Möglichkeit, verbreitete politische Wahrneh- mungsmuster zu aktualisieren. Sie erneuerte die populisti- sche Unterscheidung zwischen Volk und Elite, indem sie letzterer vor allem angesichts eines allgegenwärtigen „Asylchaos“ Ignoranz und Verblendung vorwarf und sich selbst stolz als einzig demokratische Kraft beschrieb, die sich der „Willkommensdiktatur“ und dem „Einwanderungs- wahn“ widersetze (AfD-BW 2016c: 18). Zudem gelang es der AfD im Südwesten, die öffentliche beschwört die AfD infolge von Masseneinwanderung aus Aufmerksamkeit auf ihren verhältnismäßig moderat und islamisch geprägten Ländern und einer dominant gewor- professionell wirkenden Spitzenkandidaten Meuthen zu denen „Multikulti-Ideologie“ den Verlust kollektiver Iden- lenken, der als Landes- und Bundesvorsitzender als wich- titäten und Orientierungsmuster. Neben ihrer Forderung tigster Ansprechpartner für die Medien fungierte. Auf nach einer restriktiveren Asyl- und Migrationspolitik emp- diese Weise konnte Meuthen mithilfe seiner Ko-Sprecher fiehlt sie sich als Bewahrerin eines ungebrochenen, vor al- diverse Skandale und Konflikte während des Wahlkampfs lem regional fundierten Heimat-, Geschichts- und Natio- moderieren als auch die Vorstöße deutlich rechterer Kan- nalbewusstseins – damit, so ein damaliger Wahlkampf- didaten kompensieren. Ähnlich wie im Nachbarverband slogan auf der Homepage des Landesverbandes, Rheinland-Pfalz schaffte es die AfD in Baden-Württem- „Baden-Württemberg Heimat bleibt“. berg auf diese Weise, primär als rechtskonservative-bür- Hinzu kommt im baden-württembergischen AfD-Programm gerliche und eben nicht extremistische Kraft wahrgenom- eine ausgeprägte wirtschaftspolitische Komponente, die men zu werden. Investigative Medienrecherchen zu radi- an Unternehmer, Mittelständler und Arbeitgeber adres- kalen politischen Positionen und Hintergründen von siert ist. Hier fordert die AfD etwa eine Deregulierungsof- Wahlkreiskandidaten liefen infolgedessen ins Leere oder fensive, Steuersenkungen für Unternehmen, eine weitere wurden in die Kampagnen integriert. Nachdem Jörg Meu- Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie das Ende einer then von der Elefantenrunde des SWR ausgeladen worden bürokratischen Gängelung des Mittelstandes, der doch war, höhnte die Partei auf ihrer Facebook-Seite: „Der SWR den Wohlstand des Landes garantiere. Offensiv inszeniert ist besser vor der AfD geschützt als deutsche Grenzen vor sich die AfD als „Partner unserer Wirtschaft“ (ebd.: 40). illegaler Zuwanderung!“ und forderte: „Jetzt mitmachen: Weitere auf Deregulierung, Selbstverantwortung und Bü- Beschwerde an den SWR senden“ (AfD 2016). Zudem war rokratieabbau gerichtete Forderungen finden sich in den festzustellen, dass der steigende politische Außendruck Feldern der Energie-, Infrastruktur- oder Finanzpolitik. So- die Partei im Laufe des Wahlkampfes stärkte. Sowohl das zialpolitische Akzentuierungen, verteilungspolitische Ar- zunehmend robuste Vorgehen der Zivilgesellschaft gegen- gumente oder gar kapitalismuskritische Töne, wie sie für über Kandidaten und Veranstaltungen der AfD als auch die Ost-Wahlkämpfe der AfD zum Teil kennzeichnend sind, die gleichzeitig steigenden positiven Resonanzen aus der werden dagegen ausgespart. Bevölkerung bestätigten die Kandidatinnen, Kandidaten und Mitglieder der Partei, stifteten Einheit, Zusammenhalt Strategie, Profil und Personal und Selbstbewusstsein.6 Im Wahlkampf vor Ort profitierte die AfD im Flächenland Baden-Württemberg von ihrer relativ hohen Mitglieder- zahl und flächendeckenden Organisationsstruktur (vgl. Wahl und Wahlergebnisse Hensel u. a. 2016: 12). Ebenfalls im schroffen Gegensatz zu Sachsen-Anhalt, wo der mitgliederschwache Schwester- Nachdem bereits die Landtagswahlen 2011 eine tiefe Zä- verband vor allem durch offensive Mobilisierungsformen sur in der landespolitischen Entwicklung markiert hatten, auffiel, ging es in Baden-Württemberg zumeist gesittet zu. förderten auch die Wahlen im März 2016 spektakuläre Er-

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bis2017_01_inhalt.indd 51 27.03.17 16:00 Alexander Hensel Alexander

Mitglieder der Fraktion der AfD im Plenarsaal des Land- tags in Stuttgart. picture alliance/dpa

gebnisse zutage (Gabriel/Kornelius 2016): Die Grünen rinnen und Wähler als Magnet wirkte. So findet sich unter wurden mit 30,3 Prozent erstmals zur stärksten Kraft im den AfD-Wählerinnen und AfD-Wählern einerseits eine Land, während SPD und CDU hohe Verluste hinnehmen besonders ausgeprägte Unzufriedenheit mit dem allge- mussten. Mit 12,7 Prozent wurde die SPD auf den vierten meinen Funktionieren der Demokratie, andererseits eine Platz und in die Opposition verwiesen, die CDU verzeich- besonders negative Wahrnehmung der Asylpolitik, die für nete aufgrund herber Verluste mit nur 27 Prozent ihr histo- rund 70 Prozent der AfD-Wähler als wahlentscheidend risch schlechtestes Ergebnis im Südwesten. Während der galt (Infratest Dimap 2016). Während ungefähr die Hälfte FDP mit 8,3 Prozent der Einzug in den Landtag mühelos ge- aller Befragten im Kontext der Aufnahme von Flüchtlingen lang, verpasste die Linke diesen mit 2,9 Prozent deutlich. Bedenken äußerten und etwa eine steigende Konkurrenz Für Furore sorgte jedoch vor allem die AfD: Obgleich sie mit auf dem Wohnungsmarkt, eine Zunahme von Kriminalität 15,1 Prozent deutlich hinter dem Rekordergebnis ihrer oder einen zu starken Einfluss des Islam fürchteten, waren Schwesterpartei in Sachsen-Anhalt (24,2%) zurückblieb, diese Auffassungen unter AfD-Wählerinnen und AfD-Wäh- avancierte sie in Baden-Württemberg mit insgesamt 23 er- lern deutlich stärker ausgeprägt (Infratest Dimap 2016: rungenen Mandaten zur drittstärksten Kraft im Stuttgarter 16ff.). Zugleich zeigen die Umfragen, dass die AfD vor al- Landtag. lem als Protestvehikel verstanden wurde: So gaben 70 Pro- Ihre Wählerschaft setzte sich mehrheitlich aus Männern zent (gesamt: 31%) an, die AfD primär aus Enttäuschung und überdurchschnittlich aus Personen mittleren Alters über andere Parteien und nicht aus Überzeugung (AfD: 21, (25–44 Jahre) mit mittleren Bildungsabschlüssen zusam- gesamt: 61) gewählt zu haben (ebd.: 42). men (Infratest 2016). Überdurchschnittlich stark gewählt Wie bereits in vorherigen Wahlen zeichneten sich regio- wurde die AfD von Arbeitern und Arbeitslosen, unter denen nale Hochburgen ab (vgl. Hensel u. a. 2016: 21f.). Bei der sie jeweils stärkste Kraft wurde. Auch unter Gewerkschafts- Landtagswahl 2016 lagen diese in den Regionen Ostwürt- mitgliedern schnitt die AfD in Baden-Württemberg leicht temberg, mittlerer Oberrhein, unterer Neckar, Franken und überdurchschnittlich ab (o. V. 2016). Die politische Her- Nordschwarzwald (Infratest Dimap 2016: 41). Mit 23 Pro- kunft der AfD-Wähler war dabei höchst divers (Nieder- zent im sozialdemokratisch geprägten Wahlkreis Mann- mayer/Hofrichter 2016: 273ff.): Rund ein Viertel stammte heim 1 und 24,2 Prozent im zuvor CDU-dominierten Wahl- aus dem bürgerlichen Lager (CDU: 23%, FDP: 2%), ein kreis Pforzheim erlangte die AfD sogar zwei Direktman- knappes Viertel aus dem linken Lager (SPD: 11%, Grüne date. Obgleich die AfD-Wählerinnen und AfD-Wähler 9%, Linke: 3%); etwas weniger als die Hälfte der AfD-Wäh- merklich situierter und älter sind, lassen sich einige regio- lerinnen und AfD-Wähler waren vormalige Nichtwähler nale Überschneidungen mit den Hochburgen der Republi- (26%) oder Wählerinnen bzw. Wähler sonstiger Parteien kaner in den 1990er Jahren finden, die vielfach in stark (19%). Überdurchschnittliche Wählerverluste an die AfD vom Strukturwandel betroffenen Gegenden gelegen hat- erlitten neben der CDU vor allem die Linke, aber auch die ten (Eith 2003: 255f.). Interessant erscheint die besondere sonstigen Parteien, von deren ehemaligen Wählerinnen Resonanz, welche die AfD sowohl unter deutsch-russischen und Wählern mehr als die Hälfte zur AfD überliefen. Spätaussiedlern als auch in protestantisch-pietistisch ge- Nicht nur der letzte Punkt verweist darauf, dass die AfD im prägten Regionen erhalten hat (vgl. Binkowski 2016; Wa- März 2016 auf politisch besonders unzufriedene Wähle- gener/Eich 2016).

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bis2017_01_inhalt.indd 52 27.03.17 16:00 Turbulenzen im Parlament RECHTSPOPULISTEN IM LÄNDLE: DIE ENTWICKLUNG DER Nach dem eindrücklichen Wahlergebnis gelang der an- AFD BADEN-WÜRTTEMBERG fangs 23-köpfigen AfD-Fraktion im Stuttgarter Landtag zu- nächst ein weithin geräuschfreier Start. Zu ihrem Vorsitzen- Bebnowski, David (2015): Die Alternative für Deutschland. Aufstieg und den wurde Jörg Meuthen, zum parlamentarischen Ge- gesellschaftliche Repräsentanz einer rechten populistischen Partei. schäftsführer Bernd Grimmer gewählt. Ersterer kündigte Wiesbaden. eine „harte Opposition“ der AfD an (Krohn/Reiners 2016). Binkowski, Rafael (2016): Alternative für Russlanddeutsche. In: Stuttgarter Zeitung, 14.04.2016. Tatsächlich kam es infolge rechtspopulistischer Forderun- Braun, Thomas/Nauke, Jörg (2015): Der Riss durch die AfD reicht bis ins gen und rhetorischer Provokationen von AfD-Abgeordne- Rathaus. In: Stuttgarter Zeitung, 29.05.2015. ten rasch zu einer harschen innerparlamentarischen Fron- Breining, Thomas (2015): Ein Trio soll die AfD führen. In: Stuttgarter Zeitung, 26.07.15. URL: http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.landespartei- tenbildung, welche die AfD wiederum effektiv nutzen tag-in-pforzheim-ein-trio-soll-die-afd-fuehren.d1c3e271-ef50–48ad- konnte, um sich als kritischer Außenseiter zu profilieren bba9–820eb39f430b.html [29.12.2016]. (Rieger 2016). Decker, Frank (2015): Die Veränderung der Parteienlandschaft durch das Aufkommen der AfD – Ein dauerhaftes Phänomen? In: Melzer, Ralf/Mol- Bald jedoch wurde die AfD-Fraktion von heftigen internen thagen, Dietmar/Zick, Andreas; Küpper, Beate (Hrsg.): Wut, Verach- Konflikten erschüttert. Dem AfD-Abgeordneten Wolfgang tung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn, S. 109–123. Gedeon wurde vorgeworfen, in Büchern antisemitische Po- Der Flügel (2015): Erfurter Resolution, Unterzeichnerliste: Baden-Württem- berg. URL: http://www.derfluegel.de/2015/03/20/1-unterzeichnerlis- sitionen publiziert zu haben (Soldt 2016). Fraktionschef te-landesverband-baden-wuerttemberg/ [21.01.2016]. Meuthen, der nach den Wahlen abermals eine Abgren- Eith, Ulrich (2003): Die Republikaner in Baden-Württemberg: Mehr als nur zung von Radikalismen verschiedener Art versprochen populistischer Protest. In: Werz, Nikolaus (Hrsg.): Populismus. Populis- ten in Übersee und Europa. Opladen, S. 243–261. hatte, strebte daraufhin Gedeons Ausschluss an, schei- Förster, Julika (2015): Zündeln in der Wagenburg. In: Hensel, Alexander/ terte jedoch wiederholt an Widerständen innerhalb seiner Hiemann, Roland/ Kallinich, Daniela/Lorenz, Robert/Mueller-Stahl, Ro- Fraktion. Als Ultima Ratio verließ Meuthen kurz darauf ge- bert/Rahlf, Katharina (Hrsg.): Parteien, Protest und Populismus. Jahr- buch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung 2014. Stuttgart. meinsam mit 13 weiteren Abgeordneten die AfD-Fraktion Gabriel, Oscar W./Kornelius, Bernhard (2016): Die baden-württembergi- und gründete eine neue Fraktion (Reiners 2016). Diese Frak- schen Landtagswahlen vom 13. März 2016: Es grünt so grün. In: Zeit- tionsspaltung hielt die AfD Baden-Württemberg den Som- schrift für Parlamentsfragen, 3/2016, S. 497–518. Häusler, Alexander (2016): Die AfD als rechtspopulistischer Profiteur der mer 2016 über in Atem und löste auch im Stuttgarter Lan- Flüchtlingsdebatte. In: Decker, Oliver/Kiess, Johanna/Brähler, Elmar desparlament heftige Debatten aus – nutzten die beiden (Hrsg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung AfD-Fraktionen ihre durch die Aufspaltung zusätzlich er- in Deutschland. Gießen, S. 167–178. Häusler, Alexander/Roeser, Rainer: Zwischen Euro-Kritik und rechtem Po- langten Rechte doch für die Beantragung eines Untersu- pulismus: Merkmale und Dynamik des Rechtsrucks in der AfD. In: Melzer, chungsausschusses zum Thema Linksextremismus (Wehaus Ralf/Moltenhagen, Dietmar/Zick, Andreas/Küpper, Beate (Hrsg.): Wut, 2016). Nach intensivem Druck von der Basis- und Kreis- Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn 2015, S. 124–145. ebene sowie schwierigen Verhandlungen zwischen den Hensel, Alexander/Geiges, Lars/Pausch, Robert/Förster, Julika (2016): Die zerstrittenen AfD-Abgeordneten kam es im Oktober 2016 AfD vor den Landtagswahlen. Programme, Profile und Potenziale. OBS- schließlich zu einer Wiedervereinigung der beiden Frak- Arbeitsheft 20. Frankfurt am Main 2016. URL: https://www.otto-bren- ner-shop.de/uploads/tx_mplightshop/AP20_AFD.pdf [01.05.2016]. tionen. Hensel, Alexander (2016): Populismus und Fremdenfeindlichkeit: Zum Auf- Dennoch bleibt die Entwicklung der AfD Baden-Württem- stieg der „Alternative für Deutschland“. In: Deutschland & Europa, berg in Bewegung: Im Vorfeld der Aufstellungsversamm- 72/2016, S. 40–45. Infratest dimap 2016: Wahlreport Baden-Württemberg 2016. Berlin 2016. lung, welche die Listenkandidaten für die Bundestagswahl Junge Alternative (2015): Junge Alternative feiert fünfte Angliederung. 2017 bestimmen sollte, kam es erneut zu heftigen Turbulen- URL: https://www.jungealternative.com/junge-alternative-feiert-fuenf- zen zwischen moderaten und radikalen Kräften innerhalb te-angliederung/ [29.12.2016]. Korte, Karl-Rudolf/Leggewie, Claus/Lewandowsky, Marcel (2015): Partei des Landesverbandes (Krohn 2016). Wenige Wochen spä- am Scheideweg: Die Alternative der AfD. In: Blätter für deutsche und ter gab die AfD-Abgeordnete Claudia Martin aus Protest internationale Politik, 6/2015, S. 59–67. gegen einen zunehmend rechtspopulistischen Kurs, zu ra- Koschmieder, Carsten (2016): Demokratischer als die Altparteien? In: Hen- sel, Alexander/Kallinich, Daniela/Kiegeland, Julia/Lorenz, Robert/ dikale asylpolitische Forderungen und eine mangelnde Mueller-Stahl, Robert (Hrsg.): Demokratie in Aufruhr. Jahrbuch des Göt- Abgrenzung gegenüber rechtsextremen Kräfte überra- tinger Instituts für Demokratieforschung 2015. Stuttgart, S. 141–144. schend ihren Austritt aus der Landtagsfraktion bekannt. In Krohn, Knut/Reiners, Willi (2016): „Der Islam gehört nicht zu uns“. In: Stutt- garter Zeitung, 21.04.16. einem Youtube-Video bekundete sie enttäuscht: „Wir woll- Krohn, Knut (2016): Gerangel um die besten Plätze. In: Stuttgarter Zeitung, ten es anders machen. Wir wollten es besser machen. Wir 08.11.16. wollten zeigen, dass es anders geht. Doch dabei sind wir Martin, Claudia (2016): Austritt bei der AfD. Die Erklärung zu meinem Aus- tritt aus der Landtagsfraktion Baden-Württemberg und der Partei Alter- schneller noch schlimmer geworden als die Altparteien.“ native für Deutschland, 16.12.2016.URL: https://www.youtube.com/ (Martin 2016). watch?v=x0V0efGdLQY [29.01.2016]. Mielke, Gerd (2016): Stress und Stressreaktionen. Die Landtagswahlen 2016 und das deutsche Parteiensystem. In: Theorie und Praxis der Sozi- alen Arbeit, 4/2016, S. 1–18. Müller, Andreas (2016): Das bürgerliche Gesicht der AfD. In: Stuttgarter LITERATUR Zeitung, 03.03.2016. URL: http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt. spitzenkandidat-joerg-meuthen-das-buergerliche-gesicht-der-afd. AfD (2016): Facebook-Posting zur SWR-Debatte. URL: https://www.face- a8c52dea-2940–4ea6–960b–68b2cdbf1202.html [29.12.2016] book.com/alternativefuerde/posts/1065341373496201 [21.01.2016]. Münkler, Herfried/Münkler Marina (2016): Die neuen Deutschen. Ein Land AfD-BW (2016a): Die AfD-Kreisverbände in Baden-Württemberg. URL: vor seiner Zukunft. Berlin. https://afd-bw.de/kreisverbaende [29.12.2016]. Neuerer, Dietmar (2015): „Schrille Töne sind unserer Sache nicht dienlich“. AfD-BW (2016b): AfD Baden-Württemberg: Mitgliederzuwachs hält an. In: Handelsblatt, 26.11.2015. URL: http://www.handelsblatt.com/poli- URL: https://afd-bw.de/aktuell/news/3528/AfD+Baden-W%C3%BCrt tik/deutschland/interview-mit-co-afd-chef-meuthen-schrille-toene- temberg%3A+Mitgliederzuwachs+h%C3%A4lt+an [29.12.2016]. sind-unserer-sache-nicht-dienlich/12642898.html [21.01.2016]. AfD-BW (2015c): Für unser Land – Für unsere Werte. Programm zur Land- Niedermayer, Oskar/Hofrichter, Jürgen (2016): Die Wählerschaft der AfD. tagswahl 2016. URL: http://afd-bw.de/wahlprogramm/ [21.01.2016]. Wer ist sie, woher kommt sie und wie weit rechts steht sie? In: Zeitschrift Amann, Melanie (2016): Gefährliche Liebschaften. In: Der Spiegel, 1/2016. für Parlamentsfragen, 2/2016, S. 267–284.

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bis2017_01_inhalt.indd 53 27.03.17 16:00 Niedermayer, Oskar (2014): Eine neue Konkurrentin im Parteiensystem? afd-abgeordneter-gedeon-forscher-schriften-eindeutig-antisemitisch- Die Alternative für Deutschland In: ders. (Hrsg.): Die Parteien nach der 14302526.html [29.12.2016] Bundestagswahl 2013. Wiesbaden, S. 175–207. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2014): Ergebnisse der Kom- o. V. (2016): So haben Gewerkschaftsmitglieder gewählt. In: Einblick – munalwahlen. URL: http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/ Gewerkschaftlicher Info-Service, 5/2016, S. 3. Wahlen/Kommunalwahlen_2014/ [21.1.2016]. Reiners, Willi (2016): Meuthen will im Landtag neue AfD-Fraktion bilden. Wagener, Fabian/Eich, Marc (2016): Stadtteil der Sorgen? In Schwarz- In: Stuttgarter Zeitung, 07.07.2016. wälder Bote, 17.03.2016. Alexander Hensel Alexander Rieger, Arnold (2016): Neue Fronten und unerbetener Beifall. In: Stuttgar- Wedekind, Elisa: „Ich fühlte mich politisch heimatlos“. In: Stuttgarter Zei- ter Zeitung, 09.06.16. tung, 27.05.13. Schöne, Helmar/Immerfall, Helmar: Grün-Rote Bildungspolitik in Baden- Wehaus, Rainer (2015a): „Ich stehe zur Verfügung“. In: Stuttgarter Nach- Württemberg. In: Der Bürger im Staat, 4/2015, S. 186–194. richten, 12.01.2015. Soldt, Rüdiger (2016): Forscher: Schriften „eindeutig antisemitisch“. In: Wehaus, Rainer (2015b): Gegen den Zustrom, nicht gegen Flüchtlinge? In: Faz.net, 22.6.16. URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ Stuttgarter Nachrichten, 19.10.2015. Wehaus, Rainer (2016): AfD im Landtag will sich zusammenraufen. In: Stutt- garter Nachrichten, 09.09.2016.

ANMERKUNGEN 1 Der Artikel baut auf der in Kooperation mit der Otto-Brenner-Stiftung entstandenen Studie „Die AfD vor den Landtagswahlen 2016“ auf (Hensel u. a. 2016). Den Mitautoren der Studie – Lars Geiges, Robert Pausch und Julika Förster – sei an dieser Stelle für die intensive Zusammenarbeit herz- lich gedankt. 2 Zur Entwicklung rechtspopulistischer Parteien in Europa vgl. den Bei- trag von Frank Decker in diesem Heft. 3 Zu grundlegenden Merkmalen des Rechtspopulismus vgl. den Beitrag

AUTOR UNSER von Marcel Lewandowsky in diesem Heft. 4 Unterzeichner aus dem damaligen Landesvorstand waren: Bernd Grimmer, Christina Baum, Rüdiger Klos, Alfred Bamberger, Markus Frohn- maier, Carola Wolle. Aus den Reihen der späteren Landtagsfraktion un- Alexander Hensel (M. A.) ist Politikwissenschaftler und arbeitet terzeichneten zudem Heinrich Fiechtner, Bernd Gögel, Heinrich Kuhn, Stefan Räpple und Udo Stein die Resolution (Der Flügel 2015). als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratiefor- 5 Zu den Positionen Björn Höckes vgl. den Beitrag von Matthias Quent schung an der Universität Göttingen. Er beschäftigt sich vor allem in diesem Heft mit politischen Bewegungen und Parteien und forscht derzeit zur 6 Zu den Schwierigkeiten des Umgangs mit rechtspopulistischen Partei- en vgl. die Beiträge von Frank Decker, Marcel Lewandowsky und Anja Entwicklung der AfD und ihren Landtagsfraktionen in Baden- Besand in diesem Heft. Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt.

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bis2017_01_inhalt.indd 54 27.03.17 16:00 VÖLKISCH-NATIONALER RECHTSPOPULISMUS Rechtspopulismus und Radikalisierung: wenn Wut zu Hass wird Matthias Quent

727) und steht damit in Konflikt mit dem Grundgesetz, das Erleben wir im Osten der Republik eine neue Spielart von die prinzipielle Gleichwertigkeit der Menschen im ersten Rechtspopulismus oder eine popularisierte Form von Absatz garantiert: „Die Würde des Menschen ist unantast- Rechtsextremismus? Der extrem rechte Flügel um Björn bar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller Höcke, den Thüringer Landesvorsitzenden der AfD, pro- staatlichen Gewalt.“ pagiert ein völkisches „Selbstbestimmungsrecht“ und Als Lehre aus dem Untergang der Weimarer Republik und grenzt mit dieser völkisch-nationalistischen Parole an- der nationalsozialistischen Menschheitskatastrophe ha- dere Ethnien in menschenfeindlicher und antidemokrati- ben die Gründungsväter diesen Artikel als unabänderlich scher Manier gezielt aus. Die Nähe zu rechtsextremen erklärt. Selbst parlamentarische Mehrheiten im Bundestag Weltbildern ist offenkundig. „Wutbürgern“ wird so eine dürfen diesen Grundsatz nicht streichen oder ändern. Plattform geboten, um ihre Wut in Hass zu kanalisieren. Nach Immanuel Kant umfasst das Grundprinzip der Men- Dieser Hass wendet sich gegen Angehörige marginali- schenwürde die Achtung vor dem anderen, das Anerken- sierter Gruppen und Andersdenkende, plädiert für nen seines Existenzrechtes und die Anerkennung der prin- Selbstjustiz, radikalisiert und billigt letztlich auch Ge- zipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Wer Menschen walttaten gegen geflüchtete Menschen. Perfide ist das vordergründige Bekenntnis zum Konservatismus und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die perma- nent desavouiert und in Wort und Tat missachtet wird. Matthias Quent plädiert in seinem Beitrag daher für ein energisches Eintreten der Zivilgesellschaft für demokra- tische Werte: Gegen den Hass helfen Haltung, enga- gierte Gegenrede und Aufklärung.

Rechtspopulismus oder popularisierter Rechtsextremismus?

Der Schirmbegriff des (Rechts-)Populismus wird im öffentli- chen Diskurs unspezifisch genutzt, um eine Vielzahl von inhaltlich und strategisch unterschiedlich agierenden poli- tischen Erscheinungen zu klassifizieren. Populismus wird häufig gesehen als eine spezifische Art der Strategie und des Auftretens ohne eine originäre Programmatik (Wodak 2013: 737). Populismus ist, wie Annie Benveniste u. a. (2016: 4) schreiben, ein faszinierendes Konzept, dass in der Lage ist zu suggerieren, ohne umfassende präzise oder definitive Aussagen zu treffen. Der Schirmbegriff Populismus ist nicht erst seit Pegida, der AfD oder dem Wahlsieg von Donald Trump in politischen und wissenschaftlichen Debatten en vogue: Bereits in den 1960er Jahren konstatierten die So- zialwissenschaftler Ernest Gellner und Ghita Ionescu: „Ein Gespenst geht um in der Welt – der Populismus.“ Der Be- griff sei schillernd, sage aber wenig über die politischen Inhalte – er sei ein „Chamäleon“ (vgl. Müller 2016: 17). Das spezifische Markenzeichen der Populisten ist demnach, dass ihre innere Logik „nicht nur antielitär, sondern grund- sätzlich antipluralistisch“ ist (ebd.: 129). Populismus konst- Populismus, der sich gegen ethnische, nationale oder reli- ruiert eine nichtexistente ethnisch-nationale Reinheit, um giöse Minderheiten richtet, steht in Konflikt mit dem Grund- sie gegen diejenigen zu verteidigen, die diese fiktive Rein- gesetz, das die prinzipielle Gleichwertigkeit der Menschen heit zu gefährden scheinen (Wodak 2013: 761). Populis- im ersten Artikel garantiert: „Die Würde des Menschen ist mus, der sich gegen ethnisch, national oder religiös defi- unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflich- nierte „andere“ richtet, ist als „rechts“ zu bezeichnen (ebd.: tung aller staatlichen Gewalt.“ picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 55 27.03.17 16:00 das Recht zur Existenz abspricht oder ihre Gleichwertigkeit infrage stellt, ob nun mit stumpfer Parole oder geschlif- fenem Wort, ob links, Mitte oder rechts, steht in Konflikt mit den Grundwerten unseres Grundgesetzes. Für diese

Matthias Quent Matthias sozialphilosophische Bestandsaufnahme ist es generell unerheblich, ob zwei Prozent, 20 Prozent oder 90 Prozent der Bevölkerung Ungleichwertigkeitsvorstellungen teilen. Die Vorstellung von der Ungleichheit der Menschen war die rassentheoretisch legitimierte ideologische Grund- lage der Nationalsozialisten, und sie ist noch heute das Leitbild der sogenannten „Neuen Rechten“. Zu Recht stellt Clemens Escher (2016: 190) fest: „Minderheiten- schutz und die verbriefte Religionsfreiheit sind nicht dis- ponibel. […] Es braucht mehr Mut, rechtsextreme Gedan- ken auch rechtsextrem [Hervorhebung im Original] zu nennen und nicht immer im Containerbegriff des Rechts- populismus bequem Zuflucht zu suchen.“ Es drängt sich die Frage auf: Erleben wir tatsächlich einen neuen Rechts- populismus oder einen in neuem Umfang popularisierten Rechtsextremismus? Obwohl es nicht zutreffend ist, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus per se gleichzusetzen, ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass unter dem Terminus Rechtspo- pulismus auch Strömungen gefasst werden, die einen völki- schen Nationalismus propagieren und daher inhaltlich dem Rechtsextremismus zuzuzählen sind. Die Konstruktion einer neuen politischen Normalität im Zuge des Erstarkens des Rechtspopulismus ist besonders problematisch, weil innerhalb der rechtspopulistischen AfD der extrem rechte Flügel um den Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke erheblich an Einfluss gewonnen hat und zentrale Schalt- Rechtspopulismus in Deutschland – eine stellen im Parteiapparat besetzen konnte, vor allem die Normalisierung? Schiedsgerichte. Die realistische Möglichkeit, dass die Rechtsausleger erneut die Oberhand erlangen werden – Die Ungleichzeitigkeit des Erstarkens der deutschen Rech- wie schon bei der Spaltung vom marktradikalen Parteiflü- ten im internationalen Vergleich (z. B. im Vergleich zu gel um Bernd Lucke beim Essener Parteitag 2015 – wirft die Österreich und Frankreich) ist nicht zufällig, sondern Indiz Frage auf, ob der öffentliche, mediale und staatliche Dis- der Mobilisierbarkeit rassistischer bzw. gruppenbezogen kurs diesen Entwicklungen Rechnung tragen kann oder menschenfeindlicher Grundstimmungen für eine von Teilen weiterhin mit unspezifischen Sammelbegriffen operieren der ökonomischen Elite unterstützte Gegenhegemonie von wird. rechts in der Bundesrepublik: Pegida und AfD traten nicht Der Begriff des Rechtspopulismus wird ebenso wie der des in Erscheinung aufgrund allgemeiner Politikverdrossenheit „Wutbürgers“ im Zusammenhang mit Pegida und der AfD oder weil der Rechtspopulismus eben zu europäischen De- auch genutzt, um Beschreibungen zu umschiffen, die fal- mokratien gehört. Das schon länger bekannte Potenzial sche und folgenschwere Stigmatisierungen nach sich zie- wurde erstmals als neoliberales Narrativ gegen kapitalis- hen könnten. Darunter leiden allerdings die analytische muskritische Antworten auf die Wirtschafts- und Finanz- Klarheit und die wissenschaftliche Erkenntnis, die auch für markt- sowie die Eurokrise aktiviert. wirksame Gegenstrategien unerlässlich sind. Der Philo- Den Weg bereiteten im Jahr 2010 Thilo Sarrazins ethnisie- soph Hubert Schleichert schreibt: „Zwischen einer schein- rende Thesen sozialer und sozialstruktureller Probleme: bar harmlosen Ideologie und ihren gar nicht so harmlosen, Einwanderung, so Sarrazin, sei eine Gefahr für die Demo- radikalen Anwendungen lassen sich keine klaren Grenzen kratie, nicht der aus dem Ruder gelaufene Turbokapitalis- ziehen. Deshalb muss die Aufklärung an der Wurzel des mus. Meinungsumfragen im Jahr 2011 stellten fest: Jeder Übels ansetzen. Es rächt sich, wenn man den Glauben an fünfte Deutsche würde eine Sarrazin-Partei wählen. 2013 Hexen und Zauberer respektiert und zugleich hofft, dass gründeten neoliberale Ökonomieprofessoren um Bernd niemand diesen Glauben ‚missbrauchen‘ oder ‚radikal‘ in- Lucke die AfD. Wie Manfred Güllner herausstellt, hatte es terpretieren, d. h. auf die Jagd nach Hexen und Teufeln ge- bereits Parteigründer Lucke „von Anfang an nicht nur billi- hen wird“ (Schleichert 2012: 9). gend in Kauf genommen, dass die AfD auch Anhänger der Zum demokratischen Dilemma gehört, dass in der Ausein- offen als rechtsextreme Gruppe agierenden NPD als Wäh- andersetzung mit Rechtspopulismus und Wutbürgertum ler gewann, sondern hat dies auch strategisch so geplant“ der Rassismus und seine politisierte Form – der Rechtsext- (Güllner 2016: 46). Trotz finanzstarker Unterstützung und remismus (Rommelspacher 2009: 29) – dann nicht mehr des Ausbootens der FDP gelang es der neu gegründeten beim Namen genannt werden, wenn sie die schmuddelige AfD im Bundestagswahlkampf 2013 nicht, die Fünfprozent- und minoritäre Randposition der Gesellschaft verlassen, hürde zu überwinden. Beim Essener Parteitag im Juli 2015 die ihnen die normative Extremismustheorie der Verfas- spaltete sich die AfD, der frühere Parteichef Lucke gründete sungsschutzbehörden zugewiesen hat. die erfolglose Partei „Alfa“. Die nochmals nach rechts ge-

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bis2017_01_inhalt.indd 56 27.03.17 16:00 RECHTSPOPULISMUS UND RADIKALISIERUNG: WENN WUT ZU HASS WIRD

Mehrheit“ (ebd.) Nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ebenso wie nach dem Grundgesetz ist Diskriminierung aufgrund von Abstammung, wie sie Höcke forciert, unzulässig. Die Grundrechte und deren Unabän- derlichkeit in der Verfassung sind nicht zuletzt eine Lehre aus dem Nationalsozialismus, in dem das völkische Den- ken unter anderem umgesetzt wurde durch das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ im Rahmen der Nürnberger Rassengesetze. Auch im Zu- sammenhang mit der Ukraine-Krise wurde der Begriff des Björn Höcke, der Thüringer „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ strapaziert: Der Landesvorsitzende der AfD, Historiker Götz Aly schreibt, bei dem Begriff handele es provoziert immer wieder mit sich um eine im 19. Jahrhundert entstandene „nationalisti- gezielten sprachlichen Ausfäl- sche Kampfparole“, die mitverantwortlich sei für die Kata- len. Höcke, der dem extrem strophen des 20. Jahrhunderts (Aly 2014). 1989 kritisierte rechten Flügel der AfD ange- der Soziologie Ralf Dahrendorf den Begriff des „Selbstbe- hört, beherrscht die rhetorische stimmungsrechts“ als „Kampfbegriff, jedoch nicht im Kampf Gratwanderung von Entglei- schwacher Einzelner gegen Mächtige, sondern im Kampf sung und Dementi. So beruft er um die Etablierung von Macht“ (Dahrendorf 1989). Dah- sich u.a. auf ein vermeintliches rendorf schreibt: „Um die These in aller Konsequenz zu for- „Heimatrecht“ und „Selbstbe- mulieren: Es gibt kein Recht der Armenier, unter Armeniern stimmungsrecht“ der deutschen zu leben. […] Das sogenannte Selbstbestimmungsrecht Bevölkerung. hat unter anderem als Alibi für Homogenität gedient, und picture alliance/dpa Homogenität heißt immer die Ausweisung oder Unterdrü- ckung von Minderheiten“ (ebd.). Daher solle der Begriff des Selbstbestimmungsrechts, der „Instrument der Entzivi- rutschte AfD konnte erst im Kontext der Migrationskrise lisierung und Barbarisierung ist, ein Zeugnis der Unfähig- bundesweite Wahlerfolge erlangen und steuert nun auf keit zur Freiheit in Vielfalt“ (ebd.), „aus dem Wortschatz der den Einzug in den Deutschen Bundestag bei den Wahlen internationalen Politik“ (ebd.) verschwinden. Mit der AfD ist im September 2017 zu. dieses Instrument (und die dahinterstehenden völkischen Homogenitätsvorstellungen) in den deutschen Parlamen- tarismus zurückgekehrt. Völkische Ideologien im Rechtspopulismus Im Dezember 2015 sorgte der Auftritt Höckes beim extrem rechten „Institut für Staatspolitik“ für Aufsehen: Der AfD- Dass die AfD als rechts und als populistisch einzuschätzen Politiker vertrat dort biologistische Rassentheorien. Im An- ist, zweifelt heute kein Beobachter ernsthaft an. Doch das trag des Bundesrates zum Verbot der NPD nimmt ein sol- ist unpräzise. Seit der Spaltung der AfD beim Parteitag von ches Verständnis eines „ethnischen Volksbegriffs“ einen Essen sind Teile der AfD als extrem rechts mit populisti- wesentlichen Stellenwert ein, um den verfassungsfeindli- schem Stil zu charakterisieren. Dies trifft nicht auf alle Mit- chen Charakter der NPD zu beschreiben und die Nähe der glieder, Sympathisanten und das verschriftliche Programm NPD zur NSDAP zu beweisen, die ebenfalls auf die Ab- (aber auch da identifiziert Kellersohn [2016: 20] „Konturen stammung als Kriterium der Staatsangehörigkeit rekur- des völkischen Nationalismus“) der Partei zu, doch der rierte. Christoph Möllers und Christian Waldhoff – die Pro- wachsende Einfluss des extremen Flügels um Höcke und zessbevollmächtigen des Bundesrats – veranschaulichen André Poggenburg sowie die Besetzung der Schiedsge- den „ethnischen Volksbegriff“ der NPD beispielhaft am richte mit Rechtsauslegern zeigen, wohin die Reise gehen Wahlprogramm der Berliner NPD. Dort heißt es: „Berlin soll. Der erfahrene Machtpolitiker und AfD-Bundesvorsit- soll eine Stadt der Deutschen bleiben und in allen Bezirken zende setzte sich dafür ein, Höcke und Ortsteilen wieder werden. Das Heimatrecht der Deut- zum Spitzenteam der AfD für den Bundestagswahlkampf schen ist bedingungslos wiederherzustellen. Die soge- aufzustellen, da er „einen großen Teil der Partei“ (zitiert in: nannte Integration ist ein Schwindel sondergleichen“ (zi- Debes 2016) vertrete. Höcke und seine Leute stehen für ein tiert in: Möllers/Waldhoff 2012: 177). Nicht nur die Forde- völkisches, weil auf deutscher Abstammung beruhendes rung, Integration konsequent zu verweigern, erinnert an „Selbstbestimmungsrecht“. Dieses „Selbstbestimmungs- die Argumentation Höckes; auch Höcke beruft sich auf ein recht“ – ein aus dem Völkerrecht entliehener, umgedeute- vermeintliches „Heimatrecht“ (vgl. u. a. Höcke 2015): „Und ter Begriff – wird von Höcke interpretiert mit den Worten: ich werde um das Heimatrecht meiner Kinder, um das Hei- „Wir haben als Volk das Recht, Herr im eigenen Haus zu matrecht meines Volkes in der Mitte Europas kämpfen, bis bleiben!“ Die Umsetzung von Selbstbestimmung leitet Hö- mich die Kraft verlässt und ich weiß – ihr werdet auch cke ab aus „numerischer Überlegenheit […] im eigenen kämpfen“ (zitiert in: Aktionsbündnis Gera gegen Rechts Land“ (Höcke 2015). Durch die Migrationsbewegungen 2015). Einen weiterer Beleg für den rassistischen Charakter nach Deutschland, so Höcke, werde diese Selbstbestim- der NPD sehen Möllers und Waldhoff in einer Äußerung mung bedroht durch eine „fremdstämmige Migranten- des ehemaligen Thüringer NPD-Landesvorsitzenden Pa-

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bis2017_01_inhalt.indd 57 27.03.17 16:00 trick Wieschke begründet, der schrieb: „Thüringen muss Journalist Dirk Kurbjuweit 2010 im Spiegel in die Debatte deutsch bleiben“ (zitiert in: Möllers und Waldhoff 2012: ein: „Der Wutbürger wehrt sich gegen den Wandel, und er 220). Ähnlich äußerte sich der AfD-Spitzenmann Höcke im mag nicht Weltbürger sein“ (zitiert in: Widmann 2016: 29). September 2015: „Erfurt ist schön deutsch und Erfurt soll Beschrieben werden damit Demonstranten aus dem bür-

Matthias Quent Matthias schön deutsch bleiben“ (Zitiert u. a. in: Speit 2015). Ausge- gerlichen Milieu, die sich kollektiv mit unkonventionellen rechnet der Schweriner NPD-Funktionär Udo Pastörs Mitteln öffentlich artikulieren – von Stuttgart 21 bis Pegida. brachte die Doppelstandards im öffentlichen und staatli- Wutbürger – das beschreibt eher die Form als den politi- chen Umgang mit der völkischen Ideologie auf den Punkt: schen Gegenstand von Protesten. Eine große Zahl mehr „Schauen sie sich Herrn Höcke an, der kopiert meine Re- und weniger gehaltvoller Bücher und Artikel hat sich mit den, fischt am rechten Rand und ich gehe dafür ins Ge- dem Wutbürgertum vor allem deskriptiv beschäftigt. Aus fängnis“ (zitiert in: Weiland 2016). allgemeiner psychologischer Perspektive beschreibt Wut Die schizophrene Weigerung, die Radikalisierung der ext- bzw. Zorn einen vorübergehenden emotionalen Zustand, rem rechten Wutbürger anzuerkennen, ist in diesem Kultur- der durch einen identifizierbaren Reiz erregt wird und sich kampf von rechts die eigentliche Gefahr für die liberale gegen die Quelle der Frustration richtet (Allport 1979: Demokratie. Zwiespältig ist diese Weigerung deshalb, 363). Wer zum Beispiel beim Spaziergang in einen Hunde- weil der Befund keinesfalls neu ist, dass zehn bis 20 Prozent haufen tritt, kann leicht und mit einiger Berechtigung Wut der deutschen Bevölkerung rechtsextrem eingestellt sind. empfinden auf den verantwortlichen Hundehalter. Wut Rechtsextreme Ideologiefragmente und Gruppenbezo- kann von selbst vergehen. Man kann sie produktiv nutzen gene Menschenfeindlichkeit sind Teil dieser Gesellschaft. oder ihr bewusst begegnen. Ratgeber für Jung und Alt fül- Eine von Helmut Schmidt in Auftrag gegebene Einstel- len mit Buchtiteln wie „Wut tut gut“ oder „Wohin mit meiner lungsstudie gab bereits 1980 Auskunft, dass über 13 Pro- Wut“ Regalzeilen in der Buchhandlung. Der biblische ge- zent der westdeutschen Bevölkerung über ein geschlosse- rechte Zorn ist sprichwörtlich. Das Gefühl der Wut kann nes rechtsextremes Weltbild verfügten; die Hälfte der Be- wohltuend und produktiv sein, es kann aber auch manipu- völkerung war demnach empfänglich für rechtsextreme lativ ausgenutzt werden: Der rechte Verschwörungsideo- Positionen. Die Messinstrumente und Zahlen variieren, loge Udo Ulfkotte beispielsweise zeichnet in seinem Buch aber der Befund, dass menschenfeindliche und antidemo- „Vorsicht Bürgerkrieg! Was lange gärt, wird endlich Wut“ kratische Einstellungen in großen Teilen der Gesellschaft apokalyptische Bilder. bundesweit anzutreffen sind, wurde in den letzten Jahr- Wo gerechter oder zumindest berechtigter Zorn zu vorur- zehnten mit erschreckender Regelmäßigkeit bestätigt. teilsgeleiteter Abwertung wird, radikalisiert sich Wut zu Mehrere Studien haben in den letzten Monaten herausge- Hass. Schon Aristoteles stellte den Unterschied zwischen stellt: Die Abwertung von Asylsuchenden und Muslimen ist Wut und Hass heraus: Während sich der Zorn in der Regel gestiegen, klassisch rechtsextreme Einstellungen sind da- gegen relativ konstant geblieben. Es ist ein deutlicher Hin- weis auf das Profil der AfD, dass es der Partei, wie Bielefel- der Forscher ermittelten, in wachsendem Maße und über- durchschnittlich erfolgreich gelingt, das rechtsextreme bzw. gruppenbezogen menschenfeindlich orientierte Po- Das Holocaust-Mahnmal in tenzial zu mobilisieren (vgl. Hövermann/Groß 2016: 167ff). Berlin. Björn Höcke drohte der Nicht die allgemeine Verdrossenheit, sondern die Debatte Ausschluss, nachdem der AfD- um die Fluchtmigration lieferte der Partei ein mobilisie- Bundesvorstand im Februar ein rungsfähiges Thema. entsprechendes Verfahren gegen ihn eingeleitet hatte. Der Grund war seine Dresdner Wut- und Hassbürger Rede, auf der Höcke unter anderem eine „erinnerungspo- Unter dem Schirm des Begriffs Rechtspopulismus haben litische Wende um 180 Grad“ sich Wut und gefährlicher Hass zu einer nur noch schwer zu verlangt und das Holocaust- differenzierenden Gemengelage vermischt, in der Ängste Mahnmal in Berlin als „Denk- und ihre Ursachen, Kritik und Projektion, Fakt und Vorurteil mal der Schande“ bezeichnet durcheinandergeworfen und synonym behandelt werden. hatte. Das Votum im Bundes- Die Übergänge zwischen Populismus und Extremismus sind vorstand fiel mit neun gegen fließend. Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz be- vier Stimmen nicht einheitlich schreibt die rechtspopulistische Pegida-Bewegung so: aus. Unter anderem votierte „Wutmenschen demonstrieren montäglich gegen die Idee AfD-Chefin Frauke Petry für der Toleranz, offenbaren ein krudes Weltbild aus Frem- das Ausschlussverfahren. denhass und Zorn gegen die Obrigkeit, zeigen sich als Dagegen stimmten zwei von frustrierte Underdogs, die sich von Partizipation ausge- Höckes internen Verbündeten, schlossen fühlen, weil sie das System der repräsentativen Ko-Parteichef Jörg Meuthen Demokratie nicht verstehen wollen und die Möglichkeiten und Parteivize Alexander Gau- politischer Teilhabe, die geboten sind, verschmähen und land. Innerhalb der AfD gelten verachten“ (Benz 2016: 16). Er greift mit der Bezeichnung Höcke, Gauland und Meuthen „Wutmenschen“ eine beliebt gewordene Sammelbezeich- als schärfste interne Widersa- nung auf, die häufig synonym für diffuses Protestverhalten cher von Petry. verwendet wird. Den Begriff des „Wutbürgers“ brachte der picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 58 27.03.17 16:00 auf Einzelpersonen richtet, kann sich der Hass gegen RECHTSPOPULISMUS UND RADIKALISIERUNG: ganze Klassen von Menschen richten. Hass ist tiefer ver- WENN WUT ZU HASS WIRD wurzelt als Wut. Der Psychologe Gordon W. Allport fasst zusammen: Wut ist ein Gefühl, aber Hass ist ein Geisteszu- stand, die andauernde Organisation aggressiver Impulse (Memmi 1992: 68). In diesem Mechanismus besteht die so- gegen eine Person oder eine Klasse von Personen (vgl. All- ziale Funktion des Rassismus. Stereotype und der soge- port 1979: 363). Populistische Proteste bieten Plattformen nannte Rassenhass sind seit jeher virulente Alltagsfaktoren und Deutungsmuster, um Wut zum Hass zu kanalisieren, zu postfaktischer Politik. Dem Hassbürger geht es nicht da- bündeln, zu politisieren und zu instrumentalisieren. Das rum, durch gründliche Betrachtung, sachliche Abwägung Morgenmagazin des ZDF befragte im Herbst 2015 Teilneh- oder wissenschaftliche Erkenntnis den Ursachen von Miss- mende einer Demonstration der AfD gegen die Asylpolitik ständen auf den Grund zu gehen und diese zu beeinflus- der Bundesregierung in Erfurt. Dort äußerte sich eine Frau sen. Die begründbare Wut auf einen rücksichtslosen Hun- wie folgt: „Ich krieg‘ 500 Euro Rente und so ein Moslem dehalter, dessen Bequemlichkeit mitverantwortlich ist für kriegt 670. Haben wir nicht genug Probleme in Deutsch- eine missliche Situation, ist von anderer Qualität als der land? Ich bin voller Hass! Die müssen weg!“ (AfD-Demons- vorurteilsbasierte Hass, der Unschuldigen aufgrund (einer trantin in Erfurt, ZDF Morgenmagazin vom 29.10.2015). angeblichen) Gruppenzugehörigkeit entgegengebracht Das Zitat zeigt eindrücklich, wie eine Lebenssituation, die wird. Für einen Hundehalter, der in flagranti erwischt und unter sozialökonomischen Gesichtspunkten nicht zufrie- von einem wütenden Bürger mit einer Ohrfeige bedacht denstellend sein kann, auf dem Vehikel religiöser Differen- wird, sind die Folgen der Tat weniger schwerwiegend als zierung und Distanzierung sowie unter Bezug auf falsche für einen Menschen, der aufgrund seiner Hautfarbe, seiner Daten auf Minderheiten projiziert wird und wie die Min- Religion, seiner sexuellen Orientierung oder geschlecht- derheiten damit als Sündenböcke und Ventil für Unzufrie- lichen Identität die gleiche Tat erleiden musste. Denn denheit und hier wortwörtlich „Hass“ missbraucht werden der Hundehalter ist zum Opfer geworden aufgrund einer können. Der berechtigte Zorn über die ökonomische Situa- tatsächlich in seiner Verantwortung liegenden Situation, tion wird zum Hass auf Unschuldige umgelenkt und radika- die für ihn veränderbar ist – nicht aufgrund seiner angeb- lisiert. Als Sündenböcke sind sie dem Ankläger nützlich, lichen oder tatsächlichen Identität. Er kann sein Verhal- denn „immerhin ermöglichte das Abwälzen der eigenen ten ändern und kann berechtigterweise davon ausgehen, Schwierigkeiten und Irrtümer auf einen anderen – einen im Alltag nicht von unbeteiligten Dritten als Hundehalter Konkurrenten oder Nachbarn, eine Minderheit im eigenen erkannt und verfolgt zu werden. Für Menschen, die bei- Land oder eine andere Nation, eine Institution oder die spielsweise aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert, ab- Natur – eine qualvolle Situation erträglicher zu machen“ gewertet oder angegriffen werden, haben diese vorur- teilsbasierten Handlungen schwerwiegende Folgen. Dies gilt insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung und gruppenbezogen menschenfeindlicher Radikalisie- rung, in denen die Angst vor Wiederholung, vor erneuter Demütigung und Viktimisierung bei Betroffenen in weiten Teilen der Republik zum traurigen Alltag gehört. Die Über- gänge zwischen Wut und Hass sind nicht nur fließend, sie wirken auch dynamisch-verstärkend; organisierte Hass- und Gewaltgruppen, die sich als Vollstrecker des Volkszor- nes erfahren und inszenieren, greifen beispielsweise im Schatten von AfD-Kundgebungen Gegendemonstranten an und fühlen sich durch den „Volkswillen“ legitimiert, An- schläge auf Geflüchtete und politische Gegner zu ver- üben.

Populismus und Gewalt

Bezugnehmend auf Peter Waldmann (2011) habe ich den Begriff des vigilantistischen Terrorismus in die Debatte ein- gebracht, um diese Form der Selbstjustiz aus der Mehr- heitsgesellschaft gegen Angehörige marginalisierter Gruppen zu beschreiben (u. a. Quent 2015, Quent 2016a, Quent 2016b). Verschiedene Wissenschaftler haben die- sen Ansatz aufgenommen, beispielsweise schreibt Klaus Dörre: „PEGIDA, LEGIDA, THÜGIDA etc. und die AfD be- stellen ein Feld, das Vigilanten vom Typus Freitaler Bürger- wehr mit ihrem Terror gegen Geflüchtete überhaupt erst hof- und handlungsfähig macht“ (Dörre 2016: 261). Doch die Gefahr geht noch darüber hinaus: Denn das gewaltaf- fine Potenzial des rechten Kameradschafts-, Neonazi- und Hooliganmilieus stellt insbesondere in den neuen Bundes- ländern das kampfbereite und -erfahrene Fußvolk, auf das

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bis2017_01_inhalt.indd 59 27.03.17 16:00 Matthias Quent Matthias

Eine Holzplatte vor einem Fenster einer Asylbewerberun- terkunft im sächsischen Freital. Im Herbst 2015 wurde bei einem Anschlag auf eine Woh- nung von Asylbewerbern ein Mensch verletzt. Rechtspopu- listische Parteien bestellen ein Feld, das Selbstjustiz und Ter- ror gegen Geflüchtete hof- und handlungsfähig macht. picture alliance/dpa

die populistische Rechte nicht verzichten will. Claus Legge- ordnung und zum Konservatismus. Die AfD als fundamen- wie beobachtet am Beispiel des neurechten „Instituts für tal-oppositionelle Bewegungspartei sollte sich jedoch Staatspolitik“ von Götz Kubitzschek, über dessen publizis- nach Höckes Vorstellungen angesichts von „Staatskrise“ tische Plattform „Sezession“ Sympathisanten und Funktio- und „Staatszerfall“ „nicht mit Landtagsarbeit überbeschäf- näre der AfD und Aktivisten der vom Verfassungsschutz ob- tigen“ (Paul 2016: 126) – „von den gewonnenen parlamen- servierten „Identitären Bewegung“ gemeinsame politische tarischen Brückenköpfen aus möchte Höcke danach offen- und strategische Diskussionen führen, es werde diskutiert, bar einen Zusammenbruch staatlicher Gewalt, die Auflö- „ob der Schritt in den aktiven, das heißt gewalttätigen sung des ‚Vertrauensverhältnisses‘ zwischen ‚Volk‘ Volksaufstand zu wagen wäre“ (Leggewie 2016: 43). Dass einerseits und Staat und Verwaltungen andererseits vor- die Gefahr der gewaltsamen Radikalisierung nicht auf die führen, provozieren oder vertiefen“ (ebd.: 127). Theodor Bewegungseliten der sogenannten Wutbürgerbewegung W. Adorno (1955/1995) und Richard Hofstadter (1964) ha- beschränkt ist, stellte die Forschergruppe des Bielefelder ben diesen Typus extrem rechter Agitatoren als „Pseudo- Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung konservative“ beschrieben, denen, obwohl sie ihren Radi- um Andreas Zick mit ihren repräsentativen Einstellungsbe- kalismus verleugnen, „Fanatismus“ innewohnt und deren fragungen fest: „Die vermeintlich klare Abgrenzung gegen politische Positionen auf einem „Verfolgungsgefühl“, auf Gewalt ist Augenwischerei. Wer rechtspopulistische Ein- der Furcht vor einer „unmittelbar bevorstehenden politi- stellungen vertritt, billigt mit einiger Wahrscheinlichkeit schen Katastrophe“ gründen (vgl. Boltanski 2013: 343). Der auch Gewalt zur Absicherung des eigenen Status. Gewalt- Pseudokonservative, so Adorno, ist ein Mann, der im Na- tätig sind letztlich immer nur wenige Personen, in der Regel men traditioneller Werte und Institutionen und „zu ihrer junge Männer mit geringerer Bildung. Aber Anstoß zur Ge- Verteidigung gegen mehr oder weniger fiktive Gefahren walt geben viele andere, die diese Gewalt mittragen und bewußt oder unbewußt danach trachtet, sie abzuschaffen“ befeuern“ (Küpper/Zick/Krause 2015: 42f.). (Adorno 1955/1995: 206). Besser lässt sich das extremisti- Zielscheiben für gewaltsame Angriffe wurden beispiels- sche Potenzial im Rechtspopulismus kaum beschreiben. weise am Rande von Demonstrationen von Pegida und AfD nicht nur Gegendemonstranten, sondern auch Forschende und Journalisten. Vor allem aber richtet sich die Gewalt „Gegen den Hass“ gegen geflüchtete Menschen. Evident ist, dass das gesell- schaftspolitische Klima im Umfeld von Pegida in Dresden „Nur weil man sich so dran gewöhnt hat, und Sachsen zu einer Steigerung rechtsmotivierter Ge- ist es nicht normal“ (Band Kettcar im Song „Deiche“) walttaten geführt hat (vgl. Quent 2016c). Demokraten dürfen sich die Normalisierung völkischer, na- tionalsozialistischer und gewaltbilligender Ideologie nicht Pseudokonservatismus gefallen lassen: nicht durch zwei Prozent, aber schon gar nicht durch 20 Prozent der Bevölkerung. Dieser Kulturkampf Im Zuge der Migrationsdebatte steigen in ihren Augen der von rechts ist ein Abwehrkampf gegen die Durchsetzung Handlungsdruck und die Wut der Rechten. In einem Brief des Liberalismus in der Alltagswelt der Menschen. Er ist schreibt Höcke: „Jedem Patrioten aber, der spürt, dass un- affektiv begründet und wird dementsprechend postfak- serem Vaterland die Zeit davonläuft, daß unser geliebtes tisch geführt – was sich unter anderem im Onlinehass und Deutschland jeden Tag mehr verschwindet, muß es die Zor- in rassistischen Projektionen abbildet. Der Rechtspopulis- nesröte ins Gesicht treiben“ (Bensmann 2016). Formal be- mus schwelgt derzeit in Allmachtsfantasien, weil er erst- kennt sich Höcke zur freiheitlich-demokratischen Grund- mals seit dem Ende der Weimarer Republik signifikante

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bis2017_01_inhalt.indd 60 27.03.17 16:00 Stimmengewinne verzeichnen kann. Doch so lange sich die RECHTSPOPULISMUS UND RADIKALISIERUNG: demokratischen Kräfte in Politik, Kultur, Medien, Zivilge- WENN WUT ZU HASS WIRD sellschaft und Wissenschaft nicht zur Aufgabe demokrati- scher Werte hinreißen lassen, können die Rechten nicht tri- umphieren. „Es besteht kein Zweifel, dass der Lauf der Ge- Allport, Gordon W./Clark, Kenneth/Pettigrew, Thomas (1979): The Nature schichte zu mehr Gleichberechtigung führt, langsam und of Prejudice. 25th anniversary ed., unabridged [Nachdr.]. New York. sprunghaft zwar, aber letztlich unvermeidlich“, konstatiert Aly, Götz (2014): Kolumne zur Krim-Krise: Selbstbestimmung (Gift) der Völ- der amerikanische Soziologe Michael Kimmel (2015: 12). ker. In: Berliner Zeitung, 24.03.14. URL: http://www.berliner-zeitung.de/ kolumne-zur-krim-krise-selbstbestimmung--gift--der-voelker-3324766 Dieser Befund ist kein historischer Determinismus, sondern [09.12.2016]. ein Auftrag zur Verstärkung des Engagements – „Gegen Arendt, Hannah (1970/1995): Macht und Gewalt. München. den Hass“, wie es die Friedenpreisträgerin Carolin Emcke Bensmann, Marcus (2016): Machtkampf in der AfD: Wie sich Jörg Meuthen mit Björn Höcke verbündet. In: Correctiv online, 12.08.2016. URL: htt- (2016) beschreibt. Die nationalsozialistische Barbarei hat ps://correctiv.org/recherchen/neue-rechte/artikel/2016/08/12/ die Prozesse der Demokratisierung in der ersten Hälfte des machtkampf-der-afd-wie-sich-der-liberale-joerg-meuthen-mit-bjoern- 20. Jahrhunderts zwar gebrochen und zu unendlichem hoecke-verbuendet [09.12.2016]. Benveniste, Annie/Campani, Giovanna/Lazaridis, Gabriella (2016): Po- Leid geführt, hat den historischen Siegeszug der liberalen pulism: The Concept and Its Definitions. In: Lazaridis, Gabriella/Cam- Demokratie jedoch bisher nicht umgekehrt. Es ist das Di- pani, Giovanna/Benveniste, Annie: The Rise of the Far Right in Europe. lemma derer, die sich sozial, ökonomisch, politisch oder Populist Shifts and ‚Othering‘. London, S. 1–24. Benz, Wolfgang (2016): Aufstand der Ratlosen? Vormarsch der Rechten? kulturell als abgehängt wahrnehmen, die Chancen sozia- Krise der Demokratie? Fremdenhass und Wutmenschentum in schwieri- len Fortschritts als Bedrohung empfinden und sich den gen Zeiten. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Fremdenfeinde und Wutbürger. Pseudokonservativen anschließen: Sie haben sich im Kul- Verliert die demokratische Gesellschaft ihre Mitte? Berlin, S. 11–28. Boltanski, Luc (2013): Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, turkampf zwischen offener und geschlossener Gesell- moderne Gesellschaft. 1., neue Ausgabe, Berlin. schaft für die Seite der Verlierer entschieden. Für ihre para- Dahrendorf, Ralf (1989): Nur Menschen haben Rechte. In: Die Zeit, noide Bedrohungswahrnehmung werden sie weiterhin 28.04.1989. URL: http://www.zeit.de/1989/18/nur-menschen-haben- rechte/komplettansicht [13.11.2015]. permanent Bestätigung finden können. Das Tragische ist, Debes, Martin (2016): AfD: Poggenburg für Höcke im Bundestagswahl- dass die Wut und der Hass der pseudokonservativen Spitzenteam. In: Ostthüringer Zeitung, 01.12.2016. URL: http://www. Rechtspopulisten ihnen und anderen Menschen schaden: otz.de/startseite/detail/-/specific/AfD-Poggenburg-fuer-Hoecke-im- Bundestagswahl-Spitzenteam-1539199518 [09.12.2016]. Das Pseudodenken der Hassenden fanatisiert einfache Dörre, Klaus (2016): Die national-soziale Gefahr. PEGIDA, Neue Rechte Auswege aus der sozialen Komplexität, ihr Hass verursacht und der Verteilungskonflikt – sechs Thesen. In: Rehberg, Karl-Siegbert/ Angst und Schrecken bei diversen sozialen Gruppen. Die Kunz, Franziska/Schlinzig, Tino: PEGIDA. Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und „Wende“-Enttäuschung? Analysen im Überblick. Bie- Diversität und Vielfalt der Lebensweisen ist irreversibel und lefeld, S. 259–274. längst nicht mehr totalitär entlang biologisierender Krite- Emcke, Carolin (2016): Gegen den Hass. Frankfurt am Main. rien zu homogenisieren. Das Elend des Pseudokonservatis- Escher, Clemens (2016): Die AfD als Anti-Bundesrepublik-Partei. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Fremdenfeinde und Wutbürger. Verliert die demo- mus ist seine im reaktionären Charakter begründete Aus- kratische Gesellschaft ihre Mitte? Berlin, S. 181–192. sichtslosigkeit. Das wiederum birgt ein erhebliches Poten- Güllner, Manfred (2016): Mythos und Verharmlosungen: Wie die AfD ‚sa- zial für Gewalt und Terror, die, wie Hannah Arendt lonfähig‘ gemacht wurde. In: Agena, Gesine/Bartsch, Dietmar/Brok, Elmar/Föderl-Schmid, Andrea/Güllner, Manfred/Hofreiter, Anton/ (1970/1995) herausstellte, der Ausdruck von Ohnmacht Kain, Florian/Knobloch, Charlotte/Laschet, Armin/Mazyek, Armin A./ sind, wo große Machtansprüche formuliert werden. Zu Ter- Müntefering, Franz/Radunski, Peter/Stegner, Ralf/Suding, Katja: AfD – roristen werden freilich nicht die, die durch Posten in Par- Bekämpfen oder ignorieren? Intelligente Argumente von 14 Demokra- ten. Bremen, S. 43–58. teien zu demokratisch legitimierten und sozial anerkann- Höcke, Björn (2015): Reden Demos. Internetseite Alternative für Deutsch- ten Positionen sowie einträglichen Einkommen gekommen land > Landesverband Thüringen. URL: http://afd-thueringen.de/re- sind – und die dadurch in die repräsentative Demokratie den/ [09.12.2016]. Hövermann, Andreas/Groß, Eva (2016): Menschenfeindlicher und rechts- integriert sind. Zu vigilantistischen Terroristen werden, wie extremer – Die Veränderung der Einstellungen unter AfD-Sympathisan- zahlreiche Studien zeigen, jene radikalisierten Verlierer ten zwischen 2014 und 2016. In: Zick, Andreas/Küpper, Beate/Krause, der Sozialstruktur, denen die Demagogen einreden, sie Daniela: Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände: Rechtextreme Ein- stellungen in Deutschland 2016. Bonn, S. 167–184. besäßen aufgrund von Äußerlichkeiten wie ihrem Ge- Hofstadter, Richard (1964): The Paranoid Style in American Politics. New schlecht, ihrer ethnischen oder nationalen Herkunft Privile- York. gien und Ansprüche gegenüber Frauen, Homo- oder Trans- Kellershohn, Helmut (2016): Nationaler Wettbewerbsstaat auf völkischer Basis. Das ideologische Grundgerüst des AfD-Grundsatzprogramms. sexuellen, Dazukommenden oder anderen „schwachen“ In: Kellershohn, Helmut/Kastrup, Wolfgang (Hrsg.): Kulturkampf von Gruppen. Das Dilemma im Umgang mit diesen Herausfor- rechts. AfD, PEGIDA und die Neue Rechte. Münster, S. 14–28. derungen ist, dass Demokratien viel falsch, aber kaum et- Kimmel, Michael (2015): Angry White Man. Die USA und ihre zornigen Männer. Zürich. was richtig machen können. Denn durch Irrationalität und Küpper, Beate/Zick, Andreas/Krause, Daniela (2015): PEGIDA in den Köp- Fixierung auf den emotionalen und medialen Effekt in der fen – Wie rechtspopulistisch ist Deutschland? In: Zick, Andreas/Küpper, Bevölkerung entziehen sich Populisten der Sachlogik. Ge- Beate: Wut, Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn, S. 21–43. gen den Hass helfen Haltung, permanente Gegenrede, Leggewie, Claus (2016): Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co. Berlin. Aufklärung und Solidarität. Memmi, Albert (1992): Rassismus. Frankfurt am Main. Möllers, Christoph/Waldhoff, Christian (2012): Antrag nach Art. 21 Abs. 2 GG i. V. m. §§ 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG. Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Ein Essay. Berlin. Paul, Jobst (2016): Der Niedergang – der Umsturz – das Nichts. Rassisti- LITERATUR sche Demagogie und suizidale Perspektive in Björn Höckes Schnellro- daer Rede. In: Kellershohn, Helmut/Kastrup, Wolfgang (Hrsg.): Kultur- Adorno, Theodor W./Weinbrenner, Milli/Friedeburg, Ludwig von kampf von rechts. AfD, PEGIDA und die Neue Rechte. Münster, S. 122– (1955/1995): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main. 146. Aktionsbündnis Gera gegen Rechts (2015): Die „Wahrheit“ der AfD – Zita- Quent, Matthias (2015): Neuer Vigilantismus in der Alten Welt: Bürger- te vom Geraer Marktplatz am 30.10.2015. URL: http://www.gera-nazi- wehren, Gewalt gegen Flüchtlinge und die Ambivalenz des rechten frei.com/cms/2015/11/die-%e2%80%9ewahrheit%e2%80%9c-der- Terrors. In: Berliner Debatte Initial: sozial- und geisteswissenschaftli- afd-zitate-vom-geraer-marktplatz-am-30–10–2015/ [09.12.2016]. ches Journal, 4/2015, S. 122–134.

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bis2017_01_inhalt.indd 61 27.03.17 16:00 Quent, Matthias (2016a): Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus: Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. Wein- heim. Quent, Matthias (2016b): Selbstjustiz im Namen des Volkes: Vigilantisti- scher Terrorismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 24–25/2016, S. 20– 26. Matthias Quent Matthias Quent, Matthias (2016c): Rechte Gewalt in Sachsen: Lokale Unterschiede. In: Pickel, Gert/Decker, Oliver: Extremismus in Sachsen. Eine kritische Bestandsaufnahme. Leipzig, S. 74–85. Rommelspacher, Birgit (2009): Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hrsg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie AUTOR UNSER und -forschung. Schwalbach/Ts., S. 25–38. Schleichert, Hubert (2012): Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. Anleitung zum subversiven Denken. 7. Aufla- ge, München. Dr. Matthias Quent studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Speit, Andreas (2015): AfD-Demonstration in Erfurt: „Schön Deutsch“. Taz. Neuere Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und de, 24.09.2015. URL: http://www.taz.de/!5235664/ [09.12.2016]. Waldmann, Peter (2011): Terrorismus. Provokation der Macht. 3. aktuali- der Leicester University in England. Er promovierte in Jena mit der sierte Auflage, Hamburg. Arbeit „Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der Weiland, Severin (2016): Alles, was rechts ist. In: Spiegel Online, NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät“ (Wein- 31.08.2016. URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-kurs- zur-npd-in-mecklenburg-vorpommern-sorgt-fuer-aerger-a-1110306.ht- heim: Beltz Juventa, 2016). Er wurde 2012 mit dem Nachwuchs- ml [09.12.2016]. preis des Forschungsschwerpunktes Rechtsextremismus/Neona- Widmann, Peter (2016): Wandel und Wut. Zur politischen Soziologie des zismus der Hochschule Düsseldorf und 2015 mit dem Preis für Neonationalismus. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Fremdenfeinde und Wutbürger. Verliert die demokratische Gesellschaft ihre Mitte? Berlin, Zivilcourage der Stadt Jena ausgezeichnet. Quent ist sachver- S. 29–44. ständiger Gutachter für den NSU-Untersuchungsausschuss des Wodak, Ruth (2013): Right-wing Populism in Europe. Politics and Discourse. Deutschen Bundestags. Seit August 2016 leitet Matthias Quent Kindle Edition. London. Zick, Andreas/Küpper, Beate (2015): Wut, Verachtung, Abwertung. das „Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft – Thüringer Do- Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn. kumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlich- Zick, Andreas/Küpper, Beate/Krause, Daniela (2016): Gespaltene Mitte keit“ in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung und mit Sitz in – Feindselige Zustände: Rechtextreme Einstellungen in Deutschland 2016. Bonn. Jena.

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mach’s klar! ist eine Publikation der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Die vierseitige Unterrichtshilfe erklärt politisches Basiswissen und bearbeitet aktuelle politische, gesellschaft- liche und wirtschaftliche Themen. „mach`s klar!“ erklärt Politik in einfacher Sprache, vereinfacht politische Themen und verdeutlicht sie mit vielen Bildern. Online gibt es zu den Heften Zusatzmaterialien, Links, Erklär-Filme und Lern-Apps.

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bis2017_01_inhalt.indd 62 27.03.17 16:00 WIE SOLL DIE POLITISCHE BILDUNG REAGIEREN? Nach Pegida – Rechtspopulismus als Herausforderung für die politische Bildung Anja Besand

grund von drei sehr konkreten und aktuellen Beobachtun- Nach einer Annäherung an den schillernden Begriff Po- gen. Aus diesen Beobachtungen lassen sich – für den pulismus skizziert Anja Besand drei Beobachtungen aus abschließenden Teil des Beitrags – vier Grundfragen ab- ihrem (Arbeits-)Umfeld: Suchte die Sächsische Landes- leiten, die sich für die politische Bildung im Kontext des zentrale für politische Bildung den Dialog mit Pegida- Rechtspopulismus auf neue (oder auch bewährte aber Anhängern, sind sächsische Lehrerinnen und Lehrer hin- nachdrücklichere) Weise stellen. Diese Fragen werden im gegen eher zurückhaltend. Aufgrund einer Fehlinterpre- letzten Teil des Beitrags vorgestellt und Vorschläge zu ihrer tation des Beutelsbacher Konsenses wird das Phänomen Beantwortung skizziert. Pegida nur selten im Unterricht thematisiert. Die Angst Studierender schließlich, sich im Zusammenhang mit die- sem Thema auf Emotionen im Unterricht einzulassen, ist Was Populismus ist und was nicht die dritte Beobachtung. Die Interpretation dieser drei Beobachtungen mündet in mehrere Schlussfolgerungen: Das Wort Populismus wird umgangssprachlich für recht un- (1) Politische Bildung muss inklusiver werden und sich an terschiedliche Erscheinungsformen verwendet und hat sich alle Bürgerinnen und Bürger richten. (2) Der Beutelsba- zwischenzeitlich in der politischen Debatte zu einem profi- cher Konsens ist nicht mit einem Neutralitätsgebot gleich- lierten Kampfbegriff entwickelt. So wird dem Populismus zusetzen. Vielmehr gilt es, Kontroversen im Unterricht nicht auszusparen. (3) Politische Bildung ist zwar der Rationalität verpflichtet, ist aber genauso auf Emotionen angewiesen. (4) Will man pädagogisch angemessen auf Rechtspopulismus reagieren, bedarf es einer merklichen Stärkung der institutionellen Strukturen der politischen Bildung.

Vorbemerkung

Beobachtet man die Diskussionen rund um den erstarken- den Rechtspopulismus in Deutschland, Europa und der Welt, dann fallen zwei Dinge auf: Nach einer anfänglich überaus aufgeregten Debatte wissen wir heute recht gut, was Rechtspopulismus ist – wie man ihn bearbeitet, bleibt in der sozialwissenschaftlichen und gesellschaftlichen De- batte allerdings nichtsdestotrotz weitgehend unklar. Klar scheint den Diskutanten nur eins zu sein: die gesellschaftli- che Instanz, die für die Bearbeitung zuständig ist, heißt po- litische Bildung. Im vorliegenden Beitrag möchte ich mich deshalb mit der Frage beschäftigen, wie eine angemessene Reaktion der politischen Bildung auf rechtspopulistische Phänomene aussehen könnte. Ich gehe in diesem Zusammenhang vor- sichtig und tastend vor, um nicht den Eindruck zu erwecken, in der allgemeinen Verunsicherung über sichere Antworten zu verfügen – das ist nicht der Fall. Gleichwohl verschafft mir mein Arbeits- und Lebensmittelpunkt in Dresden mögli- cherweise einen gewissen Beobachtungsvorteil, der zu- mindest darin besteht, die Fragen, die sich in diesem Zu- sammenhang stellen, recht klar vor Augen zu haben. Im Pegida-Anhänger vor der Frauenkirche in Dresden. Ohne Hinblick auf die Gliederung dieses Beitrags bedeutet das: Vorwarnung wurde in Dresden zum Jahreswechsel nach einer sehr knappen Klärung des zugrunde gelegten 2014/2015 eine gewaltige und überaus zornige rechtspo- Populismusbegriffs begeben wir uns auf die Suche nach pulistische Bewegung sichtbar. Damit stand die politische möglichen Bearbeitungsformen – dies geschieht zunächst Bildung unter einem erheblichen Handlungsdruck – zumal es theoriegeleitet, später allerdings auch vor dem Hinter- keinerlei Handlungsvorlagen gab. picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 63 27.03.17 16:00 Populisten behaupten: „Wir

Anja Besand Anja sind das Volk!“ Mit dieser Aus- sage werden alle, die anders denken, als illegitim abgestem- pelt und ausgegrenzt. Populis- ten sind zwangsläufig anti- pluralistisch: Wer sich ihnen entgegenstellt und ihren Allein- vertretungsanspruch bestreitet, gehört automatisch nicht zum „wahren Volk“. Weil nun mal das „Volk im Plural auftritt“ (Jürgen Habermas), ist die Behauptung von Pegida- Anhängern und anderen Popu- listen, den Willen des Volkes zu repräsentieren, politisch schlicht nicht haltbar. picture alliance/dpa

vorgeworfen, unsachliche oder unrealistische politische Demokratie ist ohne Pluralität jedoch nicht zu haben“ Forderungen zu stellen, eine Politik der Gefühle zu betrei- (ebd.: 18f.). ben, Eliten zu kritisieren oder dem „einfachen Mann“ nach Aus der Perspektive der politischen Bildung betrachtet, hat dem Mund zu reden. Aber ist jede Politik, die Eliten kriti- diese Definition des Populismusbegriffs zwei entschei- siert, populistisch? Oder: Ist es tatsächlich populistisch, dende Vorteile. Sie ist erstens geeignet, die Debatte zu sich in der Auseinandersetzung mit politischen Fragen um versachlichen, zum zweiten deutet sich hier aber auch eine eine einfache und verständliche Sprache zu bemühen? Für erste Bearbeitungsperspektive an. Denn wenn Antiplura- die politische Bildung, der Verständlichkeit am Herzen lie- lismus das zentrale Merkmal des Populismus ist, dann liegt gen muss, wäre diese Interpretation durchaus problema- es für die politische Bildung – quasi als Umkehrschluss – tisch. Könnte man nicht umgekehrt sogar sagen, dass der nahe, Bildungsprozesse im Kontext rechtspopulistischer Populismus ein nützliches Korrektiv in der liberalen Demo- Herausforderungen so zu gestalten, dass ein besonderer kratie ist, weil „Populisten Probleme ansprechen, welche Fokus auf die Vermittlung der Idee des Pluralismus gerich- die Bürger wirklich beschäftigen, über die sich aber nie- tet ist. Bevor wir uns allerdings der Frage zuwenden, ob mand zu reden traue oder die von den ‚etablierten Par- diese Folgerung tatsächlich erfolgversprechend ist – und teien‘ totgeschwiegen wurden“ (vgl. Müller 2015: 13). An- wenn ja, wie sie genau umgesetzt werden könnte – lohnt es gesichts der Zerstörungskraft populistischer Bewegungen, sich noch einmal, einen tieferen Blick in die vorliegende die sich nicht nur in Sachsen, sondern auch (und noch viel sozialwissenschaftliche Fachliteratur zu werfen und dabei konkreter) im Kontext des Brexit-Referendums in Großbri- der Frage nachzugehen, welche Bearbeitungsstrategien tannien oder der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten denn von ausgewiesenen Populismusforscherinnen und Staaten von Amerika beobachten lässt, scheint mir diese -forschern vorgeschlagen werden. Zu hoffen wäre in die- Interpretation dem Phänomen allerdings kaum gerecht zu sem Zusammenhang, dass sich neben theoretischen auch werden. Für den hier vorgestellten Beitrag schlage ich des- empirisch fundierte oder zumindest erfahrungsgesättigte halb vor, sich bei der Kerndefinition des Begriffs Rechtspo- Aussagen finden ließen, mit deren Hilfe sich Aussagen be- pulismus an Jan-Werner Müller zu orientieren und den Po- gründen lassen, welche Bearbeitungsstrategien tatsäch- pulisten nicht ihre Popularität vorzuwerfen (was überdies lich Erfolge versprechen und welche möglicherweise eher ziemlich eitel und missgünstig wäre), sondern vielmehr ih- kontraproduktiv sind. ren Antipluralismus. Denn „Populisten behaupten: ‚Wir sind das Volk!‘ Sie mei- nen jedoch – und dies ist stets eine moralische, keine Auf der Suche nach fundierten Ratschlägen empirische Aussage (und dabei gleichzeitig eine politische Kampfansage): ‚Wir – und nur wir – repräsentieren das Analysiert man die vorliegende und zwischenzeitlich Volk.‘ Damit werden alle, die anders denken, ob nun durchaus umfangreiche Literatur im Hinblick auf diese Gegendemonstranten auf der Straße oder Abgeordnete Frage, so ist erstaunlich wenig zu finden. Zwar liegen nicht im Bundestag, als illegitim abgestempelt, ganz unab- nur zur Struktur und Dynamik rechtspopulistischer Bewe- hängig davon, mit wie viel Prozent der Stimmen ein offi- gungen im Allgemeinen (vgl. beispielsweise: Müller 2015; zieller Volksvertreter ins Hohe Haus gewählt wurde. Alle Decker 2013; Prister 2007; u. a.), sondern auch zu dem noch Populisten sind gegen das ‚Establishment‘ – aber nicht immer aktuellen Fall Pegida bereits eine Reihe von sozial- jeder, der Eliten kritisiert, ist ein Populist. Populisten sind wissenschaftlichen Studien vor (vgl. Patzelt/Klose 2016; zwangsläufig antipluralistisch; wer sich ihnen entgegen- Patzelt 2015; Rehberg/Kunz/Schlinzig 2016; Rucht 2014; stellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch Heim 2016; Vorländer/Herold/Schäller 2016; Geiges/ bestreitet, gehört automatisch nicht zum wahren Volk. Marg/Walter 2015). Letztere liefern – bei allen Einschrän-

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bis2017_01_inhalt.indd 64 27.03.17 16:00 kungen im Detail – durchaus wertvolle Erkenntnisse über NACH PEGIDA – RECHTSPOPULISMUS die Zusammensetzung von Pegida, ihre Organisations- ALS HERAUSFORDERUNG struktur und die Mobilisierungspotenziale wie auch über FÜR DIE POLITISCHE BILDUNG die politischen und gesellschaftlichen Hintergrundvorstel- lungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den soge- selbst antipluralistische, sprich: ethnozentrische, chauvi- nannten Montagsspaziergängen. Nichtsdestotrotz scheint nistische, rassistische und autoritäre Einstellungsmuster die gesamte neuere Populismusforschung das Phänomen (zumindest teilweise) zu bedienen, um Wählergruppen po- zwar in seiner durchaus internationalen Facettenvielfalt zu pulistischer Parteien mit ganz ähnlichen Politikangeboten beschreiben und zum Teil auch empirisch Ursachenphäno- abzuwerben (dazu auch Patzelt 2016). Kurzfristige Wahl- mene und Mobilisierungschancen zu ergründen; die Frage erfolge wie auch die Schwächung offen populistischer Be- jedoch, wie angemessen mit populistischen Herausforde- wegungen und Parteien mögen so zu erreichen sein, doch rungen umzugehen sei, bleibt in der Populismusforschung nur um den Preis einer invektiven Kaskade und Überbie- bislang merkwürdig blass – ganz zu schweigen von der tungsstrategie, die eine weitere Radikalisierung der politi- Frage, wie angemessene Bildungsangebote aussehen schen Kultur befürchten lässt, sowie einer Vertiefung jener könnten, die populistische Phänomene bearbeiten. Und Einstellungen und Ressentiments, die doch eigentlich ge- selbst da, wo sich im Rahmen von Schlussbemerkungen schwächt werden sollen. Die zweite – von Dubiel „liberal“ und Ausblicken Aussagen über mögliche Bear bei tungs- genannte – Reaktionsform besteht im Ausblenden oder stra te gien finden (vgl. Müller 2015; Dubiel 1986; Urbinati Übersehen populistischer Potenziale und der damit ver- 2014), bleiben sie aus der Perspektive der politischen Bil- bundenen invektiven „Ungezogenheiten“. Der Invektivität dung, die an konkreten Handlungsstrategien interessiert der Populisten sollte nach dieser Lesart eine betont sachli- ist, vielfach unterreflektiert. Zudem unterscheiden sich die che, entemotionalisierte, institutionalisierte Politik entge- Empfehlungen je nach zugrunde gelegtem Begriffsver- gengestellt werden. Freilich birgt eine solche Strategie die ständnis nicht unerheblich. So wird der Populismus nach Gefahr, populistische Potenziale nicht einzuhegen, son- einer frühen Lesart beispielsweise als notwendiges Korrek- dern ihnen weiteren Nährboden zu bieten, speist sich tiv der Demokratie verstanden, was mit dem Rat verknüpft doch der Populismus gerade aus einer verzerrenden Ge- wird, darauf zu vertrauen, dass das populistische Moment genüberstellung von „einfachem Volk“ und „korrupten, alsbald verfliegen möge (kritisch dazu: Decker 2013; Mül- machtversessenen und besserwisserischen Eliten“. Es ist ler 2015). Dies verkennt jedoch die Gefahren für die politi- unschwer zu erkennen, dass Dubiel den Königsweg im drit- sche Kultur und Demokratie, die insbesondere von der in- ten Szenario erblickt, welches er „demokratisch“ nennt und vektiven Potenz populistischer Bewegungen ausgehen das im Kern davon ausgeht, dass „die Träger politischer können. Auch die Hoffnung einer parlamentarischen Ent- Willensbildung nicht nur als staatliche Autorität in die Ge- zauberung, die – so eine weitere Vorstellung – durch einen sellschaft hineinwirken, sondern in nichtstrategischer Ab- Wechsel der Diskursarena quasi zwangsläufig dazu führt, sicht öffentliche Debatten möglich machen“ (Dubiel 1986: Populisten zu zähmen oder sie im Zuge der Re-Parlamenta- 206f.). Diese Strategie setzt allerdings voraus, dass sich risierung durch Selbstentlarvung unschädlich zu machen, eine vielfältige und mehrperspektivische Debatte unter Be- gleicht einer unsicheren Wette auf die Zukunft (Müller teiligung populistischer Akteure auch tatsächlich gestalten 2015: 124). Helmut Dubiel, der als einer von ganz wenigen lässt. Gleichwohl lassen sich die von Dubiel entwickelten hier etwas ausführlicher wird, unterscheidet letztlich zwi- Szenarien im Hinblick auf die Fragestellung dieses Bei- schen drei grundsätzlichen Szenarien, wie die demokrati- trags als ein erstes, wenn auch noch sehr grobes Kategori- sche Mehrheit auf populistische Herausforderungen re- enmodell nutzen, mit dessen Hilfe sich nicht nur politische, agieren könne (Dubiel 1986: 205f.). In einem ersten, als sondern auch pädagogische bzw. politisch bildnerische „regressiv/reaktionär“ bezeichneten Szenario sehen sich Reaktionsmuster auf die Herausforderung des Rechtspo- die demokratischen politischen Parteien oder Akteure auf- pulismus grob klassifizieren lassen. Grundsätzlich zu un- gefordert, populistische Strategien aufzunehmen und terscheiden wären demnach:

Tabelle 1: Reaktionsmuster und Strategien

A) aufnehmend zugewandte B) sachlich nüchterne Strategien C) konfliktorientierte, agonale Strategien Strategien …und damit Strategien, die sich der …und damit Strategien, die popu- …und damit Strategien, die sich in Empörung, auch wenn sie sich in listischen Erregungen eine Demon- offenen und streitbaren Debatten mit rauen Ausdruckformen artikuliert, stration der Leistungs- und Funktions- rechtspopulistischen Vorstellungen zuwenden, die Ängste ernst nehmen, fähigkeit politischer Institutionen auseinandersetzen sowie Meinungs- sowie Verständnis und Interesse und Verfahren gegenüberstellen. und Willensbildungsprozesse aktiv signalisieren, um Druck abzubauen vorantreiben. und Zugang zu ermöglichen. Populismus als soziale Pathologie Populismus als Wissensdefizit Populismus als Irritation im und Therapiefall und neuer Erklärungsanlass öffentlichen Diskurs kurativ sachorientiert republikanisch paternalistisch pädagogisch emanzipatorisch Quelle: Eigene Darstellung, Anja Besand

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bis2017_01_inhalt.indd 65 27.03.17 16:00 Wie in der Abbildung hoffentlich deutlich geworden ist, festzustellen, sagte Richter. Viele Pegida-Anhänger sag- lassen sich diesen drei Strategien jeweils Grundverständ- ten, dass sie sich nicht gehört und von oben herab behan- nisse des Populismus zuordnen, an denen sich Bearbei- delt fühlten […] Aber: Das ist alles ernst zu nehmen.“1 Ge-

Anja Besand Anja tungsperspektiven festmachen. Übertragen auf die politi- messen an den im vorangegangenen Teil vorgestellten sche Bildung hieße das, es lassen sich auf der Grundlage Handlungsstrategien haben wir es hier – das sollte trotz vorliegender Überlegungen drei grundsätzlich unter- der Kürze der Darstellung deutlich geworden sein – mit ei- schiedliche Bearbeitungsstrategien identifizieren: (1) the- ner aufnehmenden und zugewandten Strategie (A) zu tun. rapeutische Zuwendung, (2) sachlich rationale Aufklärung Populismus wird hier als soziale Pathologie und Therapie- in Form von Institutionenkunde oder (3) debattenorien- fall verstanden, die zunächst und zuvorderst ein Ventil be- tierte Formate. All diese Strategien werden – wie sich in der nötigen, über das Druck abgelassen werden kann. In den Stadt Dresden gut beobachten lässt – von pädagogischen konkreten Handlungssituationen führte das wiederholt Akteuren zum Teil auch in Mischformen verfolgt, und weil dazu, dass Sympathisanten der Pegida-Bewegung von der sich aus der Beobachtung dieser Bemühungen einiges Veranstaltungsleitung als bürgerliche, gleichzeitig aber über die Herausforderungen im Umgang mit rechtspopu- auch als die vermeintlich schwächeren Diskursteilneh- listischen Herausforderungen lernen lässt, sollen diese Be- merinnen und -teilnehmer gekennzeichnet und wiederholt obachtungen im letzten Teil dieses Beitrags auch im Mittel- zur Darstellung ihrer Sichtweisen aufgefordert wurden, punkt stehen. während Personen, die diesen Darstellungsweisen (und sei es auch nur falschen Tatsachenbehauptungen) widerspre- chen wollten, zur Mäßigung und Zurückhaltung aufgeru- Drei Beobachtungen fen wurden. Gegenpositionen und Positionen von geflüch- teten oder zugewanderten Personen, die in Sachsen ohne- Bevor wir uns den eigentlichen Beobachtungen zuwenden, hin eher marginal repräsentiert sind, wurden gleichzeitig ist folgende Vorbemerkung wichtig: Die politische Bildung als nicht bürgerlich (respektive: links, elitär, akademisch, stand zum Jahreswechsel 2014/15 im Bundesland Sach- moralisch überlegen = bevormundend etc. gekennzeich- sen, und hier ganz besonders in Dresden, unter einem er- net) vernachlässigt und konnten kaum zu Gehör gebracht heblichen Handlungsdruck. Quasi ohne Vorwarnung werden. Der Graben zwischen dem liberalen demokrati- wurde in der Stadt eine gewaltige und überaus zornige schen und dem rechtspopulistischen Lager konnte durch rechtspopulistische Bewegung sichtbar, auf die es zu re- diese Angebote kaum überbrückt werden – im Gegenteil agieren galt. Gleichzeitig existierten keinerlei Handlungs- steht zu befürchten, dass er tiefer geworden ist. vorlagen. Das mag zum einen daran liegen, dass die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit anderen (eu- Beobachtung 2: ropäischen) Ländern lange von dem Erstarken rechts po pu- Lehrerinnen und Lehrer für das Fach Gemeinschaftskunde lis tischer Bewegungen verschont geblieben ist und sich im Bundesland Sachsen verhielten sich zur gleichen Zeit damit die Frage nach einer angemessenen Anschlusskom- eher zurückhaltend (vgl. dazu Landesschülerrat 2014; munikation sowie pädagogischen Reaktion zuvor kaum Pietrus 2016). Eine Thematisierung von Pegida und den in gestellt hat. Zum anderen liegt dies aber auch daran, dass diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen und Prob- die deutsche politische Bildung durch ihre historisch durch- lemen in ihrem Unterricht konnten sich viele nicht vorstel- aus nachvollziehbare Ausrichtung an diskursethischen Überlegungen und damit an einer stark rationalen Grund- fundierung von Bildungsprozessen (vgl. z. B. Hufer 2000; Ackermann 2005; Detjen 2013 im Anschluss an: Habermas 1984; Apel 1992) den Umgang mit dynamischen, emoti- Frank Richter, ehemaliger onsgeladenen und populistischen Phänomenen konzepti- Direktor der Sächsischen Lan- onell nicht – oder nur schwer – in den Griff bekommt (vgl. deszentrale für politische Bil- Ahlheim 2013; Besand 2004, 2014). Aus diesem Grund ist dung, steht vor Beginn einer es bemerkenswert und im Wortsinn beispielgebend, wie Pressekonferenz vor den schnell manche Bildungsinstitutionen sich in ihrem Pro- Namensschildern der Mit- gramm auf die Herausforderung eingestellt haben. Dass begründer der Dresdner nicht alle Angebote in genau dieser Form fortgesetzt wer- Pegida-Bewegung, Bachmann den können und sollen und sich im Gegenteil aus ihren Feh- und Oertel (19.01.2015). lern vieles gelernt werden kann, versteht sich von selbst. Richters Institution stellte den Raum für die Pressekonferenz Beobachtung 1: zur Verfügung. Richter wurde Bereits kurz nach dem deutlichen Sichtbarwerden der „Pa- für seine eher zugewandte triotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abend- Strategie von verschiedenen landes“ entbrannte in der Stadt Dresden eine heftige De- Seiten – und auch von der batte über die Frage, wie die politische Bildung (nicht nur, eigenen Zunft – kritisiert. aber auch in Sachsen) auf diese ressentimentgeladene Be- Angebote lediglich an eine wegung reagieren könnte. Die sächsische Landeszentrale Konfliktpartei zu richten und im für politische Bildung (aber auch andere Institutionen und Hinblick auf diese Partei für Träger) entschied sich für eine eher zugewandte Strategie. Respekt und Geduld zu wer- „Man müsse den Bürgern respektvoll zuhören, so schwie- ben, wurde als einseitig kriti- rig es auch sein möge. Bei den Demonstranten sei ein tief siert. greifender Vertrauensverlust in staatliche Institutionen picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 66 27.03.17 16:00 len. Begründet wurde diese Zurückhaltung in aller Regel NACH PEGIDA – RECHTSPOPULISMUS mit zwei Argumenten. Auf der einen Seite konnten sich Leh- ALS HERAUSFORDERUNG rerinnen und Lehrer eine Thematisierung nicht vorstellen, FÜR DIE POLITISCHE BILDUNG weil sie ihre Schülerinnen und Schüler als emotional und persönlich zu stark betroffen eingeschätzt haben, schließ- nandersetzung mit diesem Thema zukünftig weniger emo- lich sei es durchaus möglich, dass deren Eltern Montags tional und stattdessen professionell reagieren zu können. selbst bei Pegida mitlaufen. Auf der anderen Seite verwie- Gleichzeitig wurde allerdings auch sichtbar, dass den sen die Lehrkräfte auf den Beutelsbacher Konsens und da- Studierenden die Distanz, die mit dem Begriff der Professi- mit auf die Notwendigkeit, sich in dieser Sache neutral zu onalität verbunden ist, in der Auseinandersetzung mit verhalten. Die zentrale Bearbeitungsstrategie bestand Rechtspopulisten und ihren Sympathisanten extrem schwer hier in Anlehnung an Strategie B im Wesentlichen darin, zu fallen schien. Im Hintergrund dieser dritten Beobach- einen sachlichen politischen Unterricht zu gestalten, der tung zeichnet sich das Bild einer agonalen, konfliktorien- zentral auf die nüchterne Vermittlung politischer Institutio- tierten Handlungsstrategie (C) ab. Allerdings scheint nen und Verfahren gerichtet war. Die Schülerinnen und diese Strategie – anders als Dubiel das vielleicht erwartet Schüler blieben mit den durchaus unterschiedlichen Positi- hat – nicht unmittelbar zum Erfolg zu führen und die Ak- onen und Fragen, die sie zum Sachverhalt hatten, mehr teure gleichzeitig auch langfristig zu überfordern, was ih- oder weniger alleine. Ein Austausch oder eine Debatte ren Nutzen erheblich in Frage stellt. konnte nicht stattfinden. Alle drei Strategien erweisen sich damit in ihrer prakti- schen Anwendung als (mindestens) ambivalent. Beobachtung 3: Im Wintersemester 2015/16 fand an der TU Dresden ein Seminar mit dem Titel „Politische Bildung nach PEGIDA“ Professionalität und Emotionalität statt. Auch hier wurde sichtbar, dass der Beutelsbacher Konsens von den Studierenden als Hindernis einer ange- Auffällig in allen drei Fällen ist die deutliche Betonung messenen Beschäftigung mit Pegida als Phänomen in Bil- emotionaler Perspektiven im Kontext politischer Bildung. dungskontexten aufgefasst wurde. Die Studierenden stell- Während im ersten Fall die Konzeption von Bildungsan- ten im Seminar die Frage, ob und in welcher Weise sie geboten an der Empörung der Pegida-Sympathisanten zukünftig in Bildungsprozessen eigene Haltungen zum und ihrer Angst vor einer vermeintlichen „Islamisierung des Ausdruck bringen können und wie sie mit Schülerinnen und Abendlandes“ anknüpft und quasi therapeutische Hoff- Schülern (aber auch Onkel und Tanten – ganz zu schwei- nungen darauf setzt, dass durch das Aussprechen und res- gen von Müttern und Vätern) umgehen sollen, die sich für pektvolle Zuhören die Probleme überwunden werden kön- oder gegen Pegida engagieren. In einer ersten Sitzung, in nen, scheinen sich die Studierenden und auch Lehrerinnen der die Studierenden ihre Erwartungen an das Seminar und Lehrer im zweiten und dritten Fall von der Emotionalität formulieren sollten, beschrieb sich eine Mehrheit der Teil- der Debatte und Akteure überfordert zu fühlen. Interessant nehmerinnen und Teilnehmer als „erschöpft“. Nach einem ist weiterhin, dass man sich in der politischen Bildung in Jahr voller emotionaler und häufig sehr persönlicher diesem Zusammenhang (zumindest im ersten und zweiten Debatten stand der Wunsch im Vordergrund, in der Ausei- Fall) um eine wie auch immer geartete Neutralität gegen- über den Fragestellungen bemüht. Im ersten Fall besteht die Neutralität darin, den aufgebrachten Pegida-Sympa- thisanten nicht zu energisch zu widersprechen, damit diese sich angenommen fühlen können und der Kontakt mit ihnen nicht verloren geht. Da im zweiten Fall die (weltanschau- liche) Homogenität der Zielgruppe nicht vorausgesetzt werden kann, scheint es den Lehrerinnen und Lehrern rat- sam, das Thema zu vermeiden, um einem Konflikt (oder ei- ner zu lebhaften Diskussion) aus dem Weg zu gehen. Im dritten Fall wird weniger stark auf Neutralität verwiesen. Gleichzeitig zeigt sich allerdings auch hier, dass die Teil- nehmerinnen und Teilnehmer sich im Kontext der Diskussio- nen der letzten Monate erschöpft haben und sich zukünf- tig gerne weniger persönlich als vielmehr professionell verhalten möchten. Die Herausforderungen, die sich im Zusammenhang der Debatte um eine angemessene Reaktion politischer Bil- dung auf rechtspopulistische Phänomene ergeben, lassen sich auf der Grundlage dieser Beobachtungen auf vier zentrale Fragen reduzieren:

Frage 1: An wen richten sich Angebote zur politischen Bildung? Politische Bildung ist keine exklusive Veranstaltung. Sie richtet sich an alle Menschen. Aus dieser Perspektive be- trachtet ist es durchaus zu begrüßen, dass die sächsische Landeszentrale für politische Bildung (und andere Instituti-

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bis2017_01_inhalt.indd 67 27.03.17 16:00 onen) Angebote entwickelt hat, mit denen sie (ganz offen- sichtlich) Menschen ansprechen konnte, die von der (Flüchtling- bzw. Einwanderungs-)Politik des Landes ent-

Anja Besand Anja täuscht sind und die durch traditionelle Angebote offenbar nur schwer zu erreichen waren. Sie hat dabei allerdings übersehen, dass sie durch die konkrete Anlage dieser An- gebote andere Gruppen ausgeschlossen und sich den Wortergreifungsstrategien von rechts schutzlos ausgelie- fert hat. Wenn es der politischen Bildung im Kontext von Rechtspopulismus um die Vermittlung pluralistischer Kon- zepte geht, dann bleibt ihr nichts anderes übrig, als selbst pluralistischer und inklusiver zu werden (vgl. dazu ausführ- lich Besand/Jugel 2015: 45ff). Politische Bildung muss sich – nicht nur aber gerade auch im Kontext des Rechtspopu- lismus – an alle Menschen richten. Für Angebote, die sich – wie im vorliegenden Fall – auf Fragen zur Flüchtlings- und Einwanderungspolitik beziehen, bedeutet das allerdings auch, dass beispielsweise die Perspektiven von geflüchte- ten Menschen hier wesentlicher Bestandteil sein müssen. Angebote lediglich an eine Konfliktpartei zu richten und nur im Hinblick auf diese Partei für Respekt und Geduld zu werben, scheint aus dieser Perspektive nicht nur fahrlässig, sondern gefährlich einseitig.

Frage 2: Was bedeutet der Beutelsbacher Konsens? Der Beutelsbacher Konsens stellt eine zentrale professi- onstheoretische Grundlage der politischen Bildung dar. Er warnt vor parteinehmenden Angeboten und vor der Über- wältigung der Bildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer. In Der Beutelsbacher Konsens mahnt im Kern dazu, Kontro- genau diesem Sinn mahnt der Beutelsbacher Konsens im versen nicht auszuweichen, sondern – ganz im Gegenteil – Kern dazu, Kontroversen nicht auszuweichen, sondern – das Kontroverse zum Mittelpunkt von Bildungsprozessen zu ganz im Gegenteil – das Kontroverse zum Mittelpunkt von machen. In der politischen Bildung geht es nicht darum, Bildungsprozessen zu machen (vgl. dazu ausführlich Auto- Konflikte oder Diskussionen zu vermeiden, sondern diese rengruppe Fachdidaktik 2015: 23ff). Die gelegentliche In- Diskussionen bewusst herbeizuführen. terpretation dieses Grundsatzes als Neutralitätsgebot picture alliance/dpa führt in diesem Sinn in die Irre. In der politischen Bildung geht es nicht darum, Menschen durch Zurückhalten von Gegenpositionen zu schonen, Konflikte oder Diskussionen und didaktische Auseinandersetzung mit dieser Gruppe zu vermeiden, sondern diese Diskussionen bewusst herbei- angeht – einen nicht unerheblichen Unterschied. Der Zu- zuführen. Dass dabei auch emotionale Aspekte sichtbar sammenhang kann an dieser Stelle leider nicht systema- werden, gehört zu den Selbstverständlichkeiten politi- tisch entwickelt werden. Fest steht allerdings: Emotionen scher Bildung (über die überraschenderweise aber wenig strukturieren Zugangswege und Ausgangspunkte der gesprochen wird). Welterschließung und müssen aus diesem Grund auch im Rahmen politischer Bildung systematisch betrachtet wer- Frage 3: Wie ist das Verhältnis von Emotionalität und den. Warum aber haben wir in der politischen Bildung Professionalität? dann so große Probleme mit Emotionen? Durch die einsei- Die deutsche politische Bildung ist – aus historisch guten tige Fokussierung auf Rationalität fällt den Emotionen in Gründen – einer sachlichen und rationalen Auseinander- der Debatte häufig die Rolle des Irrationalen zu. Aber: „Ra- setzung mit politischen und gesellschaftlichen Fragen ver- tionalität und Gefühl stehen sich nicht unvermittelt gegen- pflichtet (vgl. Besand 2014: 373ff). Sie übersieht dabei al- über, sondern bleiben auf komplexe Weise miteinander lerdings sehr leicht, dass die Auseinandersetzung mit poli- verflochten. Gefühle haben eine kognitive Funktion; sie tischen Fragen grundsätzlich emotional fundiert ist und sind nicht auf störende Einflüsse im Erkenntnisprozess zu dass aus diesem Grund Emotionen auch aus politischen reduzieren, mehr noch: zumindest als Ausgangspunkt von Bildungsprozessen nicht herauszuhalten sind. Ja mehr als Erkenntnis sind sie unverzichtbar“ (ebd.: 9). Im Hinblick auf das: Felix Heidenreich hat in seinem hellsichtigen Buch das im Beutelsbacher Konsens formulierte Überwälti- „Politische Theorie der Emotionen“ darauf aufmerksam ge- gungsverbot scheinen Emotionen trotz allem in gewisser macht, dass die Frage, „welche Gefühle wie erweckt, ge- Hinsicht verdächtig. Ist es denn nicht leicht vorstellbar, pflegt, verdrängt werden und wie sie zu benennen sind, dass durch die Stimulation bestimmter Gefühle in Bildungs- (selbst) eine hochgradig politische Frage sein kann“ (Hei- prozessen die Teilnehmenden an der Gewinnung eines denreich 2012: 10). Ob wir die Sympathisanten der Pegi- selbstbestimmten Urteils gehindert werden? Die Gefahr dabewegung in diesem Sinn als „Wutbürger“ mit den De- besteht zweifellos. Aber: Emotionen bzw. emotional fun- monstranten gegen den Stuttgarter Bahnhof gleichsetzen, dierte Bildungsangebote haben dieses Potenzial nicht al- ob wir sie eher als angstmotiviert oder stattdessen als lein. Bildungsteilnehmerinnen und Bildungsteilnehmer kön- hassverbreitend beschreiben, macht – was die politische nen auch durch die nüchterne Präsentation statistischer

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bis2017_01_inhalt.indd 68 27.03.17 16:00 NACH PEGIDA – RECHTSPOPULISMUS ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE POLITISCHE BILDUNG

nicht verhindern konnte. Das liegt aber nicht alleine am Unvermögen politischer Bildung, sondern am Versagen ei- ner Vielzahl von politischen und gesellschaftlichen Akteu- ren. Aber selbst wenn wir unsere Betrachtung auf den Be- reich der politischen Bildung beschränken, muss festgehalten werden: Sachsen ist (gemeinsam mit Bayern) das Bundes- land, das es sich leistet, im Vergleich mit allen anderen Bundesländern der politischen Bildung in der Schule (und damit dem Ort, an dem alle Menschen zusammen lernen) die geringste Stundenzahl einzuräumen (vgl. Kalinka 2014). Eben das spüren auch die außerschulischen Träger, die sich von der Schule im Stich gelassen fühlen und immer wieder den Eindruck haben, bei null anfangen zu müssen. Politische Bildung beginnt in Sachsen zudem erst in Klas- senstufe 9 und damit fahrlässig spät. Die Lehrerinnen und Lehrer, die sich in diesem Bereich engagieren, haben sich überdies häufig sehr spät und nichts selten aus pragmati- schen Überlegungen2 für den Bildungsbereich entschie- den und ziehen sich aus diesem Grund überdurchschnitt- lich oft auf eine eher faktenorientierte Vermittlung politi- scher Inhalte zurück. Dieser politischen Bildung die Schuld zu geben, ist leicht – die Forderung, politische Bildung statt als Unterrichtsfach stärker als Querschnittsaufgabe zu be- trachten, ist durchaus naheliegend – aber gefährlich. Denn festgehalten werden muss in diesem Zusammenhang auch: Sachsen braucht eine Stärkung der institutionellen Struktu- Daten oder Hinweise auf moralische oder ethische Pers- ren politischer Bildung. Das, was politische Bildung ist pektiven überwältigt werden. Kein Mensch mahnt aus die- (oder sein kann), nämlich die kontroverse Auseinanderset- sem Grund, ethische oder moralische Fragen aus der poli- zung mit politischen und gesellschaftlichen Fragen, ist hier tischen Bildung herauszuhalten. Das wäre auch gar nicht noch gar nicht richtig angekommen. In dieser Situation auf möglich. Genauso unmöglich ist es in diesem Zusammen- politische Bildung als Querschnittsaufgabe zu setzen, den hang allerdings auch, im Kontext politischer Bildung auf Bildungsbereich anderen Akteuren zu überlassen – weil Emotionen zu verzichten. Der Beutelsbacher Konsens als die zuständigen Akteure ihre Aufgabe nur ungenügend er- professionspolitischer Grundkonsens ist in diesem Sinn füllen können –, wäre fahrlässig, denn politische Bildung auch nicht darauf gerichtet, Emotionen aus Bildungspro- hängt in der Luft, wenn niemand wirklich zuständig ist. Ge- zessen zu verbannen, sondern im Kontext jeglicher Ausein- mäß Deweys Diktum, gegen die Schwächen der Demokra- andersetzung darauf zu achten, dass Kontroversen nicht tie hilft nur mehr Demokratie, wäre zum Abschluss dieses glattgebügelt, sondern offen ausgetragen werden. Wenn Beitrags deshalb auch für die politische Bildung zu formu- die Studierenden, wie im vorangestellten dritten Fall be- lieren: Gegen die Schwächen der politischen Bildung (in schrieben, sich in der Auseinandersetzung mit dem Phäno- Sachsen) hilft nur mehr politische Bildung: Eine politische men Pegida professionell verhalten möchten, dann werden Bildung für alle Menschen mit der Bereitschaft für leiden- sie sich der Emotionalität, die in diesem Zusammenhang schaftliche Kontroversen und keiner Angst vor Emotionen. sichtbar wird, wohl stellen müssen.

Frage 4: Hat die politische Bildung (in Sachsen) versagt – LITERATUR oder brauchen wir eine ganz andere politische Bildung? Ackermann, Paul (2005): Bürgerhandbuch. Basisinformationen und 66 Auf der Grundlage der drei geschilderten Fälle und den an Tipps zum Tun. 3. Auflage, Schwalbach/Ts. sie anschließenden Missverständnissen ließe sich die Ahlheim, Klaus (2013): Rechtsextremismus – Ethnozentrismus – politische Frage stellen, ob politische Bildung in Sachsen im Kontext Bildung. Hannover. Apel, Karl-Otto (1992): Diskurs und Verantwortung. Frankfurt am Main. von Pegida nicht versagt hat. Die Sächsische Landeszent- Besand, Anja (2016): Zum Verhältnis von Emotionalität und Professionalität rale wird in diesem Sinn für ihr Vorgehen von vielen Seiten in der politischen Bildung. In: Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.): Ideologien heftig kritisiert, die Lehrerinnen und Lehrer in der Schule der Ungleichwertigkeit. Berlin, S. 77–83. Besand, Anja/Jugel, David (2015): Inklusion und politische Bildung – ge- halten sich bislang erschreckend stark zurück und trotz ei- meinsam denken. In: Dönges, Christoph/Hilpert, Wolfram/Zurstrassen, ner Vielzahl von Initiativen und Projekten gegen Rechtsex- Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn 2015, tremismus im Bereich der außerschulischen Jugend- und S. 45–53. URL: http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenrei- he/210959/didaktik-der-inklusiven-politischen-bildung [10.01.2017]. Erwachsenenbildung sind rechte Ideologien der Ungleich- Besand, Anja (2014): Gefühle über Gefühle. Emotionalität und Rationalität wertigkeit gerade in diesem Bundesland überaus sichtbar in der politischen Bildung. In Zeitschrift für Politikwissenschaft, 3/2014, und verbreitet. Die Antwort auf diese Frage ist Ja und Nein. S. 373–383. Besand, Anja (2004): Angst vor der Oberfläche – zum Verhältnis ästheti- Ja, es stimmt, dass die sächsische politische Bildung das schen und politischen Lernens im Zeitalter Neuer Medien. Schwalbach/ Erstarken rassistischer und menschenfeindlicher Konzepte Ts.

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bis2017_01_inhalt.indd 69 27.03.17 16:00 Decker, Frank (2013): Wenn die Populisten kommen. Wiesbaden. Landesschülerrat Sachsen (2014): Pegida-Demos zeigen Mangel und Not- Demuth, Christian (2016): Politische Bildung nach Pegida. URL: http://lib- wendigkeit an politischer Bildung. URL: http://lsr-sachsen.de/2014/12/ rary.fes.de/pdf-files/dialog/12324–20160209.pdf [10.01.2017]. pegida-demos-zeigen-mangel-und-notwendigkeit-an-politischer-bil- Detjen, Joachim (2013): Politikkompetenz Urteilsfähigkeit. Schwalbach/ dung/ [10.01.2017]. Ts. Müller, Jan-Werner (2015): Was ist Populismus? Frankfurt am Main. Anja Besand Anja Dubiel, Helmut (1986): Populismus und Aufklärung. Frankfurt am Main. Patzelt, Werner/Klose, Joachim (Hrsg.) (2016): Pegida – Warnsignale aus Heidenreich, Felix (2012): Versuch einer Übersicht: Politische Theorie und Dresden. Dresden. Emotionen. In: Ders./Schaal, Gary (Hrsg.): Politische Theorie der Emo- Patzelt, Werner (2015): Was und wie denken Pegida-Demonstranten? tionen. Baden-Baden, S. 10. URL: http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/philosophische_ Heim, Tino (Hrsg.) (2016): Pegida als Spiegel und Projektionsfläche. Wech- fakultaet/ifpw/polsys/for/pegida/pegida-2015–01 [10.01.2017]. selwirkungen und Abgrenzungen zwischen Pegida, Politik, Medien, Patzelt, Werner (2015): Drei Monate nach dem Knall. Was wurde aus PE- Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften. Wiesbaden. GIDA? URL: http://tudresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/philoso- Hufer, Klaus-Peter (2000): Argumentationstraining gegen Stammtischpa- phische_fakultaet/ifpw/polsys/for/pegida/ [10.01.2017]. rolen: Materialien und Anleitungen fü r Bildungsarbeit und Selbstler- Pietrus Astrid (2016): Pegida im Unterricht – Debatten mit Konfliktpotenzial. nen. Schwalbach/Ts. Deutschlandfunk am 02.05.2016. URL: http://www.deutschlandfunk. Kalinka, Andreas (2014): Erfolgreich politisch bilden. Faktensammlung zur de/pegida-im-unterricht-debatten-mit-konfliktpotenzial.680.de. politischen Bildung. Wesseling/Eichholz 2014. URL: http://www.kas. html?dram:article_id=353054 [10.01.2017]. de/wf/de/33.20184/ [10.01.2017]. Prister, Karin (2007): Populismus – Historische und aktuelle Erscheinungs- formen. Frankfurt am Main. Rehberg, Karl-Siegbert/Kunz, Franziska/Schlinzig, Timo (Hg.) (2016): PE- GIDA – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und „Wende“-Ent- täuschung? Bielefeld. Rucht, Dieter (2014): Protestforschung am Limit: Eine soziologische Annä- herung an Pegida. URL: http://www.wzb.eu/de/pressemitteilung/un- tersuchung-zur-dresdner-pegida-demonstration [10.01.2017]. Urbinati, Nadia (2014): Democracy Disfigured – Opinion, Truth, And The People. Cambridge. Vorländer, Hans/Herold, Maik/Schäller, Steven (2016): Entwicklungen, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung. Frankfurt am Main. UNSERE AUTORIN

ANMERKUNGEN Prof. Dr. Anja Besand lebt und arbeitet in der Stadt Dresden. Sie 1 Richter, Frank: Das ist alles ernst zu nehmen. Interview am 06.01.2015 ist seit 2009 Inhaberin der Professur für Didaktik der politischen im Deutschlandfunk. Online zugänglich unter: http://www.deutschland- funk.de/pegida-demonstrationen-das-ist-alles-ernst-zu-nehmen.694. Bildung an der Technischen Universität Dresden. Zuvor war sie de.html?dram:article_id=307855 [10.01.2017]. an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und an der Uni- 2 So waren nach 1989 beispielsweise die ehemaligen Russischlehrerin- versität Gießen in ähnlicher Funktion tätig. nen und -lehrer motiviert, Weiterbildungsangebote für das Fach Gemein- schaftskunde zu besuchen, weil sie (zu Recht) befürchtet haben, dass das Fach Russisch an Bedeutung verlieren wird.

Entrechtet – verfolgt – vernichtet NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten

Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs Entrechtet – Band 45, hrsg. von Peter Steinbach, Thomas Stöckle, Sibylle Thelen, verfolgt – vernichtet Reinhold Weber NS-Geschichte und Erinnerungskultur Es dauerte lange, bis das Schicksal der Opfer nationalsozialistischer Rassenpolitik und im deutschen Südwesten Hrsg. von Peter Steinbach, Thomas Stöckle, politischer Repression wahrgenommen wurde. Inzwischen ist die Geschichte der Opfer Sibylle Thelen und Reinhold Weber des NS-Terrors ein wesentlicher Bezugspunkt der Gedenk- und Erinnerungskultur des Landes. Dabei stellt sich mit dem Blick auf die Opfer immer auch die Frage nach den Tätern, nach menschlichen Verhaltensweisen, staatlichen Zielen und Verfassungsnormen.

Dieser Band fasst erstmals für Baden-Württemberg die Geschichte der Opfergruppen des NS-Regimes im Südwesten zusammen. Im Zentrum der zehn Kapitel stehen die Ereignis- und die Rezeptionsgeschichte, jeweils ergänzt um den Blick auf aktuelle Formen der Erinnerung.

Bestellung: 6.50 Euro zzgl. Versand, Bestellung ausschließlich im Webshop der Landeszentrale für politische Bildung: www.lpb-bw.de/shop E-Book (kostenlos) unter www.lpb-bw.de/e-books.html

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bis2017_01_inhalt.indd 70 27.03.17 16:00 LOKALE HANDLUNGSANSÄTZE Konsequenzen für die Entwicklung lokaler Handlungsansätze: Rechtspopulismus und abwertende Haltungen thematisieren Stephanie Garff, Anne Stelzel

abwertende Haltungen zu thematisieren, möchten wir Sie Stephanie Garff und Anne Stelzel erörtern lokale und aus der Bequemlichkeit des Lesens herausreißen und Sie vernetzte Handlungsansätze, die Rechtspopulismus und bitten, sich gedanklich hineinzuversetzen, was am Anfang abwertende Haltungen thematisieren. Das von den Au- jeglichen politischen Handelns steht. Zunächst stellt sich torinnen betreute und bei der Landesarbeitsgemein- die Frage, wer im eigenen lokalen Umfeld für ein schaft Offene Jugendbildung Baden-Württemberg pluralistisches Demokratieverständnis zuständig ist. Neh- (LAGO) angesiedelte Förderprogramm „lokal vernetzen men wir an, Sie wollen sich engagieren: Von welchen Per- – demokratisch handeln“ begleitet Praxisprojekte, die sonen und Institutionen in Ihrem Umfeld würden Sie sich sich gegen abwertende Haltungen und für eine leben- wünschen, dass sie aktiv werden, wenn es darum geht, De- dige Demokratie einsetzen . In Kooperation mit der Lan- mokratie sichtbar und erlebbar zu machen? Wenn Sie all deszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg diese nun auflisten, entstünde eine sehr subjektive und in- (LpB) werden lokale Initiativen gefördert, beraten und dividuelle Sichtweise, je nachdem, wie Ihr Umfeld, Ihre Le- unterstützt. Beide Einrichtungen nehmen eine Scharnier- bensumstände aussehen. Wer in einer lokalen Gemein- funktion wahr, indem sie im Dialog mit Praktikerinnen und schaft kann, soll, muss Verantwortung übernehmen? Wel- Praktikern wirksame und nachhaltige Handlungsansätze zur Demokratieentwicklung vor Ort implementieren und beratend begleiten.

Rechtspopulistische Aussagen sind salonfähig geworden

Rechtspopulistische Aussagen, Abwertungen von ver- meintlich „anderen“ werden lauter – nicht nur in Talkshows, auf Demonstrationen oder in politischen Debatten. Auch ganz konkret im lokalen Umfeld kennt jede und jeder Bei- spiele für hitzige Diskussionen mit Bekannten, Freunden und Nachbarn. Es wird mehr debattiert und „unsere“ Demokratie ist plötzlich wieder verstärkt zum Thema ge- worden. Als Anlaufstelle für lokale Praktikerinnen und Prak- tiker erfahren wir oft, dass Vorurteile deutlich lauter ausge- sprochen werden, Ausgrenzungen stattfinden, Menschen diskriminiert werden. Es gibt Anfeindungen gegenüber ge- flüchteten Menschen und engagierten Personen, die sich für ein vielfältiges Miteinander einsetzen. Gegenwärtig engagieren sich viele Menschen aktiv ge- gen Rechtspopulismus, Fremdenfeindlichkeit und die ver- schiedenen Facetten Gruppenbezogener Menschenfeind- lichkeit (vgl. Abbildung 1). Sie handeln und machen Demo- kratie vor Ort sichtbar, setzen sich für die Wahrnehmung von Diskriminierungen ein und für die davon Betroffenen. Dafür gibt es viele Ansätze, sei es auf individueller, privater Ebene, innerhalb bestimmter Institutionen – wie Schulen oder Vereinen –, im öffentlichen Raum online oder offline, bei Demonstrationen usw. Rechtspopulistische Aussagen und Abwertungen von ver- meintlich „anderen“ sind wieder salonfähig geworden. Vor- Wo würde ich anfangen? urteile und Anfeindungen werden deutlich lauter artikuliert. Das Bild zeigt ein Schild, das auf einer Kundgebung des Bevor wir lokale Handlungsansätze beschreiben und dar- islam- und fremdenfeindlichen Bündnisses Pegida in Dresden über nachdenken, was es bedeutet, Rechtspopulismus und offen zur Schau gestellt wird. picture alliance/dpa

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bis2017_01_inhalt.indd 71 27.03.17 16:00 che möglichen Akteure gibt es im Gemeinwesen? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit haben wir einige Akteure ge- sammelt, die auf Ihrer Liste stehen könnten: l Familie l Freunde l Nachbarschaft l Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker l Polizei l Kommunalverwaltung Stephanie Garff, Anne Stelzel Anne Garff, Stephanie l Vereine (Sportverein, freiwillige Feuerwehr, Faschings- verein usw.) l Migrantenorganisationen l Arbeitskreise und Bündnisse l Jugendarbeit und Jugendhilfe l Bildungseinrichtungen (Schulen, Kitas, Volkshochschule) l Kultur- und Kunsteinrichtungen l Betriebe, Wirtschaftsunternehmen l Gewerkschaften l Kirchliche Einrichtungen l Medien l (Lokale) Prominenz l von Diskriminierungen Betroffene l Personen, die mich hinterfragen Eine Besucherin betrachtet in Potsdam Karikaturen zu Flucht Genauso wie Ihnen ging es auch den von uns betreuten und Integration. In der Ausstellung in der Landeszentrale für lokalen Praxisprojekten, die sich in den letzten drei Jahren politische Bildung widmen sich Karikaturisten den Problemen im Rahmen des Förderprogramms „lokal vernetzen – demo- der Flüchtlinge, den aktuellen Dramen im Mittelmeer und kratisch handeln“ mit der Frage „Was können wir vor Ort den Stammtischparolen. Hauptziel der Ausstellung ist es, gegen abwertende Haltungen tun?“ auseinandergesetzt Vorurteile bewusstzumachen und zu hinterfragen. haben. picture alliance/dpa

Lokal passgenaue Ansätze: Projekte im l Bestehende Strukturen für neue Zielgruppen öffnen; Förderprogramm „lokal vernetzen – demokratisch l Alternative (Jugend-)Kulturen stärken; handeln“ l Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sensibilisieren und fortbilden; Das Förderprogramm fördert lokale Initiativen und Orga- l Strukturen wie Bündnisse oder Arbeitskreise aufbauen. nisationen, die lokale Projekte gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und für Demokratieentwicklung um- An möglichen Methoden und Handlungsansätzen sind zu setzen. Die Laufzeit der Projekte beträgt maximal 20 Mo- nennen: nate. Die Förderung bezieht sich auf mittlere Projektgrö- l Persönliche Kontakte, Begegnungen und Austausch er- ßen. Die maximale Fördersumme beträgt 15.000 Euro. Der- möglichen; zeit fördern wir neun Projekte in Baden-Württemberg. In l Theater, Musik, Tanz, Film als Medien der Auseinander- der letzten Förderphase waren es sieben Projekte. Dies setzung einsetzen; bildet aber nur einen kleinen Teil der Projekte ab, die im l Wissen in Fachgesprächen, Vorträgen und politisch- finanziell eingegrenzten Rahmen des Programms geför- bildnerischen Workshops vermitteln; dert werden. Insgesamt haben wir in den Antragsphasen l Eigene Vorurteile reflektieren und für Machtverhältnisse über 80 Projekte beraten, die sich für die Teilnahme bewor- sensibilisieren; ben und Ideen für lokales Engagement entwickelt haben. l Öffentlichkeitsaktionen (Ausstellungen, Plakatwände, Die Ansätze und Ziele der Projekte sind, ebenso wie die Mitmachaktionen) und Pressearbeit professionell durch- lokalen Gegebenheiten, sehr vielfältig. Die Chance des führen; Programms „lokal vernetzen – demokratisch handeln“ ist l Mit Diskriminierungen in geschützten Räumen (z. B. es, dass wir nicht nur Projekte fördern, sondern diese von durch Biografiearbeit und anderen Methoden des Em- der ersten Idee an eng begleiten, beraten und Reflexions- powerments) auseinandersetzen. räume schaffen. Zusammen mit den Projekten versuchen wir mit Methoden der Wirkungsanalyse jeweils gelin- Soweit eine kurze Skizze der inhaltlichen und methodi- gende Ansätze zu definieren. Dadurch können wir Aussa- schen Bandbreite der Projekte. Dies wirft einen Blick auf gen treffen, welche Bedingungen hilfreich sind. Nachfol- eine erste Konsequenz, die wir für lokale Handlungsan- gend einige Beispiele für Projektziele: sätze als zentral erachten: die Methodenauswahl steht l Vielfalt in der Gesellschaft sichtbar machen; nicht an erster Stelle. Zunächst geht es um eine Situations- l Vorurteile bewusstmachen und hinterfragen; analyse vor Ort. Das bedeutet, die Übertragbarkeit – l Diskriminierungen aufzeigen, die Perspektive der Be- die „Rezepthaftigkeit“ – der Ziele und Methoden ist troffenen einnehmen; begrenzt. Als Voraussetzung für zivilgesellschaftliches l Menschen für Engagement aktivieren; Handeln gilt es in erster Linie, Rahmenbedingungen zu

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bis2017_01_inhalt.indd 72 27.03.17 16:00 KONSEQUENZEN FÜR DIE ENTWICKLUNG LOKALER HANDLUNGSANSÄTZE: RECHTSPOPULISMUS UND ABWERTENDE HALTUNGEN THEMATISIEREN

Offene Räume sind ein Ort der Jugendbildung, an dem Kinder und Jugendliche Möglichkeitsräume erfahren – im Idealfall wird dies konsequent in den Strukturen und in der Haltung der (sozial-)pädagogischen Mitarbeitenden um- gesetzt. Das pädagogische Konzept lässt sich als „frei und begleitet“ zusammenfassen: Fachkräfte halten sich im Hin- tergrund, sind aber zugleich Vertrauens- und Bezugsper- son. Sie reflektieren dadurch ständig ihre professionelle Rolle, die ein Paradox bildet zwischen Mitmachen und als Fachkraft gleichzeitig außenstehend zu sein. Sie machen eigene Positionen und Haltungen sichtbar, geben Jugend- lichen zugleich den Raum, dies selbst auch zu tun. Das sind Räume, in denen Jugendliche selbst im Mittelpunkt stehen und eine gesellschaftlich wichtige Rolle einnehmen. Nicht in Form von „kümmern“ oder „Leistung erbringen“, sondern in Form von Handeln und Verantwortungsübernahme für die eigenen Interessen. Das beinhaltet die Förderung von Konfliktkompetenz, d. h. ein steter Wechsel von Auseinan- dersetzungen und Einigungsprozessen – Kernelemente ei- ner pluralistischen Demokratie. Offenheit und Partizipa- tion sind wesentliche Grundelemente der Offenen Jugend- schaffen, die das Entwickeln von passgenauen Ansätzen arbeit. Weitere Arbeitsprinzipien sind die konsequente ermöglichen. Orientierung am Sozialraum und an der Lebenswelt der Jugendlichen, an Vielfalt und Geschlechtergerechtigkeit. Diese Aspekte gestalten die Haltung der pädagogischen Offene Kinder- und Jugendarbeit als Modell für Fachkräfte, die Strukturen und den Alltag in Jugendhäu- Demokratieerleben sern und anderen offenen Räumen. Ausgehend davon, dass politische Sozialisation ganz eng Bei der Konzeption und Weiterentwicklung des damit zusammenhängt, in welchen „Räumen“ sie stattfin- Förderprogramms stand die Frage im Zentrum: Was det und welche Menschen mit ihren Haltungen prägend braucht es an Rahmenbedingungen für ein Handeln gegen sind, gibt es zwischen den Grundprinzipien der offenen abwertende Einstellungen? Wo gibt es Modelle für das Kinder- und Jugendarbeit und der Demokratieentwicklung Erleben von demokratischen Prozessen und was macht als gesamtgesellschaftlicher Aufgabe viele Gemeinsam- diese aus? Nachfolgend wollen wir Sie einladen, unsere keiten. Perspektive auf die Praxis mit einem kleinen Exkurs in die Und damit sind wir – mit Bezug auf die Rechtspopulismus- Offene Jugendarbeit nachzuvollziehen. definition, die nach Marcel Lewandowsky1 ein vermeintli- Die Landesarbeitsgemeinschaft Offene Jugendbildung ches homogenes „Wir“ abgrenzt von „denen da oben“ und Baden-Württemberg (LAGO) ist der Dachverband der Of- „denen da draußen“ – recht schnell bei Fragen von Demo- fenen Jugendarbeit in Baden-Württemberg. Er vertritt die kratie- und Politikverdrossenheit, bei Medienschelte, Pro- Interessen von sechs Fachverbänden und damit von etwa testwählerinnen und -wählern oder Wahlabstinenz. Wo 1.500 Einrichtungen, die offene Räume für Kinder und Ju- gibt es also weitere gesellschaftliche Orte, in deren Struk- gendliche zur Verfügung stellen. turen Raum ist für ein vielfältiges „Wir“? Orte, die als „Er- Das Besondere an der Offenen Jugendarbeit ist, dass sie möglichungsräume“ für demokratische Erfahrungen sor- ein hohes Maß an Eigeninitiative verlangt und auch för- gen? dert. Es werden Möglichkeitsräume geboten, die Jugendli- che gestalten und sich aneignen können. Alltägliche Fra- gen stehen hierbei im Mittelpunkt: Der Zustand einer Gesellschaft zeigt sich daran, wie l Wer darf wann auf der Jugendfarm reiten?; sie mit Pluralität und Vielfalt umgeht l Thekendienste und das Aushandeln von Regeln dafür im selbstverwalteten Jugendzentrum; Diese Überschrift ist eine der Ausgangsthesen der Studien l Mitarbeit in kommunalen Arbeitskreisen und sich für „Deutsche Zustände“2. Die Langzeituntersuchung von 2002 Konzertgenehmigungen einsetzen; bis 2012 wurde vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- l Gemeinsame Diskussion und Änderung der Hausord- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld nung, wenn z. B. Jugendliche mit Naziklamotten bei der durchgeführt. Legt man diesen Maßstab an, so können wir Samstagsdisko auftauchen; Demokratieentwicklung u. a. fassen als ein Engagement l Oder die Diskussion darüber, ob Mehmet oder Sarah gegen abwertende Haltungen, gegen Einstellungen, wie ihre kleinen Geschwister, auf die sie aufpassen sollen, sie durch das Syndrom der Gruppenbezogenen Men- mitbringen dürfen, obwohl deren Köpfe grade mal in schenfeindlichkeit3 beschrieben werden, und gegen Diskri- Höhe der Kickerstangen sind. minierungen oder Angriffe, die auf rechtspopulistischen oder gar rechtsextremen Positionen beruhen.

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bis2017_01_inhalt.indd 73 27.03.17 16:00 Mit abwertenden Haltungen meinen wir all jene Prozesse gemacht und in der Entwicklung von Landesprogrammen und Phänomene, in denen Menschen aufgrund vermeintlich sowie in Gesprächen mit Ministerien oder Wissenschaft bedeutsamer Merkmale einer scheinbar homogenen eingebracht werden. „Gruppe“ zugeschrieben werden. Diese Gruppen werden als nicht gleichwertig zu einem unbestimmten und vermeint- lichen „Wir“ – also zur eigenen „Gruppe“ – gesehen. Bei Das Umfeld im Blick: Vernetzung und Brücken bauen der Frage nach dem Zustand einer heterogenen Gesell- schaft stehen vor allem diejenigen Vorurteile im Fokus, die Demokratisches Handeln bedeutet immer Aushandlungs- sich auf sozial weniger machtvolle, schwache „Gruppen“ prozesse, eine Auseinandersetzung mit anderen, ein Ein- Stephanie Garff, Anne Stelzel Anne Garff, Stephanie beziehen. Die Studien können für diese Einstellungen kons- treten für eigene und andere Interessen, die Verantwor- tant hohe Ergebnisse nachweisen – und zwar in nahezu al- tungsübernahme für das Gemeinsame. Demokratisch han- len Teilen der Bevölkerung, nicht nur am extremen Rand. deln bezieht sich somit stets auf mehrere. Demokratisches Das IGK nahm in der Langzeituntersuchung folgende Fa- Engagement ist nachhaltiger und wirksamer, wenn es mit cetten Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in den mehreren Akteuren gemeinsam gestaltet und umgesetzt Blick: Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Eta- wird. Dabei ergibt sich für die Entwicklung lokaler Hand- bliertenvorrechte, Abwertung von Obdachlosen und Men- lungsansätze die Kompetenz, das Handeln und das Ver- schen mit Behinderung, Homophobie, Islamfeindlichkeit, netzen in den Blick nehmen zu müssen. Es braucht viel Zeit Sexismus, Abwertung von Langzeitarbeitslosen, Abwer- und Ressourcen, um mit den einzelnen Partnerinnen und tung von Asylbewerbern, Abwertung von Sinti und Roma. Partnern im Gemeinwesen ins Gespräch zu kommen, Wie kann man von diesen Forschungsergebnissen und der Wahrnehmungen auszutauschen und Brücken zu bauen. zivilgesellschaftlichen Forderung, diesen Facetten Grup- Dieses Brückenbauen wird oft völlig unterschätzt und ist penbezogener Menschenfeindlichkeit entgegenzutreten, gleichzeitig doch unerlässlich für einen nachhaltigen An- einen Praxistransfer schaffen? Genau an dieser Stelle leis- satz. Diesem Aspekt muss in der Gestaltung von Förderkri- tet die LAGO „Übersetzungshilfe“. Aufgabe der Landesar- terien und im zeitlichen Rahmen von Projektvorhaben Rech- beitsgemeinschaft als Scharnierstelle ist es, Praktikerinnen nung getragen werden. und Praktikern – sei es in Projekten oder bei Beratungsan- „Was finden Sie an Ihrem Dorf/Stadtteil lebenswert?“ und fragen – zu unterstützen, lokale Ansätze zu entwickeln, „Wofür würden Sie sich einsetzen?“ – Dies sind ganz typi- fundiert das eigene Handeln in der Praxis zu begründen sche Fragen aus der Gemeinwesenarbeit, wenn Menschen und neue Impulse zu geben, wie bestimmte Stimmungen aktiviert werden sollen, sich in ihrem Umfeld zu engagie- erklärbar sind, wie darauf reagiert werden kann. Im ren. Und genau da setzt lokales Handeln an: bei konkreten Grunde funktioniert die LAGO wie eine Drehtür: Durch den Fragen, Bedürfnissen und ganz alltäglichen Wünschen. Für engen Kontakt zu den Projekten und den ganz unterschied- viele lokale Handlungsansätze ist die Schaffung eines lichen Bereiche, in denen die Projekte angesiedelt sind, Bündnisses eine unerlässliche Voraussetzung. Gerade können viele verschiedene Erfahrungen aus der Praxis, weil man im Verbund mehr erreichen kann und weil eine Ideen und Hürden gesammelt, für andere Akteure nutzbar Vernetzung häufig dazu führt, dass Projekte auch nach ih-

Abbildung 1: Das Syndrom Gruppen- bezogene Menschen- feindlichkeit mit seinen Facetten

Quelle: Zick, Andreas/Klein, Anna (2014): Fragile Mitte – Feindelige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ralf Melzer. Bonn, S. 64

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bis2017_01_inhalt.indd 74 27.03.17 16:00 rer offiziellen Laufzeit Unterstützung finden und nachhaltig KONSEQUENZEN FÜR DIE ENTWICKLUNG LOKALER weiterwirken können. HANDLUNGSANSÄTZE: RECHTSPOPULISMUS UND Die Anlauf- und Vernetzungsstelle bei der LAGO hat auch ABWERTENDE HALTUNGEN THEMATISIEREN die Aufgabe, Initiativen und Bündnisse gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu bera- tun können oder spezielle Beratungsstellen6 ansprechbar ten. Vor kurzem haben wir ein praxisorientiertes Hand- sind. buch4 für Menschen, die sich mit anderen zusammen Die zweite Übersetzungsleistung ist es, das Engagement engagieren und abstimmen wollen, herausgegeben. Das gegen abwertende Haltungen in ein Engagement für De- Handbuch ist ein praktischer Ratgeber für bereits beste- mokratieentwicklung zu „übersetzen“. Dies ist sicherlich hende Bündnisse oder für Personen, die ein Bündnis grün- nicht der einzige Weg. Aus unserer erfahrungsgesättigten den wollen – sei es gegen Rassismus und andere Abwer- Sicht – wie auch aus der Sicht der Handlungsempfehlun- tungen, sei es, weil bestehende Arbeitskreise (z. B. für Viel- gen des IKG – ist der Ansatz vielversprechend, zunächst falt und Integration) diese Themen ebenfalls in ihre Arbeit bei einem Grundverständnis von Vielfalt und Gleichwer- aufnehmen möchten. tigkeit als Grundlage eines demokratischen Gemeinwe- sens anzusetzen. Warum sprechen wir in diesem Zusammenhang von Demo- Rechtspopulismus und abwertende Haltungen kratieentwicklung? Dies geht auf unsere eigene Erfahrung thematisieren: mehrfach „übersetzen“ in der Netzwerkarbeit zurück. Als wir 2010 im „Landesnetz- werk für Menschenrechte und Demokratieentwicklung“7 Wenn lokale Handlungsansätze entwickelt werden sollen, ein gemeinsames Selbstverständnis aushandelten (und geht es um eine dreifache Übersetzungsleistung. Durch Er- der Prozess war nicht gerade einfach aufgrund der Band- gebnisse aus der Einstellungsforschung (z. B. die Studien breite der beteiligten Institutionen wie Verbänden, teils eh- zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit), durch renamtlichen NGOs, diversen politischen Stiftungen, Ex- den drastischen Anstieg rechtsextremer Straftaten in den pertinnen und Experten, Wissenschaft, Ministerien und vergangenen Jahren5 und durch aktuelle Wahlerfolge Sicherheitsbehörden), wurde der Begriff „Demokratieent- rechtspopulistischer Parteien wurden in der Zivilgesell- wicklung“ strittig diskutiert. Erste Assoziationen in der schaft Prozesse angeregt, diese Themen aufzugreifen und Runde waren, dass das nach Entwicklungspolitik, irgendwo zivilgesellschaftlich und/oder pädagogisch darauf zu re- weit weg von Deutschland klinge: „Ist Demokratie hier bei agieren. Dabei können wir beobachten, dass das enga- uns nicht schon da? Ist sie nicht selbstverständlich?“ Letzt- gierte Handeln gegen rechtspopulistische Positionen und endlich hat sich das Netzwerk gerade wegen dieser leb- für eine pluralistische Gesellschaft neben einer eigenen haften Diskussion darauf geeinigt. Der Begriff macht deut- Positionierung auch Fachwissen und eine hohe reflexive lich, dass Demokratie einer nachhaltigen und ständigen Leistung des Praxistransfers erfordert. Die Studien des IKG Pflege bedarf. Demokratie ist die einzige Regierungsform zeigen, dass abwertende Einstellungen seit Jahren nahezu die gelernt und gepflegt werden muss. Sie ist eben nicht auf konstant hohem Niveau in der Mitte der Gesellschaft selbstverständlich – sondern im Alltag stets wieder zu kon- vorhanden sind. Allerdings ist die Sensibilität für die Wahr- kretisieren, ansonsten wird sie zur Worthülse. nehmung dieses Problems oftmals nicht gegeben. Genau Ähnliche Aushandlungsprozesse machen auch viele lokale an diesem Punkt kann lokale Praxis ansetzen, indem sie zu- Initiativen, durch: Was verbindet uns? Wie heterogen sind nächst „übersetzt“. wir? Was macht unseren Zusammenhalt aus? Ziel vieler Die erste Übersetzung, die geschehen muss, und die leicht- Netzwerke ist es, gerade diesem Zusammenhalt als vielfäl- fertig manchmal übersehen wird, ist die Wahrnehmung tiges Bündnis eine Stimme zu verleihen. des Phänomens als ein Problem. Erst wenn abwertende Die dritte Übersetzung bezieht sich darauf, Demokratie in- Haltungen oder Rechtspopulismus als Problem wahrge- sofern erfahrbar zu machen, als sie etwas mit dem alltägli- nommen werden, kann ein lokaler Handlungsansatz zur chen Leben und den dort verhandelten Fragen zu tun hat. Thematisierung entwickelt werden. „Übersetzen“ umfasst Es gilt, die Ziele aus der normativen Ebene der Menschen- hier auch die kritische Reflexion dessen, was hinter den rechte und Werte zu „übersetzen“ in greifbare Aktivitäten Vorurteilen steckt. mit Bezug auf die Zielgruppen und die Ziele des Projektvor- Manche Projekte, so zeigt unsere Erfahrung, brauchen un- habens. Das ist alles andere als banal. „Wo wollen wir an- ter gegebenen Umständen ihre gesamte Laufzeit dafür, fangen?“, „Wo legen wir einen Fokus?“, „Wie können wir diese erste Übersetzung überhaupt im lokalen Umfeld diesen Transfer in konkrete Maßnahmen so formulieren, sichtbar zu machen. Eine große Hemmschwelle beim The- dass es verständlich wird in Gremien, gegenüber der Kom- matisieren von Abwertungen (z. B. Rassismus oder Homo- munalpolitik, gegenüber Entscheiderinnen und Entschei- phobie) ist der Umstand, dass manche Themen emotional dern sowie Förderinstitutionen?“ Das sind die konkreten hochgradig aufgeladen sind. Es ist für viele Menschen un- Fragen, die für die Übersetzung zu stellen sind. Mit Bezug bequem und anstrengend, sich mit Vorurteilen auseinan- auf die Grundprinzipien der Offenen Kinder- und Jugend- derzusetzen und eigene Privilegien in Frage zu stellen. arbeit sprechen wir hier von Lebensweltorientierung. Und Darüber hinaus sehen sich viele engagierte Personen mit dies in zwei Richtungen: Einerseits muss mit den Zielgrup- dem Vorwurf der Nestbeschmutzung konfrontiert. Wenn pen (dies betrifft nicht nur Jugendliche) die Frage „Wo geht Projektträger das Problem klar benennen und als Thema mich das was an?“ erarbeitet werden; andererseits müssen auf die lokale Agenda setzen wollen, müssen sie sich im- diese Ansätze ins Gemeinwesen getragen und dort vertre- mer wieder rechtfertigen. Das Agenda-Setting ist dann ein ten werden. langwieriger und kräftezehrender Vorgang. Hier ist es Sobald es lebensweltlich-konkret wird, treten Wider- wichtig, dass es entlastende und unterstützende Struktu- stände auf. Auf der eher grundsätzlichen Ebene gibt es ren gibt, engagierte Personen sich in Initiativen zusammen- eine große Offenheit für Vielfalt. Bekenntnisse und Bekun-

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bis2017_01_inhalt.indd 75 27.03.17 16:00 Ein Logo mit der Aufschrift „Demokratie beginnt mir Dir“ steht in der Landeszentrale für politische Bildung in Nieder- sachsen während der Wieder- eröffnung der neuen Landes- zentrale in Hannover im Januar 2017. (Die Landeszent- Stephanie Garff, Anne Stelzel Anne Garff, Stephanie rale in Niedersachsen wurde vom damaligen Ministerpräsi- dent Christian Wulff 2004 auf- gelöst.) Die Wiedereröffnung ist ein wichtiges Signal: Demo- kratie bedarf der ständigen Pflege. Demokratie ist die ein- zige staatliche Grundordnung, die von Menschen gelernt wer- den muss. picture alliance/dpa

dungen dieser Vielfalt sind auf einer allgemeinen Ebene in ein Projekt zu „übersetzen“. Die Workshops fokussierten unverbindlich. Bei konkreten Maßnahmen, die gegebe- neben dem vernetzenden und beratenden Aspekt auch nenfalls lokale Missstände benennen, Veränderungen ver- Fragen der Qualifizierung. Eine kurze Einführung in die langen und Ressourcen erfordern, sieht es schnell ganz an- Themenbereiche Gruppenbezogene Menschenfeindlich- ders aus. Projektakteure müssen in dieser Situation fachlich keit, Demokratieförderung und Gemeinwesenorientierung treffsicher argumentieren und in der Konkurrenz um knappe ging der eigentlichen Projektentwicklung voraus. Es zeigte Ressourcen vor Ort konkrete Wirkungen vorzeigen können. sich, dass diese theoretische Qualifizierung eine Hilfestel- Projekte oder Initiativen, die abwertende Haltungen the- lung für die oben genannten Übersetzungsleistungen sein matisieren und somit etwas für die Demokratiebildung tun, kann. Darum bieten wir den Projektpartnerinnen und Pro- haben ganz unterschiedliche Ansätze und Herangehens- jektpartnern regelmäßig weitergehende Informationen, weisen. Dies liegt daran, dass die Orte, an denen die Pro- Qualifizierungen und thematische Fachberatung an. jekte stattfinden, ganz unterschiedlich sind. Städtische und ländliche Strukturen sind völlig unterschiedlich. An man- chen Orten besteht vielleicht schon ein Netzwerk in Form Raum für Reflexion schaffen eines Bündnisses, man weiß voneinander und kann gemein- sam für die Sache einstehen, es entstehen Synergien. An- Demokratieentwicklung, das Engagement und ein päda- derswo muss diese Struktur erst geschaffen werden. gogischer Umgang mit abwertenden Haltungen werden In der Umsetzung konkreter Maßnahmen prallen oftmals schnell zu Worthülsen. Das Problem ist dabei nicht, dass Anspruch und begrenzte Ressourcen wie Personal, Räume, Projektansätze und Methoden nicht durchdacht sind, viel- eigene Zeit oder Verfügung über genügend Zeit bei loka- mehr fehlt in den bestehenden Strukturen oftmals die Zeit, len Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern übergreifend – beispielsweise vor einer Antragstellung – aufeinander. Da hilft es zunächst, einen Schritt zurückzu- im Gemeinwesen die gemeinsamen Fragen auszuhandeln, treten, inne zu halten und zu reflektieren: Wo liegt der Fo- darüber zu sprechen, was erreicht werden soll und was kus, worauf wollen wir uns zunächst konzentrieren? dies mit dem demokratischen Gemeinwesen vor Ort zu tun Bei einem vernetzten Projekt passiert sehr viel nebenher. hat. Schon in der konzeptionellen Anlage von Handlungsan- Neben den direkten Wirkungen eigener Aktivitäten wer- sätzen sind Prozesse und Momente des Aushandelns ein den Prozesse bei anderen angestoßen und viele weitere wichtiges Thema. Impulse gesetzt. Dies wahrzunehmen und zu nutzen, ist Um die Brücke von der Theorie und von normativen Forde- eine wichtige Aufgabe der Reflexion während und am rungen zur Umsetzung in die Praxis schlagen zu können, Ende des Projektes. So entsteht Vertrauen, dass die Pro- ist eine genaue Problemanalyse vor Ort und Sensibili- jekte ins Gemeinwesen hinein wirken. sierung für strukturelle wie auch interpersonale Diskrimi- Bei der Entwicklung von lokalen Handlungsansätzen ist es nierungen, Einstellungen und Abwertungen vonnöten. Dies wichtig, dass man sich über mehrere Fragen im Klaren ist: kann durch bereits in der Konzeption vorgesehene Refle- Was ist der Ausgangspunkt? Was ist der Bedarf oder die xionsräume geschehen: Beginnend bei einer Selbst- Idee? Wohin möchten wir? Was ist unser Ziel? Wie kom- reflexion (Welche Vorurteile habe ich? Wie ist meine men wir dahin? Was haben wir dafür, und was brauchen Haltung dazu?) bis hin zu Sozialraumanalysen, die lokale wir noch? gesellschaftliche Machtverhältnisse und dadurch entste- Aus diesem Grund haben wir im Förderprogramm eine hende strukturelle Hemmnisse und Diskriminierungen in Neuerung eingeführt. Mit der Antragstellung konnten sich den Blick nehmen. Organisationen mit einem Bedarf oder einer Idee zu einem Lokal passgenaue Ansätze müssen jeweils erst entwickelt von drei regionalen Workshops anmelden. In diesen werden. Die Personen vor Ort sind also immer die Expertin- Workshops haben wir zunächst „übersetzt“, um was es uns nen und Experten für ihr Umfeld. Aus diesen Gründen rich- geht und den Teilnehmenden dann Zeit gegeben, ihre Idee ten wir unsere Arbeit dialogisch und reflexiv aus. Wir versu-

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bis2017_01_inhalt.indd 76 27.03.17 16:00 chen, in stetigem Austausch mit Projektakteurinnen und -ak- KONSEQUENZEN FÜR DIE ENTWICKLUNG LOKALER teuren zu sein und Räume zu schaffen, in denen Prozesse HANDLUNGSANSÄTZE: RECHTSPOPULISMUS UND immer wieder aufs Neue reflektiert werden. Eine Konse- ABWERTENDE HALTUNGEN THEMATISIEREN quenz, die sich auch in der Struktur unseres Förderprogramms niedergeschlagen hat. Dies beginnt bei dem oben be- Ein Beispiel für diese Vernetzung fand auf einer Tagung der schriebenen Antragsverfahren, das in Form von regionalen LpB Baden-Württemberg in Bad Urach statt.8 Fünf lokale Workshops einen qualifizierenden, vernetzenden und be- Projekte traten in einen regen Austausch mit den Tagungs- ratenden Charakter hat. In der Umsetzung der Projekte ver- teilnehmerinnen und -teilnehmern. Im Rahmen eines World suchen wir diese Aspekte weiterzuführen. Das Projekt steht Cafés wurden aktuelle Herausforderungen und Spielarten im Zentrum, wird von der LAGO unterstützt, erhält jedoch von rechtspopulistischen Positionen mit Blick auf die lokale auch eine Prozessbegleitung durch eine externe Beraterin Praxis ausgetauscht und reflektiert. bzw. einen externen Berater, um das Projekt frei und offen reflektieren zu können. Zudem sind die Projekte im engen Dialog mit den Kooperationspartnern vor Ort – was in der Wie schaffen wir es, dass der Rechtspopulismus in Anlage der Projektpläne berücksichtigt wird und wofür die die Krise kommt? Projekte eigens Zeit und Ressourcen einräumen. Zudem fin- det eine landesweite Vernetzung der Projekte untereinan- An dieser Stelle möchten wir dazu anregen, die Frage der der und mit anderen Akteuren in Form von Projekttreffen und Tagung „Rechtspopulismus – befindet sich die Gesellschaft Weiterbildungen statt. Die Projekte können sich hierbei im Krisenmodus?“ einmal andersherum zu stellen. Rechtspo- fachlich untereinander austauschen und Rückhalt finden. pulismus und abwertende Haltungen zu thematisieren ist

Was hat Rechtspopulismus mit unserem Alltag zu Methodenbeschreibung: tun? Praktikerinnen und Praktiker im Gespräch Die Impulsfragen werden in Kleingruppen an fünf Tischen über aktuelle Herausforderungen diskutiert. Dabei entstehende Fragen, Unterthemen, Er- gebnisse und Praxisbeispiele werden als Mindmap kreuz Während politikwissenschaftliche und empirische Pers- und quer direkt auf den Papiertischdecken festgehalten. pektiven gesellschaftliche Beobachtungen und Erklärun- An jedem Tisch wird eine Frage besprochen. Jeder Tisch gen aufzeigen, obliegt der Transfer in den Alltag den ist mit einer moderierenden Person besetzt. Nach 15 bis Praktikerinnen und Praktikern oft selbst. Es stellt sich die 20 Minuten gibt es ein Signal und jede Gruppe wechselt Frage, wie man im eigenen Alltag mit Rechtspopulismus zum nächsten Tisch. Die Tischmoderation bleibt und be- umgehen kann und welche konkreten Handlungsansätze grüßt die neue Gruppe. Jede Runde knüpft mit Hilfe der es im privaten wie beruflichen Umfeld gibt. Dieser Trans- Moderation an die Aspekte der vorhergehenden Gruppe fer ist nicht selbstverständlich, und es empfiehlt sich, die- an und ergänzt das Mindmap. Nach fünf Runden endet sen mit diskursiven und reflexiven Methoden gemeinsam die Gruppenphase und alle finden sich zur Ergebnisprä- mit den Teilnehmenden zu entwickeln. Auf der Tagung sentation ein. Diese kann entweder mit den an Pinnwän- fanden dazu rege Diskussionen im Rahmen eines abge- den gehängten Tischdecken oder mit Digitalfotos der wandelten World Cafés statt. Die eigens dazu entwickel- Tischdecken, die mit einem Beamer präsentiert werden, ten Impulsfragen eignen sich auch für andere Formate geschehen. Die Moderation stellt Diskussionslinien, wich- der Kleingruppendiskussion. tige Fragen und Ergebnisse vor.

Impulsfragen zu lokalen Herausforderungen: Moderationshinweise: l An welchen Orten, in welchen Momenten wird im All- Es ist wichtig, bei diesem Thema die Expertise der Teil- tag spürbar, dass Rechtspopulismus lauter wird? Wie nehmenden anzusprechen. Lokaler Praxistransfer geht dringt diese Wahrnehmung in die lokale (pädagogi- nur mit dem Blick auf eigene Erfahrungen und Strukturen sche) Praxis durch? im Gemeinwesen. Wichtig ist der Hinweis, dass genü- l Die Abwertung von „denen da draußen“ – wie thema- gend Raum für Erfahrungsaustausch und die Schilderung tisiert man diese Abwertungen in der lokalen Öffent- konkreter Beispiele gegeben ist. Zu Beginn wird der Ab- lichkeit (z.B. in Projekten)? lauf und das Rotationsprinzip von Tisch zu Tisch sowie l Welche Methoden und Medien, Mittel, Wege und die anschließende Ergebnispräsentation erklärt. Kanäle des Thematisierens gibt es? l Altbekannte Leute aus dem Stadtteil/Dorf und neue Zeitlicher Ablauf: bzw. lautere spaltende Töne: Welche lokalen Spielar- Anmoderation und Gruppenfindung nehmen insgesamt ten von Rechtspopulismus gibt es und welche Beson- zehn Minuten in Anspruch. Dann folgen fünf Diskussions- derheiten resultieren daraus für die lokale Demokra- runden à 15 Minuten pro Tisch. Insgesamt zehn Minuten tieentwicklung? werden benötigt für das Rotieren von Tisch zu Tisch. An- l „Wir-Alternativen“: Wer ist dieses regionale, lokale schließend bietet sich eine kurze Pause an. Die Ergebnis- Wir? Welche „Wirs“ gibt es noch? präsentation dauert ca. 20 bis 25 Minuten. l Beispiele und Praxisideen sammeln, die Alternativen aufgreifen. Materialbedarf: l Politikfrust und „Die da oben“: Wo haben lokale Ansätze 5 Tische, 5 Sets bunte Filzstifte, Papiertischdecken, Akus- Einfluss auf das Demokratieverständnis im Alltag? tisches Signal (z.B. Glocke)

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bis2017_01_inhalt.indd 77 27.03.17 16:00 nicht einfach. Dies ist anstrengend, braucht Zeit und an- grenzung scheinbar anderer das Leben schöner werden dere Ressourcen, man muss stetig dranbleiben. In der Be- lasse, dann möchten wir dazu anregen, den Blick zu än- gleitung der Projekte zeigt sich, dass immer irgendetwas dern. Denn es gibt derzeit sehr viele, die Demokratiestär- Unerwartetes passiert, die Verläufe sich verändern, sich ken als Aufgabe annehmen. Gerade jetzt ist es wichtig, neue Herausforderungen stellen. Dranbleiben ist eine Auf- dranzubleiben und Demokratie erfahrbar zu machen. Die gabe und es gibt keine einfachen Lösungen. Durch das Grundfrage heißt dann: Wie muss unsere Gesellschaft, un- Dranbleiben ergeben sich auch schöne, verbindende und ser Zusammenleben aussehen, damit der Rechtspopulis- vor allem Kraft gebende Momente. mus in die Krise kommt? Und wenn nun stärker Äußerungen fallen, die nach einfa- Stephanie Garff, Anne Stelzel Anne Garff, Stephanie chen Lösungen rufen, die vermeintlich angeben, dass aktu- elle Schwierigkeiten nicht zu meistern sind, dass eine Aus- ANMERKUNGEN 1 Vgl. den Beitrag von Marcel Lewandowsky in diesem Heft. 2 Vgl. Heitmeyer, Wilhelm/Zick, Andreas u. a. (Hrsg.): GMF-Survey 2002–2012. IKG Bielefeld. URL: http://www.uni-bielefeld.de/(en)/ikg/ projekte/GMF_Survey.html [22.01.2017]; Zick, Andreas/Küpper, Beate/ Krause, Daniela: Gespaltene Mitte – feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016. Herausgegeben für die Friedrich- Ebert-Stiftung von Ralf Melzer. Bonn 2016. URL: http://www.fes-gegen- Anne Stelzel ist in der Anlauf- und Vernetzungsstelle gegen rechtsextremismus.de/pdf_16/Gespaltene%20Mitte_Feindselige%20 Zust%C3%A4nde.pdf [22.01.2017]. Rassismus, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und 3 Ebenda. Rechtsextremismus bei der Landesarbeitsgemeinschaft Of- 4 Landesarbeitsgemeinschaft Offene Jugendbildung Baden-Württem- fene Jugendbildung Baden-Württemberg (LAGO) verant- berg (Hrsg.): Handbuch für lokale Bündnisse gegen Rassismus und Grup- penbezogene Menschenfeindlichkeit. Stuttgart 2016. URL: www.lago-bw. wortlich für die Vernetzung und Beratung lokaler Praxis. de/vernetzungsstelle-gegen-rechtsextremismus.html [22.02.2017]. Ihre langjährige Erfahrung fließt als wichtiger Baustein in 5 Vgl. Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration in Baden- das Förderprogramm „lokal vernetzen – demokratisch han- Württemberg (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2015 Baden-Württem-

AUTORINNEN UNSERE berg. Stuttgart 2016. deln“ ein. 6 Beratungsstellen in Baden-Württemberg finden Sie auf der Website des Landesprogramms „Demokratie stärken!“ der Landeszentrale für poli- Stephanie Garff, ebenfalls bei der LAGO, ist als Programm- tische Bildung Baden-Württemberg. URL: https://www.lpb-bw.de/fb_de- mokratie_staerken.html [22.01.2017]. begleitung für die Umsetzung des Förderprogramms „lokal 7 Das „Landesnetzwerk für Menschenrechte und Demokratieentwick- vernetzen – demokratisch handeln“ verantwortlich und seit lung – gegen Rechtsextremismus und Gruppenbezogene Menschenfeind- 2017 als Elternzeitvertretung in der Anlauf- und Vernet- lichkeit“ existiert seit 2009 und umfasst etwa 35 Organisationen. URL: www.lago-bw.de/landesnetzwerk [22.01.2017]. zungsstelle gegen Rassismus, Gruppenbezogene Men- 8 Das vorliegende Heft „Rechtspopulismus“ (Bürger & Staat 1/2017) ist schenfeindlichkeit und Rechtsextremismus tätig. die Tagungsdokumentation.

„Wir als Juden können diese Zeit nie vergessen“ MATERIALIEN-Heft zur Geschichte der Juden von Buttenhausen

• Das Lese-und Arbeitsheft in der Reihe MATERIALIEN rekonstruiert das Leben der jüdischen Landgemeinde Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb: 150 Jahre Mit- und Nebeneinander der christlichen und jüdischen Dorfbewohner, wirt- schaftliche und kulturelle Blüte im 19. Jahrhundert bis hin zu Ausgrenzung und Verfolgung, Deportation und Ermordung in der NS-Diktatur.

• Das Heft bietet Texteinheiten und Arbeitsblätter mit Dokumenten, Quellen und Aufgaben, darunter Anregungen zum selbstständigen Erkunden der Geschichte, zur Vorbereitung von Präsentationen oder eines Werkstattbuchs.

• Die Reihe MATERIALIEN entwickelt in Zusammenarbeit mit Gedenkstätten Angebote zur Geschichtsvermittlung an außerschulischen Lernorten.

• Außerdem erhältlich sind Ausgaben zur NS-„Euthanasie“ in Grafeneck, zum Unternehmen „Wüste“ in Südwürttemberg und zur Deportation der Juden aus Baden sowie aus Württemberg und Hohenzollern.

Bestellung: kostenlos, ab 500 g zzgl. Versand, Landeszentrale für politische BildunH#BEFO8ÄSUUFNCFSH www.lpb-bw.de/bausteine.html

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Psychogramm einer Mitläuferin Teilen von Wirtschaft, Verwaltung, Justiz und Bildung voll- zog sich in den westlichen Besatzungszonen eine „kalte Kurt Oesterle: Amnestie“ (Jörg Friedrich). Ehemalige Parteigenossen Martha und ihre Söhne. machten erneut Karriere und integrierten sich nahezu spur- Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2016. los in die Nachkriegsgesellschaft. Die meisten der unge- 184 Seiten, 20,00 Euro. zählten Mitläufer und Mitwisser schwiegen und wollten mit ihrer Vergangenheit nicht konfrontiert werden. Der freie Autor und Journalist Kurt Oesterle, Träger des Ehemals geltende Normen, Verhaltensmuster und fragwür- Theodor-Wolff-Preises, hat einen Roman vorgelegt, der in dige Werte waren obsolet geworden. Und der durch die der unmittelbaren Nachkriegszeit spielt und bis in die An- Re-Education-Politik angestrebte Wertetransfer funktio- fänge des Wirtschaftswunders reicht. Im Mittelpunkt des nierte allerdings nur bedingt. Es gab nach 1945 in der Romans steht Martha, eine im „Dritten Reich“ sozialisierte Mehrheit der deutschen Bevölkerung keine positive Ein- junge Frau, die sich nach Jahren der Diktatur mit der demo- stellung zur Demokratie. In den kurzen Passagen, die den kratischen Neuorientierung reichlich schwer tut. Es ist aber Umerziehungskurs beschreiben, wird die missionarische auch der Roman ihrer beiden Söhne Alfred und Helmut, zu- Haltung des US-amerikanischen, in Deutschland gebore- gleich ein Entwicklungsroman und die Geschichte der Ent- nen und 1933 in die USA emigrierten Captains deutlich. fremdung des jüngsten, nach Eigenständigkeit strebenden Der Glaube an die Umerziehung eines ganzen Volkes zu Sohnes von seiner Familie. Oesterle entwickelt bereits im guten Demokraten scheiterte auch angesichts der Realitä- ersten Kapitel ein subtiles Psychogramm der jungen Mar- ten der Nachkriegszeit. Waren doch die ersten Nach- tha. Die Romanhandlung setzt ein mit der Befreiung 1945 kriegsjahre vom Kampf um jede Mahlzeit oder um notdürf- und schildert den Einmarsch alliierter Soldaten. Martha, tige Kleidung gekennzeichnet. Martha und ihre beiden stellvertretend für eine ganze Generation, reagiert nach Söhne versuchten in dieser „Zusammenbruchsgesellschaft“ der militärischen Entmachtung ihres Landes trotzig, belei- (Heinrich August Winkler) ihr Überleben zu organisieren. digt und verstockt. Die innere „psychologische Entlastungs- An der unterschiedlichen Entwicklung der beiden Söhne Al- offensive“ der Deutschen begann in dem Moment, in dem fred und Helmut offenbart sich die Unfähigkeit Marthas, ih- die Nazi-Diktatur zusammenbrach und die Alliierten ein- ren Kindern verlässliche Sicherheiten, Werte und eindeu- marschierten. Marthas Gefühlswelt ist geprägt von Angst, tige moralische Positionen, geschweige denn Zukunftspers- Schuldbewusstsein und Rationalisierungsversuchen, ihren pektiven zu vermitteln. Gegen Ende des Romans wird das unbedingten Glauben an das alte Regime zu erklären. In (späte) Bekenntnis eines Täters geschildert, der sich beim Paule, der nach Flucht und Vertreibung in Marthas Dorf als sonntäglichen Nachmittagskaffee im Kreise seiner Ver- Knecht unterkam, sucht und findet sie einen Beschützer und wandten mit seinen Taten in einem Konzentrationslager Ehemann. Aus Angst vor dem vermeintlichen Strafgericht brüstet und die Tatsache, dass er unerkannt und straffrei der Alliierten sieht sie trotz der widrigen Zeiten ihre Ret- blieb, als moralischen Sieg über die alliierten Befreier wer- tung in der Geburt eines Kindes. Die Siegermächte – so ihr tet. Wie sollen Marthas Söhne als „Erben dieser Gewalt“ abenteuerliches Gedankenkonstrukt – würden eine Mutter angesichts solcher Äußerungen ein moralisch hinreichend mit Kindern nie zur Rechenschaft ziehen. Nur anderthalb gefestigtes Weltbild aufbauen? Wenngleich die Entwick- Jahre nach dem Untergang des Nazi-Regimes hat Martha lung von Alfred und Helmut ungleich verläuft, sind beide im zwei Söhne zur Welt gebracht, Alfred und Helmut. ganzen Roman hinweg bemüht, ihrem eigenen Leben Kon- Mit völligem Unverständnis reagiert Martha auf die Re- turen zu geben, Selbstvertrauen und Sicherheit zu finden. education-Politik, die sie als von den Siegern anbefohlene Kurt Oesterle hat die Jahre nach 1945 und das Dorfleben Umerziehung empfindet. Zugleich wird nicht nur der Ge- in der Nachkriegszeit sehr dicht beschrieben. Mit Martha fühlshaushalt ihrer beiden Söhne, sondern auch deren po- hat er eine glaubwürdige Figur und Handlungsträgerin ge- litisches Weltbild auf eine harte Probe gestellt. Vor allem schaffen, deren Innenwelt die unsicheren Zeitläufte wider- der ältere Sohn Alfred muss nicht nur Klagen über die de- spiegeln. Oesterle zeigt, wie sich Geschichte im Leben des solate Familiensituation erdulden. Er muss sich auch anhö- Einzelnen niederschlägt, noch Jahre nach dem Gesche- ren, dass Deutschland entmachtet und von arroganten Sie- hen. Er geht der Zeitgeschichte und den sich dahinter ver- germächten niedergehalten werde. Auch die Legende, bergenden „kleinen und alltäglichen Geschichten“ auf den dass „damals nicht alles schlecht“ war, beginnt sich in den Grund. Mehr noch: Es ist die Geschichte einer Identitäts- mütterlichen Klagen herauszubilden. krise, verursacht durch die Befreiung 1945 und die Not- Martha kam letztlich im Laufe eines Jahrzehnts in der De- wendigkeit, sich neu orientieren zu müssen. Der Roman ist mokratie an. Ursächlich war hierbei weniger die Akzep- aber auch ein Lehrstück, wie Menschen reagieren, wenn tanz der besseren Staatsform, sondern der eher profane sie mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert und prä- Umstand der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung. Martha gende Kindheits- und Jugenderfahrungen in Frage gestellt ist eine zwischen die Zeiten gefallene Person, die an den werden. Gerade indem die inneren Monologe, die emoti- langen Schatten der NS-Vergangenheit zu leiden hat. onalen Wechselbäder, Abwehrhaltungen und Selbstzwei- Deutlich wird in dem Roman, dass es die „Stunde Null“ fel Marthas einfühlsam geschildert werden, wird tunlichst nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ nicht gegeben vermieden, was Generationen von Söhnen und Töchtern hat (obwohl dieser Begriff durchaus das traumatische nicht geschafft haben: Die Auseinandersetzung mit der Empfinden der deutschen Bevölkerung traf). Das Jahr 1945 nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Eltern und bedeutete das Ende des Krieges und der nationalsozialis- Großeltern ohne moralische Überheblichkeit und Pathos. tischen Diktatur, aber es gab durchaus Kontinuitäten: In Siegfried Frech

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Die Diktatur im Pausenmodus und der schrittweisen Ausgrenzung der jüdischen Bevölke- rung. Oliver Hilmes: Neben den Eheproblemen der Familie Goebbels und den Berlin 1936. amourösen Abenteuern von Magda Goebbels, die be- Sechzehn Tage im August. kanntlich einen jüdischen Stiefvater hatte, begegnet man Siedler Verlag, München 2016. bei der Lektüre zahlreichen Intrigen, Affären, unzähligen 304 Seiten, 19,99 Euro. Irrungen und Wirrungen. So sorgt sich die Schriftstellerin Mascha Kaléko, die in ihren Gedichten das Lebensgefühl Berlin im August 1936: Zehntausende Gäste aus aller Welt der 1930er Jahre einfing, über ihr Dreiecksverhältnis. Ne- strömen in die Stadt. Die Olympischen Spiele locken im ben diesen menschlichen, nur allzu menschlichen Szenen Sommer 1936 die Besucher zu den imposant inszenierten nimmt Hilmes seine Leserinnen und Leser mit in das Berliner Sportveranstaltungen, in die Straßen, Bars und Cafés. Für Nachtleben, in Nobeletablissements, Varietes und weni- einen kurzen Augenblick, d. h. für exakt 16 Tage, wirkt Ber- ger vornehme Lokale, die von einem schillernden und teils lin weltoffen und unbeschwert. Schilder mit der Aufschrift undurchsichtigen Publikum frequentiert werden. Jazzmusik „Für Juden verboten“ oder „Juden unerwünscht“ sind aus ist angesagt und die Tatsache, dass afroamerikanische dem Straßenbild verschwunden. Die Zeitungsvitrinen mit Musiker in diesen Tagen ungekrönte Helden der Swingmu- Julius Streichers primitiver und antisemitischer Hetzpostille sik sind, drängt die dunklen Seiten des „Dritten Reichs“ völ- Der Stürmer wurden abmontiert oder mit Sportnachrichten lig in den Hintergrund. bestückt. Die Nationalsozialisten inszenieren eine völker- Natürlich kommen in dem Kaleidoskop, das Hilmes ge- freundliche „Charmeoffensive“, geben sich als friedlie- konnt entfaltet, die Sportler und deren Erfolge nicht zu bende, liberale und weltoffene Gastgeber. Doch der kurz. Der viermalige Goldmedaillengewinner Jesse Schein trügt: Mit ihren Aufmärschen und Kundgebungen Owens, afroamerikanischer 22-jähriger Leichtathlet aus legen sie Demonstrationen ihrer Macht an den Tag. Paral- Alabama, lässt den deutschen Favoriten Erich Borchmeyer lel wird die Unterdrückung perfektioniert und vor den To- buchstäblich den Staub der Aschenbahn schlucken. Dies ren Berlins entsteht das KZ Sachsenhausen. führt in der Ehrenloge zur Katerstimmung, und der in Brau- In „Berlin 1936“ erzählt der Historiker und Publizist Oliver nau geborene Mann mit dem Operettenbärtchen wettert, Hilmes von Sportlern und Künstlern, Diplomaten und Nazi- dass die Amerikaner „sich ihre Medaillen von Negern ge- Größen, unbekannten Berlinern und Touristen, Nacht- winnen lassen“ (S. 49). Immer wieder dazwischen gestreut schwärmern, Showstars und weniger bekannten Größen sind im Buch Berichte des Reichswetterdienstes in Berlin des Berliner Nachtlebens. Indem er die Geschichten von und die täglichen Anweisungen des Reichspressekonfe- Opfern und Tätern, von Mitläufern, Mitwissern und Zu- renz, die anmahnt, dass „der Rassenstandpunkt in (…) kei- schauern erzählt, entwirft er einen fulminanten Reigen, der ner Weise bei der Besprechung der sportlichen Resultate Einblicke in diesen Sommer der Widersprüche gewährt. Anwendung finden“ (S. 50) solle. Wie überhaupt die Olym- Die bunte Szenenfolge setzt ein mit Henri de Baillet-Latour, piade 1936 ein weltweites Medienereignis war: 1.800 dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Komi- Journalisten aus 95 Ländern berichteten von den sportli- tees (IOC), von Goebbels als „Direktor eines Flohzirkusses“ chen Wettkämpfen, 125 akkreditierte Fotografen schossen geschmäht, der während der gesamten Olympiade ein 16.000 Fotos. 42 Rundfunkanstalten sendeten und zeichne- straffes, vornehmlich repräsentativen Zwecken dienendes ten auf. In Berlin, Potsdam und Leipzig gab es mehr als 20 Programm zu absolvieren hat. Es folgt der gänzlich am öffentliche Fernsehstuben. Die Nazis setzten alles ein und Sport uninteressierten Richard Wagner, von Theodor W. dran, um die Welt zu beeindrucken. Im Zentrum des medi- Adorno Jahre später als „Komponiermaschine“ und „Meis- alen Trubels steht die den Nazis völlig ergebene Leni Rie- ter der Oberfläche“ bezeichnet, mitsamt seiner hochnäsi- fenstahl, die den offiziellen Film („Fest der Völker“ und „Fest gen und in ihrer Direktheit oft peinlichen Gattin. Wagner des Friedens“) drehte und dafür die enorme Summe von 2,8 komponierte die olympische Hymne, die den Spielen einen Millionen Reichsmark erhält. Mit über 200 Mitarbeitern, weihevollen Charakter verleihen soll. Die Auftaktveran- die eigentlich ständig im Weg stehen, Sportler und mit ih- staltung gerät zur Huldigung von Adolf Hitler, der einem ren Scheinwerfern nicht zuletzt Turnierpferde behindern, römischen Imperator gleich zur Ehrenloge schreitet. Die produziert die egomanische Regisseurin Filme, die der Massenaufmärsche und gekonnten Inszenierungen veran- Welt ein scheinbar weltoffenes und vermeintlich friedli- lassen Diplomaten zu der Bemerkung, selten so fanatisierte ches Deutschland einreden wollen. Dass parallel zu dieser Massen gesehen zu haben. Und mittendrin tummelt sich großen Heuchelei unbemerkt von der Öffentlichkeit das der amerikanische Romancier Thomas Clayton Wolfe, der nahe bei Potsdam gelegene KZ Sachsenhausen entsteht, mit dem trinkfesten Verleger Ernst Rowohlt und dessen un- ist ein weiterer Beleg für die Perfektion der NS-Propa- ehelichem Sohn Heinrich Maria Ledig handfeste Mahlzei- ganda, die im Sommer 1936 ein geschöntes Bild von ten und Moselwein bei Rowohlt und das Berliner Nachtle- Deutschland verbreiten konnte. Bereits zwei Wochen vor ben genießt, tagsüber hingegen auf dem Kurfürstendamm Beginn der olympischen Spiele wurden in einem „Land- flaniert. Wolfe verlässt Berlin letztlich reichlich desillusio- fahndungstag nach Zigeunern“ alle Berliner Sinti und niert, nachdem er so manche „politische Lehrstunde“ über Roma in einem zentralen, menschenunwürdigen Ort au- sich ergehen lassen muss. Ihm wird vom Boykott jüdischer ßerhalb Berlins Innenstadt interniert. Während sich 600 Geschäfte berichtet, von der Gleichschaltung ganzer Be- Roma und Sinti in dem Lager lediglich zwei Toilettenanla- rufsgruppen, vom „Gesetz zur Wiederherstellung des Be- gen teilen müssen, gibt zeitgleich der zum deutschen Bot- rufsbeamtentums“ sowie von den Bücherverbrennungen schafter in London ernannte Joachim von Ribbentrop, dem

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Kollegen aus Diplomatenkreisen eine nur mittelmäßige In- gung den Wind aus den Segeln genommen. Helene Mayer telligenz und diplomatische Unwissenheit bescheinigen, hob schließlich auf dem Siegertreppchen sogar die Hand einen rauschenden Abendempfang für 600 Gäste. Unter zum „deutschen Gruß“. ihnen weilt auch der maßlose und korrupte Hermann Gö- Die Spiele der IX. Olympiade waren in jeder Hinsicht ein ring, der für jedes seiner zahlreichen Ämter – Hilmes zählt Fest der Rekorde, aber auch ein Fest der Widersprüche. alleine 14 Ämter auf – ein separates Gehalt erhält. In sei- Mit ihnen war die Machtübernahme der Nationalsozialis- nem, einige Tage später stattfindenden Empfang wird Gö- ten endgültig abgeschlossen. Viele erkannten die Maske- ring mit Blick auf Extravaganz und lächerlichem Gehabe rade der Nazis nicht. Die Welt – so drängt sich der Ein- – er selbst zwängte sich in seiner gesamten Beleibtheit in druck auf – wollte betrogen werden. Hinter der Fassade einer Fantasieuniform auf ein Karussellpferd – in nichts vollzog sich der weitere Ausbau der NS-Herrschaft. nachstehen. Das Buch endet mit dem Kapitel „Was wurde aus …?“. Oli- „Berlin 1936“ schildert aber auch das erbärmliche Proce- ver Hilmes nimmt in diesem Kapitel noch einmal die zentra- dere um die Frage der Teilnahme bzw. Nichtteilnahme jü- len Personen des Buches in den Blick und skizziert deren discher Sportlerinnen und Sportler. Das NS-Regime war weiteres Leben – Höhen und Tiefen, Erfolge und Misser- von Anfang nicht gewillt, jüdischen Sportlern die Teil- folge, aber auch menschliche Schicksale und Tragödien. nahme zu erlauben. Bereits 1934 hatte sich eine Untersu- Hilmes ist mit „Berlin 1936“ ein großer Wurf gelungen. Ent- chungskommission auf den Weg nach Berlin gemacht, um lang der 16 Tage der Olympiade gewährt er nicht nur ei- die Situation der jüdischen Sportler zu begutachten. 1935 nen Einblick in den Alltag unterm Hakenkreuz. Hilmes se- begibt sich erneut ein Mitglied des IOC, Charles H. Sher- ziert die Machtmechanismen des nationalsozialistischen rill, auf eine diplomatische Mission nach Deutschland. Staates, legt den Antisemitismus und die menschenverach- Sherrill, der von Hitler fasziniert ist, erfindet den „Alibi-Ju- tende Arroganz der NS-Eliten offen und entwickelt zu- den“, d. h. die Aufnahme jüdischer Sportler in die deutsche gleich ein Psychogramm der Täter. Ein Buch, das anhand Mannschaft, insofern sie als „olympiareif“ gelten. Dieser vieler Einzelschicksale mehr erklärt, als ein dickleibiges perfide Deal ist ausschlaggebend, dass Helene Mayer, und bloß analytisch gehaltenes Buch. „Berlin 1936“ stellt einstige große Hoffnung des deutschen Fechtsports, die Zusammenhänge her, zeigt historische Entwicklungslinien als „Halbjüdin“ 1934 nach Amerika emigrierte, die Einla- auf, bringt das Verdrängte zur Sprache und stemmt sich dung des Reichssportkommissars annimmt und an den damit gegen den „chronischen Gedächtnisverlust der Spielen teilnimmt. Mit ihrem Eintritt in die deutsche Olym- Menschen“ (Oskar Negt). piamannschaft hatten die Nazis jeglicher Boykottbewe- Siegfried Frech

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Die Johanniter – Ein Ritterorden im Exil ßen Handelsschiffe und Küstenstädte, raubten Güter und versklavten Menschen. Auch der Johanniterorden war an Karin Schneider-Ferber: diesem unrühmlichen Geschäft beteiligt, das nicht nur die Ritter im Exil. Die Geschichte der Johanniter. Kriegsschatulle füllte. Der Orden bereicherte sich durch Konrad Theiss Verlag (Imprint der WBG), Darmstadt 2016. die „Ware Mensch“, indem Ruderer für die Galeeren und 264 Seiten, 29,95 Euro. Zwangsarbeiter für den Schiffs- und Festungsbau versklavt wurden. Wer nach Rhodos oder Malta reist, begegnet den Spuren Der Orden hatte auf Zypern trotz seiner Besitzungen nur der Johanniter auf Schritt und Tritt. Der „Ritterliche Orden einen Gästestatus inne und suchte, an geostrategischen des Heiligen Johannes vom Spital in Jerusalem“ hat vor Gesichtspunkten orientiert, nach einer neuen Heimat. Mit allem Malta und dessen Hauptstadt Valletta geprägt. Die Unterstützung eines Abenteurers und Piraten aus Genua Johanniter waren einer der bedeutendsten Ritterorden des und geduldet von Papst Clemens V. annektierte der Orden Mittelalters. Doch wie verträgt es sich, dass sich die kari- Rhodos, das nominell unter byzantinischer Oberhoheit tative Hospitalbruderschaft zum kriegerischen Ritterorden stand. Auf Rhodos erfolgte – auch angesichts der Erfin- wandelte, später zur See- und Regionalmacht wurde? dung des Schießpulvers – wiederum eine Phase der Aufrüs- Wie war die soziale Zusammensetzung des Ordens? tung: Stadt- und Hafenanlagen wurden verstärkt, Befesti- Warum ist das achtspitzige Kreuz auf rotem Grund noch gungen und Bastionen gerieten zu Bollwerken. Die wirt- heute ein Symbol für karitative Dienste und für soziale schaftliche und kulturelle Blüte erfuhr 1480 und 1522 durch Hilfe? Die Historikerin, freie Journalistin und Autorin Karin Belagerungen der aus Ägypten und Syrien kommenden Schneider-Ferber erzählt die wechselhafte Geschichte Mamelucken sowie der türkischen Osmanen erneut eine des Ritterordens spannend, kurzweilig und überaus leben- Zäsur. Die Insel war vor allem der sich entwickelnden türki- dig. schen Großmacht ein Dorn im Auge, erlaubte sie doch auf- Der Fall von Akkon am 18. Mai 1291, mit dem die Schilde- grund ihrer strategischen Lage die Kontrolle über die rung der wechselvollen Geschichte der Johanniter ein- Schiffswege zwischen Kleinasien und Ägypten. Sultan Sü- setzt, war ein Trauma und gleichzeitig das Ende der christ- leyman kam 1522 persönlich nach Rhodos, um die Nieder- lichen Kreuzfahrerstaaten in Palästina. Die Einnahme von lage der ersten Belagerung 1480 zu rächen. Im Dezember Akkon stürzte den Johanniterorden in eine tiefe Sinnkrise 1522 kapitulierten die Ordensritter. Die beiden Belagerun- und zwang ihn letztlich ins Exil; zunächst nach Zypern, so- gen, vor allem die zweite unter Süleyman „dem Prächti- dann nach Rhodos und schließlich nach Malta. Die Nie- gen“, waren nur ein Vorspiel der 85 Jahre später stattfin- derlage von 1291 markierte den endgültigen Sieg der denden großen Belagerung von Malta. Rückeroberung des Heiligen Landes durch die Mamelu- Nach einer kurzen Zwischenstation auf Kreta bot Karl V. cken. Gut zweihundert Jahre vorher begann mit der Erobe- dem Orden die Inseln Gozo und Malta als neues Domizil rung Jerusalems 1099 der Aufstieg der großen Ritterorden an. Diese „edle Geste“ geschah nicht ohne Hintergedan- der Templer, der Johanniter und des Deutschen Ordens. ken, wollte Karl V. doch den Orden in die eigene Macht- Der geistliche Orden der Johanniter ging aus einem Hos- politik integrieren. Obwohl Malta und Gozo keine Traum- piz für Pilger in Jerusalem hervor. Die ursprüngliche Hospi- ziele waren, fügten sich die Johanniter widerwillig in die talgemeinschaft wandelte sich im Laufe des 11. Jahrhun- machtpolitischen Gegebenheiten, setzten allerdings derts zu einem Kampforden und nahm als „Soldaten durch, dass Karl V. ihnen Malta und Gozo ohne weitere Christi“ immer mehr einen militärischen Habitus an. Das Forderungen und jedwede Verpflichtungen überließ. Die Spannungsverhältnis zwischen christlichem Friedensgebot souveräne Landesherrschaft erlaubte es, die Insel mit ih- und militärischer Rolle wurde vom Zisterzienserabt Bern- rem großen natürlichen Hafen zu einer Festung auszu- hard von Clairvaux, einem Hauptinitiator der Kreuzzüge, bauen. Jean Parisot de la Valette, der 1557 zum Groß- legitimiert und in höchsten Tönen gepriesen. Der Kampf meister des Ordens gewählt wurde, forcierte den Ausbau der Krieger-Mönche gegen die „gottlosen“ Sarazenen – der Befestigungsanlagen, die der osmanischen Belage- der sich u. a. im Bau gewaltiger Kreuzfahrerburgen zeigte rung von 1565 standhielten. Mit diesem Sieg wurde auch – war das militärische Rückgrat der Kreuzfahrerstaaten. der strategische Wert der Mittelmeerinsel unterstrichen. Der karitative Dienst trat immer mehr hinter die militärisch- So auf der Gewinnerseite angelangt, sprach man fortan strategischen Erfordernisse zurück. vom Malteserorden, der aus ganz Europa Spendengelder Die kurze Zwischenstation auf Zypern dauerte nur 19 Jahre und logistische Unterstützung in Form von Sachspenden, (1291–1310). In strategischer Hinsicht reifte die Erkenntnis, Söldnern und Handwerkern erhielt. Das gewachsene mili- dass die Zukunft des Ritterordens auf dem Wasser liegt. tärische Selbstbewusstsein zeigte sich nicht zuletzt in der Der Orden baute eine eigene Flotte und unternahm fortan Herrschafts-und Festungsarchitektur der „Modellstadt“ „Kaperfahrten für Gott“. Auf Zypern und vor allem auf Rho- Valletta. Der schachbrettförmige Grundriss mit seinen dos entwickelte sich die Ordensflotte zu einer Seestreit- Sichtachsen prägt bis heute das Stadtbild. Valletta, macht, die im Mittelmeer zu einem wesentlichen Machtfak- nach dem Großmeister de la Valette benannt, entwickelte tor wurde. Nach dem Vorbild der antiken Seemächte sich zu einer Stadt der „Herren“ und der Künste. Reprä- verfolgte der Orden konsequent das Ziel einer sentative Kirchen und Stadtbauten, die höfische Pracht- Thalassokratie, d. h. die Etablierung einer Seeherrschaft entfaltung der Großmeister und eine sich elitär gebende und Schaffung eines Herrschaftsraums im östlichen bürgerliche Oberschicht standen im krassen Gegensatz Mittelmeer. Mit schnellen, von Sklaven geruderten Kriegs- zu den prekären Lebensverhältnissen der Landbevöl- galeeren überfielen Sarazenen und Christen gleicherma- kerung. Auch das für damalige Zeiten medizinisch und

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hygienisch fortschrittliche Ordenshospital konnte nicht Syrer bei uns – Fehlwahrnehmungen, Ängste und über den „Wertewandel“ und die lockerer werdenden Sit- Missverständnisse ten der Ordensritter und städtischen Oberschicht hinweg- täuschen. Einstmals hehre Ziele und Ordensideale traten Kristin Helberg: immer mehr in den Hintergrund. Verzerrte Sichtweisen. Syrer bei uns. Von Ängsten, Das um 1700 vertraglich geregelte Verbot der Kaperfahr- Missverständnissen in einem veränderten Land. ten, die Konkurrenz durch Seefahrernationen wie England Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2016. und die Niederlande, schließlich die nachlassende strate- 272 Seiten, 24,99 Euro. gische Bedeutung des Mittelmeers – durch die von den Habsburgern und Osmanen vorgenommene Abgrenzung Seit dem Ausbruch der Revolution in Syrien im Jahr 2011 und der maritimen Machtsphäre in eine östliche und westliche dem darauf folgenden brutalen und zerstörerischen Krieg Hälfte – und neue Seewege nach Amerika und Asien sorg- sind mehr als 500.000 Syrer nach Deutschland geflohen. ten für einen Macht- und Bedeutungsverlust des Ordens, Millionen Syrer sind auf der Flucht, hunderttausende wur- der nun eher im Schatten der Weltpolitik verharrte. Das den in diesem Krieg getötet. Der Zuzug von Flüchtlingen endgültige „Aus“ brachte zunächst ein Beschluss der fran- nach Deutschland löste im Herbst 2015 eine Welle der Hilfs- zösischen Nationalversammlung, der 1792 alle Güter des bereitschaft und eine flächendeckende Willkommenskultur Ordens in Frankreich ohne Entschädigung einzog. Der Or- aus. Eine wahre Solidaritätswelle setzte ein. Millionen von den liebäugelte daraufhin mit dem russischen Zar, provo- Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern haben in einer Mi- zierte dadurch aber die neuen Machthaber in Paris, die schung aus Empathie und Nächstenliebe den oft schwer Napoleon Bonaparte auf seinem Eroberungsfeldzug nach traumatisierten Flüchtlingen geholfen, indem sie Sachen Ägypten beauftragten, Malta 1798 kurzerhand zu beset- oder Geld spendeten, sich persönlich um die Ankommenden zen. Der Malteserorden stürzte erneut in eine Existenz- gekümmert und private Patenschaften übernommen haben. krise. Im Frühjahr 2016 jedoch trat eine merkliche Wende ein. Der Neubeginn und Neuorientierung zeichneten sich erst wie- anhaltende Zustrom von Flüchtlingen stellte nicht nur die Eu- der ab, als sich der Orden angesichts europäischer Kriege ropäische Union (EU) vor eine Zerreißprobe. Auch in auf sein karitatives Fundament besann. Während des Krim- Deutschland scheint die Zeit, in der Kuscheltiere an Bahnhö- kriegs (1853–1856) und der Kriege im Vorfeld der deut- fen an Flüchtlingskinder verteilt wurden, vorbei zu sein. Für schen Reichseinigung (1864, 1866, 1870/71) leistete der die rechtspopulistische Parole „Wir sind das Volk“ gibt es Orden Sanitätsdienste. Auch die Sozialstruktur des Or- mancherorts Beifall. In den Leserbriefspalten der Zeitungen dens wandelte sich in jener Zeit, indem er Laien aufnahm. ist von „Asylchaos“, „Notstand“, „Flüchtlingswellen“ und Diese Neuorientierung und Besinnung auf die karitativen dringend gebotenen „Obergrenzen“ – wie es die CSU mit Wurzeln führte letztlich dazu, dass aus dem mittelalterli- enervierender Regelmäßigkeit verlauten lässt – die Rede, chen Ritterorden drei karitative Einrichtungen der Neuzeit manche beschwören sogar den „Untergang des Abendlan- hervorgingen: der (katholische) Malteserorden und der des“ herbei. (Das in der Verfassung verankerte Grundrecht (evangelische) Johanniterorden sowie der anglikanische auf Asyl ist im Übrigen nicht verhandelbar und kennt daher Order of St. John. auch keine Obergrenzen!) Auch die Haltung der Bevölke- Karin Schneider-Ferber hat ein beeindruckendes Port- rung ist gespalten. Ängste haben sich breitgemacht. Angst rät der Johanniter vorgelegt. Entlang der wechselvol- jedoch – so die Autorin der Monographie im Rahmen der len Ordensgeschichte vermittelt sie Einblicke in dessen Vorbemerkungen – ist grundsätzlich ein schlechter Ratgeber Sozialstruktur, in ritterliche Werte, Pflichten, Lebenspraxen und ein geeigneter Nährboden für politische Manipulation und Weltbilder. Gleichzeitig zeichnet sie mit der Schil- und vor allem für Agitation. Dies machte sich die Alternative derung der Kreuzzüge und der Kreuzfahrerstaaten in für Deutschland (AfD) zunutze, die in mehreren Landtags- Palästina ein legendenreiches Kapitel des Mittelalters kämpfen – so auch in Baden-Württemberg im Jahr 2016 – nach. Das Buch ist aber auch eine Geschichte des Mittel- mit den Themen Flüchtlinge und Innere Sicherheit auf Stim- meers: Die Autorin schildert die oftmals brachiale Durch- menfang ging. In solchen Zeiten kommt das Buch von Kristin setzung geostrategischer Interessen und beschreibt die Helberg zu rechten Zeit! Kämpfe um maritime Einflusssphären, um Handelswege Die 1973 in Heilbronn geborene Journalistin Kristin Hel- und Handelsplätze. Das Buch nimmt in einzelnen Kapiteln berg ist eine der wohl besten Kennerinnen Syriens. Bis zum auch sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Facetten sowie Jahr 2008 berichtete sie von Syrien aus über die arabische mentalitätsgeschichtliche Aspekte in den Blick. Am Bei- und islamische Welt für mehrere Hörfunkprogramme, Fern- spiel der Kreuzzüge und der Kriege zwischen Christen und sehsender sowie für diverse Print- und Onlinemedien. Muslimen wird das Verhältnis von Europa und „den Frem- Heute arbeitet die Politikwissenschaftlerin und Nahostex- den“ erörtert. Das vorliegende Buch zeichnet ein farben- pertin in Berlin, wo sie zusammen mit ihren syrischen Ehe- prächtiges Panorama, das nicht nur Geschichtsinteres- mann und ihren Kindern lebt. sierte und historische Laien zur Lektüre einlädt, sondern Das Buch hat drei Teile. Im ersten Teil werden die jüngere auch Besuchern von Malta architektur- und kunsthisto- Geschichte und die aktuelle politische Situation Syriens rische sowie sozialgeschichtliche Einblicke vermittelt. skizziert. Es war schon immer ein Kennzeichen dieses „dy- Das reich bebilderte Buch besticht nicht zuletzt durch eine nastischen Systems“, das es im Kern ein autoritäres Regime verständliche Sprache, die merklich zum Lesevergnügen war und ist. Ein Regime, das bis zum Herrscherwechsel im beiträgt. Jahr 2000 von einer „Stabilität durch Grabesruhe“ – so Siegfried Frech eine Zwischenüberschrift des Buches – geprägt war. Das

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autoritär geführte Einparteienregime ging mit einem Sys- Das Buch bietet Orientierung und gibt überzeugende Ant- tem totaler Überwachung einher. Unverwechselbares worten zugleich. Wichtig ist es noch aus einem weiteren Kennzeichen neopatrimonaler Regime ist die Zentralität Grund: In Zeiten, in denen das Anwachsen rechtspopulisti- des Herrschers. Nachdem die Herrschaft von Hafiz al-As- scher Parteien europaweit eine neue Qualität erreicht hat, sad an seinen Sohn Bashar übergegangen war, wurde Sy- in denen fremdenfeindliche Parolen wieder salonfähig ge- rien von einer kurzfristigen Aufbruchsstimmung erfasst. worden sind und das politische Koordinatensystem euro- Bashar kehrte jedoch rasch zu einer restriktiven Politik im päischer Demokratien sich zu verschieben beginnt, sind Inneren zurück und präsentierte sich als lediglich verjüng- solche unaufgeregten und sachlichen Bücher wichtig und tes autoritäres Regime. Die klassische politikwissenschaft- notwendiger denn je. liche Analyse im ersten Teil des Buches macht zunächst mit Siegfried Frech den Ereignisse in Syrien und der Genese des Krieges ver- traut, unterscheidet die am Konflikt beteiligten Akteure und benennt deren Interessen und Durchsetzungsstrategien. Gotthard Breit – Best of! Auch das kritische Thema der militärischen Interventionen wird nicht ausgespart. Der Krieg in Syrien ist letztlich ein Gotthard Breit: Beleg für die Unfähigkeit der Weltgemeinschaft, diesen Mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Konflikt zu beenden. Die Konfliktanalyse bereitet gleich- Zum Spannungsverhältnis von Rationalität und Emotionalität zeitig den Boden für ein besseres Verständnis für die syri- im Politikunterricht. sche Bevölkerung, für deren Land, Kultur und für deren Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2016. Mentalitäten und Gepflogenheiten. 224 Seiten, 18,20 Euro. Thema des zweiten, umfangreicheren Teils sind Fehlwahr- nehmungen und Missverständnisse der Deutschen und der Politik „bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Syrer. Kristin Helberg analysiert, auf welche Probleme und Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ Dieses Schwierigkeiten Syrer und Deutsche stoßen, wenn sie ver- weithin bekannte Zitat von Max Weber bildet die Klammer suchen, sich einander anzunähern. Ungewohnte und zu- für die in diesem Buch abgedruckten, aktualisierten und nächst fremde Umgangsformen, der deutsche Hang zu neu aufgelegten Beiträge, die Gotthard Breit in einschlä- Verschlossenheit und Individualismus, Familienzusammen- gigen fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Perio- halt, der wohlhabende Westen als Projektionsfläche, Vor- dika und Büchern veröffentlicht hat. In Zeiten der viel ge- stellungen von Moral, Ehe und Liebe in der patriarchali- priesenen Kompetenzorientierung ist die unaufgeregte schen syrischen Gesellschaft mit ihren kollektiven Werten Erinnerung an das im Politikunterricht zumeist vernachläs- sind nur einige der Aspekte, die bei Syrern und Deutschen sigte Spannungsverhältnis von Rationalität und Emotiona- zu gelegentlichen Kulturschocks führen können. Eine ange- lität geradezu wohltuend. In Deutschland gibt es gute messene politische Urteilsbildung setzt bekanntlich Wis- Gründe, dass die Rationalität einen zentralen Stellenwert sen und Sachkenntnis voraus. Dies ist das eigentliche An- im Politikunterricht einnimmt. Zumeist wird die durchaus liegen des zweiten Teils bzw. des gesamten Buches. Der verbreitete Abwehr einer emotional fundierten Auseinan- zweite Teil des Buches präsentiert überaus differenziert dersetzung mit Politik historisch begründet. Schaltete doch Innenansichten von Syrien und spart dabei Vielfalt und der Nationalsozialismus geradezu die Kraft der Rationali- Widersprüchlichkeiten keineswegs aus. Das Kapitel „Män- tät aus und setze perfide auf Stimmungen, „große Gefühle“ nerherrschaft, selektive Korantreue und Feministinnen mit und Irrationalität. Kopftuch“ beispielsweise zeigt, dass eben nicht alle Frauen Das Primat der Rationalität erklärt vielleicht auch den Um- mit einem Kopftuch unterdrückt sind und dass eben nicht stand, dass regelmäßig von verschiedenen Seiten Kritik an alle säkularen Syrer gleichermaßen tolerant oder aufge- der „Verkopfung“ des Politikunterrichts geäußert wird. Wo schlossen sind. Sachlichkeit und politische Urteilsfähigkeit gefordert wird, Im dritten Teil des Buches erörtert und skizziert Kristen Hel- scheinen Emotionen zu stören. Emotionen sind immer noch berg mit Berufung auf wesentliche Eckpunkte des Verfas- – so die Fachdidaktikerin Anja Besand unlängst in einem sungspatriotismus‘ Handlungsmöglichkeiten für die ge- Aufsatz – ein „blinder Fleck der politischen Bildung“. Ist es genwärtige Situation. Man muss sich nicht unbedingt auf aber nicht vielmehr so, dass Rationalität und Emotionalität Dolf Sternberger, der im Jahr 1979 diesen Begriff in der auf komplexe Weise miteinander verflochten sind? Lebt Frankfurter Allgemeinen Zeitung präzisierte, oder Jürgen politische Beteiligung nicht geradezu von Emotionen und Habermas berufen, um zur Einsicht zu gelangen, dass eine Begeisterung? Und wie ist es um demokratische Haltungen vernünftige Integrationspolitik nur auf der Basis des Grund- und Verfassungspatriotismus bestellt? Stellen sich diese gesetzes betrieben werden und auch gelingen kann. Kirs- „automatisch“ und ohne Zutun von Gefühlen ein? Bilden ten Helberg bringt die ambivalente Haltung der deutschen sich politische Interessen und Mündigkeit ohne affektive Bevölkerung mit der Frage „Germanen-Gen oder Grund- Komponenten heraus? gesetz-Deutsche?“ treffend auf den Punkt. Sie plädiert in Gotthard Breit war und ist es in vielen seiner fachdidakti- sieben Thesen überzeugend und mutig für eine offene Ge- schen und unterrichtspraktischen Veröffentlichungen sellschaft, in der Toleranz, Gerechtigkeit, Freiheit und Plu- schon immer ein wichtiges Anliegen, sowohl dem „Augen- ralismus gelebt werden. Dies setzt voraus, dass Probleme maß“ – stellvertretend für die Rationalität – als auch der des Zusammenlebens ehrlich benannt werden, Integration „Leidenschaft“ gerecht zu werden. Hinzu gesellt sich ein aktiv gefördert wird und Dialogbereitschaft auf beiden drittes Anliegen, dass Gotthard Breits Schaffen stets be- Seiten vorhanden ist. stimmt: Wie kann es dem Politikunterricht gelingen, verant-

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wortungsfreudige, eigensinnige, reflektierte und demokra- bermas), ist die Behauptung von Pegida-Anhängern und tisch gesinnte Bürgerinnen und Bürger heranzubilden? Mit anderen Populisten, den Willen des Volkes zu repräsentie- diesen Fragen setzt sich der dritte Teil des Buches ausein- ren, politisch schlicht nicht haltbar. Soll das Augenmaß die ander. Somit ist die Grobgliederung des Buches nahelie- Leidenschaft im Zaum halten, sind reflektierende und inter- gend: Das erste Großkapitel ist der „Leidenschaft“ gewid- ventionsfähige Bürgerinnen und Bürger gefragt. Ein Politik- met, das zweite hingegen dem „Augenmaß“. Und der dritte unterricht mit dieser Zielsetzung wird deshalb die Schüle- Teil nimmt die Förderung einer demokratischen Grundhal- rinnen und Schüler in deliberativen Verfahren schulen und tung in den Blick. üben. Der Kern der Deliberation wurde von Jürgen Haber- Anhand zeitgeschichtlicher und aktueller Beispiele ver- mas in seiner Diskursethik auf die wunderbare, nur auf den deutlicht Gotthard Breit eingangs, dass politische Beteili- ersten Blick widersprüchliche Formel gebracht: „der gung stets an Emotionen gebunden ist. Die sogenannten zwanglose Zwang des besseren Arguments“. Sozialen Bewegungen der 1970er, 1980er und 1990er Im Zentrum vieler fachdidaktischer Aufsätze von Gotthard Jahre (Ökologie-, Frauen-, Friedens- und Dritte-Welt-Be- Breit stehen die Förderung der Empathie und die Befähi- wegungen) sind ohne die emotionale Gemengelage jün- gung zur sozialen Perspektivenübernahme. Die dafür wohl gerer Generationen und Alterskohorten nicht zu verstehen geeignetste Methode ist die Fallanalyse. Im Mittelpunkt und schlüssig zu interpretieren. Auch ein Blick auf aktuelle einer Unterrichtseinheit, deren Thema die Vereinbarkeit Protestbewegungen zeigt die Bedeutung von gefühlsge- von Familie und Beruf insbesondere für Frauen ist, werden sättigten Einstellungen. Schon der Begriff „Wutbürger“, sowohl der konkrete unterrichtsmethodische Gang einer der Gegnerinnen und Gegner des Bauprojekts Stuttgart Fallanalyse als auch die dazugehörigen Unterrichtsmate- 21 charakterisieren soll, ist ja vielsagend. Blickt man auf rialien vorgestellt. Angesichts der Positionen zweier die euphemistisch als Abendspaziergänge bezeichneten Frauen, einer Nobelpreisträgerin und einer Nachwuchs- Demonstrationen der Pegida-Anhänger genügen nur we- forscherin, werden Leserinnen und Leser durchaus die kriti- nige Fernsehbilder, um die Rolle von Skepsis, Wut, Ärger, sche Frage stellen, wie Frauen in „Normalarbeitsverhält- Hass und Frustrationen aufzuzeigen. Gerade das letzte nissen“ oder in prekären Lebenslagen diesen Spagat Beispiel ist ein Beleg, wohin ein Übermaß an Leidenschaft schaffen (oder eben nicht schaffen). – gepaart mit mangelnder politischer Urteilsfähigkeit – Das zweite, dem Weberschen „Augenmaß“ verpflichtete führen kann. Die selbstgefällig skandierte Parole „Wir sind Kapitel geht der Frage nach, wie im Politikunterricht das das Volk!“ ist im Grunde antipluralistisch und letztlich de- Politische in wissenschaftlich hinreichend fundierter und mokratiefeindlich. Heterogenität und die Notwendigkeit, fachdidaktisch-methodisch angemessener Weise reprä- Kompromisse zu schließen, werden vehement ausgeblen- sentiert wird. Unbestritten ist in der politischen Didaktik, det. Weil nun mal das „Volk im Plural auftritt“ (Jürgen Ha- dass das Politische den inhaltlichen Kern des Politikunter-

Ein Angebot der Landeszentrale für politische Bildung für Schulen

Planspiele ermöglichen offene Lern- Die Planspiele der LpB: Ansprechpartner prozesse und bieten einen Einblick • vermitteln, wie Politik funktioniert. • Außenstelle Freiburg für Schulen in komplexe Zusammenhänge durch • zielen auf die Aktivierung der im Regierungsbezirk Freiburg nacherleben und verstehen. Das Ziel Teilnehmer/-innen ab. www.lpb-freiburg.de von Planspielen ist, Teilnehmenden • ermöglichen offene Lernprozesse. politische Prozesse näher zu bringen, • Außenstelle Heidelberg für Schulen indem sie diese selbst nachspielen. • haben einen hohen Alltagsbezug. in den Regierungsbezirken In den Außenstellen Heidelberg und • verschaffen ein nachhaltiges Karlsruhe und Stuttgart Freiburg und im Fachbereich „Poli- Verständnis von Demokratie. www.lpb-heidelberg.de tische Tage“ werden Planspiele zu • sind in den Schulunterricht • Fachbereich „Politische Tage“ für verschiedenen Themen entwickelt integrierbar. Schulen im Regierungsbezirk und kommen bei „Politischen Tagen“ • modellieren einen Ausschnitt aus Tübingen. www.lpb-bw.de/ für Schulklassen zum Einsatz. einer komplexen Realität. politische-tage-rb-tuebingen.html Zu diesem Zweck hat die LpB die Heft- • und simulieren kompetenz- reihe „Planspiele“ ins Leben gerufen. orientiert politische Prozesse.

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richts ausmacht. Schülerinnen und Schüler sollen eine Vor- größer die Wahrscheinlichkeit, dass Konflikte auftreten. stellung davon gewinnen, was Politik überhaupt ist. Hierzu Schülerinnen und Schüler benötigen daher die Fähigkeit, benötigen Lehrerinnen und Lehrer praktikable Politikbe- Konflikte zu akzeptieren, sie auszuhalten und nach Regeln griffe, die ihnen dabei helfen, die Unterrichtsvorbereitung des sozialen bzw. fairen Konfliktaustrags zu suchen. (z.B. die Sachanalyse) und die Unterrichtsdurchführung zu Auf der Wissensebene kann die Bedeutung demokratischer bewältigen. In der Politikdidaktik haben sich hierfür die Grundwerte (Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und So- drei Dimensionen des Politischen (polity, politics, policy) lidarität) nachvollzogen werden, wenn demokratische Sys- sowie der Politikzyklus als Analyseinstrumente etabliert. teme mit autokratisch regierten, autoritären oder gar dikta- Trotz aller Unterschiedlichkeit der „didaktischen Schulen“ torischen Systemen verglichen werden. Die Bedeutung von und auch angesichts der Diskurse um Basiskonzepte und „Selbstverständlichkeiten“ demokratischer Gesellschaften Kompetenzmodell sind die Kategorien des Politikzyklus‘ wird in der Konfrontation mit der Barbarei der NS-Zeit of- und die Dimensionen des Politischen (immer noch) praxis- fenkundig. Und letztlich drängt sich dann im Politikunter- tauglich. Beide Politikbegriffe sind ein probates Gegen- richt auch die Frage auf, wohin obrigkeitsstaatliche Gesin- mittel angesichts weit verbreiteter Vorstellungen von Poli- nung und Mitläufertum führen können. Auch zu diesem Fra- tik. (Mit dem Augenmaß ist es aber nicht immer weit her! genkomplex stellt Gotthard Breit konkrete Überlegungen Wagt man einen Blick auf den eher populärwissenschaft- an und konkretisiert diese wiederum an einem Fall. lichen Buchmarkt oder in so manche Talkshow, drängt sich Gotthard Breit erinnert im abschließenden Kapitel ein- der Eindruck auf, dass „Parteien- und Politiker-Bashing“ die dringlich daran, dass im Mittelpunkt des Politikunterrichts Auflagenzahlen und Einschaltquoten steigen lässt.) Gott- nicht die employability stehen darf, sondern der Erwerb von hard Breit verdeutlicht die Praktikabilität des Politikzyklus‘ Fachwissen und die Herausbildung politischer Urteilsfä- an mehreren Beispielen (z.B. die Wahlen und Regierungs- higkeit zugleich. Dafür bedarf es engagierter Politiklehre- bildung 2010 in Nordrhein-Westfalen; das irische Nein am rinnen und Politiklehrer, die für ihre Fach „brennen“. Politik- 12. Juni 2008). lehrerinnen und -lehrer müssen sich als Personen präsen- Ein weiterer Beitrag zur EU-Bürgerschaft skizziert die Kom- tieren, die kein beliebiges Fach unterrichten, sondern plexität, die vielen Gegenständen des Politikunterrichts in- selbst Anteil am politischen (Zeit-)Geschehen nehmen, sich newohnt und die Politiklehrerinnen und -lehrer nicht igno- ein eigenes Urteil bilden, Position beziehen und sich ggf. rieren können. In dem sich anschließenden Beitrag „Leben politisch engagieren. Schülerinnen und Schüler wollen online – eine Herausforderung für den Politikunterricht“ nicht nur wissen, was ihre Lehrerinnen und Lehrer in poli- werden die Gefahren der „Turbobildung“ durch digitale tisch kontroversen Fragen denken, sie haben auch ein Medien und soziale Netzwerke aufgezeigt. Für viele Schü- Recht darauf, wenn von ihnen erwartet wird, dass sie zu lerinnen und Schüler sind die sozialen Medien (Facebook, politischen Fragen Stellung nehmen, sich eine eigene Mei- Snapchat, Instagram, WhatsApp oder Twitter) das Tor zur nung bilden und politische Urteile fällen sollen. Unterstellt Welt. 37 Prozent der unter 35-Jährigen beziehen einen Teil man eine reziproke Beziehung, geht es letztlich darum, ei- ihrer Nachrichten über das Netzwerk Facebook. Mit Blick nen demokratischen Erziehungsstil nicht nur zu postulie- auf Texte, Berichte und Kommentare wird allerdings die ren, sondern auch zu praktizieren. Frage der Glaubwürdigkeit immer wichtiger. Viele Jugend- Das Buch überzeugt nicht zuletzt durch die vielen Beispiele liche glauben, dass die Nachrichten, die sie über die sozi- und die treffenden Zitate, die literarischen Werken ent- alen Medien empfangen, glaubwürdig sind. Da aber nie- nommen wurden. Die Zitate regen zum Innehalten und zum mand die Nachrichtentexte überprüft, schießen die ver- eigenständigen Nachdenken an. Das eine oder andere Zi- rücktesten Theorien ins Kraut. Hier gilt es, mit den sozialen tat dient als „ironisches Einsprengsel“ und ist – bei aller Medien kritisch umzugehen. Gotthard Breit plädiert daher Ernsthaftigkeit des Anliegens – ein Beleg für die gelassene für einen „entschleunigten“ Politikunterricht, in dem Schüle- Perspektive des Autors. Die verständliche Sprache ist rinnen, Schüler und Lehrkräfte achtsamer mit der Zeit um- ebenso zu loben wie die Umschlaggestaltung. Schmückt gehen und sich auf die Eigenheiten und Komplexität der doch die erste Umschlagseite ein Bildausschnitt, der an Inhalte einlassen. Roy Lichtensteins berühmtes Gemälde „Ohhh…Alright…“ Im dritten Kapitel schließlich geht es um den Aufbau und aus dem Jahr 1964 erinnert. die Förderung einer demokratischen Grundhaltung sowie Siegfried Frech um soziale Lernprozesse, die Jugendlichen dabei helfen, demokratische Grundwerte beim Zusammenleben mit an- deren zu achten. Insgesamt – so der Vorwurf von Gotthard Noch eine Kohl-Biographie? Breit – denken die fachdidaktische Zunft sowie Lehrerinnen und Lehrer zu wenig über die habituellen Dispositionen Gernot Sittner (hrsg. von): nach. Habituelle Disposition meint die innere Einstellung, Helmut Kohl und der Mantel der Geschichte. die Grundhaltungen und Grundüberzeugungen, die das Süddeutsche Zeitung Edition, München 2016. politische Denken und Handeln bestimmen. Die Bedeutung 416 Seiten, 24,90 Euro. habitueller Dispositionen zeigt sich schon im (alltäglichen) Politikunterricht: Politische Mündigkeit der Schülerinnen Anlässlich seines 70-jährigen Jubiläums konnte das Wo- und Schüler äußert sich u.a. in der eigenständigen politi- chenmagazin Der Spiegel stolze 75 Spiegel-Titel vorwei- schen Urteilsbildung der Lernenden. Die Urteile der Schü- sen, auf denen Helmut Kohl prangte. Der von Gernot Sitt- lerinnen und Schüler können verschieden sein. Je mehr sie ner, ehemaliger Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung sich unterscheiden bzw. voneinander abweichen, desto (SZ), herausgegebene opulente Band „Helmut Kohl und

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der Mantel der Geschichte“ präsentiert auf den Seiten 152 In den reich bebilderten Band sind Einblicke in Kohls Privat- bis 155 immerhin eine stolze Auswahl von 48 Titelblättern und Familienleben eingestreut. Klischeebehaftete Famili- des Wochenmagazins, bei denen Helmut Kohl als Blick- enbilder mit Frau Hannelore und den Söhnen Peter und fang oder thematischer Aufhänger herhalten musste. Das Walter vermitteln den Eindruck einer harmonischen Fami- etwas andere Buch über den „Riesen aus Oggersheim“, lie. Die „Bildergalerie“ reicht hierbei von der nachmittägli- dessen „Ich, Helmut Kohl…“ zumeist den Satzbau domi- chen Hausmusik in Oggersheim bis zum Urlaub in St. Gil- nierte, präsentiert keine neue Sicht auf Helmut Kohl. gen am Wolfgangsee, dem langjährigen Urlaubsdomizil Es ist eine an Kohls Biografie sich orientierende und die der Kohls. Viele Bilder sind gleichsam eine visuelle Lobes- Karrierestufen fokussierende Zusammenschau von SZ-Arti- hymne auf das klassische Familienmodell. Natürlich dürfen keln – allesamt von renommierten Redaktionsmitgliedern auch kulinarische Pfälzer Spezialitäten aus dem von Han- der SZ geschrieben. Das Lese- und Bilderbuch ruft die bio- nelore Kohl geschriebenen Kochbuch „Kulinarische Reise grafischen Stationen und den politischen Werdegang durch deutsche Lande“ nicht fehlen. Platz 1 nimmt der be- Kohls überaus kurzweilig in Erinnerung. kannte „Pfälzer Saumagen“ ein. (Hobbyköche finden das Allein schon die erste Umschlagseite ist ein Musterbeispiel Rezept aus der Feder von Hannelore Koch auf Seite 46 des für ein gelungenes Layout: Auf weißem Grund präsentieren Buches.) Diversen Staatsgästen kam bekanntlich das Privi- sich Titel und Untertitel des Buches in Schwarz-Rot-Gelb (= leg zu, gemeinsam mit Helmut Kohl im Deidesheimer Hof Gold). Die gesamte Aufmachung des Bandes macht Lust kulinarische Gaumenfreuden aus- und erleben zu dürfen. aufs Blättern und Stöbern, aufs Innehalten und die gründ- Klaus Dreher schildert die „Tricks des großen Steuermanns“, liche Lektüre der einzelnen, zumeist nur wenige Seiten um- der sich mittels ausgeklügelter Strategien und sorgfältiger fassenden Beiträge. Immer wieder entlocken die in das Vorbereitungen den Weg von der Staatskanzlei in Mainz Buch eingestreuten Kohl-Zitate, die einzelnen Kapiteln über den Bundesvorsitz der CDU bis zur Wahl zum Bun- ganzseitig vorangestellt werden, ein Schmunzeln. Nicht deskanzler im Jahr 1982 ebnete. Angesichts seiner Kar- alle haben es zu solcher Berühmtheit gebracht wie die riere strahlte Kohl auf CDU-Parteitagen lange Jahre eine „blühenden Landschaften“ oder die Rede von „der Gnade Aura absoluter Selbstsicherheit und Selbstgefälligkeit aus der späteren Geburt“ – lesenswert sind die zahlreichen Zi- – getreu dem Motto „Alle Macht liegt beim Kanzler“ (Hans tate allemal. Die 16-jährige Kanzlerschaft Kohls bot ja hin- Ulrich Kempski). Obwohl Kohls Rhetorik keine sonderlich reichend Stoff für Satire und Kabarett. So sind neben der großen geistigen Schatten warf, dominierte er in patriar- berühmten „Birne“ von Hans Traxler auch 24 Titelblätter chalischer Manier Partei und Regierung. Dies spiegelt sich des Satiremagazins Titanic ein weiterer Blickfang (Seiten in einer konsequenten Imagepflege und omnipotenten 156–157). Wahlkampfrhetorik wider: „Ich stehe auf den Schultern von Keinem anderen Kanzler ist von Anfang an derart lange Hunderttausenden“ – so Kohls Aussage im Wahlkampf des Spott und Verachtung entgegengebracht worden. So wur- Jahres 1994. Angesichts des massigen 1,93 großen Politi- den über Kohl, ähnlich wie über Günther H. Oettinger, Kü- kers mit einem zeitweiligen Gewicht von zweieinhalb Zent- bel der Häme ausgeschüttet angesichts seiner unzurei- nern ist dies ein physikalisch durchaus angemessener Satz. chenden Englischkenntnisse. „Schon wieder 10 Gramm Der Band ist gleichzeitig auch ein Psychogramm der Macht. leichter“ – so titelte Titanic im Januar 1992. Die barocke Fi- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zufolge gehörten Brüll- gur des Genussmenschen Kohl war eine ständige Ziel- orgien zu Kohls Fitness- und Gesundheitsprogramm. Amü- scheibe beißenden Humors. Sein massiger, gelegentlich sant gerät auch die Beschreibung seiner Büroleiterin Ju- phlegmatisch wirkender und bräsiger Habitus gipfelte liane Weber. Der Zerberus, der den Zugang zu Kohls Büro denn auch in der „Birne“ – jener emblematischen Karikatur bewachte, platzierte stets überaus diskret Naschwerk im der 1980er und 1990er Jahre. Büro, und durch ihre Sammlung von Elefantenfiguren aller Die chronologisch angeordneten Beiträge sind in der Zu- Größen schuf sie ein leicht verkitschtes Ambiente im Vor- sammenschau ein wohl einzigartige Charakterstudie. So zimmer der Macht. porträtiert der sprachmächtige Heribert Prantl in einem Al- Umfangreiche Kapitel nehmen den „Kanzler der Einheit“ in bumblatt zum 70. Geburtstag von Helmut Kohl den „dies- den Blick. Die Wiedervereinigung des geteilten Deutsch- seitsfreudigen und gemüthaften“ Pfälzer samt seinem poli- lands ist in der europäischen Geschichte wohl ein einzig- tischen Credo: „Und dann haben wir geredet (…), wie halt artiger Vorgang: Die Wiederherstellung eines Staates mit normale Leute miteinander reden“. Der Mikrokosmos wird Billigung, wenngleich nicht zum Wohlgefallen so mancher gleichsam zur Vorlage für die Welt der großen Politik, für Beteiligter. Trotz allem Misstrauen war an Kohls schlichten die Gespräche mit Francois Mitterand, Michail Gor- Bekundungen der „Westbindung“ und Anbindung an „Eur- batschow, Ronald Reagan, George H. W. Bush und Bill opa“ nicht zu zweifeln. Der „umsichtige Riese“ (Hans-Peter Clinton. Angesichts solcher Bekenntnisse ist es allerdings Schwarz) war nicht nur Innenpolitiker. Er hat sich in den voreilig, Kohl politische Naivität oder mangelnde Weit- 1980er und 1990er Jahren auch als Außenpolitiker einen sicht zu unterstellen. In dem Beitrag „Staatsmann, Schlapp- Namen gemacht. Der überzeugte Verfechter des Europa- maul und Übelnehmer“ beschreibt Hans Werner Kilz nüch- gedankens („Ich möchte die Einigung Europas, weil ich es tern und analytisch klar, wie Kohl Parteikarrieren beför- meiner Mutter versprochen habe.“) hat sich nicht nur „selbst derte und, wenn die sie dem eigenen Machterhalt im Wege in die Geschichte eingeschrieben“ (Heribert Prantl), es ist standen, abrupt beendete. Sein Paladin Heiner Geißler ihm mit seiner Europapolitik gelungen, den Kontinent mit musste dies ebenso erfahren wie Lothar Späth, Norbert der anfänglich argwöhnisch betrachteten Wiedervereini- Blüm oder Wolfgang Schäuble. gung zu versöhnen.

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Die letzten Kapitel schildern, wie der „Sonnenglanz des Der Band garantiert ein Lesevergnügen der besonderen Einheitskanzlers“ (Hans Werner Kilz) immer mehr verblas- Art. Immer wieder sind es die reich bebilderten Einspreng- ste. Nach Bekanntwerden der Spendenaffäre (1999) und sel, die das Buch so abwechslungsreich machen. Abgebil- dem aus dieser Affäre resultierenden Untersuchungsaus- det ist z.B. die unvergessliche Strickjacke, die heute im Bon- schuss (2000) war Kohl ein „gebrochener Riese“ (Heribert ner Haus der Geschichte einen Ehrenplatz gefunden hat, Prantl), misstrauisch, überall Verschwörungen und Un- und die Helmut Kohl am 11. Februar 1990 getragen haben dankbarkeit vermutend. Helmut Kohl, der die CDU ein Vier- soll, an dem jenes denkwürdige Gespräch mit Michail teljahrhundert beherrschte und 16 Jahre lang Bundeskanz- Gorbatschow stattfand. Wahlplakate erinnern an die ler war, hat sich in jenen Jahren in einen tief gekränkten Landtags- und Bundestagswahlkämpfe der Jahre 1967 bis und in seinem Stolz verletzten Altkanzler verwandelt. 1998 und beschwören erneut den Zeitgeist der „geistig- Geschildert wird auf den letzten Seiten des Buches, wie moralischen Wende“ in „diesem unseren Lande“ herauf. Zi- Maike Richter, Kohls zweite Ehefrau, im Bungalow in Og- tate von Kohl über langjährige Weggefährten – u.a. auch gersheim Kohls Vergangenheit redigiert und dafür auch über „das Mädchen“ (Angela Merkel) –, aber auch gut und mit ehemaligen Mitarbeitern, so mit dem langjährigen ge- weniger gut gemeinte Zitate über ihn erhöhen das Lesever- treuen Fahrer Kohls, und seinen Söhnen Walter und Peter gnügen merklich und bringen so manches, vielleicht längst bricht. Gerade die Lektüre dieses letzten Kapitels vermag Vergessene wieder in Erinnerung. wohl auch Kohls Kritiker etwas milder stimmen. Siegfried Frech

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