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Zoologisch-Botanische Datenbank/Zoological-Botanical Database

Digitale Literatur/Digital Literature

Zeitschrift/Journal: Kochia

Jahr/Year: 2012

Band/Volume: 6

Autor(en)/Author(s): Scholz H., Thiel Hjalmar

Artikel/Article: Eine neue in Mitteldeutschland endemische Unterart des secalinus () 1-9 Kochia 6: 1–9 (2012) 1

Eine neue in Mitteldeutschland endemische Unterart des Bromus secalinus (Poaceae )

HILDEMAR SCHOLZ & H JALMAR THIEL

Zusammenfassung : Bromus secalinus , früher der ca. 47 „heimatlosen“ Arten, Anökophyten sehr häufig in Getreidefeldern, aber im letzten (S CHOLZ 2007, 2008a), sind in zwei oder mehrere Jahrhundert durch Bekämpfungsmaßnahmen Unterarten gegliedert. „Deren Anzahl dürfte in immer seltener geworden, ist derzeit mit geän- Zukunft bei genauerer Erforschung der Lan- derter Landbaupraxis wieder in Ausbreitung desfloren noch zunehmen“ (S CHOLZ 2008b: 2). begriffen und umfasst heute zwei morphologisch Einige Arten entstanden eng verbunden mit definierte Unterarten. B. secalinus subsp. infestus den in den kühl-gemäßigten Regionen Europas wird als neu für die Wissenschaft beschrieben angebauten winterannuellen Formen der Kul- und ist vermutlich ein Neo-Endemit der Flora turgetreidearten von Secale L. (Roggen), Triticum Mitteldeutschlands. Seine Herkunft und Evolution L. (Weizen) und Hordeum L. (Gerste) wie B. se- wird diskutiert (a) nach der neodarwinistischen calinus L. (Rog gen-Trespe), B. grossus DESF. Selektionstheorie und (b) nach der neogold- ex DC. (Dick-Trespe) und B. bromoideus (L EJ .) schmidtschen Saltationstheorie. CRÉP . (Ardennen-Trespe) (S MITH 1980) und be- sitzen Kulturpflanzenmerkmale: zähe Ährchen- Abstract : A new subspecies of Bromus se- spindel, dicke Früchte und Samen ohne Keim- calinus (Poaceae ) endemic to Central Ger- verzug. Diese und die ihnen nahe stehenden many. B. secalinus , formerly very common in Arten B. commutatus SCHRAD . und B. racemo- cereal fields but in the last century rapidly de- sus L. bilden zusammen mit dem erst 1997 creased by control measures, is increasing aus Griechenland beschriebenen B. elidis again due to changes in agricultural practices, H. S CHOLZ einen gut umgrenzten natürlichen and embraces today two morphosubspecies. Verwandtschaftskreis (S MITH 1972, „Group B“; B. secalinus subsp. infestus presumably a neo- siehe B OMBLE & S CHOLZ 1999). endemic to the flora of Central Europe is de- B. secalinus diente seit dem Neolithikum scribed as new to science. Its origin and der menschlichen Ernährung und wurde noch evolution are discussed according to (a) the bis ins 19. Jahrhundert hinein als „ackerbau- neo-Darwinian selection theory and (b) the begleitende Nutzpflanze“ beim Reinigen des neo-Goldschmidtian saltation theory respectively. Getreides gezielt mitausgelesen oder bei Ge- treideausfällen als Ersatz geerntet (B EHRE 2008, S VENSSON & W IGREN 1985). Erst in jün- Hildemar Scholz gerer Zeit galt B. secalinus als gefürchtetes, Botanischer Garten und Botanisches Museum die Ernte minderndes Schadgras in Feldkulturen. Berlin-Dahlem, Freie Universität Berlin, In der ersten Hälfte des vergangenen Jahr- Königin-Luise-Straße 6–8, 14195 Berlin; hunderts wur de die ehemals häufige Art dann [email protected] durch effektive Saatgutreinigungsmethoden, intensivierte Bodenbewirtschaftungsmaßnah- Hjalmar Thiel men und später auch durch Herbizideinsatz , Oberdorf 2, 37124 Rosdorf; immer seltener und galt gebietsweise bereits [email protected] als ausgestorben (vergl. die Ausführungen von SUKOPP 1994), so dass einige Autoren in ihren Werken über Grünland- und Ackergräser B. se- calinus überhaupt nicht mehr erwähnten (z. B. 1. Einleitung ŠIKULA 1979, K ALTOFEN & S CHRADER 1991). Erst jüngst zeichnet sich eine Trendwende ab und Die altweltliche Gattung Bromus L. s. str. ist es wird von wieder häufigerem Auftreten der ein Musterbeispiel für Evolution und Sippenbil- Roggen-Trespe berichtet (z. B. M ORAY & al. dung unter dem Einfluss des Menschen. Viele 2001). Befördert wird diese Zunahme durch 2 H. Scholz & H. Thiel

den neuerdings vielerorts praktizierten, um- ovato-lanceolatis) atque lemmatum marginibus weltschonenden pfluglosen Ackerbau (no till- parum angulatis (vs. rotundatis) recedit. farming). Welche Folgen sich daraus für die Agrobiodiversität, genetische Struktur und Evo- Holotypus: Germania, : Ackerrandstrei - lution des B. secalinus ergeben könnten, erör- fen NO Wahlshausen, 22.7.2000, H. Thiel (B). terten T HIEL & K ORSCH (2010) und stellten die Hypothese auf, „dass sich heutige und histori- Verbreitung: Bisher nur aus Mitteldeutschland sche Typen [der Roggen-Trespe] unterscheiden“ bekannt. Neo-Endemit mit Ausbreitungsten- (p. 138). Einen Beitrag zu diesem Thema liefert denz. die Diskussion der hier beschriebenen neuen, in Mitteleuropa endemischen Unterart der Rog- gen-Trespe, B. secalinus subsp. infestus . An Gesehene Herbarbelege der aktuellen Wiederausbreitung und Zunahme von B. secalinus sind sowohl die Nominatun- Thüringen : Landkreis : Rohrberg, Weg terart B. secalinus subsp. secalinus , als auch zum Heinebrink von der Straße Rohrberg–Freien- die neu erkannte Sippe beteiligt. B. secalinus hagen aus, nahe der Grenze nach Niedersachsen, wird außerdem in großem Maßstab zur Be- Ack errand und Gerstenfeld, 4526/33, 7.7.2010, grünung von erosionsgefährdeten Rohböden G. Wagenitz (GOET; briefl.: „ein großer Bestand … , eingesetzt, etwa an Böschungen und Banketten sah aus wie angesät“). – , grasiger Saum im Bereich von Autobahn- und Straßenneu- eines Getreidefeldes am nordöstlichen Ortsrand, bauten. Mit der im Jahr 2009 erfolgten Aufnahme 4527/23, 1.7.1998, H. J. Zündorf 16267 (JE). – Hun- in die „Regel-Saatgut-Mischungen Rasen“ (FFL deshagen, Mühlberg 1,5 km N von der Kirche, 2010) wurde dessen Verwendung für diese 4527/41, 23.8.1997, H. Korsch 2440 (JE). – ca. Zwecke zum allgemeinen Standard im Land- 900 m südlich Lindenwerra, am Rand eines Wei- schaftsbau. Herkünfte aus Ansaaten werden zenfeldes im Werratal, 4625/43, 30.6.2001, H.- J. Zün- die Verbreitung und Populationsstrukturen von dorf 18724 (JE). – NO Wahlshausen, Ackerrand- B. secalinus daher zunehmend beeinflussen. streifen, 4625/44, 22.7.2000, H. Thiel (B). – Thal- Bei einzelnen Prüfungen wurden bisher aller- wenden, am nördlichen Ortsrand, grasiger Saum dings keine zur subsp. infestus gehörenden zwischen einem Feldweg und einem Getreidefeld Pflanzen in Ansaaten festgestellt. und am Rand eines Getreidefeldes, 4626/14, 29.6.2001, 29.9.2001, H.-J. Zündorf 18685 , 18686 (JE). – NO , Randstreifen von Weizen- 2. Material und Methoden Acker, mit Bromus commutatus , Phleum paniculatum , Kickxia elatine , 4626/31, 14.8.1998, H. Thiel (B). – Historisches und neueres Herbarmaterial und O Fretterode, Randstreifen von Roggen-Acker, Saatgutproben aus den Sammlungen in Berlin 4626/33, 28.8.1998, H. Thiel (B). – 1,4 km ONO (B), Göttingen (GOET) und (JE) wurden , junge Brache eines kleinen Wildack ers untersucht, ergänzt durch an den Erstautor ge- mit verschiedenen Getreidearten, 4626/41, 15.7.1999, sandte Pflanzenproben aus vielen Landesteilen H. Thiel (B). – SO Kella, 1 km S Ruine Greifenstein, Deutschlands. 4726/43, 17.6.2001, H. Korsch 3207 (JE). - Zum Teil mit Hilfe eines Binokulars wurde Hainich-Kreis : Hüpstedt, Acker, 4628/41, R 359930 einigen bisher kaum oder nur unzureichend H 568970, 27.6.2011, H. Thiel (Herb. Thiel). – ca. berücksichtigten Merkmalen besondere Beach- 1,2 km NO Windeberg, Acker, 4728/31, R 4397364 tung geschenkt: Umrissformen der Ährchen H 5683501, 27.6.2011, H. Thiel (B, Herb. Thiel). und Form der Deckspelzenränder sowie Län- : 0,2 km W Berteroda, Acker mit Wei- genverhältnisse der Spelzen. zen, mit Bromus secalinus subsp. secalinus , 4928/31, R 3569263 H 5655434, 27.6.2011, hier schon im Jahr 2005, H. Thiel (B, Herb. Thiel). – Oesterbeh- 3. Bromus secalinus L. subsp. infestus ringen, grasige Straßenböschung am nordöstlichen H. S CHOLZ , subsp. nov. Ortsrand, 4929/31, H.-J. Zündorf 17258 , 17259 (JE). Landkreis Schmalkalden-Meinigen : 1 km S A Bromo secalino subsp. secalino spiculis Schwick ershausen, Ackerrand, 5528/31, 5.8.1997, oblongis vel oblongo-lanceolatis (vs. ovatis vel H. Korsch 2429 (JE). – Thüringer Rhön, Lämmerberg Bromus secalinus subsp. infestus 3

bei Wohlmuthausen, Weizenfeld, 1.7.2011, St. Meyer ersbach , 6035/33, 25.6.2011, A. Bolze 42 (B, Herb. (GOET). Landkreis Saalfeld-Rudolstadt : NNO Nei- Bolze). – Mistelbach, Maisfeldrand ca. 400 m nord- denberga, 26.6.2002, M. Kohl (JE). Landkreis : östlich Kläranlage, 6035/33, 22.7.2011, A. Bolze 61 Ortsverbindung Büna–Dobia, Wegrand am Rog- (Herb. Bolze). – Mistelbach-Ost, zusammen mit genfeld, 5338/34, 26.9.2000, H. Rabe (JE). , 25.7.2011, A. Bolze (Herb. Bolze). Sachsen–Anhalt: Landkreis Mansfeld-Südharz : – Mistelbach, Einmündung Bahnhofstr. in Hauptstr., östl. Großleinungen, Rapsacker, zusammen mit Bro- Hausmauer, 28.8.2009, A. Bolze 4 (Herb. Bolze). mus commutatus subsp. decipiens , 15.6.2011, Baden-Württemberg: Landkreis Waldshut: Glashütte A. Hoch (GOET). – westl. Lengefeld östl. Straße südl. Schuhwald, 1005 m ü NN, 8115/31, R 3443825 zum Funkturm, Wintergerste, 15.6.2011, A. Hoch & H 5299295, 27.7.2006, G. Hügin 19686 (Herb. Hügin). Herdam (GOET). – westl. Lengefeld südwestl. Funk- turm Mooskammer, Ackerrand, zusammen mit Bro- mus secalinus subsp. secalinus , 15.7.2011, A. Hoch Schlüssel für die zwei Unterarten des Bro- (GOET). mus secalinus (mit Anmerkungen) Niedersachsen: Landkreis Göttingen : Adelebsen, Bahnhof, 4424/21, 21.7.2002, G. Dersch 4034 Blattscheiden kahl oder fast kahl, selten locker (GOET). – Erbsen-Emmenhausen, Äcker westlich rauhaarig (und im Sommer an seltenen basalen vom Junkernberg, 4424/22, 11.7.2006, G. Dersch Erneuerungstrieben auch ± weichhaarig). Rispe 4286 (GOET). – Fuhrbach, am südwestlichen Orts- ausgebreitet oder zusammengezogen. Ährchen rand am ostexponierten Oberhang zum Frankental 1–3(–4) cm, kahl oder anliegend bis abstehend Rande eines Phacelia- Feldes, 4428/33, 13.6.1998, kurzhaarig; Ährchenspindel (Rhachilla) zur H.-J. Zündorf 16185 (JE). Fruchtzeit zäh, nicht spontan zerbrechend; Hessen: Werra-Meißner-Kreis : Werra Aue 1 km Deckspelzen 5–9 mm (ohne Grannen). Gran- NO Oberrieden; nässebedingte Störstelle in einem nen oft verkrüppelt oder fehlend. Frucht (Kary- Rapsacker, mit Gypsophila muralis , 4625/43, opse) dick, im Querschnitt U- oder V-förmig, 30.6.2000, H. Thiel (B). – 0,8 km NW Frankershau- von den eingerollten Flanken der Deckspelze sen, Acker am Käseberg, 4725/32, 17.6.2011, eng umschlossen...... B. secalinus L. H. Thiel (Herb. Thiel). – 0,3 km S Germerode, Acker mit Weizen, 4825/12, 17.6.2011, H. Thiel (Herb. 1 Ährchen eiförmig bis eiförmig-lanzettlich. Thiel). – 0,3 km W Rittmannshausen, Acker mit Deckspelze 6–8 mm, ihre Randlinien gleich- Gerste, 4926/22, R 3578689 H 5662080, 27.6.2011, mäßig gebogen; zur Fruchtzeit Ränder der H. Thiel (Herb. Thiel). Deckspelzen einander nicht deckend. Vor- Bayern: Landkreis und Stadt Bamberg : Hallstadt, spelze so lang wie die Deckspelze oder et- Gerstenacker am Feldweg östlich und parallel der was länger...... subsp. secalinus Bahnlinie, 200 m nördlich Brücke über Leitenbach, 6031/321, 20.6.2011, R. Otto 18276 , 18278 , 18279 1* Ährchen länglich bis länglich-lanzettlich. (B, Herb. Otto). – Bamberg, Hafen, Hafenstr., Deckspelzen 7–9 mm, ihre Randlinien 6031/343, 4.6.2006, 8.6.2011, R. Otto 11593 , 18221 schwach stumpfwinkelig; zur Fruchtzeit (B, Herb. Otto). – Naisa, Hordeum distichon -Ack er Ränder einiger Deckspelzen einander ein nördl. Ortschaft, 6031/400, 22.6.2011, R. Otto 18300 , wenig deckend. Vorspelze so lang wie die 18301 (zusammen mit einem starken Bestand von Deckspelze oder bis 1 mm kürzer. Bromus hordeaceus subsp. pseudothominei ), 18319 ...... subsp. infestus H. S CHOLZ (B, Herb. Otto). – Bamberg, Triticum -Acker, Rand- streifen, 6131/1, 7.7.2011, R. Otto 18370 (B, Herb. Otto). – Neuhaus bei Pettstadt, Triticum -Ack er an Die aufgezeigten Differentialmerkmale des der Straße nach Stegaurach, zahlreich im Randbe- B. secalinus subsp. secalinus und B. secalinus reich, 6131/4, 7.7.2011, R. Otto 18373 (B, Herb. subsp. infestus sind am deutlichsten ausgeprägt Otto). – Memmelsdorf bei Bamberg, Nähe Friedhof an vollreifen Ährchen (Abb. 1 und 2), sowohl Fasanerie, reichlich im Gerstenacker, 9.6.2011, was die Umrissform der Ährchen anbelangt R. Otto 18227 (B, Herb. Otto). Landkreis Bayreuth : als auch die Randlinien der an der reifen Frucht Forst, nördl. des kleinen Wäldchens nördl. vom Ort, flächig angepressten Deckspelze (beide nicht Feldrand, 6035/31, 13.6.2011, A. Bolze 368 (B). – „verwachsen“ wie C ONERT 1998 im Bestim- SW Mistelbach, Feldrand zwischen Netto und Hack - mungsschlüssel bei B. secalinus fälschlich 4 H. Scholz & H. Thiel

Abb. 1: Bromus secalinus subsp. secalinus – Ährchen. Schleswig-Holstein, Dithmarschen: Ackerrand zwischen Ammerswurth und Meldorf, 31.7.2008, leg. W. Jansen, H. J. Meints & H. Arnold (B). – B. secalinus subsp. secalinus – . Schles- wig-Holstein, Dithmarschen: Field margin between Ammerswurth and Meldorf, 31.7.2008, leg. W. Jansen, H. J. Meints & H. Arnold (B)

Abb. 2: Bromus secalinus subsp. infestus – Ährchen. Typus. – B. secalinus subsp. in fes - tus – spikelet. Type. Bromus secalinus subsp. infestus 5

Abb. 3: Zur Blüte- und Fruchtzeit überragt die Roggen-Trespe das Getreide und ist weithin sichtbar. Bromus secalinus subsp. infestus bei Marth, Landkreis Eichsfeld, Thüringen, 13.6.2010 (Aufnahme H. Thiel). – While in flower or fruiting Brome is taller than the crop and easily recognizable from a distance. B. secalinus subsp. infestus near Marth, district Eichsfeld, Thuringia, 13.6.2010 (Photo: H. Thiel)

Abb. 4: Dichter Bestand von Bromus secalinus subsp. infestus auf einem intensiv bewirtschafteten Acker mit Wintergerste bei Marth im Thüringer Eichsfeld, 13.6.2010 (Aufnahme H. Thiel). – Dense stand of B. secalinus subsp. infestus in an intensively managed field of winter barley near Marth in the Thuringian Eichsfeld, 13.6.2010 (Photo: H. Thiel). 6 H. Scholz & H. Thiel

schreibt!). An unreifen Ähr chen des B. secalinus unter Einbeziehung von molekularbiologischen s. str. ist der gleichmäßig gebogene Rand der Methoden erforderlich sind. Die eingangs er- Deckspelze mitunter wenig gut zu erkennen, wähnte Hypothese von T HIEL & K ORSCH (2010), da im mittleren und unteren Bereich der Deck - „dass sich heutige und historische Typen [der spelzen eine leichte Einkrümmung ihrer äu- Roggen-Trespe] unterscheiden“, beruht auf ßersten Ränder einen Winkel vortäuscht (F ABRI Überlegungen zur Selektion und evolutionären 1983: Fig. 4D, übernommen von H ÜGIN 2004; Anpassung an den Getreideanbau: Die Artbil- SPALTON 2002: tab. 3; C OPE & G RAY 2009: „mar- dung von B. secalinus erfolgte auf den Getrei- gins smoothly curved or broadening above into defeldern Europas während des Neolithikums. a barely perceptible angle“). Ganz untypisch Dabei haben sich in Folge der Selektion durch ist der längliche („oblong“) Umriss des Ährchens den Menschen typische Kulturpflanzenmerkmale von B. secalinus in der Zeichnung bei C OPE & entwickelt, wie die nicht zerfallende Ährchen- GRAY (2009). Die im Vergleich zur subsp. spindel, die dicken, getreideähnlichen Körner infestus im Mittel kürzeren und geringfügig we- und die sofortige Keimbereitschaft der Samen niger breiten Deckspelzen der subsp. secalinus durch Wegfall des Keimverzugs. So blieben verleihen ihr ein charakteristisch zierlicheres die reifen Fruchtstände bei der Getreideernte Aussehen. Die Acker-(und Ru de ral- )sippe des nahezu unversehrt erhalten und zerfielen erst B. commutatus , B. commutatus subsp. decipiens beim Dreschen, um schließlich als Bestandteil (B OMBLE & H. S CHOLZ ) H. S CHOLZ , ist verschieden des Saatgutes durch den Menschen wieder von B. secalinus s. l. durch die Kombination ausgesät zu werden (Speirochorie). Im Laufe von dichter oder locker steif abstehender Blatt- der Zeit kam es zu einer fortschreitenden kon- scheidenbehaarung an unteren Blättern, deutlich vergenten Anpassung an die Form der Bewirt- gewinkelte Deckspelzenränder, eine 1–2 mm schaftung, bei der sich weitere morphologische, kürzere Vorspelze als die Deckspelze, in der physiologische, phänologische und ökologische Reife leicht zerfallende Ährchen und eine halb- Ähnlichkeiten mit dem Roggen als Hauptbe- mondförmig gebogene dickliche Frucht. Bastarde gleitart herausgebildet haben (S UKOPP 1994, zwischen den genannten Sippen sind trotz ge- THIEL & K ORSCH 2010). B. secalinus subsp. se- legentlicher Sympatrie nicht zweifelsfrei nach- calinus ist nach diesem Verständnis das Er- gewiesen worden. – Nicht berücksichtigt wird gebnis eines über Jahrtausende währenden hier die in Südwestdeutschland und angren- Selektionsprozesses und einer komplexen und zenden Gebieten endemische B. secalinus fortschreitenden Anpassung an den sich all- subsp. billotii (F.W. S CHULTZ ) A SCH . & G RAEBN . mählich wandelnden Getreideanbau des Men- mit im Vergleich zu B. secalinus subsp. secalinus schen. Dabei sind es die Kulturpflanzenmerk- dichter Blattscheidenbehaarung, kleinen Ährchen male, wie die nicht zerfallende Ährchenspindel, und dünnerer Frucht, deren Status als Unterart die dicken Körner sowie die Kahlheit der Blatt- fraglich ist. scheiden und weitere habituelle Ähnlichkeit der Wuchsform, Größe und allgemeiner Habitus jungen Pflanzen mit dem Roggen, welche B. se- von B. secalinus subsp. infestus unterscheiden calinus von verwandten Arten unterscheiden sich nicht auffällig von der Nominatunterart und den Artcharakter bestimmen. (Abb. 3). Ökologisch verhalten sich beide Sip- Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte pen nach den bisherigen Beobachtungen ähn- ein schneller und flächendeckender Rückgang lich (Abb. 4). Sie kommen hauptsächlich im von B. secalinus ein, als die verbesserte Saat- Wintergetreide vor und wachsen derzeit auch gutreinigung, erleichtert durch die Züchtung auf intensiv genutzten Äckern, die mit Herbi- von großkörnigeren Roggensorten, die Tre- ziden und starken Düngergaben behandelt spensamen effektiv dem Kreislauf von Ernte werden (T HIEL & K ORSCH 2010). und Wiederaussaat entzog. Jetzt müssen sich Kulturpflanzenmerkmale wie die nicht zerfallende Ährchenspindel als fatal erwiesen haben, denn 4. Diskussion sie verhinderten nun, dass Samen der Rog- gen-Trepse auf den Acker kamen. Weitere Kul- Die Abstammung von B. secalinus subsp. infe- turpflanzeneigenschaften wie die dicken, rog- stus ist eine sehr interessante Frage, zu deren genähnlichen Samenkörner verloren ihre Funk- Beantwortung weitergehende Untersuchungen tion, ohne dass sich daraus eine direkte Gefahr Bromus secalinus subsp. infestus 7

für das Fortbestehen der Art ergeben hätte. Es mosus von auswärts mit Rasensaaten einge- muss nun ein stark veränderter und in Teilen schleppt. genau gegenläufiger Selektionsdruck auf B. se- Der Evolutionstheorie des Saltationismus fol- calinus subsp. secalinus gewirkt haben. Hat gend entstand B. secalinus subsp. infestus auf sich B. secalinus subsp. infestus unter diesen Ackerland ausgehend von einer einzigen Grün- veränderten Gegebenheiten aus der Nominat- derpopulation („founder effect“; Parasaltation: unterart entwickelt? Dabei könnten auch zu- BATEMAN & D IMICHELE 1994), die von Anfang an fallsgemäße, nicht durch Selektion bedingte wesentliche Eigenheiten cultigener Taxa besaß Veränderungen eine Rolle gespielt haben („ge- (Kulturpflanzenmerkmale) und deren Nachkom- netische Drift“). Jedenfalls fällt das Fehlen von men sich schnell in Assoziation mit dem kulti- älteren Belegen von B. secalinus subsp. infestus vierten Getreide ausbreiten konnten – ein heute auf. Die frühesten von uns erfassten Aufsamm- noch nicht abgeschlossener Prozess. Spätere lungen stammen aus dem Jahr 1997, so dass Erbänderungen bei B. secalinus subsp. infestus eine erst in der jüngeren Vergangenheit erfolgte hinsichtlich Größe der Pflanzen, Reduktion der Sippenbildung nicht ausgeschlossen werden Deckspelzenbegrannung und Blattscheidenbe- kann. Nach Überzeugung des Erstautors (im haarung sind dieselben wie bei B. secalinus folgenden Absatz) sprechen die Verbreitung subsp. secalinus (Parallelmutationen), weil sie und morphologischen Eigenschaften von B. se- in B. racemosus eine gemeinsame genetische calinus subsp. infestus jedoch gegen eine Ent- Grundlage haben. Sie bedingen den heutigen stehung aus B. secalinus subsp. secalinus . Polymorphismus beider Unterarten des B. se- Bei der Frage nach der Abstammung des calinus , die sich in der Konfiguration der Decks- B. secalinus mit seinen beiden Unterarten ist pelzen wesentlich unterscheiden (ihre Ränder von besonderem Interesse B. racemosus , heute gleichmäßig gebogen bei subsp. secalinus , in zwei Unterarten gegliedert: B. racemosus schwach winkelig bei subsp. infestus ), so dass subsp. racemosus mit eiförmigen Ährchen und ein unmittelbares Abstammungsverhältnis zwi- gleichmäßig gebogenen Deckspelzenrändern schen ihnen ausgeschlossen erscheint, es sei (S MITH 1973, C ONERT 1998); B. racemosus subsp. denn man postuliert einen abrupten, mutativen lusitanicus (S ALES & P.M. S M.) H. S CHOLZ & Abänderungsschritt bei B. secalinus . Für eine SPALTON mit länglich-lanzettlichen Ährchen und gradualistische Evolution, in der einen oder an- schwach winkeligen Deckspelzenrändern (S MITH deren Weise von B. racemosus zu B. secalinus , & S ALES 1993, S CHOLZ 2008b). H ANF (1990: 70) gemäß der neodarwinistischen Selektionstheorie schreibt über B. secalinus : „Entstanden ist die gibt es keine stichhaltigen Beweise. Diese fehlen Roggen-Trespe vermutlich aus der kleineren auch für die Abfolge B. secalinus subsp. secalinus Art B. racemosus in Mitteleuropa …“, und ersetzt – subsp. infestus , zumal der Form der Decks- mit dieser Aussage die älteren Hypothesen von pelzenränder selektionsneutral kein Anpas- SCHOLZ (1970) und S MITH (1981), die B. secalinus sungswert zuerkannt werden kann. von dem Bastard B. commutatus × B. racemosus Zu der neogoldschmidtschen Saltationstheo- bzw. direkt von B. commutatus herleiten wollten. rie (sprunghafte Sippenbildung) und der neo- Es erscheint wenig wahrscheinlich, dass bei darwinistischen Selektionstheorie als integraler diesen Sippen das Merkmal der gewinkelten Bestandteil der Synthetischen Evolutionstheorie Deckspelzenränder (S MITH 1973, C ONERT 1998, (Sippenbildung durch nahezu unendlich kleine SCHOLZ 2003) im Evolutionsverlauf sich zu den erbliche Veränderungen) vergleiche den mit gleichmäßig gebogenen Deckspelzenrändern Literaturzitaten versehenen kurzen historischen des B. secalinus abgeändert hat. Analog zu der Abriss in der Arbeit von T HEISSEN (2010). Hypothese von H ANF (1990) dürfte B. secalinus Chromosomenzahlen von subsp. infestus subsp. infestus seinen Ursprung von dem süd- sind nicht bekannt. Bei subsp. secalinus wird ländischen B. racemosus subsp. lusitanicus ge- von Tetraploidie (2n = 28) berichtet, bei B. ra- nommen haben, und dieses – so darf gefolgert cemosus s. l. von Diploidie (2n = 14) und Tetra- werden – erst in jüngerer Zeit in Mitteldeutsch- ploidie (J AUZEIN 1995, S CHOLZ 2008b). land, wofür das kleine Verbreitungsgebiet der Zukünftig wird man im System der Gattung subsp. infestus spricht und wo subsp. lusitanicus Bromus aus obigen Gründen B. racemosus s. l. erst relativ spät bekannt wurde (S CHOLZ 2008b). dem B. secalinus L. (Typusart der Gattung Bro- Möglicherweise wurde dieser Typ von B. race- mus , S MITH 1985) beiordnen müssen, getrennt 8 H. Scholz & H. Thiel

von anderen dickfrüchtigen Trespenarten mit JAUZEIN , P. 1995: Flore des champes cultivés. anderen Vorfahren (wie z. B. B. commutatus ). – Paris: Inra & Soprá Aber solange die hier vorgetragenen Hypothesen KALTOFEN , H. & S CHRADER , A. 1991: Gräser. Bio- nicht anderweitig bestätigt werden, ist es dazu logie – Bestimmung – Wirtschaftliche Be- noch zu früh. deutung. – Berlin: Deutscher Landwirt- schaftsverlag. MORAY , R., H ACKER , E & H URLE , K. 2001: Tres - 5. Dank penverbreitung in Deutschland – Gründe und Gegenmaßnahmen. – Getreide Magazin Dr. H. K ORSCH (Jena) danken wir für die Bereit- 4/2001: 184–186. stellung von Herbarmaterial und Informationen SCHOLZ , H. 1970: Zur Systematik der Gattung zu Belegen. F.W. B OMBLE (Aachen) und Dr. Bromus L. Subgenus Bromus (Gramineae ). U. S UKOPP (Bonn) sowie den Redakteuren der – Willdenowia 6: 139–159. „Kochia“ Dr. R. H AND und Dr. T. G REGOR danken — 2003: Die Ackersippe der Verwechselten wir für wertvolle Hinweise im Rahmen von Gut- Trespe ( Bromus commutatus ). – Bot. Na- achten. turschutz Hessen 16: 17–22. — 2007: Questions about indigenous and anecophytes. – Taxon 56: 1255–1260. 6. Literatur — 2008a: Some comments on the genus Bro- mus (Poaceae ) and three new species. – BATEMAN , R. M. & D IMICHELE , M. 1994: Saltational Willdenowia 38: 411–422. evolution of form in vascular plants: a neo- — 2008b: Die Gattung Bromus (Poaceae ) in Goldschmidtian synthesis. – p. 61–102. In: Mitteleuropa. Synopse und tabellarischer INGRAM , D. S. & H UDSON , A. (ed.), Shape Bestimmungsschlüssel. – Kochia 3: 1–18. and form in Plants and Fungi. – Linn. Soc. [Korrektur dortiger Bestimmungstabelle in Symposium Ser. 16. – London: Academic Kochia 4: 203, 2009.] Press. ŠIKULA , J. 1979: Taschenatlas der Gräser. – BEHRE , K.-E. 2008: Collected seeds and fruits Hanau/Main: Werner Dausien. from herbs as prehistoric food. – Veget. SMITH , P.M. 1972: Serology and species relati- Hist. Archaeobot. 17: 65–73. onships in annual Bromes ( Bromus L. sect. BOMBLE , W. & S CHOLZ , H. 1999: Eine neue Un- Bromus ).– Ann. Bot. 36 (No. 144): 1–30. terart des Bromus secalinus (Gramineae ) — 1973: Observations on some critical Bro- – ein Sekundäres Unkraut. – Feddes Repert. megrasses. – Watsonia 9: 319–332. 110: 425–438. — 1980: Bromus L. – p. 182–189. In: T UTIN , CONERT , H. J. 1998: Bromus . – p. 711–757. In: T.G., H EYWOOD , V. H., B URGES , N. A., M OO- CONERT , H. J. (ed.), Gustav Hegi, Illustrierte RE , D. N., V ALENTINE , D. H., W AL TERS , M. S. Flora von Mitteleuropa 1(3), ed. 3. – Berlin: & W EBB, D. A. (ed.), Flora Europaea 5. – Parey. Cambridge & al.: Cambridge University. COPE , T. & G RAY , A. 2009: Grasses of the British — 1981: Ecotypes and subspecies in annual Isles. B.S.B.I Handbook No. 13. – London: brome-grasses ( Bromus , Gramineae ). – British Soc. British Isles. Bot. Jahrb. Syst. 102: 497–509. FABRI, R. 1983: Bromus grossus s. l. et B. se- — 1985: Observations on Turkish brome-gras- calinus s. l. en Belgique et au Grand-Duché ses. I. Some new taxa, new combinations de Luxembourg. – Bull. Soc. Roy. Bot. Bel- and notes on typification. – Notes Roy. Bot. gique 116: 207–223. Gard. Edinburgh 42: 401–501. FLL – F ORSCHUNGSGESELLSCHAFT LANDSCHAFTS - — & S ALES , F. 1993: Bromus L. sect. Bromus : ENTWICKLUNG LANDSCHAFTSBAU e.V. (2010): and relationship of some species Regel-Saatgut-Mischungen Rasen 2011. with small . – Edinburgh J. Bot. HANF , M. 1990: Farbatlas Feldflora. Wildkräuter 50: 149–171. und Unkräuter. – Stuttgart: Ulmer. SPALTON , L. M. 2002: An analysis of the charac- HÜGIN , G. 2004: Wie lässt sich Bromus grossus ters of Bromus racemosus L., B. commutatus von Bromus secalinus unterscheiden? – Schrad. and B. secalinus L. ( Poaceae) . – Florist. Rundbr. 38: 87–99. Watsonia 24: 193–202. Bromus secalinus subsp. infestus 9

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