„Eine andere Zeit“

Ein rauschender Sieg trägt Gerhard Schröder ins Kanzleramt. Noch in der Wahlnacht begann das Pokerspiel mit den Grünen. Weder Schäuble noch Rühe bestreiten Rot-Grün das Recht auf Regierungsbildung – ein Machtwechsel ohne alle Hysterie, von der Union ergeben hingenommen.

Sieger Schröder „Ende einer Epoche“

6 der spiegel wahl 1998 Wahl ’98 DER MACHTWECHSEL

unkt. Aus. Feierabend. Es ist die von ihm geschmähte Medienwelt, die 40,9 PHelmut Kohl am Sonntag abend mit unbarmherziger Härte klarmacht, was Verlieren heißt. Gerade ist der CDU-Chef, 35,2 Bundeskanzler seit 16 Jahren, vor die Mikrofone im Adenauer-Haus getreten Wahlergebnis und hat zu reden angehoben, da wird Vorläufiges amtliches Endergebnis der er von den ARD-Sendern abrupt weg- Wahl zum 14. Deutschen Bundestag geblendet – der Sieger ist da, Gerhard Schröder. „Dies ist das Ende einer Epoche“, ver- Angaben in Prozent kündet der Niedersachse mit unterdrück- tem Triumph. Er redet wie in Trance. Der SPD-Herausforderer, der es – als fünfter 6,7 6,2 5,1 Sozialdemokrat nach den vergeblichen An- 1,8 3,0 läufen von Hans-Jochen Vogel, Johannes 1,2 Rau, Oskar Lafontaine und Rudolf Schar- ping – geschafft hat, den CDU-Patriarchen Sonstige aus dem Amt zu vertreiben, präsentiert sich als großherziger Sieger. Ein harter Gegner sei ge- wesen, sagt Schröder, ein fairer dazu. Sei- Gewinne/Verluste nen Beiträgen zur deutschen und eu- gegenüber der letzten Bundestagswahl ropäischen Einheit bezeuge er Respekt. von 1994 Doch dann folgt wie ein unterdrückter Aufschrei der Satz: „Aber jetzt ist eine +4,5 andere Zeit.“ +1,2 +1,3 Es ist seine Zeit, Schröder-Time. Hoch –6,3 –0,6 –0,7 +0,7 –0,1 reckt er beide Arme zum V-Zeichen: Victory. Deutlicher, als er selbst erwar- tete, gaben ihm die Wähler mit 40,9 Pro- zent das Mandat zum Regieren. Macht- wechsel. Generationswechsel. Politik- Sonstige wechsel. Ortswechsel. Die Bonner Repu- blik ist Vergangenheit. Die Wahl am ver- gangenen Sonntag, bei der es die Deut- Sitzverteilung insgesamt 669 Mandate schen zum erstenmal in ihrer Nachkriegs- im neuen Bundestag geschichte fertigbrachten, eine Regierung SPD aus dem Amt zu stimmen, bedeutet eine CDU/CSU historische Zäsur. Joschka Fischer im 298 (+46) 245 (–49) Überschwang: „Das ist wie das Erdbeben von San Francisco.“ Daß die Niederlage der Kohl-Regierung mit 35,2 Prozent im Osten besiegelt wurde, B’90/Grüne zeigt deutlicher als alle feierlichen Er- klärungen zur Einheit an, daß die Berliner 47 (– 2) FDP Republik längst begonnen hat. Die Partei PDS des Kanzlers der Einheit mußte in den neu- 44 (–3) en Ländern ein Minus von 11 Prozentpunk- 35 (+ 5) ten hinnehmen und kam nur noch auf 27,3 Prozent. Die Sozialdemokraten erreichten 35,1 Prozent der Stimmen. Wie glatt alles ten die Sozialdemokraten aus Gegnern Doch am Sonntag signalisierten die erd- ging: Als hätten in Deutschland alle auf die- Feinde. rutschartigen Verluste und der historisch sen Ausbruch von Bewegung gewartet, der Der Ton 1998 ist versöhnlich. Souveräner einmalige Gewinn der Oppositionspartei das Machtsystem Kohl hinwegfegte. hätte die alte Bundesrepublik sich kaum SPD das Ende der deutschen Lähmung. Mit atemberaubender Selbstverständ- verabschieden können. Die deutliche Ab- Selbst der unternehmungs- und expe- lichkeit begannen sich Sieger und Verlierer sage an alle Rechtsradikalen sowie die Fair- rimentierfreudige Schröder schien über in die neue Situation zu schicken. ness, mit der Helmut Kohl und seine Parteif- das Ausmaß der plötzlich von ihm freige- Was für ein Unterschied zum Macht- reunde ihr Debakel akzeptierten, haben of- legten Spielräume eher überrascht als wechsel von 1982, als Helmut Kohl die fenbart, daß die deutsche Nachkriegsde- glücklich. Liberalen aus der Regierung Schmidt mokratie in Bonn verläßliche Fundamente Als der Sieger, Ehefrau Doris an der in sein Kabinett lockte und die Neuwah- gelegt hat. „Sicherheit statt Risiko“ hatte Hand hinter sich herziehend, um 21.12 Uhr len in vergifteter und polarisierter Atmos- Helmut Kohls CDU plakatiert, und selten ein zweites Mal die überdachte Bühne vor phäre stattfanden. Mit seiner Ankündigung verkalkulierte sich der erfahrene Wahl- dem Ollenhauer-Haus betrat, lachte er einer geistig-moralischen Wende spalte- kämpfer und Stimmungswitterer im Kanz- nicht, er leuchtete. Er ging auch nicht, er te Kohl die Bundesrepublik. Mit ihrer leramt deftiger als mit dieser Parole. Noch wandelte. Zum drittenmal nach Willy Enttäuschung über den „Verrat“ Hans- einmal sollten die fast magischen Abwehr- Brandt und wird ein So-

M. URBAN / PANDIS M. URBAN Dietrich Genschers und seiner FDP mach- rituale den Bestand der Union sichern. zialdemokrat Kanzler sein. Und das ist er,

der spiegel wahl 1998 7 DER MACHTWECHSEL Wahl ’98

der Junge aus der Baracke am Dorfrand mut Kohl noch einmal alle seine Gegner keit, den Kanzler“ (Fischer), am Ende so von Mossenberg bei Detmold. und Kritiker – er war am Sonntag ein be- real wie nie zuvor: als Verlierer. Hände streckten sich ihm entgegen – er merkenswerter Verlierer. Gelassen, fast er- Derweil hatte der Sieger Schwierigkei- ergriff sie. Menschen umarmten ihn. Er um- leichtert gratulierte er zunächst seinem ten, das ganze Ausmaß seines Erfolges zu armte zurück. Nachfolger zu dessen „persönlichem Er- verarbeiten. Heiser war er, leer fühlte er „Entschuldigt bitte“, sagte der künftige folg“. Melancholisch-heiter, wie er schon sich. Daß ihm die ausländischen Korre- Kanzler, als er wieder auf der Bühne stand. bei seinen letzten Wahlkampfauftritten ge- spondenten schon „Herr Bundeskanzler, „Entschuldigt bitte, daß ich etwas steif hier wirkt hatte, erinnerte er an eine alte Fon- Herr Bundeskanzler“ zuriefen, um ihn zu stehe. Aber dieses Ergebnis ist auch für tane-Figur. Nicht kleinlich, nicht verbissen, einem Interview zu bewegen, kam ihm noch mich etwas schwer zu begreifen.“ Don- ganz breite Gelassenheit. ganz fremd vor.Als sei er gar nicht gemeint. nernder Applaus. „Ich hab’ vielleicht ge- Es wurde eine ungewöhnlich milde Ele- Dabei hatten am frühen Abend der fantenrunde, deren Ton er prägte. Da saßen US-Präsident Bill Clinton angerufen, auch Gerhard Schröder will zunächst nicht Königsmörder mit ihrem Opfer Lionel Jospin, und Viktor Klima. zusammen, da respektierten sich Demo- Alle beglückwünschten ihn. Die SPD, sag- – anders als Helmut Kohl – ein kraten. te Parteichef Oskar Lafontaine, sei „wieder innenpolitischer Kanzler sein „Ich will jetzt aus dem Streit“ heraus, aufgehoben in der europäischen Familie“ hatte Helmut Kohl schon zuvor in Intervie- von regierenden Sozialdemokraten. 10 der zittert den ganzen Tag.“ Brennende Wun- ws versichert. Jetzt überließ er sich – und 15 EU-Regierungschefs sind Sozialdemo- derkerzen begannen vor seinen Augen zu alle seine Gesprächspartner, Gegner und kraten. schunkeln. Koalitionsfreunde, honorierten es – einer Nichts deutet darauf hin, daß die frühe- Die Sprechchöre wurden lauter. Sie wa- seltsam abgehobenen, fast unpolitischen ren Rivalen Lafontaine und Schröder in ren schwer zu verstehen. Es klang wie: Stimmung. Ein Mythos wurde menschlich. dieser Stunde des Triumphes von ihrem „Hohü“. Schröder legt die Hand ans Ohr: Eine Generation von jungen Deutschen, die Freundschaftskurs abweichen könnten. „Ich hör’ hier oben nichts“, rief er. Und mit diesem Kanzler aufgewachsen ist und Den ersten Auftritt erledigten sie fast im dann riefen sie es so laut, daß man es so- erleben mußte, wie er stets ihre Gegenwart Gleichschritt: Leicht kann dem ehrgeizi- gar 300 Meter weiter im Adenauer-Haus ins Historische zu transformieren begann, ja gen Saarländer, der sich ohne Zweifel für hören mußte: „Rot-Grün!“ selbst ihre Zukunft, erlebte „seine Ewig- den potentiell besseren Kanzler hält, die- Und da übermannte es Schröder, der zu erstarren pflegt, wenn er seine Gefühle nicht zeigen will. Obwohl er sich geschwo- Bundestagswahlergebnisse seit 1949* ren hatte, möglichst wenig über künftige Koalitionen zu sagen, verriet die Körper- sprache alles: Sein Oberkörper begann im Takt hin- und herzupendeln. „Rot-Grün“, skandierte die Menge. Und „Rot-Grün“, tanzte auf der Bühne der neue Kanzler. Zwei Stunden vorher, als Joschka Fischer Kanzler: Konrad Adenauer Ludwig Erhard Kurt Willy mit heiserer Stimme über die Medien sei- Georg Brandt nem alten Kampfgefährten Gerhard Kiesinger Schröder gratulierte, wollte der von einem CDU/CSU und FDP CDU/ CDU/CSU CDU/CSU rot-grünen Bündnis noch nichts wissen. Regierung: CSU und FDP und SPD „Wir brauchen vor allen Dingen eine sta- bile Mehrheit“, sagte er da. 1966 bis 1969: 55% Große Koalition Das ist der coole Schröder. Der ist so Höhepunkt der Adenauer-Ära: pragmatisch wie der grüne Fraktionschef 50,2 absolute Mehrheit für die Union Fischer. Der sagt: „Die Leute wollen den 50% Wechsel.“ CDU/CSUCDU/CSU Das Pokerspiel hatte begonnen, bevor 45% die beiden miteinander redeten. Drei Jahr- zehnte nach dem Aufbruch der 68er-Ge- 40% 45,8 neration, zu der der künftige Kanzler wie SPDSPD Wiederwahl Willy sein möglicher Außenminister sich rech- 35% Brandts: SPD wird nen, ohne an der Studentenrevolte direkt stärkste Partei beteiligt gewesen zu sein, ist vom gesell- 30% schaftsverändernden Elan nicht viel ge- blieben. 25% Gerhard Schröder, 54, und Joseph Fi- scher, 50, gehörten schon zu den Pragma- 20% tikern in ihren Parteien, als sie 1983 in der Bestes FDP- Bonner Polit-Kneipe „Provinz“ – gegenü- Ergebnis unter ber vom Kanzleramt – beim Bier Kabi- 15% 12,8 Erich Mende nettslisten für eine rot-grüne Regierung auszutüfteln begannen, um den gerade ge- 10% wählten Helmut Kohl abzulösen. Den FDPFDP nannten damals noch alle „Birne“. Sie 5% *Nicht berücksichtigt sind die Ergebnisse kleinerer Parteien, glaubten, es würde nicht lange dauern mit die bis 1961 im Parlament vertreten waren. diesem schwarzen Riesen aus der Pfalz. Als es dann vier Legislaturperioden spä- 19491953 1957 1961 1965 1969 1972 ter endlich soweit war, überraschte Hel-

8 der spiegel wahl 1998 ser Abend nicht gefallen sein. Aber er prä- sentierte sich einmal mehr als ein Muster an Selbstdisziplin. Schröder, der im Wahlkampf immer stärker wie ein sozialdemokratischer Tra- ditionalist geklungen hat, vergaß auch an diesem Abend nicht, die Partei zu preisen. Er straffte sich, als ihn Hans-Jochen Vogel anrief, der Ex-Vorsitzende, der nie sein Fan war. Fast überschwenglich bedankte sich Schröder für dessen Glückwünsche und schlägt vor, „sich doch mal zu treffen und länger zu unterhalten. Ich brauche Deinen Rat“. Freilich vergißt Schröder auch nie, dar- an zu erinnern, daß er Wechselwähler da- zugewonnen, nicht nur die alten Genossen bei der Stange gehalten hat. „Wir haben die neue Mitte für die SPD zurückgewon- nen“, rief er den begeisterten Anhängern vor der Parteizentrale zu. Denn nur unter Verweis auf diese Mittel-Schichten kann Schröder eine Modernisierungspolitik durchsetzen, die sich von traditionellen

SPD-Positionen löst. DPA Gerhard Schröder wird – das läßt er Wahlverlierer Kohl schon an diesem Abend erkennen – an- Gelassene Gratulation

ders als Helmut Kohl zunächst einmal ein innenpolitischer Kanzler sein. Wie immer auch seine Regierung aussehen wird – der Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit wird sein Hauptaugenmerk gelten. Er weiß, daß er vor allem deshalb gewählt worden ist. Und er bleibt dabei: „Wenn Helmut Schmidt Helmut Kohl Gerhard Schröder wir in vier Jahren die Trendwende am Ar- beitsmarkt nicht geschafft haben, verdie- nen wir es auch nicht, danach wiederge- wählt zu werden.“ SPD und FDP CDU/CSU und FDP Schon in dieser Woche will der desi- gnierte Arbeitsminister Walter Riester vor- 1990: erste bereitende Gespräche zu einem Bündnis Unions-Ergebnisse gesamtdeutsche in der Ära Kohl: Wahl für Arbeit führen. „Da muß jetzt ganz, 48,8 Weder Wolfgang Schäuble noch 44,3 43,8 Volker Rühe machen den 41,4 40,9 Eindruck von Geschlagenen 38,2 37,0 36,4 ganz schnell herangegangen werden“, sagt 33,5 35,2 er am Wahlabend. Eine große Runde aller Beteiligten unter Kanzlervorsitz soll es noch in diesem Jahr geben. Ebenfalls schon in dieser Woche dürfte der künftige Kanzler außenpolitisch ge- fordert sein, wenn auch formal noch die abgewählte Regierung Kohl zu entschei- den hat – womöglich über Krieg und Frie- SPD-Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Johannes Oskar Rudolf gegen Helmut Kohl: Vogel Rau Lafontaine Scharping den im Kosovo. Die USA seien entschlos- sen, so wurde bei der Sitzung der Nato- Verteidigungsminister in der vorigen Woche in Portugal bekannt, die Nichtbe- 6,7 achtung eines Ultimatums an den serbi- 6,2 schen Präsidenten Slobodan Milo∆eviƒ, d 5,1 BündnisBündnis 90/Grüne90/Grüne ie Truppen aus dem Kosovo zurückzuzie- PDS hen, mit dem Einsatz von Cruise Missiles 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 gegen militärische Ziele in Jugoslawien zu ahnden. Deutschland sei bereit, so Noch-

der spiegel wahl 1998 9 DER MACHTWECHSEL Wahl ’98

Wahlsieger Lafontaine, Schröder, Schröder-Kabinettsmannschaft „Wir brauchen vor allen Dingen eine stabile Mehrheit“

Verteidigungsminister Rühe, dafür 14 Tor- Bärbel Höhn, koalitionsgeprüfte Um- Parteimanager Franz Müntefering warn- nados zur Verfügung zu stellen. Der Ein- weltministerin aus NRW, plädiert schon in te ebenfalls vor der rein rechnerischen Pro- satz müßte vom alten Bundestag geneh- der Wahlnacht dafür, „Rot-Grün zu ma- blembetrachtung. Nicht die Mathematik migt werden. chen, auch wenn es knapp wird“. Und ge- sei ausschlaggebend, sondern der Wille zur Für eine Koalition mit den Grünen gen Mitternacht besuchen die Spitzenkan- Kooperation. „Da muß es wasserdichte käme damit eine Stunde der Wahrheit didaten der Grünen informell schon einmal Verträge geben, und dahinter ist auch kein gleich am Anfang. Ja, sagt Joschka Fischer, den künftigen Kanzler. Mit der Forderung Zurück mehr denkbar.“ der mögliche Außenminister, „man kann nach vier Ministerien wollen die Grünen in Daß es dem Pragmatiker Schröder nicht es sich eben nicht aussuchen. Schonzeit die Verhandlungen mit der SPD gehen, ein schwerfallen würde, den Genossen zu er- würden wir keine haben“. Es wäre seine taktischer Zug, um letztlich drei Ministeri- klären, daß für die Rot-Grün-Träume die Aufgabe, nicht nur seine eigene pazifisti- en herauszuholen und um ihren Einfluß in rechnerische Basis fehlt, wissen alle. In sche Partei zu überzeugen, sondern auch den „Kernbereichen“ der Regierung er- Niedersachsen hat er eine Koalition mit Skeptikern im Ausland die Angst zu höhen zu können. Fest stehen: Joschka den Grünen ebenso erfolgreich abgelei- nehmen vor dem ersten grünen Außenmi- Fischer, Jürgen Trittin, fast auch Andrea Fi- stet, wie er sie ohne Wimpernzucken be- nister der Welt. scher und unter Umständen Bärbel Höhn. endete, als er allein regieren konnte. In Ob es soweit kommt? Je länger der Cem Özdemir soll Ausländerbeauftragter solche Unternehmungen investiert Schrö- Wahlabend dauerte, desto deutlicher im Kabinettsrang werden. der kein Herzblut. Obwohl im Laufe des Abends die rot- Freilich, auch ein Bündnis mit der un- „Eine große Koalition wäre grüne Mehrheit wuchs, warnte Oskar La- terlegenen Union, eine Große Koalition, fontaine, der dieses Bündnis im Prinzip be- erscheint ihm am Wahlabend nicht leicht verhängnisvoll – und fürwortet, vor allzu schnellen Festlegun- zu haben, selbst wenn er es gewünscht katastrophal für die Union“ gen. Ein Teil der SPD sehe Rot-Grün mit hätte. Nicht nur Helmut Kohl, der Verlie- größter Skepsis, gab er zu bedenken. Und rer, bleibt bei seiner Absage. drängten die Ergebnisse in diese Rich- wieviel Mandate würden überhaupt zum Auch der CSU-Vorsitzende tung. Regieren reichen? versucht schon um 19 Uhr mit einem kla- Während bei der Grünen-Siegesfeier Oft genug hatte Gerhard Schröder ren Nein zu einer Großen Koalition vor die Wunderkerzen zischten und die Ba- vorher hin- und herrechnen lassen. Das laufenden Kameras „einen Pflock einzu- sis jubelte, waren auf den Minen der grü- Ergebnis schwankte: Mal war von 12 Sit- rammen“, wie es in seinem Umfeld hieß. nen Großkopferten so viele Sorgen- wie zen die Rede, mal von 15 bis 20. „Aus- Waigel: „Eine Große Koalition wäre ver- Lachfalten zu entdecken. „Jetzt wird es schlaggebend ist, welche Mehrheit der hängnisvoll für die Demokratie und kata- ernst“, sagte Matthias Berninger, Bundes- Koalitionspartner Joschka Fischer nach strophal für die Union.“ So wollen die tagsabgeordneter aus Hessen. Der Konflikt der Wahl für ausreichend hält“, hatte Bayern verhindern, daß sich CDU-Politi- zwischen Grundsatztreue und Pragmatis- Schröders Sprecher Uwe-Karsten Heye ker wie Volker Rühe oder Wolfgang mus klafft auf. Die schöne Zeit der kessen gesagt.Am Ende hat Rot-Grün eine Mehr- Schäuble später anders äußerten. Sprüche – im Wahlkampf gerade noch mal heit von 21 Mandaten, dank 13 Überhang- Aber auch die beiden lassen nicht er- ausgebügelt – ist endgültig vorbei. mandaten. kennen, daß sie besonders erpicht wären

10 der spiegel wahl 1998 DER MACHTWECHSEL

M. DARCHINGER

auf ein Regierungsamt unter Gerhard Ende ist auch ein Anfang, scheinen viele Plötzlich wissen alle, daß „der Alte“ seinen Schröder. Schäuble sieht jedoch, daß die der Jüngeren zu denken. Niedergang nicht habe sehen wollen, daß SPD die Union vor sich hertreiben könn- Allerdings: Unbeschädigt geht keiner er beratungsresistent gewesen sei. te. Sein Nahziel ist es deshalb, nicht den der Führungsleute aus dem Debakel her- Noch in letzter Minute hatte die Partei- Eindruck zu erwecken, die Union verwei- vor, nicht Wolfgang Schäuble, nicht Volker zentrale im Adenauer-Haus versucht, den gere sich grundsätzlich. Rühe und schon gar nicht Theo Waigel. Kanzler zu einer veränderten Wahl- Schäuble und Rühe, die beiden künfti- Nur Edmund Stoiber strahlt als Stern des kampfführung zu bewegen. Am Sonntag gen starken Männer der CDU, zeigen sich Südens. vor der Wahl regten die Wahlkampf-Ma- an diesem Abend bei allen Fernsehsendern Über die Dauer ihrer Zeit auf den Op- im Duett. Sie seien die neue Generation, positionsbänken machen sich Führungs- „Lafontaine hat gezeigt, sagt Rühe, was Schäuble lakonisch mit leute wie Hans-Peter Repnik und Jürgen dem Hinweis relativiert, immerhin hätten Rüttgers keine Illusionen. „Ich rechne mit zu welcher Geschlossenheit sie beide gerade ihren 56. Geburtstag vier Jahren Opposition. Die Grünen sind die Partei fähig ist“ gefeiert. weiter als damals in Hessen. Lafontaine Gemeinsam ziehen sie durch Fernsehs- hat gezeigt, zu welcher Geschlossenheit nager an, ein Kohl-Video gemeinsam mit tudios und versichern, daß sie zusammen die Partei fähig ist, wenn es eine Macht- Schäuble und dem bayerischen Wahlsieger den „Neuaufbau“ (Rühe) der Christde- perspektive gibt“, sagt Repnik. Und Rütt- Stoiber zu drehen. Ihr Argument: Die Tro- mokratie übernehmen werden, ohne gers ergänzt: „Die halten vier Jahre durch. ika mit Schröder, Lafontaine und Schar- „Reibungsverluste“. Bereits Anfang No- Das gibt auf Bundesebene eine Hängepar- ping habe 1994 der SPD noch etwas auf- vember soll auf einem Sonderparteitag tie wie in NRW.“ geholfen. Auch diese Anregung verwarf die neue Führungsspitze gekürt werden. Wenn sie darüber nachdenken, fällt ih- Kohl. Selbst Rühe-Adlaten gehen davon aus, nen doch wieder der Mann ein, dem sie so Er pflegte lange allein zu siegen. Jetzt daß Schäuble den CDU-Vorsitz überneh- lange ihre Ämter zu verdanken hatten – verlor er allein. men will. Tatsächlich strebt der das an, Helmut Kohl. Irgendwann in der Nacht sprühen Feu- und Fraktionschef möchte er auch blei- Während über die Fernsehschirme in erwerks-Sterne über den Rhein. Böller kra- ben. der Nacht zum Montag die Nachrufe auf chen. Bonn verabschiedet sich von der Weder der Verteidigungsminister noch den Bürger-Bismarck aus der Pfalz flim- Weltbühne. der Fraktionschef machen an diesem mern, ist der Unmut über sein heroisches In der Vertretung seines Landes Nieder- Abend den Eindruck von Geschlagenen. und einsames Ende – „Ich mache meinen sachsen tritt ein aufgekratzter Gerhard Auch sie scheinen eher befreit. Hatten sie Job“ – in den Reihen der Union noch im- Schröder ins Foyer, wo noch Journalisten es nicht kommen sehen und oft davor ge- mer groß. auf den Ministerpräsidenten warten. warnt? Alle hatten sie auf ihn gesetzt. Jetzt „Langsam beginnt man zu begreifen, was So ist auch die Stimmung im Adenauer- kommt der Katzenjammer. Hätte er nicht passiert ist“, sagt er. Haus. Den Schock, so unerwartet tief ab- schon vor zwei Jahren gehen müssen? Hät- Dann geht er. „Herr Bundeskanzler“, gesackt zu sein, milderte ein Gefühl von te er nicht damals schon den Weg freima- ruft ihm ein Reporter nach, und Gerhard Erleichterung. Es ist vorbei – endlich. Das chen müssen für Wolfgang Schäuble? Schröder dreht sich um.

der spiegel wahl 1998 11