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Wenn Geschichte greifbar wird… Der Tag, an dem , und Päpsen einer Katastrophe entgingen Samstag, 29. April 1944

Zusammenfassung: Dies ist die Geschichte der „Higgins Crew“, die am Samstag, dem 29. April 1944 im Bereich westlich von Nienburg (Bühren, Pennigsehl-Bockhop, Staffhorst-Päpsen) zusammen mit 2 weiteren US-Bombern des Typs B-24 Liberator (4-motorig) abstürzte (ca. 13:15-13:45 Uhr). Sie gehörten zur 8. US Air Force und waren auf dem Rückweg von einem Bombenabwurf auf Berlin (Bahnhof Berlin-Friedrichstraße). Verschiedene Ursachen führten zu Verzögerungen auf dem Rückflug und dadurch zu einem fehlenden Begleitschutz durch alliierte Jäger im Bereich Hannover-. Deutsche Jagdflugzeuge nutzten diese Situation aus, rissen die B24-Verbände auseinander und schossen viele US-Bomber ab oder beschädigten sie. Die B-24 der Higgins Crew war ein Pfadfinderflugzeug mit 11 Mann Besatzung, darunter 2 zusätzlichen Navigatoren , welches eine Formation von 16 B-24 anführte. Es wurde gegen 13:20 Uhr von einem deutschen Jäger im Bereich nördlich von Nienburg an den beiden linken Triebwerken getroffen, welche in Brand gerieten. Das Flugzeug leitete unter weiterem Beschuss einen kontinuierlichen Sinkflug ein, wobei der westliche Kurs über Heemsen, Blenhorst, Wietzen beibehalten wurde. Der Flug endete um 13:25 Uhr mit einem Absturz in Päpsen bei Siedenburg, wobei 2 Navigatoren getötet wurden und 9 mit dem Fallschirm überlebten.

Eine der letzten flugfähigen B-24 weltweit ist diese der Collings-Stiftung/USA

Vorbemerkung: Die nachfolgende Geschichte ist das Ergebnis einer 4-monatigen Recherche des Verfassers im Sommer 2007. Es ist die Geschichte der Higgins Crew und ihres amerikanischen Bombers B- 24, der an diesem Kriegstag in der Nähe des Wohnhauses des Verfassers abstürzte. Mit Hilfe des Internets gelang es zügig, auf wichtige US-amerikanische Archivinformationen zuzugreifen. Dabei kam der Verfasser in eMail-Kontakt mit der Amerikanerin Annette Tison aus Virginia, deren Onkel am selben Tag und zur selben Stunde bei Lohne-Dinklage in einem anderen US-Bomber ums Leben kam. Von Frau Tison stammen die detaillierten Forschungsergebnisse zum militärischen Auftrag und zum Ablauf der Ereignisse an diesem Tag, während der Verfasser ergänzende Interviews mit Zeitzeugen und archäologische Untersuchungen an der Unfallstelle durchführte. Die Higgins Crew und ihr Flugzeug sind ein kleines Rädchen in der mächtigen alliierten Kriegsmaschinerie, die versucht, Hitlerdeutschland den Garaus zu machen. Während Bomben auf Berlin fallen, bereiten sich im Bereich Nienburg- Wehrmachtseinheiten auf die erwartete alliierte Invasion vor…

Pipers Erkennungsmarke Start- und Landebahnen in Hethel

Die Nacht war kurz gewesen, als Charles Piper um 2:30 Uhr in dieser kalten Aprilnacht geweckt wird. Er ist Feldwebel der 8. US Air Force und Heckschütze eines amerikanischen 4-motorigen Bombers des Typs B24 H Liberator mit der Werk-Nr #41-28676. Piper stammt aus der kleinen neuenglischen Stadt Derry im Bundesstaat New Hampshire. Seine jetzige Unterkunft befindet sich in der Nähe eines englischen Feldflugplatzes namens Hethel südwestlich von Norwich in der englischen Grafschaft Norfolk.

Die betonierte Start- und Landebahn ist 1800m lang und wurde ein Jahr zuvor zusammen mit zahlreichen weiteren unter hohem Zeitdruck von englischen Pionieren angelegt, da Norfolk strategisch günstig in Bezug auf Berlin, Hannover und viele weitere Kriegsziele nicht nur Norddeutschlands lag. Heute dient der Ort friedlicheren Zwecken. Dort befinden sich die Lotus-Ford- Sportwagenwerke und nur ein kleines Museum erinnert an die frühere Heimat der 389. Bombergruppe, die damals von hier in Richtung Deutschland startete. Piper ist nicht allein. Mit ihm werden viele andere Soldaten der US-Luftwaffe geweckt, auch die 8 weiteren Besatzungsmitglieder seines Bombers, die er zumeist schon seit dem Jahre 1943 in den USA kennt, wo sie zusammen ausgebildet wurden und dann im September den Weg nach Hethel über Kansas, Maine, Neufundland, Island und Glasgow-Prestwick in Schottland antraten: Hauptmann Joseph Higgins (Pilot); Leutnant Perry Wharton (Copilot); Leutnant Harry Casey (Navigator) ; Leutnant Chester Broyles (Bombenschütze); Feldwebel Thomas Sumlin (Funker); Feldwebel Myron Boerschinger (MG-Schütze, Techniker), Feldwebel David York (oberer MG-Schütze), Leutnant Harry Putnam (Navigator).

Das Foto zeigt stehend von links: York, Newberry, Charles Piper, Bookout, Boerschinger, Sumlin, kniend von links: Wharton, Joseph A. Higgins, Casey und Chester Broyles (August 1943)

Diese 9 haben im Durchschnitt schon über 20 Bombenflüge hinter sich. Für Piper ist es der 24. Einsatz. Noch ein weiterer, und er kann „rotieren“, d.h. er darf per Schiff über Liverpool nach Amerika zurückfahren. Bis zum Februar 1944 gehörten sie als normale Bomberbesatzung zur 392. Bombergruppe, die 40 km weiter westlich stationiert ist. Seit dem 22. März fliegt sie als Pfadfinderflugzeug (sogenannte PPF-crew) einer Gruppe von 16 B-24-Bombern voran, die zu wechselnden Bombergruppen gehören. Ihr Flugzeug verfügt dazu über eine erweiterte navigatorische und Radarausrüstung (H2X-Bodenradar) sowie personell über einen weiteren Navigator für die terrestrische Navigation, der die beobachteten Bodenmerkmale mit der Karte abgleicht. Der erste Flug dieses Tages ist ein sehr kurzer. Es geht nach dem Abheben nur 20 km südwestlich weiter zur 453. Bombergruppe nach Old Buckenham, wo ihr Flugzeug mit Bomben beladen wird und sie am Briefing teilnehmen. Unter „Briefing“ versteht man die gemeinsame Einsatzbesprechung aller beteiligten Besatzungen.

Auswertungskarte einer am Angriff vom 29.4.44 beteiligten Bombergruppe der 8. US Air Force nach dem Einsatz (apparent track = tatsächliche Rückflugroute)

Ein großes Raunen geht durch die Reihen, als sie erfahren, dass heute der bis dahin größte Tagangriff der 8. US Air Force geflogen werden soll. Von 7-8 Uhr sollen insgesamt 1500 Flugzeuge abheben. Der Bahnhof Friedrichstraße wird als ein strategisch und infrastrukturell kriegswichtiges Ziel angesehen, dessen Zerstörung das Berliner Verkehrswesen nachhaltig einschränken soll. Als sie um 7:15 Uhr starten, wissen sie nicht, dass dies ihr letzter Start im 2. Weltkrieg ist und sie unplanmäßig in Norddeutschland in den früheren Kreisen Sulingen und Nienburg landen werden. In Old Buckenham haben sie Oberstleutnant Robert C. Sears (gest. 1994), einen Kommandeur der 453. Bombergruppe, sowie Leutnant Robert Sosa mit an Bord genommen, der navigatorische Praxiserfahrungen sammeln soll. Während des Steigflugs im Morgengrauen sammeln sich die Bomber in vorher festgelegten Räumen, damit ein zeitplangemäßer und räumlich gestaffelter Abflug dieser größten bis dahin gesehenen Luftarmada möglich wird. 751 Bomber, die von 800 alliierten Jagdflugzeugen eskortiert werden, bewegen sich an diesem Morgen über die Nordsee auf das Ijssel-Meer zu. Ziel ist der Berliner Bahnhof Friedrichstraße.

Berlin, Bahnhof-Friedrichstraße

Sie sind in 3 Wellen organisiert. Pipers Bombenschütze Broyles führt, unter dem Kommando von Oberstleutnant Sears, die 2. Division innerhalb der 3. Welle. Nach ca. 200 km Steigflug wird die Reiseflughöhe von 6300 – 6800m erreicht, weitere 650 km sind es noch bis Berlin. Der Dümmer und das Steinhuder Meer sind auf deutschem Territorium wichtige Orientierungspunkte für die Navigatoren. Piper berichtet dem Verfasser im August 2007 telefonisch, dass der Hinflug nach Berlin ohne größere Probleme verlief, von einigen Flak-Angriffen abgesehen. Möglicherweise fiel dabei eine Radarantenne aus, denn Chester Broyles (gest. 2004) berichtet in seinem Kriegstagebuch, dass ihr Flugzeug 75 Meilen vor Berlin ihr Hochfrequenz-Radargerät H2X, das für den Bombenabwurf vorgesehen war, nicht mehr benutzen konnte und er daraufhin die Führung der 2. Division abgab, da er einen zielgenauen Bombenabwurf durch die Wolken nicht mehr gewährleisten konnte. Nach Piper sei während des gesamten Hinflugs und ein kurzes Stück des Rückflugs eine Jägereskorte in Sicht gewesen. Putnam berichtet in seinem MACR-Report (das ist ein standardisierter Bericht gegenüber dem US-Kriegsministerium, den alle aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten US-Offiziere 1945 ausfüllen mussten, um das Schicksal vermisster oder gefallener Besatzungsmitglieder aufzuklären) , dass die Bomben um 12:20 Uhr abgesetzt wurden und der Verband anschließend einen zu weit südlichen Kurs in einer Höhe von 20.000 Fuß flog. Broyles berichtet, dass ihre Bomben das geplante Ziel, den Bahnhof Friedrichstraße in der Innenstadt Berlins, teilweise verfehlten. Bedingt durch gegenseitige Behinderungen der verschiedenen Bomberverbände während des Bombenlaufs und durch einen verstärkten Gegenwind während des Rückflugs addieren sich nun Faktoren auf, die zu einer ca. 50-minütigen Verspätung des Verbands führen, als dieser den Bereich Hannover auf dem Rückflug erreicht. Diese Verspätung sollte Folgen haben. Die eskortierenden Jagdflugzeuge des Typs B-51 Mustang und P-38 Lightning verlassen die Bomberformationen auf dem Rückflug, da ihr Treibstoffvorrat begrenzt ist. Die Jäger des Typs P-47 Thunderbolt mussten schon früher umkehren. Um 11:50 Uhr finden sich über Nienburg/Weser mehrere später aufgestiegene alliierte Jägereskorten ein, um die aus Berlin zurückkehrenden Bomber in Empfang zu nehmen.

Focke-Wulf 190 P-51 Mustang

Das Verhängnis nimmt nun seinen Lauf, als dieses Rendezvous misslingt. Um 12:50 Uhr verlassen die letzten alliierten Jäger dieses Einsatzes den Bereich Nienburg aus Treibstoffmangel, nachdem einige z.T. eine Stunde wartend das Steinhuder Meer umkreist hatten. Es entsteht ein Zeitfenster von ungefähr einer Stunde, das von der deutschen Luftwaffe ausgenutzt wird. Als die Higgins Crew mit der ihr nachfolgenden Formation von 16 B-24-Bombern ungefähr um 13:20 Uhr den Raum Lichtenmoor erreicht, werden sie von 30-50 Focke-Wulff-190- Jagdflugzeugen überrascht, die zur 1. Gruppe des Jagdgeschwaders 11 gehören. Diese Jäger waren in Oldenburg und Rotenburg/Wümme stationiert. Da dies aber nicht ihr erster Einsatz an diesem Tag war, so ist es wahrscheinlich, dass die für den Abschuss in Frage kommenden Piloten wie Oberleutnant König, Gefr. Schwesinger, Oberfeldwebel Jantzen, und Oberlt. Engau nach dem Auftanken von Flugplätzen wie Diepholz, Wunstorf, Varrelbusch oder Achmer bei Osnabrück auf die B24-Formationen stießen.

Sie hatten sich, so schreibt Broyles in seinem Tagebuch, hinter einer Wolkenformation versteckt. Dadurch haben sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, als sie in mehreren Frontalangriffen die Formation von Westen her angreifen. Bei einer Annäherungsgeschwindigkeit von ca. 800 km/h gingen die deutschen Jäger ein hohes Kollisionsrisiko ein. Die Higgins crew als Führungsflugzeug scheint ihr primäres Angriffsziel gewesen zu sein. Ihre B24 wird auch schnell an den Triebwerken 1 und 2 (links außen, links innen) getroffen, die daraufhin in Brand geraten. Piper berichtet, dass das Flugzeug nicht nur am linken Flügel brannte, sondern auch seitlich in der Nähe des Bombenschachts. Er wird in seiner Position am Heck des Bombers von 20-mm- Granaten an der Schulter und am Gesäß leicht verletzt. Die gesamte elektrische Anlage und damit die Bordverständigungsanlage sowie der hydraulisch betriebene Geschützturm funktionieren nicht mehr, als Piper vom Mechaniker Myron Boerschinger aufsucht wird und von ihm aufgefordert wird, sich in der Flugzeugmitte an der Kameraluke einzufinden und sich auf den Fallschirmnotabsprung vorzubereiten. Charles Piper ist der erste, der im mittleren Bereich des Bombers abspringt, keine 5 Minuten, nachdem das Flugzeug zuerst getroffen wurde.

Wie entwickelt sich die Situation im vorderen Bereich der B-24? Broyles berichtet in seinem Kriegstagebuch und in seinem MACR-Report, den er 1945 gegenüber dem US-Kriegsministerium abgegeben hat: Der neue Navigator Robert Sosa, 25 Jahre alt und gerade 9 Monate im Dienst, hielt sich zum Zeitpunkt des Jägerangriffs im oberen Geschützturm auf. Er sei so konsterniert gewesen, dass er unfähig war, dass Feuer der FW 190 zu erwidern. Daraufhin zog ihn Broyles aus dem Turm heraus.

Die Situation wird nun immer dramatischer, als sich David York dem Flugdeck über den Katzengang (catwalk), der Verbindung vom Bombenschacht, nähert. Seine Haare sind angesengt und er ruft: „Jump, jump!“ Daraufhin fordert Broyles die Umherstehenden auf, sich auf den Ausstieg vorzubereiten. Sosa weigerte sich vor Angst, den Fallschirm anzulegen und abzuspringen. Als Broyles versucht, Zwang anzuwenden, weigert er sich auch körperlich. Daraufhin lässt er von ihm ab, öffnet die Ausstiegsluke und springt als erster Notaussteiger im vorderen Bereich der B-24 ab.

einige Zeichnungen aus dem Tagebuch von Broyles

In seinem Tagebuch schreibt er, dass er sich vorgenommen hatte, sich lange durchfallen zu lassen und erst in Bodennähe die Reißleine zu ziehen. Er ist aber nur einige hundert Meter vom rauchenden Bomber entfernt, als sein Fallschirm aufgeht. Er sieht die fortziehenden Bomber und beschreibt das Gefühl der Stille und des Verlorenseins zwischen dem in der Sonne hell gleißenden Himmel und der Erde, die 5000m entfernt unter ihm in einer weißen Wolkenschicht verborgen liegt. Nun trat das ein, was er immer befürchtet hatte: Einige deutsche Jäger näherten sich seinem Fallschirm so dicht, dass er durch die Propeller- turbulenzen stark pendelte: Sie spielten Katz und Maus mit ihm. Er geriet in Gefahr, sich am Fallschirm zu überschlagen und von oben in seinen Schirm zu fallen. Broyles versuchte durch Korrekturmaßnahmen erfolgreich, dem zu entgehen. Dann tauchte er in die Cumulus-Bewölkung ein. Nach einer weiteren Minute näherte er sich dann Staffhorst von oben. Er sieht Felder und Bauernhöfe. Der starke Nordwestwind treibt ihn über ein erstes und ein zweites Feld. Er landet aber direkt auf einem Zaunpfahl des 3. Feldes, wobei er sich am Knie, am Knöchel und am Auge verletzt.

Charles Piper hält durch, was er sich vorgenommen hat: Mit einem verzögerten Sprung lässt er sich in die Wolken fallen, löst erst dann seinen Fallschirm aus. Er landet auf einem Feld ungefähr 100m von einem kleinen Bauernhof entfernt. Er hat lediglich seine im Heck des Bombers erlittenen leichten Verletzungen, als er sich dem Bauernhof nähert. Dort vergehen nur ein paar Minuten, bis Wehrmachtssoldaten eintreffen und ihn in einen kleinen Ort abführen. Dabei handelt es sich offenbar um Harbergen, das er nach einem Fußmarsch von einem Kilometer erreicht. Auch andere Besatzungsmitglieder wie Boerschinger und Sumlin sind dabei. Eine aus der Sowjetunion abgezogene Jägereinheit, die mit frisch eingezogenen Soldaten aufgefüllt wurde, bereitet sich dort auf die erwartete alliierte Invasion von Mitteleuropa vor.

Broyles muss wohl eine Zeitlang bewusstlos gewesen sein. Als er aufwacht, erinnert er sich an Lederstiefel neben seinem Kopf und an bewaffnete Zivilisten. Ein Bauer holt einen Bollerwagen. Sein Fallschirm wird darauf gelegt. Dann wird er darauf gesetzt und von einem Besatzungsmitglied zum Harberger Bahnhof gezogen, wo sie zusammen in einer Werkstatt auf den Abtransport in einem Zug warten.

Walter Willenkamp (16) hackt in der Mittagszeit des 29.April 1944 Rüben an der Willenkämper Straße westlich des Herrenhassels und der Straße L 352 von Siedenburg nach Graue. Er hat einen guten Überblick nach Süden an diesem sonnigen Aprilmittag. Aus seiner Perspektive sah er südöstlich den amerikanischen Bomber über den Wipfeln des Herrenhassel auftauchen. Er rauchte, die Triebwerke waren ohne Leistung. In südlicher bis südöstlicher Position gab es 3 dumpfe Explosionen oder Schüsse aus der Richtung des Bombers. Er berichtet von Kampflärm und von Luftkämpfen im Raum Wietzen, er sah auch andere Bomber. Dies bestätigt auch Heinz Wilkens. Er ist 9 Jahre alt . Da heute Fliegeralarm war, hat er schulfrei. Er beobachtet von der Südseite der elterlichen Tischlerwerkstatt die Geschehnisse. Belgische Kriegsgefangene, die dort Munitionskisten im Auftrag der Wehrmacht herstellen, fordern ihn auf, sich hinter einem Betonpfahl zu verstecken, als sich die rauchende B-24 von Osten nähert und, langsam an Höhe verlierend, in Richtung Päpsen weiterfliegt.

Hinter dem Hof Hägermann- Meyer fing das Flugzeug dann an, sich um die Längsachse zu drehen und machte danach ein paar Trudelumdrehungen, bevor es aus seinem Blickfeld verschwand. Weiter links, in südlicher Richtung, sah Heinz Wilkens 2-3 braune Fallschirme niedergehen. Sie waren zuerst klein, dann mit abnehmender Höhe größer. Sie wurden vom Wind in südliche Richtung abgetrieben. Ein Fallschirm landete nur ein paar 100m südlich von ihm entfernt. Er hatte Angst, hinzugehen, da er befürchtete, dass die Flieger bewaffnet waren.

Heinrich Ruge (11), der heute Heinrich Peeck-Ruge heißt, hat diesen Tag noch besonders in Erinnerung, weil er zu sich zu dieser Zeit bei seinem Freund Günther Bockhop in der Harberger Bahnhofsgaststätte aufhielt. An diesem Tag war, wie fast täglich, Fliegeralarm. Die Kinder durften dann bei schlechtem Wetter nach Haus gehen, bei gutem Wetter ging der Unterricht im Walde auf Baumstämmen weiter. An diesem Nachmittag machten sie zusammen Hausaufgaben. Die Schilderung Ruges deckt sich mit der von Annette Tison beschriebenen Untersuchungen zu den Abläufen am 29.4.44: “Morgens hatten wir die Bomberverbände hinfliegen sehen und nachmittags wieder zurück, dann aber nicht mehr im großen Verband. Es gab kleinere Gruppen und Einzelflieger. Wir waren natürlich ärgerlich, dass die Feinde alle deutschen Städte bombardierten und freuten uns, wie auf dem Rückweg noch einige von deutschen Jägern abgeschossen wurden. Es war für sie ganz schwer, gegen die Übermacht der amerikanischen Flugzeuge anzukommen… Wir sahen uns nun an diesem Nachmittag die Luftkämpfe an und konnten bei guter Sicht in der Ferne auch ein paar Abstürze verfolgen, unter anderem auch den in Päpsen. Sie saßen auf der Südseite des Bahnhofdamms und hatten freie Sicht über die Felder in Richtung Holte. Von dort sahen wir von Ost nach West die schon leicht brennende Maschine ankommen. Sie war sicher schon manövrierunfähig, flog nur noch langsam, rauchte und verlor an Höhe. Wir sahen, wie einer mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug absprang. Ich erinnere mich, dass wir uns fragten: „Warum steigen da nicht noch mehr aus?“, als der Fallschirm in Richtung Holte trieb. Ich kann mit Sicherheit bestätigen, dass noch ein deutscher Jäger aus Norden kam und sie mit ein paar MG-Garben beschoss, ohne Gegenfeuer natürlich. Sie wäre mit Sicherheit auch ohne diese Schüsse abgestürzt…. Die Sicht nach Westen war durch Lagerschuppen und Bahnhofsgebäude eingeschränkt, dahinter verschwand sie aus unserer Sicht. Doch bevor es so weit war, sahen wir mindestens noch 2 Fallschirme.“ Sein Hauptaugenmerk richtete sich aber weiter südlich auf den Absturz der B-24 der Turpin Crew (448. Bombergruppe) in Bockhop-Pennigsehl: „ Wir hatten die Fallschirmabsprünge in 4-5 km Entfernung gesehen , wussten aber nicht genau, wo sie gelandet waren. Nach einiger Zeit, als sich alles beruhigt hatte, fuhren wir mit dem Fahrrad nach Staffhorst. Zu der Zeit lag auch deutsches Militär in den Wäldern um Harbergen und war auch auf den größeren Höfen einquartiert. Ich kann mich erinnern, dass bewaffnete deutsche Soldaten mit einer Gruppe von gefangenen Amerikanern uns in Staffhorst bei der damaligen Badeanstalt / Hof Grasmeyer-Wilkens entgegen kamen. Ich glaube, es waren 3 oder 4 Männer. Wir fuhren mit dem Fahrrad nebenher und sahen uns das an. Ich glaube mich auch zu erinnern, dass man einen Handwagen dabei hatte, worin einer saß. In Höhe des Bauern Seger (heute Campe) ließ der eine Gefangene etwas verärgert seinen Rettungsring aufblasen und warf ihn in den Graben. Er wurde aber sofort von den deutschen Soldaten aufgefordert, den wieder aufzuheben und mitzunehmen. Während wir neben den Amerikanern herfuhren, machten wir uns unsere Gedanken: So sahen also unsere Feinde aus , auch Menschen wie wir, die täglich unsere schönen deutschen Städte angriffen und zerstörten, wobei tausende unschuldige Zivilisten verbrannten und umkamen! Damals sah man diese Leute mit anderen Augen an. Anschließend gingen sie zum Bahnhof nach Harbergen und saßen dann eine Zeitlang auf den Bänken neben dem Bahnhof. Ich vermute, dass sie Harbergen mit dem 19-Uhr-Zug in Richtung Nienburg zu einem Lager für westliche Kriegsgefangene verließen.“

Hermann Fortkamp (17) hielt sich auf dem südlichen Hof des elterlichen Bauernhauses in Päpsen, Dorfstraße, auf. Er sah nach Süden hin 5 Fallschirme (2 davon fielen etwas schneller herunter) und die B24, die einige Trudelumdrehungen machte und dann nach Osten hin seinen Sichtbereich verließ. Er hörte die Aufschlagdetonation. Der nach der Besetzung Päpsens durch englische Truppen im April 1945 zum neuen Bürgermeister bestimmte Dietrich Böse gibt am 7.4. 1946 zu Protokoll, dass der Bomber brannte und das Endteil seines linken Flügels fehlte. Er kreiste ein paar Minuten flach über der Region bevor er gerade herunterkam und aufschlug.

Werner Logemann (8) stand hinter seiner Fenster putzenden Mutter im elterlichen Haus an der Harberger Straße L 352, als der rauchende amerikanische Bomber sein Blickfeld von rechts nach links kreuzte. Das Fenster bot einen Blick in ostnordöstliche Richtung nach Harbergen. Er verließ dann das Zimmer und das Haus, hörte und sah die Aufschlagdetonation mit schwarzen Rauchwolken in der Nähe des Päpser Friedhofs.

Abschusseintrag in der Kladde des Luftgaukommandos XI - Hamburg

Chester Broyles berichtet in seinem Tagebuch, dass 7 Besatzungsmitglieder innerhalb einer Stunde gefangen genommen wurden. Ähnlich bestätigte es Piper telefonisch. Es ist allerdings nicht so, dass sich Piper und Broyles in Staffhorst begegneten. Broyles schreibt, dass sie, und damit sind wohl die gefangen genommenen Offiziere gemeint, nach dem Abtransport von den anderen Crewmitgliedern getrennt wurden, und zunächst kurze Zeit in einem Gestapo-Hauptquartier (offenbar Nienburg, Moltkestr. 11) verbrachten und dann mit einem Lastwagen zu einem französischen Kriegsgefangenenlager gebracht wurden. Es wird sich um das Lager an der Ziegelkampstraße in Nienburg/Weser gehandelt haben. Charles Piper berichtet, dass er zusammen mit Boerschinger und Sumlin zu einem deutschen Fliegerhorst gebracht wurde. Durch ein Fenster konnten sie deutsche Jagdflugzeuge des Typs Me 109 sehen. Sie fragten sich, ob dies die Maschinen waren, die dafür verantwortlich waren, dass sie nun in deutscher Kriegsgefangenschaft waren. Für kurze Zeit schmiedeten sie einen Fluchtplan. Es ist anzunehmen, dass es sich um den Fliegerhorst Wunstorf gehandelt hat. Dafür spricht , dass die Feststellungen über die Gefangennahme für die gesamte Besatzung von der Fliegerhorstkommandantur Wunstorf am 30.4. 44 ausgestellt wurden.

Wahrscheinlich haben die 3 dort die Me 109 G6 des damaligen Kommodores der 2. Gruppe des Jagdgeschwaders 11 , Major Günther Rall, gesehen. Rall (90), der spätere Generalleutnant und Inspekteur der Luftwaffe, der 1975 aus den Diensten der Bundeswehr schied, berichtet dem Verfasser in einem Brief (August 2007): „Von Wunstorf aus flog meine Gruppe am 29.4.44 einen Angriff gegen einen Masseneinsatz von 4-motorigen Bombern der 8. US-Air Force mit starker Jagdbegleitung auf Berlin. In ca. 8000m Höhe kam ich mit meiner Gruppe (bei Hannover) mit P-38 Lightning in Feindberührung. Bei meinem Angriff wollten diese einen „Abwehrkreis“ bilden, in den ich eindringen konnte und eine P-38 abschoss.“ Bezeichnend für die Luftlage, welche durch eine 5:1 bis 7:1-Überlegenheit der alliierten Luftwaffen gekennzeichnet war, ist Ralls Fortsetzung: „Ich wurde am 12. Mai 1944 bei einem weiteren Großangriff der 8. US-Air Force, nachdem ich 2 P-47 Thunderbolt-Jäger abschoss, selbst abgeschossen, gejagt von 4 P-47 aus 8000m, im Sturzflug den linken Daumen abgeschossen, und anschließendem Fallschirmabsprung.“ (im Raum Bremen)

Zurück nach Staffhorst: Wahrscheinlich hielten sich auf den letzten 2 Kilometern vor dem Absturz des Liberator- Bombers nur noch der Kommandant Sears, der Pilot Higgins und die späteren Opfer Casey und Sosa an Bord auf. Was sich genau in dieser Phase des Flugs auf dem Flugdeck abspielte, bleibt so lange Spekulation, bis das noch in St. Louis existierende Memoiren-Tonband des Piloten Higgins historisch ausgewertet werden wird, welches seine Frau unter Verschluss hält. Sears schreibt in seinem MACR-Report 1945, dass sich der Navigator Casey mit angezogenem Fallschirm zum (geschlossenen) Bombenschacht bewegt und dort beim Abtrudeln des Flugzeugs eingeschlossen worden wäre. Higgins erzählte Piper im Durchgangslager Dulag-Luft in Oberursel bei Frankfurt, dass Casey schon im Flugzeug tot gewesen sei. Offenbar ist Casey schon während des Angriffs das Opfer eines Granattreffers auf den Bombenschacht geworden. Möglicherweise ließ sich aber auch der Bombenschacht nicht mehr öffnen und der nachfolgende Brand oder eine Verletzung in diesem Bereich verhinderten eine Rückkehr Caseys auf das Flugdeck. Möglicherweise kehrte er aber auch verletzt aus dem Bombenschacht zurück, körperlich unfähig, das Flugzeug zu verlassen. Weiter bestätigt Sears, dass der Navigator Sosa aus Angst im Flugzeug verblieben sei und den Absprung verweigert hätte. Higgins, so Sears, hätte anderthalb Minuten vor ihm den Bomber durch die obere Ausstiegsluke verlassen, gerade als das Flugzeug um die Längsachse drehte und in den Rückenflug einzudrehen begann. Demnach ist Sears selbst wohl durch die im Rückenflug unten liegende Luke abgesprungen. Der damals 9 Jahre alte Schüler Heinrich Ostermann wird Augenzeuge dieses letzten Absprungs über dem Hof Böse. Er steht in guter Beobachtungsposition auf der Nordseite der Schule. Zusammen mit den Aussagen von Hermann Fortkamp und Heinrich Siemers , welcher sich noch in der Schule aufhält, ergibt sich folgendes Bild:

Nachdem Higgins die Hände vom Steuerknüppel genommen hatte, hat das Flugzeug, offenbar bedingt durch die Beschädigungen am linken Flügel und den dadurch erhöhten Luftwiderstand, eine leichte Linkskurve eingeleitet, die dann später über eine halbe Rolle in den Rückenflug überging. Das Flugzeug führt im Bereich zwischen dem Ortskern von Päpsen und der Päpser Schule, die in Richtung Siedenburg an der Päpser Straße liegt, zumindest eine Trudelumdrehung aus. Heinrich Ostermann sieht und hört das Flugzeug von der Schule aus, wie es sich dann auf einem umgekehrten Kurs wieder nordwärts bewegt. Der Fallschirm des kurz nach Higgins über dem Hof Böse abgesprungenen Sears öffnet sich sofort. Sears wird vom Nordwestwind in Richtung Siedenburg abgetrieben und landet in der Nähe des Weidehäuschens. Higgins, der eine Minute früher, auf dem Weg des Bombers zur Schule hin und in größerer Höhe, abgesprungen ist, wird offenbar vom Wind zur Kieferngruppe bei Logemann getrieben. Durch das Fluggeräusch des die Schule umkreisenden brennenden Bombers aufmerksam geworden, fordert Lehrer Herbert Ahl seine 75 Schüler auf, in den Keller zu gehen. Dem kommen aber nicht alle nach, teilweise drängen sie zur Straße auf der Nordseite der Schule. Dramatisch wird die Situation dadurch, dass, keine 50m entfernt, Maschinengewehrsalven in die Scheune und das Häuslingshaus von Heinrich Bobrink einschlagen. Sie stammen offenbar von dem deutschen Jäger, der die angeschossene B-24 bis zur Aufschlagstelle hin verfolgt. (Bem.: Haus und Scheune stehen heute nicht mehr) Dadurch aufgebracht, verlässt der Weltkrieg-I-Veteran Bobrink das Haus mit seinem langen Karabiner 98, um Sears festzunehmen. Heinrich Ostermann und der 8-jährige Udo Ahl, Sohn des Lehrers, schließen sich ihm an. Ostermann: „Bobrink und wir Jungen sahen, dass der Amerikaner schnell seinen Fallschirm zusammenpackte und Schutz im Weidehäuschen suchte. Gestikulierend forderte Bobrink Sears auf plattdeutsch auf: „Komm rude, doa!“, was der natürlich nicht verstand. Erst Bobrinks Warnschuss durch das Dach des Weidehäuschens, veranlasste Sears, sich zu ergeben. Danach führte Bobrink seinen Gefangenen auf der Päpser Straße zu Fuß in Richtung Siedenburg ab.“ Es ist vermutlich Higgins, der westlich der heutigen Zimmerei Logemann in einer (heute nicht mehr existierenden) Kieferngruppe landet. Er wird im Baum hängend von Werner Logemanns Großvater mit einem Messer aus seiner misslichen Lage befreit. Es zeugt von Verantwortungsgefühl, dass er sich danach sofort in Richtung zur Absturzstelle bewegt. Er wird aber von Logemann, der englischer WK-I- Kriegsgefangener war, mit den Worten „You stop here !“ daran gehindert. Aus Siedenburg anrückende Fahrzeuge nehmen Higgins dann in Gewahrsam. Werner Block berichtet, dass sich 2 Gefangene kurzzeitig im Gasthaus aufhielten.

Nachdem Sears als letzter lebend den Bomber verließ, zog dieser dann brennend am Friedhof vorbei zur Absturzstelle in Benings Busch, wo er ein paar Erlen mitriss und unter einem flachen Winkel aufschlug. Die anschließende Aufschlagexplosion entzündete die noch verbliebenen 2500-3000 l Flugbenzin in den Flügeln, die offenbar weitgehend verbrannten und auf den im Morast versunkenen Vorderrumpf übergriffen. An der Unfallstelle gefundene Aluminiumteile in Tropfenform bezeugen eine Temperatur von 660°C. Fritz Winkelmann (16), der um 15:30 nach dem Schulbesuch in Nienburg an der Unfallstelle eintraf, berichtete, dass die Plexiglasfenster des Wracks gebrannt hätten.

Manfred Tasto (5) wohnte damals zusammen mit seiner Mutter und Großmutter, Tante und 2 belgischen Kriegsgefangenen auf dem Hof Grasmeyer-Wilkens. Er berichtet, dass dort auch noch 3 spät eingezogene Wehrmachtssoldaten einquartiert waren . „In den Stunden nach dem Absturz, es war ein Samstag, herrschte große Unruhe auf dem Hof, weil viele Neugierige über unser Feld bzw. Wiese zur Absturzstelle strömten. Ich hatte den Absturz nicht gesehen. Oma Sophie erzählte aber, das Flugzeug sei brennend über unser Haus geflogen Richtung Hägermann-Meyer. Sie habe Angst gehabt, dass es bei denen aufs Haus stürzt.“

An der Absturzstelle im Bereich der Flügel gefundenes Aluminium in Tropfenform - Beleg für eine Temperatur von 660° C

Dann hätte es sich aber gedreht und sei im Wald abgestürzt. „Abends sind unsere Soldaten an die Absturzstelle gegangen und haben hinterher berichtet, das sei ein amerikanischer Bomber gewesen. Tante Anna war (wohl am nächsten Tag) an der Absturzstelle und berichtete, sie habe eine verkohlte Leiche gesehen. Ich selber bin dann später (vielleicht 2 Tage nach dem Absturz ) mit Tante Anna zur Absturzstelle gegangen. Dabei habe ich nur den Rumpf in Erinnerung, der aufgerissen war und wie ein riesiges offenes Rohr aussah. Es rauchte noch an verschiedenen Stellen, aber offene Flammen waren nicht mehr zu sehen. In dem Rumpf lag eine dicke Schicht "Silberpapierstreifen", auch drum herum lagen sie . Walter Willenkamp, (16 ), der am 29.4. in Dienstborstel Rüben hackte, ging am 30.4. zusammen mit dem gleichaltrigen Heinz Siemers zur Absturzstelle. Die Polizei hatte zu diesem Zeitpunkt schon einen leichten Absperrgürtel um das Wrack gelegt. Sie betraten die hintere Region des Flugzeugs. Der Flugzeugschwanz war etwas aufgerichtet.Das Innere war hell erleuchtet, da es offenbar vom Vorderteil durch einen Querriss abgetrennt woren war. Er erinnert sich an ein Maschinengewehr im Heck, den Arbeitsplatz von Charles Piper . Reinhard Honebein bestätigt, dass dort lag eine Menge Munition auf dem Boden herumlag. Im Rumpf war ein großes Durcheinander von verschiedenen Teilen, Gurten, Verbandszeug und Munition. Es ist wahrscheinlich, dass die Flügel und der vordere Rumpf stark durch das Feuer in Mitleidenschaft gezogen wurden, welches sich im Anschluss an die Explosion des Resttreibstoffs ausbreitete. Auch am 30.4. qualmte das Wrack noch an einigen Stellen. Nach einer Stunde war die Polizei am 30.4. wieder an der Absturzstelle. Die Polizisten bzw. Volkssturmleute, wie Karl von der Mehden trugen eine weiße Armbinde. Sie wussten nicht, dass die Jungen im Wrack waren. Ihre Aufmerksamkeit galt den neugierigen Zuschauern, die sich bereits wieder (im südlichen Bereich) am Wrack eingefunden hatten. Deshalb konnten die Jungen in einem unbeobachteten Moment in Richtung Staffhorst entkommen. Es waren noch mehr Jungen an diesem Tag da: So kam Erich Meyer (15) von Borstel mit dem Fahrrad über Siedenburg nach Päpsen. Er hatte etwas Werkzeug dabei , baute ein Funkgerät aus und wunderte sich über die Uhren mit 10 Stunden, offenbar die Höhenmesser. Als er wochentags darauf wieder in der Borsteler Schule war, bekam er deswegen Ärger in Form einer Tracht Prügel von seinem Lehrer Heinrich Müller, (NSDAP), dem damaligen Ortsgruppenleiter von Borstel.

Auch Heinz Wilkens (9) bemerkte den Riss im Rumpf, der dafür sorgte, dass das Innere hell war. Er sah „tief im Inneren des Flugzeugs“, offenbar dem tief eingesunkenen Vorderrumpf oder dem Bombenschacht, einen stark verbrannten Körper, dessen Beine „unterhalb des Rumpfs abgetrennt“ waren. Die letzte Aussage dazu stammt von Hermann Fortkamp (16). Es ist zu vermuten, dass es sich dabei um den Navigator Harry W. Casey handelte. Eine weitere Leiche lag auf der Staffhorster Seite, nicht sehr weit vom Wrack entfernt, im Wasser. Nur ein verbrannter Unterarm sah aus dem Wasser heraus. Es handelt sich offenbar um den 3. Navigator Robert Sosa Es ist zu vermuten, dass sich das Wasserloch, in dem Sosa lag, während des Aufpralls gebildet hatte, als Propeller und Triebwerk 2 das Loch schufen und das hochstehende Grundwasser in dieses Loch eindrang. Sosa wurde vermutlich durch den sich bildenden Riss im Rumpf links seitlich während des Aufpralls aus dem Flugzeug herausgeschleudert, wodurch er ums Leben kam. Dadurch, dass er in ein frisch geschaffenes wassergefülltes Loch fiel, wurde sein Körper, mit Ausnahme eines Unterarms, von den erheblichen Temperaturen geschützt, welche die anschließende Entzündung des Flugbenzins verursachte.

Walter Willenkamp ist, vermutlich am 30.4. 44, Zeuge, wie Personal des über den Absturz informierten Fliegerhorstes Diepholz ein Seil um seinen Hals legt, um die im Morast verhakte Leiche so leichter aus dem Wasser ziehen zu können. Abgesehen von dem verbrannten Unterarm war sein Körper unversehrt, nur der Nacken und der Bauch waren stark geschwollen. Er hatte wenig Bekleidung am Körper, insbesondere sah Willenkamp keinen Fallschirm. Erich Siemers (8) , stand zusammen mit seinem Vater in der Nähe und beobachtete, wie die Leiche auf einer Trage in Richtung zum Päpser Friedhof abtransportiert wurde. Dabei hing sein Unterarm herab und er dachte: „Wenn ich seine Uhr hätte…“ Über den Abtransport von Casey ist kein Bericht verfügbar. Der damalige Bürgermeister Heinrich Siemers berichtet den US-Soldaten der 6804. Quartermaster Company, die am 7.4. 1946 eine Grabregistrierung und Exhumierung der beiden Flieger vorgenommen haben, die Flieger seien in der äußersten Nordostecke Des Päpser Friedhofs von den Diepholzer Luftwaffensoldaten in einem einfachen Holzsarg beerdigt worden. Es wurde ein einfaches Holzkreuz mit der Inschrift „Amerikanische Flieger aus abgeschossener Liberator“ aufgestellt. Dieses Begräbnis wurde von deutschen Stellen dokumentiert und die Information darüber gelangte über das Internationale Rote Kreuz in Genf in die USA. Manfred Tasto und Reinhard Honebein bestätigen das Grab mit dem Holzkreuz und die Exhumierung. Die sterblichen Überreste der Soldaten wurden von US-Militärarzten sorgfältig untersucht, identifiziert und zur anschließenden Bestattung auf den amerikanischen Ardennen- Soldatenfriedhof nach Belgien (USMC Neuville en Condroz bei Lüttich) überführt.

Gerd Bening (3), der Eigentümer der Absturzstelle, kann 2007 noch die Abdrücke der 4 Motoren und des Vorderrumpfs zeigen. Das Wrack wurde oberirdisch noch während des Krieges abgeräumt. Dem Bergungsbericht des Luftgaukommandos XI in Hamburg- Blankenese vom 2.5.44 ist zu entnehmen, dass das Bergungsbataillon VII für die Bergungen der 3 im Kreis Nienburg abgestürzten B24 sowie der zwischen Uchte und Nendorf am selben Tag abgestürzten Boeing B17 eingesetzt wurde.

Fernschreiben, das den Päpser Bomberabsturz an verschiedene Luftwaffendienststellen meldet, u.a. an das Durchgangslager „Dulag Luft“ in Oberursel/Taunus bei Frankfurt/M.

Um die in den Morast eingesunkenen Teile des vorderen Flugzeugs kümmerte sich dann nach dem Krieg Willy Tirschler, ein Schrotthändler aus Uenzen. Sein Sohn berichtet, dass Vater mit einem Motorrad und Anhänger die verschiedenen Wrackstellen angefahren sei und die versunkenen Teile mit dem Flaschenzug herausgehoben hätte. Der Erlös der Metallteile soll in der harten Nachkriegszeit erklecklich gewesen sein. Im Oktober 2007 fanden der Militärhistoriker Markus Graw und der Verfasser mit einer elektronischen Metallsonde verschiedene Kleinteile der B-24, u.a. ein 500 g schweres Relais, was vermutlich aus einem der Flugmotoren stammt sowie Aluminiumreste des Flügels in Tropfenform, welche eine Temperatur von mehr als 660° C nach dem Aufschlagbrand belegen.

elektr. Relais – vermutlich aus ei- Der Verfasser auf Spurensuche im Päpser Wald nem der Motoren

Ferner entdeckten die beiden Forscher im Heckbereich des Wracks einen Edelstahl- Führungsgurt einer Browning-Maschinenkanone. Die 3 am besten erhaltenen Teile des Bombers wurden dem Verfasser von Heinrich Peeck- Ruge und Heinrich Kuhlmann zugespielt: Peeck-Ruge hatte 1944 eine intakte Seitenruderseilzug-Umlenkrolle entnommen, die er auf seinem Hof dazu benutzte, eine Stallluke per Seilzug zu bewegen. Im Flugzeug wurde über diese Rolle und ein Stahlseil das doppelt im Heckleitwerk vorhandene Seitenruder angelenkt.

Der Vater von Heinrich Kuhlmann entnahm am Wrack ein fast unbeschädigtes Seitenfenster des Navigator-Abteils, welches sich vor und unterhalb des Cockpits befand. (Gewicht: 32 kg) Es besteht aus 9 Schichten Panzerglas und weist noch 2 Einschüsse vom 29.4. 1944 auf.

Die ca. 2 cm starke trapezförmige Panzerplatte (Gewicht: 22 kg) diente dem Schutz des Piloten oder des Copiloten nach hinten.

Wie erging es nun den amerikanischen Besatzungsmitgliedern in deutscher Kriegsgefangenschaft ?

Es soll die Information vorausgeschickt werden, dass es im Jahr 1944 monatlich 2000 alliierte Kriegsgefangene der Luftwaffen gab, die das Schicksal der Higgins Crew teilten. Bei Kriegsende warteten mehr als 40.000 Luftwaffenangehörige in 7 Stalag Luft genannten Lagern auf ihre Befreiung. Zunächst kam die Higgins Crew aber in das sogenannte „Dulag Luft“. Dabei handelte es sich um ein zentrales Durchgangslager für alliierte Luftwaffenangehörige in Frankfurt-Oberursel. Es diente der militärischen und geheimdienstlichen Auswertung der Informationen, welche die Gefangenen preisgaben. Die Angehörigen der „Higgins Crew“ wurden, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, per Bahn zum Dulag Luft transportiert. Piper berichtet, die Crewmitglieder hätten sich auf der Bahnfahrt nicht miteinander unterhalten, da sie Bedenken gehabt hätten, als gemeinsame Besatzungsmitglieder erkannt zu werden. Sie sind ungefähr eine Woche dort gewesen, vorwiegend in Einzelhaft, getrennt nach Offizieren und Unteroffizieren. Broyles schreibt, ein deutscher Oberst hätte ihn in dieser Zeit 4-mal professionell verhört, er wollte jedes Detail seiner Einheit und seines Auftrages wissen. Nach 8 Tagen gab es zum ersten Mal etwas zu essen, eine Art Fertigmahlzeit mit Corned Beef. Broyles kam danach in das Stalag 3 nach Sagan/Schlesien und Piper in das Stalag 13 nach Krems/Österreich. Piper berichtet, er sei im Lager mit Respekt von den Wachmannschaften behandelt worden. Die Nahrung war knapp, die Rationen von Wachen und Kriegsgefangenen seien aber gleich gewesen.

Illustrierter Kommentar von Broyles über das Lager Sagan/Schlesien Charles Piper berichtet, dass auch der Wiederanfang in den USA nach dem Krieg nicht einfach gewesen sei. So habe es zunächst zu wenig Arbeit gegeben, um seine Familie mit 2 Töchtern über die Runden zu bringen. Daher sei er Ende der 40er Jahre wieder als Feldwebel in die US Air Force eingetreten.

Charles Piper war der letzte Überlebende der Higgins Crew. Er ist 86 Jahre alt geworden und starb am 20.September 2007 in Florida, nachdem er in guter Verfassung und Motivation Annette Tison und dem Verfasser in 6 Telefonaten kurz vor seinem Tod Auskunft über die Higgins Crew und die dramatischen Ereignisse im Luftraum über Nienburg am 29.April 1944 gegeben hatte.

Schlussbemerkung:

Mit Hilfe des Internets stieß der Verfasser 2007 auf die amerikanischen Historikerinnen Annette Tison (392. Bombergruppe) und Kelsey McMillan (389. Bombergruppe). Die beiden halfen in jeder Hinsicht bei Detailfragen zum Einsatz der amerikanischen Soldaten, dem Flugzeug, der Obduktion der Toten, der Gefangenschaft der US-Soldaten und dem militärstrategischen Einsatz der 8. US Air Force am 29.4.1944. Frau Tison suchte zur Klärung dieser Fragen dreimal das Nationalarchiv der USA in Washington auf und konnte so Dokumente liefern, die in Deutschland in dieser Vollständigkeit nicht vorliegen. Mit Hilfe von Befragungen von 30 damals jungen Zeitzeugen in der Nähe der Absturzstelle, welche die Geschehnisse am Boden erlebten, konnte das Schicksal von Flugzeug und Besatzung nach 64 Jahren detailliert geklärt werden. Da eine historische Erforschung nach dieser Zeit nicht vollständig sein kann, ist der Verfasser für ergänzenden Rückmeldungen dankbar.

Jens Schaper, 27254 Staffhorst, 04272-654, [email protected]

© Jens Schaper 2008, Annette Tison 2004