Walter Voigtländer: Teichiussa 2006-1-034

Voigtländer, Walter: Teichiussa. Näherung und für die Beobachtung von Akkulturationspro- Wirklichkeit. Rahden in Westfalen: VML Verlag zessen. Voigtländer kam zudem der durch Marie Leidorf 2004. ISBN: 3-89646-006-4; XI, zunehmenden Tourismus und Intensivierung 386 S., 37 Abb., 177 Taf. der Landwirtschaft bedingten Zerstörung der Kulturlandschaft auf der milesischen Halb- Rezensiert von: Oliver Hülden, Anatolian Ci- insel um wenige Jahre zuvor (vgl. etwa S. vilizations Institute, Koç University, 374, Anm. 526). Aus den genannten Gründen ist eine recht hohe Erwartungshaltung gegen- Die Siedlung Teichiussa im Südosten der mi- über der abschließenden Publikation seiner lesischen Halbinsel steht im Zentrum der Stu- Forschungen zu Teichiussa gerechtfertigt. die von Walter Voigtländer. Von 1985 bis 1989 Der geradezu programmatische Untertitel hat er dort Feldforschungen durchgeführt, de- „Näherung und Wirklichkeit“ macht jedoch ren erste Ergebnisse er in mehreren Aufsätzen stutzig, vermag aber durchaus das zu treffen, vorgelegt hat.1 Teichiussa ist wohl hauptsäch- was Voigtländer auf den folgenden 386 Sei- lich als Herkunftsort des Branchiden Chares ten vor seiner Leserschaft ausbreitet: Teichi- geläufig, dessen marmorne Sitzfigur im Bri- ussa und die Befunde in seinem Umland die- tish Museum aufbewahrt wird. Die Siedlung nen ihm lediglich als Aufhänger für eine Rei- selbst dürfte dagegen weitgehend unbekannt he von grundsätzlichen Überlegungen zu ei- sein, obgleich es sich um einen bedeutenden nem vielfältigen Themenrepertoire. Voigtlän- Fundort an der kleinasiatischen Südwestküs- ders Ziel besteht nach eigenem Bekunden dar- te handelt.2 So liegt mit „Altteichiussa“ auf in, „erdachte Grenzen aufzuheben, Überse- der Halbinsel Kömür Adası die neben Mi- henes aufzudecken, neue Wege der Archäo- let selbst wohl wichtigste früh- und mittel- logie zu verschütteten und verstellten Kon- bronzezeitliche Siedlung der Milesia vor. Auf texten einer komplexen ägäischen Kulturge- diese folgt auf der unweit entfernten Halbin- schichte zu erkunden und über modifizierte sel Saplı Adası eine befestigte Kleinstadt, die Hermeneutik [. . . ] sich vorantiken und anti- wohl vom späten 8. bis in die Mitte des 5. ken Wirklichkeiten zu nähern“ (S. 286). Der Jahrhunderts v.Chr. bewohnt war, um schließ- Weg, den er dazu einschlägt, verlangt dem Le- lich womöglich weiter westlich neugegrün- ser allerdings ein hohes Maß an Geduld und det zu werden (diese Siedlung ist heute über- bisweilen auch an Nachsicht ab. Dies hat sei- baut). Dem archaischen und klassischen Tei- ne Ursache einerseits darin, dass Voigtländer chiussa lassen sich zudem zahlreiche Gehöf- seine Studie aus Manuskripten zusammen- te, Hirtenbauten und Gräber in der Umge- gefügt hat (S. 2), die zu verschiedenen Zei- bung zuordnen, die in einem deutlichen Ge- ten entstanden sind und zudem unterschied- gensatz zur sonstigen gleichzeitigen Besied- liche Themenkomplexe berühren, deren Ver- lung der Milesia stehen und wahrscheinlich bindung miteinander nur mit Mühe gelingt. mit karischen Bevölkerungsteilen in Verbin- Andererseits stellt der Autor zahllose Hypo- dung gebracht werden können.3 Damit liegt thesen auf, die zumindest als gewagt, mitun- ein Denkmälerbestand vor, der die Nahtstel- ter aber als abstrus bezeichnet werden kön- le zwischen griechischer und indigener Be- nen. Er scheint sich dessen jedoch bewusst völkerung bezeichnet und für die Kenntnis zu sein, denn schon in seinem Prolog wendet des „Karischen“ ebenso bedeutsam ist wie er sich prophylaktisch an den kritischen Le- ser und potentiellen Rezensenten (S. 1), was 1 Vgl. etwa Voigtländer, Walter, Umrisse eines vor- und sich im Verlauf des Buches mit Regelmäßig- frühgeschichtlichen Zentrums an der karisch-ionischen keit wiederholt (z.B. S. 146, 267, 293). In die- Küste. Erster Vorbericht, Survey 1984, in: Archäologi- sem Kontext ist wohl auch die Behauptung zu scher Anzeiger (1986), S. 613-667; Ders., Akbük - Tei- chiussa. Zweiter Vorbericht - Survey 1985/86, in: Ar- betrachten, die „Griechen stellen den großen chäologischer Anzeiger (1988), S. 568-625. Karer [Thales] seit Platon als tumben Toren 2 Vgl. Lohmann, Hans, Survey in der Chora von Milet. dar, indem sie gleich befangenen Rezensen- Vorbericht über die Kampagnen der Jahre 1994 und 1995, in: Archäologischer Anzeiger (1997), S. 288-290. ten Leistungen mißliebiger Menschen zu be- 3 Vgl. Lohmann, Hans, Survey in der Chora von Milet. einträchtigen suchen“ (S. 171). Nicht zuletzt Vorbericht über die Kampagnen der Jahre 1996 und diese Aussage, die in gewisser Weise als sym- 1997, in: Archäologischer Anzeiger (1999), S. 446f.

© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. ptomatisch für das gesamte Werk betrachtet seits nach Osten, also nach Lydien und Lyki- werden kann, dürfte erkennen lassen, dass ei- en, und andererseits nach Westen, auf einer ne ernsthafte Auseinandersetzung mit Voigt- westlichen „Megaron-Route“, auf die ägäi- länders Hypothesen kaum möglich ist. Auch schen Inseln und die Peloponnes ausgebrei- wenn an der einen oder anderen Stelle durch- tet haben (S. 106f.). Im Anschluss macht sich aus diskussionswürdige Ansätze zu finden Voigtländer auf die ergebnislose Suche nach sind, verlieren sie sich doch nahezu vollstän- Anknüpfungspunkten für die palatiale Archi- dig in einer Mischung aus bisweilen recht tektur des bronzezeitlichen . Die- bizarren Denkansätzen und - aufgrund ei- sen weitgehend zusammenhanglosen Exkur- nes sparsamen Anmerkungsapparats - häufig sen folgen schließlich Beschreibungen und In- nicht nachprüfbaren Behauptungen. Insofern terpretationen der aufgrund des keramischen soll im Folgenden lediglich eine Inhaltsanga- Befundes in die Periode SM I datierten Bau- be gegeben werden, die weitgehend auf kor- reste von „Altteichiussa“. Voigtländer vermag rigierende oder wertende Kommentare ver- es hier weder, einen klaren Eindruck von die- zichtet. sem Fundplatz zu vermitteln, noch überzeugt Kapitel I ist mit „Spurensuche“ überschrie- sein Vorschlag, zwei unterschiedliche Bevöl- ben. Auf eine knappe Einführung, in der sich kerungsgruppen zu scheiden, von denen die Voigtländer mit der historischen Entwick- eine minoischer Herkunft sein soll (S. 130). lung Kleinasiens, damit zusammenhängen- Sein drittes Kapitel ist dem eisenzeitlichen den chronologischen Fragen und einer Skiz- Teichiussa gewidmet. Zunächst stellt Voigt- zierung seiner weiteren Vorgehensweise be- länder Mutmaßungen zur Herkunft und Zu- schäftigt, folgt ein Abschnitt zu Herodot und sammensetzung der dortigen Bevölkerung dessen Verhältnis zu Karien. Herodot wird als an. Dann vermittelt er einen Eindruck von Exponent einer karerfeindlichen Gesinnung den Bauten und den Funden, die, wie gesagt, entlarvt, die bis heute ihre Nachwirkungen vom späten 8. bis vor die Mitte des 5. Jahr- zeige und daher auch den objektiven Blick hunderts v.Chr. reichen. Der Siedlung lassen der Forschung auf Karien verstelle (bes. S. sich zudem zwei Bestattungsareale in Ufernä- 22f.). Daran schließen sich diffuse Überlegun- he zuordnen, wobei die in den Gräbern der gen zur Chronologie der späten Bronze- und älteren Nekropole A gefundenen Gefäße of- frühen Eisenzeit sowie zu den damaligen Mi- fensichtlich etwas älter als die früheste Sied- grationsbewegungen an. Im Anschluss wen- lungskeramik sind. Die Gräber von Nekropo- det sich der Autor der als karisch geltenden le B lassen sich den jüngeren Jahrzehnten des Göttin Hekate zu, in deren antiker Überliefe- 6. Jahrhunderts v.Chr. zuordnen. An Grabty- rung durch die griechische Tradition er wie- pen finden sich insgesamt Urnen- und Pithos- derum antikarische Züge zu erkennen glaubt bestattungen, Steinkistengräber, kleine Tumu- (S. 47). Zudem bestehe ein Zusammenhang li, Felsspaltengräber sowie ein Tonsarkophag. zwischen der Gottheit, die er als „zeitlose Ma- Im Anschluss verläßt Voigtländer die Sied- nifestation im ägäischen Zeitraum“ betrachtet lung schon wieder und lässt erneut zwei Ex- (S. 46), dem bronzezeitlichen Kreta, dem früh- kurse folgen, die sich mit altägäischen Maß- archaischen Böotien und der Küste Kariens (S. einheiten und dem Naturphilosophen Tha- 60), ein Gedanke, der später nochmals aufge- les beschäftigen. Dann wendet sich der Au- griffen wird (Appendix A). tor den Befunden des Umlandes zu, wobei Bevor sich Voigtländer in seinem zweiten sich insbesondere das Problem stellt, dass er Kapitel endlich mit Teichiussa selbst beschäf- weder über deren genaue Lage noch über tigt, verliert er sich in eher allgemeinen Aus- deren konkrete Beziehung zueinander Aus- führungen zur frühbronzezeitlichen Fundke- kunft gibt. Voigtländer behandelt zwei archai- ramik. Dem schließen sich etwas abrupt eini- sche Gehöfte, von denen er das eine aufgrund ge Überlegungen zum Megaron und der Ver- bestimmter Maßverhältnisse als „Thalesbau“ breitung des zugrunde liegenden Baugedan- und das andere als „Pythagorasbau“ bezeich- kens an, wobei er sich auf dessen Herleitung net. Ferner spekuliert er über deren mögli- aus dem bulgarischen Raum festlegt (etwa S. che sepulkrale oder sakrale Funktion (etwa S. 73). Von dort aus soll sich der Gedanke einer- 191f.).

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Es schließen sich die Beschreibungen wei- Auch wenn die Auflistung der Funde als ei- terer Gehöfte und von Hirtenbauten an; dar- genwillig bezeichnet werden kann, lässt sich über hinaus erfolgt ein Überblick über die als doch in Kombination mit den Umzeichnun- Hochgräber bezeichneten terrassen- und po- gen und Fotos ein recht guter Überblick von diumsartigen Grabanlagen der Region. Insbe- ihnen gewinnen. Das abschließende Kapitel V sondere diese behandelt Voigtländer ausführ- beinhaltet drei Appendices, die nur in vagem lich und macht sich Gedanken über den an- Zusammenhang mit Teichiussa stehen. Ap- geblich singulären Grabtyp. Die Suche nach pendix A beschäftigt sich mit dem Zeushei- Vergleichen führt ihn über Gavurkalesi bis ligtum von Panamara, gefolgt von eher unge- nach Kreta, wobei er glaubt, von dortigen ordneten Überlegungen zur Entwicklung von bronzezeitlichen Gräbern die Ursprünge der terrassenartigen Temene in Karien, die unter Bauidee herleiten zu können (S. 271f.).4 Es anderem nach , und Strato- folgen Überlegungen zu Steinwällen, -haufen nikeia führen. Den Abschluss bildet der aben- und -halden in der Milesia5, zu geometrischen teuerliche Versuch, die Karer als Philanthro- Tumuli und zu jüngeren Gräbern, darunter pen im Gegensatz zu den intoleranten Athe- der bekannte hellenistische Grabbau Ta Mar- nern zu beschreiben und über Hekate noch- mara. Verfehlt ist die Datierung und Deutung mals die Verbindung zwischen Karien und eines gewiss vorkaiserzeitlichen, wenn nicht dem Böotien Hesiods herzustellen (S. 343). vorhellenistischen Steinkistengrabes als Grab Appendix B versucht über die Mythologie eines kirchlichen Würdenträgers byzantini- den karisch-lykischen Raum mit der Argolis scher Zeit (S. 283-286). Das in eine Steinplat- zu verbinden, und die letzte Appendix C ent- te eingemeißelte Kreuz stammt mit Sicher- hält noch einige zusammenhanglose Gedan- heit von einer sekundären Nutzung und kann ken zum Apollonheiligtum von . auch nicht als Hinweis auf eine priesterliche Nach dieser Inhaltsangabe ist es wohl ver- Funktion des Bestatteten verstanden werden. ständlich, wenn am Ende beim Rezensenten Abrupt erfolgt der Übergang zu einem Ex- eine gewisse Ratlosigkeit und Resignation zu- kurs zu den Branchiden, wobei Voigtländer rückbleibt. Darüber können auch die durch- zu dem Schluss kommt, das Gebiet um Tei- wegs guten Fotos und Pläne nicht weghelfen. chiussa habe als „Nutzungs- und Rückzugs- Die neuen Wege der Archäologie, die Walter gebiet dieser Priesterkaste“ gedient (S. 288). Voigtländer zu beschreiten glaubt, haben sich Ein Katalog der zumeist keramischen zwar als lang und verzweigt erwiesen, aber Kleinfunde, die von der Bronzezeit bis in es werden einsame Wege bleiben. Bedauerlich die klassische Zeit reichen, bildet Kapitel IV. ist, dass die Chance vertan wurde, diese so bedeutenden bronze- wie früheisenzeitlichen 4 Dass aus Lykien schon seit geraumer Zeit nicht nur ver- Siedlungsspuren an der kleinasiatischen Süd- gleichbare, sondern auch zeitlich nahe stehende Grä- ber bekannt sind, die bei der Beurteilung der kari- westküste adäquat zu analysieren und zu pu- schen Pendants nicht unberücksichtigt bleiben können, blizieren. ist Voigtländer offenbar entgangen. Zumindest das zu- nächst für spätbronzezeitlich gehaltene terrassenartige HistLit 2006-1-034 / Oliver Hülden über Grab von Seyret hätte ihm bekannt sein können; zu ihm vgl.: Borchhardt, Jürgen; Wurster, Wolfgang, Megalith- Voigtländer, Walter: Teichiussa. Näherung und Gräber in Lykien, in: Archäologischer Anzeiger (1974), Wirklichkeit. Rahden in Westfalen 2004. In: H- S. 518-520 u. 536. Mittlerweile legen zahlreiche Vertre- Soz-u-Kult 16.01.2006. ter dieses Grabtyps, der in archaischer und klassischer Zeit in Zentrallykien verbreitet war, eine ebensolche Datierung für dieses Grab nahe. Eine ausführliche Dar- stellung des Grabtyps (mit älterer Literatur) bietet in Kürze Hülden, Oliver, Gräber und Grabtypen im Ber- gland von Yavu (Zentrallykien). Studien zur antiken Grabkultur in Lykien (im Druck). 5 Eine Auseinandersetzung mit den Untersuchungen von Gregor und Barbara Borg zu diesem Phänomen (Die unsichtbaren Steinbrüche. Zur Bausteinproveni- enz des Apollon-Heiligtums von Didyma, Antike Welt 29. 6, 1998, S. 509-518) fehlt ebenso wie eine solche mit den Ergebnissen des Surveys von Hans Lohmann (vgl. Anm. 2 und 3).

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