KURSKALENDER SOMMER 2013 FIGURENTHEATER-KOLLEG Hohe Eiche 27, 44892 Bochum, Tel: 0049 (0)234 - 28 40 80, Fax: 0049 (0)234- 32 43 745 E-Mail: [email protected] www.figurentheater-kolleg.de Das Figurentheater-Kolleg ist eine Weiterbildungseinrichtung. Es greift in seinen Kursen, die in Wochen-, Wochenend- oder Projektform stattfinden, Themen aus den Bereichen Darstellender und Bildender Kunst sowie aus Pädagogik und Therapie auf. Das Figurentheater-Kolleg bietet Kurse im Rahmen der beruflichen Bildung an. Das ausführliche Programm Sommer 2013 wird gerne zugesandt. FORTBILDUNG FIGURENTHEATER FREIE KURSE WOCHENKURSE Die Freien Kurse sind - falls nicht anders vermerkt - ohne Voraussetzungen zugänglich. ORIENTIERUNGSKURS 08.04.-12.04.13 Theaterarbeit nach Lecoq Fortgeschrittene Andrea Kilian Der Orientierungskurs ist nur im Zusammenhang belegbar und findet einmal pro Jahr von April bis Juli statt. Für alle ohne irgendwelche Vorerfahrungen im Bereich 13.05.-17.05.13 Die Kunst des Schauspielens Fortgeschrittene Tony Glaser Figurentheater ist ihr Besuch erforderlich, um anschließend Kurse und Projekte der 27.05.-30.05.13 Improvisationstheater AnfängerInnen Bernd Witte Aufbau-stufe besuchen zu können. 03.06.-07.06.13 Pantomime Situationskomik Hans-Jürgen Zwiefka Der Orientierungskurs 2013 findet vom 08.04. - 12.07.2013 statt 10.06.-16.06.13 Solo-Clown und Rampensau Fortgeschr. Thilo Matschke 08.04.-12.04.13 Spielen - Darstellen - Gestalten Jana Altmannová 17.06.-21.06.13 Von der Zeichnung zr Radierung Ortrud Kabus 15.04.-19.04.13 Die Kunst des Schauspielens Tony Glaser 22.04.-26.04.13 Die Stimme Dorothea Theurer 17.06.-20.06.13 Stimme genießen Stimm- & Sprechtraining Dorothea Theurer 22.04.-26.04.13 Skizzieren, Zeichnen, Malen Ortrud Kabus 01.07.-05.07.13 Szenisches Arbeiten Strasbergmethode -Fortg. Tony Glaser 29.04.-03.05.13 Plastizieren: Kopf und Portrait Ortrud Kabus 21.07.-24.07.13 Instrumentenbau Rhythmus & Klang Christoph Studer 06.05.-10.05.13 Maskenbau Silke Geyer 22.07.-26.07.13 Nähen & Schneidern Anfänger & Fortgeschrittene Imke Henze 13.05.-17.05.13 Maskenspiel Silke Geyer 21.05.-25.05.13 Einführung in die Dramaturgie Horst-J. Lonius 29.07.-02.08.13 Nähen & Schneidern Schnitttechniken -Fortgeschrittene Imke Henze 27.05.-29.05.13 Figurentheater 01.08.-04.08.13 Kabarett & Comedy Der eigene Stil Renate Coch Geschichte & aktuelle Tendenzen Anke Meyer 24.08.-31.08.13 Sommerferienkurs in Varel / Nordsee Ortrud Kabus 03.06.-07.06.13 Handfigurenführung Ulrike Mierau Zeichnen & Malen in der Landschaft 10.06.-12.07.13 Inszenierungsprojekt - Bauen & Spielen Andreas Becker / 16.09.-20.09.13 Theaterarbeit nach Lecoq Fortgeschrittene Von der Zweidimensionalität zur Dreidimensionalität Dorothee Metz Vom Tier zum Menschen Andrea Kilian 23.09.-29.09.13 Der Clown III plus Fortgeschrittene Thilo Matschke FORTBILDUNG FIGURENTHEATER WOCHENKURSE AUFBAUSTUFE FREIE KURSE WOCHENENDKURSE / TAGESVERANSTALTUNGEN In der Aufbaustufe werden die im Orientierungskurs erworbenen Kenntnisse und 06.04.-07.04.13 Fortbildung f. Kindergarten, Grundschule & sonstige Inter. Silke Geyer Fertigkeiten vertieft und erweitert. Nach 50 besuchten Kursen kann eine Bau einer Vertrauensfigur zum Einsatz nicht nur im päd. Bereich Abschlussprüfung mit Zertifikat abgelegt werden. 12.04.-13.04.13 Fortbildung f. Kindergarten, Grundschule & sonstige Inter. Conny Foell 15.04.-19.04.13 Das Spiel mit der Tischfigur Ulrike Mierau Kreistänze mit Kindern 20.04.2013 Das Playbacktheater Karin Brücher-Gollanek 20.04.-26.04.13 Das Vogelscheuchenprojekt Gilbert Meyer Selbst erlebte Geschichten spielen Jörg Brücher Groteskes Figurentheater Marie Wacker 26.04.-28.04.13 Die Kraft des Ausdrucks Theaterpädagogik Francisco Mamani 26.04.-01.05.13 Maskenspiel Anfänger & Fortgeschrittene Silke Geyer 27.04.-28.04.13 Fortbildung f. Kindergarten, Grundschule & sonstige Inter. Cordelia 29.04.-03.05.13 Der letzte Schliff Doris Gschwandtner Spielerisches Singen mit Kindern Zipperling Interdisziplinärer Zertifi kats-Studiengang für Theaterpädagoginnen und Theaterpädagogen Frisuren - Kostüme - Accessoires 03.05.-05.05.13 Fortbildung f. Kindergarten, Grundschule & sonstige Inter. Carola 08.05.-11.05.13 Vom Material zur Choreographie „MBO – Moderation und Beratung in Organisationen“ Begegnung v. Material & menschlichem KörperKarin Ould Chih Zirkus mit Kindern & Jugendlichen Zirkuspädagogik Christian 13.05.-17.05.13 Schattentheater Grundkurs Hansueli Trüb 03.05.-05.05.13 Aquarellmalerei Sylvia Zipprick-Gaou Das Institut für Theaterpädagogik und das Institut für Duale Studiengänge der Fakultät „Management, Kultur und Technik“ am 21.05.-25.05.13 Offene Werkstatt Figurenbau Arne Bustrorff 10.05.-12.05.13 Die Kunst des Schauspielens AnfängerInnen Tony Glaser Campus Lingen bieten im Rahmen des neuen berufsbegleitenden Master-Studienganges „Führung und Organisation“ (6 Sem.) 27.05.-31.05.13 Theaterum Mundi Das goße Welttheater Horst-J. Lonius 25.05.-26.05.13 Mach doch was du wirklich willst den Zertifi kats-Studiengang „Moderation und Beratung“ (4 Sem.) an, der auf theaterpädagogische Grundkenntnisse aufbaut. 03.06.-07.06.13 Vom Bilderbuch zum Papiertheater Peter Schauerte-Lüke Coaching für Kreative und ihre Projekte Birgit Theresa Koch 25.05.-26.05.13 Die Kunst der Rezitation I-III Jürgen Janning Ziel des Studiums ist die Entfaltung und Vermittlung ästhetisch-refl exiver Beratungs- und Moderationskonzeptionen für den Ein- 17.06.-29.06.13 Inszenierungsprojekt I/II Anne Swoboda satz in Organisationen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Analyse organisationstypischer Kulturen und Verhaltensweisen sowie Wenn jemand eine Reise tut ... Dorothea Theurer 22.06.-23.06.13 Blödem Volke unverständlich / 13.07.-14.07.13 Treiben wir des Lebens Spiel (Galgenberg / Chr. Morgenstern) die Exploration der Möglichkeiten zu ihrer Veränderung. Reisegeschichten im Koffer - Prosa Annekatrin Heyne 24.06.-28.06.13 Handpuppen aus Latex & Hatovit Bau Annekatrin Heyne 21.09.20.13 Rezitationsabend 07.06.-09.06.13 Figurentheater in Pädagogik und Therapie Margrit Der Studiengang leistet einen Beitrag zur Öffnung ökonomisch grundierter Berufsfelder für Theaterpädagoginnen und Theater- 02.07.-05.07.13 Regie Figurentheater im Spiegel der Puppen mit Persönlichkeit Gysin pädagogen. Zugleich verfolgt er die Profi lierung und Professionalisierung theaterpädagogischer Gestaltungs- und Refl exions- kindlichen Wahrnehmung - Anf. & Fortg. Stefan Mensing 08.07.-12.07.13 The power of the puppet Neville Tranter Päd. / Therap. Arbeit mit “Persona Dolls” formen im Spannungsfeld wirtschaftlicher Zweckrationalität. Die Puppe als Schauspieler -Fortgeschr. 07.06.-09.06.13 Zeichnen & Malen im Botanischen Garten Ortrud Kabus 13.07.-18.07.13 Puppen aus Schaumstoff Figurenbau Bodo Schulte 08.06.-09.06.13 Fortbildung f. Kindergarten, Grundschule & sonstige Inter. Christiane Lehrinhalte sind u. a.: 05.08.-10.08.13 Die genähte Figur Figurenbau Doris Gschwandtner Von Mund zu Ohr Märchen frei erzählen Willms • Ästhetische, soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Grundlagen • Theatral-analytische Interventionsformen nach 26.08.-30.08.13 Das Spiel mit der Klappmaulpuppe Bodo Schulte 15.06.-16.06.13 Stimme - Rhythmus - Obertöne Lothar Berger Brecht (Lehrstücktechnik), Boal, Johnstone, Moreno • Verfremdung als künstlerische Refl exionsform • Szenische Aktionsfor- 23.09.-27.09.13 I Kompendium Horst-J. Lonius 22.06.-23.06.13 Alexandertechnik Körperwahrnehmung Irene Schlump 04.11.-08.11.13 II Der Inszenierungsprozess I-IV schung • Systemische Beratungsansätze • Moderationstechniken • Beratungsfelder in der Personal- und Organisationsent- 28.06.-30.06.13 Für ein Theater der Zukunft - Chaos & Form 27.01.-31.01.14 III Fortgeschrittene wicklung • Entwicklung von personal- und organisationsbezogenen Beratungskonzepten 07.04.-11.04.14 IV Von der Konzeption und Planung bis zum Coaching Körper-, Energie-, Kreativarbeit n. M. Tschechow Jürgen Larys 06.07.-07.07.13 Mit Stock & Stein Choreographisches Theater Studienstruktur: Fortbildung Der Clown - Das clowneske Spiel Dozent Thilo Matschke mit Naturmaterialien nach Anna Halprin Anne-Kathrin Klatt • 4 Module a 10 CPts in 4 Semestern (ggf. anrechenbar auf den o. a. Master) • pro Semester: ein Block á 6 Tage + ein Block 15.07.-19.07.2013 Der Clown Ia - Anfängerstufe 19.07.-21.07.13 Abrakadabra Zaubern Eckart Görner á 3 Tage (Do-Sa) inklusive Prüfung. • Der Studiengang richtet sich explizit an berufstätige Personen, deren Arbeits- und Erfah- 18.11.-22.11.2013 Der Colwn I - Anfängerstufe 20.07.-21.07.13 Stimme & Präsenz Rolf Peter Kleinen auch unabhängig von “Der Clown II/III” zu belegen Sich ins rechte Licht setzen rungsräume in Lehre und Studienorganisation einfl ießen. 17.02.-21.02.2014 Der Clown II - Aufbaustufe 31.03.-06.04.2014 Der Clown III -Abschlussseminar 28.07.2013 Von Sehnsucht & Fülle I Herzenstänze Kreistänze Conny Foell Der Clown II und III sind nur kompakt zu belegen. 01.09.2013 Von Sehnsucht & Fülle II Herzenstänze Kreistänze Conny Foell Studienvoraussetzung: Akademische Erstausbildung, z. B. Bachelorabschluss oder Diplom Voraussetzung für die Teilnahme an “Der Clown II/III” ist der Besuch von Kosten des Zertifi kats-Studiengangs bei Belegung aller vier Module: € 4.600,- “Der Clown I”. Werkschau 05.04.2014 Tag der offenen Tür Verantwortlich: Prof. Dr. Bernd Ruping, Eva Renvert (Dipl.Päd./Dipl.Theaterpäd.) Fortbildung Märchenerzählen Dozent Rolf Peter Kleinen Bewerbungen bis zum 15.07.2013 an das Institut für Duale Studiengänge der HS Osnabrück, Einführung (nicht verpflichtend): 16.02.13, 15-18 Uhr Sonntag 06.10.2013 Inhaltliche Fragen: Eva Renvert 0591/80098-411, [email protected] Seminartermine 2013 27./28.04. 25./26.05. 22./23.06. 13./14.07. 07./08.09. 15.00 - 18.00 Uhr 21./22.09. 12./13.10. 16./17.11. jew. Sa/So 10-17 Uhr, 07.12.13 Erzählabend Studienorganisation: Katrin Dinkelborg, 0591/80098-722, [email protected] Inhalt

Editorial „Wir machen zweisprachiges Theater!“ Über alte und neue Rollen der Spielleitung ...... 3 Interview mit Hülya Ösun über interkulturelles Ole Hruschka Lernen in der Schule ...... 48 Erstaunliches aus NICHTS Grundlagenreflexion Theater-Film-Projekt im Studiengang Soziale Arbeit an der HAWK Hildesheim ...... 51 Brecht – der „Probenleiter“ Juliane Steinmann Überlegungen zu „Probe“ und „Schauspielkunst“ ...... 7 Spielleitung und Regie in Produktionen Florian Vaßen theaterpädagogischer Weiterbildungsgruppen ...... 53 Gemeinschaft(s)formen Felicitas Jacobs Zu Bewegungsspiel und Bauhütte Martin Luserkes als theaterpädagogische Tradition ...... 10 Magazin ...... 58 Geesche Wartemann Wie Theater denken? Wie Theater machen? Rezensionen ...... 66 Über die Notwendigkeit einer Haltung zur Praxis ...... 12 Mira Sack Ankündigung Tagung und Workshops ...... 78 Theaterpädagogische Praxis-Haltungen in biografischen Theaterproduktionen ...... 15 Autorenverzeichnis ...... 80 Norma Köhler Schultheater – künstlerisches oder soziales Impressum ...... 2 Handlungsfeld? ...... 17 Dorothea Hilliger „Spieglein, Spieglein …“ Gendersensible Spielleitung im Theaterunterricht ...... 20 Ankündigung Sabrina Guse Zwischen Selbstdisziplin und Selbsterfahrung Die Übung als Medium der Subjektkonstitution ...... 22 zum nächsten Heft Florian Frenzel Arbeitstitel der Herbstausgabe Nr. 63/2013: Berichte aus der Praxis „Labore • Fachdiskurse • Forschung“. Regieführen an der Dresdner Bürgerbühne ...... 25 Redaktionsschluss für das Heft 63 Melanie Hinz ist der 1. Juli 2013. „Auf den Spuren des Sensationellen!“ Das Heft wird am 26 Oktober 2013 erscheinen. Interview über Spielleitung mit Martin Frank, Jury- Die Heft-Redaktion hat Andreas Poppe. Sprecher beim Berliner „Theatertreffen der Jugend“ .... 29 Artikel dann bitte senden an: Die nackte Wahrheit braucht den Mantel der Fiktion [email protected] Das „Theater mobil“ am Jungen Schauspiel Hannover .... 31 Bärbel Jogschies Eine haarige Sache Vom Umgang mit der Scham auf der Bühne ...... 32 Daniela Fichte, Annika Vogt Ein Kind ist wie ein unbeschriebenes Blatt Anzeigenschluss Biografisches Theater mit Jugendlichen unter professionellen Bedingungen ...... 34 Vivica Bocks für das Heft 63 ist der 23.08.2013. „Und wann kriegen wir unsere Rollen?“ Anzeigen-Annahme: Frau Nowak Performatives Theater mit Grundschulkindern ...... 36 Friedhelm Roth-Lange Mail: [email protected] Erzähltheater und Stückentwicklung Ein Workshop im Rahmen von „Abenteuer Kultur“ ...... 40 Bei rechtzeitiger telefonischer Absprache Ihrer geplanten Christoph Scheurle Anzeigenschaltung können Sie die Anzeigendatei ggf. „Wir setzen uns für jede Probe ein Ziel!“ später als zum o. g. Anzeigenschlusstermin einsenden. Interview mit Klaus Riedel über Spielleitung in der gymnasialen Oberstufe ...... 45 2 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Hinweise für Autorinnen und Autoren der Zeitschrift für Theaterpä da gogik – KORRESPONDENZEN –

* Eine Seite einschließlich der Leerzeichen enthält ca. 3.800 Zei- * Bilder werden von uns i. d. R. nur verwendet, wenn sie eine chen bei Verwendung der Schriftart Times New Roman mit Schrift - ausreichende Druckqualität gewährleisten. D. h. entweder sie grad 12 und eineinhalbfachem Zeilenabstand. sind mindestens ca. 9 x 6 cm groß und haben eine Auflösung * Entsprechend der Anzahl eingesandter Fotos muss die Summe von wenigsten 300 dpi oder falls die Bilder nur 72 dpi auswei- der Zeichen reduziert werden. sen, müssten sie mindestens ca. 40–60 cm breit sein, so dass * Bitte nichts layouten! unsererseits eine Bearbeitung erfolgen kann. Optimal sind 400 * Wir bitten, keinen Blocksatz, sondern Flattersatz zu verwenden dpi. Kleine Bilder oder 9 x 6 cm-Bilder mit 72 dpi nur auf unsere und keine festen Worttrennungen vorzunehmen. Zielgröße verändern (hochrechnen funktioniert nicht!) Generell * Zuerst kommt der Titel (evtl. mit Untertitel); darunter der Name von gilt: Letztes Auswahlkriterium ist aber immer eine ausreichende Verfasserin bzw. Verfasser. Bitte die Titel möglichst kurz fassen! Bildschärfe (Kontrast). Dateiformat: jpg, pdf, eps oder tif. * Zwischenüberschriften sollen nicht besonders her vorgehoben, * Extra sollen genannt werden: Autor/in-Name, Post-Adresse für sondern frei eingesetzt werden (die Schriftgröße wählt der Verlag). den Versand des Belegexemplars und/oder E-Mail-Adresse für * Fußnoten und Unterstreichungen sollten vermieden werden. das Autorinnen-/Autorenverzeichnis, was in jedem Heft erscheint. Sollten sie notwendig sein, dann bitte in Manuskripten keine * Honorar können wir leider nicht zahlen. Pro Beitrag wird ein Fußnoten, sondern sog. Endnoten verwenden. Heft an die Autorin/den Autor als ein bescheidenes Danke- * Anmerkungen und Literaturangaben kommen an den Schluss schön gesandt. Weitere Exemplare dieses Heftes können mit des Beitrags. 30 % Preisnachlass bezogen werden. * Es wird gebeten, den Artikel als word-Datei zu schicken. * Bitte keine Abbildungen in das Manuskript einbauen, sondern separat als Anhang senden. Bei übersandten Fotos bitte den Vielen Dank! Namen des Fotografen benennen.

Impressum

Herausgeber: Prof. Dr. Ulrike Hentschel, uhen@udk-.de Dr. Ole Hruschka, [email protected] Prof. Dr. Gerd Koch, [email protected] Dieter Linck, [email protected] Prof. Dr. Bernd Ruping, [email protected] Prof. Dr. Florian Vaßen, fl[email protected] In Kooperation mit BAG Spiel + Theater e. V. (gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) [email protected] • www.bag-online.de Bundesverband Theater in Schulen (BV TS) [email protected] www.bvts.org Bundesverband Theaterpädagogik e. V. (BuT) [email protected] • http://www.butinfo.de Gesellschaft für Theaterpädagogik/Niedersachsen e. V. [email protected] • www.gesellschaftfuertheaterpaedagogik.net Heftredaktion: Ole Hruschka Verlag: Schibri-Verlag, Dorfstraße 60, 17337 Uckerland, OT Milow Postanschrift: Schibri-Verlag, Am Markt 22, 17335 Strasburg/Um. Tel. 039753/22757, Fax 039753/22583, http://www.schibri.de E-Mail: [email protected] Grafische Gestaltung: Eileen Camin. Cover: Eileen Camin, Foto: Andreas Hartmann (Hildesheim). Das Titelfoto zeigt die Arbeit an „Marsmenschen“ an der Johannesgrundschule in Hildesheim (Leitung: Nicole Baumann) Copyright: Alle Rechte bei den Autoren/all rights reserved Preis: Einzelheft: Euro 7,50 plus Porto. Jahresabonnement: Euro 13,– plus Porto. Studierendenabonnement: Euro10,– plus Porto. Abonnements über den Verlag oder über Herausgeber-Verbände. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbei- tungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einige Bilder und/oder Fotos in dieser Ausgabe sind das urheberrechtlich geschützte Eigentum von 123 RF Limited oder Fotolia oder anderen autorisierten Lieferanten, die gemäß der Lizenzbedingungen genutzt wurden. Diese Bilder und/oder Fotos dürfen nicht ohne Erlaubnis von 123 RF Limited oder Fotolia oder anderen autorisierten Lieferanten kopiert oder herunter geladen werden. Für den Anzeigeninhalt sind alleinig die Inserenten verantwortlich. Bestelladresssen: Buchhandel • Schibri-Verlag • Herausgeber • Verbände (siehe oben) ISSN 1865-9756 Editorial 3

Editorial EDITORIAL

Über alte und neue Rollen der Spielleitung Ole Hruschka

Regie und Spielleitung – dieses Thema hat in der theater- wieder neu der Frage nach den „Begründungszusammenhängen“ pädagogischen Fachdebatte einen hohen Stellenwert: Die für ihr Handeln zu stellen (siehe den Beitrag von Mira Sack, kritische Auseinandersetzung mit der „Haltung“ von Theater- 12). Diese Form der Selbstverständigung ist Ausgangspunkt macher_innen begegnet uns in Praxis-Ratgebern (Lehrwerken, und Bedingung ihres Tuns, wenn sie ihr eigenes Profil ausbil- Handreichungen, Rahmenrichtlinien), Selbstreflexionen (pro- den möchten und sich dabei nicht nachsagen lassen wollen, grammatischen Schriften, Essays, Interviews) und im aktuellen eine antiquierte Auffassung der eigenen beruflichen Aufgabe Theoriediskurs. Auffällig ist, dass in den Publikationen zu zu vertreten (vgl. Green 2005, 98–105; Plath 2009, 31–46). diesem Thema eine Fülle von Handlungsanleitungen und Funktionszuschreibungen koexistieren: Demnach sind die Die vorliegende Ausgabe der Zeitschrift für Theaterpädagogik Spezialisten und Führungskräfte des Theaters immer auch widmet sich der Frage nach den pädagogischen und ästhetischen „Schauspieler“ und „Statuswechsler“ (Scheller 1998; Plath Grundannahmen und Haltungen, mit denen Anleitende derzeit 2010): Sie treten auf als „Rahmen-(er)finderinnen“ (Pinkert „operieren“. Auf der Suche nach einer zeitgemäßen job descripti- 2007, 267) oder disziplinierende „Übungsleiter“ (Frenzel, S. on liefern die Autor_innen Beiträge zu einer Bestandaufnahme: 22). Sie verwandeln sich „vom Kenntnisvermittler zum Er- Wie setzen erfahrene Spielleiter_innen kreative Prozesse in Gang? fahrungsgestalter“ (Gunter Otto; zit. nach Hentschel 2003, Welche künstlerischen Verfahren und welche pädagogischen 68), begegnen den ihnen anvertrauten Gruppen je nach Be- Prämissen sind dabei wirksam? darf als „Anwalt“ des Autors, der Spieler oder des Publikums Der Hauptteil des Heftes ist in zwei Abschnitte untergliedert – (Herdemerten 1998, 51–55). Sie begleiten und steuern Pro- im Idealfall sollte die Lektüre beider Hälften sich wechselseitig zesse als „Ideenlieferant und Animateur“ (George Tabori, zit. erhellen: Der erste Teil („Grundlagenreflexion“) zielt darauf nach Meyer 2003, 284) bzw. als „faciliator“ oder „activator“ ab, aus historischen Entwicklungen oder aktuellen Tendenzen (Spiewak 2013). Und sie begreifen sich dabei auch als aben- Überlegungen über heutige Praxis-Haltungen abzuleiten. Im teuerlustige „Expeditionsleiter“ auf unbekanntem Terrain zweiten Teil („Berichte aus der Praxis“) geht es darum, dass (Scheurle, S. 40), als „Coach“, „Chorführer“ oder auch als Spielleiter_innen selbst anhand geeigneter Projektbeispiele ihre „Sozialplastikerin“ (Hinz, S. 25). spezifische Vorgehensweisen und ihre Zielsetzungen schildern – auch mit Blick auf den jeweiligen institutionellen Kontext, Diese kleine Auswahl aus dem Rollenrepertoire für „Spiellei- in dem sie sich bewegen. tertypen“ verweist auf die zunehmende Ausdifferenzierung des Phänomens und der dazugehörigen Begriffe. Sie zeigt auch, dass Spielleiter_innen heutzutage mit einer Vielzahl, zum Teil wi- Hierarchie versus Transparenz? dersprüchlicher Rollenentwürfe und -versatzstücke konfrontiert sind, aus denen sie die ihnen angemessenen situationsgerecht Die auf Brecht zurückgehende Rede von der „Haltung“ des auswählen müssen. „Im Idealfall machen sich Theaterpädagog_ Unterrichtenden meint zunächst Vorstellungen, Einstellungen, innen selbst überflüssig“, so lautet eine Anweisung im Dickicht aber auch die jeweilige soziale und körperliche Disposition. Wo der Handlungsmaximen, „Auf den guten Lehrer kommt es an!“ individuelle Leitungsstile zur Verhandlung stehen, geht es immer eine andere. Daraus folgt: Gegenüber Patentlösungen und gol- um die ganze Persönlichkeit – und zwar in ihrem Verhältnis zu denen Regeln sind grundsätzlich Zweifel angebracht – auch weil der „Gemeinschaftsform“, für die sie Verantwortung trägt (sie- in unterschiedlichen Phasen des theaterpädagogischen Prozes- he dazu den Beitrag von Geesche Wartemann, S. 10). Außerdem ses womöglich ganz unterschiedliche „Haltungen“ notwendig bezeichnet der Begriff der Spielleitung – ähnlich dem der Regie sind, die zudem je nach Reifegrad und Zusammensetzung einer im professionellen Theater – jene ordnende und lenkende In- Gruppe variieren. stanz, die den Kommunikationsfluss, das Vertrauen innerhalb Die Einsicht in die Vielzahl und die Heterogenität künstlerisch- der Gruppe und gemeinsame Spielregeln aufrechterhält. pädagogischer Konzepte von Spielleitung sollte jedoch nicht in Die Spielleitung stellt die organisatorischen Bedingungen für Orientierungslosigkeit münden. Stattdessen sehen sich Spiellei- den Proben- und Aufführungsprozess sicher und prüft ästheti- ter_innen mit der „Notwendigkeit“ konfrontiert, sich immer sche Verfahren auf ihre Adäquatheit; sie initiiert themen- und 4 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Editorial situationsgerechte Improvisationen, sorgt für ensembleorien- Regisseur als „Zuchtmeister der Moderne im Theater des 20. tierte Spielprinzipien, moderiert assoziative Gespräche und Jahrhunderts“ (Roselt 2009, 36) kritisch hinterfragt und zuwei- nutzt anregende feedback-Formate. Schließlich hilft sie, ein len munter demontiert. Das heißt jedoch (leider) nicht, dass konzeptionelles Gerüst aus schlüssigen, bildhaften Grundsi- dieses Bild seither ein für allemal der Vergangenheit angehört. tuationen zu erstellen bzw. die verschiedenen Einfälle unter Zum anderen lässt der theaterpädagogische Diskurs einen Aspekt dramaturgischen Gesichtspunkten zu verdichten. Vor allem ist sie bislang weitgehend unbeachtet, den er besonders selbstkritisch und mitverantwortlich dafür, dass der Theaterprozess von kollektiven schonungslos zu reflektieren hätte: Auch Theaterpädagog_innen Suchbewegungen und Entscheidungsfindungen getragen wird: verlangen ihren Akteuren oft einiges ab, um bestimmte Darstel- „Wo Unterschiede wichtig sind, unterschiedliche Kompetenzen lungsziele zu erreichen. Sie vertreten dabei eine provozierende gebraucht werden und schon erworbene Erfahrungen mit der und konfrontative Spielleitungsposition, meiden die Fallgruben Gruppenarbeit und dem Theater notwendige Voraussetzung einer „Kuschel“-Pädagogik und suchen stattdessen kompromisslos für den Probenprozess sind, entstehen auch jeweils spezifische „eine starke, womöglich sogar lebensverändernde singuläre Kunst- Machtkonstellationen, denn keine soziale Beziehung realisiert erfahrung“, die „man sich vorher überhaupt nicht hat vorstellen sich im luftleeren Raum. Sie werden durch die wechselseitige können“ (Goebbels 2012). Die dazugehörigen theaterpraktischen Abhängigkeit beim Theatermachen und Theaterspielen aktua- „Übungen“, die zum Alltagsgeschäft in Jugendclubs an Theatern lisiert und verstärkt. Oft haben Regisseure oder Spielleiter die und in der schulischen Praxis gehören, können durchaus auch Aufgabe, diesen Vorgang bewusst zu machen und zu moderie- einen „Zurichtungs-Mechanismus“ enthalten. Ermöglichen erst ren“ (Kurzenberger 2012, 103). Disziplinierung und ein gewisser „Wiederholungszwang“ die Das Selbstverständnis von Spielleiter_innen basiert nicht allein vielbeschworenen theaterpädagogischen Selbstbildungsprozesse auf individuellen Vorlieben oder eigens formulierten professi- (siehe den Beitrag von Florian Frenzel, S. 22)? onellen Leitsätzen. In aller Regel orientiert es sich – mehr oder weniger bewusst – immer auch an verallgemeinerbaren „kul- Berichte aus der Praxis turpädagogischen Paradigmen“, die „gleichzeitig, aber innerhalb einer fortschreitenden Entwicklung mehr oder weniger stark Die konkreten, praktischen Anforderungen an Regisseure wirksam sind“. Entsprechende richtungsweisende Modelle oder bzw. Spielleiter werden in diesem Heft anhand von aktuel- „Schulen“ setzen zum Beispiel bei der „Selbstverwirklichung des len Beispielen diskutiert. Ein prominenter Schauplatz ist die Subjekts“ an, favorisieren eher die „produktive Kritik gesell- Dresdner Bürgerbühne, an der nicht-professionelle Darsteller schaftlicher Verhältnisse“ oder legen besonderen Wert auf die als sogenannte „Experten des Alltags“ unter professionellen „Autonomie von Kunst und Kunstproduktion“ (Pinkert 2007, Bedingungen Theater machen (siehe den Beitrag von Melanie 256–261). In welcher Strömung man schwimmt, das hängt also Hinz, S. 25). Relevant ist die Beschäftigung mit den Steuerungs- eng zusammen damit, „welche Bildungsziele, welches Verständnis instrumenten der Spielleitung vor allem aber auch im Zuge von Lernen, welche gesellschaftlichen Funktionen“ man mit der einer zeitgenössischen Kunstvermittlung, die die Eigeninitia- Vermittlung des Theatermediums verbindet (Mörsch 2011, 21). tive und die Selbstverantwortlichkeit von Theater-Lernenden in besonderer Weise fördern und einfordern möchte. Dies ist Regie versus Spielleitung? zum Beispiel im Rahmen der Theaterarbeit mit Kindern der Fall, bei der Rechercheprozesse zu den Themen Strafe und Ge- Unergiebig wäre es, in diesem Heft einmal mehr den vermeint- schwister präsentiert werden (siehe den Beitrag von Friedhelm lichen Gegensatz zwischen Regie und Spielleitung, Kunst und Roth-Lange, S. 36). Oder in Workshops mit Auszubildenden Pädagogik, Produkt und Prozess zu traktieren. Die Unterschei- der dm-Drogeriemarktkette, die den „Lernlingen“ neue, be- dung zwischen professionellem Theater und Theaterpädagogik fremdliche und ungeplante Erfahrungsräume eröffnen (siehe (verstanden als Theater mit nichtprofessionellen Akteuren), den Beitrag von Christoph Scheurle, S. 40). zwischen „Berufsregisseur“ und „Spielleiter“ mag vielleicht aus Die Attraktivität von biografisch orientierten Theaterprodukti- heuristischen Gründen hilfreich sein, um zu zeigen, wo die „spe- onen spiegelt sich in mehreren Beiträgen in diesem Heft (siehe zifischen Ausgangslagen […] graduell voneinander abweichen“ den Beitrag von Norma Köhler, S. 15). Projekte mit Jugendlichen, und um unterschiedlich zu gewichtende „Zielformulierungen“ die biografisches Theater als theatrale Feldforschung im sozialen herauszuarbeiten: „In der Regiearbeit ist das künstlerische Produkt Raum betreiben, haben Konjunktur (siehe den Beitrag von Bär- wichtiger als die den Spielern ermöglichte Differenzerfahrung, bel Jogschies, S. 31). Die ethische Verantwortung der Spielleitung in der Theaterpädagogik ist es umgekehrt“ (Sack 2011, 19). An- wird bei dieser Art von Stückentwicklung besonders sinnfällig. gesichts der „Professionalisierung der Theaterpädagogik“ bzw. Es hat tiefgreifende Auswirkungen, wenn Inhalt, Fragestellung der „Pädagogisierung des professionellen Theaters“ (Pinkert und Form des Theaters radikal aus dem Selbstbewusstsein der 2010, 99) werden strikte begriffliche Trennungen der kompli- Spieler erwachsen sollen (siehe den Beitrag von Vivica Bocks, zierteren Wirklichkeit aber kaum gerecht (Stichworte: „Experten 34). Denn hier stellt sich verschärft die Frage, wie die Verant- des Alltags“; „soziale Ästhetik“; „Öffnung des Kunsttheaters“). wortlichen mit Widerständen, mit Ängsten, Tabus oder auch Tatsächlich sind die Grenzen fließend. Sie beginnen sich bereits der Scham der Spieler_innen umgehen (siehe den Beitrag von bei Brecht, der den „Probenleiter“ idealistisch als Ratgeber und Daniela Fichte, S. 32). Fragenden konzipiert, zu verflüssigen (siehe den Beitrag von Florian Vaßen, S. 7). Und spätestens seit den Demokratisierungs- Die Tätigkeit von Spielleiter_innen hat oft auch eine politische versuchen in den 1960er Jahren wird das Bild vom despotischen Dimension. Dies wird besonders deutlich bei den Bemühungen Editorial 5

Editorial um einen „genderfairen“ Umgang mit der Spielgruppe (siehe Auch bei den Beiträgen im Magazin liegt der inhaltliche Schwer- dazu den Beitrag von Sabrina Guse, S. 20) oder beim „post- punkt diesmal auf Spielleiterhaltungen und -methoden, wie sie migrantischen“ bzw. „zweisprachigen Theater“ (Interview mit etwa in den workshops der 27. Bundestagung des BuT erprobt Hülya Ösün, S. 48) – aber auch dort, wo Traditionen des Politi- und diskutiert wurden. Über die gut besuchte und fachlich schen Theaters in der Schulöffentlichkeit erprobt und reflektiert anregende Tagung „Das aktive Publikum“ (Wolfenbüttel im werden (Interview mit Klaus Riedel, S. 45). Das neu erwachte Oktober 2012) berichten Claudia Bühlmann, Friedhelm Roth- Interesse an ästhetischen Formaten und inhaltlichen Fragen, die Lange und Studierende des Instituts angewandtes Theater Wien eine Verbindung von Theaterpädagogik und politischer Bildung (J. Pfurtscheller, K. Dufek, B. Moscon). Die Diskussion von Spiel- ermöglichen oder begünstigen (vgl. Hruschka; Post; Wartemann leitungspositionen – hier in Bezug auf die Theaterarbeit mit 2011), hat auch Auswirkungen auf die Position der Spiellei- Kindern – bestimmte auch die Fachtagung zum 5. Deutschen tung. Denn hier geht es nicht (mehr) um eine klare politische Kinder-Theater-Fest „Vom Spiel zum Theater – Gestaltungs- Zielorientierung oder entsprechende Botschaften. Vielmehr prozesse mit Kindern“ (Juni 2012 in Rudolstadt), von der kann die Spielleitung dazu beitragen, dass das „Format“ bzw. Silke Lenz berichtet. Und zum guten Schluss lässt einmal mehr der „Rahmen selbst, in dem Bildung stattfindet oder stattfin- Gerd Koch aufhorchen, allerdings in anderem Zusammenhang: den soll“ von allen Beteiligten befragt und – im Sinne einer Sein Beitrag lenkt die Aufmerksamkeit auf KONZERTANTE „Institutionenkritik und -entwicklung“ – im veröffentlichten Aufführungen und dokumentiert epische Formen des Musik- Ergebnis sichtbar gemacht wird (siehe dazu den Beitrag von Do- theaters, d. h. zeitgenössische Formen der Oper und besonders rothea Hilliger, S. 17). Theaterpädagogik entfaltet insbesondere der Operette, in denen „Instrumental-Musik, Sprache, Gesang, auch dort ihr politisches Potential, wo aus einem Prozess der szenische Gestaltung, Dekor“ in besonderer Weise „zusammen- kollektiven Willensbildung die „eigenständige Haltung“ einer wirken“ – als „wahre Kraftwerke der Gefühle“ () Gruppe hervorgeht – und ästhetisch produktiv gemacht wird und doch zugleich „zeigend, berichtend, kommentierend, aus- (siehe dazu das Interview mit Martin Frank, S. 29). Dann kann spielend, eingreifend in Verhältnisse, verschiedene Sprachen sie irritierend, subversiv und verändernd wirken. verwendend.“ (S. 62)

Nicht zuletzt spiegelt sich die zentrale Rolle der Spielleitung im Dank Kontext der Aus- und Weiterbildung von Theaterpädagog_innen. Bei Praxisprojekten an Hochschulen und Fortbildungsinstitu- Allen Studierenden, die die oben genannten Veranstaltungen tionen ist es besonders wichtig, Arbeitsweisen und die jeweilige an der Leibniz Universität Hannover durch ihre Neugier und „Anleitungshaltung“ transparent zu machen (siehe dazu den ihre engagierte Mitarbeit bereichert haben, sei an dieser Stelle Beitrag von Juliane Steinmann, S. 51). Möglichst früh gilt es, gedankt. Mein besonderer Dank gilt überdies allen Vortragenden die leibhaftige Erfahrung zu machen, wie fragil künstlerische bzw. den Autor_innen dieser Ausgabe sowie Andreas Hartmann Prozesse sind, dass Experimente scheitern können und dass (Hildesheim) für sein Probenfoto, das wir mit freundlicher Un- der Prozess der kollektiven Kreativität „Angst, Widerstand, terstützung des Theaterpädagogischen Zentrums Hildesheims Unsicherheit und gleichzeitig Disziplin, Kontinuität und Be- auf dem Titel abdrucken dürfen. Frau Susanne Kämmerer und geisterung“ wecken kann. (siehe dazu den Beitrag n vo Felicitas Herrn Prof. Dr. Wilhelm Dahms bin ich dankbar für Ihre Freu- Jacobs, S. 54). de daran, Wissen zu vermitteln und zu teilen. In diesem Sinne ist die vorliegende Ausgabe der Zeitschrift für Theaterpädagogik nicht zufällig aus zwei Lehrveranstaltungen Literatur hervorgegangen, die im Rahmen des Kooperationsstudiengangs Darstellendes Spiel angeboten wurden. Im Seminar „Werkstattge- Norm Green, Kathy Green (2005): Wie verändert sich die Rolle des spräche über Theaterpädagogik“ und im Forschungskolloquium Lehrers? In: Kooperatives Lernen im Klassenraum und im „Regie und Spielleitung“ wurden erfahrene Kolleg_innen an Kollegium. Das Trainingsbuch. Seelze-Velber: Kallmeyer- sche, S. 98–105 die Leibniz Universität Hannover eingeladen, über ihre The- Ulrike Hentschel (2003): Theorie? Ja, aber welche und wozu? Bemer- aterarbeit zu berichten. Die „Werkstattgespräche“ führten kungen zum Selbstverständnis der Spiel- und Theaterpädagogik. Studierenden im Wintersemester 2011/12 auf der Basis eines In: Ulrike Hentschel, Hans-Martin Ritter (Hg.): Entwicklungen gemeinsam erarbeiteten Fragenkatalogs (Meuser; Nagel 1991): und Perspektiven der Spiel- und Theaterpädagogik. Festschrift Experten beantworteten Fragen zum „Kontextwissen“ („Wie für Hans-Wolfgang Nickel. Berlin, S. 60–75 definieren Sie Ihr Handlungsfeld?“) und zum „Betriebswissen“ Frank Herdemerten (1998): Spielleitung und Spielgruppe. Leitung und („Wie organisieren Sie Ihre Arbeit?“), Evaluationsfragen („Was Selbststeuerung der Spielgruppe – ein dialogisches Prinzip. In: war an der von Ihnen exemplarisch geschilderten Theaterarbeit Elinor Lippert: Theaterspielen. Bamberg: Buchner, S. 48–68 gut, was hätte besser laufen können?“), aber auch Fragen zu Christel Hoffmann (1999): Die Kunst des Spielleiters. In Dies.; Annett Israel: Theater spielen mit Kindern und Jugendlichen. Kon- Startbedingungen, Verlauf und konstitutiven Elementen von zepte, Methoden und Übungen. Weinheim und München: Probenprozessen sowie zur pädagogischen Konzeption („Wo Juventa, S. 13–33 sehen Sie Ihre Hauptverantwortung als Spielleiter_in?“). Im Ole Hruschka, Doris Post und Geesche Wartemann (2011) (Hg.): Mittelpunkt des Kolloquiums „Regie und Spielleitung“ im Theater probieren, Politik entdecken. Bonn: Bundeszentrale Wintersemester 2012/13 standen dagegen Vorträge zu theore- für Politische Bildung tischen Überlegungen und praktischen Beispielen, die in dieser Hajo Kurzenberger (2012): Der kollektive Prozess der Theaterpädago- Zeitschrift zum Teil nun ebenfalls verschriftlicht vorliegen. gik. In: Christoph Nix, Dietmar Sachser, Marianne Streisand 6 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Editorial

(Hg.): Theaterpädagogik, Lektionen 5, Berlin: Theater der – Dies. (2010): „Perspektive “. Zur Anwendung von The- Zeit, S. 99–104 ater im Feld zwischen Theaterkunst und Theaterpädagogik. Heiner Goebbels (2012): „Kunst kann das Leben verändern“. Inter- In: Florian Vaßen (Hg.): Korrespondenzen. Theater – Ästhe- view von Peter Kümmel und Klaus Spahn. In: Zeit online, tik – Pädagogik. Berlin/Milow/Strasburg: Schibri, S. 99–113 14. August 2012, http://www.zeit.de/2012/18/KS-Goebbels/ Maike Plath (2010): „Spielend“ unterrichten und Kommunikation komplettansicht (letzter Zugriff 17.10.2012). gestalten. Warum jeder Lehrer ein Schauspieler ist. Weinheim Jörg Meyer (2003): Spielleitung. In: Koch, Gerd; Streisand, Marianne und Basel: Beltz (Hg.): Wörterbuch (der) Theaterpädagogik. Berlin, Milow: – Dies. (2009): Über die Haltung des Spielleiters. In (dies.): Biogra- Schibri S. 283–285 fisches Theater in der Schule. Mit Jugendlichen inszenieren: Michael Meuser, Ulrike Nagel (1991): Expertinneninterviews – vielfach Darstellendes Spiel in der Sekundarstufe. Weinheim und Ba- erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methoden- sel: Beltz, S. 31–46 diskussion. In: Garz, D; Kraimer, K. (Hg.) Qualitativ-empirische Mira Sack (2011): spielend denken: theaterpädagogische Zugänge zur Sozialforschung, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 441–468 Dramaturgie des Probens. Bielefeld: transcript Carmen Mörsch (2011): „Watch this Space! Positionen beziehen in der Ingo Scheller (1998): Lernsituationen, Vorbereitung, Spielleitung. In Kulturvermitlung“ In: Mira Sack, Anton Rey, Stefan Schöbl (Hg.): (ders.): Szenisches Spiel: Handbuch für die pädagogische Pra- Theater – Vermittlung – Schule. Ein Dialog, Zürich, S. 8–25 xis. Hannover: Cornelsen, S. 202–222 Ute Pinkert (2008): Theater machen! Ja, aber welches? Paradigmen- Martin Spiewak (2013): Hattie – Ich bin superwichtig. In: DIE ZEIT wechsel in der Theaterpädagogik. In: Streisand, Marianne u. a. vom 3.1.2013, Nr. 02 [http://www.zeit.de/2013/02/Paedago- (Hg.): Talkin’ about my Generation. Archäologie der Thea- gik-John-Hattie-Visible-Learning/komplettansicht] (letzter terpädagogik II. Berlin Milow Strasburg: Schibri, S. 252–267 Zugriff 14.01.2013)

Zu den zentralen Aufgaben der Spielleitung gehört es, eine Gemeinschaft zu formen. Szenenfotos aus dem Jelinek-Projekt „Prinzessinnendramen“ an der Leibniz Universität Hannover 2012 (Leitung: Carmen Waack, Lilith Schön; Günter Kömmet, Ricarda Maack) Fotos: Andreas Hartmann Grundlagenreflexion 7

GRUNDLAGENREFLEXION

Brecht – der „Probenleiter“ Überlegungen zu „Probe“ und „Schauspielkunst“ Florian Vaßen

In Brechts Theatertheorie und vor allem in seiner Praxis spielt zu spielen“ (22.2, 1110), an dem Brecht 16 Jahre von 1939 bis der Probenprozess eine zentrale Rolle. Dabei versteht er die Pro- 1955 gearbeitet hat, diskutieren deshalb auch ein Schauspie- be als ein „Ausprobieren [Hervorhebungen im Original]“ von ler und eine Schauspielerin, ein Dramaturg und ein Philosoph „mehrere[n] Möglichkeiten“, bei dem der „Probenleiter“1 – er miteinander und kein Dramatiker oder Regisseur. spricht hier offensichtlich bewusst nicht vom Regisseur – „Fragen“ Der „Schauspielkunst“ stellt Brecht nahezu gleichberechtigt die und „Zweifel, die Vielfalt möglicher Gesichtspunkte, Verglei- „Zuschaukunst“ (22.2, 618–620) zur Seite und zeigt damit, dass che, Erinnerungen, Erfahrungen“ beisteuert und initiiert, „alle er sich als Theaterpraktiker ganz besonders für das Vorher und schematischen, gewohnten, konventionellen Lösungen“ dagegen das Nachher des Theaterereignisses interessiert, wenn man es vermeidet; seine „Aufgabe ist, die Produktivität der Schauspie- denn zeitlich derart aufteilen will.7 Die Aufführung als Zent- ler (Musiker und Maler usw.) zu wecken und zu organisieren.“ rum des Theaterprozesses ist zwar mit Brecht-Gardine, heller Mit Hilfe von Widersprüchen und „Krisen“ soll sich, so Brecht, Beleuchtung, ausgewählten Requisiten (vgl. 22.2, 867–869) keine organische Verbindung, sondern eine schrittweise „Logik möglichst aus echtem Material, Bühnenbildern à la Caspar [Hervorhebungen im Original]“ der „Aufeinanderfolge“ und Neher als „Gebäude, auf dem ‚Leute‘ etwas erleben“ (22.2, 854) des „Ineinanderübergehens“ entwickeln, verbunden mit einem und mit der Musik, vor allem den „Gesänge(n)“ (22.2, 868), „Element der Überraschung“2 und der „Unordnung“3, so dass wie es bei Brecht heißt, von großer Bedeutung, aber im Sinne das Neue eine „staunende Haltung [Hervorhebung im Origi- seiner Wirkungsästhetik konzentriert sich Brecht in besonde- nal] der Schauspieler“ (22.1, 598) und zugleich der Zuschauer rem Maße auf die Theater-Proben und die Theater-Rezeption. hervorbringt. Die Probe steht bei Brecht zweifelsohne auch für Die Folge ist: Brecht kritisiert die Ausbildung an den Schau- Wiederholung, Sicherung und Festlegung, wichtiger aber für spielschulen, zeigt, dass Erwin Piscator bei allen Verdiensten seine „Poetik des Probierens“4 ist ihr Experimentcharakter5, ihre um das experimentelle Theater und speziell die Verfremdung Bewegung des Suchens, Findens und wieder Verwerfens, d. h. sich kaum um die Schauspielkunst gekümmert hat (vgl. 22.2, ihre Offenheit und ihre kollektive Arbeitsform.6 816), und stellt selbst vielfältige und umfangreiche Überlegun- Auf „einem Notizbuchblatt aus dem Jahr 1940“ (22.2, 1119) gen gerade zu diesem Bereich an, weil er von dem „System des steht ein kurzer Text mit dem Titel „Probe“ (22.2, 764), und Stanislawski [Hervorhebung im Original]“ „enttäuscht“ (22.2, auch an anderen Stellen seiner theoretischen Überlegungen zur 827) ist. Für sein episches Theater, speziell die Konzeption der „Schauspielkunst“ beschäftigt sich Brecht mit den „Proben“ (22.2, Verfremdung, benötigt Brecht eine besondere Spielweise der 642 und 644), dem „Probieren“ (22.2, 675) und „Übungen“ Schauspieler und das heißt: eine eigenständige „Schauspiel- (22.2, 614 f). Er gibt „Anweisungen an die Schauspieler“ (22.2, kunst“. Entsprechend intensiv und extensiv arbeitet er auf den 667 f), benennt „Hilfsmittel“ (22.2, 644), stellt das „Vorgehen Proben, konstituiert u. a. durch Übungen, Gespräche und Be- beim Studieren und Aufbau“ einer Rolle dar (22.2, 684) und obachtungen, Reflexionen und Kenntnisse und begleitet von schreibt sogar eigenständige „Übungsstücke für Schauspieler“ ausführlichen Proben-Protokollen, -Zeichnungen und -Fotos.8 (22.2, 830–852) als „Parallelszenen“ (22.2, 830), „Zwischen- Im Zentrum seiner Überlegungen steht – wie zu erwarten – szenen“ (22.2, 840) und „Rundgedichte“ (22.2, 847), Szenen, die „Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die z. B. mit Hilfe der „Übertragungen […] des Streits der die einen Verfremdungseffekt hervorbringt“; zu dieser Technik Königinnen aus ‚Maria Stuart‘ in ein prosaisches Milieu“ [das gehören vor allem das ‚„Zeigen[]“ und das „Zitieren“ der Figur der „Fischweiber“ 22.2, 834] der Verfremdung der klassischen durch den Schauspieler, dessen „Haltung des Staunenden und Szenen dienen.“ (22.2, 830) Widersprechenden“ (22.2, 641–650) sowie die Erarbeitung Brecht ist der einzige deutschsprachige Dramatiker des 20. Jahr- eines „soziale[n] Gestus“, worunter Brecht einen „Komplex hunderts, der derart umfassend Dramen- und Schauspiel-Theorie, von Gesten, Mimik und (für gewöhnlich) Aussagen“ versteht, Stücke-Schreiben und praktische Theaterarbeit miteinander „welchen ein oder mehrere Menschen zu einem oder mehreren verbindet. Dabei spielt die „Schauspielkunst“ in vielen Texten, Menschen richten.“ (22.2, 616 f). Als „Hilfsmittel“ nennt Brecht besonders auch in dem umfangreichen Fragment der Messingkauf „1. Die Überführung in die dritte Person. 2. Die Überführung sowie in dessen – man könnte sagen – strukturierter Kurzfassung, in die Vergangenheit. 3. Das Mitsprechen von Spielanweisungen dem Kleinen Organon für das Theater, eine besondere Rolle. Im und Kommentaren [Hervorhebung im Original].“ (22.2, 644) Messingkauf, jenem „Viergespräch über eine neue Art, Theater Außerdem spricht er vom „Proben am Tisch“, damit „ein allzu 8 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Brecht – der „Probenleiter“

‚impulsives‘, reibungsloses und unkritisches Gestalten der Per- eigene Kunst; so und so viel davon ist zu lernen. Weder die Ab- sonen und Vorgänge vermieden“ wird (22.2, 642) und vom sicht, die Vorlage genau zu treffen, noch die Absicht, sie schnell „schrittweise[n] Vorgehen beim Studium und Aufbau der Fi- zu verlassen, ist das Richtige. […] Gedacht als Erleichterung, gur“. (22.2, 684 f) Eine weitere „gute Übung besteht darin, sind die Modelle nicht leicht zu handhaben. Sie sind nicht ge- daß ein Schauspieler seine Rolle andern Schauspielern einstu- macht, das Denken zu ersparen, sondern es anzuregen; nicht diert“, so dass er „seine Rolle von andern gespielt sieht“ (22.2, dargeboten, das künstlerische Schaffen zu ersetzen, sondern es 650). Dabei sollen die „Schauspieler […] das Probieren mit zu erzwingen. Nicht nur zur Abänderung der Vorlage, auch zur dem Setzen des Nullpunkts“ beginnen, „d. h. sie beginnen so Annahme ist Phantasie nötig.“ (25, 398) weit vorn wie möglich, so nah dem Noch-Nichts wie möglich.“ Der Begriff „Theaterarbeit“ verweist auf theatrale Arbeit und (22.2, 675) Als „Anweisungen“ finden sich bei Brechts zudem ästhetische Produktion, fundiert in einem kollektiven Proben- das „Nicht, Sondern“, das „Memorieren der ersten Eindrücke“, das prozess, bei dem neue Methoden ernsthaft und sogar mühevoll „Erfinden“ und das schon erwähnte „Mitsprechen von Spielan- ausprobiert werden (vgl. 25, 406). Am Ende aller Übungen11 weisungen“ und das „Auswechseln der Rollen [Hervorhebungen und Proben aber muss nach Brecht unbedingt die „Leichtigkeit“ im Original]“ (22.2, 667) sowie u. a. „Beobachtungsübungen“, des Schauspielers stehen, die allerdings an „die überwundene „Imitationsübungen“, Notierkunde“, „Phantasieübungen“, Mühe oder die siegreiche Mühe“ erinnern sollte (22.2, 810): „Dramatisierung von Epik“, „Regieübungen“ und „Tempera- „Will man Schweres bewältigen, muß man es sich leicht ma- mentsübungen“ (22.2, 614 f). Schließlich arbeitet Brecht mit chen“ – „Macht der Schauspieler es sich nicht leicht, macht er dem bekannten Rundgedicht „Ein Hund ging in die Küche/ es auch dem Publikum nicht leicht.“ (23, 168 f) Nur so kann Und stahl dem Koch ein Ei. […]“, dessen acht Zeilen „jeweils für Brecht das Theater „die Lust am Erkennen erregen, den verschieden im Gestus aufgesagt“ werden, „wie von verschie- Spaß [Hervorhebungen im Original] an der Veränderung der denen Charakteren in verschiedenen Situationen.“ (22.2, 847) Wirklichkeit organisieren.“ (25, 418) Diese vielfältigen und verschiedenartigen „Verfahren“, die insbe- sondere dazu dienen, den „Text bei den Proben“ zu verfremden Anmerkungen (22.2, 644), ermöglichen eine Historisierung, dass also bei den 1 Brecht verwendet in der Regel, wie es zu seiner Zeit üblich war, nur Schauspielern ein „Abstand zu den Ereignissen und Verhal- die männliche Form der Personen, in meinem Text verwende ich die tungsweisen der Jetztzeit“ entsteht, vergleichbar mit dem zur männliche Form wegen der besseren Lesbarkeit, weibliche Personen sind Vergangenheit, „den der Historiker nimmt“ (22.2, 646). immer einbezogen. Seit den 1940er Jahren, vor allem als Brecht nach dem Zweiten 2 (1993): Werke. Große kommentierte Berliner und Frank- Weltkrieg in der SBZ/DDR endlich selber inszenieren konnte, furter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u. a. Bd. 22.1. Schriften 2. Teil 1. konzipierte er mit Unterstützung von Ruth Berlau sogenannte Berlin/Weimar/Frankfurt a. M.: Aufbau/Suhrkamp, S. 597 f; im Folgenden Modellbücher, in denen mit Beschreibungen, Kommentaren steht bei Brecht-Zitaten hinter dem Zitat in Klammern die Bandnummer und Analysen, mit Notaten9 und Protokollen, Noten, S kizzen und Seitenzahl. Brecht hat, wie berichtet, eine besondere und Zeichnungen, vor allem aber mit einer Vielzahl von Büh- Vorstellung von „Produktion“: „Sie ist immer das Unvorhersehbare. Man nenfotos der Grundgestus des jeweiligen Stücks sowie szenische weiß nie, was bei ihr herauskommt.“ Walter Benjamin: Tagebuchnotizen Arrangements, die Gliederung der Fabel, Tempo, Ablauf der 1938. In: W. B. (1985): Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 537. Aufführung und Varianten festgehalten wurden. Brecht geht es Zu Brechts Proben-Arbeit siehe die wichtigen Hinweise von Annemarie dabei jedoch nicht um Vorschriften, nicht einmal um Vorbilder, Matzke (2012): Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. sondern um theatrale Entwürfe als experimentelle Grundlage Bielefeld: Transcript, S. 175–184; dort wird allerdings Brecht ungenau zwecks Weiterentwicklung und Weitergabe seiner Theaterarbeit. zitiert und Benjamin mit falscher Fundstelle angegeben. So heißt es in der umfangreichen großformatigen Publikation 3 Melanie Hinz/Jens Roselt (2011): Poetiken des Probierens. Vorwort. Theaterarbeit von 1952, in der „6 Aufführungen des Berliner In: Dies. (Hg.): Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater. Ensembles“10 versammelt sind: „Modelle zu benutzen ist eine Berlin: Alexander, S. 8.

Probenaufnahme, Mutter Courage, 1951/1952 Probenaufnahme, „Der zerbrochene Krug“, 1952 Fotos: Hainer Hill Grundlagenreflexion 9

Brecht – der „Probenleiter“

4 Ebd., S. 11. spieler der schönste Beruf. Einblicke in die Theaterarbeit“ (München: 5 Zu Brechts Theaterexperimenten vgl. Florian Vaßen: Bertolt Brechts The- Langen Müller 1993); vgl. auch das VHS-Video: Hans-Jürgen Syberberg aterexperimente. Galilei versus Lehrstück. In: Stefanie Kreuzer (Hg.) (2012): (1993): Syberberg filmt bei Brecht. Herr Puntila und sein Knecht Matti, Experimente in den Künsten. Transmediale Erkundungen in Literatur, The- Urfaust, Die Mutter 1953. Berlin/Köln: Alexander Verlag. ater, Film, Musik und bildender Kunst. Bielefeld: Transcript, S. 91–130. 9 Vgl. Bertolt Brecht: [„Katzgraben“-Notate 1953]. In: Brecht: Werke 6 Zur kollektiven Theaterarbeit vgl. Hartwin Gromes (2008): Das 25, 399–490. „Während die Modellbücher Dokumente von Aufführungs- Brecht-Kollektiv. In: Hajo Kurzenberger u. a. (Hg.): Kollektive in den ergebnissen darstellen, sind die „Katzgraben“-Notate 1953 der erste und Künsten. Hildesheim u. a.: Georg Olms, S. 73–84 (Medien und Theater. einzige Versuch Brechts, einen Probenprozeß darzustellen, der zum Auffüh- Neue Folge, Bd. 10) und Florian Vaßen (2011): From Author to Spec- rungsmodell führt.“ Werner Hecht: „Katzgraben“-Notate 1953. Entstehung. tator: Collective Creativity as a Theatrical Play of Artists and Spectators. In: Brecht: Werke 25, 545; vgl. Matzke: Arbeit am Theater, S. 177. In: Gerhard Fischer/Florian Vaßen (Hg.): Collective Creativity. Colla- 10 Berliner Ensemble/Helene Weigel (Hg.) (1952): Theaterarbeit. 6 boration Work in Sciences, Literature and Arts. Amsterdam/New York: Aufführungen des Berliner Ensembles. Dresden: Dresdner Verlag; zu der Rodopi, S. 299–312. oft übersehenen Bedeutung von Brechts Theaterarbeit vgl. Detlev Schöttker 7 Zu dem Verhältnis von Probe und Publikum heißt es in dem Vorwort (2007): Brechts „Theaterarbeit“. Ein Grundlagenwerk und seine Ausgren- des Sammelbandes „Chaos und Konzept“, eine der ersten umfassenden Dar- zungen. In: Weimarer Beiträge 53, H. 3, S. 438–451. stellungen des Probenprozesses: „Denn die Art und Weise, wie Zuschauer 11 Der Begriff des Übens und der Übung ist in diesem Kontext von be- Theater wahrnehmen, ist auch abhängig davon, wie dieses Theater ge- sonderer Bedeutung, wie vor allem Walter Benjamin mit Blick auch auf macht wurde. Welchen Umgang das Theater mit seinem Publikum pflegt, Brechts Theaterarbeit betont. Benjamin spricht in seinen Überlegungen hat auch damit zu tun, welchen Umgang die Theatermacher unterein- zu „Lernen und Üben“ im Theater-Spiel wie Brecht von „Leichtwerden“, ander pflegen. Und die Probe ist hierfür der zentrale Ort und Anlass.“ „Beobachtung“, „Haltung“ und „Erfahrung“, vor allem aber von dem Hinz/Roselt: Poetiken des Probierens, S. 8. Unverständlicher Weise wird „Konstruktiven“ des theatralen Prozesses, geprägt von „Zitierbarkeit“, Un- in dieser verdienstvollen Publikation Brecht trotz seiner sehr wichtigen terbrechung und das heißt Diskontinuität; vgl. Florian Vaßen: Lernen und Überlegungen zur Probe und seinen ergiebigen Proben-Notaten nicht Üben. Erfahrung und Wahrnehmung, ‚Unstetigkeit‘ und ‚Einsehen‘ im eingehender diskutiert. ästhetisch-sozialen Prozess des Theater-Spielens. In: Ders. (Hg.) (2010): 8 Einen sehr anschaulichen, wenn auch sicherlich subjektiven Eindruck Korrespondenzen. Theater – Ästhetik – Pädagogik. Berlin/Milow/Strasburg: von Brechts praktischer Theaterarbeit, speziell der Probenarbeit, vermittelt Schibri. 2. Aufl., S. 129–145; vgl. Brechts Briefstelle vom 17.9.1944: „Die Regine Lutz in ihrem lebendigen autobiographischen „Lehrbuch“ „Schau- deutsche Kunst ist zu schwer [Hervorhebung im Original].“ (27, 204).

Am Ende aller Übungen muss nach Brecht die Leichtigkeit stehen. Das Theater Howei aus Hildesheim probt „Der Menschenfeind oder der verliebte Melancholiker“ nach Molière mit Anna Fries und Markus Schäfer (2010) Foto: Andreas Hartmann 10 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Gemeinschaft(s)formen Zu Bewegungsspiel und Bauhütte Martin Luserkes als theaterpädagogische Tradition Geesche Wartemann

Diese Überlegungen zur Spielleitung entstanden im Rahmen Weise begründet Luserke (1880–1968) das Bewegungsspiel nicht des Forschungskolloquiums „Regie und Spielleitung“ an der allein ideologisch, sondern vor allem theaterästhetisch. Das heißt, Leibniz Universität Hannover. Ole Hruschka als Initiator der nicht allein eine reformpädagogisch fundierte Idealisierung Veranstaltung stellt diese Reflexionen zur Spielleitung in seinem von Gemeinschaft führt Luserke zu seinen Bewegungschören, Ankündigungstext in den Kontext zeitgenössischer Kunstver- sondern sein theatrales Vorbild Shakespeare. Für Gottfried mittlung, in der die Eigeninitiative und Selbstverantwortung Haaß-Beskow (1888–1957) und Rudolf Mirbt (1896–1974), der Teilnehmenden stark gemacht würden. Alle aktuellen Über- die anderen beiden namhaften Vertreter des reformpädagogi- legungen zur Spielleitung im theaterpädagogischen Feld setzen schen Laienspiels der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war also eine Programmatik „Kollektiver Kreativität“ voraus. Und so die soziale Dimension des Theaters von zentraler Bedeutung, konstatiert auch Marianne Streisand in ihrem aktuellen Beitrag wie Marianne Streisand schreibt: „Essentiell war dabei insbe- zur Geschichte der Theaterpädagogik im 20. und 21. Jahrhundert sondere das durch das Spiel erzeugte, emotional ansprechende schlicht: „Aus der Theaterpädagogik der Gegenwart ist das cho- Gemeinschaftserlebnis“ (Streisand 2012, 21). rische Arbeiten nicht mehr wegzudenken“ (Streisand 2012, 19). Martin Luserke begründet sein Bewegungsspiel als Darstellungs- Tatsächlich ist das Theater und insbesondere die Theaterpäda- form seines Theater im Allround dagegen theaterästhetisch. Der gogik eine soziale Kunst und entsteht eine Inszenierung nur im Chor ist nicht primär adäquate Darstellungsform eines dem Ideal Zusammenwirken vieler. Das wurde und wird immer wieder der Gemeinschaft verpflichteten Theaters, sondern energetische als Qualität des Theaters hervorgehoben. Doch was genau be- Kraft eines antiillusionistischen, eng an das Theater Shakespeares zeichnen wir als „chorisches Arbeiten“ im theaterpädagogischen angelehnten Theaterkonzepts. Die Bewegungschöre Luserkes wa- Feld? Jede Theatergruppe, jeder Jugendclub oder DS-Kurs mit ren kritischer Gegenentwurf zum ‚nur-ästhetischen‘ Guckkasten seinen fünfzehn und mehr Spielern und Spielerinnen ist nicht des Berufstheaters, aber auch zum literarischen Schultheater. Die von Anbeginn, sondern entwickelt sich erst mit den Proben zur Beschreibung des Zeitzeugen Hans Brandenburg, die er anläss- Produktionsgemeinschaft. Programmatik und Ästhetik solcher lich einer Inszenierung Luserkes von „Der Sturm“ formulierte, Gemeinschaften variieren allerdings zum Teil erheblich, wie Hajo mag eine Idee dieser Theatralität des Bewegungsspiels geben: Kurzenberger am Beispiel der Theaterkollektive des 20. Jahr- „Das Hauptgewicht lag nicht auf Wort und Mimik, sondern hunderts sehr erhellend beschrieben hat (Kurzenberger 2009a). auf dem Bewegungsspiel [...] Das Ganze der Aufführung war Für das 20. Jahrhundert beobachtet er eine Entwicklung von der ein strömender Fluss von Bewegung. Die Stimmen von Don- Politisierung zur Privatisierung. Formal tritt der Chor als Masse, ner und Sturm mischten sich schon in die Ouvertüre, einzig geometrische Körperlichkeit, filigrane Heterogenität, energeti- ein von der Decke herab geworfenes Tau kennzeichnete in der sches Sprechen oder sozialer Körper auf (Kurzenberger 2009b). ersten Szene den Schauplatz des Schiffes, die Seenot erschien Insgesamt wird dem Chor eine „körperlich-reflexive Doppelheit als ein flackerndes und schleuderndes Leben geängstigter Ge- und Dynamik“ zugeschrieben (ebd., 43). Aktuell ist Chorisches stalten [...]“ (zit. nach Giffei 1979, 11 f). Theater, weil es einem psychologischen und illusionistischen Wie oft entfaltet der Chor eine solche „sinnliche Macht“1 in aktu- Theaterkonzept entgegensteht: „Ein Theater der Gegenwart, ellen theaterpädagogischen Inszenierungen? Und tatsächlich gibt das sichm de Nicht-Psychologischen, dem Prä- und Postdrama- es gute historische Gründe, weshalb uns der Chor als energetische tischen, dem nur Performativen zuwendet, entdeckt im Chor Masse suspekt geworden ist. Die Aufmärsche der Nationalsozia- [...] alte und neue Möglichkeiten der Darstellung“ (ebd., 40). listen und insbesondere die Verführung und Verführbarkeit von Im theaterpädagogischen Feld besteht nun ein merkwürdiger jungen Menschen stehen jeder leichtfertigen Faszination entge- Kontrast zwischen einem allgegenwärtigen Ideal des Gemeinschaft- gen, die von solchen Chören ausgehen kann. Und die fehlende lichen und der kaum entwickelten Reflexion und Differenzierung, entschiedene Distanzierung Luserkes vom Nationalsozialismus welche Traditionslinien und welche Ästhetik sich mit diesem erhöht die Vorsicht. Aber ich möchte bezweifeln, dass aktuelle Ideal in einem Projekt jeweils verbindet. Geht es im emphati- theaterpädagogische Praxis sich immer bewusst gegen fragwür- schen Sinn um ‚Gemeinschaft‘? Ist die Idee gesellschaftskritisch dige Intensitäten und Gruppendynamiken entscheidet. Dies gegen aktuelle Entwicklungen zunehmender Individualisierung wäre eine reflektierte Haltung zu Fragen der Gemeinschaft, um gerichtet? Verbindet die Gemeinschaft eine politische, religiö- die es mir hier ja geht. Und in diesem Sinne wäre das sehr posi- se oder weltanschauliche Überzeugung? Oder bildet man eher tiv. Fragt sich aber, ob die Möglichkeit, chorisches Theater zur pragmatisch und leistungsorientiert ein ‚Team‘, in dem jede und „sinnlichen Macht“ werden zu lassen, im theaterpädagogischen jeder seinen Fähigkeiten entsprechend Aufgaben übernimmt? Zusammenhang überhaupt gesehen wird. Deshalb denke ich, dass Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich exemplarisch an Martin das Bewegungsspiel Martin Luserkes durchaus geeignet ist, uns Luserkes Bewegungsspiel und Bauhütte als theaterpädagogische genau dies in Erinnerung zu rufen. Eine präzise Beschreibung Traditionslinie erinnern. Wie kann sein Theater ein heutiges findet sich bei Herbert Giffei, der die Arbeit Luserkes aus eige- Nachdenken über Gemeinschaft im theaterpädagogischen Kon- ner Anschauung gut kannte: „Man darf jedoch diese Behandlung text und theaterpädagogische Spielleitung anregen? Interessanter von Masse als Körper nicht als Stilisierung von Menge verstehen 11 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Gemeinschaft(s)formen und die Bewegungsformen nicht als stilisierte Aktion. Wenn Entscheidender und für eine heutige theaterpädagogische Pra- zwei ‚Massenkörper‘ in gestaffelten, rhythmisch gegliederten, xis anregend ist aber ein anderer, nämlich der zeitliche Aspekt, wiederholten Anläufen auf der Hauptachse gegeneinander zur der im Modell der Dombauhütte steckt. Worauf es Luserke Mittelbühne aufbranden, so ‚bedeuten‘ sie nicht Kampf, son- wesentlich ankommt, ist die Kontinuität der Zusammenarbeit. dern Kampf wird als evidente Aktion unmittelbarer erlebt als Als langjähriger Lehrer und späterer Leiter eines reformpädago- durch Degengeklapper auf der Illusionsbühne“ (Giffei 1979, gischen Landerziehungsheimes geht es ihm um das umfassende 69). Luserke entwickelte das Bewegungsspiel also aufgrund be- Beisammensein, aus dem heraus das Theater entsteht. Der stimmter, theaterästhetischer und theatertheoretischer Vorlieben: Lehrer wie der Spielleiter sind nicht Funktionäre der Bildung als musikalische Spielweise von großer energetischer Kraft und oder Kunst – sie teilen mit den Schülerinnen und Schülern als anti-illusionistische Spielweise, die das Theater als Kommu- bzw. Spielerinnen und Spielern Lebenszeit. Die reformpäd- nikation auch mit dem Publikum begreift. Entsprechend stellt agogisch fundierte Produktionsgemeinschaft ist immer auch sich an Spielleitung und Spielgruppen auch heute die Frage: Wie Lebensgemeinschaft. Spielleitung heißt hier also, nicht die Po- wird das chorische Spiel zur Darstellungsqualität? sition einer distanzierten Beobachterin einzunehmen, sondern sich selbst als Person in den Probenprozess hinein zu begeben. Mit der skizzierten Retheatralisierung des Theaters verändert Welche Anziehungskraft und ganz sicher auch künstlerisches sich der Produktionsprozess insofern der dramatische Text seine Potential von solcher Gemeinschaft ausgehen kann, erlebt man dominierende Stellung als Ausgangs- und Referenzpunkt der regelmäßig in intensiven Endproben, die aufgrund der geforder- Inszenierung verliert. Umgekehrt werden bei Luserke andere ten Konzentration auf die bevorstehende Premiere ja oft kein Darstellungsmittel wie die Musik und der Raum wichtiger. anderes Leben neben dem Theater zulassen. In diesem Sinne Schon deshalb wird der Probenprozess zum Zusammenspiel wird eine Spielleitung, selbst wenn sie immer wieder besondere vieler Beteiligter mit unterschiedlichen Kompetenzen – jedoch Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse hat, zum Teil der nicht im Sinne industrieller Arbeitsteilung. Gerade dieser galt Gemeinschaft. Allerdings scheint mir dies im theaterpädagogi- die Kulturkritik, wie sie Lebensreformer und mit ihnen auch schen Alltag ja gerade als Ausnahmezustand markiert zu sein. Reformpädagogen formulierten und der sie mit neuer „Ganz- Luserkes Konzept der Bauhütte und seine Idee von Gemein- heitlichkeit“ begegnen wollten. Für den Produktionsprozess im schaft ist von größerer Radikalität – es verspricht und es fordert Theater nahm Martin Luserke die mittelalterlichen Dombau- eine größere „Wir-Bindung “ aller Beteiligten (ebd., 72). Wie hütten als Modell: „Von den großen Bauhütten des Mittelalters temporär oder dauerhaft erstrebenswert und machbar einem ist noch bekannt, wie eine Vergesellschaftung der Mitwirkenden solche Gemeinschaft in der eigenen theaterpädagogischen Pra- aller Grade [...] während der Errichtung Brauch gewesen ist. xis erscheint, muss freilich jede und jeder für sich entscheiden. Diese Bauhütten haben ihre Angehörigen auf Zeit und dennoch Die Überlegungen konnten aber hoffentlich zeigen, dass es bei mit geheimbündlerischer Strenge in Bezug auf das ganze Leben den Überlegungen zur Spielleitung nicht nur darum geht, den verpflichtet [...] das Werk [...] entließ keinen der mitwirkenden Blick auf die Teilnehmenden zu richten und zu überlegen, wie nach Feierabend [...] in eine völlig private Freizeit. Eben diese es gelingen kann, deren Eigeninitiative und Selbstverantwor- allgemeine fromme Verpflichtung als Vorleistung auf das Glück tung stark zu machen. Versteht sich die Spielleitung als Teil der des Anteil an einem großen Werk unterscheidet Bauhütten vom Probengemeinschaft, geht es auch um die Frage, wie sehr sie modernen, arbeitsteilig durchrationalisierten Betrieb“ (ebd., 72). sich als Person in den Probenprozess einbringen will und kann. Damit komme ich abschließend auf die Position der Spielleitung zu sprechen. Welche Aufgaben fallen einem Spielleiter in einem Literatur kollektiven Probenprozess zu? Es wurde kritisiert, dass Luserke Marianne Streisand (2012): Geschichte der Theaterpädagogik im 20. selbst eine dominierende Persönlichkeit sei, die das formulierte und 21. Jahrhundert. In: Christoph Nix/ Dietmar Sachser/ Ideal gemeinschaftlicher Produktion doch erheblich relativiere. Marianne Streisand (Hg.) Lektionen 5 Theaterpädagogik. Auch das Modell der Domhütte steht für eine traditionelle Hier- Berlin: Theater der Zeit, S. 14–44 archie von Meister, Gesellen und Lehrlingen. Analog begriff sich Hajo Kurzenberger (2009a): Theaterkollektive. Von der ‚Truppe 31‘ zur Luserke als Spielleiter zusammen mit einem verantwortlichen ‚Marthaler Familie‘, von der Politisierung der 68er Bewegung Musiker und ggf. Texter als Meister, denen erfahrene und danach zur Privatisierung des Theatermachens in den Neunzigern. weniger erfahrene Spielerinnen und Spieler untergeordnet waren. In: ders. Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper Diese Hierarchie wird nicht geleugnet: „Der Meister macht, das – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität. Bielefeld: transcript, S. 131–156 fertige Werk angesehen, gewiss das meiste und weiß vielleicht Hajo Kurzenberger (2009b): Chor-Körper. In: ders. Der kollektive nur selber, wie sehr die anderen für den Wuchs des Ganzen nicht Prozess des Theaters. Chorkörper – Probengemeinschaften – ‚Unterlage‘, sondern – Wurzeln und Erdreich waren“ (ebd., 74). theatrale Kreativität. Bielefeld: transcript, S. 39–67 Umgekehrt trifft Theaterpädagogen die schmähliche Kritik des Herbert Giffei (1979): Martin Luserke und das Theater. Hrsg. von der Luserke-Verehrers Giffei, denen in Folge der Demokratisie- Landesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater. Recklinghausen: rungsbewegung seit 1968 eine flache Hierarchie und tendenziell Bergheim Doepgen antiautoritäre Haltung als Spielleitung wichtig waren. In scharfer Abgrenzung wird betont, dass es bei Luserke „eine formalistisch- Anmerkungen demokratische Schaffensordnung, mit dem bastelnde Lehrer und team-worker gern ihren Bastelprozess kaschieren (‚jeder hat eine 1 Eine Formulierung Friedrich Schillers, vgl. Hajo Kurzenberger 2009b, Szene geschrieben‘)“ nicht gebe (ebd., 75). a.a.O, S. 43 12 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Wie Theater denken? Wie Theater machen? Über die Notwendigkeit einer Haltung zur Praxis Mira Sack

Kleines Theaterpanorama Doppelhelix Regie – Spielleitung

Gestern ein dichtes Spiel von jugendlichen DarstellerInnen, die Versucht man, das Konglomerat von Regie und Spielleitung ausgehend von Interviews Lebensperspektiven von Menschen weniger ideologisch, sondern vielmehr pragmatisch zu sortie- mit Fluchterfahrung einfangen, heute eine Versuchsanordnung, ren, stehen soziale und künstlerische Anforderungen an die in der social entrepreneurs ihre Produktidee zu präsentieren Person(en) mit (an)leitender Aufgabe immer im Verbund. Die scheinen, morgen ein Theaterklassiker, der professionelle Schau- sozialen Aspekte des Regieführens sind ebenso selbstverständlich spielerInnen mit einem Chor aus Erwerbslosen zusammen auf jeder Praxis eingeschrieben wie künstlerische unabdingbar zur die Bühne stellt. In der zeitgenössischen Theaterlandschaft sind Vermittlung von Theater gehören. Beide Seiten bilden mitein- vielfältige Konzepte und zahlreiche Experimente zu finden, die ander eine Art Doppelhelix, die verschlungen und ineinander eine strikte Unterscheidung von theaterpädagogischen Projek- gewunden die wechselseitige Bezugnahme der einzelnen Stränge ten und Regiearbeiten verunmöglichen. Die seit Längerem für kennzeichnet und in ihrem wechselseitigen Zusammenspiel das das Gegenwartstheater wichtigen Regisseure und Gruppen wie Gerüst für eine wirksame und nachhaltige Praxis bildet. Rimini Protokoll, geheimagentur oder Hofmann&Lindholm Um den Überschneidungen und Parallelitäten von pädago- usf. haben sich mehr und mehr darauf spezialisiert, mit dem gischen und künstlerischen Aspekten in dieser Doppelhelix ‚nicht perfekten Schauspieler‘ eine jeweils eigene Ästhetik auf gerecht zu werden, sind die Termini Theaterpädagoge, Regisseur (oder abseits) der Bühne zu entwickeln und das Publikum genau und Spielleiter synonym zu lesen. Damit soll zum Ausdruck über diese andersartige Qualität des Darstellerischen und der kommen, dass „die spezifischen Ausgangslagen nur graduell Darstellung gefangen zu nehmen. Parallel dazu greifen theater- voneinander abweichen und von Kontext zu Kontext variieren. pädagogische Ansätze den erweiterten Theaterbegriff auf und Es geht weniger um begriffliche Separation als vielmehr dar- protegieren selbstbewusste, künstlerische Inszenierungen mit um, dass in allen Feldern der Theater- und Probenpraxis die ihrer Klientel. In den verschiedenen Feldern finden ausgelöst fließenden Übergänge zwischen künstlerischen und pädagogi- durch diese Verschiebung von Aufmerksamkeiten und Interes- schen Aufgabenbereichen von einer verantwortlichen Leitung sen deutlich vernehmbare Diskussionen um Sinn und Gehalt wahrgenommen werden müssen.“ (Sack 2011, 19) Interessanter der Arbeit mit AlltagsexpertInnen, LaiendarstellerInnen oder als eine definitorisch geführte Begriffsklauberei zur Abgrenzung nicht-perfekten SchauspielerInnen statt, die häufig stärker von des Status einzelner Berufsprofessionen scheint mir die Suche institutionellen Kontexten, persönlichem Selbstverständnis und nach und Untersuchung von gemeinsamen Spielräumen. Damit strategischer Positionierung dominiert wird als von der geleis- wird vorausgesetzt, dass die DarstellerInnen und ihre Entwick- teten und zu erbringenden Tätigkeit selbst. lung im Regiekontext genauso selbstverständlich ins Zentrum Parallel dazu bekommen kollektive Vorgehensweisen und par- von Reflexionen rücken wie die Frage danach, wie spannende tizipative Formate in der Theater- und Vermittlungspraxis seit Spielimpulse in sozialen und soziokulturellen Zusammenhängen geraumer Zeit besondere Aufmerksamkeit. Diese sind allerdings klug weiterverfolgt und inszenatorisch gestaltet werden können. weder einheitlich und konsistent in ihren Wesensbesonderheiten, noch können sie universal den anstehenden Quantensprung von gestern über heute zu morgen markieren. Sie verweisen aller- Metasprache des Inszenierens dings auf eine produktive Unruhe, die beide Diskurse aktuell durchzieht. In ihrem Ringen um Differenzierungsmerkmale und Nimmt man Proben und Inszenieren unabhängig von den kon- spezifische Zielsetzungen entstehen unterschiedliche Standpunkte zeptionellen und ideellen Vorhaben in den Blick, zeichnen sie und Strategien im Rahmen einer Vermittlung von Kunst. Für sich durch wiedererkennbare, relativ stabile Handschriften ih- theaterpädagogisches Handeln wird dieses Fragefeld virulent, rer Leitung(en) aus. Egal welcher Stoff, welche Zielgruppe und sobald konkrete P rojektbeispiele in den Blick genommen wer- welche Vorgehensweise im Einzelfall Pate stehen, die Resultate den, denn die lange gültige und bewährte Legitimationsklausel, sind immer subjektiv, immer an die Erzählkompetenz, die Fan- Theater(spielen) bilde, indem es Theater sei, der Grundbau- tasie, das Begehren eines Theaterpädagogen gebunden. Er oder stein für eine Theaterpädagogik im Dispositiv ästhetischer sie greift demnach nicht allein über objektivierbare Verfahren in Bildung, greift angesichts eines erweiterten Theaterbegriffs den Probenprozess ein, sondern entwickelt durch die Verfahren und der wechselseitigen Durchdringung von künstlerischen hindurch eine „Metasprache“, die „völlig in der Darstellung und sozialen Praktiken zu kurz. Willkürlichen Setzungen und von Handlungen und Figuren aufgeht“ (vgl. Pavis 1992, 443). selbstgefälligen Spielereien kann nur entgegengewirkt werden, Die Metasprache macht aber in Arbeitskontexten mit nicht- wenn die Verantwortlichen eine erkennbare Haltung zu ihrer professionellen Schauspielen auch deutlich und sichtbar, wie die Praxis einnehmen können. Wie aber findet man eine solche im verschiedenen ästhetischen und sozialen Kontexte aufeinander Spannungsfeld zwischen Regie und Spielleitung? bezogen und miteinander zu szenischen Ereignissen verknüpft Grundlagenreflexion 13

Wie Theater denken? Wie Theater machen? werden. Sie ist ein Indikator für das Zusammentreffen von 2011, 21) Die Kunst und Kultur des Theaterpädagogen macht Selbst und Welt im Spiel und von dieser Warte aus theaterpäd- sich daran fest, wie versiert er Proben dramaturgisch denken und agogisch relevant. Durch sie hindurch entsteht eine gestaltete, entsprechende Spielzüge erzeugen kann, die unvorhersehbare und verdichtete Wirklichkeit, hier bekommt Realitätsbearbeitung überraschende theatrale Ereignisräume öffnet, diese verdichtet und eine Richtung und in ihr öffnen sich mentale und imaginative zu szenischen Ereignissen für SpielerInnen und ZuschauerInnen Räume – bei Spielern und Zuschauern. sinnstiftend verknüpft. Didaktisch gedacht sucht er die Balance Diese Metasprache bildet sich in den Probenprozessen aus. Wie zwischen geschützten und riskanten Situationen, zwischen pro- soziale und ästhetische Situationen miteinander erzeugt und vozierender und empathischer Interaktion mit den SpielerInnen, verhandelt werden, prägt den jeweiligen persönlichen Stil der zwischen linearen und kreisenden Suchbewegungen, zwischen Regie. Die unverkennbaren Konstellationen manifestieren sich dramaturgischen und pädagogischen Interventionen. Er kann in den konkreten Handlungen innerhalb der Probe. Entlang unter den genannten Gesichtspunkten der Kunstpraxis weder dieser Handlungsspielräume wird das Vorgehen im Ensemble nur als ein „Begleiter in Spiele hinein und aus Spielen heraus“ domestiziert und die gemeinsame Kultur des Probens generiert. (Nickel 2004, 265) aufgefasst noch in einem Atemzug mit den In der Art und Weise, wie miteinander recherchiert, diskutiert, selbstbezüglichen, visionären Regiekünstlern genannt werden, probiert und Gefundenes verworfen wird, manifestiert sich die sondern ist ein professioneller Theaterschaffender, der in Spiel- Doppelhelix aus Spielleitung und Regie. und Probenprozessen seine Wirkung entfaltet. Ob er oder sie Darüber hinaus gelten Proben gleichzeitig als besondere Ereig- dabei als RegisseurIn tituliert wird, Kunstvermittlung betreibt nisse des Miteinanders, die immer auch eine „allgemeine soziale oder in pädagogischen Kontexten verortet ist, ist sekundär. Sein Dimension“ enthalten und die Frage nahelegen, „wo die Partner oder ihr Vorgehen lässt sich mit der von Rudi Müller-Poland und Mitspieler bleiben“ und „wer wen motiviert oder demoti- auf die Formel der „didaktisch-dramaturgischen Führung und viert“ (vgl. Kurzenberger 2009, 32). Der ensemblegebundene Anleitung“ bringen (vgl. Müller-Poland 1990; 57). Der Versuch, Prozess der Probe bedingt eine dialogische künstlerische Praxis, didaktische und dramaturgische Prozesse genauer zu untersuchen, die konstitutiv für theatrales Produzieren ist. In der gegenseiti- bedingt eine Reflexion der Interventionen und Interaktionen, gen Abhängigkeit liegt eine Chance, über die eigene Begrenzung die das Spiel der Probe verändern und gestalten. hinauszuwachsen und Unbekanntes in sich und den Anderen, im Stoff und der Wirklichkeit zu entdecken. Zugleich sind die PraxisHaltung dem Arbeitsprozess eingeschriebenen Machtgefälle eine Ge- fahrenstelle für einseitige Funktionalisierungen, unfruchtbare Praxis braucht Haltung. Je reflektierter, desto besser. ,Reflektiert‘ Schikanen und missbräuchliche Manipulationen. Insbesondere heißt auch, auf heutige gesellschaftliche Situationen bezogen zu für partizipative und kollektive Prozesse ist die der einzelnen bleiben, sich darin Widerborstigkeit zu leisten, nicht gefallen oder Praxis eingeschriebene Absicht genau und kritisch zu untersu- um jeden Preis innovativ sein zu wollen, sondern um Freiheit zu chen, da solche Prozesse meist wesentlich subtiler wirksam und ringen – weniger für sich als für den Anderen. Ausschlaggebend von unbewussten Impulsen getragen sind. für theaterpädagogische PraxisHaltungen ist das Vermögen, die unterschiedlichsten Anforderungen der jeweiligen Probenkon- Didaktisch-dramaturgische Probenstrategien texte zu reflektieren und darauf praktisch zu antworten. Den Dialog mit einem konkreten Ensemble in aller Klarheit und Wie geprobt und miteinander probiert wird, macht den We- Deutlichkeit führen zu können impliziert, über ein Repertoire senskern der Metasprache deutlich. Die Handlungsspielräume an Verfahrensweisen zu verfügen, die je nach Situation bewusst werden bereits vor Beginn des ersten Aufeinandertreffens markiert. ausgewählt, angepasst und so verändert werden können, dass Wie ein Theaterpädagoge gedanklich von der bevorstehenden sie die Zusammenarbeit produktiv machen und Lust an einer Aufgabe herausgefordert wird, welche konzeptionellen Grund- experimentellen Spielhaltung hervorbringen. lagen er entwickelt und wo Anliegen und Lust eines Projektes In der Doppelhelix aus Regie und Spielleitung sind immer beide ihn hinziehen – all dies bestimmt den Start. Die eigentliche Seiten zugleich am Werk. Aus der Art des Zusammenspiels beider Praxis im Ensemble ist dann von Interaktionen gekennzeichnet, erwachsen die unterschiedlichen Gewichtungen im Verlauf der die das Geschehen einerseits steuern und regulieren, anderer- Proben und ihre Bündelung im szenischen Ereignis. Wie sich die seits deregulieren und chaotisieren sollen. Dabei ist „bereits die Verantwortung für ein ausbalanciertes Kräfteverhältnis gestaltet, Setzung eines Anfangs (...) für die Dynamik des weiteren Ver- ist an die Verantwortung für eine klare Führung gebunden, die auf laufs prägend und birgt eine Vielzahl von Entscheidungen, die ein künstlerisches Ergebnis hinzielt. Die Schwebe zwischen dem der Theaterpädagoge trifft und die das Spielensemble auf eine Moment und dem Werden, die Achse zwischen Vergangenheit, bestimmte Spur lenken.“ (Sack 2011, 109) Durch die Art des Gegenwart und Zukunft ist didaktisch wie dramaturgisch für den Handelns der Spielleitung innerhalb der Proben werden diese Entwicklungsweg eines Ensembles, eines Projektes entscheidend. zu einem Experimentierfeld, in dem Synergien entfaltet werden Ein lebendiges und dynamisches, von den jeweiligen Kontexten oder die besten Absichten sich gegenseitig blockieren. Die Regie der SpielerInnen, des Stoffes und dem Projektrahmen ausgehen- tut gut daran, hier krisenfest und didaktisch fantasievoll zu in- des Pendeln zwischen Regie und Spiel, zwischen verantwortlicher teragieren. Die Werkzeuge dazu „beruhen im Wesentlichen auf Führung und ergebnisoffenem Suchen, zwischen realen Wirklich- unterschiedlichen Strategien, reizvolle Spielsituationen zu schaffen, keiten und imaginativen Entwürfen, zeichnet die gegensätzlichen und der Kompetenz, an den entscheidenden Stellen in die sich Kräftefelder aus, zwischen denen der/die TheaterpädagogIn sich ereignenden Vorgänge verändernd eingreifen zu können.“ (Sack einen Weg bahnt und Regie als Spiel vermittelt. 14 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Wie Theater denken? Wie Theater machen?

Literatur: Hans-Wolfgang Nickel (2004): Spielleiter und Spieler beim Theaterma- chen. In: Westphal, K. (Hg.): Lernen als Ereignis. Zugänge zu Hajo Kurzenberger (2009): Der kollektive Prozess des Theaters. einem theaterpädagogischen Konzept. Hohengehren, S. 265–293 Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativi- Patrice Pavis (1992): „Inszenierung“. In: Brauneck, M./Schneilin, G. tät. Bielefeld (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Rudi Müller-Poland (1990): Inszenierung – als zentrale Aufgabe im Ensembles. Reinbek bei Hamburg, S. 441–443 Fach Darstellendes Spiel. In: Ritter, Hans-Martin (Hg.): Spiel- Mira Sack (2011): spielend denken. Theaterpädagogische Zugänge zur und Theaterpädagogik. Ein Modell. Berlin, S. 52–62 Dramaturgie des Probens. Bielefeld

Der Kreis als Sinnbild für die Arbeit am Kollektiv: Die Theaterpädagogin Britta Sensenschmidt mit dem Jugendclub am Theater Bonn (Spielzeit 2010/11). Foto: Lilian Szokody Grundlagenreflexion 15

Theaterpädagogische Praxis-Haltungen in biografischen Theaterproduktionen Norma Köhler

In diesem Text gehe ich von folgender Ausgangslage aus: Einer Sie basiert auf dem szenischen Innenblick/Selbstwahrnehmung Gruppe von Jugendlichen und/oder Erwachsenen, wie sie sich in der Spieler_innen und dem Außenblick/Fremdwahrnehmung diversen theaterpädagogischen Zusammenhängen finden lassen der Zuschauenden. Die Grundhaltung der Auswertung der (Kulturzentrum, Theaterclub am Theater, (Hoch)Schule etc.). Improvisation ist ästhetisch orientiert, dass heißt, eine an den Gesetzt sei zudem ein Verständnis biografischer Theaterarbeit, Gestaltungs- und Wirkungsweisen orientierte Beobachtung. Die das aufführungsorientiert Lebensgeschichtliches der Darstel- Grundlage des Feedbacks und der Modifikation basiert nicht ler_innen thematisiert (vgl. Köhler 2009). Das ist zunächst nur auf der Frage „Was nehme ich wahr?“, sondern vor allem eine Programmatik, eine Zielvorstellung. Über die Arbeitswei- „Warum wirkt es so?“ und „Was soll in der szenischen Wie- se ist damit noch nichts gesagt. Wie kommen welche Inhalte derholung festgehalten oder weggelassen, wie kann die Szene in welcher Formensprache auf die Bühne? Wer inszeniert hier dynamisiert und erweitert werden?“ was, wen und wie? Das sind grundlegende Fragen, die sich der In der Konsequenz heißt das: Die Szenen sind das Arbeitsmaterial Gruppe stellen und für die eine Theaterpädagog_in Verant- und nicht das Leben. Die Art und Weise, wie sich die Spieler_in- wortung trägt. Ich schlage im Folgenden Praxis-Haltungen zu nen zeigen und das Leben thematisieren, sind die Beobachtungs-, verschiedenen Aspekten (Ansatz, Darstellung, Dramaturgie, Reflexions- und Gestaltungsanlässe und nicht sie selbst in ihrem Inszenierung) eines biografischen Produktionsprozesses vor, die Sein. Requisiten aus dem Alltag oder selbst verfasste Texte sind in Grundsätze für die Arbeit transformiert werden und den Ak- für sich allein keine Bausteine der Theaterarbeit, sondern das teure_innen Orientierung geben können. Produktionsästhetische Spiel mit ihnen, das vielfältig ausgestaltet werden kann. und ethische Überlegungen werden dabei zusammengeführt. Die ethische Implikation solch ästhetischer, spielerischer und Die theaterpädagogische Ausrichtung ist zielperspektivisch an gestalterischer Orientierung ist, dass Wahrheit/Lüge keine Para- den Projektteilnehmer_innen als umfassend reflektierten Bio- meter der Theaterarbeit sind. Gleichsam werden die Spieler_innen grafiespieler_innen orientiert. Was ich darunter verstehe, wird als Mitgestaltende auf der Grundlage eines biografischen Pakts in einem abschließenden Fazit zusammengefasst. ernst genommen (vgl. Lejeune in: Schößler 2009, 146).

Zum Ansatz: Theatrales Biografieren Zur Darstellung: Verkörperungsspiele mit au- tobiografischer Referenz „Bio muss erst grafiert werden, sonst ist es keine Biografie“ sagt der Kunstpädagoge und Erziehungswissenschaftler Karl-Josef Maßgabe von Improvisation und szenischer Arbeit bleibt die Pazzini zu Recht; denn erst wenn das Leben geritzt, gezeichnet persönliche Stimmigkeit der Spieler_innen. Sie ist die Orien- wird, wird es kommunizierbar (Pazzini 2002, 2). Ein solches tierung, die Forderung, die immer mitschwingt und zugleich Verständnis macht offensichtlich: Bei der Biografie handelt subjektive Ermessenssache der Spieler_innen bleibt. Dass sie sich um eine Beschreibung des Lebens. Das jeder Mensch eine sich solchermaßen in der Improvisation nicht verstellen sollen, Biografie auch lebt, sich solchermaßen Prägungen in mensch- heißt aber nicht zwingend, dass sie auf der Bühne ausschließ- liche Sichtweisen einschreiben und jedes Menschenleben ein lich ihr Alltagsverhalten adaptieren müssen. Die Spieler_innen Produkt seiner Erfahrungen und Handlungen ist, bleibt damit können auf der Bühne ihr Alltagsverhalten möglichst getreu ebenfalls gültig. nachahmen, aber auch dynamisieren, zuspitzen, die Darstel- An der Perspektive der aktiven Lebensbeschreibung anzusetzen, lung variieren; für Erinnerungen und Gefühlslagen können ist allerdings produktiv für die Theaterarbeit, da sie die darstel- expressive Gesten gefunden werden; erprobt werden kann die lerische, die künstlerische Dimension hervorhebt. Theater ist sachliche Berichterstattung, genauso wie in szenischen Erzählun- solchermaßen als Medium zur Darstellung von Biografie zu gen verschiedene ästhetische Darstellungsspuren separiert und gebrauchen. So wie dem Buchautor der Stift, die Schrift, das vielfach kombiniert werden können. Persönliche Gegenstände Buch Abbildung und Bedeutung des Lebens hervorbringt und können in ihrer autobiografischen Relevanz erläutert werden, konstruiert, stehen im Theater andere Mittel zur Disposition: aber auch – ausgehend von der Erforschung ihrer Materialität Körper und Sprache. Handlungen (bspw. des Zeigens) und Akte oder ihrer alltäglichen Handhabung – zum Bewegungsimpuls (bspw. des Sprechens) sind als Modi der Bezugnahme auf das für choreografische Szenen werden. Leben zu verstehen und zeichnen die Performanz (Hervorbrin- Ausgeschlossen ist nicht, dass die Spieler_innen sich zeitweise in gung) biografischer Darbietungen aus. Im biografischen Theater den Dienst einer autobiografischen Darbietung Anderer stellen. konkretisiert sich die Darstellung in szenischen Situationen, In der Gesamtheit ist es aber die kommunikative Interaktion, die vor einem Publikum gerahmt und hervorgehoben werden. die den künstlerischen Mehrwert einer biografischen Thea- Eine schlüssige Arbeitsweise besteht darin, Inszenierungen aus terproduktion potenziert. Dispositive für die künstlerischen Improvisationen zu entwickeln, die beobachtet, reflektiert und Findungs- und Darstellungsprozesse machen sich dabei nicht in einer Wiederholung mit ggf. variierter Spielregel modifiziert, nur an den Darstellungsmodi der einzelnen Spieler_innen fest, geübt und verdichtet werden. Die damit einhergehende Ver- sondern auch an den szenischen Interaktionsmöglichkeiten: Sie ständigung über die Improvisationsergebnisse ist wechselseitig. können sich zum Beispiel als einander kommentierende Soli, 16 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Theaterpädagogische Praxis-Haltungen in biografischen Theaterproduktionen als dialogische Szenen von Spielpartner_innen oder als Groß- zwischen Ensemble und Publikum ermöglicht. Wenn Verbin- gruppen-Choreografie zeigen. dungen und Hinweise inszenatorisch expliziert werden, gilt es, Die ethische Implikation besteht hier vor allem darin, die Spie- die Anschlussfähigkeit an einen gemeinsamen Lebenserfahrungs- ler_innen nicht zu solchen sog. Alltagsexperten zu verkürzen, horizont mit dem Publikum zu berücksichtigen. die ausschließlich ihre im Alltag geprobten Rollen zeigen. Sie Die direkte Ansprache an das Publikum, bspw. mit Selbstvorstel- sollen die Theatermittel auch dazu nutzen (können), sich und lung des eigenen Namen und ich-perspektivischer Ansprache, die Kommunikation ‚auszuspielen‘, voran zu treiben, zu vertie- ist ein einfacher inszenatorischer Authentifizierungstrick. Kurze fen, Stereotypisierungen zu vermeiden oder aufzubrechen – was persönliche Einführungen und Erläuterungen zu Gegenständen auch bedeuten kann, die eigene, die gemeinsame Lebenswelt zu und Rechercheergebnissen seitens der Spieler_innen dienen diskutieren und vielleicht utopisch neu zu entwerfen. als Prolog zu Szenen. Für sich allein sind diese Authentifizie- rungsstrategien zu wenig, für den Feinschliff an der Produktion Zur Dramaturgie: Perspektiven und Aspekte gleichsam maßgeblich. explorieren, erweitern, selektieren und ver- Entscheidend ist, sich zu vergegenwärtigen, dass das Projekt mit seinen Inhalten einen Entwicklungsprozess und Zwischenstand dichten biografischer Kommunikation des Ensembles darstellt. Ästhe- tisch gewendet kann es somit auch produktiv sein, dieses „work Wege für die Generierung von biografischen Szenen beginnen in progress“ transparent zu machen. Eine reflektierende Meta- immer mit einer Setzung biografischer Perspektiven und Aspekte. ebene kann bspw. durch Zwischenüberschriften, (improvisierte) Unter ethischem Gesichtspunkt muss bei allem Erfindungsreich- Kommentare, erläuternde Moderationen, oder protokollarische tum für Explorationen reflektiert werden, welche personalen Einspielungen von Proben(Daten) und Uhrzeiten inszenatorisch Zuschreibungen den Aufgabenstellungen unterliegen, welche eingezogen werden. Solche Strategien pointieren wiederum die inhaltlichen Akzentuierungen (auf biografische Themen, Orte, Gegenwärtigkeit der biografischen Kommunikation im Hier und Zeitdimensionen) den Spieler_innen nahe gelegt sind, um diese Jetzt – vor und mit dem Publikum. Ob und wie das Publikum mit einer nächsten Spielaufgabe erweitern zu können. Zunächst ggf. aktiv in die biografische Kommunikation eingebunden interessiert die Varianz verschiedener Explorationen, um ein werden soll und kann (direkte Geprächssituationen zwischen mehrdimensionales Arbeitsspektrum des Biografierens zu öffnen. einzelnen Spieler_innen und Zuschauer_innen, Abstimmung- Hilfreich ist es auch, den Blick von außen als Theaterpädagog_in spiele etc.), gehört als letzte ethische Herausforderung dann mit jenen Projektteilnehmer_innen zu teilen, die gerade nicht abschließend dazu. im Spiel sind. Über die Szenen zu sprechen und neue Aufgaben zu erfinden, beginnt somit bei ersten eigenen Vorschlägen, die Umfassend reflektierte Biografiespieler_innen ergänzt werden von Improvisations- und Gestaltungsideen der Ensemblemitglieder. Biografiespieler_innen sind mehr als Biografieträger_innen. Sie Zweifelsohne benötigt eine biografische Theaterproduktion verhandeln Lebensgeschichtliches spielerisch und reflektierend immer eine szenische Selektion ebenso wie eine Verdichtung in der Gruppe. Sie beziehen in der Auseinandersetzung Stellung zu einem thematischen und formalen Fokus. Dabei stellt sich zum Leben, sie positionieren sich untereinander, nebeneinan- in der Verdichtungsarbeit vor allem die Frage, ob die einzelnen der, miteinander, antwortend und fragend zu Themen, die sich Akteur_innen in der Inszenierung kontrastierende oder sich ihnen in der Begegnung als relevant erweisen. Die Fähigkeit zur ähnelnde Rollen übernehmen (sollen), ob alle Darsteller_innen Thematisierung des Lebens und zur Lebensgestaltung wird da- gemeinsame oder ganz unterschiedliche Aspekte ihres Lebens- bei ästhetisch erfahren und somit erweitert. Sie mündet in der zusammenhangs thematisieren – und in welche Bezüge einzelne gemeinsam verantworteten Aufführung vor und mit Publikum Szenen zueinander gesetzt werden. Ethische Maßgabe ist hier, dass – von Zeitzeug_innen für Zeitzeug_innen. sich die Spieler_innen mit den Entscheidungen und ihrer Funk- tion im entstehenden Inszenierungszusammenhang identifizieren Literatur: können und sie die damit einhergehende, vor Publikum eröffnete biografische Kommunikation in Form und Inhalt mit vertreten. Köhler, Norma (2009): Biografische Theaterarbeit zwischen kollekti- ver und individueller Darstellung. Ein theaterpädagogisches Modell. München: Kopäd Haltung zur Inszenierung: Aufführung als Pazzini, Karl-Josef (2002): Bio muß erst graphiert werden. Vortragsmanu- Zeugnis biografischer Kommunikation skript, Universität Hamburg, http://kunst.erzwiss.uni-hamburg. de/pdfs/biographie.pdf, (letzter Zugriff: 31.1.2013) Schößler, Franziska (2009): Biografische Erzählungen auf der Bühne/ Beim Zusammenfügen der Szenen muss darauf geachtet wer- Dramatik, in: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. den, dass die Inszenierung „(auto)biografische Pakte“ (Lejeune) Methoden, Traditionen, Theorien. : Metzler Grundlagenreflexion 17

Schultheater – künstlerisches oder soziales Handlungsfeld? Dorothea Hilliger

Die soziale Relevanz des Schulfaches Theater, das in vielerlei sondern die diese – im besten Fall variierend – selbst mit her- Hinsicht an der Lebenswelt der Subjekte anzusetzen vermag, er- vorbringt. Dieser Vorgang eröffnet komplexe Möglichkeiten scheint unstrittig. Zumal hier kollektive Arbeitsformen realisiert der Teilhabe im jeweiligen räumlichen und institutionellen werden, die beispielhaft auch für andere Lern- und Arbeitsfelder Umfeld. Die Theater wie auch die Schulen haben die Chance, sind. Und doch ist hart um das explizit künstlerische Verständnis aus dieser Öffnung neue Impulse zu gewinnen, ein Prozess, des Faches gerungen worden. Theater als Kunstform zu sehen in dem bereits die Vorzeichen der Kunstform und Institution und in seinem Selbstwert anzuerkennen, ist an manchen Schulen Theater verschoben wurden – und in dem die Vorzeichen der heute noch nicht selbstverständlich. Theater eignet sich einfach Institution Schule sich zu verschieben beginnen. zu gut zur Vereinnahmung für außerkünstlerische Zwecke – zum Erwerb von soft skills, zur Einübung sozialer Fertigkeiten, als Ausgleich zu Unterrichtsmethoden, die vergessen, „dass am Kopf Theater als soziales Handlungsfeld – wirklich auch noch ein Körper hängt“. 1 Tatsächlich liegen die Qualitäten neu? des Faches im Zusammenspiel von künstlerischem Selbstaus- druck und Verbalisierungen sowie Reflexionen im Zuge einer Die ‚alten Hasen‘ des Schultheaters mögen sagen: Theater als kollektiven Erarbeitung, in Prozessen also, die der Besonderheit Impuls für Schulentwicklung? Gar nicht neu! Richtig! Also soll der Kunstform Theater geschuldet sind. die Vergangenheit in den Blick genommen werden – zur Schär- Warum also das Soziale neu thematisieren? Weil die Theater- fung des Blicks auf Gegenwart: Als Ausgangspunkt dient ein praxis und damit auch das Kunst- und Theaterverständnis sich Zitat aus dem Jahr 1978. Josef Elias umreißt die Arbeitsweise im gewandelt haben – und eine veränderte Praxis auch Eingang in Fach, die sich schon in dieser frühen Phase als kollektive kenn- Schulen gefunden hat. TUSCH-Berlin und in der Nachfolge zeichnen lässt: „So findet man im Klassenverband gemeinsame TUSCH-Hamburg haben mit ihren Kooperationsprogrammen Anliegen, sondiert diese nach Dringlichkeiten und forscht im zwischen Theatern und Schulen den erfolgreichen Versuch gewählten Problembereich nach menschlichen, sozialen, umwelt- unternommen, professionelle Theaterkünstler in die Arbeit bezogenen und literarischen Bezugspunkten“ (Elias 1978, 6). mit Lehrern und Schulen ‚einzuschleusen‘. In der Nachfolge Der Bezug auf die Klasse, die Gruppe, mit der gearbeitet wird, sind Projekte entstanden wie X-Schulen zwischen der Hector- fällt sofort ins Auge. Und der Bezug auf ein ‚Außen‘, auf für Peterson-Schule in Berlin Kreuzberg und dem Theater Hebbel relevant erachtete Aspekte des sozialen, gesellschaftlichen und am Ufer (HAU) (vgl. Hilliger 2010) oder das Projekt jump and künstlerischen Umfeldes. Das Schultheater, das sich in den 1960er run zwischen 12 Berliner Schulen und den Theatern HAU, und 1970er Jahren von der auf Harmonie und das „Schöne“ in Theater an der Parkaue und Junges DT, die explizit die Schule der Kunst gerichteten musischen Bildung emanzipierte, stand zum Thema künstlerischer Arbeiten gemacht haben. Ausgangs- von Anbeginn an mit der politischen Bewegung von 1968 in punkte sind die Großstädte, aber auch anderswo wird Künstlern enger Beziehung und entwickelte in dieser Bindung den Sub- in Schulen mit ihren von pädagogischen Zuschnitten fr ei zu jektbezug wie auch die Öffnung hin zum Politischen und zu haltenden Projekten ein Innovationspotential zugeschrieben.2 Lebenswelt. Elinor Lippert, eine der Vorkämpferinnen für das Das vermutete Entwicklungspotential bezieht sich nicht etwa Schulfach DS, schreibt: „G efragt sind Eigenproduktionen, die nur auf die Schülerpersönlichkeit, sondern ganz ausdrücklich dem aktuellen Problembewusstsein der Jugendlichen Ausdruck auch auf die Institution Schule. Es soll – welch eine erstaunli- geben“ (Lippert 2003, 270). Die Subjektorientierung wie auch che Wendung – der soziale Impuls über die Künstler_innen in der politische und lebensweltliche Bezug hängen eng zusam- die Schulen getragen werden. men mit einem ganz speziellen Bezug zum Berufstheater, der Den Hintergrund hierfür bildet die neu entdeckte Handlungs- das Schultheater von Beginn an geprägt hat. Ulrich Hesse und dimension der Kunstform Theater: Im engeren oder weiteren Wulf Schlünzen schreiben: „Das erste ‚Schultheater der Länder‘ sozialen Umfeld der Theater wird recherchiert, aus dem Mate- fand 1985 unter dem Rahmenthema ‚Schultheater und Freies rial ausgewählt, montierend und inszenierend Wirklichkeit neu Theater‘ in Hamburg statt. Am Beispiel der für dieses Treffen ge- und erfunden und zur Diskussion gestellt. Biographisches ausgewählten Schultheateraufführungen […] sowie an der Ar- Theater versammelt Erlebnisfragmente zu neuen Erzählun- beit der Werkstätten und an den Ergebnissen der begleitenden gen vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeit. Amateure Fachtagung ließ sich erkennen, dass in den Spielansätzen, in verdichten in der Theatersituation für den Zuschauer fremde der Arbeitsweise, in der Dramaturgie und Ästhetik des Freien Lebensrealitäten zu neuen Erfahrungsräumen. Audiowalks de- Theaters für das Schultheater Möglichkeiten liegen“ (Hesse; stabilisieren die Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern. Schlünzen 1988, 2). Es ist eine lebendige künstlerische Bildungs- wie Theater- Die Freie Szene dieser Jahre vollzog nicht nur eine inhaltliche Landschaft entstanden, die nicht nur in vielfachen Bezügen und ästhetische Abgrenzung gegenüber den Stadt- und Staatsthe- zur Lebenswelt und den sie gestaltenden Institutionen steht, atern, sondern erprobte und entwickelte auch andere, kollektive 18 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Schultheater – künstlerisches oder soziales Handlungsfeld?

Arbeitsweisen. Dies geschah in Abgrenzung gegenüber dem Räume zur Zusammenarbeit zwischen Künstlergruppen und Regietheater und den autoritären Strukturen der Institution Schulklassen oder Jugendgruppen und gewinnen aus dieser Theater. Wenn auch die neu entwickelten Arbeitsstrukturen Öffnung in das soziale Umfeld neue künstlerische Impulse. nur ansatzweise in den Unterricht im Schulfach Darstellendes Das Bindeglied zwischen einem erweiterten Theaterbegriff, un- Spiel einbezogen werden konnten, macht dieser Rückblick auf ter den auch die eben beschriebene Entwicklung fällt, und dem die Anfänge doch deutlich, wie sehr dass Fach von Anbeginn an Schultheater kann der Formatbegriff herstellen, insofern er als mit den fortschrittlichsten Entwicklungen im zeitgenössischen Arbeitsbegriff im Rahmen der beschriebenen Strukturverände- Theater verbunden war, die eine Vielzahl an Theaterformen rungen gekennzeichnet werden kann. Die Entwicklung eines auch in Schulen hervorgebracht hat. Formats stellt bereits eine Aufgabe dar, die von einer Gruppe Heute sprechen wir nicht so sehr von Formen, sondern von künstlerisch und organisatorisch gelöst werden muss. Es geht Formaten. In diesem Begriff vereinigen sich im besten Fall ein in diesem Begriff um eine Arbeitsweise zur Wissensgenerierung künstlerischer Zugriff und das Verständnis von einer kollektiven in einem bestimmten Umfeld oder zu einem Thema und um Arbeitsweise. Kann der Formatbegriff eine neue, impulsgeben- dessen künstlerische Vermittlung: „Format lässt sich bestimmen de Funktion für die künstlerische wie soziale Dimension des als inhaltsorientiertes Vermittlungsverfahren. Das Format be- Schulfaches Theater haben? zieht sich auf verschiedene Kunstformen und generiert daraus etwas Eigenes; es ist auf die Gruppe bezogen, mit der Wissen generiert und zur Aufführung gebracht wird; es ist eine Ver- Formate mittlungsform für einen Inhalt, der situativ definiert wird. Das Format bestimmt eine Aufführungsdimension von Wissen in Wenn auch der Formatbegriff wegen des inflationären Gebrauchs Bezug auf unterschiedliche Kunstformen.“3 das Potential hat, ein Stöhnen zu provozieren, so lohnt es sich Indem Formate sich nicht nur auf die Gruppe, auf Inhalte und doch, ihm genauer nachzuspüren, und zwar als einem spezifischen auf künstlerische Verfahren beziehen, sondern auch auf die Arbeitsbegriff im Rahmen von neuerlichen Strukturveränderun- Arbeitsformen in und mit Institutionen, eröffnen sie Hand- gen in der Arbeitsweise des Theaters. Von wo gehen heute die lungsdimensionen, die nicht nur subjektiv wirksam werden, Impulse aus, die für das Schultheater relevant werden können? sondern auch zur Institutionenentwicklung beitragen können. Wo sind heute die Orientierungspunkte zu suchen? Kurz und Wie nun ist dieser Impuls für die Schule als Institution zu gut: Wo ist die „Freie Szene“ geblieben? denken: Der Begriff des Formats stellt den Handlungsaspekt Kirsten Hehmeyer und Matthias Pees, als Dramaturgen und der Kunstform ins Zentrum. Mit der Fokussierung auf die in der Öffentlichkeitsarbeit für verschiedene Theater und Praxis und das Konzept des Performativen geht eine Prämis- internationale Festivals tätig, stellen die Behauptung vom senverschiebung von der Aufführung zur Ausführung, von der Verschwinden der Freien Szene auf: „[…] die Stigmatisierung Darstellung zur Handlung einher, die auch die üblicherweise und Peripherisierung als ‚freie Szene‘ haben fast alle außerhalb mit Theaterspiel verbundenen Bildungsziele revolutioniert. Es der Stadttheaterstruktur tätigen Künstler hinter sich gelassen. geraten nicht mehr nur Selbstbildungsprozesse und soziales […] Die Frage nach dem Wo und Wie der Produktion, der Lernen in den Blick, sondern auch der gesellschaftliche Rah- Recherchen, Proben und Aufführungen ist mittlerweise ein men selbst, in dem Bildung stattfindet oder stattfinden soll, Fallweise und keine Grundsatzfrage mehr oder gar ein ideo- wird in der künstlerischen Thematisierung verhandelt – unter logisches Problem. Ob in einem Produktionshaus oder am Mitwirkung derjenigen, die in ihm handeln, Schüler, Lehrer Stadttheater, in ‚freier Wildbahn‘, im geregelten öffentlichen und Künstler. In diesem Prozess wird das Potential der künst- Raum oder auch an einem Goethe-Institut irgendwo draußen lerischen Fächer zur Institutionenkritik und -entwicklung von in der Welt gearbeitet wird; […] ob mit freiberuflichen oder Schule unmittelbar sichtbar. ‚festen‘ Akteuren, Bürgern, Laien oder ‚Experten des Alltags‘ – die sehr deutsch(sprachig)e Kategorie eines ‚freien Theaters‘ wird langsam überwunden, die freie Szene ist selten nur noch Akteure des Sozialen in der Theaterkunst – ein Kampfbegriff.“ (Hehmeyer; Pees 2012, 6). Lehrer oder Künstler? In und mit neuen, fallweisen Konstellationen und Bedingungen werden neue Formen und Ästhetiken des Theaters entwickelt. In der Bildungslandschaft glaubt man momentan an die heilende Die komplexe Aufgabe dieser fallweisen Entwicklung ist in ih- Wirkung von Projekten mit Künstlern. Hierin steckt noch ein rem Generierungs- und Entwicklungscharakter als Format zu Stück des alten Kerns der Projektidee: Sie wird nicht aus einer kennzeichnen. Der Begriff meint spezifische Bedingungen, Ar- sicheren Anstellung heraus entwickelt, sondern trägt in ihrer beitsweisen und hierin generierte künstlerische Formen zugleich: Herkunft und in ihrem visionären Entwurf das Risiko in sich. „Ein ganzes Netzwerk aus Produktionshäusern und Plattformen Worin also steckt das Risiko von künstlerischen Projekten in hat sich gespannt, die freiem Theater aus dem In- und Ausland, der Schule? In den prekären Arbeitsverhältnissen der Künstler verschiedensten Performance- und Diskursformaten, Interventio- – oder in der künstlerischen Suche? nen im öffentlichen Raum, Installationen aus den Schnittmengen Tatsächlich bedeutet die Realität von Kooperationsprojekten der Kunstgenres, dokumentarischem, partizipatorischem und zwischen Schulen und Künstlern oftmals, eine preisgünstige postmigrantischem Theater eine Heimat geben“ (ebd.). Diese Variante für kulturelle Bildungsprozesse zu finden – und diese Entwicklung betrifft auch die Schule: Schulen öffnen sich für zudem außerfachlich und damit zeitlich befristet zu realisieren. Künstlerinnen und Künstler, die ein zeitgenössisches Theater- Markus Krajewski u. a. haben in dem Buch „Projektemacher“ verständnis in die Schulen tragen. Theater wiederum schaffen eine Bestimmung der Figur des Projektemachers vorgenommen Grundlagenreflexion 19

Schultheater – künstlerisches oder soziales Handlungsfeld? und hervorgehoben, dass der Projektemacher für eine Erkennt- entwickeln und zu verändern! Also für die sozialen Potentiale nisfigur steht, die in Zeiten von Erkenntnisumbrüchen auf der Kunstform Theater! den Plan tritt. Hier agiert er in der Kreisform von Entwerfen, Erproben, also dem Überführen des Plans in eine Praxis, dem Literatur Gelingen oder Scheitern und dem anschließenden Neuentwurf; Krajewski nennt das die „Produktion von Wissen, und zwar Josef Elias (1978): Schultheater. Spielversuche. Hitzkirch Kirsten Hehmeyer; Matthias Pees (Hg.) (2012): Import Export. Ar- in der Vorform des Scheiterns“ (Krajewski 2004, 22). Es wird beitsbuch zum HAU, Berlin: Theater der Zeit. Heft Nr. 7/8 außerhalb schon anerkannter Wege gedacht und agiert – und Ulrich Hesse, Wulf Schlünzen (1988): Schultheater der Länder 1987. zudem der Versuch der Realisierung gewagt, der dann wiede- Braunschweig 23. bis 27. September. Hamburg rum neue Erkenntnisse zu generieren und das nächste Projekt Dorothea Hilliger (2010): Perspektivenwechsel. Das X-Schulen-Projekt zu beeinflussen vermag. Die Projektemacherfigur ist also eine des Berliner Theaters Hebbel am Ufer. In Wolfgang Schneider, Figur, die sich mit den Gegebenheiten wie auch mit dem Ent- Meike Fechner (Hg.): Theater und Schule. Darmstadt, S. 82–96. wurf von Welt gleichermaßen auseinandersetzt. Sie tut dies Markus Krajewski (2004): Projektemacher. Berlin immer im Wagnis, nicht in der Bestätigung oder Absicherung. Elinor Lippert (2003): Schultheater. Wörterbuch der Theaterpädago- Der Projektemacher als Figur ist wohl der Künstlerfigur näher gik. Berlin/Milow, S. 270 ff. als der des Lehrers. Und tatsächlich: Es ist überaus wertvoll, Anmerkungen Künstler für Arbeiten in Schulen und für Zusammenarbeiten mit Lehrer_innen zu gewinnen. 1 Eine Formulierung von Gerald Hüther während seines Vortrages „Kul- Und dennoch: Weit davon entfernt, Künstler_innen gegen The- turelle Bildung als Menschenbildung“ während der Konferenz „Auf einem aterlehrer_innen ausspielen zu wollen, möchte ich ein Plädoyer kreativen Weg“, Essen 31.1. 2013. halten für Theaterlehrer_innen, die künstlerisch-pädagogisch 2 Auch das Kulturagentenprogramm, realisiert von der Bundeskultur- ausgebildet sind. Für einen Unterricht in diesem künstlerischen stiftung und der Stiftung Mercator, lebt von dieser Idee. Fach, der alle Schüler_innen erreichen kann, die dies wollen. 3 Protokoll der Dozentenkonferenz des Studiengangs Darstellendes Für sichere Arbeitsverhältnisse und für den Mut, die Arbeits- Spiel, Institut für Performative Künste und Bildung der Kunsthochschule bedingungen mit dem Wagemut eines Projektemachers zu Braunschweig. Herbst 2012.

„aufbruch. eine gesprächsperformance” von Karolin Oesker und Philipp Rost. Eine künstlerische Abschlussarbeit im Studiengang Darstellendes Spiel am Institut für Performative Künste und Bildung der HBK Braunschweig. Fotos: Friederike Fänger 20 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

„Spieglein, Spieglein …“ – Gendersensible Spielleitung im Theaterunterricht Sabrina Guse

Die Auseinandersetzung mit männlichen und weiblichen Rol- sentieren. Bei unserer alltäglichen Gender-Performance kopieren lenbildern ist in der Schule keineswegs unbekannt. Es finden wir, ahmen wir nach, lehnen uns an bereits Dagewesenes an, mittlerweile Fachtagungen dazu statt und es gibt offizielle Inter- erfinden kleine Details neu oder kombinieren diese anders. netseiten der Ministerien, die dafür Sorge tragen möchten, „den Der Begriff der Mimesis spielt deshalb eine zentrale Rolle in Blick für Geschlechtergerechtigkeit in der Schule zu schärfen der Gendertheorie – womit zugleich darauf hingewiesen ist, und Wahrnehmungsmuster neu zu gestalten“ (www.gende- dass Gender-Inszenierungen gesellschaftlichen Zwängen und rundschule.de). Zur Erarbeitung gendersensibler Kompetenzen Konventionalisierungen unterliegen. im Bereich der Theaterpädagogik existieren bislang allerdings noch wenig geeignete Unterrichtsmaterialien. Eine erfreuliche Gender-Inszenierungen der Schülerinnen und Ausnahme bildet hier der von Melanie Hinz erarbeitete Metho- den-Baustein „Gender-Performance“ zu Geschlechterbildern Schüler in Theater und Alltag im Themenband der Bundeszentrale für Politische Bildung „Theater probieren – Politik entdecken“ (vgl. „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ (Simone Hinz 2011). Doch auch wenn zusätzliche, ähnlich gut gemachte de Beauvoir) – Das Durchschauen der Gemachtheit von Ge- Didaktisierungen zu dem Thema sicher wünschenswert wären schlechterbildern kann gerade für Jugendliche, in der oft als – noch entscheidender dafür, dass Unterricht (im DS) gender- unsicher empfundenen Phase der Pubertät, gewinnbringend fair gestaltet ist, ist die Einstellung, die innere Haltung und die sein. Aus der erziehungswissenschaftlichen Forschung wissen Überzeugungskraft der jeweiligen Spielleitung. Die folgenden wir zudem, dass Schule vor allem soziales Lernen (also z. B. Überlegungen gehen in diesem Sinne davon aus, dass es für eine Umgangsformen) trainiert. Somit wird auch dort die ‚richtige‘ gendersensible Spielleitung essentiell ist, sich sowohl mit den Gender-Performance einstudiert. Die Jugendlichen entwi- theoretischen Grundlagen aktueller Gendertheorie befasst zu ckeln in der Pubertät eine neue Identität als erwachsenes und haben, als auch die Interessen, Wünsche und möglichen Ängste geschlechtliches Wesen, erfahren sich selbst, ihre Körper und der Jugendlichen zu kennen (vgl. Höhn 2007). ihre Umwelt neu. Mit der körperlichen Entwicklung zur Frau/ zum Mann gehen Ängste und Unsicherheiten einhergehen, die Basiswissen Gender-Theorie nun erwartete Rolle nicht erfüllen zu können. Die teils bewusste, teils unbewusste Gender-Inszenierung der Jugendlichen ist als kulturelles Zeichensystem zwar notwendig, Das Genderthema betrifft jede und jeden – Schüler_innen, um sich im sozialen Gefüge zu verorten und den anderen – rein Lehrer_innen und Eltern – und kann in der Schule fächerüber- äußerlich – erste Signale über Status, Selbstbild und Weltbild greifend zur Ausbildung der kulturellen bzw. gesellschaftlichen mitzuteilen. Dabei stehen Jugendliche aber auch unter enormem Kompetenz eingesetzt werden. Doch obwohl seine Relevanz Druck, anerkannt und wahrgenommen zu werden. An dieser (auch für Männer) offenkundig ist – an dieser Stelle sei nur Stelle haben auch Medien, z. B. Fernsehformate wie „Germany’s auf die stereotype Klage über „Jungs als Bildungsverlierer“ als Next Topmodel“ und soziale Netzwerke wie „Facebook“ großen prominentes Beispiel verwiesen – so stößt man, gerade wenn Einfluss. Das Idealbild ‚Frau‘ bzw. ‚Mann‘ wird bei Jugendlichen es um die theoretischen Bereiche von Gender geht, bei Lehre- maßgeblich durch Massenmedien beeinflusst, Rollenvorstel- rinnen und Lehr ern oft noch immer auf Unwissenheit. Nicht lungen und -erwartungen durch gängige Klischees ausgebildet selten werden Bemühungen zur Geschlechtergerechtigkeit (Mühlen-Achs 2003). Eine kritische Medienkompetenz ist daher (fälschlicherweise) mit Feminismus gleichgesetzt. Deshalb hier ein wichtiges Ziel des schulischen Theaterunterrichts. Es geht in der gebotenen Kürze das wichtigste Grundlagenwissen: In darum, die Selbstinszenierungen, die im schulischen Raum, den 1990er Jahren erfährt das Genderthema eine Belebung im Netz oder eben in gängigen Medienformaten gezeigt wer- durch Judith Butlers Buch Gender Trouble (dt. Das Unbehagen den als solche – als Inszenierungen – zu erkennen. Theater als der Geschlechter). Darin stellt sie die performative Dimension Schutz- und Proberaum bietet ideale Rahmenbedingungen für von Geschlecht heraus und betont dessen Konstruiertheit. Sie entsprechende Erkenntnisprozesse, denn es „zeigt, dass der Alltag geht davon aus, dass wir unsere Geschlechtsidentität durch nur Theater ist und fungiert in diesem Sinne nicht als Illusi- Handlungen, Gesten und Mimik inszenieren und so aufrecht- ons-, sondern als Desillusionsmaschinerie.“ (Zirfas 2005, 272) erhalten. Damit entdeckt Butler den Mythos der Natürlichkeit des Geschlechts und stellt so den Essentialismus in Frage, der von einer unveränderbaren Basis des Geschlechts ausgeht. Es Die genderbewusste Spielleitung gibt damit, nach Butler, keine „wahren oder falschen“ Akte der Geschlechtsidentität (Butler 2002). Butlers Interesse gilt „Jungs, macht Ihr mal die Technik, davon versteht ihr mehr!“ daher der alltäglichen Hervorbringung (Performance) von Ge- oder „Lasst die Mädels präsentieren, die reden doch eh lieber!“ schlechtsidentität. Ihre Theorie sensibilisiert dafür, dass wir uns Ob als Scherz oder unbewusst daher gesagt – solche Aussagen maskieren, verkleiden und ein bestimmtes Bewegungsvokabular sind es, die Strukturen festigen und das gesellschaftliche Bild der anwenden, um Weiblichkeit und/oder Männlichkeit zu reprä- Geschlechter mitprägen. Gerade der Unterricht im Fach Dar- Grundlagenreflexion 21

„Spieglein, Spieglein ...“ – Gendersensible Spielleitung im Theaterunterricht stellendes Spiel böte jedoch die Möglichkeit, solche Klischees Beobachtungsvermögens, um Akzeptanz des Individuums – zu durchschauen, gesellschaftliche Strukturen zu erkennen und und vielleicht auch darum, zu lehren und zu lernen, den Mut alternative Handlungsmuster im geschützten Raum zu erproben. aufzubringen, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu leben. Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es einer selbstreflexiven, interessierten, offenen und informierten Haltung der Spiel- Literatur leitung. Das heißt, dass die Lehrkraft nun selbst in den Fokus Butler, Judith (2002): Performative Akte und Geschlechterkonstitu- der Aufmerksamkeit rückt und ihr Wissen, ihr Auftreten und tion. Phänomenologie und feministische Theorie. In: Wirth, auch ihre Überzeugungen reflektieren muss, um zu erkennen, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und welches ‚Wissen‘ sie bewusst und unbewusst vermittelt. Aus der Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main Gehirnforschung wissen wir, dass Schülerinnen und Schüler Hinz, Melanie (2011): Gender-Performance – ein Baustein zu Ge- das Verhalten ihrer Lehrerinnen und Lehrer (auch unbewusst) schlechterbildern in Theater und Alltag. In: Hruschka, Ole; detailliert beobachten – und beginnen, deren Stimmungen Post, Doris; Wartemann, Geesche (Hg.): Theater probieren, Politik entdecken. Bonn: Themen- und Materialienbände der nachzuempfinden und „auf eine stumme Art ‚nachzuspielen‘. Bundeszentrale für politische Bildung, S. 47–102 Handlungen, Empfindungen, Gefühle, Stimmungen, alles, was Höhn, Claudia A. (2007): „Theater“ um Gender. Aufgaben, Möglich- uns andere vormachen oder zeigen, wird im Gehirn des beob- keiten und Chancen der Schulsozialarbeit. Marburg achtenden Menschen – gleichsam wie in einem Spiegel – leise Mühlen-Achs, Gitta (2003): Wer führt? Körpersprache und die Ord- nachgeahmt“ (Plath 2009, 33). Fühlen sich Schülerinnen und nung der Geschlechter. München Schüler z. B. abgewertet, werden sie dementsprechend (in der Plath, Maike (2009): Biographisches Theater in der Schule. Wein- heim und Basel Spiegelung) abwertend reagieren. Zu Recht spricht man in die- Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin (2006) (Hg.): sem Zusammenhang auch von einem „heimlichen Lehrplan“. Rahmenplan für die gymnasiale Oberstufe. Gymnasien, Ge- Die Position der Lehrkraft als Vorbild ist gerade in Bezug auf samtschulen mit gymnasialer Oberstufe, Berufliche Gymnasien, das Genderthema essentiell, denn nur, wenn wir offen und Kollegs, Abendgymnasien. Darstellendes Spiel. reflektiert mit unseren eigenen Gender-Inszenierungen um- [http://www.berlin.de/sen/bildung/unterricht/lehrplaene/] gehen und den Schüler_innen Ideen der ‚Selbstinszenierung‘ Tillmann, Klaus-Jürgen (Hg.) (1992): Jugend Weiblich Jugend Männ- außerhalb des Mainstream entwickeln lassen, können nicht lich. Opladen Wulf, Christoph; Zirfas, Jörg (Hg.) (2007): Pädagogik des Performati- nur tolle künstlerische Inszenierungen entstehen, sondern es ven, Theorien, Methoden, Perspektiven. Weinheim und Basel ist dadurch die reale Chance gegeben, toleranter und zugleich Zirfas, Jörg: Weltliche, soziale und schulische Theatralität. In: Liebau, kritischer miteinander umzugehen. Es geht eben nicht darum, u. a. (Hg.) (2005): Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische alle Kinder und Jugendlichen gleich zu machen, es geht vielmehr und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der um Aufmerksamkeit und um die Entwicklung eines kritischen Schule. Weinheim und München, S. 257–275

Frl. Wunder AG: „Power of Pussy – eine unendliche Geschichte des Feminismus“ (2009) Foto: Frl. Wunder AG 22 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Zwischen Selbstdisziplin und Selbsterfahrung Die Übung als Medium der Subjektkonstitution Florian Frenzel

Sehen wir uns einen Trainingsunfall an. Ende des letzten Jahr- das Eintreten in die Spirale des Übens unterbricht. Er kommt zehnts war in der Netzwelt ein Video-Clip zu zweifelhaftem nicht zu einer einzigen Wiederholung mit der Hantel, doch das Ruhm gelangt. In dem heimischen Kamera-Mitschnitt „idiot Üben ist eben „jene Technik, mit der man den Körpern Aufgaben with a barbell“ ist ein junger Mensch beim Hantieren mit ei- stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und ner Langhantel zu beobachten (www.ebaumsworld.com/video/ Abstufung auszeichnen“ (Foucault 1994, 207). Es ist einerseits watch/471113/). Er übt sich an einem martialisch angehauchten dynamisch auf Veränderung, andererseits selbstreferentiell auf Männerbild. Die große Langhantel, der nackte Oberkörper, die die Erhaltung seiner Form ausgerichtet. Militärhose im Camourflage-Look erinnern stark an die harten Zu seiner Ehrenrettung können wir dem Knaben zugestehen, Selbstinszenierungen eines Vladimir Putin, wenn er für das Fo- dass er die adäquate Praktik für sein Anliegen wählt. Das toshooting auf dem Taiga-Pony posiert. Der zukünftige Mann, Üben soll eigentlich das unkontrollierte Schwanken zwischen den man gewissermaßen im Knaben jetzt schon sehen kann, Subjektzuständen verhindern und in einen kontrollierten hebt die Langhantel locker an. Prozess, in seinem Fall die Mann-Werdung, überführen. Gleich danach, im Moment des Unfalls, bei dem er bei einer Die Übung hat eine anthropologische Dimension. Wer übt, unbedachten Seitenbewegung mit dem Trainingsgerät in das will oder soll sich verändern, seine Handlungsmöglichkeiten Aquarium einsticht, fällt er innerhalb von Sekundenbruchteilen erweitern, ein neues Selbstverhältnis zu sich eingehen (vgl. in die Kindheit zurück. Er rennt aus dem Kamerablickfeld, das Sloterdijk 2009). jetzt das Plätschern des Wassers und der fallenden Fische zeigt. Die Selbstinszenierung des Jünglings vor den Augen der anderen Die Clipkritik der Süddeutschen Zeitung Online stellt dabei (der Kamera) dient dementsprechend der Selbstüberprüfung im das Identitäts-Drama heraus: „Mama, Mama! schreit der Junge Kontext der herrschenden Gelingenstandards. Man könnte sagen, mit Stimmbruchstimme. Dieser Hilferuf ist ein Eingeständnis er versucht sich im Medium der Übung, nicht nur an die Netzöf- seines Daseins als Kind. [...] Denn als Teenager ist man Kind fentlichkeit, sondern auch an sich selbst als Mann zu vermitteln. und Erwachsener zugleich, oft wechselt man von dem einen Be- Hier ist die Brücke zum Theater zu schlagen, das als Schauplatz wusstseinszustand unkontrolliert in den anderen.“ (Kortmann wiederholter und erneuter Handlungen und damit einhergehender 2010). Mama kommt mit dem Eimer ins Bild und rettet nicht Selbstverhältnisse beschrieben werden kann: „Schauspielerische nur die Fische, sondern auch ihr Kind. Arbeit ist ein Vorgang besonderer Art. Sie bringt nicht hervor, was von der Person des Schauspielers oder der Schauspielerin abzulösen ist, sie ist immer untrennbar mit dieser verbunden. Die Übung als Medium der Selbstkonstitution So gesehen handelt es sich um einen kontinuierlichen Selbstbil- dungsprozess, um einen Vorgang der permanenten Selbst- und Interessant ist, dass der biografisch unfreiwillig Zurückkata- Neuerschaffung sowie um eine fortgesetzte Transformation“ pultierte versucht hat, seinen Subjektstatus als Kind mit der (Roselt 2011, 13). Die Disziplin, die der Wiederholungszwang Langhantel zu überwinden. Er scheitert, weil sein Mißgeschick den Akteuren abverlangt, um ein bestimmtes Darstellungs- oder Selbstdarstellungsziel zu erreichen, führt zu ihrer Hervorbrin- gung als handelnde Subjekte. Beides, Wiederholungszwang und Selbsterzeugung, lässt sich nicht trennen.

Die Internalisierung des normativen Blicks

Der präzise Umgang mit der Reproduktion von Geübtem vor einem Publikum ist prekär und kann, wie das Eingangsbeispiel zeigt, auf fatale Weise scheitern. Offenbar muss zunächst das Üben geübt werden, bevor man sich als handlungsmächtiges Subjekt vor den Augen der Öffentlichkeit inszeniert. Als Repräsentationsfigur der geltenden Standards begleitet die Figur des Übungsleiters dabei den Arbeitsprozess im Vorfeld der Proben und der Aufführung. Lehrerinnen und Lehrer des Dar- stellenden Spiels, Theaterpädagoginnen und Theaterpädagogen, Schauspieldozentinnen und -dozenten begleiten und überwachen Disziplinierung und Selbsterfahrung: Die Körpertüchtigung als Thea- ihre Schützlinge beim Üben. Diese sollen Fertigkeiten erlernen, terübung. die man auf einer Bühne wiederholt einsetzen kann. Dort muss Grundlagenreflexion 23

Zwischen Selbstdisziplin und Selbsterfahrung

Ich sage, was ich tue! – Die Entwicklung von Selbstverhältnissen beim Beschreiben der eigenen aktuellen Körperlichkeit. auch mitausgestellt werden, dass man etwas nicht zum ersten sie aus dem Gedächtnis ihrem Traume folgt, sich selbst hören, Mal tut, sondern geübt hat, bevor man in Erscheinung tritt. sehen und beurteilen und kann den Eindruck abschätzen, den (Dies schließt auch Operationen wie Sich-selbst-überraschen sie hervorrufen wird. Sie ist in diesem Augenblick ein Doppel- mit ein.) Das bedeutet, ich kann zeigen, dass ich um die gel- wesen: die kleine Clairon und die große Agrippina.“ (Diderot tenden Standards des Gelingens nicht nur weiß, sondern diese 2005, 139). offensichtlich auf mich und mein Handeln anwenden kann. Es geht um ein verdoppeltes Know-How, „ein Etwas-Ausführen- und ein Sich-Führen-Können“ (Menke 2003, 286). Die Rolle der Übungsleitung Beim Training dieser Fertigkeiten übernehmen die Übungsleiter eine Orientierungsfunktion. Sie unterscheiden zwischen richti- Möchte man beispielsweise in einem Theaterworkshop oder gen und falschen Ausführungen des Übens und repräsentieren Schauspielkurs als Übungsleiterin oder Übungsleiter zur Selbs- dadurch gesellschaftliche Wertvorstellungen. Übungen sind eben- termächtigung der einem anvertrauten Schützlinge beitragen, sosehr Verfahren der Subjektivierung wie der Sozialisierung. Sie kommt man jetzt womöglich in Schwierigkeiten mit dem eigenen sind jenem Zurichtungs-Mechanismus vergleichbar, den Michel Selbstverständnis. Die Subjektivität, die sich beim Üben herstellt, Foucault in seinem panoptischen Modell der Disziplinargesell- ist nicht gleichbedeutend mit Begriffen wie Selbstbewusstsein schaft am Beispiel der Gefängnisarchitektur entwickelt hat (vgl. oder freiem Willen. Zu üben bedeutet nicht zwangsläufig einen Foucault 1994). Im Gefühl, ständig unter Beobachtung einer Autonomiegewinn für das eigene Leben. Wir haben es mit ei- apparativen Einrichtung zu stehen, hinter der die Beobachter nem praxeologischen Phänomen zu tun. Es geht dem Wollen (Wärter) unsichtbar bleiben, wird die Kontrolle des eigenen wie dem Wissen voraus, denn, wer etwas will oder um etwas Verhaltens verinnerlicht. weiß, kann es dadurch noch nicht. Übungsleiter geben ihre Die selbstbeherrschte Perspektive auf uns selbst muss uns erst Maßstäbe in der praktischen Auseinandersetzung weiter. Es anerzogen werden. Die Figur des Übungsleiters ist Ausdruck die- reicht nicht aus, wenn sie ihre Schützlinge nur motivieren oder ses Defizits. Ich brauche jemanden, der stellvertretend für mich über Zielsetzungen belehren. Sie greifen solange praktisch ins den überwachenden Kontroll-Blick aufrechterhält, bis ich ihn Übungs-Geschehen ein, bis die übenden Subjekte ihre Hand- mir angeeignet habe und ihn auf mich selbst anwenden kann. lungen und damit sich selbst normalisieren können. In dieser Die übenden Subjekte internalisieren den normativen Blick, der Hinsicht sind sie Zuchtmeister der disziplinierenden Übung. sie beim Üben beobachtet und korrigiert. Hierin liegt ein Teil Demgegenüber gilt es einen zweiten Übungsbegriff in Stellung der Meisterschaft bei der Rollen- wie der Selbstdarstellung. So zu bringen, den Christoph Menke aus den späten Schriften von lobt beispielsweise Diderot in seinem „Paradox über den Schau- Michel Foucault herausgearbeitet hat. In „ästhetisch-existentiellen spieler“ die Fähigkeiten der Clairon. Diese könne, „während Übungen dagegen bilden sich Subjekte heraus, die ihr Leben in 24 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Zwischen Selbstdisziplin und Selbsterfahrung

Die Übungsleiterin überwacht die Durchführung einer Entspannungs- und Imaginationsübung. Fotos: Florian Frenzel

Autonomie oder persönlicher Entscheidung führen können“ Kräfte: „Sie gelingen gerade, wenn sie zu etwas anderem füh- (Menke 2003, 291). Hier werden Übungen genutzt, um eigene ren, als was an ihrem Anfang festgelegt wurde“ (ebd., S. 298). Vorstellungen von Normalität zu entwerfen. Dies klingt eher nach Dies bedeutet für die Übungsleitterinnen und -leiter, möchten den emanzipatorischen Zielsetzungen, die die theaterpädagogi- sie der Lebensverbesserung ihrer Schützlinge dienen, dass sie sich sche Arbeit und das Darstellende Spiel in weiten Teilen prägen. auf die Eigendynamik der künstlerischen und sozialen Prozesse Doch wie Menke zeigt sind beide Übungsbegriffe, die diszipli- einlassen müssen, Raum schaffen müssen, für etwas, das noch nierende wie die ästhetisch-existentielle Übung nicht wirkliche unbekannt ist, offen sein müssen für die Art und Weise, in der Alternativen, weil es ohne die Unterwerfung unter die Disziplin sich die Übenden selbst erfahren. kein Subjekt geben kann. Die Internalisierung des normativen Blicks bringt die Übenden in eine paradoxe Situation. Sie er- Quellenhinweise fahren sich als Subjekte, die gleichzeitig defizitär und sich selbst http://www.ebaumsworld.com/video/watch/471113/ (zuletzt: überlegen sind, indem sie etwas noch nicht können, aber durch 28.1.2013, 11:00 Uhr) das Üben bald können werden (vgl. Platon 1940, 139 f.). In die- Diderot, Denis (2005): Das Paradox über den Schauspieler. In: Ro- ser Verdopplung und damit Distanzierung von einem einzigen selt, Jens (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Identitätsmodell entsteht der Spielraum für eigene Entwürfe. Barock bis zum postdramatischen Theater. Berlin: Alexander Die Beherrschung der jeweiligen Norm ist Voraussetzung für Verlag, S. 134–151 eine Übungspraxis, in der Subjekte sich von eben diesen gelten- Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen – Die Geburt des den Normen emanzipieren können, indem sie eigene aufstellen. Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp Kortmann, Christian (2010): Das Internetvideo der Woche – ein Spacko „Ob eine Übung disziplinierend oder ästhetisch-existentiell ist, blamiert sich. (17.5.2010). In: Süddeutsche.de. URL:http:// liegt an der Haltung mit der man sie ausführt“ (Menke 2003, www.sueddeutsche.de/kultur/das-internetvideo-der-woche- 299). Das bedeutet, dass noch in der schlimmsten Ballet-Kinder- ein-spacko-blamiert-sich-1.831374 (12.1.2013) Kaderschmiede nicht auszuschließen ist, dass die zugerichteten Menke, Christoph (2003): Zweierlei Übung – Zum Verhältnis von so- Ballerinas einen Autonomiegewinn an sich erfahren. Und um- zialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz. in: Honneth, gekehrt, dass auch ein theaterpädagogischer Workshop, der sich Axel/Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz die Selbstermächtigung seiner Teilnehmer zum Ziel setzt, als einer Rezeption. Frankfurt am Main: Suhrkamp erzieherische Zwangsveranstaltung erlebt werden kann. Platon: Sämtliche Werke. Band 2: Politeia. Berlin [1940] Roselt, Jens/Weiler Christel (2011) (Hg.): Schauspielen heute – die Für die Selbsterfahrung als autonomes Subjekt beim Üben ist Bildung des Menschen in den performativen Künsten.– Bie- vielmehr entscheidend, was auch für das Gelingen ästhetischer lefeld: transcript Verlag Tätigkeiten gelten kann: Die Überschreibung der vorher aufge- Sloterdijk, Peter (2009): Du musst dein Leben ändern – über Anth- stellten Zielsetzung durch die im Arbeitsprozess emmergierenden ropotechnik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Berichte aus der Praxis 25

BERICHTE AUS DER PRAXIS

Regieführen an der Dresdner Bürgerbühne Melanie Hinz

Männer in der Midlife-Crisis, Punks, Bankangestellte, Speku- Miriam Tscholl hat für ein Theater der Zukunft gefordert, dass lanten, Migranten, Verheiratete und Geschiedene, ehemalige die Arbeit mit Nicht-Schauspielern Teil von Regieausbildungen DDR-Bürger mit Stasi-Akten, Seniorinnen und Kinder: Sie und werden müsse (vgl. Spielzeitheft 2012/13 des Staatsschauspiel viele mehr treten in Aufführungen der Bürgerbühne am Staats- Dresden, 64 f.). Diese Entwicklungen hat an einigen Regieschu- schauspiel Dresden in Erscheinung. Die Bürgerbühne ist eine len bereits begonnen. Blickt man jedoch auf die biographischen Traumfabrik für alle jene, die einmal in ihrem Leben auf den Profile der Bürgerbühnen-Regisseurinnen und Regisseure, so ist Brettern stehen möchten, die die Welt bedeuten und zugleich es wenig erstaunlich, dass ein Großteil von ihnen keine klassi- eines nicht besitzen: eine professionelle Schauspielausbildung. sche Regieausbildung absolviert, sondern an den Universitäten Nicht-professionelle Darstellerinnen und Darsteller haben die in Gießen und Hildesheim Praktische Theaterwissenschaft stu- Ästhetik und Spielweisen des Gegenwartstheater in den letzten diert haben. Hier werden „reflektierte Theaterpersönlichkeiten“ Jahrzehnten entscheidend geprägt, beispielsweise in Literaturinsze- ausgebildet (Berendt 2003, 26), denen keine Methodik der nierungen von Volker Lösch, dem Aktionstheater von Christoph Regie vermittelt wird, sondern ein szenisches Gespür für und Schlingensief und vor allem durch das Dokumentartheater des die Reflexion von den für ein Projekt gewählten ästhetischen Regiekollektivs Rimini Protokoll. Letztere haben zugleich ein Mitteln, daraus entstehenden Spielmöglichkeiten und Fähig- neues Label für sie erfunden, um den Dilettantismus-Vorwurf keiten der Beteiligten. Genau dies sind Grundvoraussetzungen auszuschalten: Nicht-professionelle Darsteller fungieren in ih- für eine Regiearbeit mit Laien. Daran zeigt sich zugleich, wohin ren Inszenierungen als sogenannte „Experten des Alltags“ und sich das noch junge Berufsfeld des Regisseurs entwickelt hat: bringen damit ihre ganz eigene Kompetenz mit: Sie brauchen vom „ersten Beamten des Theaters“ im 19. Jahrhundert (Roselt kein schauspielerisches Handwerk, weil ihr Leben Probe ge- 2002, 30), dem nur eine administrative Funktion zukam, über nug war für das, was sie auf der Bühne zu erzählen haben (vgl. den Arrangeur eines Dramas in die Szene hin zum schöpferi- Dreysse; Malzacher 2007). schen Zentrum des Inszenierungsprozesses, bei dem heutzutage der Regisseur mit einem Autor oder Konzeptkünstler verglichen Das Staatsschauspiel Dresden bündelt diese ästhetischen Ent- werden kann. Im Unterschied zu diesen Einzelprofessionen hat wicklungen eines „Theater des Nicht-Perfekten“ (vgl. Roselt es der Regisseur im Theater jedoch mit einem komplexen so- 2006) und der Inszenierung von Authentizität (vgl. Wartemann zialen und kollektiven Prozess zu tun, den er genauso gestalten 2002) seit drei Jahren in einer eigenen Sparte – der Bürgerbühne. muss wie die Inszenierung. Dresdner Bürgerinnen und Bürger aller Altersklassen treten als Protagonisten in verschiedenen Besetzungen auf: als Stellvertre- Einen kühlen Kopf für Konzepte zu haben, ist das eine. Doch ter für soziale Gruppen, Spielerinnen von dramatischen Rollen, es braucht in einer Bürgerbühnenproduktion von mir als Re- Experten des Alltags oder Selbst-Darsteller. Welche Funktion gisseurin auch Empathie für die Bedürfnisse, Ansprüche und und Spielweise ihnen zugeschrieben wird, und wer überhaupt Unsicherheiten, die von den Spielerinnen und Spielern in den bei einem solchen Projekt mit von der Partie sein darf, darüber Proben geäußert werden: „Du, wann bekomme ich endlich entscheidet bei einem Auswahlworkshop allein die Regie und ihr meine Rolle? Du, wann steht denn endlich ein Ablauf des Produktionsteam. Unter professionellen Bedingungen werden pro Stücks fest, damit ich mir das alles merken kann? Du, über- Spielzeit drei Gastregisseur_innen eingeladen, ihre Projekte mit morgen schreibe ich eine Matheklausur, da kann ich morgen Dresdnern zu realisieren. Zwei Projekte pro Spielzeit übernimmt wirklich nicht proben. Du, ich habe Knieprobleme, ich kann die Leiterin der Bürgerbühne Miriam Tscholl selbst. Während diese Choreographie nicht mitmachen. Du, wie gehe ich mit es einen ausgeprägten Diskurs über die Position der Spielleitung meinem Lampenfieber um, vor ein Publikum zu treten?“ Dies in theaterpädagogischen Kontexten in Handbüchern und thea- sind nur einige der Stimmen, die mir auf der Probe begegnen terwissenschaftlichen Arbeiten gibt (vgl. Müller 1982 bzw. Sack und für die ich genauso Antworten parat haben muss wie für 2011), fehlt bisher eine Reflexion der Regie im professionellen Fragen der Inszenierung. Meine sozialen Fähigkeiten werden Theater mit nicht-professionellen Darstellern, zu der ich aus in einem Bürgerbühnen-Projekt ebenso wie mein Regiekon- meiner Perspektive als Bürgerbühnen-Regisseurin Anstoß geben zept auf die Probe gestellt. Neben der Motivation muss ich als möchte. Dabei gehe ich von der These aus: Nicht-professionelle Regisseurin ein Interesse an den Spielern zeigen, ein spielfähi- Darsteller sind meiner Meinung nach keine Gefahr für den Be- ges Ensemble formen, eine vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre rufsstand des Schauspielers, wie oft moniert wird, sondern eine kreieren, in der die Spieler und Spielerinnen Lust haben, sich Herausforderung für den Beruf der Regisseurin. zu öffnen, eine Identifikation mit dem Projekt schaffen und 26 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Regieführen an der Dresdner Bürgerbühne

flexibel auf Konflikte und Durchkreuzungen im Probenprozess dies auf meine Arbeit an der Bürgerbühne übertragbar: Ich in- reagieren können. Da die Spieler der Bürgerbühne kein Geld1 itiiere Auseinandersetzungen über politische Themen, trainiere für ihre teilweise mehrmonatige Probenarbeit als Darsteller die körperlichen und spielerischen Fähigkeiten der Darsteller, bekommen, was sie dezidiert von den Profis unterscheidet, führe sie in performative Spielweisen ein und komme zu einer müssen andere Wertschöpfungen entstehen, für die die Spie- Auseinandersetzung über das Theater mit den Dresdner Bür- ler das Gefühl haben, dass es sich lohnt, so viel Zeit und Kraft gerinnen und Bürgern. Doch all dies ist von mir nicht geplant in ein Bürgerbühnenprojekt zu stecken. Um diese komplexe und didaktisch aufbereitet, sondern ein Effekt des intensiven Wechselbeziehung von Kunst und Sozialem, zumal bei Recher- Probenprozesses, in dem die anvisierte Aufführung für alle cheprojekten und Gruppengrößen von mehr als 12 Spielern, das gemeinsame und leitende Interesse ist: mit einer Gruppe bestens leisten zu können, arbeite ich stets im Regieteam mit von mir ausgewählten nicht-professionellen Darstellern eine Sinje Kuhn zusammen. Gemeinsam können wir gut Sorge Inszenierung zu erarbeiten, die sich im Kontext der aktuel- tragen, dass die Theaterzeit der Spieler, trotz Anstrengungen len Theaterlandschaft und im Repertoirebetrieb sehen lassen und unpopulären Entscheidungen in den Endproben für die kann. Genau hierin liegt für mich der Unterscheid zwischen Gruppe produktiv und bereichernd bleibt. Regie und Theaterpädagogik. Bezeichnenderweise wird der Re- Rudi Müller hat in seinem Aufsatz „Aufgaben der Regie“ he- gisseur in der theaterpädagogischen Arbeit als Spielleiter und rausgestellt, dass ein Regisseur künstlerische, pädagogische, Allrounder bezeichnet (ebd.). Er hat einen anderen Auftrag: administrative und soziale Funktionen in der Wahrnehmung nämlich mit einer zusammengewürfelten Gruppe und unter seiner Position zu erfüllen hat: „Die verschiedenen Funktionen zumeist marginalen finanziellen Ressourcen und ohne weitere sind in dem komplexen Arbeitsgebiet eng verbunden. Ob Re- Spezialisten wie Bühnenbildnerin oder Musikerin eine Insze- giearbeit im professionellen oder nicht-professionellen Theater nierung zu entwickeln, in der bestenfalls alle Darstellerinnen stattfindet, macht für ihre Aufgabenstellung prinzipiell keinen und Darsteller gleichberechtigt agieren. In einer Bürgerbüh- Unterschied aus, jedoch differieren die Methoden“ (Müller nenproduktion wird Theater als eine soziale Kunstform immer 1982, 232–264). Stanislawski, Brecht oder Grotowski waren wieder neu künstlerisch unter professionellen Bedingungen sich in ihren Theaterprogrammatiken über ihre Doppelfunk- durch ein Team von Spezialisten ausgelotet. Dabei agieren die tion als Vermittler und Regisseure stets bewusst. Wenn Brecht Darsteller bei mir als Spezialisten für ihre eigenen Erzählungen das Theater als eine Lehr- und Produktionsstätte begreift, so ist – sie werden zu Co-Autoren.

Bürgerbühne Dresden: „FKK – Eine Frauenkörperkomödie“ von Melanie Hinz Fotos: David Baltzer Berichte aus der Praxis 27

Regieführen an der Dresdner Bürgerbühne

Wer eine Inszenierung mit nicht-professionellen Darstellern einen Ort ihrer Wahl einladen lasse. Es ist wichtig, dass sie in macht, muss wissen, warum und wie diese auf der Bürgerbühne diesem Prozess für uns Gastgeber sind, die Einblick in den für in Erscheinung treten können. Hierbei geht es darum, Fragen, uns ‚fremden Raum ihres Lebens‘ geben. Ich begreife es als Ge- Themen und Stoffe zu finden, bei denen man weiß, warum schenk dieser Arbeit, wenn ich von einem Spieler in die private man sie mit Laien gerne durchführen möchte und dadurch Wohnung eingeladen werde, mir selbst gemachte Limonade ihnen eine Kompetenz zuweisen kann, die für die „kollektive serviert wird und er mir die Höhen und Tiefen seines 50-jähri- Kreativität“ aller am Prozess Beteiligten in einem professionel- gen Lebens offenbart. „[…] und es freut mich, diese Menschen, len Kontext notwendig ist (Kurzenberger 2006, 54). Hinzu diese Themen und diese Welt umgekehrt wieder in das Theater kommt das Know-How, einen Schutzrahmen der Darstellung einzuladen“, sagt Clemens Bechtle. Das bedeutet: Im fremden bauen zu können, indem sie eine Lust des Spiels erzeugen, die Raum des Theaters sind wir Regisseure für die Spielerinnen und Fragen des Handwerks obsolet macht. Spieler Gastgeber, die sie mit unserer Art und Weise Theater zu Der Regisseur Clemens Bechtel hat im aktuellen Spielzeitheft- machen, konfrontieren und beglücken. Dabei ist es gut, wenn Interview über seine Arbeit an der Bürgerbühne den Zauber Fremdheitserfahrung der S pielerinnen und Spieler bestehen: beschrieben, den es für ihn hat, wenn „Menschen den ihnen Nichts ist schlimmer, als wenn nicht-professionelle Darsteller fremden Raum Theater betreten“ (Staatsschauspiel Dresden meinen zu wissen, wie Theater „funktioniert“ und versuchen, 2012/13, 64). Meist bringen nicht-professionelle Darsteller ei- die Schauspieler im großen Haus nachzuahmen. Aber die ge- ne Faszination für das Medium mit, die im routinierten Alltag genseitigen Fremdheitserfahrungen, die man macht, bergen des Theatergeschäfts plötzlich auch bei mir selbst wieder neu auch enormes Konfliktpotenzial. belebt werden kann. Eine Arbeit an der Bürgerbühne holt ihren Dies erlebte ich selbst in meiner letzten Probenarbeit an der Stimulus aus den Fremdheitserfahrungen. Denn im Wechsel- Bürgerbühne „FKK. Eine Frauenkörperkomödie“, die in der verhältnis treten wir Regisseurinnen und Regisseure gerade bei ersten Spielzeit 2010/11 entwickelt wurde und bis Dezem- Dokumentartheaterproduktionen in Kontakt mit einer Welt, ber 2012 gespielt wurde. Das Projekt war ausgeschrieben für die zumeist außerhalb von Theaterkantinen, Probebühnen und Frauen ab 16 Jahren, die bereit sind, auf der Bühne über ihren Künstler-Milieus liegt. Meine Produktionen fangen stets damit Körper und ihre Sexualität zu sprechen. Bereits am Anfang des an, dass wir uns für die Interviews, die Grundlage des Stück- Probenprozesses brachte eine Darstellerin eine biographische entwicklungsprozess sind, von den Spielerinnen und Spieler an Erzählung über ihre Teilnahme in einer Selbsterfahrungsgrup-

Bürgerbühne Dresden: „Ich armer Tor“ nach Goethes Faust, mit Dresdner Männern in der Midlife-Crisis (Regie Miriam Tscholl). 28 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Regieführen an der Dresdner Bürgerbühne pe in den 1970er Jahren mit, in der sie ihren Vaginalschleim lichkeit reflektieren und gestalten kann. In Anlehnung an erkundete. Die Darstellerin hatte die Geschichte selbst vorge- Joseph Beuys’ Begriff der sozialen Plastik meine ich damit, schlagen, wir fanden sie klasse und begannen, sie zu proben. dass ich als Regisseurin als Konzeptkünstlerin tätig bin, die Bei einem Großteil der anderen Mitspielerinnen regte sich szenische Rahmen und Spielaufgaben kreieren kann, in de- massiver Protest; obszöne Worte wie „Vaginalschleim“ dürf- nen die nicht-professionellen Darstellerinnen und Darsteller ten auf einer Bühne nicht ausgesprochen werden. Und für die dann spielfreudig agieren können. In diesem Zusammentreffen Männer im Publikum sei diese dezidierte Beschreibung von miteinander geht es auch immer darum, das Theater in die weiblichen Körperflüssigkeiten nicht ertragbar und zerstöre Welt hinaus und die Welt in das Theater zu tragen und sich ihr Bild von Weiblichkeit. Hinzu kam, dass ein Großteil der gegenseitig zu befragen. Spielerinnen auch nicht bereit war, auch nur eine Zeile aus Charlotte Roches Besteller „Feuchtgebiete“ während der Pro- Literatur: be zu lesen, weil sie das Buch zu pornographisch fanden und damit auf einer Bühne nicht in Verbindung gebracht werden Miriam Dreysse und Florian Malzacher (Hg.) (2007): Experten des All- tags. Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin: Alexander Verlag wollten. Die Diskussion über den „Vaginalschleim“ und die Eva Berendt (2003): „Die umfassend reflektierte Theaterpersönlich- „Feuchtgebiete“ zog sich durch den gesamten Probenprozess keit. Der Studiengang Kulturwissenschaften und ästhetische – Tränen und Ausstiegsdrohungen inklusive. Meine intellektu- Praxis in Hildesheim bildet denkende Theaterarbeiter und ellen Erläuterungen, warum ich diese Diskurse für das Thema theaterpraktisch versierte Generalisten aus“, in: Theater heu- und die Reflexion von Weiblichkeit wichtig finde, fruchteten te, Nr. 06, S. 26 nicht. Hieran zeigt sich die Herausforderung in einem Projekt Hajo Kurzenberger (2006): „Kollektive Kreativität: Herausforderung mit nicht-professionellen Darstellerinnen: Für sie stellte es ein des Theaters und der praktischen Theaterwissenschaft“, in: Ste- moralisches Problem dar, was wir als Produktionsteam nicht phan Porombka/Wolfgang Schneider/Volker Wortmann (Hg.): Kollektive Kreativität. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und teilten, mussten aber im Laufe des Prozesses die persönliche ästhetische Praxis 2006. Tübingen, S. 53–69 Haltung respektieren und Lösungen finden, wie wir einerseits Hajo Kurzenberger (2009): Der kollektive Prozess des Theaters. mit der sozialen Situation umgehen und andererseits die Insze- Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität. nierungsideen weiterverfolgen konnten. Am Ende entwickelten Bielefeld: transcript wir eine Dramaturgie der Scham für die Inszenierung, bei der Hans-Thies Lehmann (2007): Theorie im Theater? Anmerkungen zu immer mehr Frauen aussteigen und in eine Kabine gehen, je einer alten Frage“: in: Miriam Dreysse und Florian Malzacher obszöner die Sprache wird und je mehr Hüllen fallen. (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. In einem solchen Bürgerbühnen-Prozess, insbesondere beim Berlin: Alexander Verlag, S. 164–179 biographischen Theater, bin ich als Regisseurin ständig Vermitt- Rudi Müller (1982): „Aufgaben der Regie“, in: Herbert Giffei: Theater machen. Ein Handbuch für die Amateur- und Schulbühne. lerin zwischen der Realität der Spielerinnen und Spieler, ihrer Ravensburg: Otto Maier Verlag, S. 232–264 Identität und den Anforderung einer professionellen Theater- Ute Pinkert (2007): „Spiele mit dem ‚Nicht-Perfekten‘. Fragmen- arbeit und den Inszenierungsideen, die wir als Produktionsteam tarische Übersetzungen eines aktuellen Konzepts, in: Fokus entworfen haben. Anders als eine klassische Regisseurin, die mit Schultheater 06. Zeitschrift für Theater und ästhetische Bil- einem professionellen und bezahlten Spieler-Ensemble arbeitet, dung. Heft 6, S. 14–23 muss ich organisatorisch, sozial, ethisch und künstlerisch mit Jens Roselt (2006): „Die Arbeit am Nicht-Perfekten“, in: Erika Fischer- der Nicht-Professionalität der Spielerinnen und Spieler umge- Lichte, Barbara Gronau, Sabine Schouten und Christel Weiler hen und sie für die kollektive Kreativität produktiv machen. (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Theater der Zeit, Recherchen 33, Berlin: Theater der Zeit, S. 28–38 Das erfordert eine „situative Regie“ (vgl. Müller 1982, 257), Ders.: „Vom Diener zum Despoten. Zur Vorgeschichte der modernen die immer wieder anpassungsfähig sein muss, mit den Bedürf- Theaterregie im 19. Jahrhundert“, in: Nicole Gronemeyer/ nissen und Fähigkeiten umgehen zu können, ohne dabei das Bernd Stegemann (Hg.): Lektionen 2 Regie. Theater der Zeit: eigene künstlerische Interesse aufzugeben. Berlin 2002, S. 23–37. Da es keine Theorie von Regie gibt, haben Theaterpraktiker Mira Sack: spielend denken. Theaterpädagogische Zugänge zur Dra- immer wieder versucht, aus ihren Erfahrungen ihre Tätigkeit maturgie des Probens. Bielefeld: transcript 2011. zu charakterisieren: Tabori beschreibt sich beispielsweise als Staatsschauspiel Dresden: „Der fremde Raum Theater. Die Regisseure „Reiseleiter“ (Tabori 1993, 87), Rimini Protokoll als „Coach“ Clemens Bechtel, Melanie Hinz, Marc Prätsch und Miriam (Lehmann 2007, 171) und Hajo Kurzenberger hat Jossi Wieler Tscholl reflektieren die Arbeit der Dresdner Bürgerbühne und ihren persönlichen künstlerischen Ansatz“, in: Staatsschauspiel als „Chorführer“ beschrieben (Kurzenberger 2009, 23). Ich Dresden: Spielzeitheft 2012.13, S. 64 f. habe lange darüber nachgedacht, wie ich eine Übersetzung George Tabori: Betrachtungen über das Feigenblatt. Ein Handbuch für finden kann, für das, was ich an der Bürgerbühne tue. Ich Verliebte und Verrückte Frankfurt a. M: Fischer 1993, S. 87. verstehe mich als Sozial-Plastikerin, die Menschen in Szene Geesche Wartemann: Theater der Erfahrung. Authentizität als Forde- setzen, Prozesse kollektiver Kreativität steuern und die Wirk- rung und Darstellungsform. Hildesheim: MuTh 2002. Berichte aus der Praxis 29

„Auf den Spuren des Sensationellen!“ Interview über Spielleitung mit Martin Frank, Jury-Sprecher beim Berliner „Theatertref- fen der Jugend“ Das Gespräch führte Ole Hruschka

Welche verschiedenen Typen von Spielleitung im Leben ist, erzählen. Das ist meiner Ansicht nach der Keim kann man im Vorfeld und während des Festi- der künstlerischen Identität. Eine gute Spielleitung ist mit den vals „Theatertreffen der Jugend“ in Berlin be- Jugendlichen deshalb in einem besonders engen Austausch. Es gibt Gruppen hier beim Theatertreffen, die sind auch wäh- obachten? rend des Festivals im Dauerdialog. Alles, was den Jugendlichen widerfährt, wird besprochen. Man merkt, dass alle szenischen Es gibt Spielleiter, die sich besonders für die Energie, die Vorgänge gemeinsam erdacht wurden, nicht in Abgrenzung zur Dynamik und die Hemmungslosigkeit von Jugendlichen in- Spielleitung. Die Gruppen haben so intensiv gearbeitet, dass im teressieren. Andere wollen eher etwas vom Zeitgeist, über die Ensemble eine eigenständige Haltung entstanden ist; dann wird Lebensentwürfe und urbanen Erfahrungen der Jugendlichen eine gewisse Ironie oder ein politischer Sarkasmus gemeinsam erfahren und vermitteln. Beides hat seine Berechtigung. Ich verkörpert. Ob die Spielleitung eine solche eigenständige Hal- habe hier auf dem Festival ganz unterschiedliche, manchmal tung des Ensembles ermöglicht hat oder nicht – das spürst du fast konträre Spielleitertypen erlebt: Der Regisseur Lukas Lang- einfach in der Aufführung oder spätestens im Gespräch danach. hoff zum Beispiel ist jemand, der unglaublich viel Zeit darauf verwendet, mit den Jugendlichen zu sprechen – zunächst in Wie kann eine solche „eigenständige Haltung“ der Gruppe, aber auch in abendfüllenden Einzelgesprächen. durch die Spielleitung befördert werden? Er interessiert sich für jeden Zwischenton und die Charakte- ristik einer Persönlichkeit und für alle assoziativen Bezüge des Es gibt ja keine Dogmen, sondern verschiedene Wege für die- Einzelnen zum Stoff. Daraus entwickelt sich bei ihm letztlich sen schöpferischen Prozess: Manche Spielleiter strukturieren eine Konzeption. Es gibt aber auch Spielleiter, die genau ent- den Probenprozess und die Inszenierung sehr stark vor, so dass gegengesetzt arbeiten und eher sagen: „Leute, wir reden jetzt alle schon am ersten Tag wissen, was sie zu tun haben. Sie ern- kein Wort mehr, wir machen heute Sport!“ Körperliche Action ten dafür Vertrauen und Spielfreude. Es gibt aber auch andere, ist für die Jugendlichen, die ja etwas leisten wollen, immer zu- eher chaotische Spielleiter, die bewegen sich durch den Prozess tiefst befriedigend. in dem Vertrauen, dass alles, was passiert, schließlich der Sache zugute kommen wird. Sie geben Raum für alle Impulse – in dem Was zeichnet eine gute Spielleitung aus? Wissen, dass die „Grammatik der Phantasie“ (Gianni Rodari) immer in der Lage ist, aus ganz heterogenem szenischen Mate- Egal, ob man über biografische Zugänge oder über die körper- rial eine Geschichte zusammen zu setzen. Spielleiter sollten ihre liche Erschöpfung einsteigt: Irgendwann muss die Haltung des eigene Motivation genau kennen und keine Angst haben vor Spielleiters dazu führen, dass sich die Spieler mitteilen möch- dem, was ihre Spieler erzählen und an Einfällen produzieren. ten, dass sie die Geschichte davon, was für sie eine Sensation Prinzipiell sollte ihnen alles willkommen sein.

Aufführungsfotos vom Theatertreffen der Jugend 2012 in Berlin: „Generation S“ (Jugendclub Junges Ensemble, Stuttgart) und „Fleisch” (P14 – Ju- gendtheater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin) Fotos: Dave Grossmann 30 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

„Auf den Spuren des Sensationellen!“

Sollten die Jugendlichen grundsätzlich in die te, ist: Hat die Inszenierung so viel Respekt vor der Intelligenz Wahl eines Themas oder Stoffes eingebun- des Publikums, dass ihm zugemutet wird, zusammen mit den den sein? Spielern wirklich eine neue Erfahrung zu machen?

Ich halte es für wichtig, die Jugendlichen in die Themenwahl Wie wirkt sich der instutionelle Rahmen von des Stoffes einzubeziehen. Allerdings erscheint es mir ebenso Theaterarbeit, zum Beispiel im schulischen wichtig, dass der Spielleiter ein Feuer für dieses Thema entfa- oder außerschulischen Bereich, auf die Arbeit chen kann. Spielleiter sind ja in aller Regel neugierige Leute. der Spielleitung aus? Aber sie sollten eben auf beides neugierig sein – auf ihre eige- nen Verbindungen und Assoziationen zum Text oder Thema Als Theaterlehrer an Schulen erlebe ich das größte Misstrauen, ebenso wie auf die Sensationen, die ihnen aus dem Ensemble weil die Jugendlichen gar nicht glauben können, dass ihr asso- entgegenschlagen. ziativer, subjektiver Beitrag später ein Baustein der Dramaturgie sein könnte. Deshalb verweigern sie sich oder bieten permanent Kann man Jugendliche heute noch mit einer Klischees an. Dieses Problem ist darauf zurück zu führen, dass in Schulen jede Handlung rational begründet und zielorientiert linearen Erzählform oder einem Klassiker ablaufen muss. Das bringt einfach die Institution mit sich – und konfrontieren? wir können es auch durch die ausgefeiltesten theaterpädagogischen Übungen nicht ändern. Ich erlebe das seit 18 Jahren: Wenn ich Auch das hat sehr viel mit Dialog zu tun. Ein Problem entsteht mit einer Gruppe in der Schule probe und am nächsten Tag im ja meist dadurch, dass man als Spielleiter mehr Erfahrung hat Theater Basel, verhält sie sich komplett anders. als die Spieler, d. h. man hat eine Begeisterung und ahnt eine Es ist nicht nur so, dass die Jugendlichen den Leistungsauftrag Machbarkeit. Nehmen wir mal das postdramatische Herangehen der Schule durchschauen und erfüllen, sie tragen ihn auch selbst am Beispiel von Kleists „Penthesilea“. Ich habe das in Basel mit mit und er ist Teil ihrer Identität geworden. Deshalb sage ich Jugendlichen inszeniert, weil ich es für einen interessanten Stoff immer: Gebt den Jugendlichen möglichst viel an Verantwortung halte: Penthesilea und Achill sind ein Liebespaar, so selbstlos, so zurück, lasst sie ganz viel allein machen! Erst wenn ein Jugend- existentiell – das muss einen als junger Mensch einfach ergreifen. licher wirklich die Verantwortung übernommen hat für das, Jetzt ist Kleist aber kompliziert, seine Texte scheinen Jugend- was er tut, dann wird er auch mit jugendlicher „Verve“ spielen. lichen lang und sperrig. Wenn ich sie ermutige „Kommt, wir inszenieren das, was Euch an diesem Stoff interessiert“ – dann Am Ende der Proben muss eine Auswahl ge- antworten sie mit Zweifeln: „Das wird dann doch nie Thea- troffen werden aus dem gesammelten sze- ter!“ Sie können ja zunächst noch nicht wissen, für was genau ich mich interessiere. Wenn ich sage: „Du spielst jetzt mal den nischen Material und nicht alle Ideen und Pfeil, der von Penthesilias Armbrust schnellt und Achills Hals Vorschläge können berücksichtigt werden. durchdringt!“, dann denken sie „Der Typ tickt nicht richtig!“, Wie geht man mit diesem heiklen und weil sie einen solchen szenischen Vorgang nicht gewohnt sind. schmerzlichen Moment am besten um? Wenn sie aber schon einmal mit mir über die Ziellinie gegangen sind und – unterschwellig während einer Aufführung – gemerkt Nichts ist heute wertvoller als das eigene Engagement, nichts haben, dass die Zuschauer auch abstrakte Zeichen durchschauen, ist teurer als Freizeit. Ein Lehrer, der Hausaufgaben aufgibt und dann nehmen sie eine solche Herausforderung an. Das ist das sie dann nicht entgegennimmt, anschaut und würdigt, kann Ergebnis eines gemeinsamen Reife- und Vertrauensprozesses. einpacken. Übertragen auf das Theater heißt das: Je länger und intensiver die Spielleitung sich einlässt, umso mehr merken die Wie wichtig ist den Jugendlichen denn die Spieler: „Das kann man ja gar nicht alles auf die Bühne bringen!“ Wenn die Spieler im Prozess Wertschätzung erfahren haben für Reaktion des Publikums? das, was erarbeitet wurde, dann haben sie auch nicht das Ge- fühl, dass es vergebene Liebesmüh war, wenn es nicht in der Jugendliche haben natürlich das Bedürfnis, dass die Zuschauer Aufführung vorkommt. Die Spieler sollten im Idealfall wissen, zufrieden sind mit ihrer Leistung. Oft tendieren sie deshalb dazu, dass sie jetzt schon reicher an Erfahrungen sind als vorher – und ihre Zeichen abzusichern und Vorgänge mehr zu „erklären“ als die Premiere eigentlich gar nicht mehr brauchen. Ich sage dann: es nötig ist. Dadurch kommt die Beziehung zwischen Spielern „Dein Produkt wird nicht auf den Markt gehen, es ist jetzt aber und Publikum nicht in Fluss, wird blockiert. Ein guter Spiellei- Teil unseres Erfahrungschatzes.“ Und wenn es sich tatsächlich ter sollte dazu ermutigen, das Publikum nicht für dummer zu um einen Schatz handelt, ist das meist in Ordnung so. halten als es ist. Das heißt: Man kann darauf vertrauen, dass die Zuschauer gut sind im Entdecken und klug genug, die Zeichen Literatur: zu entschlüsseln und zu verknüpfen. Er muss also sagen „Lasst lasst uns ihnen nicht alles erklären, was wir tun!“ Ein wichtiges Gianni Rodari (2008): Grammatik der Phantasie. Die Kunst, Ge- Kriterium, das ich hier in der Jury-Arbeit immer wieder vertre- schichten zu erfinden. Leipzig: Reclam Berichte aus der Praxis 31

Die nackte Wahrheit braucht den Mantel der Fiktion Das „Theater mobil“ am Jungen Schauspiel Hannover Bärbel Jogschies

Die Wahrheit ging durch das Volk und die Leute erschraken. Das Prinzip, biografisches Theater als theatrale Feldforschung im „Seht nur, wie hässlich sie ist“, riefen die Leute und liefen sozialen Raum anzuwenden, findet seither immer mehr Verbrei- vor ihr davon. Da kam das Märchen und alle liebten es. tung; es wird auf die Bedingungen der jeweiligen Kommunen Das Märchen aber nahm die Wahrheit in die Arme und angepasst und weiter entwickelt. Die soziokulturelle Relevanz sagte: „Komm, mein bunter Mantel reicht für uns beide!“ solcher Projekte ist enorm. Öffentliche Fördergelder und Er- (Orientalische Weisheit) wartungen waren und sind hoch. Auch die kulturpolitischen Wirkungen für das Theater sind nicht zu verachten (Stichwort Als Barbara Kantel mit ihren Teams aus Kulturpädagog_innen Audience developement): Die jugendlichen Darsteller_innen, und Künstler_innen das Format „Theater mobil“ für Hanno- die meist antragsgerecht aus sogenannten Theater- oder gar ver erfand, waren es wirkliche Automobile, die ausgestattet mit bildungsfernen Zielgruppen stammen, ziehen ihre Freunde technischem Gerät in die sozialen Brennpunkte der Stadt fuhren. und Familien ins Theater. Die Schwelle in die Hochkulturins- Später ging man direkt in die Jugendzentren, um mit „problema- titution sinkt. Die Akzeptanz, das Verständnis für Theater und tischen“ Jugendlichen in künstlerisch-pädagogischen Prozessen seine modernen Ausdrucksformen wächst. Von den Kulturpo- ihren ureigensten Ausdruck zu finden und das bisher Ungehörte litiker_innen wird Theater sogar als Heilmittel gegen soziale und Ungesehene auf der Bühne des Staatstheaters öffentlich zu Spannungen verstanden. Viele Zwecke können damit verfolgt machen. Aus den langen und mühevollen Prozessen entstanden werden: Drogen-, Alkohol- und Gewaltprävention, Integration maßstabsetzende Produktionen wie „Heimat im Kopf“ und „Fa- von ausgegrenzten Gruppen. Was Schule und Sozialarbeit miss- miliengeschichten“. Regie führte in beiden Fällen Nurkan Erpulat. lingt, kann das Theater mit seiner wilden Freiheit und seiner

Szene aus dem Mädchen-Projekt mit Kristina Käfer, Manjot Kaur Khangura, Greta Rossmann Foto: Roxana Rios 32 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Die nackte Wahrheit braucht den Mantel der Fiktion

formalen, Disziplin erfordernden Strenge herstellen. Und tat- Raum der gespielten Geschichten, in dem sich Wahres, Wirk- sächlich sind positiven Wirkungen bei Beteiligten und Publikum liches, Echtes verbirgt oder zeigt. Als Ausgangspunkt für ihre signifikant: Junge Menschen finden Freunde, Hoffnungen und Stückentwicklungen im biografischen Theater bieten die Mär- ihren Weg in die Schule, in den Job, sogar in die Kunst. Eine chen den Spielleiter_innen einen dramaturgischen Faden und Akteurin der ersten Theater mobile wird Lehrerin, ist politisch den Spieler_innen eine Reibungsfläche. Auf diese Weise werden aktiv und macht selber sehr engagierte Theaterprojekte. Fast Grundtugenden theaterpädagogischer Arbeit mit Laien gewahrt wie im Märchen, nicht wahr? – die Möglichkeit, das Eigene im Fremden zu entdecken und die Differenzerfahrung zwischen Ich und Rolle zur Sicherung Theater mobil „Wasser findet immer seinen der eigenen Identität zu nutzen. Zugleich handelt es sich um Weg“ zutiefst biografisches Theater. Die Anwesenheit des Fiktiona- len auf der Bühne schafft für den Zuschauer jene Ästhetik der Unentscheidbarkeit, die den Spieler schützt. Am 30.6.2012 hatte das Theater mobil „Wasser findet immer seinen Weg“ Premiere auf der Bühne des Ballhof Zwei im Jun- gen Schauspiel Hannover. Es gewann bereits vor der Premiere den Integrationspreis der Stadt Hannover. Vier Monate zuvor, im Februar 2012, starteten die beiden Gruppen, über deren Ar- beit hier im Folgenden berichtet wird, ihre theatrale Recherche jeweils mit einer archaischen Geschichte als Ausgangspunkt: Die Mädchen probten einmal die Woche am Nachmittag in einer Schule und manchmal am Wochenende im Theater. Im Märchen „Prinz Hüsnü Jussuf“ sucht die Prinzessin als Mann verkleidet nach ihrem Geliebten, wird von ihm schwanger, muss bei seinen Eltern dienen, bis sie ihn erlösen kann und 40 Tage Hochzeit gefeiert wird. Weibliche Rollenmodelle waren also das Thema für die Gruppe aus 16 Mädchen von 14 bis 19 Jahren rund um das Leitungsteam Daniela Fichte und Annika Vogt, das von der Dramaturgin Friederike Trudzinski beglei- tet wurde. Die Männergruppe, angeleitet von Günter Kömmet und Serkan Salihoglu (Dramaturgie: Vivica Bocks), hatte das Märchen „Der wohlgeratene Sohn“ als Textmaterial, in dem der sterbende Pascha seinen Söhnen abverlangt, sich als bester Thronfolger zu beweisen. Es geht um Söhne und Väter. Auch diese dramatische Folie ermöglichte es den Darstellern, sich mit ihren persönlichen Geschichten zu positionieren und ihr Statement zu formulieren. Die Bühnenbildnerin Andrea Wagner schuf eine märchenhafte Spielwiese, auf der die szenischen Ergebnisse der Projekte vor- Szene aus dem Jungen-Projekt mit Kadir Isik, Elias Gutzeit, Dima Solovyov, gestellt werden konnten – einen verlassenen, überwucherten Frederik Buchholz, Giovanni Cardillo, Marcel-Francois Munoz-Lagunas. Jahrmarkt als Ort verlorener Kindheit. Die Bühne wird so zum Foto: Roxana Rios

Eine haarige Sache Vom Umgang mit der Scham auf der Bühne Daniela Fichte, Annika Vogt

Theaterproben sind Räume der Zurschaustellung. Hautnah ist auf der Bühne vor den Augen von Fremden verhandelt werden zu spüren, wie persönliche und soziale Grenzen sichtbar und soll. Darin liegt für Roselt eine spezifische schauspielerische erfahrbar werden und wie mit der Verletzung von Normen ge- Qualität: „Vielleicht zeichnet es Schauspieler sogar aus, dass spielt wird. Das Gefühl, das damit einhergeht, ist die Scham. sie sich ihre Scham nicht abtrainiert haben (...), sondern dass Die Spieler wagen sich an Grenzen heran, zeigen sich und schre- sie sich der eigenen Scham aussetzen und mit ihr arbeiten – im cken wieder zurück. Das Alles mit der Gewissheit, dass genau Sinne eines Auslotens, Überschreitens und Zurückziehens“ diese Spannung des Offenbarens und Verbergens irgendwann (Roselt 2011, S. 3). Berichte aus der Praxis 33

Eine haarige Sache

Wir finden, dass das Spiel mit der Scham auch konstitutiv für jungen Frauen aufzubrechen. Für das Herantasten an persönli- das Theater mit Jugendlichen ist. Denn Scham manifestiert sich che Einstellungen und Meinungen setzten wir die jungen Frau immer dann, „wenn im Vertrauten Fremdes begegnet und das an einen intimen Ort: das Hamam. Angelehnt an das Märchen, Subjekt auf sich selber zurückgeworfen wird“ (Lietzmann, zit das uns als Grundlage diente, war die Improvisationsaufgabe, n. Seidler, 1993, S. 182). Dem Jugendalter ist die Unsicherheit ein Hamam aus Stühlen zu bauen und mit der Imagination bezüglich der eigenen Identität immanent; dem Theaterspielen von Nacktheit und dem Spiel von kollektivem Schwitzen, Ge- mit Jugendlichen die Ermöglichung von Differenzerfahrung. heimnisse auszutauschen. Der Ort der körperlichen Reinigung, Beide Tatsachen legen nahe, dass Theaterproben auch immer animierte die Spielerinnen, sich zu ihren heimlichen Wünschen Schamproben, also das kreative Aneignen und Ausloten des rund um den Haarwuchs zu bekennen. Schamgefühls, bedeuten. Die grundsätzliche Frage tauchte auf, wie wir diese persönlichen Auch aus der Sicht der Spielleitung gibt es Schamgefühle, die Äußerungen auf die Bühne bringen können, ohne die Spielerin- sich vor allem in einem Spannungsfeld gegensätzlicher Anfor- nen lächerlich zu machen. Wir bedienten uns dafür der Form derungen für den Probenprozess äußern. Einerseits wollen wir des Fakes in Gestalt eines biografischen Gedichts. Die Gefühle die Spieler verführen, unverschämt Tabus zu sprengen und sie und Gedanken der Mädchen wurden darin aufgenommen und zu einem schamlosen Spiel antreiben, andererseits ist es unse- vermeintlich unverhüllt preisgegeben. Was Fakt und was Fake re Verantwortung, die Spieler auf der Bühne vor den fremden ist, wurde absichtlich offen gelassen. Der Text und somit das Blicken so zu schützen, dass eine peinliche Selbstoffenbarung biografische Ich wurde auf vier Spielerinnen aufgeteilt. oder gar Selbstbloßstellung vermieden wird. Wie ist hier die Ge- Um den scheinbar intimen Geständnissen und politischen wichtung verteilt, damit ein Offenlegen nicht zu einer nackten Statements eine noch größere Wirkungskraft zu ermöglichen, Tatsache wird und ein Verhüllen zur verklemmten Nummer? arbeiteten wir mit dem gestalterischen Mittel des Gegensatzes: Welche ästhetischen Gestaltungsmittel verlangen oben beschrie- Dem schamlosen Aussprechen weiblicher, intimer Gedanken- bene Triebfedern? Wie können wir also vor diesem Hintergrund welten stellten wir ein keusches Madonnen-Motiv entgegen. Die eine Vorgehensweise für die Theaterarbeit mit Jugendlichen vier jungen Frauen öffneten in einem Gestus der Unschuld ihre entwickeln, die mit dem Gefühl der Scham verantwortungsvoll langen Haare und knieten wie auf eine Betbank nieder. Untermalt und schöpferisch umgeht? wurde die Szene mit einem Teppich von sanfter Klaviermusik. Der Kontrast zwischen der ausgesprochenen Schamlosigkeit Unser Interesse im Rahmen des Theater mobil-Projekts „Wasser und der gleichzeitigen inszenierten Keuschheit schuf eine selbst- findet immer seinen Weg“ richtete sich auf das Jugendalter als ironische Haltung unter den Spielerinnen. Sie können lustvoll Zeit des Übergangs vom Mädchen zur Frau. Die eigenen und schambesetzte Tabus vor dem Publikum offenlegen, ohne sich sozialen Erwartungen, die Rollenbilder und die Körpererfah- in ihrer weiblichen Identität angegriffen zu fühlen. rung der zehn teilnehmenden Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren in Bezug auf das „Frauwerden“ standen im Fokus. In diesem Sinne plädieren wir für einen kreativen Umgang mit Während der Probenarbeit trat das Gefühl der Scham in un- der Scham in der Theaterarbeit mit Jugendlichen. Dem Gefühl terschiedlichen Zusammenhängen auf. Insbesondere die Scham der Scham wohnt eine identitätsfördernde und identitätsbil- ausgelöst durch den eigenen Körper, die Körperscham, beglei- dende Funktion inne. Im Laufes des Schamprozesses macht der tete uns maßgeblich auf den Proben. Der Umgang mit ihr soll Beschämte eine Veränderung durch: die Verwirrung löst eine im Folgenden exemplarisch beschrieben werden. temporäre Identitätskrise aus, derer sich der Beschämte bewusst Auffällig war, dass das Zurschaustellen und Hinterfragen des wird und diese Erfahrung in seine Identitätskonstruktion in- eigenen Körpers äußerst gehemmt verlief. In der Zeit des Rei- tegriert: „Am Ende der Schamsituation ist er wieder ganz ‚bei fens, das wissen wir von uns selbst, verändert sich der weibliche sich‘, aber ein klein wenig ‚verrückt‘.“ (Lietzmann, 2003, S. Körper enorm und hat zugleich für die weibliche Identität eine 114). Diese ständige bildende Bewegung im Grenzbereich der starke Relevanz. Ein auf den Proben auftretendes Tabu war die Scham wird durch Theater möglich und macht Theater (viel- weibliche Körperbehaarung. Es gestaltete sich schwierig, in einer leicht erst) möglich. Der dynamische Vorgang des Verhüllens Offenheit darüber zu sprechen. Beschämt lenkten die jungen und Offenlegens auf den Proben wird gleichzeitig gestalterischer Frauen immer wieder ab, gleichzeitig blitzte eine Neugier auf, Akt für die Bühne. Die dafür nötigen Strategien bewegen sich diesem brisanten Thema rund um den Körperkult nachzuge- in unserer Arbeitsweise zwischen Theater und Performance. hen, ja ihm sogar eine Szene zu widmen. Performative Verfahren können die Spieler eher herausfordern, Nach der Kenntnisnahme dieses Tabus als Grenze innerhalb der sich selbst zu begegnen und zu offenbaren, die Verbindung zu Proben sorgten wir für Annäherungsmaterial. Eine Recherche theatralen Formen schafft Distanz. Diese ist insofern essentiell im Frauenmagazin Missy brachte uns voran. Hier wurde den für den Prozess, da es nicht um das tabulose Aufdecken intimer jungen Frauen bewusst, dass Körperhaare an Frauen in den privater Geheimnisse geht, sondern ebenso um das Bewahren letzten 30 Jahren zum neuen Tabu gezüchtet wurden und sich dergleichen. bereits viele Künstlerinnen damit auseinandergesetzt haben Diese Einsicht scheint gerade brisant in einer Zeit, in der in (z. B. Yoko Ono, Valley Export). Die Auseinandersetzung mit manchen Fernsehformaten oder Internetblogs – durch öffent- dem Frauenmagazin führte zu lebhaften Diskussionen über die liche Demütigungen oder intime Geständnisse –Schamgrenzen persönliche und gesellschaftliche Brisanz von weiblicher Körper- überstrapaziert werden. Hier kann Theater/Performance die behaarung. Der Weg über das fremde Foto- und Textmaterial Erfahrung stiften, sich das Zeigen und Verkleiden spielerisch ermöglichte uns, die distanzierte, abwehrende Haltung bei den bewusst zu machen. 34 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Eine haarige Sache

Gedicht: Um ein Haar (Auszug) Literatur: Karin Gottschalk (2012): Ich Affe, du Nacktmull, In: Missy Magazin, Als ich meine allerersten Schamhaare bekam Heft 02/12, Hamburg, S. 59–65 Das war unterm Arm Melanie Hinz (2011): Gender-Performances – ein Baustein zu Ge- Platzte ich derart vor Stolz schlechterbildern in Theater und Alltag. In: Theater probieren Denn ich spürte, ich bin nicht aus Holz. – Politik entdecken, Bundeszentrale für politische Bildung, Ich hab alle meine Freundinnen eingeladen Bonn, S. 73–102 Und nach dem Baden Anja Lietzmann (2003): Theorie der Scham. Eine anthropologische Zeigte ich meinen Wuchs, den zarten Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum. Disser- tation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Und sie bestaunten ihn in all seinen Arten. Sozialwissenschaften in der Fakultät für Sozial- und Verhal- tenswissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Ein behaarter Frauenkörper – ne haarige Sache? Jens Roselt (2011): Die Würde des Menschen ist antastbar. Ein Essay Ich sag dir, was ich mache: über den kreativen Umgang mit der Scham. www.nachtkritik. Ich werde Tabus sprengen de/index.php?option=com_content&view=article&id=5799 Und sie hängenlassen in Längen. Günter H. Seidler (1993): Zwischen Skylla und Charybdis: Die un- Ich werde dem wilden Körperwuchs frönen umgängliche Scham der anorektischen Frau, in: ders. (Hg.): ne gut gekämmte Intimfrisur, auch mal föhnen Magersucht. Öffentliches Geheimnis, Göttingen/Zürich Auf Ganzkörperenthaarung hab ich keinen Bock Ich will üppige Beinbehaarung mit kurzem Rock.

Um ein Haar hätt ich mich blamiert Denn ich gebe zu, ich bin nicht rasiert Ich geb dir mein Wort, auch nicht am intimsten Ort einen Kahlschlag unten hab ich überwunden die blanke Pussy liegt hinter mir und ich sage dir: Hol dir die Haare zurück! An Achseln und am besten Stück!

Ein Kind ist wie ein unbeschriebenes Blatt Biografisches Theater mit Jugendlichen unter professionellen Bedingungen Vivica Bocks

Theater ist eine Vergrößerungsmaschine. Sich auf der Büh- schmerzhaften Übergang des Kindseins ins Erwachsenenalter ne einem Publikum zu stellen, bedeutet für Jugendliche eine und von der Sehnsucht nach einer männlichen Leitfigur, die Grenzerfahrung, bei der viel Unsicherheit, manche Angst und im Gewirr heutiger Rollenmodelle eine Orientierung bietet. oftmals Scham überwunden werden muss. Die eigene Biografie Die Gewissensfrage des künstlerischen Teams lautete: Dürfen und damit sich selbst zum Thema zu machen, erfordert Mut und wir diese Geschichten der Beteiligten verwenden – und wenn ja, Vertrauen. Die Gruppe von zehn jungen Männern zwischen 14 in welcher Form? Auch das Bekenntnis persönlicher (familiärer) und 21 Jahren um die Spielleiter Serkan Salihoglu und Günter Probleme ist ein schambelegter Akt, es galt hier also, sowohl Kömmet setzte sich mit männlichen Rollenbildern anhand der die Darsteller als auch deren Familien zu schützen. Aus meiner Beziehung von Söhnen zu ihren Vätern auseinander. Sicht als Dramaturgin stellte sich die Frage, wie ein biografi- scher Theaterabend über den Moment der (Selbst-) Erfahrung hinausgehen kann. Wie kann dieses biografische Material eine 1. Ein Moment wird zum Material eigene Qualität bekommen? Wie können die Empfindungen der Akteure in einen darstellerischen Akt übertragen und erlebbar Zu Beginn der Proben ergab sich eine engagierte Diskussion, gemacht werden, ohne den Kontakt zur Gruppe zu verlieren die später zur Grundlage der Inszenierung werden sollte. Die und ohne die Beteiligten an die Grenze ihrer Darstellungsmög- Faszination dieser Debatte lag zum einen darin, dass mit Leiden- lichkeiten zu bringen. eWi kann Erfahrung zu Theater werden? schaftlichkeit und spontanem Witz ein lebendiges Meinungsbild Die Intensität biografischer Theaterarbeiten mit Laiendarstellern junger Männer zu unserem Thema entstand; zum anderen er- ist kaum mit den Probenprozessen im professionellen Theaterbe- zählten frappierende Geschichten über Väter und Söhne vom trieb vergleichbar, denn jugendliche Akteure befinden sich noch Berichte aus der Praxis 35

Ein Kind ist wie ein unbeschriebenes Blatt in einem Entwicklungsprozess und bringen nicht zwangsläufig 3. Ästhetische Bearbeitung und Verdichtung Erfahrung mit den Darstellungsverfahren des Theaters mit. Bio- grafisches Theater sieht sich nicht selten dem Vorwurf ausgesetzt, Auf der Basis, mit den eigenen Geschichten spielerisch umzuge- es ginge nicht über die Banalität einer privaten Nabelschau hinaus. hen, konnte auch die Spielleitung eine Ästhetik vermitteln, die Auch wir verfielen gewissermaßen dem Zauber der Unmittel- jenseits der theaterkonventionellen Vorstellung der Jugendlichen barkeit unserer Darsteller – eine Art „Authentizitätsfalle“, denn lag. Unser Abend fußte auf starken choreografischen Momenten die vermeintliche Unmittelbarkeit nicht professioneller Darstel- und beruhte auf einem chorischen Spielprinzip, das es ermög- ler allein stellt noch keine eigene Ästhetik dar (vgl. Wartemann lichte, die Gruppe als Ganzes, ihre Kraft, ihren Zusammenhalt 2002). Biografisches Theater basiert mehr noch als andere For- und ihre Körperlichkeit in den Vordergrund zu rücken und men auf einem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Spielleitung die einzelnen Spieler immer wieder in den Schutz der Grup- und Darstellern, das ein hohes gegenseitiges Vertrauen erfordert. pe zurücktreten zu lassen. Auch in der stark ästhetisierenden Als professionelle Theaterschaffende müssen wir unsere künstle- Ausstattung wurde deutlich, dass dieser Abend nicht die soziale rische Kompetenz zur Vertrauensbasis machen, die Aufgabe der Realität der Jugendlichen abbildet: Der Raum stellte einen ver- Spielleitung muss es daher sein, Biografisches zu Spielmaterial lassenen Jahrmarktplatz dar, eine Art Erinnerungsraum, an dem zu machen und den Darstellern ein Bewusstsein für (ihre) the- die verlorenen Jungen auf ihre Väter warteten. Die Spieler traten atrale Wirksamkeit zu geben. Gäbe es einen Arbeitspakt mit der in Superheldenkostümen auf, die offensichtlich ihren eigenen, Spielleitung, müsste die Forderung der Darsteller lauten: Was idealisierten aber kindlich geprägten Vorstellungen entsprachen, kriegen wir von euch, damit wir mit dem, was wir euch von uns denen sie längst entwachsen waren. Bühne und Kostüme gaben zur Verfügung stellen (nämlich unsere eigene, ungeschützte Ge- den Akteuren die Möglichkeit, sich (humorvoll) als Kunstfiguren schichte), sicher umgehen können? in Szene zu setzen und als solche auch die Texte darzustellen.

2. Biografieren Die Antwort der Spielleitung auf den oben erwähnten „Ar- beitspakt“ bedeutete in unserem Fall also: „Wir zeigen Euch körperliche, stimmliche und szenische Ausdrucksmöglichkeiten, Wir schrieben aus der redigierten Tonaufnahme der Diskussi- die euch sicher machen, die ihr ausführen könnt und die es uns on Texte heraus, die mit der Gruppe besprochen und auf ihren gemeinsam ermöglichen, eure Geschichten zu etwas Spannen- Wunsch hin verändert oder verfremdet wurden. Dann verteilten dem, Bedeutsamen und künstlerisch Interessanten zu machen.“ wir die Texte auf die Gruppe, allerdings als „Gegenbesetzungen“: Biografisches Theater sollte den Ehrgeiz verfolgen, Kunst zu sein Wer eine Wut auf seinen Vater hatte, bekam einen versöhnli- und den Jugendlichen künstlerisch anspruchsvolle Darstellungs- chen Textpart, wer einen übermächtigen Vater beklagte, musste weisen näher zu bringen. Dies setzt auch eine bewusste Reflexion nun über dessen Abwesenheit erzählen. Diese Verschiebung er- der Qualität von Darstellungsmitteln von Seiten der Spielleitung möglichte den Darstellern, sich unvoreingenommen dem Text voraus. Das Ziel muss aber dabei bleiben, die jugendlichen Dar- zu nähern. Gleichzeitig übernahm aber auch die äußerst sensi- steller zu „Profis“ auf ihrem eigenen Gebiet zu machen, so dass sie bilisierte Gruppe die Verantwortung für alle Biografien und es wissen, wovon sie sprechen, was sie tun und worin sie gut sind. entwickelte sich ein starker Zusammenhalt. Der Abend gipfelte Sie sind weder nur Erfüllungsgehilfen noch mit einem falschen in einem Monolog: Ein Sohn erzählt von seinem Hass auf den Anspruch konfrontiert, sondern werden zu Profis ihrer eigenen Vater, von dessen Tod und wie er erst nach der Beerdigung von Selbst-Inszenierung. Darin liegt auch ihre eigene, unverwech- Seiten seines Vaters erfuhr, die er nie wahrgenommen hatte. Im selbare Qualität als Darstellerinnen und Darsteller. Text wurden mehrere biografische Berichte aus der Gruppe zu einer einzigen, fiktionalisierten Biografie verschmolzen. Unsere Literatur: Methode der Verteilung und Überschreibung der Texte ergab eine bewusste Widersprüchlichkeit, die für die Beteiligten wie auch Geesche Wartemann (2002): Theater der Erfahrung. Authentizität für die Zuschauer das Spiel mit Biografie als Spiel entlarvte. Die- als Forderung und als Darstellungsform. Reihe Medien und se Spiel-Erfahrung bot einen möglichen Schutzrahmen, sich auf Theater, Band 10, Universität Hildesheim der Bühne selbstbewusst und auch mit selbstironischer Distanz Ulrike Hentschel (1998): Das Gefühl fürs Echte – Versprechungen von Authentizität in Pädagogik und Theaterpädagogik. Kor- bewegen zu können – nach dem Motto: „Es ist meine Geschichte respondenzen Heft 33, S. 10–17 und doch ist sie es nicht. Das bin ich und doch bin ich es nicht.“ Norma Köhler (2011): Biografie und Theater. In: Reader zur Fachtagung Um diese Abgrenzungen zwischen Alltagserfahrung und Bühnen- „Biografie und Theater“, Schultheater der Länder Düsseldorf kunst zu schaffen, bieten sich gerade für biografisches Erzählen 2011, Zusammengestellt von Dieter Linck und Gunter Mie- auch postdramatische und performative Darstellungsformen an. ruch, Bundesverband Theater und Schule 36 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

„Und wann kriegen wir unsere Rollen?“ Performatives Theater mit Grundschulkindern Friedhelm Roth-Lange

Ein wachsendes Interesse der professionellen Kinder- und dene Inszenierung verzichtet bewusst darauf, den aus der Sicht Jugendtheater an Inszenierungsformen, „die sich nicht in des Vierjährigen erzählten Text zu dramatisieren und mit den den Frondienst einer durchgestimmten Narration und einer in der Erzählung auftauchenden Personen zu besetzen. Eine symbolischen Überbaupflege“ begeben, wurde erst jüngst an Schauspielerin und ein Schauspieler sind die Erzähler, die sich prominenter Stelle konstatiert (Rakow 2012, 7). Immer häu- die Geschichte zuspielen, mal sich ergänzend, mal sich unter- figer erlebt man, dass Handlungen und Gegenstände auf der brechend oder gemeinsam sprechend, meist als Bruder und Bühne einfach das sind, was sie sind – und weniger etwas „be- Schwester, aber auch als Vater und Mutter oder als dicker Mann deuten“ oder meinen. Entsprechend verkörpern Schauspieler und seine Frau. So wie die Spieler nicht auf eine Rolle festgelegt nicht mehr Rollen, sondern begegnen den Kindern grundsätz- sind, so bedeutungsoffen und wandelbar sind auch der Raum lich als schlichte Mitspieler. Dass performative Theaterformen und das Spiel mit den wenigen Objekten konzipiert: Vorn dr ei auch besonders geeignet sind, mit Kindern Theater zu machen, aufgespannten Dreieckstüchern, die auch Projektionsfläche für ja theaterpädagogisch gegenüber der herkömmlichen Arbeit mit eine Live-Kamera und Schattenspiele sind, stehen, zwei Stühle, Rollentexten in mancher Hinsicht gewichtige Vorteile bieten, zwei Mikrophone, eine Wasserschüssel und ein Kissen mit Puppe. soll im Folgenden am Beispiel eines theaterpädagogischen Pro- Das Theater Marabu in Bonn ist zwar in den letzten Jahren jekts des „Theater Marabu“ mit Grundschulkindern zu dem mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, findet aber mit sei- Kinderbuch „Schwester“ von Jon Fosse gezeigt werden. nem Spielplan und einer Spielweise, die nicht affirmativ an den In der ganz unspektakulären Erzählung geht es um die kleinen Erwartungen medial vorbelasteter Zuschauer ansetzen, an den Fluchten, die ein vierjähriger Junge mit seiner kleinen Schwes- Schulen vor Ort nicht immer die gewünschte Resonanz. Vor dem ter unternimmt, die aber stets sehr schnell am Widerstand der Hintergrund fest sitzender Erwartungen einer konventionellen Erwachsenen scheitern und jedes Mal schmerzhaft bestraft Theaterästhetik liegt es nahe zu untersuchen, inwieweit eine pro- werden. Die inzwischen auch zum diesjährigen Festival des benbegleitende theaterpraktische Arbeit Grundschulkindern den Theaters für junges Pulikum „Augenblick mal!“ (2013) gela- Zugang zu neuen, nicht illusionistischen Theaterformen erleich-

Probenfotos aus einem theaterpädagogischen Projekt zu den Themen „Geschwister“ und „Strafe“ (Leitung: Sarah Mehlfeldt) Berichte aus der Praxis 37

„Und wann kriegen wir unsere Rollen?“ tern und sie womöglich dafür begeistern kann. Für das Projekt Von der Recherche zur Präsentation mit fünf Jungen und sieben Mädchen aus dem 2. Schuljahr wurde die Theaterpädagogin Sarah Mehlfeld gewonnen, die während Zu betonen ist, dass es in keinem Moment darum ging, die vier Monaten einmal in der Woche im Rahmen der Nachmit- Textvorlage oder die Inszenierung nachzuspielen, sondern mit tagsbetreuung jeweils für zwei Stunden einen Theaterkurs und dem Material zu arbeiten, das die Kinder in den Gesprächen drei Probenbesuche anbot. Die Ergebnisse der Arbeit sollten bei und nach dem Probenbesuch zu dem Thema beisteuerten im Anschluss an die Premiere im Theater präsentiert werden. und an dem sich ihre Spielfreude entzündete. Das waren zum Beim ersten Probenbesuch hatten die Kinder, ohne vorher das einen die Erfahrungen mit Strafe und die von den Zweitkläss- Buch zu kennen, etwa 15 Minuten lang Probenergebnisse vom lern überwiegend als negativ beschriebenen Erlebnisse mit Anfang der Inszenierung gesehen. Bei dem anschließenden Geschwistern. Das waren aber auch Spielgegenstände, die von Gespräch berichteten sie über Erlebnisse in ihren Familien, so den Kindern als attraktiv wahrgenommen wurden wie das Kis- freimütig, dass auch die begleitenden Lehrer überrascht waren. sen und ein kleiner Teddy. Hinzu kam die Aufgabe, auch die Dabei kamen sehr ausführlich die Strafmethoden der Eltern wie beiden Kinder der Gruppe ohne Geschwister in den szenischen Zimmerarrest und Hausarrest zur Sprache. Verblüfft waren die Prozess einzubinden. Theatermacher darüber, wie nüchtern die Kinder ihre Erfah- Man könnte diese Gespräche als Teil einer elementaren Form rungen mit Geschwistern kommentieren; typisch war dafür die der Recherche bezeichnen: ausgelöst durch eine Lektüre, ein Bemerkung: „Wenn die Älteren ein neues Handy bekommen, Erlebnis, hier einen Theaterbesuch, tauschte die Gruppe im dann kriege ich das alte.“ Ansonsten wurde die Beziehung zu Gesprächskreis ihre Erfahrungen zu den Themen „Strafe“ und älteren oder jüngeren Geschwistern vor allem als konfliktlas- „Geschwisterbeziehungen“ aus, sammelte Einfälle, Geschichten, tig dargestellt. Wie stark der Widerstand der Kinder gegen das Spielideen. Die Spielleiterin notierte diese Beiträge und griff Geschwisterbild Fosses war, wurde in der Theaterarbeit noch während der wöchentlichen Treffen gelegentlich darauf zurück deutlicher, denn er bildete schnell den zentralen Ansporn zur – insbesondere dann, wenn es darum ging, verschiedene Sprech- Gestaltung einer eigenen Sichtweise auf das Thema. (Auf die haltungen auszuprobieren, das Textmaterial zu verdichten und Rezeptionserfahrungen der Kinder beim Besuch der Proben und den Kindern ein Gefühl für die eigene Stimme zu vermitteln. der fertigen Inszenierung einzugehen, ist in diesem Rahmen leider Ein charakteristisches Arbeitsprinzip der Theaterpädagogin nicht möglich. Das wird geschehen, sobald die entsprechende Sarah Mehlfeld während dieses spielerischen szenischen Basis- längerfristig angelegte Studie, insbesondere der Vergleich mit trainings war die Verwendung von Gruppenspielen wie dem konventionellen Formen der Vermittlung wie Aufführungsge- „Schlafsaalspiel“ (vgl. Domkowsky 2012, 4 f.; zu Roger Caillois‘ sprächen etc., abgeschlossen ist.) Spielstrategien vgl. Pinkert 2007, 19–21), bei dem alle Spieler 38 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

„Und wann kriegen wir unsere Rollen?“

Szenen aus einem Theaterkurs mit Grundschulkindern

Abschlusspräsentation. Wichtig ist in dieser Phase, bei der die Lust am Spiel im Vordergrund steht, auf das Material der Re- cherche zurückzugreifen und Möglichkeiten auszutesten, mit welchem der Spiele es verbunden werden kann. Dabei zeigte sich zum Beispiel, dass das heikle Thema „Strafe“ viel wirksamer zu behandeln war, wenn die Kinder es nicht aus der Situation des Betroffenen, sondern in einer Art Verkleidung, nämlich im Spiel mit einer Puppe als „Puppeneltern“ darstellten. Um die Reak- tion auf die Bestrafung zu zeigen, spiegelte und vergößerte die Gruppe das Gefühl, indem jeder Spieler den Zustand im Freeze darstellte – ein Beispiel dafür, wie der biographische Rohstoff in eine ästhetische Form gebracht wird. Die Theaterpädagogin legte großen Wert darauf, dass die persönlichen Erfahrungen auf der Bühne nur in sprachlich oder szenisch „verkleideter“ Form zur Sprache kommen. Es hieß also nicht „an meiner Schwester finde ich blöd ...“, sondern „an Geschwistern ist oft blöd ...“. In einer abschließenden Phase ging es darum, die erprobten Spiele und szenischen Ideen in einen dramaturgisch durchdach- so tun, als würden sie brav schlafen, sobald aber die erwachsene ten Ablauf zu bringen. Hier arbeitete die Theaterpädagogin vor Aufsichtsperson den Raum verlässt, geht ein wildes Toben los allem mit Verknappung, Reihung, und systematischem Wech- (Pinkert 2007, 22). Die Geräusche veranlassen den Erwachsenen sel von Einzel- und Gruppenszenen. Zum Beispiel in einem aber zu mehreren Kontrollgängen, und jedes Mal wird es wieder Standbild gleich zu Beginn, in dem sich die Kinder mit ihrer mucksmäuschenstill. Der Reiz dieses Spiels liegt im schnellen Position in der Geschwisterreihe vorstellen: „Kleiner Bruder, Wechsel der Extreme von wilder Ausgelassenheit und völliger große Schwester ...“. Mit der gezielt gesetzten Pointe am Schluss: Ruhe. Mit großer Begeisterung haben die Kinder auch das An- „Einzelkind“. Anschließend nennen die Kinder abwechselnd gebot aufgegriffen, auf Zuruf in einen extremen Gefühlszustand in knappen Statements eine der schlechten Erfahrungen mit zu gehen (Wut, Müdigkeit, Freude, Trotz) und dann einzufrie- den Geschwistern, bis die beiden Einzelkinder erstaunt fragen: ren. Oder gemeinsam ein Standbild zu bauen, bei dem sie sich Gibt es denn nichts Tolles an Geschwistern? Nach mehreren nur an einer Stelle berühren dürfen. Diese spielerischen Etüden Wortbeiträgen zu positiven Erlebnissen mit Geschwistern ma- finden sich in leicht veränderter Form dann auch wieder in der chen die Einzelkinder den Vorschlag, alle ihre Freunde zu einer Berichte aus der Praxis 39

„Und wann kriegen wir unsere Rollen?“

Übernachtungsparty einzuladen. Nun beginnt das Schlafsaal- Dass dieses Projekt im Anschluss an die Premiere und somit spiel, das als dramaturgische Klammer für eine ausgelassene als kritischer Kommentar zur Arbeit der erwachsenen Profis Party, für eine Kissenschlacht und für eine Schlafwandelszene gezeigt wurden, macht es auch zu einem Beispiel für ein erstes fungiert. Mit dem Schlafen will es aber auch jetzt immer noch Vortasten in einen transformativen Vermittlungsdiskurs (Pinkert nicht klappen und so spielen sich die Kinder gegenseitig mit 2011). Mir ist dieser Hinweis auf andere Formate der Rezepti- ihren Schmusetieren kleine Geschichten vor. Nach Einzelauftrit- on und auf nicht-reproduktive Formen der Vermittlung auch ten wird vorgeschlagen, Kuscheltiereltern zu spielen. Die Eltern deshalb wichtig, weil er vor den Gefahren einer Didaktisierung nennen abwechselnd eine Strafe für ihr Kuscheltier und eine bewahren kann, die im Grunde doch immer schon vorher zu Erlaubnis bzw. Belohnung. Alle Kinder zeigen daraufhin in einer wissen glaubt, was die Schüler im Theater lernen und wie sie Pose, mit welchen Gefühlen die Kuscheltiere darauf reagieren. eine Aufführung verstehen sollen.

Performatives versus darstellendes Spiel Literatur:

Romy Domkowsky (2012): Theaterspielen mit Kindern zwischen 3 Dass diese Form der Theaterarbeit nicht den Erwartungen aller und 6 Jahren. In: Korrespondenzen Heft 61, S. 4–11 Kinder in dieser Gruppe entsprach, zeigte sich eine Woche vor Malte Pfeiffer; Volker List (2009): Kursbuch darstellendes Spiel. der Präsentation, als ein Junge ungeduldig fragte: „Und wann Stuttgart-Leipzig kriegen wir denn unsere Rollen?“ Ein Mädchen antwortete ihm: Ute Pinkert (2007): Alles schon dagewesen. Überlegungen zu einer „Die haben wir doch schon!“ Ihm waren wohl die darstelleri- Ästhetik des Performativen unter theaterpädagogischer Pers- schen Aufgaben noch zu nah an der vertrauten Realität bzw. pektive. In: Taube, Gerd (Hg.): Kinder spielen Theater. Berlin, an seiner Person. Ihr dagegen war klar: Wir spielen Freunde Strasburg, Milow, S. 240–257 Ute Pinkert (2011): Theater und Vermittlung. Potential und Span- auf einer Übernachtungsparty, auch wenn wir uns dabei in der nungsfelder einer Beziehung. In: Korrespondenzen 59, S: 17–23 Schlussrunde mit unseren richtigen Namen ansprechen. Christian Rakow (2012): Schirmherr Sokrates. Das Kinder- und Ju- Das ist zweifellos ein Schlüsselmoment für diesen Arbeitsprozess, gendtheater ist vitaler denn je – ein Streifzug durch die Szene. dessen Implikationen in der Altersgruppe aber nur ansatzwei- In: Theater heute, Nr. 7, S. 6–10 se thematisiert werden können. Recht haben beide, denn die Gruppe hat tatsächlich nicht an Rollen einer erfundenen Hand- lung gearbeitet, sondern Bühnensubjekte mit klaren Bezügen zum eigenen Alltag entwickelt, die ihre Handlungen auf der Bühne in zum Teil körperlich verausgabender Weise vollziehen oder ihre selbst erfundenen Geschichten erzählen; sie hat nur ansatzweise das szenische Als-ob bedient, also gewissermaßen mit offenen Karten gespielt, Zufall und Überraschung als Teil der Aufführung zugelassen, kein geschlossenes Stück gezeigt, sondern Ergebnisse eines Rechercheprozesse zu den Themen Strafe und Geschwister präsentiert, die mit theatralen Mitteln in einer oft gruppengesteuerten Arbeitsweise entwickelt worden sind. Mit einem Wort, sie haben „postdramatisch“ gearbeitet (zum Begriff vgl. Pfeiffer/List 2009, 186 f.). Diese Form des Theatermachens ermöglicht es in besonderer Weise, an der Lebens-und Erfahrungswelt der Kinder und ihrer natürlichen Spielfähigkeit anzuknüpfen. Um diese aber auch unter ästhetischen Gesichtspunkten zu legitimieren und zu gestalten, erweist sich das ästhetische Potenzial von Gruppenspielen als geeigneter Ausgangspunkt. Sie verhelfen womöglich sogar – wie in diesem Beispiel das Schlafsaalspiel – schon dazu, einen dra- maturgischen Faden zu knüpfen. Der bleibt wohl nicht nur in dieser Altersgruppe eine genuine und nicht zu vernachlässigen- de Aufgabe der Spielleiter. Bemerkenswert an diesem Verfahren der produktiven Rezeption ist aber auch das besondere Konzept von Vermittlung, der es hier nicht in erster Linie um besseres Verständnis einer gegebenen Theaterproduktion geht, sondern um eine kreative Auseinandersetzung im Modus des Gegen- entwurfs. Das Ergebnis der Arbeit mit diesen Elementen kann man wohl am ehesten als eine Überschreibung der Inszenierung nennen: deren Vor-Bilder wurden für die Kinder zum Impuls für eigene Recherchen zum Thema und eine eigene spielerische Gestaltung. Ihre Produktion hieß dann konsequenterweise auch nicht mehr „Schwester“, sondern „Freunde“. Fotos: Friedhelm Roth-Lange 40 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Erzähltheater und Stückentwicklung. Ein Workshop im Rahmen von „Abenteuer Kultur“ Christoph Scheurle

Der folgende Probenbericht reflektiert die Arbeit an einer freien geschaffen werden, in dem neue, befremdliche und ungeplante Stückentwicklung, die ich mit meiner Kollegin, der Regisseurin Erfahrungen möglich sind? Katja Fillmann, im Januar und Februar 2012 in Hannover mit Für die Künstler, die bei dm meist in einem Tandem arbeiten, 19 „Lernlingen“1 der dm-Drogeriemarktkette durchgeführt ha- bedeutet dies, dass sie eine besondere Sensibilität gegenüber den be. Die Inszenierung wurde an acht achtstündigen Arbeitstagen Workshopteilnehmerinnen entwickeln müssen. Dem Medium erarbeitet, die auf sechs Wochen verteilt waren. Das Ergebnis wird hier, da es für die meisten Teilnehmerinnen die erste Be- war eine ca. 45-minütige Aufführung, die am Abend des letz- rührung mit Theater ist, in der Regel mit jener Skepsis begegnet, ten Workshoptags vor Freunden, Kollegen und Verwandten der die meist Ausdruck individueller Unsicherheiten ist. Scham, Workshopteilnehmerinnen2 gezeigt wurde. sich vor den anderen zum „Affen“ zu machen oder Angst, den Im Folgenden wird die Arbeit unter den Aspekten der Rahmen- eigenen oder fremden Ansprüchen nicht zu genügen, sind dabei bedingungen (1), der Workshopvorbereitung (2), der konkreten nur einige der Hindernisse. Prinzipielle Ablehnung, die sich in Workshoparbeit (3) und der Präsentation grob untergliedert einer ostentativ vorgetragenen Nullbock-Haltung äußert oder (4). In einem abschließenden Fazit (5) werden vier Begriffe auch das (Miss-)Verständnis, „AK“ sei im Grunde genommen vorgeschlagen, die mir sinnvoll erscheinen, die theatrale Work- ein freier Tag, sind nur einige mögliche Schwierigkeiten, die shoparbeit auf jeweils unterschiedliche Weise zu aspektieren. einen Workshop sprengen können.

1. Rahmenbedingungen 2. Workshopvorbereitung

Die achttätige Theatererfahrung, die die dm-Drogeriemarkt- Für die Vorbereitung bedeutet dies, dass einerseits ein Stoff kette im Rahmen von „Abenteuer Kultur“ (im folgenden oder ein Thema gefunden werden muss, das anschlussfähig an „AK“) ihren Auszubildenden ermöglicht, stellt sicherlich eine die Bedürfnisse und Interessen der Jugendlichen ist, anderer- Ausnahme unter den deutschen Ausbildungscurricula dar. The- seits aber auch keine Unterforderung darstellt. „Amerika gibt es ater dient hier erstmal keinem funktionellen Zweck, wie etwa nicht!“ – eine Erzählung von Peter Bichsel6, schien aus mehreren das sonst bekannte Unternehmens- oder Businesstheater, das Gründen eine sinnvolle Wahl: Zum einen wird im Titel ein Land zur Unternehmensbindung oder auch für Optimierungs- und verhandelt, das immer noch als Projektionsfläche indifferenter Umstrukturierungsmaßnahmen eingesetzt wird.3 Es dient in Sehnsüchte und Vorstellungen dient, zum anderen behandelt erster Linie als Erfahrungsraum und Möglichkeit der (kollek- es inhaltlich eine, von Fillmann und mir immer wieder bei tiven) Selbstbildung der „Lernlinge“. „AK“ ist insofern eine den Jugendlichen festgestellte „Fremdheits-Erfahrung“, die das Reibungsfläche als die Workshopteilnehmerinnen mit etwas Sprichwort „Was der Bauer net kennt, das frisst er net!“ spiele- (Theater) konfrontiert werden, das sie in der Regel nicht ken- risch verhandelt – und schließlich bietet die Prosa-Erzählung nen. Aber auch für uns als engagierte Künstler ist die Situation die Chance, klischierte Vorstellungen von dem, was Theater ist einigermaßen ungewöhnlich. Denn anders als an einer the- (Menschen stehen auf der Bühne und sprechen in dialogischer aterpädagogischen Abteilung eines Stadttheaters ist Theater Form einen Text) von vornherein aufzubrechen. hier kein attraktives Zusatzangebot für Jugendliche, das man Allerdings wird für die Vorbereitung nicht nur die Auswahl ei- wahrnehmen kann oder nicht, sondern Teil des Ausbildungs- nes möglichen Stoffes benötigt, es muss auch die Frage geklärt programms von dm conditio sine qua non. Vom Theater als einer werden, in welcher Form der Stoff den Workshopteilnehmerin- „Kunst der Freien“, von dem oftmals idealistisch gesprochen nen ‚schmackhaft‘ gemacht werden kann. Wir entschieden uns wird4, kann hier zunächst also keine Rede sein. Eine grundle- hier für eine thematische Rahmung, die uns geeignet schien, gende Frage ist vielmehr, wie man einen Einstieg schafft, der die Fantasie der Workshopteilnehmerinnen anzusprechen, die den Jugendlichen das Theater zumindest als ein mögliches Ak- aber gleichzeitig Platz für Assoziationen ließ und nicht zuletzt tionsfeld erscheinen lässt.5 Außerdem stellt sich die Frage, wie auch als Schlüssel zu einem tieferen Verständnis des Textes die- Hindernisse und Blockaden abgebaut werden können, damit nen konnte. Das Motto, unter das wir den Workshop stellten die Arbeit am Theater nicht nur als Arbeit, sondern auch als lautete: „Was wäre, wenn…?“ Dies zu fragen, schien uns nicht lustvoll und gewinnbringende Selbsterfahrung erlebt werden nur in Bezug auf die Geschichte Bichsels sinnvoll. In dieser kann. Und schließlich: Wie kann ein Ergebnis entstehen, das Frage steckte auch insofern künstlerisches Potential, als sie das pädagogischen wie künstlerischen Ansprüchen in gleicher Wei- Wagnis eingeht, Dinge und Ansichten, die zunächst als unab- se gerecht wird? Letzteres ist in dem Sinne gemeint, dass die änderlich gelten, in Frage zu stellen und so das, was gemeinhin „Lernlinge“ im Prozess neue Erfahrungen machen können und als gesicherte Wirklichkeit gilt, zu irritieren. im Verlauf ein Theatervorgang initiiert wird, in dem sich die Ganz prinzipiell er fordert das Arbeiten im Kontext von „AK“ Jugendlichen selbst überraschen und „überholen“ (Annemarie ein Denken in Alternativen. Was passiert wenn die Jugendlichen Matzke) können. Mit anderen Worten: Wie kann ein Raum kein Interesse am Thema haben, der Funke nicht ‚zündet‘ oder Berichte aus der Praxis 41

Erzähltheater und Stückenentwicklung. es bereits Konsens unter den Teilnehmerinnen ist, dass auf jeden halten wirkt oftmals ermutigend und erleichtert den Einstieg. Fall ein „echtes Theaterstück“ gespielt werden soll? Gerade im Der Spaß, der etwa beim „Messerwerferspiel“10 entsteht, kann letzteren Fall muss gut abgewogen werden zwischen originär als ‚icebreaker‘ zudem eine erste Spur zu der Frage legen: „Wie künstlerischen Entscheidungen und persönlichen Liebhabereien kann Theater gehen?“ seitens der Künstler. Im Rahmen von „AK“ geht es schließlich Um den Spielstoff bzw. das Textmaterial kennenzulernen, er- nicht darum, sich als Regisseur künstlerisch zu verwirklichen. scheint es sinnvoll, einen Weg zu erfinden, der einerseits die Auf der anderen Seite birgt ein zu großes ‚Entgegenkommen‘ Inhalte der Geschichte, andererseits mögliche Erzählformen auch immer Gefahren der Stagnation. Die wohlfeile Empfeh- vermittelt. Im konkreten Fall lasen wir zunächst die Geschichte lung, die „Jugendlichen da abzuholen, wo sie sind“ darf nicht und ließen sie spielerisch weiterbearbeiten. Hierfür installierten darin enden, dass man letztendlich dort bleibt. Auch deswegen wir eine Runde, in der die Teilnehmerinnen reihum die Ge- ist ein „dialektisches Vorgehen“ sinnvoll. Im konkreten Fall schichte vorlasen.11 Im Anschluss wurde der Text gemeinsam entschieden wir uns, mit dem Stück „Neues Glück mit totem erinnert und wiedererzählt. Dabei griffen wir auf einfachste Model“ von Rebecca Krichelsdorf eine Stück-Alternative an- rituelle Sprachformeln zurück: Alle Teilnehmerinnen trugen zubieten.7 Neben dem utopischen Ansatz, einen neuen Staat reihum einen Satz zur Geschichte bei. Einer der Leiter beginnt zu entwerfen, bietet der Stoff eine genügend große Auswahl die Geschichte mit: „Es war einmal…“ und beendet seinen Satz an weiblichen Rollen an. Weiter fügte sich das Stück, das in mit „Weißt du noch…?“ Die Nächste beginnt daraufhin ihren der Zukunft spielt und die Vision einer „Schönen neuen Welt“ Satz mit „Ja genau, und…“ und fügt der Geschichte ein Detail durchspielt, in der die Gewinner Narrenfreiheit genießen und hinzu, das sie erinnert. Sie übergibt die Erzählung wiederum die „Normalsterblichen“ uniform durchs Leben gehen8, in die mit einem „Weißt du noch…?“ an die nächste in der Reihe. thematische Fragestellung, „Was wäre, wenn …?“ ein. Auch wenn die Geschichte nur sehr stockend ins Rollen kam, erwies sich diese Form der Erzählung in vielerlei Hinsicht als 3. Workshoparbeit produktiv: So wurden Inhalte rekapituliert und gemeinsam erinnert, die Gruppe konnte sich – zumindest rudimentär – Die Frage ,mit der die konkrete Workshoparbeit beginnt, ist: als ein Kollektiv erfahren, das gemeinsam schöpferisch tätig Wie kann ich die Jugendlichen für das Theater gewinnen? Und: ist, ebenso forderte die Aufgabe Fantasie und Konzentration Was kann ein möglicher Arbeitsrahmen sein? Die Absprache der Teilnehmerinnen heraus, da sie darauf achten mussten, von klaren Regeln können sich dabei nicht nur auf die rein was gerade passiert und zugleich ihren Einsatz nicht verpassen funktionelle Seite beschränken (Handy aus, Essen nur in der durften. Nicht zuletzt wurde damit eine erste mögliche Form Essenspause etc.); es ist essentiell, eine gemeinsame Vorstellung des Erzähltheaters vorgestellt. zu entwickeln, in welcher Form die Zusammenarbeit ablaufen Die Transferleistung, dass sich aus szenischen Improvisationen soll. Dies beginnt bei der Einforderung, zu einer grundsätzlich und Übungen Spielangebote für konkrete Szenen entwickeln neugierigen und einer gegenseitig wertschätzenden Haltung zu lassen, ist für Jugendliche unserer Erfahrung nach meist nicht gelangen. Erste Spiele sind hiflreich, das Eis zu brechen, sollten offensichtlich. Dies äußert sich etwa darin, dass im Verlaufe des aber kein Selbstzweck sein. Grob lassen sich drei unterschiedli- Prozesses (und je näher der Aufführungstermin rückt) oft die che Aspekte und Qualitäten der Spiele differenzieren: Forderung laut wird, man möge doch nun endlich die albernen • Spiele, um sich selbst, die Gruppe und darstellerische Mög- Spiele lassen und mit den Proben beginnen. Es stellt sich also lichkeiten kennenzulernen, die Aufgabe, unermüdlich darauf hinzuweisen, dass das Spiel • Spiele, um den angebotenen Spielstoff kennenzulernen, Grundlage der Aufführung ist. Aber auch hier kann der ver- • Spiele, aus denen sich szenische Vorgänge entwickeln lassen. bale Verweis weniger ausrichten als das konkrete Beispiel. Um solche Möglichkeiten offenzulegen, verbanden wir konkrete Dabei ist klar, dass die jeweiligen Spielformen die anderen As- szenische/spielerische Verfahren mit dem Text. So wurde bei- pekte nicht ausschließen und auch Einfluss auf diese haben spielsweise eine Szene, in der sich der Protagonist Colombin können. Aus unserer Erfahrung hat sich allerdings eine Rei- alleine in einem ihm immer bedrohlicher erscheinenden Wald henfolge entwickelt, die sich als sinnvoll erwiesen hat: Meist aufhält, mit den Spielprinzipien „Ochs-Am-Berge 1,2,3“ und beginnen wir den ersten Tag nach der Vergabe der allgemeinen „Touch ’n Talk“ verknüpft.12 Informationen und Spielregeln mit Spielen zum Kennenlernen, Die Schwierigkeit und das Potential dieser Szene bestand darin, die sich aus dem bekannten Kanon speisen und hier nicht wei- dass zunächst einmal festgelegt werden musste, was im Wald ter ausgebreitet werden müssen.9 Zum einen bekommt man als überhaupt geschehen soll. Der Autor gibt nämlich lediglich die Spielleiter einen guten ersten Eindruck von der Gruppe, zum Information, dass Colombin in den Wald flüchtet und sich dort anderen bekommen die Workshopteilnehmer einen ersten Vor- wochenlang versteckt. Diese offene Situation bietet einen wun- geschmack, was Theater als Möglichkeitsraum bietet. Um diesen derbaren Anlass, zu fabulieren, was dort geschehen sein könnte. Raum möglichst breit zu vermessen, gehen wir als Teamleiter Um die Szene anzulegen, wurden zunächst die Rahmenbedin- schon möglichst früh in sprachliche und körperliche Extreme, gungen gemeinsam geklärt, die inhaltliche Ausgestaltung legten dh. wir schmeißen uns auf den Boden, brüllen, keuchen, flüs- wir jedoch in die Verantwortung der Workshopteilnehmerin- tern (usw.). Unser Vorgehen dient dabei als Einladung, sich nen. Der konkrete Arbeitsauftrag lautete: „Colombin flüchtet in verschiedenen Ausdrucksformen zu probieren. Dabei kann in den Wald. Was macht er da? Wie sieht der Wald aus? Wer ist jede Teilnehmerin selbst entscheiden, wie weit sie gehen will. noch alles im Wald?“ Die Teilnehmerinnen konnten hier aus Der Umstand, dass wir uns selbst nicht schonen oder zurück- dem eigenen Fantasievorrat schöpfen und auch selbst die ver- 42 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Erzähltheater und Stückenentwicklung. wendeten Materialien bestimmen.13 Im szenischen Prozess, der Erzählhaltung nicht notwendiger Weise mit dem Erzählen der sich durch mehrere Arbeitsdurchgänge auszeichnete, ging es vor Geschichte identisch ist. Denn die Frage, wer erzählt die Ge- allem darum, von allgemeinen Beobachtungen und Festlegun- schichte und warum, ist durch den Inhalt der Geschichte nicht gen („Es ist dunkel.“ „Er hat Angst.“) zu konkreten szenischen begründet. Treten Erzähler im Theater auf, so ist ihre Position Antworten kommen: „Er hat Angst, weil es dunkel im Wald ist“ als Mittler zwischen Geschichte und Publikum charakterisiert. oder: „Er hat Angst vor Wölfen“ – Setzungen, die sich auch im In unserem Fall entschieden wir uns allerdings, keine persona- körperlichen Spiel ausdrücken können: Er schleicht und kriecht le Trennung zwischen Erzählern und Spielern zu machen. Alle über den Boden, weil er Angst hat, er zuckt zusammen, weil 19 Teilnehmerinnen waren gleichermaßen Erzählerinnen und er den Wolf hört. Darstellerinnen. Diese Setzung bedeutete für unsere Teilnehmerin- Um die Bedrohung des Waldes deutlich zu machen, wurde das nen während der Aufführung zwischen den Modi ‚Spielen‘ und „Ochs-am-Berg-Prinzip“ genutzt. Die einzelnen Mitspielerinnen ‚Erzählen‘ zu wechseln. Das Erfinden einer Rahmenhandlung bewegen sich als Bäume auf Colombin zu, allerdings nur, wenn erschien in diesem Fall notwendig, weil den Darstellerinnen, dieser gerade nicht nach ihnen schaut. Dreht sich Colombin der Wechsel zwischen Erzählerfigur und erzählter Figur sonst zu einem Baum um, muss dieser sogleich „einfrieren“. Dieses gar nicht zu vermitteln und in der Folge dann auch spielerisch Spielprinzip wurde zudem mit einem „Touch ’n Talk-Prinzip“ nur schwer zu bewerkstelligen gewesen wäre. Als hilfreich erwies ergänzt: Colombin bewegt sich durch den Wald; seine Aufgabe es sich außerdem, klar zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit ist es, mit jedem Baum mindestens ein Mal in Berührung zu zu trennen. Hierfür wurde das historische Thema, die Entde- kommen. Berührt er einen Baum, lässt dieser einen schaurigen ckung Amerikas, in einen zeitaktuellen Kontext gestellt, der Laut (Wolfsgeheul, Käuzchenruf etc.) erklingen, was Colombin Anschlussmöglichkeiten an die Erfahrungswelt der Jugendlichen wiederum einen Impuls zur Flucht gibt und damit einen Grund, bot. Mit den Workshopteilnehmerinnen wurde gemeinsam eine sich zum nächsten Baum zu bewegen. Im Ergebnis entstand so kollektiv ‚geschwänzte‘ Geschichtsklausur erfunden, die einem eine Szene, die durch klare Strukturen und Verabredungen Si- Schuldirektor, der als im Publikum sitzend imaginiert wurde, cherheit in die Spielvorgänge brachte, gleichzeitig aber lebendig gebeichtet wird. Für die als Erzähler installierten Darstellerin- blieb, da die Spielprinzipien variabel waren und so die volle Kon- nen, die sich als fabulierende, schlechte Ausreden suchende zentration der Spielerinnen erforderten, im richtigen Moment Schüler darstellen, bekommt auch hier wieder die thematische zu reagieren wie z. B. einzufrieren, wenn sie Colombin anblickte. Überschrift Relevanz: „Was wäre, wenn…?“ Die von Bichsel übernommene Grundsituation, wonach ein unbekannter Mann 4. Präsentation die Geschichte erzählt habe, die man aber selber nicht glauben wolle, erfährt so eine szenische Konkretisierung, die Erzählge- genstand und Erzählern gleichermaßen gerecht wird. Die Frage nach der Präsentation in theaterpädagogischen Zusammenhängen ist die Frage danach, was von der theater- pädagogischen Arbeit überhaupt gezeigt w erden kann. Auch 5. Fazit wenn dies ein prinzipielles Manko ist, da die Präsentation als Momentaufnahme einen eigentlich flüssigen Prozess festschreibt Auch wenn hier nur exemplarisch einige Ansätze des von meiner und die Präsentation dem Prozess damit nicht gerecht wird, ist Kollegin und mir verfolgten künstlerischen und theaterpäda- die Präsentation, also die Erfahrung, sich vor anderen mit einem gogischen Ansatzes vorgestellt werden können, so lassen sich (Zwischen-)Ergebnis zu zeigen, ein wesentlicher Bestandteil the- dennoch mehrere grundlegende Prinzipien identifizieren, die aterpädagogischer Projekte. Die Aufführung bildet einen mehr unsere „Praxishaltung“ (Mira Sack) kennzeichnet und die ich oder weniger verlässlichen Fixpunkt allen szenischen Bemühens unter den Stichworten Theater als open Source, Theaterarbeit während der Probenphase. Gleichwohl ist die Sozialpflichtigkeit als Dialog, Überforderung als künstlerisches Programm und Auf- des Auftritts, sich also vor anderen zu zeigen, gleichermaßen führung als Fremdenführung zusammenfassen möchte. Diese prozessbefördernd wie prozesshemmend. Denn spätestens nach Schlagworte bedürfen allerdings einer Erläuterung. dem fünften Termin – so zumindest unsere Erfahrung – ist es a) Theater als open source notwendig, das Spiel in einen dramaturgischen Rahmen zu fügen. Theater kann als soziale Kunstform nur dann gelingen, Dies kann den Teilnehmerinnen einerseits Sicherheit bieten, in wenn Darstellungstechniken nicht als prinzipiell nicht- dem die Frage, was überhaupt gezeigt werden soll, sich immer vermittelbares Geheimwissen und ästhetische Vorstellungen mehr konkretisiert. Andererseits besteht auch die Gefahr, dass nicht als ideologisches Programm (miss-)verstanden werden. eine solche Einschränkung den Spielfluss hemmt, was unter Das Offenlegen und thematisieren von unterschiedlichen Umständen mit Frustrationserlebnissen einhergehen kann. ästhetischen Ansätzen ist in der Zusammenarbeit mit Laien Für die Workshopleiter ist die näher rückende Aufführung ein deshalb so wesentlich, weil für sie in der Darstellung und ebenso heikler Punkt. Kann und soll man in der Stoffentwicklung Bearbeitung konkreter unterschiedlicher Stilmittel eine re- weitergehen oder macht man einen Schnitt und konzentriert die ale Chance besteht, eigene Anschlüsse an diese Kunstform Arbeit auf das, was bereits da ist? Mit anderen Worten: Soll es zu finden. Theatertechniken können in diesem Sinne als um Ergebnissicherung gehen – oder um eine weitere Offensive? ästhetische Programme verstanden werden, und es ist die Die Antwort muss insofern ausgewogen sein, als ein genaueres Aufgabe des Workshopleiters, die entsprechenden Codes für Abstecken des Rahmens und eine gewisse Routine im Ablauf die Workshopteilnehmerinnen als User offenzulegen. Nicht wieder eine Arena für ein freieres Spiel bieten kann. Für das Er- nur deswegen, weil damit die Chance gegeben ist, dass die zähltheater kommt als weitere Herausforderung hinzu, da die Workshopteilnehmerinnen durch das Verfügbarmachen Berichte aus der Praxis 43

Erzähltheater und Stückenentwicklung.

der Programme zu eigenen Praxishaltungen kommen, die theaterpädagogischen Arbeit eher der Prozess betont wer- sich in einer individuellen ästhetischen Darstellung äußern den oder soll sich Theaterpädagogik darum bemühen, etwas können, sondern auch deswegen, weil sich damit das ästhe- Vorzeigbares zu schaffen? Mir scheint das nicht nur eine pä- tische Programm des Theaters auch permanent erweitern dagogische Frage zu sein, sondern auch eine künstlerische, und ‚neu‘ erfinden kann. Die Arbeit am individuellen äs- die sich explizit an das jeweilige Theaterverständnis richtet. thetischen Ausdruck bedeutet in diesem Sinne auch immer Legt man besonderen Wert auf das finale Produkt, heiß dies das prinzipielle ästhetische Theaterprogramm – die Source nicht zwangsläufig, dass man einen möglichst reibungslosen – fortzuschreiben. Ablauf anstrebt, bei dem das Theater als ‚gutgeölte Maschi- b) Theaterarbeit als Dialog ne‘ funktioniert und die Gruppe ihre ganze Kraft darauf Als Konsequenz aus dieser ersten Überlegung ergibt sich, dass verwendet, ‚Fehler‘ zu vermeiden oder zu vertuschen. In die- Theaterarbeit nur und prinzipiell auf Augenhöhe stattfinden sem Fall wäre der Theatervorgang als dynamischer, offener kann. Das negiert nicht den Umstand, dass ein erfahrener Prozess gefährdet. Das Ziel einer Aufführung kann sowohl Theatermacher unter Umständen mehr Wissen über Tech- aus pädagogischen als auch aus künstlerischen Erwägungen niken und Darstellungsmöglichkeiten weiß, erkennt aber die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn sie ver- schöpferische Ausdruckskraft und den Ausdruckswillen von pflichtet die Arbeitsgemeinschaft auf ein gemeinsames Ziel, Laien als gleichwertig an. Das theoretische und praktische die Wirksamkeit der Arbeit kann sich erst im Moment der Wissen des Theatermachers kann besonders dann gewinn- Aufführung voll entfalten. Im Workshopverlauf sollte es da- bringend eingesetzt werden, wenn dieser mit den Darstellern her nicht bloß um „Darstellungstechniken“ gehen, sondern klärt, was sie zur Darstellung bringen wollen. Er ist dabei auf auch darum, das Publikum von vornherein mitzudenken. mindestens dreifache Weise gefordert: Als Theaterspezialist, Das heißt nicht, dass alles auf einfache, klar verstehbare der den Laien die vielfältigen Möglichkeiten des Theaters Zusammenhänge reduziert wird, vielmehr sollte auch ein vor Augen führt, als Ansprechpartner bei der Klärung und Nicht-Verstehen oder eine Irritation als Zuschauerreaktion Lösung von konkreten szenischen Darstellungsproblemen denkbar sein. Wenn sich der Künstler gegenüber seinen und schließlich als dramaturgischer Berater, der sorgsam Workshopteilnehmerinnen als Expeditionsleiter versteht, zwischen Vermittlungswille und Vermittlungsvermögen der der sich mit diesen gemeinsam auf unbekanntes Gelände Akteure abzuwägen hat. Letzteres kann etwa auch bedeuten, vorwagt, so mag es wünschenswert sein, dieses Bild den Ak- die Darsteller vor selbstgestellten, nicht zu bewältigenden teurinnen auch in Bezug auf ihr Publikum zu vermitteln. Aufgaben zu bewahren. Auch hier schließt der Versuch das Scheitern als Möglich- c) Überforderung als künstlerisches Programm keit mit ein. Versucht man es nicht, ist ein Gelingen jedoch Das bedeutet allerdings nicht, den Umweg zu vermeiden vollkommen ausgeschlossen. oder von vornherein die Herausforderung überschaubar und Anmerkungen handhabbar zu halten. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, die Teilnehmerinnen zum Beispiel durch unterscheidliche 1 Zum Begriff des „Lernlings“ und der Rolle von „Abenteuer Kultur“ im theatrale Prinzipien gezielt zu überfordern: Überforderung Ausbildungsprogramm der dm-drogeriemarktkette siehe: Sylvia Hatházy: bei Rhythmus- und Klatschübungen oder beim Einüben „Die Lehrlings-Ausbildung Abenteuer Kultur“; Quelle: http://www.toi- von Choreographien, Überforderung bei der Bewältigung haus.at/fileadmin/user_upload/helga/hatazy2.pdf der Texte, Überforderung bei der Auswahl der szenischen 2 Da das Geschlechterverhältnis bei der Ausbildung in der Tat einen Mittel und schließlich Überforderung bei der Vorstellung, deutlichen Überhang von weiblichen Lernlingen aufweist (ca. 80%), aus diesem Chaos etwas ‚Zeigbares‘ zu gestalten. In dieser erscheint es angemessen von „Teilnehmerinnen“ zu sprechen, wobei die Haltung ist das Risiko des Scheiterns in jeglicher Form weibliche Form die männlichen Teilnehmer selbstredent mit einschließt. einkalkuliert. Sei es, dass das Vorhaben den Workshopteil- 3 Vgl. hierzu Michael Hüttler (2005): Unternehmenstheater – vom nehmerinnen nicht vermittelbar ist – im Großen wie im Theater der Unterdrückten zum Theater der Unternehmer? Eine thea- terwissenschaftliche Betrachtung. Stuttgart Kleinen – sei es, dass die ästhetischen Konzeptionen unge- bremst aufeinander krachen oder schließlich auch, dass die 4 Rüdiger Bittner; Siemke Böhnisch (1998): Theaterthoerie. Ein Dia- log, in: Hajo Kurzenberger (Hg.): Praktische Theaterwissenschaft. Spiel Aufführung eine Katastrophe wird (stattfinden sollte sie dann – Inszenierung – Text. Hildesheim m. E. dennoch). Diesen Risiken steht gegenüber, dass im Falle des Gelingens etwas zu Stande kommt, das von allen 5 Gleichwohl lässt sich beobachten, dass in den letzten Jahren die Ausbildungssäule „Abenteuer Kultur“ tendenziell einen ‚imagewandel‘ Workshopteilnehmerinnen getragen werden kann; dass in durchgemacht hat. Von einer ungeliebten Zwangsveranstaltung hat es sich der Präsentation etwas von den mannigfaltigen Erfahrungen gewandelt zu einem weiteren attraktiven Grund, seine Ausbildung bei dm und Energien hinübergerettet wird; dass etwas Zustande zu machen. (vgl. Hatházy, vgl. Anmerkung 1) kommt, mit dem so niemand gerechnet hätte. Dies könn- 6 Peter Bichsel (1974): Amerika gibt es nicht! In: Ders.: Stockwerke, te z. B. eine Aufführung sein, die eine theatrale Sprache im Stuttgart Großen wie im Kleinen neu erfindet und sich darüber neue 7 Rebecca Krichelsdorf (2008): Neues Glück mit totem Model, eine Sichtweisen für alle(!) Beteiligten – Workshopteilnehmerin- Sozialfiktion. Köln nen, Künstler und Publikum – ergeben. 8 „Jeder ist gleich. Jeder ist wertvoll. Jede Arbeitsstunde kostet sechs d) Aufführung als Fremdenführung Komma sechs sechs Gulden. Jeder Mensch braucht sechs Komma sechs sechs Damit ist ein Punkt berührt, der in theaterpädagogischen Stunden täglich Arbeit. Jeder Mensch braucht sechsundsechzig Komma Zusammenhängen kontrovers diskutiert wird14: Soll in der sechs Quadratmeter Wohnraum.“ (ebd., S. 5) 44 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Erzähltheater und Stückenentwicklung.

9 Vgl. Malte Pfeiffer; Volker List (2009): Kursbuch Darstellendes Spiel. det, dreht er sich zur Gruppe und die Gruppe muss einfrieren. Wenn der Stuttgart: Klett / Ruth Zaporah (1995): Action Theatre. The Improvisation Ochse eine Mitspielerin ausmacht, die sich noch bewegt, muss sie zurück of Presence, North Atlantic Books zum Startpunkt. Bei „Touch ’n Talk“ darf in einer Gruppe immer nur 10 Dabei wird ein imaginiertes Messer durch den Raum auf eine der diejenige Sprechen und sich bewegen, die von einer vorher bestimmten Mitspielerinnen geworfen. Diese sinkt daraufhin getroffen zu Boden. Be- Mitspielerin berührt wird. Als Impuls kann eine bestimmte Haltung vor sie jedoch stirbt, gelingt es ihr das Messer wieder aus ihrem Körper zu und/oder ein bestimmtes Thema jeder Mitspielerin aufgegeben werden, ziehen und auf eine andere Mitspielerin zu werfen. dass vorher Geheim bestimmt wurde. Die berührende Mitspielerin findet 11 Ein solches Vorgehen empfiehlt sich allerdings nur, wenn der Stoff also über das Berühren Themen und Stimmungen heraus und kann sich in überschaubarer Zeit (15 min.) zu lesen ist. Ansonsten ist es sinnvoller, dementsprechend verhalten. sich auf eine Passage zu konzentrieren, in der die wesentlichen Elemente 13 Oftmals ist hier ein Zusammenspiel von zufälligen Entdeckungen und der Geschichte angesprochen sind. konkreten Vorstellungen zu beobachten. So entschloss sich die Gruppe, die 12 Beim ersten Spiel steht eine Teilnehmerin als Ochs am Berg auf der diese Szene bearbeitete, den Wald durch grüne Iso-Matten darzustellen, einen Seite des Raumes, mit dem Rücken zu den anderen Teilnehmerin- die sich auf der Probenbühne fanden. nen, die auf der anderen Seite des Raumes Aufstellung genommen haben. 14 Vgl. meine Rezension zur Neuerscheinung von Mira Sack: spielend Während der Ochs mit dem Kopf zur Wand seinen Spruch sagt („Ochs denken, Theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens, am Berge 1,2,3!“) versuchen die anderen möglichst schnell zum Ochsen Bielefeld 2011. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik, 28. Jahrgang, Heft zu kommen und ihn zu berühren. Hat der Ochse seinen Spruch been- 61, S. 82–84.

Aufführungsfoto vom Theatertreffen der Jugend 2012 in Berlin: „Generation S“ (Jugendclub Junges Ensemble, Stuttgart) Foto: Dave Grossmann Berichte aus der Praxis 45

„Wir setzen uns für jede Probe ein Ziel!” Interview mit Klaus Riedel über Spielleitung in der gymnasialen Oberstufe Das Gespräch führten Ricarda Maack und Violetta Mohr

Herr Riedel, an der Modellschule Obersberg, nach einer Aufführung oder zu einer szenischen Skizze bei der einem reinen Oberstufengymnasium, unter- Probe über „Fand ich gut!“ oder „War total cool!“ hinausgehen richten Sie das Schulfach Darstellendes Spiel soll, müssen die Schülerinnen und Schüler zunächst einmal sprachfähig werden. Es geht im DS-Unterricht deshalb darum, und leiten eine Theater-AG. Wie unterschei- Theaterformen und -genres und ihren theoretischen Hinter- den sich diese beiden Arbeitsbereiche? grund kennenzulernen, sie praktisch zu erproben – und die Ergebnisse schließlich auch zu präsentieren. Am Ende soll dann Die Theater-AG trifft sich häufig, etwa drei Stunden pro Woche, zwar auch ein Produkt stehen, das ist dann aber nicht unbe- es gibt mehrere Probenwochenenden und wir arbeiten manchmal dingt immer die groß plakatierte, abendfüllende Aufführung, sogar in den Ferien. Die Schülerinnen und Schüler wollen sich sondern vielleicht auch mal eine Werstattpräsentation als Teil hier als Gruppe erleben und sind am Ende sehr stark auf ein ge- eines Unterrichtsprojekts, das sich auch nicht immer über ein meinsames Aufführungsprojekt fokussiert, das ich als Spielleiter ganzes Schuljahr erstrecken muss, sondern auch schon nach initiiere, begleite, steuere. Im Fach Darstellendes Spiel dagegen einem Halbjahr zu Ergebnissen kommen kann: Im Kurs „Po- ist die Grundsituation eine andere: Es ist zunächst einmal Unter- litisches Theater heute“ zum Beispiel hat eine Gruppe mit den richt mit allem Guten und Beschwerlichen, was da dazugehört. Mitteln des „Dokumentarischen Theaters“ nach Die Schülerinnen und Schüler erwerben hier Kompetenzen, zum Thema „Studiengebühren“ gearbeitet; andere haben die die eben u.a. auch in den einheitlichen Prüfungsanforderungen Schulsozialarbeiterin als „Alltagsspezialistin“ inszeniert – nach für das Abitur festgelegt sind. Darstellendes Spiel ist nicht per dem Vorbild des „Expertentheaters“ von Rimini Protokoll. Definition ein „magischer Ort“, sondern ein Unterrichtsfach Außerdem haben wir uns mit Augusto Boals „Theater der Un- genauso wie meine beiden anderen Fächer Deutsch und Politik. terdrückten“ und seinem „Unsichtbaren Theater“ beschäftigt. Und wenn ein Schüler meine Begeisterung für das Theater im Die Frage war: Wie können wir seine Prinzipien übertragen Fach DS nicht teilt, dann darf ich nicht beleidigt sein. Wenn auf den Themenaspekt Schule? Wir haben in der Pausenhalle dieser sich aber dann für ein ästhetisches Produkt begeistern oder beispielsweise untersucht, wie die Schulöffentlichkeit reagiert, dieses begründet ablehnen kann, freue ich mich umso mehr. Ich wenn ein Mädchen von zwei Jungen massiv angemacht wird. plädiere hier sehr für Realismus – sowohl auf Seiten der Schüler Die Darsteller haben das sehr hart gespielt – bis hin zu körper- als auch auf Seiten der Unterrichtenden. Das kann sehr entlastend lichen Tätigkeiten, was natürlich alles geprobt war. Der Rest sein, im besten Sinne „frei machen“ – und so die besonderen der Gruppe war in der Pausenhalle dabei, um die Reaktionen Qualitäten des DS-Unterrichts erst offensichtlich werden lassen. zu beobachten – ohne sich zu erkennen zu geben, um dann im Falle des Eingreifens Passanten in ein politisches Gespräch über DS als ganz „normales“ Unterrichtsfach? Zivilcourage zu verwickeln und zu ermutigen, nicht wegzusehen. Das sind kleine Beispiele, sie zeigen aber auch die ungeheuren Chancen eines Theaterunterrichts, der nicht nur an Textvor- Ja, warum nicht? Das heißt aber nicht, dass ich DS auf die lagen denkt, sondern sich theatraler Formen annimmt. Das gleiche Weise unterrichte wie zum Beispiel das Fach Deutsch. kann politisches Theater ebenso sein wie ortsspezifisches oder Mit seiner strukturellen Praxis- und Projektorientierung ist performatives Theater – und noch vieles mehr. DS ohnehin erfrischend anders. Es ist einfach so: Ich habe in Das sind dann tolle Stunden, wenn man merkt, wie sich Schüler diesem Schulhalbjahr beispielsweise vier DS-Kurse parallel – dieser Formen kompetent bemächtigen, um ihrem Vorhaben zwei Kurse in der elften, einen in der zwölften und einen in ästhetische Wirksamkeit zu geben. Ich denke, dass hier anders der dreizehnten Jahrgangsstufe. Wir besuchen Aufführungen und vielleicht auch intensiver als in der Theater-AG gelernt wird. und entwickeln Präsentationen, aber ich kann nicht für jedes dieser vier Projekte außerhalb der Unterrichtszeit proben. Das kann ich zeitlich nicht leisten und ich kann es auch von den Die Aufgaben eines DS-Lehrers sind hier also Schülerinnen und Schülern nicht verlangen. Die wählen Dar- ganz andere als bei der Leitung einer Thea- stellendes Spiel als reguläres Fach. ter-AG?

Welche Themen und Vorgehensweisen prägen So ist es. Die Aufgabe des Unterrichts im Darstellenden Spiel den Unterricht im Fach Darstellendes Spiel? ist die praktische und auch theoretische Auseinandersetzung mit bewährten Formen oder Themen der Theatertradition. Die Um das Theater als Medium zu begreifen, sollen die Jugendlichen Schüler sollen lernen, diese Muster in ihrem Zusammenhang am besten natürlich ganz viel Theater sehen – und beschreiben anzuwenden. Ich helfen ihnen zwar dabei, ihr Anliegen theat- lernen, was auf der Bühne passiert. Wenn das Nachgespräch ral wirksam auf die Bühne zu bringen, bin aber eher beratend 46 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

„Wir setzen uns für jede probe ein Ziel!“ tätig, gegen Ende vielleicht auch mal ästhetisch glättend. Hier dann kann man kaum etwas umstellen, streichen oder den geht es auch um Transparenz: Ich möchte den Schülerinnen Bedürfnissen der Spielgruppe anpassen. Bei den so genannten und Schülern zeigen, dass es für das, was sie auf der Bühne Textflächen ist das leichter möglich – also bei Jelinek, Pollesch verhandeln wollen, ästhetische Vorbilder, erprobte Formen, oder bei Oliver Kluck. Bei Klassikern dagegen, etwa bei „Ham- Gestaltungsprinzipien gibt, die sie dann nutzen, verwerfen, let“, kann ich das Textmaterial als Steinbruch nutzen und ein verändern, variieren können. Das bedeutet auch eine Hinwen- gewisses Vorwissen in den Köpfen der Zuschauerinnen und dung zu einem Verständnis von Spielleitung, die sich weniger Zuschauer voraussetzen. Große Werke geben uns die Freiheit, als charismatische Autorenschaft für ein repräsentatives Pro- sie mit eigenen Spielideen anzureichern. dukt, sondern mehr als Begleiter begreift – und als Anbieter Vorletztes Jahr haben wir den Roman „Schneeweiß und Rus- von kulturell tradiertem Material und zeitgenössischer Ästhetik. senrot“ von Dorota Maslowska dramatisiert. Er spielt in einem polnischen Milieu, in dem es ständig nur ums – ich zitiere jetzt – Wie gestalten Sie den Einstieg in die Proben- „ficken und Heroin nehmen“ geht. Da haben wir dann überlegt: arbeit bei der Theater-AG? Wie können „behütete Mittelschichtkinder” aus Bad Hersfeld, die mit dem BMW zur Probe gefahren werden, eine solche Darstellungsaufgabe glaubhaft lösen? Das konnte natürlich nur Meist versuche ich zunächst über Genres zu beschreiben, was über einen ironischen Zugang gelingen. Und genau das haben wir vorhaben, zum Beispiel: „Eine Neuauflage von “. wir dann mit Anleihen aus Polleschs Theaterästhetik versucht. Bei Probenbeginn haben wir uns vorgenommen, dramaturgi- sche Strukturen von TV-Familiensoaps zu untersuchen und darin Tragödie wiederzuerkennen. Außerdem war klar, Wie definieren Sie Ihre Rolle als Spielleiter? dass dieses Mal Interesse besteht, mit Video zu arbeiten. Man muss wissen, dass die Anfangsbegeisterung der Schülerinnen Vor allem benutze ich die Schüler nicht, um mich als Regisseur und Schüler für eine von ihnen vorgeschlagene Stückvorlage zu profilieren. Sie bekommen vielmehr ein theaterästhetisches oftmals nur eine sehr kurze Halbwertzeit hat. Deshalb höre ich Handwerkszeug, um Dinge, die sie interessieren, ästhetisch zu am Anfang nicht so sehr auf solche Vorschläge von Schülern, gestalten und auf die Bühne zu bringen – egal, ob es sich dabei für die ich selbst keine Begeisterung entwickeln kann. Ich gebe um einen definierten Bühnenraum oder ein Einkaufszentrum ihnen Texte zur Auswahl und versuche, sie dafür zu gewinnen. handelt. Ich muss sie schließlich später auch durch das übliche „Wellen- Das Wichtigste ist, dass ich sie und alles, was sie erarbeiten, tal“ der Motivation führen. Wenn ich mich als Spielleiter nicht ernst nehme. Ich will sie aber auch mit gutem Gewissen auf für die Textvorlage interessiere oder keine Idee dazu habe, dann die Bühne schicken können, sie sollen sich nicht blamieren. Es wird es frustrierend für alle Seiten. darf nie ein Gefühl von Peinlichkeit bei den Spielern oder dem Publikum entstehen. Ich muss die Szenen so bauen, dass das, Steht der ästhetische Ansatz für eine Insze- was Schülerinnen und Schüler auf der Bühne zeigen, würdevoll ist. Wenn die Schüler etwas präsentieren, neigen sie dazu, sich nierung also schon vor Probenbeginn fest? unklar auszudrücken und viele Aspekte ihrer Überlegungen nicht an die Oberfläche zu lassen. Deshalb entwickeln wir die Ja, aber in Absprache mit den Schülerinnen und Schülern. Vor Szenen gemeinsam weiter, indem wir zum Beispiel die Bewe- der Hamletadaption haben wir Diskurstheater à la René Pollesch gungen zerlegen und Spielprinzipien herausfiltern und viel nach ausprobiert. In der vierzigminütigen Produktion „Zwischen Bad dem Prinzip der Übertreibung arbeiten – also schneller, lauter, Hersfeld und Polen liegt auch nur ein IKEA“ haben wir das weiter, mit erhöhter Dynamik. Schultheater selbst zum Thema gemacht. Die Ausgangssituation der Inszenierung war, dass eine Theatergruppe eine Szene probt Verfolgen Sie bei Ihrer Probenarbeit be- – und dabei merkt, dass es nicht funktioniert. Gegenstand war also nicht – wie bei Pollesch – eine ökonomische Theorie oder stimmte Prinzipien? Kritik, sondern das Thema: Was können wir im Schultheater leisten und was nicht? Das war am Anfang mühsam, aber alle Ich habe – sowohl in der AG als auch im Unterricht – die haben mitgemacht – und hinterher liebten die Spieler diese Pro- Erfahrung gemacht, dass Proben bzw. Stunden nur dann gut duktion. Hinterher haben die Schülerinnen und Schüler aber verlaufen und sinnvoll sind, wenn sie Struktur und Gliederung trotzdem gesagt: „Klaus, im nächsten Jahr möchten wir aber haben. Das klingt nach einer Binsenweisheit, ist aber in der dringend mal eine Geschichte erzählen.“ Mir war also klar: Ich Theaterarbeit gar nicht so leicht umzusetzen. kann sie nicht weiter mit Theoriediskursen belästigen, ich muss Als Gruppe definieren wir uns immer ein Ziel und fragen uns: ihnen jetzt eine Dramaturgie anbieten, in der es einen Plot gibt. Wie kommen wir da hin? Außerdem gründen wir für unsere Produktionen immer eine Dramaturgiegruppe, in der alle Teil- Favorisieren Sie dabei bestimmte Textsorten nehmer eingeladen sind, konzeptionelle Ideen oder zusätzliche Texte einzubringen. Ich selbst halte mich da einerseits stark zurück. – eher Klassiker oder Gegenwartstexte? Andererseits wäre es absurd zu glauben, dass Schülerinnen und Schüler alles alleine entwickeln und entscheiden. Ich bin – bei Gegenwartstexte sind wahnsinnig schwer. Wenn die Texte psy- aller Zurückhaltung – nicht nur der Hausmeister, der ihnen den chologische Figuren beinhalten oder auf Pointe gebaut sind, Raum öffnet. Es sollte schon Momente der Steuerung geben, die Berichte aus der Praxis 47

„Wir setzen uns für jede probe ein Ziel!“ darauf abzielen, Anregungen zu geben, Freiräume zu schaffen und hat sich das deutlich distanziert, was ich auch völlig in Ordnung Aspekte, die die Schüler vielleicht für nicht so wichtig erachten, finde. Ich sehe eine Arbeitsgemeinschaft nicht als Ersatzfamilie zu akzentuieren. Es gibt ja theaterpädagogische Konzepte, die oder als einen Ort, an dem ich mich verwirklichen muss. Ab stattdessen davon ausgehen, dass alles von den Schülern selbst einem gewissen Alter fragt man sich ab und an, ob man wirk- kommt. Das halte ich für meine Theaterarbeit für problematisch lich jede Übung auch selbst mitmachen muss. – das wäre, als würde ich von jemandem verlangen, Englisch zu sprechen, ohne ihm vorher eine Vokabel gezeigt zu haben. Können Sie sich an bestimmte Sternstunden oder Krisen aus der Schultheaterarbeit erin- Wie sehen Sie ihre Rolle im Miteinander mit nern? den Schülern? Und wo liegt dort Ihre Haupt- verantwortung? Aktuelles positives Beispiel: Vor zwei Wochen fand unter dem Titel „Begegnungen/Entgegnungen“ ortsspezifisches Theater Da gab es bei mir definitiv eine Entwicklung. Zu Beginn mei- mit fast 40 theatralen Interventionen in einem Einkaufszent- ner Lehrerlaufbahn war die Theater-AG ein Ort, an dem sich rum während des Mitternachtsshoppings statt. Bei den letzten tatsächlich Freundschaften ergeben haben. Im Laufe der Jahre Proben habe ich bemerkt, dass die Schülerinnen und Schüler die Arbeitsergebnisse aus unseren Theorie- und Übungsein- heiten verstanden hatten und anwenden konnten. Am Abend der Aufführung entwickelten sie sogar spontan neue Aktio- nen, die alle den verabredeten Prinzipien folgten. Ich freue mich auch, wenn meine Schüler sich eine ungewöhnliche, experimentelle Produktion in einem Theater anschauen und neugierig auf zeitgenössische Ästhetik werden. Dann sehe ich, dass ich als Lehrer etwas richtig gemacht habe. – Allerdings haben wir auch einmal eine Produktion der Theater-AG nach bitteren sechs Monaten abbrechen müssen. In dem Jahr gab es dann keine Präsentation. – Einer der goldenen Momente als Lehrer war dagegen für mich, als ich nach Jahren einem Schüler wieder begegnete, der bei uns sein Abitur gemacht hatte, und der zu mir sagte, dass ich nicht erahnen könne, was er aus dieser Theaterwelt mitgenommen habe. Er war in der Theater-AG immer sehr zurückhaltend gewesen. Ich würde aber gar nicht behaupten, dass ich direkt etwas mit dieser po- sitiven Entwicklung zu tun hatte. So etwas kann man nicht beabsichtigen oder steuern.

Redaktion: Ole Hruschka

Literaturhinweise

Klaus Riedel (2002): Zum Umgang mit einem Klassiker. Anmerkun- gen eines Spielleiters. In: Bundesarbeitsgemeinschaft für das Darstellendes Spiel in der Schule (Hg.): Fokus Schultheater 01: Zeitsprünge Berlin. Hamburg: edition Körber-Stiftung 2002, S. 102–106. Ders. (2004): Konzept zu „Familie Schroffenstein“. In: Bundesverband Darstellendes Spiel (Hg.): Fokus Schultheater 03. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, S. 90–99 Ders. und Peter G alka (2005): Zum Authentischen im Aufführungs- gespräch. In: Bundesverband Darstellendes Spiel (Hg.): Fokus Schultheater 04. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, S. 102 f. Ders. und Henning Fritsch (2005): Schroffenstein. Paranoia nach . Werkstatt Theater – Inszenierungskon- zepte. Leipzig: Klett Ders. (als Mitglied der Autorengruppe): Schulbuchreihe „Grundkurs Darstellendes Spiel“ und „Theatertheorien“, Bd. 1 bis 3, Schroedel-Verlag Ders. (2013): Occupy mich, Hamlet! Das Verhältnis von Rollen- Szenenfotos aus der Produktion „Occupy mich, Hamlet!“ (2012). konstruktion und Dramaturgie anhand eines Beispiels. In: Foto-Copyright: Klaus Riedel Schultheater, Heft März, Friedrich-Verlag 48 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

„Wir machen zweisprachiges Theater!“ Interview mit Hülya Ösün über interkulturelles Lernen in der Schule Das Gespräch führten Anna Peters und Katharina Rinio

Frau Ösün, Sie unterrichten die Fächer üben und zu internalisieren. Natürlich lernen die Schüler sich Deutsch und Türkisch an der Kurt-Tucholsky- dabei selbst besser kennen lernen und können Andere – jenseits Schule in Hamburg-Altona, einer Kulturschu- von stereotypischen Mustern – detaillierter wahrnehmen. Wenn diese Reflexionsfähigkeiten bei den Schülern in beiden Sprachen le. Welche Bedeutung haben theaterprak- ausgebildet wurden, können sie später auch Goethes „Werther“ tische Übungen in ihrem Sprachunterricht? besser interpretieren oder analysieren. Insofern möchte ich sie nicht zuletzt auch auf die Oberstufe vorbereiten. Dazu muss man wissen: Am Türkischunterricht nehmen zwar überwiegend so genannte „türkische Muttersprachler“ teil, Welche besondere Funktion hat die Spiellei- ihre Sprachkenntnisse sind jedoch sehr unterschiedlich – je nachdem, ob in der Familie türkisch tatsächlich als „Erstspra- tung bei der Probenarbeit? che“ gesprochen wird oder im Alltag die deutsche Sprache im Vordergrund steht. Im Unterricht isolieren wir zunächst klei- Meine Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen zu schaffen und nere Alltagsituationen und Handlungssequenzen, arbeiten in zu koordinieren, also z. B. die Räumlichkeiten. Ich bin verant- Kleingruppenarbeit an der Übersetzung und machen dazu erste wortlich dafür, dass alle sich weiterentwickeln und wir letztlich szenische Versuche. Zum Beispiel im Restaurant: Einer spielt den auch zu einer Aufführung gelangen. Meine Aufgabe ist es auch, Kellner, der andere den Gast – es sind zunächst Musterdialoge, Lernprozesse so zu begleiten, dass es keine Auseinandersetzun- die wir auseinander nehmen, keine festgeschriebenen Rollen. gen gibt. Ich muss eine positive Atmosphäre schaffen, die erst Die Zuschauer aus den jeweils anderen Gruppen erhalten dann mal wertfrei ist, denn es gibt Schüler, die möchten am Anfang Beobachtungsaufträge: Sie sollen prüfen, ob das so verständlich auf keinen Fall vor Publikum auftreten. Die meisten allerdings ist oder nicht. Im nächsten Schritt wird die Arbeit an Stimme, tun das sehr, sehr gerne – und entwickeln ihre Parts dann auch Mimik und Gestik vertieft – bis die Spieler in der Lage sind, selbständig weiter. Ich helfe auch bei Besetzungsfragen, denn die dargestellte Situation szenisch zu modifizieren. Wenn eine die Schüler fragen oft, ob sie das schaffen können oder es gibt Gruppe näher zusammengewachsen ist, stimmen wir nach einer Diskussionen, ob man auf diese oder jene Figur verzichten kön- Auswahlphase gemeinsam über ein Stück ab, per Mehrheit. Das ne. Bei Besetzungsfragen muss ich als Lehrerin oder Pädagogin sind im Türkischunterricht meist gesellschaftskritische Stücke, aufpassen, dass kein Druck ausgeübt wird auf Einzelne. Letztlich die sich zum Beispiel damit beschäftigen, dass Frauen manch- verstehe ich mich aber einfach als begleitende Mitbeobachte- mal in schwierige Situationen geraten, wenn sie eine Beziehung rin, die ihre Meinung genauso frei beisteuert wie die Schüler. eingehen. Die Schülerinnen und Schüler sollen Lust haben, das zu spielen. Wir erfinden dann weitere Rollen dazu und entwi- Welchen künstlerischen Anspruch verfolgen ckeln ganz eigene Varianten zu dem Thema, spielen viel mit Sprachwechseln und Übersetzungen. Es ist einfach auch ein Sie bei diesem Theater? guter Effekt, wenn jemand erst auf Deutsch spricht und auf Türkisch geantwortet wird. Das ist zweisprachiges Theater. Ästhetik ist nicht nebensächlich, aber der Anspruch darf Wichtig ist auch dabei, dass einsprachige Besucher das Stück auch nicht zu hoch angesetzt werden, das könnte die Schüler verfolgen und verstehen können. Es werden hierbei spezielle abschrecken. Wenn ich mit denen eine Aufführung des Gegen- Übersetzungstechniken verwendet, die dieses ermöglichen. wartstheaters anschaue, ist ihnen das zunächst sehr fremd. Man muss mit ihnen da hineinwachsen und das Niveau allmählich Welche übergeordneten Ziele verfolgen Sie steigern. Das braucht Zeit für einen Reifeprozess, der auch vom Alter der Lerngruppe abhängt. mit diesem zweisprachigen Theater?

Bei der Theaterarbeit lernen die Schüler, dass die kleinste Bewe- Welche Rahmenbedingungen finden Sie an gung oder die Veränderung eines Tonfalls die gesamte Wirkung Ihrer Schule denn vor für Ihre Projekte? verändern kann. E inen Moment der Stille zu erleben, in dem sich zwei Menschen nur anschauen und nichts passiert – das Wir stehen vor der Herausforderung, mit relativ geringen Mit- kennen sie oft nicht, und das können sie sich vorher gar nicht teln möglichst viel zu erreichen. Da an unserer Schule sehr viele vorstellen. Die denken, es muss immer Action sein. Mein Ziel Theaterprojekte stattfinden, können wir nicht immer in der Aula ist es vor allem, dass sich die Schüler in zwei Sprachen bewegen proben, sondern erst in den letzten Wochen vor der Auffüh- und in beiden Sprachen wertgeschätzt werden. Wir verfolgen mit rung. Vorher proben wir in Klassenräumen. Den Schülern fällt Theaterübungen jedoch nicht nur das Ziel, Sprachkompetenzen es dann oft schwer, sich in der neuen Räumlichkeit zu bewegen, auszubilden; zugleich geht es darum, Handlungsabläufe einzu- da muss man jeden Schritt erneut durchprobieren. Notwendig ist Berichte aus der Praxis 49

„Wir machen zweisprachiges Theater!“ dann ein ganz detailliertes und intensives Arbeiten am Schluss, Stille, wenn der Vorhang noch geschlossen und alles dunkel ist das meist am Wochenende passiert. Diese zusätzlichen Zeiten – plötzlich herzzerreißende, orientalische Musik hören, dann bekommt man als Lehrer natürlich nicht bezahlt. Die Erwar- berührt sie das, ohne dass sie vorher damit gerechnet hätten. tungshaltung des Publikums aus der schulischen Öffentlichkeit Das finde ich genauso faszinierend. ist allerdings nicht, dass wir ein professionelles Bühnenbild ha- ben. Die Ausstattung besteht meist aus den wenigen Sachen, die wir an der Schule selbst vorfinden oder wir müssen sie in Wie könnte man ein solches interkulturelles unserem Bekanntenkreis eigens zusammensuchen. Bewusstsein fördern? Grundsätzlich werden unsere Projekte – auch aufgrund des Kul- turprofils – an unserer Schule sehr ernst genommen. Das sieht Interkulturelle Übungen sollten in der Lehrerausbildung in man auch daran, dass der Theaterbezug im Fach Türkisch für allen Fächern Berücksichtigung finden. Schulen müssen sich die Schulleitung selbstverständlich ist und auch in der Noten- interkulturell öffnen genauso wie Universitäten – also alle Bil- gebung berücksichtigt werden soll. Das kann man auch nur so dungsinstitutionen. Man muss das Bewusstsein schärfen für die machen. Denn wenn die ganze Zeit andere schriftliche Prüfun- Frage „Wie gehe ich damit um, dass sich jemand ganz anders gen im Vordergrund stünden, könnten die Schüler sich nicht verhält als ich?“ Denn wenn ich ein bestimmtes Bild von Nor- auf das Theatermachen konzentrieren. malität verabsolutiere, lehne ich alles Abweichende ab – und bin selbst ängstlich und unsicher in einer fremden Community. Wie wird dieser praxisorientierte Unterricht denn benotet? Nur zwei Prozent der Lehrkräfte in Deutsch- land haben Migrationshintergrund. Fast die Den Schülern ist von Anfang an klar, dass sie zum Halbjahr ei- Hälfte aller Schüler aber haben in einer Stadt ne Note bekommen. Sie haben in der Gruppe etwas schriftlich verfasst, worauf sie eine Rückmeldung bekommen. Das Spie- wie Hamburg ausländische Wurzeln. Deshalb lerische wird dann gemeinsam bewertet, also von der Gruppe. arbeiten sie als Fachkoordinatorin am „Lan- Wir machen transparent, dass der ganze Entwicklungsprozess desinstitut für Lehrerfortbildung und Schulent- bewertet wird. Es kommt daher nur sehr selten vor, dass die wicklung“ auch innerhalb eines Netzwerks, Schüler später meinen, sie hätten eine andere Note verdient – das dafür sorgt, dass mehr „Lehrkräfte mit Mi- und dann wird das in der Gruppe ausdiskutiert. grationsgeschichte“ in den Schuldienst kom- Stellen Sie an Ihren Schülerinnen und Schü- men. Welche Erfahrungen machen Sie dort? lern Veränderungen fest nach Theaterpro- Die Mitglieder des Netzwerks – überwiegend selbst Menschen mit jekten? Migrationsgeschichte – sind in sogenannten Steuerungsgruppen tätig: Wir entwickeln Unterrichtseinheiten zu interkulturellem Ja, sehr deutlich! Wenn die Aufführung gelaufen ist, fühlen sich Fachunterricht, es geht um die Anerkennung von ausländischen alle total toll, weil sie ganz anders wahrgenommen werden. Das Diplomen und wir unterstützen – als Mentoren mit einer Zu- ist ja auch ein Grund, warum wir das machen. Sie bekommen satzqualifikation – Studierende und Referendare während ihrer Lob auch von den Eltern, die vielleicht zum ersten Mal in der Ausbildung. Leider gibt es immer wieder Fälle, in denen Re- Schule gewesen sind, um ihre Kinder in der Aufführung zu se- ferendare sich diskriminiert fühlen bzw. werden. Es gibt auch hen. Insofern wird auch ein Kontakt zu den Eltern hergestellt Kollegen, die ausländische Diplome haben und, weil sie erst oder verbessert. Das bewirkt sehr viel, auch als Gesprächsthema drei Jahre in Deutschland leben und noch einen Akzent haben, zu Hause. Es passiert eine enorme Aufwertung, auch aus der keine Lehrbefähigung erhalten – mit der Begründung, dass sie Sicht der Schulleitung, die sich das Stück ebenfalls anguckt. die deutsche Sprache nicht beherrschen würden. Hier wird oft noch immer ein viel zu großer Druck ausgeübt, auch wenn alle Dient Theater der Integration? Zertifikate vorliegen. Das Netzwerk bietet Fortbildungsange- bote an und finanziert Diversity-Trainings, um diese Hürden abzubauen. Denn es werden dringend Lehrer mit ausländischer Die Schule, an der ich vorher unterrichtet habe, lag mitten in Herkunft benötigt, die sich in die Kinder und Jugendlichen einem sozialen Brennpunkt. Die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund gut einfühlen können. Sie müssen hatten dort kaum Gelegenheit, in ihrem Alltag mit der deut- zusätzliche Qualifizierungen mitbringen, die sie dann am Lan- schen Sprache überhaupt in Berührung zu kommen. Zu Hause desinstitut für Lehrerbildung weiter ausbauen. gucken die auch eher amerikanische Filme, d. h. die deutsche Kultur wird lediglich durch die Institution Schule vermittelt. Nur durch unsere Theaterarbeit hatten sie überhaupt die Chance, Redaktion: Ole Hruschka andere Lebenssituationen in der deutschen Sprache zu erleben. Kontakt: Das war für sie völlig neu. Vor diesem Hintergrund kann man sagen: Es gibt kaum ein geeigneteres Mittel für Integration als Netzwerk „Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte“, Theater. Doch auch umgekehrt gilt es, Zugänge zu einer an- Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, deren Kultur zu schaffen: Wenn deutsche Lehrer – nach einer Kontakt: [email protected] 50 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Erstaunliches aus NICHTS Theater-Film-Projekt im Studiengang Soziale Arbeit der HAWK Hildesheim Juliane Steinmann

„NICHTS“, das Jugendbuch von Janne Teller, wurde zuerst müssten. Eingesetzt wurden schließlich diverse einfache Rhyth- verboten, dann als Pflichtlektüre in allen dänischen Schulen mus- und Klanginstrumente, drei größere Stoffteile in weiß, rot eingeführt. In der Sprache und aus der Sicht einer 13-Jährigen und schwarz, ein Stück Rasenteppich, Pappkästen zum S itzen erzählt die Geschichte von der existenzialistischen Sinnsuche und Schuhkartons zum Bauen eines „Bergs von Bedeutung“. einer siebten Klasse, die eine drastische Spirale gegenseitiger Später kamen noch Neutralmasken hinzu. Und aus der Auf- Gewalt in Gang setzt, um zu beweisen, dass es Sinn und Bedeu- führung wurde letztlich ein Film. tung in ihrem Leben gibt. Diese Geschichte bildete die Vorlage Die Seminarsitzungen waren über das Semester in drei Blöcke zu musikalischen und szenischen Improvisationen mit dem aufgeteilt: Die vier Einstiegssitzungen dienten dem gegenseitigen Ziel einer öffentlichen Aufführung in einer englischsprachigen Kennenlernen der Gruppe, einer ersten Materialsammlung anhand Theater-Übung der Fakultät Soziale Arbeit an der Hochschule von Improvisationsübungen zu den Themen der Geschichte, der für Angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) Hildesheim Begehung und Bewegungsprobe im Park sowie dem Beobachten im Sommersemester 2012. Ein spannendes Projekt mit vielen der Reaktionen auf verschiedene Spielangebote und dem Her- Facetten – aber auch einigen Fallstricken, wie sich im Laufe des ausfiltern der Vorlieben der Gruppe seitens der Anleiterin. Der Semesters herausstellte. zweite Seminarblock, also die zeitlich in der Mitte des Semesters Ich möchte hier ungeschminkt und sachlich unseren schwierigen gelegenen sechs Sitzungen, wurde zur Weiterentwicklung der Arbeitsprozess beschreiben, der einige Stolpersteine beinhalte- szenischen, teilweise tänzerischen Ideen genutzt. Der dritte Se- te und nach einer schweren Krise zu einem sehr erfolgreichen minarblock umfasste die Abschlussphase: Treffen elf und zwölf Abschluss geführt hat. Ich verzichte auf die Möglichkeit der waren für die Zusammenstellung der szenischen und musika- nachträglichen Idealisierung und hoffe, damit Mut zu machen, lischen Entwürfe zu einer Collage vorgesehen, in der auch alle die eigenen Projekte nüchtern zu analysieren und immer wieder notwendigen Requisiten und Kostümteile und die eingespielten neue Arbeitsweisen auszuprobieren. Musikstücke festgelegt werden sollten. Das 13. Treffen war als Hauptprobe, das 14. als Generalprobe mit Technik und Bühne Seminarausschreibung im Park geplant. Das 15. Treffen war für die Aufführung reser- viert, wobei schon im Vorfeld klar war, dass wir für die beiden letzten Termine aus dem wöchentlichen Turnus aussteigen und an If you could take only three things: What would you take dem Festival-Wochenende deutlich mehr Zeit einsetzen würden. to a lonely island? If someone of your best friends commits Ziel war es, die in den ersten Wochen durch die Anleiterin a crime: What do you actually know about the deepest me- stärker geführten Improvisationen im zweiten Teil des Semi- anings in other peoples lifes? nars durch die Teilnehmer_innen weiter zu entwickeln und im Based on „NOTHING“ – a disturbing story for teenagers dritten Block schließlich in eine collagenartige Präsentation by Janne Teller – we ask ourselves: What is worth to die for? münden zu lassen. Der Umfang der Präsentation zum Semes- Which things, thoughts and wishes do really matter? What terende sollte ungefähr 20 Minuten umfassen, wobei auch an do we need, and what don’t we actually need? What are kleine szenische Häppchen als vorweg an verschiedenen Stellen the things we want to get rid of? And which things have a im Park gespielte Appetizer gedacht wurde, die das Publikum meaning beyond us? auf die Aufführung aufmerksam machen sollten. Playing short scenes and putting on little performances and installations: This is a completely practical seminar for people who like to improve their english and their artistic, performative competences. Are you ready?

25 Student_innen der Sozialen Arbeit nahmen an der Übung teil. Wöchentlich 90 Minuten an 15 Terminen standen uns zur Verfügung zur Gruppenfindung, zur Improvisation, zum Auswählen, Verwerfen, Zusammenbringen und Proben unserer Ideen. Für die Mobilität der geplanten Aufführung anlässlich des Literaturfestivals „Lyrikpark 2012“ in einem Hildesheimer Park war es wichtig, alles möglichst einfach und transportabel zu gestalten. Zudem wurde uns bei der Begehung des Parks beim vierten Seminartreffen deutlich, dass kleinere Details schlecht sichtbar sein würden und wir deshalb große Elemente, deutli- che Gruppenbewegungen und sehr klare Akzente verwenden Probenfoto: NICHTS von Jahnke Teller Berichte aus der Praxis 51

Erstaunliches aus NICHTS

Hochschullehre erfordert es, die in der Praxis probierten Schrit- te und die damit verbundene Anleitungshaltung theoretisch aufzubereiten und nachvollziehbar zu machen. Dies gilt für die künstlerischen Mittel, für die Phasen im Gruppenprozess, den didaktischen Aufbau der einzelnen Stunden wie auch für die mittel- und langfristigen Vorhaben und Ziele. Um ein ge- lungenes Zusammenspiel von Theorie und Praxis in dem sehr schmalen Zeitfenster einer wöchentlich zweistündigen Übung zu gestalten, dabei eine hohe Anschaulichkeit zu ermöglichen und den Spielfluss nicht zu häufig zu unterbrechen, bietet es sich an, anhand praktischer Beispiele vorzugehen: So können die erwünschten Effekte, die pädagogischen und künstlerischen Ziele wie Auflockerung, Bewegung, Perspektivwechsel, Grup- pen- und Raumwahrnehmung, Akzentuierung, Zusammenspiel, Rollenfindung, Materialsammlung zu Themen und Formen, die Entwicklung einfacher Choreografien, die Wirkung bestimmter Einer der Spieler agierte als antagonistische Hauptfigur. Konstellationen usf. exemplarisch gezeigt und erklärt werden. Schon früh wurde klar, dass die Gruppe sehr heterogen besetzt war. Einige „Spielwütige“ mit und ohne Theater-Vorerfahrung, die jeden Impuls mit Freude aufnahmen und spielerisch umsetz- die anfangs stärker durch mich gelenkt und im weiteren Verlauf ten, trafen auf Studierende, die sich offensichtlich sehr unwohl von den Teilnehmer_innen mitgestaltet wird. Schließlich erfolgt mit Übungen fühlten, in denen es hauptsächlich um das Aus- eine Auswahl und künstlerische Zuspitzung (Inszenierung), die je probieren von Bewegung und nonverbalen Ausdruck ging. Je nach Konstellation und möglichst transparent, durch mich als An- konkreter die Aufgabenstellung, desto besser konnte die zweite leiterin, durch ein Anleitungsteam oder auch durch die interessierte Gruppe sich einlassen, je abstrakter und offener die Übung, desto Gruppe vorgenommen wird. größer war die Zurückhaltung. Auflockerungsspiele wurden von ein bis zwei Teilnehmer_innen ganz verweigert, was zu Anfang Meine Aufgabe in diesem Seminar war es also, entweder den vieler Stunden zu einem leichten „Wackeln“ in der Spieldynamik Zweck der Improvisationsphase besser nachvollziehbar zu machen führte. Auch wurden Übungen immer wieder von Einzelnen und Wege zu finden, mehr zum Experimentieren zu verlocken, abgebrochen, obgleich der Großteil der Gruppe intensiv und da wir das Spielmaterial ja dringend für die spätere Präsentation mit sehr viel Vergnügen damit beschäftigt war. Schwierig war benötigten. Oder aber, wegen der zeitlichen Knappheit, mein in diesem Fall, dass ein Teil der Gruppe immer wieder zu Be- Konzept und meine Ziele zu ändern, weniger abstrakte Inputs obachter_innen der aktiv Probierenden wurde, und dadurch zu geben, stärker zu bündeln, stärker zu lenken und meine – so- das Übungssetting und auch die Wirkungen der Übungen ver- wie die zum Teil sehr hohen Ansprüche von Studierenden – an ändert wurden. Ein kontinuierlicher Aufbau der Stunden, ein die Abschlusspräsentation zu senken. gemeinsames Wachsen kreativer Ideen und Ergebnisse wurde Die erste Änderung, die ich vornahm, war der zügige Umstieg erschwert, Sinn und Zweck der theaterpädagogischen Impulse aus der Gesamtgruppenphase in die Kleingruppenphase. Anders im Sinne der oben beschriebenen Metaebene waren weniger als geplant wurden im zweiten Block keine Gruppen zu Themen- deutlich erfahrbar und nachvollziehbar. komplexen gebildet, sondern, je nach Neigung, zu künstlerischen Formen und Sprache. Da deutlich geworden war, dass manche Das Grundkonzept meiner Theaterarbeit mit Laien basiert auf der sich nicht auf abstrakte Weise mit den Themen „Lebenssinn“ und sukzessiven gemeinsamen Sammlung von Ideen und Spielmaterial, „(über)personale Bedeutungen“ beschäftigen wollten, fokussier-

„NOTHING“ – Theater-Film-Projekt im Studiengang Soziale Arbeit der HAWK Hildesheim. Fotos: Juliane Steinmann 52 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Erstaunliches aus NICHTS ten wir ab der fünften Seminarstunde stärker auf die Handlung des Semesters raufte sich die Gruppe jedoch zusammen, kei- des Buches. Die Gruppe teilte sich in vier Untergruppen, die zu neR wollte ohne Ergebnis in die vorlesungsfreie Zeit gehen. den Schwerpunkten 1) Texte/Sprache, 2) abstrakte Bewegungs- Gefilmt mit der Handkamera im verdunkelten Seminarraum, vorgänge, 3) Auswahl professioneller Instrumentalstücke und 4) unter der Mithilfe von zwei Standscheinwerfern ohne Dimmer eigene Musik, Rhythmus- und Geräusche als Szenenuntermalung und einem schwarzen Vorhang als einzige ästhetische Mittel zusammen fanden. Die Gruppen 1) und 3) arbeiteten also mit der räumlichen Verfremdung, nahmen wir unsere Ideen und bereits vorhandenem Material, Gruppe 2) und 4) erarbeitete sich Szenen medial auf: Zum Start eine formalisierte Klassenzim- kreativ eigene Ideen. Jeweils 70 Minuten der Sitzungen wurden merszene, die die krassen Unterschiede zwischen den Träumen dafür genutzt, innerhalb der Kleingruppen zu arbeiten, die ab- der Jugendlichen und den Vorgaben der Erwachsenen zeigt. schließenden 20 Minuten dienten dem gegenseitigen Vorstellen Dann der Ausstieg des nihilistischen Antihelden, der von da und dem Austausch über die Ideen. Die dritte Konzeptänderung ab als Reflektionsfläche für die Verunsicherung der Klasse bestand darin, dass ich bereits in der siebten Seminareinheit eine dient. Szenen zur strategischen Beratung und Solidarisierung Person fragte, ob sie bereit sei, als antagonistische Hauptfigur der Jugendlichen wechseln ab mit aggressiver werdenden, eher aufzutreten. Mein Ziel war es, der Gruppe eine konkrete Per- sportiv umgesetzten Konfrontationen. Bewegungssequenzen son als Projektionsfläche für Szenenideen und musikalische wie mit minimalem Spracheinsatz zeigen die Entwicklung der un- tänzerische Einsätze anzubieten, und dem gefragten Studenten aufhaltsamen Spirale gegenseitiger Beugung, sichtbar auch im Respekt zu zollen für seine prägnante Spielweise. Wachsen des „Bergs aus Bedeutung“, der aus den Opfergaben der Beteiligten besteht. Eine abstrakte Tanzszene symbolisiert Trotz der Anstrengungen musste die öffentliche Aufführung im die Opferung der Unschuld einer Jugendlichen, die vorletzte Rahmen des „Lyrikpark 2012“ abgesagt werden, da es uns nicht Szene beinhaltet die dramatische Steigerung der Gewalt bis gelang, die Szenen bis zur Aufführungsreife zu proben. In 27 zum Höhepunkt und als Abschlussbild verwandeln sich die Berufsjahren habe ich noch nie eine Aufführung abgesagt. Aber Jugendlichen mithilfe von Neutralmasken zu Menschen mit als Anleiterin sah ich nicht die nötige Spielsicherheit, nicht die standardisierten Leben – eine Collage abwechslungsreicher, technische Reife und keine open-air-gemäße Ausdruckskraft in körper- und musikbetonter, atmosphärisch dichter Momente. den erarbeiteten Szenen. Die Gründe lagen einerseits bei den oben Im Nachhinein betrachtet ist uns dadurch eine Würdigung genannten Herausforderungen (u. a. die Heterogenität der Grup- der eigenen Anstrengungen mit bleibendem Wert gelungen. pe, was die Spielleidenschaft und Bereitschaft des Ausprobierens Es wäre frustrierend gewesen, die Aufführungen abzusagen und anging) und wurden andererseits durch ein Bachelor-Phänomen kein Ergebnis nach einem Semester intensiven Probierens zu noch verstärkt: Es besteht offiziell keine Anwesenheitspflicht der haben. Durch die filmische Lösung bekamen die Szenen einen Studierenden in Übungen und Seminaren, gleichzeitig aber eine engeren Bühnen-Rahmen (mehr Spielsicherheit), ein besseres gefühlte Überlastung durch Prüfungen und den Zwang, neben Licht (Verstärkung des gestischen und mimischen Ausdrucks), dem Studium Geld zu verdienen. Meist lässt sich in Theaterpro- bessere akustische Möglichkeiten (die untrainierten Stimmen jekten allein dur ch die inhaltliche Zielsetzung aber auch durch hatten keine Probleme durchzudringen) und natürlich Übergän- die intensivierte Gruppendynamik eine hohe Verbindlichkeit ge zwischen den Szenen, die durch Filmschnitte und unterlegte erzielen. In diesem Projekt zeigte sich aber auch hier die Grup- Musik wunderbar unterstützt werden konnten. Geschickt ge- penspaltung: Mehr als die Hälfte der Studierenden war zu jedem schnitten und mit Musik unterlegt, entstanden überraschende Treffen anwesend und aktiv, die Kontinuität der Probenprozesse 40 Minuten Film: „NOTHING – The Movie“1, eine gewagte wurde jedoch durch die unregelmäßige Teilnahme anderer ex- Notlösung, die zu einem bleibenden, ansehnlichen Resultat trem erschwert. Die für ein solches Theaterprojekt notwendige geführt hat: Erstaunliches aus „NICHTS“. „Verantwortungsübernahme für das gemeinsame Ganze“ wurde nur von einem Teil der Gruppe vollzogen. Anmerkung

Das Projekt „NOTHING“ war ursprünglich nicht als Film- 1 Filmschnitt: Mascha Valeska Trapp, Stephan Lipinski, Seminarteil- projekt geplant. In den drei letzten Seminarstunden am Ende nehmerInnen Berichte aus der Praxis 53

Spielleitung und Regie in Produktionen theaterpädagogischer Weiterbil- dungsgruppen Felicitas Jacobs

Als Theaterpädagogin, Regisseurin und Leiterin theaterpä- Die Begrifflichkeit Spielleitung/Regie wird im Folgenden nicht dagogischer Weiterbildung befasse ich mich seit 1981 mit systematisch unterschieden, da dies in der Praxis kaum eine Rolle Stückentwicklung und Regie und habe im Team Produktionen spielt. Die Verwendung folgt einem pragmatischen Leitfaden: mit etlichen dynamischen Verlaufskurven gestaltet. Auf dem Hin- Die Teilnehmer/innen des Ensembles sind angehende Spiel- tergrund unterschiedlicher künstlerisch-pädagogischer Einflüsse leiter/innen, das Leitungsteam der Weiterbildung agiert zum in den vergangenen Jahrzehnten durfte ich in Aufführungen von Zeitpunkt der Stückentwicklung als Regieteam. angehenden Spielleiter/innen immer wieder erleben, wie Angst, Widerstand, Unsicherheit und gleichzeitig Disziplin, Konti- 1. Harmonie ist was für Anfänger – Stückent- nuität und Begeisterung ihren Weg zum öffentlich gezeigten wicklung verwirklicht sich in Aushandlungs- Werk begleiteten. In cirka 16 Spielleiter-Produktionen wurden Belastungsfähigkeit, Hingabe, Fantasie und Streitbarkeit aller prozessen Beteiligten gefordert und auch zu Tage gebracht. Die im Folgenden formulierten Thesen sind weniger das Er- „Wie kommt ihr darauf, dass wir zum Thema „Nachtleben“ gebnis eines fachspezifischen Diskurses, sondern mehr Ergebnis arbeiten sollten? Das Thema strotzt voller Klischees. Was eines langjährig vitalen und immer wieder überraschenden Er- wir brauchen, sind differenzierte Auseinandersetzungen mit fahrungsprozesses. Dieser gestaltet sich hier quasi als eine Art aktuellen gesellschaftlichen Problemen: Kriege, Armut, Euro- verdichtete Erzählung, in der Ereignisse und Entwicklungen pakrise, Migration!“ Eine Gruppe von 16 Spielleiter/innen in beispielhaft fiktiv gebündelt und in vorläufigen Schlussfolge- berufsbegleitender Ausbildung befindet sich in der Phase der rungen dargelegt werden. Nicht immer entwickelte sich die Themenfindung für ihre Abschlussproduktion. Die Gruppe Stückentwicklung so kontrovers wie hier vorausgesetzt, doch vereint Menschen in einer Altersspanne von 22 bis 55 Jahren, konflikthafte Prozesse eignen sich eben besonders gut, um ei- die beruflichen Hintergründe sind vielfältig. Die Regie hat ei- nen klaren Blick auf das Ursache-Wirkgefüge komplexer und nen Vorschlag erarbeitet, basierend auf ihrer Wahrnehmung widersprüchlicher Situationen zu gewinnen. von Spielerprofilen, Improvisationen, Rollen und performa-

Szenenfotos Stiftung SPI Spielleitung: „17 K’s“ (2012) „Die Entbehrlichen“ (2012) 54 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Spielleitung und Regie in Produktionen theaterpädagogischer Weiterbildungsgruppen Spielleitung und Regie in Produktionen theaterpädagogischer Weiterbildungsgruppen tiven Präsentationen in der Gruppe. Ausgehend davon, dass wird deutlich, dass Ensemble und Leitung zum anfänglichen angehende Spielleiter/innen die Erfahrung einer durch Regie Zeitpunkt der Stückentwicklung unterschiedliche Vorstellungen gelenkten Produktion machen sollten, greift die Leitung The- haben und entsprechend verschiedene Ideen verfolgen. men und spielerische Stärken auf, die in der Gruppe sichtbar wurden, und visiert ein ästhetisch machbares Ziel an. 2. Und die im Dunkeln sieht man doch: Re- Für das Ensemble besteht die Gefahr, persönliche Fähigkeiten gie- und Aufführungsverständnis in der Spiel- und gruppenspezifische Eigenarten im Dickicht komplexer Kommunikation, die Theaterspiel stetig hervorbringt und leiterweiterbildung weiterentwickelt, wenig oder nur auszugsweise zu erkennen. Also bietet die Regie den konzentrierten Blick von außen an: Produktionen während einer Spielleiterweiterbildung haben in So, wie eine Fußballmannschaft vom aufmerksamen Auge des der Regel einen hohen Stellenwert: Sie finden zu einem Zeit- Trainers am Spielfeldrand profitiert, so gewinnt das Ensemble punkt statt, an dem die Gruppe cirka ein Jahr lang miteinander Klarheit durch die Hinweise der Leitung von außen. Das ist vielfältige, methodische Zugänge zur Initiierung und Gestaltung verabredet. Alle wollen es. In diesem Fall schlägt die Regie das von Theaterprojekten erarbeitet hat. Die eigene Stückentwick- Thema „Nachtleben“ vor, als Spielfläche für Figuren und Träu- lung im Ensemble der Weiterbildungsgruppe bildet eine Art me, die in den Szenen dieser Spielgruppe in den vergangenen krönenden Abschluss dieser Phase und markiert eine besondere Monaten immer wieder sichtbar wurden: Alpträume, Liebe in Herausforderung an alle Beteiligten, die sich mehreren öffent- verbotenen Zonen, dunkle Geheimnisse. lichen Aufführungen stellen. Es wird bei weitem nicht nur der Wie die Gruppe auf den Vorschlag reagiert, ist eingangs skiz- Freundeskreis eingeladen, also hängen die Erwartungen von ziert. Die angehenden Spielleiter/innen wollen keine nächtlichen vornherein höher als im internen Produktionsprozess. Streifzüge verhandeln, sondern gesellschaftlich relevante Aussagen Der Anspruch, sich mittels Theater einem Thema und damit verfolgen, für aktuelle Probleme künstlerisch theatral adäquate einem unbekannten Publikum zu stellen, spornt alle Beteiligten Formen und Ausdrücke finden. Die beiden Regisseurinnen ni- an, Spieler/innen ebenso wie die Regie. Die Zielsetzung bringt cken, grübeln, versuchen zu verstehen und die Motivationen der Interessen und Konflikte eindeutig ans Licht, beschleunigt und Spieler/innen aufzugreifen. Doch spielerisch und dramaturgisch intensiviert die Auseinandersetzung, kaum dass sie begonnen

Szenenfotos: „17 K’s“ und „Die Entbehrlichen“, Stiftung SPI Spielleitung (2012) Berichte aus der Praxis 55

Spielleitung und Regie in Produktionen theaterpädagogischer Weiterbildungsgruppen Spielleitung und Regie in Produktionen theaterpädagogischer Weiterbildungsgruppen

hat. Ehrgeiz, Übernahme von oder Widerstand gegen Verant- ist deshalb eine wirklich spannende Frage – ebenso wie die, ob es wortung, Suche nach Inhalten und Ausdrucksformen markieren gelingt, dass sich die gegenseitigen Standpunkte beflügeln und ein einen Prozess, der von der ersten Idee zur Premiere führt. Wenn Neues, Drittes entstehen lassen. Und ob sich so die Inspiration also die Regie andere Fähigkeiten und Themen im Ensemble und Leidenschaften aller Beteiligten entzünden lassen können. entdeckt und diese dann weiterentwickelt, stellt sich die Frage, welches Ursache-Wirkgefüge da zum Tragen kommt: Hierar- 3. Notwendig: Partizipation in theaterpäda- chisch begründete Konflikte zwischen Leitung und Ensemble, gogischen Findungsprozessen stützt sich auf gegensätzliche inhaltliche Interessen, oder die Lust an einem streitbaren Prozess mit offenem Ende? fachspezifisches Wissen Ein naheliegender Gedanke könnte sein, dass die Leitung ihr beabsichtigtes Thema „Nachtleben“ aufgibt, um stattdessen Theaterpädagogen arbeiten (fast?) alle auf der Grundlage von gemeinsam mit dem Ensemble nach ästhetischen Möglichkei- Basics, die sich primär von Regieformen eines allmächtigen Ide- ten für ein Theaterstück zu suchen, das vorrangig politische engebers und künstlerisch-charismatischen Leiters abgrenzen und Themen verhandelt. Was bei dieser Konstruktion jedoch aus- im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte im Diskurs kontinuierlich geblendet wird, ist die persönliche Haltung der Regie, die ihre weiter entwickelt wurden: Theaterpädagogische Stückentwick- Gruppe nicht nur analytisch und partizipativ „richtig“ begleiten, lung funktioniert durch Beteiligung der spielenden Gruppe am sondern anfeuern und begeistern möchte, weil sie z. B. von der Gesamtwerk. In Bezug auf partizipative Zugänge bei Stückent- Stimmigkeit eines Vorgehens überzeugt ist. Auch stellt sich die wicklung, Regie & Spielleitung, ist der Methodenkoffer enorm Frage, wie wandelbar Theaterpädagogen/innen als Regisseure/ angewachsen. Im Diskurs theatral methodischer Zugänge und innen sein sollten und wie sie den Aushandlungsprozess steu- Formen stehen aktuell zahlreiche fachliche Verfahren und Er- ern. Salopp formuliert: Mit diffusen Partizipationsansprüchen kenntnisse zur Verfügung, hier nur angedeutet: Biografisches & im Kopf und persönlicher Kränkung im Herzen wegen einer dokumentarisches Theater, Site Specific Theatre, Devising The- vom Ensemble zurückgewiesenen Idee lässt es sich nicht gut atre/Devising Performance, Mehrgenerationentheater, Theater weiterarbeiten. Wie leidenschaftlich engagiert die Leitung und der Erfahrungen, Bürger-Bühne. Theater wird verstanden als das Ensemble bleiben können in diesem Beteiligungsprozess, das Ort lebendiger Kommunikation und als Form, die sich per se

Fotos: Klaus Scholz 56 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Spielleitung und Regie in Produktionen theaterpädagogischer Weiterbildungsgruppen Spielleitung und Regie in Produktionen theaterpädagogischer Weiterbildungsgruppen demokratisch und politisch definiert, da sie in ihren prozesso- 4. Wünschenswert: Lust auf persönliches und rientierten Verfahren alles zum Ausgangspunkt nimmt, was von gemeinsames Risiko – Regie&Ensemble ge- Interesse der Beteiligten sein könnte: Bilder, Themen, Filme, stalten Widersprüche Objekte, Musik, Texte, Räume (vgl. dazu Hilliger 2009, 69 ff.) Hinlänglich bekannte pädagogische Verfahren wie z. B. die the- menzentrierte Interaktion (TZI) bieten nützliche Einordnungen in Im eingangs beschriebenen Vorgehen der Regisseurinnen zur Bezug auf den Umgang mit Gruppenprozessen: Vertrauensbildung Themenfindung einer Stückentwicklung spiegeln sich ihre per- in der Phase des Ankommens, Versprachlichung von Konflikten sönliche Haltung, Leidenschaft und ihr ästhetisches Verständnis. in der Phase der Auseinandersetzung, Moderation statt Direktive Auch wenn eine Inszenierungs-Methodik handwerklich nüchtern bei Entscheidungsfindung, Beratung bei Planung und Durch- Abstand markiert zur Gefahr, dass sich die Regie den Gruppenin- führung in der Produktivitätsphase, mündend in Produkt (hier: teressen manipulativ entgegenstellt, um eine angestrebte Ästhetik Theaterproduktion) und Abschlussphase. Reichhaltige Erkennt- „durchzuboxen“ – die Persönlichkeit der Regisseurin/ des Regis- nisse sind effektiv (v)erarbeitet worden in Bezug auf Rollenarbeit, seurs, das unverwechselbare Auftreten spielen immer eine Rolle: Spielleiterrolle und Regie, Finden angemessener Spielweisen und Neben sachlichen Orientierungen – was will ich erreichen und Figuren, methodische Zugänge für Gruppen mit großer Bandbrei- welche Inhalte will ich verhandeln? – entscheiden sich Menschen te an Altersstrukturen und Biografien (vgl.Weintz 2008, 353 ff.) aus sehr persönlichen Gründen für oder gegen die Teilnahme an

Probenfoto: „Der Tunnel“, Stiftung SPI Spielleitung (2012) Berichte aus der Praxis 57

Spielleitung und Regie in Produktionen theaterpädagogischer Weiterbildungsgruppen

mit vielen Beteiligten, die an unterschiedlichen Schaltstellen agieren: Schaupiel, Bühnenbild, Licht- und Medieneinsatz, Dramaturgie, Regie. Konflikte sind nicht nur unausweich- lich, sie sind wünschenswert und notwendig. Selbst wenn das Wort „Lust“ im Augenblick des Streitgeschehens vermutlich wie eine ironische Notierung klingt, ist genau sie der Motor von Innovation, Überraschung und Qualität in Prozessen der Stückentwicklung und Aufführungspraxis. Leicht abzunicken und schwer auszuhalten, wenn die Regie nachdrücklich den Eindruck hat, dass das Ensemble und/oder der ganze Prozess sich auf einem Irrweg befindet. Auf Dauer haben sich einige Haltungen auf dem Weg zu einer lustvoll gemeinschaftlich entwickelten Aufführung bewährt: Seltsam klingende Vorschläge zulassen und einen Perspektiv- wechsel vollziehen – Was wäre, wenn das Gegenüber Recht hätte? Irritationen hinnehmen, stehen lassen – womöglich genießen. Geht nicht ständig, aber manchmal. Ausprobieren, was merkwürdig scheint. Immer wieder die Frage verfolgen: Welche neue Erkenntnis könnte sich in einem Vorgehen zeigen, das mir auf den ersten Blick so gar nicht zusagt? Aber auch: Streitbar eigene Ideen anbieten, mit allen persönlich zur Ver- Probenfoto: „Der Tunnel“ fügung stehenden Mitteln. Widerspruch und Reibung daran aushalten, nicht sofort „einknicken“. Beharrlich Überzeugun- gen offensiv vertreten, vielleicht vorübergehend in Schubladen ablegen, wenn sie nicht auf Resonanz stoßen, so dass sie zu- einer Gruppe. Wegen einer Person und ihrer charakteristischen gänglich bleiben. Ergebnisoffen verfolgen, welche neuen und Persönlichkeit bilden wir Vertrauen oder gehen auf Abstand. Es unbekannten Entwicklungen entstehen, mit denen wir nicht wäre verrückt, ausgerechnet einer Kunst, die dem physischen gerechnet haben. Für das sogannte „Dritte“, das sich aus pola- und psychischen Ausdruck so sehr verpflichtet ist wie das The- risierten Auseinandersetzungen bildet, Öffnungen und Kanäle ater, diese persönliche Art von Beziehung zwischen Regie und zur Verfügung stellen. Ensemble absprechen zu wollen. Tu t das jemand? Bitte ankreu- Hilfreich ist bei diesem Prozess die Verankerung (der Weiter- zen: Ja. Nein. Vielleicht. Gelegentlich. bildung) in einer Institution, die bereit ist, sich in Neuland zu Neben all den Fähigkeiten, über die Regisseure/innen verfügen wagen und gewohnte Strukturen offen zu halten gegen Sorgen sollten – als da wären: Transparenz und Klarheit ästhetischer und Befürchtungen, damit sich Beteiligung in ihren Wider- Orientierung und künstlerischer Haltung sowie pädagogisch sprüchen komplex und diskursiv gestalten lässt. So kann etwas und fachlich weitreichendes Wissen, verbunden mit vielfältigen wirklich Neues entstehen, das verstören, irritieren oder begeistern methodischen Zugängen – braucht die Regisseurin/der Regisseur kann. Solange alle Mitwirkenden ihre Ziele und Vorstellungen eine Reihe unterschiedlicher Kompetenzen, die hier nicht einfach immer wieder engagiert verfolgen und überprüfen, wird ein soft skills bedeuten, sondern sich durch unverwechselbare, eben Auseinandersetzungsprozess nicht artig abgearbeitet, sondern eigenartige Fähigkeiten auszeichnen: Lust an Konflikten und lebendig und mit einer gewissen Lust an Chaos verwirklicht: Auseinandersetzung, Belastbarkeit, Lebensfreude und der Mut, Ein Prozess, in dem nur Langeweile als überflüssig betrachtet Beziehungen in allen Irrungen und Wirrungen wahrzunehmen, werden könnte (aber wer weiß, vielleicht brauchen wir die ja vielleicht zu verstehen, auf jeden Fall zu gestalten und dem Produkt auch) und in dem wir uns erst fröhlich verwirren lassen, um nutzbar werden zu lassen. Oder auch: Projektionsfläche zu sein für dann neue Entscheidungen zu finden und zu treffen. Auf solche Widerstände und Interessen der Spieler/innen. (Gemocht werden Art können wir Stückentwicklungen als Inspiration und Aben- zu wollen als Leiter/in kann zur Falle werden und scheinbares teuer erleben und jeder Entwicklung und jedem Ergebnis darin Verständnis entstehen lassen, das die Auseinandersetzung scheut.) neugierig entgegensehen. Die Fähigkeit, Konflikte zu leben und für einen künstlerischen Prozess nutzbar zu machen, mit irritierenden, freudigen Über- Literatur raschungen – das lässt sich nur aushalten und gestalten, wenn Dorothea Hilliger (Hg.) (2009): Freiräume der Enge. Künstlerische Regie und Ensemble keine Angst vor streitbaren Prozessen ha- Findungsprozesse der Theaterpädagogik. Milow Berlin: Schi- ben. Solch ein komplexes Geschehen fordert den ganzen (Regie-) bri Verlag Menschen, der damit leben muss, im Verlauf eines intensiven Jürgen Weintz (2008): Theaterpädagogik und Schauspielkunst. Äs- Probenprozesses immer wieder den Überblick zu verlieren. thetische und psychosoziale Erfahrung durch Rollenarbeit. Eine Produktion ist ein umfangreicher Teambildungsprozess Butzbach-Griedel: AFRA Verlag 58 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Magazin MAGAZIN

„Das aktive Publikum“ Die 27. Bundestagung 2012 des BuT

Claudia Bühlmann, Friedhelm Roth-Lange sowie Studierende des Instituts angewandtes Theater Wien (J. Pfurtscheller, K. Dufek, B. Moscon)

„Theatervermittlung als künstlerische Pra- grunde liegen. Laut Ute Pinkert gibt es kein und Kunstbereich aufzulösen. Die Warnung xis“, so lautete der unbescheidene Titel für die passives Publikum, also auch niemanden, der davor, diese Arbeit schon als „künstlerische Pra- Herbsttagung des Bundesverbands Theaterpä- bloß konsumiert, sondern ein Subjekt, das im xis“ zu verstehen, nur weil Künstler sie leisten, dagogik, die im vergangenen Oktober in der Idealfall als Zuschauer durch die autopoieti- und davor, zu glauben, damit sei auch schon Bundeskademie Wolfenbüttel stattfand. Fast sche Feedbackschleife zum Koproduzenten des der Nachweis pädagogischer Relevanz erbracht, hundert TheaterpädagogInnen aus dem ganzen theatralen Ereignisses wird. Es brauche dafür verband sie mit dem Hinweis, dass eine solche deutschsprachigen Raum bildeten das „aktive jedoch gewisse Rahmenbedingungen, damit Theatervermittlung eine „machtvolle Position Publikum“ für ein mit Workshops, Gastspie- die Zuschauer die Wirkungen von Theater ihrer Akteure innerhalb des Hauses“ vorausset- len und Best-Practice-Präsentationen mehr als erfahren und die theatralen Zeichen deuten ze, aber gleichzeitig nicht ohne „selbstreflexive dicht gefülltes Programm. Dass die Aktivierung können. Ausgegangen werde gemeinhin von Distanz zur Institution Theater, seinen Elemen- wirklich gelungen war, darin stimmten am Ende einer Symmetrie zwischen Zuschauern und ten und Formaten“ möglich sei, eine Distanz, beim kreativ-spielerischen Tagungsfeedback, das Schauspielern. Erst wenn die ideal vorgestellte die nur durch eine bewusste Verankerung der von Lorenz Hippe und Desdemona Reese mit theatrale Kommunikation nicht funktioniert, Vermittlung innerhalb der aktuellen Bildungs- Bravour koordiniert und moderiert wurde, fast komme die Theatervermittlung ins Spiel. Sie diskurse gelinge. alle Teilnehmer überein. In den Zwischentiteln ist nach Pinkert die Arbeit an der Symmetrie zitieren wir aus deren „Feedbackschleife“, die zwischen Zuschauern und Darstellern bzw. „... wunderschönes Erlebnis / ich konnte die aus Interviews mit TagungsteinehmerInnen Dargestelltem. Besonders wichtig erschien uns anderen Zuschauer sehen, den Wind spüren. entstanden ist. ihr Hinweis, dass es neben den historischen Was wäre, wenn ich fliegen könnte / rein da Formaten der Vermittlung wie Spielplanvor- ins Getümmel …“ „… Ich sitze in meinem Denkraum, in der stellung, Vor- und Nachbereitung (Beispiele Feedbackschleife / Dimension der Macht, für affirmative und reproduktive Vermittlungs- Von einem typisch reproduktiven Ver- harte Arbeit / Ich bin ein neues Format/mein diskurse) auch einen (am Theater bislang noch mittlungsdiskurs handelte der Workshop reproduktiver Diskurs ...“ nicht üblichen) dekonstruktiven Diskurs gebe, „Spielpraktisch-reflexive Rezeption“ von Si- der „die eigene Arbeitsweise als Form von Wirk- mone Weis. Sie stellte eine Möglichkeit vor, Die Einbindung der Thematik in den Rahmen lichkeitskonstruktion und die Strukturen am mit Kindern die Produktion „Um Himmels aktueller Vermittlungsdiskurse durch Ute Pinkert Haus in die kritische Betrachtung einbezieht“, willen, Ikarus“ der Theaterwerkstatt Hannover, war bewusst als reflexiver Auftakt der Tagung sowie eine transformative Vermittlung, deren die am Vorabend im Tagungszentrum zu sehen gesetzt. In einem zugleich theoriehaltigen und Merkmale Pinkert in einem kritischen Kom- gewesen war, nachzubereiten. Das Stück erzählt anschaulich mit historischen und aktuellen mentar zur Arbeit des House Clubs am Berliner die Geschichte von Vater Däd(alus) und Sohn Beispielen illustrierten Vortrag erläuterte sie, Theater Hebbel am Ufer (HAU) erläuterte. In Ikarus als zeitgemäßen Vater-Sohn-Konflikt. Die auf welchen Traditionen das Selbstverständ- diesem Diskurs gehe es darum, das Theater als Zuschauer selbst bilden das Labyrinth, durch nis des Berufsfeldes der Theaterpädagogen Gestaltungsraum z. B. für benachbarte Schulen das Vater und Sohn nach einem Ausweg suchen. an Theatern aufbaut, unter welchen Bedin- zu öffnen, unterschiedliche Theaterauffassungen Methodisch greift Simone Weis bei ihrer gungen es sich heute konstituiert und welche gleichberechtigt nebeneinander zu präsentieren Nachbereitung auf persönliche Erfahrungen Konzeptionen von Kunstvermittlung ihm zu- und damit die Grenzen zwischen Vermittlungs- der Menschen, mit denen sie arbeitet, zurück.

Angeregte Diskussionen in den Workshops von Frank Rohde und Volker List (rechts). Magazin 59

Magazin

Sie versucht so zwischen dem Theatererlebnis mit dem Polaritätsprofil zu beurteilen wie/wer Gehirnprozesse ab, schaffen gute Lernräume, und der eigenen Erfahrungswelt eine auch diese Personen sind. Danach wird schrittweise fördern soziale Kontakte und inspirieren unter- emotional nachvollziehbare Verbindung zu der deutsche Text einstudiert und gesungen, schiedliche Lerntypen. Sind solche Verfahren schaffen. So konzentrierte sie sich hier auf wobei es vor allem ums Handeln und nicht um auch für die Vermittlung künstlerischer Praxis die Beziehung zwischen Dädalos und seinem eine Perfektion der sängerischen Qualität geht. anwendbar? Anhand der Abendvorstellung „Um Sohn und lud u. a. zur allgemeinen Reflexion Als nächster Schritt werden Gruppen gebildet, Himmels Willen, Ikarus!“ wurde im Workshop der Eltern-Kind-Beziehung ein. Unter den die sich selbstständig in „Giovanni“, „Zerli- die Handlungsrelevanz dieses 7-Schritte-Modells WorkshopteilnehmerInnen war diese Herange- na“ und „Regisseur“ einteilen. Jede Gruppe für die Theatervermittlung überprüft. Dabei hensweise nicht unumstritten, und wurde von bekommt Texte zu einem bestimmten Regis- stellte sich heraus, dass die TeilnehmerInnen manchen als zu „therapeutisch“ erlebt. Simone seur und seinem Inszenierungsstil. Mit diesen im Workshop bereits viele dieser Schritte in ih- Weis konnte diese Vorbehalte nicht teilen. Ihrer Mitteln inszeniert jede Gruppe nun selbst die rer Arbeit wahrnehmen und anwenden. Leider Meinung nach besteht keine Gefahr, da es sich um kurze Szene. Nachdem die Konzepte erarbeitet wurden die praktikableren, kleinformatigen alltägliche Situationen handelt, die alle kennen. und geprobt wurden, werden die Szenen prä- Verfahren, die Volker List bereits unmittelbar Außerdem werde ja von den TeilnehmerInnen sentiert und zum Abschluss die Inszenierung nach der Aufführung in verschiedenen Bei- nicht verlangt, Situationen aus dem eigenen des Duetts durch den vorgegebenen Regisseurs spielen vorgestellt hatte, in dem Workshop Privatleben nachzuspielen. Vielmehr solle aus als Video angesehen. nicht wieder aufgegriffen und auf ihre Taug- deren Erfahrungsschatz geschöpft werden, der Schüler sind mit solch einem aktiven, ganzheit- lichkeit hin überprüft. Kaum einmal verfügt – bewusst oder unbewusst – immer Einfluss auf lichen Zugang zum Musiktheater sehr wirksam ja die Theaterpädagogik am Theater bei ihrer die gespielten Rollen und Szenen hat. und in einem überschaubaren zeitlichen Rah- Vermittlungsarbeit über ein zeitliches Budget In der Folge wurde viel über das Stück diskutiert, men zu interessieren. In der Musik, im Text im Umfang eines Kongresses. das nicht alle uneingeschränkt positiv wahrge- oder in der Rolle zu sein und von dort aus die nommen hatten. Aus den Kritikpunkten wurden Oper zu betrachten, ermöglicht eine Erfahrung, A Fräuleinwunder. Themen generiert, zu denen in Kleingruppen die einen intensiven Zugang zur Oper zulässt B Viele Geschichten, viele Möglichkeiten, Vermittlungsangebote erarbeitet wurden. So und die Chance für eine alternative, spieleri- viele Ideen. entwickelte eine Gruppe Ideen, wie mit den sche Auseinandersetzung mit Regietheater und A Jetzt muss ich schon wieder mitmachen. Gender-Klischees in der Inszenierung umge- Werktreue bietet. B Der Tanz war toll. gangen und weitergearbeitet werden könnte, eine andere setzte sich mit dem Minotauros „… eine Aufführung, die ich erst nach der „Vermittlungsaktivitäten an Theatern [...] auseinander, der in der Inszenierung nur am Reflexion gut fand! Sollte man das Unerklär- haben sich also emanzipiert, vom ausschließli- Rande vorgekommen war. liche erklären? Publikumsanimation kann chen Publikumsbeschaffungsvorgang“, schreibt ein Theatererlebnis auch verflüchtigen …“ Thomas Lang in einem Aufsatz über aktuelle A Tiefe. Verdichtung. Klären von Begriff- Beispiele theaterpädagogischer Projektarbeit lichkeiten ist wichtig. Begriffe wie Format. Theaterpädagogische Vermittlungsarbeit wurde (in: Nix, Sachser, Streisand (Hg.): Theaterpäd- Stückbegleitend arbeiten. Veränderter auch unter dem Aspekt thematisiert, wie adäquat agogik. Berlin 2012, S. 158). Wie sehen solche Kunstbegriff. Ich. Du. Liebe. über Theater zu reden ist und wie eine solche innovativen und partizipatorischen Formen B Was hat das mit Liebe zu tun? Kommunikation durch eine geschickte und ziel- der Vermittlung konkret aus? Und können führende Moderation befördert werden kann. sie wirklich, wie Thomas Lang behauptet, Am Beispiel der Oper „Don Giovanni“ zeigte „Sie sind auf einem Kongress und betreten mit ihrer „Kultur des Unperfekten, des Frag- Frank Rhode in seinem Workshop „Werktreue einen Saal ohne Stühle. Sie sind verwundert mentarischen, ja Schmutzigen [...] als Protest versus Regietheater“, wie man Schülern einen und verwickeln sich mit anderen Teilnehmern gegen, aber auch als Weiterentwicklung einer praktischen Zugang zum Musiktheater eröffnen in Gespräche. Müssen wir heute stehen? – und Kunst des Bourgeoisen wirksam werden, einer kann, der noch dazu Spaß macht. Zuerst wird schon beginnt es, bevor es beginnt.“ – so der Kunst der Hochkultur also, die Geschlossenheit, die Handlung der Oper Schritt für Schritt er- erste der sieben Schritte des bewährten Groß- Komplexität, Komplettheit und Perfektion als zählt und mit Gesten spielerisch erarbeitet. Ziel gruppenverfahrens „Congress in motion“, das Exklusionsvorgang in sich trägt“ (ebd., 164)? dieser Übung ist es, die Handlung der Oper mit von Volker List in seinem Workshop vorgestellt Als Beispiel für einen partizipativen Ansatz einer Aktivität zu verbinden, damit der Inhalt wurde. In Bewegung kommen, Informationen stellte Camilla Schlie in ihrem Workshop präsent bleibt. Danach werden „Polaritätsprofile“ vermitteln, Themenfelder beackern, Thea- die „Winterakademie am Theater an der Par- ausgeteilt und den Workshopteilnehmern das ter machen, Zukunft anpacken und Energie kaue“ vor, ein „Projekt zur Kunstvermittlung Duett von Giovanni und Zerlina vorgespielt. mitnehmen sind die weiteren sechs Schrit- als künstlerischer Praxis“, das auch bei der Sie werden nun aufgefordert, aufgrund der Arie te. Großgruppenverfahren dieser Art bilden Themenfindung für die Bundestagung Pate

Workshop-Momente bei Simone Weis und Camilla Schlie 60 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Magazin gestanden hatte. Die Winterakademie ist eine shop die Zeit für den Versuch, ein Thema zu mit zu verfolgen und danach zu reflektieren. Kunstprojektwoche, bei der ein Kollektiv auf entwickeln, nicht mehr aus. Bei dieser herausfordernden Übung war die Zeit bestehend aus KünstlerInnen, Theaterpäda- Grenze zwischen „als ob“-Handlung und realer gogInnen, DramaturgInnen und AssistentInnen „… Das ist ein bisschen wie Museumstheater, Aktion sehr schmal. Waack betonte, dass reale mit 100 Kindern und Jugendlichen zu einem oder? / Man konnte rumgehen. Ich konnte Vorgänge oft sehr hilfreich dabei sein können, gemeinsamen Thema arbeitet. Die zehn ver- auch zu einer Frau, die ich attraktiv fand, eine eigene Sprache und eigene Mittel zu finden schiedenen Labore, die sich in den Winterferien in die Nähe gehen. / Dann habe ich auch und einzusetzen, was für Jugendliche ein guter eine Woche lang mit verschiedenen Schwer- getanzt …“ Ansatzpunkt beim performativen Theater ist. punkten beschäftigen, werden am Ende mit Anschließend wurden Spiele und Übungen zur einer Werkschau für Verwandte und Freunde Begeistert wurde das Gastspiel der „Fräulein Form der Lecture Performance durchgeführt. geöffnet. Im Vordergrund stehen der Prozess, Wunder AG“ aufgenommen, die sich in ihrem Bei der Lecture Perfomance gilt es, den Vortrag das Forschen, Kreieren und Spielen, nicht ein Theaterprojekt „Auf den Spuren von …“ auf als Aufführung, die Wissen vermittelt und die fertiges Produkt. Die Winterakademie möchte eine Reise durch die europäische Migrations- daraus resultierende Reflexion, die auch Selbst- mit ihren Themen aktuelle Debatten aufgrei- geschichte begeben haben und in ihrer Arbeit reflexion bringt, sowie den Inhalt, der auch die fen und sie den Kinder und Jugendlichen mit Performance mit ethnologischer Feldforschung Form ist, zu präsentieren. verschiedenen Strategien zugänglich machen. verbinden. Wie kann man Jugendlichen einen Die Künstler und Laborbegleiter sind bereits Zugang zu solchen performativen Theaterpraxen „Ich fand auch toll diese Schiffsfahrt am ein halbes Jahr vor der Atelierwoche mit dem bieten, die für sie oft schwer zugänglich sind? In Schluss/dadurch dass man sich so hinhocken Thema beschäftigt und überlegen sich einen ihrem Workshop suchte Carmen Waack nach musste war es spürbar wie die Situation ist, genauen Rahmen für die einzelnen Labore. Er Wegen um solche „Zugänge zum Unzugäng- wenn man auf der Flucht ist ...“ muss offen sein für den künstlerischen Prozess, lichen“ zu finden. Unter dem Motto „selbst darf dabei jedoch nicht zu offen sein, da eine ausprobieren“ wurden in diesem Workshop In seinem Workshop „Theater Direkt – Das Versuchsanordnung auch genau geplant sein Formen des experimentellen Theaters am ei- Theater der Zuschauer“ machte Lorenz Hippe soll. Die Kinder und Jugendlichen lernen in genen Leib erfahren, reflektiert und vertieft. So die TeilnehmerInnen mit dem Konzept des In- den Laboren eine neue Zeichenwelt und künst- etwa in einer grenzüberschreitenden Übung, stant Theatre vertraut. Es basiert auf der Idee lerische Mittel kennen, mit denen sie sich die die jeden einzelnen Teilnehmer dazu animierte, der kollektiven Kreativität des Publikums, das Welt aneignen können. Die Theaterpädagogik etwas vor der Gruppe zu tun, was er als „krass“ hier das Stück selbst entwickelt und bestimmt. nähert sich hier einer performativ-künstlerischen bezeichnen würde. Bei einem anschließenden Um diese kollektive Kreativität freizusetzen, ist Praxis mit Forschungscharakter. Nach vielen Reflexionsgespräch wurde deutlich, dass es als es häufig nötig, die eigenee inner kritische Stim- Fragen der Teilnehmer zu den Erfahrungen sehr gewinnbringend empfunden wurde, den me (David Goldmann) außer Kraft zu setzen, mit diesem Format reichte leider im Work- Entscheidungsprozess bei sich und anderen die permanent bewertet, was wir tun. Diese

Das Gastspiel der „Frl. Wunder AG“ wurde begeistert aufgenommen. Fotos: Karl Bernd Karawasz Magazin 61

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Gleichzeitigkeit von kreativem Schaffen und der Die Methode eignet sich auch für die Theaterver- ja bereits in Ute Pinkerts Vortrag am Beispiel Bewertung des Ergebnisses ist es, die uns glau- mittlung. So kann beispielsweise vor Beginn der des „House Club“ angesprochen wurde, stellte ben lässt, wir wären nicht kreativ, da sie unsere Handlungsfindung ein Genre definiert werden, sich auch hier. Ideen hemmt und oft bereits im Keim erstickt. um dessen Prinzipien zu verdeutlichen. Man Gemeinsam entwickelte die Gruppe den ersten kann auch ausgehend von einer Szene aus einer „Ich hinterfrage: wer bildet hier wen und Akt eines vollkommen neuen Theaterstücks, Inszenierung mit den Teilnehmern ein neues wer wird von wem gebildet. Ich bin meine indem Lorenz Hippe Fragen nach dem Stück Ende entwickeln. Im „Theater Direkt“ erleben eigene Wirklichkeitskonstruktion.“ stellte, die spontan von den TeilnehmerInnen die TeilnehmerInnen Theater in der Praxis. beantwortet wurden. Nach der gemeinsamen Anstatt über ein gesehenes Stück zu reflektie- A Ich war losgelöst. Handlungsfindung wurden die Rollen verteilt, ren, haben sie die Möglichkeit, selbst Theater B Ich war konzentriert. wobei auch Stimmungen, die Umgebung, etc. zu machen – hier rückt Kunstvermittlung in A Ich war gefordert. als Akteure galten, sodass alle TeilnehmerInnen die Nähe der künstlerischen Praxis. Die Fra- B Ich war herausgefordert. sich an der folgenden „instant-Inszenierung“ ge nach den Kriterien zur künstlerischen und A Ich war müde. beteiligen konnten. pädagogischen Bewertung der Ergebnisse, die B Ich hatte aber auch Spaß.

Vom Spiel zum Theater – Gestaltungsprozesse mit Kindern Fachtagung zum 5. Deutschen Kinder-Theater-Fest in Rudolstadt

Silke Lenz

Das 5. Deutsche Kinder-Theater-Fest fand mit Kindern spiegelt sich der pädagogisch- der Herangehensweise an den Stoff und in der vom 14. bis 17. Juni 2012 unter dem Motto künstlerische Schaffensprozess wider! Welche Umsetzung mit den Kindern. „Stürmt ins Leben wild hinaus!“ in Rudolstadt/ unterschiedlichen Prozesse und Herangehens- Gelang es, die Offenheit in der Gesprächsrunde Thüringen statt (vgl. Romi Domkowsky, Zeit- weisen werden aufgehoben und sichtbar in der zu befördern, so erhielten die Teilnehmer_innen schrift für Theaterpädagogik, Heft 59, S. 59ff). Aufführung? Was sieht der Zuschauer und wie einen wirklichen Einblick in den Arbeitsansatz Zum Konzept des Kinder-Theater-Festes gehört ist dieses gewertet? der Spielleiter_innen mit ihren Theatergrup- die begleitende Fachtagung. Für diese war in Verfahrensweise der Spielleiter_innenforen: Der pen. Unter der Fragestellung „Vom Spiel zum 2012 der Bundesverband Theaterpädagogik oder die Spielleiter_innen der zu besprechenden Theater“ wurden genauer die verwendeten BuT verantwortlich. Im Fokus der diesjähri- Aufführung erhielten als erstes das Wort ver- Spiele und Übungen im Prozess analysiert und gen Fachtagung standen unter dem Titel „Vom bunden mit der Frage: Welche Informationen auf den Moment der Theatralisierung und Äs- Spiel zum Theater“ Spielleiterhaltungen und ist aus eigener Sicht wichtig für die Zuschau- thetisierung hin betrachtet. Welches Handwerk -methoden in der Theaterarbeit mit Kindern. er? Diese konnten sein: Rahmenbedingungen, und Geschick braucht es, um den spielerischen Es sollte untersucht werden, welche Herange- Auswahl des Stückes, Stoffes, Besonderheiten. Ansatz, die Ideen und Ausdrucksweisen der hensweisen und Methoden Kinder optimal dabei Wesentlich dabei war, lediglich die Informa- Kinder im Produkt aufzuheben? unterstützen, sich aktiv und selbstbestimmt in tionen mitzuteilen und sich nicht schon als Anhand eines Nachgespräches wurde dieses theatrale Entwicklungs- und Inszenierungspro- erstes in eine mögliche Rechtfertigung zu be- sehr deutlich. Einerseits der klare Rahmen, zesse mit einbringen zu können. geben. Die Form dieser Foren sollte dieses von ein Thema, die Aufgabenstellungen, in denen Den inhaltlichen Auftakt bildeten drei erfahrene Beginn an vermeiden, damit eine fachliche, sich die Kinder ausprobieren, spielen und Kolleginnen in Form von Kurzpräsentationen konstruktive Auseinandersetzung zum Gestal- improvisieren dürfen. Andererseits die klare ihre Arbeitsansätze in der Theaterarbeit mit tungsprozess entstehen konnte und somit eine Fixierung mit dem Mut des Unwägbaren bis Kindern vor. So unterschiedlich im Detail die Wertschätzung der Spielleiter_innen und deren in die Aufführung hinein. „Starke Bühnen- Arbeitsweisen von Romi Domkowsky, Katrin Produktionen gegeben war. präsenz und große Spielfreude prägten die Freese und Cirsten Behm auch sein mögen, Zunächst wurde das Publikum befragt: Gab Aufführung. Sehr schöne szenische Einfälle, bei ihren Herangehensweisen geht es immer es einen besonderen, magischen Moment in die zum Teil durch ihre Einfachheit bestachen, darum, partizipative Prozesse zu ermöglichen, der Aufführung? Dieser sollte möglichst an- nahmen die großen und kleinen Zuschauer die kreativen Potentiale und die Fantasie, die hand des Geschehens, der Stimmung, einer mit auf einen Klassenausflug zwischen Phan- Kinder mitbringen, in der Theaterarbeit frucht- Farbe, eines Klanges beschrieben werden. Die tasie und Realität.“ (vgl. ebenda) Es scheint bar werden zu lassen. Die Teilnehmerinnen Beschreibung sollte wertfrei sein. Über diese keine sonderliche Überraschung darzustellen, und Teilnehmer der Fachtagung hatten an Beschreibungen kristallisierten sich bereits jedoch ist dieses wohl immer noch die größte den beiden nächsten Tagen die Gelegenheit, Beobachtungen heraus, die im Gedächtnis künstlerisch-pädagogische Herausforderung, die die Arbeitsweisen der Kolleginnen auch prak- mehrerer Zuschauer_innen geblieben sind. Je an uns Theaterpädagog_innen gerichtet wird. tisch kennen zu lernen, da von ihnen auch die detaillierter die Erinnerungen wiedergegeben Die Balance, die Freiheit zwischen Raum und je zweistündigen Workshops geleitet wurden. werden konnten, desto klarer stellte sich auch Form immer wieder neu zu finden und in der Ein weiterer zentraler Baustein der Fachtagung heraus, warum ein szenischer Moment haften Aufführung den Darsteller_innen Vertrauen waren die moderierten Spielleiterforen. Sie blieb, wo das Besondere in ihm aufgehoben entgegen zu bringen. Sollten sie sich einmal führten zu offenen und gleichzeitig zentrierten war und warum in anderen Situationen nicht. verlieren, finden die Kinder ihren Anschluss Diskussionen zwischen den Spielleiter_innen Darüber gelangten die Zuschauer direkt zu den im Geschehen, wenn sie es im angeleiteten, der ausgewählten Aufführungen und den Fach- Fragen, die sie an die Inszenierung hatten. Die spielerischen Prozess selbst er-, gefunden ha- tagungsteilnehmer_innen. Die Ausgangsthesen ausführlichen Beschreibungen bildeten ein gutes ben. Darin wird eine Haltung der Spielleitung, und Fragen für die Spielleiterforen lauteten: Fundament für Fragen nach der Motivation, des Regieführens mit Kindern auf der Bühne In einer Inszenierung/Theaterproduktion nach dem Geschehen und insbesondere nach sichtbar. 62 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

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Eine Gruppe von 16 Studierenden der Fach- ausgewählten Inszenierungen und den in- der Kinder sichtbar, weil sie auch dafür den hochschule Osnabrück/Lingen, angeleitet von ternationalen Gastspielen wurden erlebbar Raum bekommen. Die Ästhetik des Theaters Dr. Christel Hoffmann, spiegelte anhand des gemacht und theaterpädagogische, kritische mit Kindern ist breiter geworden, und es gibt Rückspiels humorvoll und kritisch zugleich, Fragen mit Leib und Seele aufgezeigt. „Diese heute nicht mehr so einen strengen Theater- was sie an den drei Tagen zuvor beim Festival direkte Selbstverständlichkeit im Umgang mit begriff. Er ist weiter gefasst und auf einmal ist und bei der Fachtagung erlebt und gesehen dem Medium Theater ist generell für das Fes- viel mehr Platz im Sinne künstlerischer Ent- hatten. Aufhebenswerte Momente aus den tival bezeichnend. Hier wird die Souveränität wicklung.“ (vgl. Hoffmann)

Probenfoto: „Theaterpädagogisches Wildnistraining“ in Hildesheim (Leitung: Katharina Hülsmann, 2010)

KONZERTANTES Musik-Theater „Der Kuhhandel“ – Eine Kurt-Weill-Operette in der „Komischen Oper“

Gerd Koch

Am 18. Januar 2013 wurde in der Komischen Landschaft und das dortige Treiben zum The- händler Felipe Chao gab und die Conference Oper Berlin die wenig bekannte und Fragment ma des Geschehens machte. des Abends hatte). Szenisch eingerichtet hat- gebliebene Operette „Der Kuhhandel“ von Kurt Also: Der „Komischen Oper“ als Institut des te die konzertante Aufführung der Intendant Weill, mit einem Libretto von Robert Vambe- realistischen Musik-Theaters stand historisch Barrie Kosky, der treffend darauf hinwies, dass ry, konzertant aufgeführt. Eine Aufführung am Pate die (französische) ‚opéra comique‘ sowie dieses Weillsche Operetten-Fragment ein Stück richtigen Ort; denn die Bezeichnung „Komische das realistische Musiktheater der Moderne: des Übergangs, des Weggangs, des Erinnerns Oper“ verweist auf die ‚komische Gattung‘ eines Oper als Zeitgenossin – dargeboten durch ein und des Neubeginnens sei: Weill schuf es mit volks-sprachlichen und -thematischen Theaters Ensemble, das aus Sänger_innen-Darsteller_in- seinen Erinnerungen an die Musik-Kultur der aus dem (urbanen) Alltagsleben. Ob Thema nen besteht. 1920er Jahre, die er weitgehend mitgestaltet oder Stilprinzip eines aufgeführten Werkes Den lebendigen Beweis, dass dieses Konzept hatte, nun am ersten Ort seines Exils (Paris). ‚komisch‘ oder ‚tragisch‘ war, spielt für diese aufgeht, konnte das Haus „Komische Oper“ Er blieb lebenslang im Exil, und in den USA Gattungsbezeichnung keine Rolle: Der Begriff wieder beweisen mit einer konzertanten Auf- stirbt er 1950. Die Musik-Kultur dieses Landes comique signalisierte, dass im Ständestaat für den führung von „Der Kuhhandel“ zu Beginn ihrer hat er stark beeinflusst – wie auch die dortige jeweiligen sozial-ökonomischen und mentalen Kurt-Weill-Woche vom 18.–24.1.2013, die Teil Musik-Kultur sein Schaffen beeinflusste (sie war Stand produziert wurde (entsprechend der sog. des Berliner Themenjahres zur Erinnerung an die ihm schon im Berlin der 1920er Jahre nicht Ständeklausel). Die ‚Tragödie‘ war noch bis zum zerstörte kulturelle, politische und menschliche unvertraut). Nun in der Komischen Oper an 18. Jahrhundert dem Adel vorbehalten, und Vielfalt in dieser Stadt – verursacht durch den Notenpulten – prima besetzt – die Sänger_in- das aufstrebende Bürgertum hatte seine (z. B. Nationalsozialismus – ist (www.berlin.de/2013). nen-Darsteller_innen: Ina Kringelborn, Vincent stimmungsvollen) Komödien. Deshalb wurde Die musikalische Leitung der Aufführung Wolfsteiner, Christoph Späth, Tansel Akzeybek, die ‚opéra comique‘ zu einer bürgerlichen Oper, hatte Antony Hermus, die der Chöre André Daniel Schmutzhard, Christiane Oertel, Jens die sich von der (tragischen) höfischen Oper Kellinghaus. Und die textliche Einrichtung Larsen, Katarina Morfa und ferner mit dabei ebenso distanzierte wie von den (komischen (nicht unwichtig bei einem Fragment geblie- Carsten Lau, Matthias Spenke, Henrick Pitt, – im Sinne von albernen) Jahrmarktsvergnügun- benen Werk) lag in den Händen von Pavel B. Jan-Frank Süße – und auf den Brettern, die gen – während eine ‚scena tragica‘ traditionell Jiracek (der auch Instruktives im Programmheft die Welt bedeuten, zeitweilig anwesend eine die Mächtigen und ein Satyr-Spiel eine offene beisteuert) und bei Max Hopp (der den Waffen- in die Szene gerollte Kuh-Plastik. Magazin 63

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Merkposten für mich – aus theater- und kultur- Felderfahrungen an anderen Orten als dem repräsentiert der Chor Kern und Rahmen der pädagogischer Sicht – nach Teilhabe an diesem etablierten Konzertbetrieb – nicht allzu unter- Handlung, und dem japanischen No-Theater facettenreichen Abend sind: OPERETTE & schieden von heutiger Lebens- und Berufspraxis übernimmt der Chor sein Lied in der Mitte KONZERTANTE Aufführung. von Musiker_innen). eines Satzes von den Lippen des Darstellers. Neue Opernformen und musik-theatrale Dar- In den großen Theaterkulturen der Vergan- OPERETTE stellungsweisen entstanden, wie sie sich etwa genheit war die Musik ein notwendiges und bei Kurt Weill in Zusammenarbeit mit Bertolt integrales Moment des Dramas. (–) Im Laufe Eine Operette ist – vom Wort her – eine kleine Brecht zeigen. Das Neue wird übrigens auch der Jahrhunderte sind die Ideen in einer Art Oper, ein kleines Werk. Alexander Kluge hat dadurch signalisiert, dass diese Produktionen aufeinandergefolgt, daß heute, nach einem die Oper prägnant ein „Kraftwerk der Gefühle“ bisher ungewohnte Genre-Bezeichnungen er- Zeitalter musiklosen Theaters, wieder vom bezeichnet. Das Radio-Programm „DRadio- hielten: „‘Die Dreigroschenoper‘ ist ein Versuch musikalischen Theater die Rede ist. Drama Wissen“ annoncierte für den 24. 12. 2012 den im epischen Theater“ (so heißt es in der aktu- und Musik, unzertrennlich in ihren Ursprung, Mitschnitt eines ausgezeichneten Vortrags des ellen Berlin-Frankfurter Brecht-Ausgabe) oder versuchen nun wieder, zueinander zu finden … Theater- und Musikwissenschaftlers Clemens auch schlicht-sachlich von Brecht im Untertitel Am Anfang war Oper musikalisches Theater im Risi über die emotionale Wirkung der Oper gesagt: „Stück mit Musik“; (Das kleine) „Ma- besten und reinsten Sinne des Wortes; sie suchte („Weinen mit Tosca“:http://wissen.dradio.de/ hagonny“ ein „Songspiel“; „Aufstieg und Fall eine neue Mischung von Gesang und Sprache languages-of-emotion-ix-weinen-mit-tosca.88. der Stadt Mahagonny“ ist eine „Oper“ und zu- auf der Grundlage großer Theatertradition. de.html?dram:article_id=221992) unter ande- gleich „Der vierte Versuch …, mit einer Musik Tatsächlich weist die Musik von Monteverdis rem so: „Oper – für das ganz große Gefühl“ von Kurt Weill, … ein Versuch in der epischen Orfeo, welcher eigentlich die erste Oper dar- – eine ‚Operette‘ wäre danach etwas ‚für das Oper: eine Sittenschilderung“; „Der Flug der stellt, eine starke Ähnlichkeit mit dem antiken ganz kleine Gefühl‘ – aber die Alltagserfahrung Lindberghs“ ist „Ein Radiolehrstück für Knaben Drama auf.“ (Kurt Weill: Musik und Theater. belehrt uns von der Falschheit bzw. Willkür und Mädchen“; „Der Jasager“/„Der Neinsager“ Gesammelte Schriften. Mit einer Auswahl von solcher Trennung. Davon weiß auch das rea- sind ,,Schulopern“ und das letzte gemeinsame Gesprächen und Interviews, hrsg. von Stephen listische Musik-Theater. Werk von Weill und Brecht „Die sieben Todsün- Hinton und Jürgen Schebera, Vorwort von David In den 1920er, 1930er Jahren bemühten sich den“ („der Kleinbürger“ – dieser Zusatz wurde Drew. Berlin 1990, 109 f. – die Seitenzahlen Komponisten so genannte Gebrauchsmusik von Weill nicht akzeptiert) „ist ein Ballett mit im folgenden beziehen sich auf dieses Buch, oder angewandte Musik, auch Kampfmusik, Gesang in der Choreographie von George Ba- wenn nicht anders nachgewiesen). zu komponieren (notwendige Musik, aber lanchine: „Les sept péchés capitaux. Spectacle Und namentlich Kurt Weill rezipiert einen immer: Musik!). Die bekanntesten Namen sur des poèmes de Bert Brecht. Musique de Kurt Operetten-Kontext, den der ‚Mozart der Champs- in Deutschland sind Paul Hindemith, Hanns Weill. Décor et Costumes de Caspar(d) Neher“ Élysées‘ mit seinen Librettisten gestiftet hat, Eisler und Kurt Weill. (Premiere in Paris 1933) – 1933 komponiert nämlich Jacques Offenbach (vgl. Siegfried Kra- Und etwas anderes kam noch hinzu: Sie waren Weil eine „Radio-Ballade“ („La grande comp- cauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner als Musiker, die aus der so genannten ernsten lainte de Fantomas“), die bei Radio Paris in der Zeit. Eine Gesellschaftsbiographie. Frankfurt am Musik mit akademischer Ausbildung kamen, Regie n vo Antonin Artaud im November 1933 Main 2005) durch seine „Meisterwerke musika- nicht abgeneigt, sich auch in die populär- herauskommt; ab 1934 arbeitete Weill bereits lischer Gesellschaftssatire“: „Was Komponisten musikalischen sog. Niederungen etwa der an der Operette „Der Kuhhandel“. wie Kurt Weill, Hanns Eisler, Stefan Wolpe, Unterhaltungsmusik, in die leichte Muse gar Und zugleich mit solcher soziologischen Zeit- Paul Dessau und andere im 20. Jahrhundert in die Operette hineinzugehen (polemisch: hi- genossenschaft und teils fast futuristischen fortsetzen: Bei aller Unterschiedlichkeit sind nabzusteigen) – auf die Trivialität der Straße Modernität, die der anti-moderne und anti- auch sie ein Stück weit die Erben Offenbachs zu gehen, um Neues vom Tage zu verarbeiten semitische Komponist Hans Pfitzner zuerst 1917 – trotz aller Dominierungsversuche Wagners oder um – wie Hanns Eisler – Zeitungs- bzw. und 1926 in seinen Gesammelten Schriften als und seiner nachfolgenden Adepten. Bei Offen- Heiratsannoncen zu vertonen. „Futuristengefahr“ bezeichnete (worauf Pavel B. bachs Militärmärschen beispielsweise scheint Später, in den USA, bringt Kurt Weill seine Jiracek im Programmheft zu „Der Kuhhandel“ deutlich ein satirisch-pazifistischer Unterton Oper „Street Scene“ heraus (die Uraufführung in hinweist, S. 5), werden weltweite Traditionsbe- heraus; glücklich das Land, das keine Helden Philadelphia ist am 16. 12. 1946), und Bertolt züge eines frühen Theatermachens re-vitalisiert, braucht, scheinen seine Noten zu kommentieren. Brecht exemplifiziert 1938 an einer „Straßen- gewissermaßen – auch – als Gründungs-Akte Und Mauricio Kagel (1931–2008), wichtigster szene“ seinen Grundgestus vom „Zeigen des des-neuen-Musik-Theaters reklamiert – wie Vertreter des zeitgenössischen ‚instrumentalen Zeigens“ (siehe Hans Martin Ritter: Das Ges- Kurt Weill fachkundig zu bedenken gibt: Theaters‘, schrieb 1979 für Blasorchester Zehn tische Prinzip bei Bertolt Brecht. Köln 1986, S. „Wenn wir das Theater nicht in seiner heutigen Märsche, um den Sieg zu verfehlen. Ganz anders, 95 ff.): „Musik organisiert soziale Erfahrungen Form, sondern im Licht seiner Ursprünge und aber auch ganz im Sinne Jacques Offenbachs.“ – aber wie?“ (so nannte ich meinen kleinen „Vor- seiner geschichtlichen Entwicklung betrachten, (Joachim Lucchesi: Höllengalopp und lautes schlag für ein kulturpädagogisches Experiment“, so stellen wir fest, dass der Begriff ‚Musik- Gelächter der Straße, in: Zeitschrift für Thea- in: Gerd Koch: Kultursozialarbeit. Eine Blume Theater‘ eine Tautologie ist. Die großartige terpädagogik, Heft 58, S. 43) ohne Vase? Frankfurt am Main 1989, S. 158 f.). Theaterkultur der Vergangenheit, aus der sich „Spemanns goldenes Buch des Theaters. Eine Erfahrungen sammelten diese Komponisten alles Heutige ableitet: das japanische Theater, Hauskunde für Jedermann“ (Berlin, Stuttgart auch durch Beteiligung an sozialwissenschaft- das griechische, die mittelalterliche Mysteri- 1902) weiß es uns auf S. 739 so zu sagen: „Es lichen und Medien-Diskussionen, in sozialen enspiele, sind ohne Musik unvorstellbar. Sie waren die von Jakob Offenbach und seinen und politischen Bewegungen. Sie wurden so betrachten Musik als unerläßlichen Bestandteil Pariser Textverfassern Meilhac und Halévy – als Künstler_innen – Experten des Alltags. der dramatischen Kunst; sie benutzen Musik wieder aufgenommene Operette, die aber jetzt Man bildete sich gewissermaßen doppelt aus: nicht nur, um das dynamische Wachstum der mit ganz anderen Mitteln ins Leben trat, als Tagsüber studierte etwa Kurt Weill bei Fer- Handlung und den Rhythmus der Inszenierung in den früheren Zeiten harmloser Heiterkeit. ruccio Busoni, dem damals sehr bekannten zu intensivieren, sondern auch als eine Substanz, Denn Offenbachs Operetten sind in erster Reihe Musiktheater-Komponisten und begnadeten die, wird sie mit der Sprache verschmolzen, zu kecke Parodien, die in ihrer Ungebundenheit Pianisten, und nachts spielte er in Spelunken einem der kraftvollsten formalen Bestandteile das Aeußerste an verwegenem Spotte leisteten (um sein Studium zu finanzieren und machte von Theater wird. Im griechischen Theater ... Für Offenbachs Operetten waren die witzi- 64 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Magazin gen Texte in ihrem bis zur Frechheit gehenden und das politisch-literarische Kabarett der 1920er Also: Konzertantes Aufführen ist kein Mangel! Uebermut … von entscheidendem Einfluß“. Jahre als publizistisches Theater sind hörbar. Man denke nur an die Oratorien-Kultur: Am Und Kurt Weill: „Seit Jahrzehnten ist die Ope- Und der Stoff des „Kuhhandel“ ist weltbewusst Notenpult stehende Sänger_innen werden uns rette die begehrteste und darum rentabelste weit und steuert schon das Exil-Land Weills im Laufe der Zeit Quasi-Darsteller_innen. künstlerische Unterhaltungsstätte, weil sie dem an: den amerikanischen Kontinent und Ein- Und im Kontext des Kurt-Weillschen Schaf- Geschmack weitester Volkskreise entspricht, flussbereich – künstlerisch wie politisch: Die fens gestatte ich mir einen weiteren Ausflug weil sie alles enthält, was die Masse begehrt: Handlung wird in die Karibik gelegt; die The- in Bezug auf die Wertschätzung des Abends: Humor, Dramatik und Sentimentalität – Wort, matik ist weltpolitisch wie privat bedeutsam: Eine konzertante Aufführung kann an die Ima- Tanz und Musik. Wenn sich heute die Ope- Eine Kuh ist dem einfachen Menschen ein Gut ginationskraft eines gut gemachten Hörspiels rette auf stark absteigender Ebene befindet, so zur Sicherung seiner Existenz; ein Kuhhandel heranreichen (und diese in der „Komischen ist daran die Leistungsfähigkeit und Billigkeit ist ein wirtschaftlich/politisches, inhumanes Oper“ tat es!): Gestaltung, Füllung, Belebung, von Film und Rundfunk schuld. Das nachlas- Trickgeschäft – nicht nur erst heute vielfältig ja: Bebilderung eines akustischen Raumes. sende Interesse wirkt auf die Produktion ein: betrieben durchs Gebaren auf den internatio- Hörbild (das Wort ist schon bei Walter Ben- seit Jahren ist wirklich keine wertvolle Oper nalen finanz-kapitalistischen und militärischen jamin zu finden), Hörstück, Handlung ohne erschienen, der letzte Rest künstlerische Eigenart Markt-Plätzen – bestens verbandelt mit Waf- Bilder, Hör-Leben, Hör-Station, Hör-Bar, und Gestaltungskraft, der dieser aussterbenden fengeschäften auf globalen Gewaltmärkten. Hör-Buch, Hör-Kino, Lauscher-Lounge, Gattung noch innewohnt, verschwindet und Eine gute Operette hat, weil sie Vielfältiges und Live-Hörspiel (vorgeführt etwa in einem Pla- macht dem rein äußerlichen Schaugepränge Widersprüchliches in sich aufnehmen kann und netarium), (Radio-, TV-, Theater-)Feature der Revue Platz.“ (203) Wir dürfen aktuell darf, die Chance, prognostisch zu sein, (Un-) (vgl. Jens Lassak: Das Theaterfeature. Berlin, vielleicht sagen: … macht dem Schaugepränge Wahrscheinlichkeiten, Perspektiven zu öffnen Milow, Strasburg 2013) … sind Begriffe, die der Comedy Platz ... Kurt Weill spricht schon durch Parodien, Zitat-Kontrast-Montagen, At- heute die Weite des Gemeinten sehr sinnlich von den „kunterbunten Abenden“, „auch (von) traktionen, Frechheiten, Unverschämtheiten, anzeigen – zwischen sound, Akustik und ma- dem Kitsch im Rundfunk“, dem eine Grenze Ironie – in den Gegenständen, Themen, mu- terieller Gestaltung und dialogisch-personalem gesetzt werden sollte. (204) sikalischen Darstellungsweisen und auch sich Austausch angesiedelt. Kurt Weill seinerseits Und Kurt Weill schreibt über „Die fehlende selbst als Genre gegenüber. Sie ist ein hybrides benutzt in den 1920er/1930er Jahren unter an- Operette“ in der Zeitschrift „Der deutsche Gebilde. Sie kann schon oder wenigstens – von derem diese Begriffe im Zusammenhang seiner Rundfunk“ (1925): – etwas singen, was man sich – noch – nicht musik-theatralen und Rundfunk-Produktion: „Wenn wir also die Operette im Rundfunk zu sagen traut /trauen darf … Ein interessantes „Musikalisches Hörspiel“ (282), „Radiolehr- vermissen, so meinen wir zunächst einmal und produktives rhetorisches Modell! stück“, „Funkdrama“ (198), „Sendespiel“ (211, die lange nicht gegebenen Werke klassischer 247). Konzertante Aufführungen als Genre? Operettenmeister (also: Joh. Strauß, Millöcker KONZERTANTE Aufführung Operette konzertant als Hörspiel? Eine neue Offenbach Lecocq, Sullivan), das aber auch all Qualität für beide performativen Muster – die weltberühmten Vertreter der so genannten Die konzertante Premiere von „Der Kuhhan- Hörspiel wie Operette?! Why not! Wiener Operette: Leo Fall, Franz Lehár, Oscar del“ war Teil der Kurt-Weill-Woche; ich will Kurt Weill war seit 1925 journalistischer Mitar- Straus und Emmerich Kálmán … Und alle diese – wortspielerisch – sagen: Teil einer opera in beiter – auf dringend benötigter Honorarbasis Werke, deren einschmeichelnde Melodien an musica, also eines musikalischen Werkes, einer – bei der Wochenzeitschrift „Der deutsche allen Empfangsapparaten mitgesungen werden musikalischen Fabrik, die eine Woche lang Rundfunk. Rundschau und Programm für alle würden, sind durch die lose Verknüpfung der variationsreich zu und mit Kurt Weill produ- Funk-Teilnehmer. Zeitschrift der am deutschen Handlung und durch die Allgemeingültigkeit zierte (www.komische-oper-berlin.de/spielplan/ Rundfunk beteiligten Kreise“ (163). Es liegen der Gesangstexte mit Leichtigkeit für Rundfunk kuhhandel/123/). „über 800 Druckseiten mit Beiträgen Weills“ und für heutige lokale Verhältnisse einzurich- Concerto – das ist ein Zusammenwirken, eine (164; siehe oben das Zitat aus Weills Text „Die ten.“ (203 f.) Zusammenarbeit – und die wurde am Abend fehlende Operette“) vor – und in eben dieser 1940 referiert William C. King Kurt Weill unter in der Komischen Oper sehr gekonnt öffent- Zeitschrift wurde 1924, also kurz vor Weills dem Titel „Composer for the Theatre – Kurt lich gezeigt: Wie wird etwas Musik-Theatrales Einstieg in die publizistische Arbeit, der neue Weill Talks about ‚Practical Music‘“: „‘Ich bin hergestellt, wie wirken Instrumental-Musik, Begriff „Hörspiel“ kreiert – durch deren Haupt- davon überzeugt, daß viele moderne Kompo- Sprache, Gesang, szenische Gestaltung, De- schriftleiter H. S. von Heister, den Weill aus nisten ihrem Publikum gegenüber ein Gefühl kor zusammen – und wie wird das einem gemeinsamer Arbeit in der Künstlergruppe der Überlegenheit besitzen‘, sagte Mr. Weill Publikum demonstriert – einem Publikum, „Novembergruppe“ (benannt und begründet ... ‚Aber die großen ‚klassischen‘ Komponisten dem wegen der nicht vollen szenischen Ge- nach der Novemberrevolution 1918) kennen- schrieben für ihr zeitgenössisches Publikum. staltung die Rolle des (mit-)produzierenden, gelernt hatte (vgl. 163). Sie wollten, daß jene, die ihre Musik hören, imaginierenden Zuschauers/Zuhörers erfreu- Was sagte Kurt Weill zur Radiomusik Jahre spä- sie verstanden – und so war es. Ich für mei- licherweise zukommt. ter, 1940, im Gespräch mit William C. King? nen Teil schreibe für heute. Ich setze keinen Konzertante Aufführungen – eine Chance, die „Es ist freilich nicht das erste Mal, daß der un- Pfifferling auf ein Schreiben für die Nachwelt. Machart solcher Operette deutlich offen zu hö- ternehmungslustige Mr. Weill mit Radiomusik Und ich habe keineswegs das Gefühl, meine ren und dem thematischen Impetus zu folgen! experimentiert hat. Bereits 1929 schrieb er eine Integrität als Musiker zu gefährden, wenn ich Das, was – zum Glück – Lücke bleiben muss Kantate Der Lindberghflug nach einem Text von für das Theater, den Rundfunk, den Film oder in einer konzertanten Aufführung (auch aus fi- Bertolt Brecht, die speziell für Rundfunkauf- irgendein anderes Medium arbeite, das jene Öf- nanziellen, Tantieme-Gründen), füllt (sich) der führung gedacht war … Von Anbeginn seiner fentlichkeit erreicht, die Musik hören möchte. emanzipierte, also freie, ungebundene Zuschauer, Karriere hatte an der Maxime festgehalten, Ich habe niemals den Unterschied zwischen der nun sein eigener Regisseur und Szenograph daß er stets beim Komponieren sein zukünfti- ‚ernster‘ und ‚leichter‘ Musik anerkannt. Es wird. Ob man will oder nicht: es werden Bilder ges Publikum vor Augen haben müsse, daß er gibt nur gute und schlechte Musik.“ (333 f.). evoziert, es wird Szene sichtbar – wie es in der bewusst ‚für die Zuhörer‘ schreibe. Darin war Kurt Weill nimmt seinen kessen Berliner sound Film-Theorie heißt: der Film entsteht nicht auf er sich mit seinem nur wenig älteren Kollegen mit ins Exil, mit in seine Operette „Der Kuh- der Leinwand, sondern im Kopfe des Betrach- Paul Hindemith einig, und so schufen die Deut- handel“: die Couplets des Berliner Tingeltangel tenden – im Moment der Freiheit! schen den Begriff ‚Gebrauchsmusik‘, ‚Musik Magazin 65

Magazin für praktische Zwecke‘ oder ‚Alltagsmusik‘, • Die Opern ‚Orpheus‘,‘ Odysseus‘, ‘Poppea‘ schichten, u. a. von dem russischen Dichter um ihre Intentionen zu beschreiben.“ (333) von Claudio Monteverdi in der „Komi- und Dramatiker Daniil Charms. Alles in al- schen Oper“: An einem Tag wurden alle lem ein explosive Mischung, ein spannendes Theaterwissenschaftliche Aufmerk- drei vollständig erhaltenen Opern – in der Experiment“ vom „Theater Daktylus“ und samkeits-Richtungen aus Anlass Inszenierung des Intendanten der Komi- dem „Pump‘n Chor“ im Berliner Jugend- von Oper & Operette als „Kraft- schen Oper Berlin, Barrie Kosky, und in kulturzentrum PUMPE … werke der Gefühle“ – theaterpäda- einer musikalischen Bearbeitung der aus • Die Saison der Krabben. Ein Singspiel im gogisch relevant Usbekistan stammenden Komponistin Elena Berliner Ballhaus Naunynstraße: Singspiel Kats-Chernin, gegeben. Mit Monteverdis – ein Begriff, historisch (mal unspezifisch, Im abgeschlossenen Forschungsprojekt der Musik-Theater wird die (‚melo-dramatische‘) mal als eigene Gattung) mit Oper, Operette, Freien Universität Berlin „Das ‚Kraftwerk der Gattung Oper wohl begründet – ausge- musikalischer Dichtung verbunden … Gefühle‘. Affektausdruck und -übertragung in hend unter anderem von der These, dass • Afghanistan – mon amour – ein Theaterpar- der italienischen und französischen Oper des das wiederentdeckte griechische Theater cours des „Theaters der Migranten“ (Berlin) 19. Jahrhunderts“ (Projektleitung: Clemens möglicherweise eines mit Musik gewesen setzte den medialen Bildern von Afghanistan Risi ) wurde „vor allem diejenige Di- sches Musik-Theater: zeigend, berichtend, näherungen entgegen: An unterschiedlichen mension in den Blick genommen …, die für kommentierend, ausspielend, eingreifend in Orten in der Stadt, die bei einer gemeinsa- das Ereignis Oper als ‚Kraftwerk der Gefühle‘ Verhältnisse, verschiedene Sprachen verwen- men Busreise angesteuert werden, begegnen (Alexander Kluge), als Ort der Produktion dend … und in der Tat: wahre Kraftwerke den Zuschauern Liebeserklärungen, Tänze, und Übertragung von Gefühlen grundlegend der Gefühle … (einen kompakten Einblick Gesänge, Erinnerungen, kritische Ausein- ist: die Wirkung der Sängerdarsteller/innen in „Die Affekte als Stilmittel der barocken andersetzungen und Zukunftsgedanken in ihrer Präsenz, ihrer Virtuosität und ihrem Oper“ gibt eine Rundfunk-Sendung von von afghanisch stämmigen Menschen, die Darstellungsvermögen.“ Micaela von Marcard: „Im Zorn heftig, in Berlin leben. Auch das musik-dramatische Genre ‚Ope- in den großen Affekten hochmögend und • Oratorium in Festum Nativitatis Christi – ein rette‘ wäre geeignetes Forschungsobjekt für erhaben ...“, gesendet im Deutschlandra- Weihnachts-Oratorium von Karl Heinrich solche Fragestellungen: Die Operette als die dioKultur am 7. 8. 2012). Graun (1704–1759): dessen musikalische ‚kleine‘ Schwester der Oper. Weiter heißt • The Beggar’s Opera frei nach John Gay (der Affekt-Struktur kulturelles Gedächtnis fast es in der Darstellung des spannenden For- zu einer Zeit arbeitete, als die Gattung Oper szenisch/bildlich aktiviert und akustisch schungsprojekts: „Im Fokus steht dabei das noch jung war und singspielhafte, melo- gestaltet … Verhältnis von Planung (Strategien, Notatio- dramatische Züge aufwies). Vier Tage lang • Rico, Oskar und die Tieferschatten (nach dem nen, Anweisungen zu Affektrepräsentation und gezeigt vom ‚Theater Absurda Comica‘ in gleichnamigen Roman von Andreas Steinhö- -evozierung vor dem Hintergrund kultureller der Inszenierung von Mina Tinaburri. Vier fel) im Berliner ATZE Musiktheater: Songs Codes und Regelsysteme) und Unplanbarem Tage lang ein Theater der anti-heldischen und life-Instrumentalmusik kommentieren, (Aufführungssituation) in der Szene der Af- Buffonen, ein schräges, körper- und kos- akzentuieren, motivieren … fektübertragung, das Zusammenwirken von tümstarkes Spiel, ein Bewegungstheater auditiven (Stimme) und visuellen Möglich- mit dem Mut zur deutlichen ‚Häßlichkeit‘ Gesellschaftliche Tendenzen & „das keiten (Gesten) der Sängerdarsteller/innen (?!) und zur heutigen Wirklichkeit als Gro- musicalische Geschäffte“ sowie die wechselseitige Beeinflussung von teske: physically and politically incorrect.“ theoretischen Auseinandersetzungen mit dem (http://www.spielart-berlin.de/2012/11/05/ „Die gesellschaftlichen Tendenzen selber haben Affektbegriff, dem physiologisch-medizinischen theater-absurda-comica/). Hier nimmt sich sich im Klangmaterial reflektiert und ausgesagt, Wissen vom Körper und der Aufführungsdi- die Gattung ebenso ‚auf die Schippe‘ wie weit über die gleichbleibenden Naturtatsachen, mension von Oper im 19. Jahrhundert. (–) die thematischen Gegenstände – noch dazu auch weit über das bloß romantische Expressivo Diesem Zusammenhang von Wissen über den in einer buffonesken Fassung … hinaus. Keine Kunst ist so sehr sozial bedingt Körper und ästhetischer Codierung soll insbe- • Der Kaukasische Kreidekreis im Berliner wie die angeblich selbsttätige, gar mechanisch sondere vor dem Hintergrund der historischen Ensemble: Text von Bertolt Brecht; Musik selbstgerechte Musik …“ (Ernst Bloch, a. a. und kulturellen Variabilität von Affektmodel- von Paul Dessau (http://www.spielart-berlin. O., S. 286) lierungen und Gefühlscodes nachgegangen de/2011/04/18/der-kaukasische-kreidekreis- „Denn das musicalische Geschäffte, ob es gleich werden. Das Projekt nimmt folglich mit der am-berliner-ensemble/) – darin das Lied/ zu seinem Zwecke hauptsächlich die Anmuth Oper das künstlerische System in den Blick, der Gesang als eine künstlerische Kommu- und das Wolgefallen haben sollte; dienet doch das in ganz prominenter Weise an den Wand- nikation, eine Ansprache. So heißt es zur auch bisweilen mit seinen Dissonantzen, oder lungen der Affektmodellierungen partizipiert Aufgabenbeschreibung der Rolle des „Sän- hartlautenden Sätzen, in gewisser Maasse und mit und diese mitbestimmt und das innerhalb der gers“ Arkadi Tscheidse:„Hört nun, was die dem dazu geschickten klingenden Werckzeugen, künstlerischen Szenarien als bevorzugter und Zornige dachte, nicht sagte. Er singt:“/„Hört nicht nur etwas wiedriges und unangenehmes, wirkmächtigster Ort für die Emotionskultur was sie dachten, aber nicht sagten …“: „Der sondern gar etwas fürchterliches und entsetzliches des 19. Jahrhunderts angesehen werden kann.“ Ton spricht zugleich aus, was im Menschen vorzustellen: als woran das Gemüth auch bis- Indem die Thematik erfreulicherweise so selber noch stumm ist.“ (so der Philosoph weilen eine eigene Art der Behäglichkeit findet.“ erweitert wird, kann ich dessen Fragestellun- Ernst Bloch: „Überschreitung und intensi- (= § 79 in „Des Vollkommenen Capellmeisters gen an manch andere musik-dramatischen tätsreichste Menschwelt in der Musik“, in: Erster Theil. Welcher die wissenschafftliche Be- Formate anlegen. Ich habe einiges davon Ernst Bloch: Zur Philosophie der Musik. trachtung der zur völligen Ton-Lehre nöthigen wiedergefunden und bedacht bei (Theater-) Ausgewählt und herausgegeben von Karola Dinge begreifft.“, in: Johann Mattheson (Kom- Besuchen in letzter Zeit, z. B. bei diesen Pro- Bloch. Frankfurt am Main 1974, S. 281) ponist, Musik-Theoretiker/-Historiker): Der duktionen, die in unterschiedlicher Intensität • und die Luft macht keinen Krach – ein Chor- vollkommene Capellmeister. Hamburg 1739; in das Feld der Aufmerksamkeits-Richtungen Spiel: „Es geht um groteskes Theater und hier zitiert nach der Studienausgabe im Neusatz des Untersuchungskonzepts „Kraftwerk der feine Lieder und Arrangements, um selbst des Textes und der Noten, hrsg. von Friederike Gefühle“ passen: entwickelte rhythmische Texturen und Ge- Ramm. Kassel u. a. 2012, 3. Aufl., S. 71). 66 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Rezensionen REZENSIONEN

Franziska Schößler (2012): Einführung in tegorien Aufbau/Handlung, Figuren/Sprache, wendung der Analysekategorien exemplarisch die Dramenanalyse. Stuttgart: Metzler. 277 Raum und Zeit. Sinnvoll ergänzt wird dieser anhand ausgewählter Dramentexte (Sophokles, Seiten, mit 48 Abbildungen Einstieg um die Perspektiven der Theatertheorie Lessing, Schiller, Kleist, Kroetz, Beckett) vor. und -geschichte. Mit den Interpretationsskizzen Einzelne Stücke tauchen wiederholt auf, so et- Auch wenn der Titel anderes vermuten lässt: zu Stücken zeitgenössischer AutorInnen (Jeli- wa Hauptmanns Vor Sonnenaufgang. Dies ist Franziska Schößler hebt bereits in der Einleitung nek Totenauberg, Schlingensief Ausländer raus, didaktisch klug angelegt, da so derselbe Text zu ihrer „Einführung in die Dramenanalyse“ Hübner Das Herz eines Boxers) löst Schößler unter verschiedenen Aspekten analysierend und die besondere Bedeutung des Mediums Thea- am ehesten ein, was die Einleitung verspricht: deutend betrachtet und den Studierenden die ter für die Analyse dramatischer Texte hervor. die Berücksichtigung aufführungsanalytischer Komplexität der Dramenanalyse deutlich wird. Sie betont, dass ihre Einführung zwar primär Aspekte in ihrer Bedeutsamkeit für die Analyse Für die theaterpädagogische Arbeit erweisen literaturwissenschaftlich angelegt sei, verspricht und Interpretation eines Dramas. sich insbesondere die Fragenkataloge, die sich jedoch das Wissen von Literatur- und Theater- Generell knüpft Schößler in ihrer „Einführung am Ende eines jeden Kapitels finden, für die wissenschaft „nicht unverbunden nebeneinander“ in die Dramenanalyse“ an die Aspekte der Sze- Annäherung an einen dramatischen Text als stehen zu lassen, sondern „Anknüpfungspunkte, nen- und Dramenanalyse an, die Studierende wertvoll. Mithilfe dieser Fragen werden Schü- Parallelen und Gemeinsamkeiten“ zu profilieren. aus einem eher gattungstheoretisch orientier- lerInnen und Studierende unterstützend dabei In den ersten Kapiteln folgt dann allerdings ten Deutschunterricht kennen, und erklärt begleitet, sich eine Dramenanalyse selbstständig doch zunächst eine literaturwissenschaftliche diese verständlich und auf anschauliche Weise. zu erarbeiten. Dies kann wichtige Impulse lie- Annäherung an den Dramentext. Ausgehend von Die graphisch hervorgehobenen Definitionen fern auch für eine Theaterpädagogik, die von einer definitorischen Abgrenzung des Dramas bieten Orientierung und fassen Wesentliches einer genauen Analyse des Textes ausgeht und zu den anderen Gattungen und der Klärung knapp zusammen. Textauszüge und Interpre- zu einer eigenen szenischen Lesart auf der Büh- der Grundbegriffe Tragödie und Komödie folgt tationsansätze veranschaulichen das theoretisch ne führt. Jüngere dramendidaktische Ansätze der Einführungsband den zentralen Analyseka- Dargestellte und führen die praktische An- dagegen bleiben in dieser Einführung unbe-

Thea ter HIGHLIGHTS WERKSTATTKURSE

VON DER IMPROVISATION ZU ROLLE, SZENE, MITSPIEL METHODIK UND DIDAKTIK IN DER THEATERPÄDAGOGIK Umfassende berufsbegleitende Einführung in die Werkstattkurs mit Gitta Martens » 17.06. – 21.06.2013 Grundlagen der Theaterpädagogik in vier Kursphasen Beginn » 17.06. – 21.06.2013 VOM SPIELEN ZUM SCHREIBEN, VOM SCHREIBEN ZUM SPIELEN Leitung: Ilil Land-Boss. MA Theaterwissenschaft, Werkstattkurs mit Schauspielpädagoge und Autor Thomas Aye Schauspielerin und Regisseurin, Theaterpädagogin » 01.07. – 05.07.2013 und Theatertherapeutin (DGfT) KINDER SPIELEN THEATER – THEATERSPIELEN MIT KINDERN Theaterpädagogische Ansätze für die Arbeit mit Kindern ab 3 Jahren RHYTHMIK – TEXT – THEATER Werkstattkurs mit Theaterpädagogin Prof. Dr. Romi Domkowsky Rhythmisch-musikalische Grundlagen der Theaterarbeit » 16.09. – 20.09.2013 Berufsbegleitende Fortbildung in fünf Kursphasen Beginn » 11.11. – 15.11.2013 REGIEFORMEN DES GRUPPENTHEATERS Leitung: Gitta Martens (Theater) und unter den Aspekten: Körpertheater und Interkulturalität – Werkstattkurs Barbara Schultze (Rhythmik) mit Regisseurin Kordula Lobeck de Fabris » 21.10. – 25.10.2013

Akademie Remscheid │ Küppelstein 34 │ 42857 Remscheid │ 02191/794-0 │ [email protected] │ www.akademieremscheid.de Rezensionen 67

Rezensionen rücksichtigt; die Ausführungen zum Schultheater von Westphal eine logische Weiterführung ihrer Marc Geißler/Hanne Meister). Erwähnens- sowie Kinder- und Jugendtheater sind auf eine Antologie „Orte des Lernens. Beiträge zu einer wert ist zudem, dass der Theatermensch Willi Bestandsaufnahme beschränkt. Pädagogik des Raumes“ (Juventa) aus dem Jahr Praml, der als Mitbegründer der Theaterpäd- Die konkreten Textauszüge und Interpretati- 2007; bereits hier sind vereinzelt Perspektiven agogik einen entscheidenden Platz im Band onsskizzen sind an dieser „Einführung in die aus den kunstorientierten Disziplinen integ- „Generationen im Gespräch I, Archäologie der Dramenanalyse“ als positiv hervorzuheben. riert. Nun geht es aus praxeologischer Sicht Theaterpädagogik“ (hrsg. v. Streisand, Mari- Gelungen sind auch die Fragenkataloge, welche noch ausführlicher und dezidierter um die anne et al., Schibri 2005) erhalten hat, hier zu die LeserInnen zu einer selbständigen Dramen- Kunst und die Konstitution/Konstruktion von Recht mit seiner Arbeit in/an der NaXoshalle analyse anzuleiten vermögen. Doch auch wenn künstlerischen Bildungsräumen. (Frankfurt/M.) in einem Artikel von Wolfgang Aspekte der Inszenierung und Aufführung lite- Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil Schneider und einem Interview mit Kristin rarischer Texte an einigen Stellen berücksichtigt („Räume denken“) geht es um das Ausarbeiten Westphal bekannt gemacht wird. werden, so wird deutlich, dass diese Einführung von Begriffen, die das Nachdenken über Thea- Wer gezielt nach raumtheoretischen Begrifflich- dem dramatischen Text verpflichtet ist. Aus ter/Räume als Erfahrungs- und Bildungsräume keiten/Diskursen in einer systematisierenden didaktischer Sicht wäre hinsichtlich des Auf- konturieren. Mit Jens Roselt beginnt man, sich Aufbereitung sucht, wird in der Anthologie baus des Bandes ein induktives Vorgehen, das aus der Zuschauer_innenperspektive im Thea- vielleicht manche Schwerpunktsetzung ver- von der exemplarischen Analyse eines Stückes ter als „Souverän der Wahrnehmung in Frage missen. Ich denke hier an mediale Räume, ausgehend zu einzelnen Analysekategorien und zu stellen“, mit Leopold Klepacki denkt man Lebensräume, Bildungslandschaften, Land- theoretischen Hintergründen führt, grundsätz- als Theaterpädagog_in über den vermeintlich Art, Ortsspezifisches Theater, das Theorem lich sinnvoller gewesen. Zudem böte ein solches „leeren Raum“ und sein „Hintergrundrauschen“ des Spacings oder den sog. Spatial Turn, Ima- Vorgehen den Vorteil, dass die individuellen nach, um sich schließlich mit Gerd Koch in ginations-, Zeit- und Körperräume (usf.). In Erfahrungen der Rezipienten im Verlauf der einem umfassenden Blick weltpolitischer „Kos- den Überschriften der Beiträge findet man Lektüre und/oder Aufführung des dramati- mobilität“ in einen „Ortswechsel im Denken“ diese Stichworte nicht; enthalten und berührt schen Textes einbezogen werden könnten. So zu üben. Im zweiten Teil geht es um die „Büh- sind die mit ihnen verbundenen Diskurse aber bleibt Schößlers Band eine solide Einführung ne als Verhandlungsraum“ (ein Aufsatz von A. durchaus in den einzelnen Texten. in die Dramenanalyse aus literaturwissenschaft- Matzke) und die Erforschung von Bildungs- Für am Thema Raum interessierte Theaterpäda- licher Perspektive, die neuere theaterästhetische räumen (fünf weitere Artikel). Der dritte Teil gog_innen sei abschließend erwähnt, dass aktuell Theorien zwar nicht vernachlässigt, aber das ist mit „Unterbrechungen“ überschrieben, der weitere Publikationen den Markt bereichern, Versprechen, „Anknüpfungspunkte, Parallelen Titel des Sammelbandes wird hier zum Pro- die für die Reflexion/Inspiration der eigenen und Gemeinsamkeiten“ von Literatur- und gramm: Acht Beiträge reflektieren Verfahren Raumpraxis interessant sein könnten – so zum Theaterwissenschaft zu profilieren, nicht zu- der Raumbildung – weniger aus wissenschaft- Beispiel Benjamin Wihstutz (2012): Der andere friedenstellend einlöst. licher, sondern verstärkt aus künstlerischer Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Perspektive. Der Band ist in diesem Sinne in Gegenwartstheater, Zürich: Diaphanes und Giese, Wiebke Dannecker besonderem Maße inspirierend für Theater- Nadine et al (Hg.) (2013): Sozialrauminszenie- Pädagogik-Praktiker_innen, die Denkanlässe rung, Lingener Reihe zur Theaterpädagogik Bd. für ein raumtheoretisches Nachdenken suchen, 11, Berlin: Schibri. Ein Zusammendenken der Kristin Westphal (Hg.) (2012): Räume der um die eigene, eingeschliffenen Arbeitspraxis Werke kann spannend sein. Eines steht aber Unterbrechung. Theater Performance Päda- zu unterbrechen. Bei der Suche nach bzw. dem jetzt schon fest: Zur wissenschaftliche Reflexion gogik. Oberhausen: Athena 2012, 340 Seiten Markieren von Unterbrechungen gewohnter theaterpädagogischer Raumkunst gehört die von Wahrnehmungsweisen folgt man ganz unter- Kristin Westphal herausgegebene Anthologie Ein zentrales Anliegen der theaterpädagogi- schiedlichen Blickwinkeln der Autor_innen. von nun an fundamental dazu. schen Forschung ist es, die mit dem Theater Die Raumerfahrung wird teilweise aus der Pu- verbundene ästhetische Erfahrung bildungs- blikumsperspektive betrachtet, teilweise aus der Norma Köhler theoretisch zu fassen. Die Anthologie von Theatermacher_innenperspektive. Teilweise wird Kristin Westphal leistet hierzu einen wichtigen aus der Anleitungsperspektive das Potenzial für Beitrag – insbesondere dadurch, dass sie den das theaterpädagogische Klientel thematisiert Christoph Nix, Dietmar Sachser, Marianne in der Theoriebildung sonst oft eng geführten oder es werden die Produktionsbedingungen Streisand (Hg.) (2012): Theaterpädagogik, Blick weitet. Die Herausgeberin setzt bei der akzentuiert. In dieser mehrdimensionalen Politik Lektionen 5, Berlin, Verlag Theater der Zeit, Phänomenologie der Räumlichkeit an, die in des Sehens kommen zudem ganz unterschiedliche 311 Seiten jeder alltäglichen und theatralen Situation ei- Theaterästhetiken und -stile kaleidoskopartig nen wichtigen Faktor darstellt. Ein zentraler in den Blick – wobei die Postdramatik als ak- Als Erstes kam der Band „Dramaturgie“ (Lektion Gedanke ist: „Wir entwerfen uns nicht nur auf tuelles Verständnis von Theater hervorsticht. 1), dann „Regie“ (Lektion 2), dann „Schauspie- die Welt hin durch Körper, Bewegung, Stimme Das beschriebene Theater ereignet sich dabei len/Theorie“ (Lektion 3), dann „Schauspielen/ und Architektur, sondern umgekehrt mutet der zudem an unterschiedlichsten physikalischen Ausbildung“ (Lektion 4). Jetzt also, mit Ablauf Raum auch an, macht uns betroffen; er ergreift Räumen: Schule, Hochschule, Theater, öffent- des Jahres 2012, sind die Lektionen 5 unter dem uns einerseits und fordert uns andererseits zu licher Raum, Kloster, Gefängnis (etc.). Titel „Theaterpädagogik“ erschienen. Auf 311 etwas auf oder auch nicht. Wo wenn nicht im Eine Überraschung mag vielleicht sein: Es werden Seiten versammeln die Herausgeber eine Vielzahl Theater lassen sich diese Erfahrungen in be- in dieser Anthologie auch diejenigen fündig, die von Aufsätzen, Gesprächen und Informationen sonders vielfältiger Weise auf verschiedenen sich dezidiert mit Zusammenhängen von The- zu einem breiten Wissensspektrum des Faches Ebenen machen?“ (S. 9) aterpädagogik und Biografie (Wiebke Lohfeld) Theaterpädagogik und seiner Arbeitsfelder. Die Das Buch bricht bewusst die Grenzen zwi- oder Interkulturalität (Jonas Kern) beschäftigen. vorliegende Ausgabe zeichnet Phänomene der schen den wissenschaftlichen Disziplinen Anschlussfähig ist sie auch für diejenigen, die Praxis, Theorie und Genese des Faches nach. Theater und Pädagogik. Es begegnen sich sich mit der Transdisziplinarität der Künste Erstaunlich heterogen stehen hier beispielsweise Theaterwissenschaftler_innen, Erziehungs- (Musik, Tanz) oder zielgruppenspezifischer politischen Diskurse neben ästhetischen und wissenschaftler_innen, Pädagog_innen und Arbeit beschäftigen (Kinder: Andrea Bram- methodischen Anlässen des Theatermachens. Raum-Künstler_innen. Damit ist der Band berger, Susanne Schittler; Gefängnisinsassen: Der Band spiegelt sorgfältig zusammengestell- 68 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Rezensionen te Zugänge zum Fach und seinen Teilgebieten umgekehrt); anschließend Ulrike Henschels den wurden. Zu nennen wären hier das Theater wider. Sie zeigen Paradigmendiskussionen, Diskussionsbeitrag zur Wirkungsforschung mit Strafgefangenen, eine Forschungsarbeit methodisch-didaktische Ansätze, politisch- („soziale Transfereffekte ästhetischer Bildung von Sandra Anklam (Theaterpädagogin am soziale Arbeitsweisen, therapeutische Zugänge, lassen sich nur bedingt nachweisen“) – und Schauspielhaus Bochum) oder das Gespräch Begriffsgenesen der Theaterpädagogik, systemi- am Schluss dieses Teils liest man Ute Pinkerts von Nicole Gronemeyer mit Armando Punzo sche Forschungsansätze, historische Ableitungen Analysen materialbasierter Arbeitsformen der und seiner doppeldeutigen Formel „auch das und zeigen so ein ungeahnt vielschichtiges Bild Theaterpädagogik. Theater kann zum Gefängnis werden“ oder die heutiger Theaterpädagogik. Der zweite Teil bringt Diskussionsbeiträge aus Auseinandersetzung des Theaters, der Theater- Die Lektüre dieses Buches wird da besonders der Fachpraxis und stellt Methoden und Fachter- pädagogik mit Methoden der Therapie, sowohl spannend, wo sich terminologisch Grundla- mini zur Diskussion. Am Anfang steht Dietmar ambulant wie stationär. Dieter Kraft schreibt: gen des Faches auf neue Weise erschließen. Sachsers Untersuchung zum Theaterspielflow „Das Heilsame der Theatralität liegt nicht in Da sitzt man im Zwiegespräch zwischen den als ein künstlerischer Gestaltungsmodus, dann den Aktivitäten selbst, sondern im Sinn, der Autoren und Autorinnen und ist fasziniert, der Beitrag Gert Kochs und Joachim Wond- sich aus ihnen erschließt.“ Nobert Knitsch for- was dieses Fach Theaterpädagogik mittlerweile raks, Theater in sozialen Feldern, der Teilhabe muliert in seinem Beitrag, das Theater sei eine seit seinem Bestehen in den sechziger Jahren aller am Prozess im Gegensatz zur künstleri- Schule zur Mentalisierungsfähigkeit. anbietet. Die Direktheit mancher Diskussi- schen Selbstbildung verdeutlichen will. Dann Theaterpädagogik – wo und wie wirkt sie in onsbeiträge lädt gleichermaßen zum Zuspruch folgt Hajo Kurzenbergers Abschaffung des die Öffentlichkeit, in den öffentlichen Raum und Widerspruch ein. Dabei denkt man sich Spielleiters, weil das neue Theater ein originär hinein? „Interest me! – Das Theater der Gegen- beim Durcharbeiten der Aufsätze: Wo kann kollektiver Arbeitsprozess ist. Nachfolgend ein wart ist ein Theater der Wahrnehmung und der Theaterpädagogik eigentlich nicht eingesetzt Plädoyer für eine sich rhizomatisch wendende Mitteilung, das macht es für die Öffentlich- werden? Eine Quersumme der Ansätze, Pra- theaterpädagogische Didaktik durch Mira Sack. keit interessant“, schreibt Thomas Lang dazu. xisdarstellungen und Methoden sind folglich Die Begegnung unterschiedlicher Akteure mit Wolfgang Sting beschäftigt mich mit einem in diesem Kompendium nicht auszumachen. unterschiedlichen Lernweisen. wesentlichen Lernprinzip der Theaterpädagogik, Das ist auch nicht nötig, denn das Buch ist ein Es folgen Beiträge, die explizit demonstrieren, der Interkulturalität. Das bedeutet für ihn ein einziger vielstimmiger Aufruf zum vehementen in welche Richtung sich Theaterpädagogik Lernen von befremdlichen Erfahrungen und das Gebrauch der Theaterpädagogik als Praxis und erstrecken kann und aus welchen Zusammen- Zeigen des Eigenen „als positive Kraft“. Wenn angewandte Wissenschaft. hängen sie ihre Praxen zieht. Reiner Steinweg man Maren Schmidt richtig versteht, so stellt Möglicherweise ist den Herausgebern hier ein beispielsweise beschreibt den Umgang mit sich das Verhältnis von Kirche und Theater Standardwerk der Theaterpädagogik geglückt. Brechts Lehrstück als Arbeitsmittel in der Frie- bisweilen brüchig dar, durchaus mit Lust am Das wird sich in Zukunft erweisen. In jedem densforschung, Kristin Wardetzky untersucht Konflikt. Es handele sich, so verdeutlicht sie dem Aufsatz finden sich Schlüsselidiome zum weiteren aktuelle Möglichkeiten des Erzähltheater als ein Leser, eben um zwei unterschiedliche Weisen der Nachforschen. Es lohnt also der Quereinstieg. Fortschreiben des kollektiven Gedächtnisses. Reflexion von Wirklichkeit. Royston Maldoom Die vielen Beschreibungen sind zumeist phä- Das biografische Theater im Beitrag von Nor- im Gespräch mit Dietmar Sachser sagt: „Ver- nomenologisch erörtert, kurz gehalten und ma Köhler ist Bearbeitung von Erfahrung, ist steck dich nicht und habe Vergnügen an dem, gestatten in den Kapiteln eine zügige Orientie- ästhetische Bildung. Marie-Luise Lange spricht was du tust. Ohne Aufführung geht es nicht.“ rung zu Begriffen, Ansätzen, Theoremen und über site specific, das als performativer Arbeits- Ein weiteres Gespräch führte Sachser mit Gisela Praxen der Autoren und Autorinnen. ansatz letztendlich zwischen Aufführungskunst Höhne, Schauspielerin, Theaterwissenschaftlerin Es gelingt den Herausgebern verständlich und und kommunikativen Prozessen agiert. und langjährige Leiterin des „total verrückten nachvollziehbar zu erklären, dass sich aus dem Der dritte Teil beschreibt Arbeitsfelder der Theaters Ramba Zamba“ in Berlin. Mit zwei anfänglichen Schulspiel und der reformpäda- Theaterpädagogik. Hier finden sich Essays, unterschiedlichen Praxisbeispielen soll diese gogischen Bewegungen (Mirbts/Luserkes) eine Gespräche, Arbeitsweisen- und bedingungen kleine, kaum vollständige Übersicht schließen: moderne wissenschaftliche Fachdisziplin ent- aus unterschiedlichen Bereichen. Gerd Taube Ute Karl beschreibt in ihrem Beitrag einen be- wickelte. Es ist die Summe vieler Teile, die den beleuchtet u. a. Methoden und Erscheinungs- sonderen Arbeitsansatz des Altentheaters und Zweiklang, das Binom Theater und Pädagogik formen eines sog. partizipativen Jugendtheaters, das Theatermachen mit Demenzkranken. Neu entstehen und begründen lässt. Das macht diese Uta Plate (Schaubühne Berlin) überschreibt ihr entwickelte Techniken, Inhalt und Spielwei- Ausgabe auf sehr lesenswerte Weise klar. Der Interview: „Es kann nicht nur um Inhalt gehen. sen sind für sie zukunftsweisende Formen des Verlag führt die Lektionen nach eigenen Worten Inhalt existiert nicht pur“. Der darauf folgen- Theaters mit alten Menschen. Schließlich Eva als ein Vademekum für breite Leserschichten de Beitrag zur kommunalen Theaterpädagogik Renvert, die ihren besonderen Forschungsansatz aus dem Interessenspektrum Theater ein. Es zwischen Jugendhilfe und Kunst stammt von über die Wirkungsweise theatraler Intervention sollen renommierte VertreterInnen des Faches Kerstin Deiber und Sarit Streicher (Junges The- in Organisationen wie Wirtschaftsunternehmen zu Wort kommen. Man möge mir nachsehen, ater Konstanz). Ole Hruschka beschäftigt sich vorstellt. Die Teilnehmer in diesen Prozes- dass ich in diesem Rahmen nicht jeden Beitrag mit dem institutionellen Lernfeld der Schule sen erfahren durch die theaterpädagogische ausführlich behandeln werde. („mittels des Theaters künstlerische Lernfelder Arbeitsweise eine Art Perspektivwechsel und Im ersten Teil befinden sich gleich sechs Beiträge in der Schule entwickeln“) und Maik Walter können so Alternativen zu ihrer betrieblichen zur Theorie, Geschichte und Konzeptionierung. weist darauf hin, dass die Theaterpädagogik be- Situation erkennen. Zunächst Marianne Streisands rhizomatisch reits Spuren in der Fremdsprachenvermittlung Der vierte Teil schließlich hält im Appendix geprägte Begriffsgenese, eine vielschichtige hinterlassen hat. Nicht fehlen durfte auch der Adressen von Ausbildungsstätten vor sowie wei- Darstellung von Ursprüngen, Wirkungen und Artikel von Katharina Kolar zum Theater in der terführende Literaturhinweise. Eine besondere Manifesten, gefolgt durch Manfred Jahnkes Lehrlingsausbildung, das in den 70iger Jahren des Liste von Fachmagazinen, Fachzeitschriften und Abriss der Geschichte des Laientheaters seit vergangenen Jahrhunderts seine Blütezeit hatte. Periodika gibt es leider nicht. Der Band bietet dem 400 Jahrhundert, dann Christoph Nix’ Zu den eher „traditionellen“ Theaterpädago- Studierenden, Dozenten und Praktikern aus Plädoyer aus dem Geiste Paolo Freires „für eine giken gesellen sich weitere spannende neue vielen Teilbereichen des Faches eine Fülle an Theaterpädagogik der Skepsis“ sowie Florian Arbeitsfelder, die im Praxisdiskurs der letzten Wissen und Diskussionsthemen. Vaßens Beschreibungen und Forschungen zu 10 Jahre nur am Rande eine Rolle spielten, Übergängen von Pädagogik zu Theater (und schließlich aber doch zu Forschungsgegenstän- Andreas Poppe Rezensionen 69

Rezensionen

Mona-Sabine Meis, Georg-Achim Mies (Hg.) den Künsten (vgl. S. 69 f.). Diese Liste zeigt KORRESPONDENZEN: Zeitschrift für (2012): Künstlerisch-ästhetische Methoden in – noch – deutlich die Verhaftetheit solcher Theaterpädagogik, Heft 41, 2002, S. 25 ff.). der Sozialen Arbeit. Kunst, Musik, Theater, Kategorien an institutionalisierter Erziehung/ Der hier vorgestellte – und sehr zu empfeh- Tanz und Neue Medien. Stuttgart, 224 Seiten schulischer Bildung. Soziale Arbeit als eine lende – Band spricht seine Leserschaft an, (gesellschafts-politische) Praxis und (beruflich- bezieht sie als selbstbewusste Mitproduzentin Der von Meis und Mies vorgelegte Band geht als professionelle) Poiesis (also als ein Machen, ein (der Reihenherausgeber Rudolf Bieker Gesamtunternehmen systematisch und exemp- Schaffen, als Handwerklichkeit) wäre aber auch bietet gemeinsam mit den Autor_innen eine larisch vor – was sich zeigt durch die Trennung zu betrachten unter ästhetischen wie aistheti- Kontakt-Möglichkeit: Rudolf.Bieker@netco- in einen ersten Teil, der auf 62 Seiten „Allge- schen (also sinnlich-wahrnehmungsbezogenen) logne.de). Kolleginnen/Kollegen, die im hier meine Grundlagen der künstlerisch-ästhetischen Aufmerksamkeitsrichtungen: denn auch dort, verhandelten Arbeitsbereich tätig sind, haben Praxis in der Sozialen Arbeit“ (Autorin: Mona- wo nicht dezidiert von künstlerisch-ästhetischen sich zu einem „Bundesarbeitskreis Kunst – Sabine Meis) liefert, und in einen zweiten Teil Methoden (also: Wegen) gesprochen wird, Ästhetik – Medien“ (BAKÄM) von zumeist über künstlerisch-mediale Exempel: Bildende werden sie gleichwohl – by the way/informell Lehrenden an Fachbereichen des Sozialwesens Kunst (Meis), digitale Medien (Hoffmann), mitlaufend – begangen, so dass professionell be- zusammengeschlossen. Tanz (Behrens, Tiedt), Theater (Mies) und triebene Kunst und Medienarbeit hier andocken Musik (Hartogh, Wickel) – und auch in diesen kann. Und auch das Umgekehrte stimmt: denn Gerd Koch Beispielen betten die Praxis-Berichterstatter ihr dort, wo in den Künsten nicht vom Sozialen Tun in Legitimations- und Forschungsdiskurse gesprochen wird, ist es gleichwohl vorhanden ein. Dadurch wird einer Gefahr entgangen, die und bietet einen Punkt, an dem Verknüpfung Werner Hecht (2012): Kleine Brecht-Chro- beim Vorstellen und Zeigen von Methoden leicht geschehen kann (siehe auch Gerd Koch: The- nik. Basiswissen über sein Leben und Werk. eintritt, dass sie nämlich ent-kontextualisiert ater: autonom und sozial. In: scenario, S. 10 Hamburg, 288 Seiten (bebildert) werden. Erfreulicherweise führt Meis in ihren ff. < http://publish.ucc.ie/scenario/2012/01/ „Grundlagen“ schon ausführlich ein in das be- koch/02/de >) Meine These/Konklusion: Wenn Werner Hecht hat auf vielfältige Weise zu griffliche wie praktische Bedingungsgefüge von Kunst/Ästhetik und Soziale Arbeit einander Bertolt Brecht gearbeitet: Von Helene Weigel „Didaktik und Methodik“ (S. 56 ff.) und macht selbstbewusst begegnen, dann verändern sie wurde er 1959 zur Mitarbeit an Dramaturgie z. B. deutlich, wie wichtig es ist zu wissen, ob sich und bleiben zugleich starke Subjekte und und Regie ans Berliner Ensemble (BE) berufen; man sich auf einer Makro-, Meso- oder Mikro- sind nicht auf hierarchisierten Relevanz- und er wirkte dort bis 1974 – und hat sich unter Ebene des methodischen Handelns befindet (S. Legitimationsskalen angesiedelt. anderem um die Publikumsarbeit des BE ver- 59 ff.): das ist für Implementation, Feinplanung dient gemacht (auch das eine ‚Vor‘-Form von und Projekt-Darstellung (und Verteidigung!) Nicht nur an einem theaterpädagogischen Ex- Theaterpädagogik); 1976–1990 war er Leiter gegenüber Dritten ebenso wichtig wie für die empel, das Mies (S. 177 ff.) liefert, wird dies des Brecht-Zentrums der DDR, das sich na- begleitende und/oder nachträgliche Reflexion deutlich: Eine wahrlich nicht gerade exzeptio- mentlich durch internationale, dialogische des Tuns (z. B. wenn „Wirksamkeitsdialoge“ nelle Thematik, nämlich die Aufführung eines Brecht-Tage auszeichnete – im damals zum geführt werden oder wenn ein Forschungs- Krippenspiels, wird vorgestellt – aber mittels Brecht-Zentrum gehörenden Kellerrestau- Design entwickelt werden soll). des pädagogischen Konzepts des Autors Mies: rant im Brecht-Haus, was noch heute besteht, Solche versierten Blicke sind ferner wichtig, „Haltung der Leitung: teilnehmerzentriert … setzten sich die Debatten intensiv fort (vgl. Il- da das Handlungsfeld von Sozialer Arbeit und Offenes Projekt … wenn Experimentieren, gonetti Wachlochi: Ein unbekannter Brecht, Kunst/Ästhetik (zum Glück!) multi-valent ist Selbstentdecken und Spiel im Vordergrund in: KORRESPONDENZEN. Zeitschrift für und multi-persketivisch ausgerichtet ist – das stehen. Der Leiter ist eher ‚Leerer‘ als ‚Lehrer‘“ Theaterpädagogik, Heft 19/20/21, S. 106 zeigt sich nicht nur an den Beispielen im zweiten (S. 184). Mies bezieht sich hier methodisch f.). Am 26. Oktober 1988: Ehrenpromotion Teil dieses Buches, sondern auch bei der Be- unter anderem auf den Maler, Bühnenbildner von Werner Hecht zum Dr. phil. h. c. an der antwortung, wie denn dieses Feld professionell und (Gebrauchs-)Grafiker Willi Baumeister, der Pädagogischen Hochschule „Ernst Schneller“ benannt werden soll oder kann: Das Angebot in seinem Buch „Das unbekannte Kunstwerk“ Zwickau – sehr passend, weil nämlich dort jah- reicht von Ästhetische Praxis über Gestaltungspä- (1947) nahe legt, mindestens zweierlei für das relang eine pädagogische Arbeitsstelle Bertolt dagogik bis zu den Begriffen Soziale Kulturarbeit Gelingen eines schöpferischen Gestaltungspro- Brecht beheimatet war, die von Prof. Dr. Jo- und Kulturelle Sozialarbeit (vgl. S. 9). zesses zu tun: a) am Anfang als Antriebs-Reiz hannes Goldhahn geleitet wurde. Er war 1957 Eine richtigerweise mehrfach herangezogene eine Zielsetzung zu haben, von der man weiß, Mitbegründer der ersten Brecht-Schule in der empirische Untersuchung von Marquardt und dass sie eine ‚Scheinziel-Setzung‘ ist; denn DDR, und sein Buch zu „Vergnügungen unse- Krieger zu „Potenziale(n) Ästhetischer Praxis in (b) der Werk-Fortgang macht einige/eigene res Zeitalters. Bertolt Brecht über Wirkungen der Sozialen Arbeit“ (2007; siehe die Rezension Sprünge, loopings, die man aber eben nur be- künstlerischer Literatur“, das 1977 entstand, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik, Heft 50, merkt, weil man eine anfängliche Ziel-Angabe erschien als Band 1 der Brecht-Studien im 2007, S. 77 f.) hat grundlegend und hervorragend (!) hatte, so dass „künstlerische Formfindung Brecht-Zentrum der DDR. vorgearbeitet und gezeigt, dass Polaritäten zu oder wissenschaftliche Entdeckungen oder Das Obige nur, um den Kontext zu skizzieren, beobachten sind bei der Entfaltung des Hand- neue Erkenntnisse“ (S. 185) Platz greifen in dem das hier angezeigte und sehr zu emp- lungsfeldes: etwa von der ästhetisch-aisthetischen können – das ähnelt strukturell einem devi- fehlende Basiswissen-Buch von Werner Hecht hin zur ästhetisch-medialen Dimension oder sing theatre/einer devising performance – und steht. Noch deutlicher und wertvoll für die zwischen (quasi) autonom zu (quasi) sozial. wenn Mies empfiehlt, der anleitende ‚Lehrer‘ theaterpädagogische Arbeit aber zeigt sich Wer- Anne Bramford hat im Auftrag der UNESCO solle ein ‚leerer‘ Anleiter/Begleiter sein, dann ner Hecht als Herausgeber der verdienstvollen acht Kategorien destilliert, die international zur schimmert hier die künstlerisch-aisthetische „Materialien“-Taschenbücher zu Brecht-Stücken, Begründung künstlerisch-ästhetischer Bildung Aufnahmebereitschaft als wichtiger Aspekt die in der „edition suhrkamp“ von ihm seit herangezogen werden (können): technokrati- im Professionsprofil eines Theater-Lee/hrers 1963 herausgegeben wurden (etwa zum „Ga- sche Kunst, Kinderkunst, Kunst als Ausdruck, durch (und eine Lee/hre in Anlehnung an lilei“, zur „Mutter Courage“, zur „Mutter“, zur Kunst als Erkenntnis, Kunst als symbolische Zen-Buddhismus? Einen weiteren Akzent set- „Antigone“, zum „Kaukasischen Kreidekreis“). Kommunikation, Kunst als kultureller Ak- zend siehe: G.-A. Mies: Was könnte im Falle Ebenfalls in der „edition suhrkamp“ erschien teur, Postmodernismus (?) und Erziehung zu von Theater-Machen am Text hängen? In: „Brecht im Gespräch. Diskussionen, Dialoge, 70 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Rezensionen

Interviews“ (1975) – ein Büchlein, wie gemacht Theatermenschen und Poeten: „Ich studierte Schreib-Raum, der durch unterschiedliche zur lebendigen Einführung in den Brechtschen …/Alles … übergab ich dem Staunen/Selbst Schreibweisen und -formate gefüllt werden darf. Theateransatz. Zum Biografischen legte Wer- das Vertrauteste“ – heißt es in Bertolt Brechts Präsenz und Schrift machen Theater auch zu ner Hecht 2007 „Brechts Leben in schwierigen „Lied des Stückeschreibers“ von 1935. einem publizistischen Unternehmen (siehe Hel- Zeiten“ vor: Darin werden vornehmlich, wie mut Schanze: Mediengeschichte des Theaters) es im Untertitel heißt, „Geschichten“ geliefert. Gerd Koch – zu einer speziellen Art von Zeitung, wobei Daten, Fakten en détail bietet Werner Hechts Zeitung nicht nur Tagespresse, sondern auch „Brecht Chronik 1898–1956“ (1997, 1315 S.) Zeitschriften und aktuelle Mitteilungen/Be- nebst „Ergänzungen“ (2007). richtsweisen/Kommentare schlechthin – auch Für den (nicht nur theater-)praktischen Richard Blank (2011): Drehbuch. Alles auf novelas, Novitäten (wie es bei den Madrigalis- Gebrauch liegt nun von Werner Hecht Anfang. Abschied von der klassischen Dra- ten des 16. Jh. hieß: audite nova! Siehe auch dankenswerterweise eine handliche „Kleine maturgie. Berlin, Köln, 173 Seiten für stilistische Variationsbreite Cervantes‘ Don Brecht-Chronik … über Leben und Werk die- Quijote). Und ich sehe Publizistik im Sinne ses großen Dichters des 20. Jahrhunderts vor; Der Filmemacher und Drehbuchautor Richard von Brechts „Keuner“: „Herr Keuner sagte: sie vermittelt Einblicke in die Zeitgeschichte, Blank empfiehlt ein komponierendes, kombinie- ‚Ich bin ein größerer Gegner der Zeitungen: die sich sowohl auf die Lebens- wie Werk- rendes, kontrast-montierendes/collagierendes, ich will andere Zeitungen‘„ … oder wie es der geschichte entscheidend ausgewirkt hat. In bewegliches und räumliches Schreiben wie beim Presse-Wissenschaftler Lutz Hachmeister in einer Übersichtstafel werden Zeitabschnitte Herstellen eines „kubistische(n) Gemälde(s). der taz vom 19.11.2012 skizzierte: „Eine der überschaubar dargestellt“ (S. 9). Der Leser/ Ein Gegenstand, der, aus unterschiedlichen größten Errungenschaften der bürgerlichen die Leserin erfährt die Namen von Mitarbei- Blickwinkeln, in verschiedenen Zeiten gesehen, Aufklärung ist der Journalismus, der sich durch ter_innen und Freund_innen; es werden sogar in einzelne Teile zerlegt und zusammengesetzt redaktionelle Kommunikation stimuliert und Brechts „längere Reisen“ (S. 254 f.) angeführt; als ein Bild erscheint. Und dieses eine Bild er- gegenseitig überprüft.“ Und auch ein Bezug auf auf den Randspalten der Buchseiten sind die weckt bei den vielen Teilen nie den Eindruck Walter Benjamin, Ernst Bloch, Sergej Tretjakow wichtigen Stichworte ausgeworfen, so dass ein von Beliebigkeit.“ (S. 113) – Solche Anregung ist möglich: sie präferierten eine Art prismati- leichtes Benutzen durchgängig gewährleistet ist, korrespondiert mit Brechtschen theatralen, scher, kubistischer, panoramischer, filmischer um „einen Eindruck (zu) vermitteln vom Le- „stereometrischen“ (A. Wirth) Schreib- und und collage- sowie montagehafter Schreib- und ben und Werk dieses Genies, das in Augsburg Arbeitsweisen und es ist ein szenisches, räum- Zeigeweise (vgl. Richard Faber: Der Collage- und München die Generalprobe für die frühe liches Schreiben – hier unter den Aspekten Essay bei Walter Benjamin; Heinrich Henel: Premiere in der Hauptstadt Berlin ablegte und des Kreativen Schreibens auch metaphorisch Szenisches und panoramisches Theater). Theater bestand.“ (S. 7.) Wir erkennen Bert Brecht als genommen: als kaleidoskopischen, prismati- ist wie jedes publizistische Unternehmen auf kritisch, diskursiv arbeitenden Stückeschreiber, schen, mehrperspektivischen, also kreativen wahrnehmende Mit-Produzenten angewiesen

Bildungswerk für Theater und Kultur

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Fortbildung Clownerie 2013-2014 Einführungskurs Der Clown – ein naiver Held „Das Arbeitsfeld des Klinikclowns“

Dieses Fortbildungsangebot richtet sich an alle, die sich einen An drei Wochenenden bieten wir Ihnen einen Einblick in die tieferen Einblick in die Welt eines, bzw. ihres Clowns wünschen. Arbeitswelt des Klinikclowns. Im Gegensatz zum Bühnenclown arbeitet der Clown im Krankenhaus bzw. Altenheim ganz dicht Leitung: Andreas Hartmann/Hilde Cromheecke am Menschen. Deshalb ist diese „Clowns-Arbeit“ ein bisschen anders: 02./03. November 2013 bis 03./04. Mai 2014 09./10.11.2013 Basisarbeit Clown: - Präsenz des Clowns im Krankenhaus 7 Wochenenden - Einfache Übungen, um den Clown in + 1 fünftägiger Seminarblock sich kennen zu lernen

Für die Fortbildung werden Grund- 25./26.01.2014 Clownstechniken: kenntnisse im Clowneriebereich - Erlernen von Clownstechniken vorausgesetzt. Die Teilnehmer/-innen - Sorge für den Partner/Technikauswahl sollten bereits mit dem Dozenten- team gearbeitet haben; ansonsten ist 15./16.02.2014 Der Klinikclown: ein Vorgespräch notwendig. - Erlerntes wird angewendet - Seiten des Clowns/der Patienten/ Angehörigen werden erfahrbar

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BTK Hamm | Oberonstr. 20 | 59067 Hamm | Tel.: 02381/44893 | [email protected] Rezensionen 71

Rezensionen

– ganz so, wie Brecht es in seiner Radio- und Balance zwischen Einfühlung und Auseinan- Fragebögen anfügt. Der gesamte Forschungs- Lehrstück-Theorie akzentuiert: Kommunika- dersetzung mit dem Stoff, dessen Bedeutung prozess ist in der Aktionsforschung angesiedelt tions-Apparat und nicht – nur – Lieferant. Das bis in die Gegenwart reicht, auszutarieren. Eine und daher – wie dort üblich – ausgesprochen hat Folgen fürs szenisch-dialogische Schreiben Identifikation mit den Figuren soll vermieden transparent geschildert. Für die entsprechen- – nicht nur von Drehbüchern. Vom Mangel werden. Dies erfüllt einerseits den Zweck, dem den Daten wird auf den Anhang verwiesen, in bisheriger Dreh-Buch-Schnell-Schreib-Kurse Publikum eine weitestgehend rationale Kon- dem sich dann eine Adresse verbirgt, wo eine und auch von einer Film-Dramaturgie der frontation zu ermöglichen, andererseits bewahrt CD mit Daten und Auswertungen angefordert Heldengeschichte (á la 19. Jahrhundert & diese Art Rollenverständnis nicht professionelle werden kann. Ausgangspunkt der Studie ist die Hollywood-mainstream) geht der reflektierende Schauspieler_innen vor der Aufgabe, sich mit Frage, „welche Dimensionen interkultureller Filmemacher und Dramaturg sowie Kulturwis- zwielichtigen und verabscheuenswürdigen Per- Kompetenz bei Jugendlichen beobachtbar sind, senschaftler Richard Blank aus und gibt gute sönlichkeiten gleichzusetzen.“ wenn sich diese über bestimmte szenische Auf- kritische Ratschläge auch in Richtung eines Der Verfasser liefert ferner einen Beleg für gabenformen mit Jugendliteratur auseinander Schreibens fürs Theater. die Leistungsfähigkeit der Theaterarbeit in setzen.“ (159) der personen-nahen, Subjekte würdigen, Gerd Koch zeitgeschichtlichen Recherche sowie politisch- Als zentrale szenische Verfahren (122–130), historischen Bildung – hier konzentriert (unter die für diesen Ansatz relevant sind, werden anderen) auf die Holocaust Education. Die von ihr angeführt: (1) szenisch-körperliche Jens Lassak (2013): Das Theaterfeature. Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte zu Aufwärmübungen, (2) die Einfühlung in Berlin, Strasburg, Milow, 84 Seiten „Stillen Helden“ in Berlin wird ebenfalls ent- Umgebung, Situation und Figuren, (3) das sprechend berücksichtigt. Und der Spiel-Text Characterizing und Acting als ganzheitliche Jens Lassak (Sozialpädagoge und Student der des Theaterfeatures findet sich abgedruckt in Rollendarstellungen, (4) das Doppeln von Fi- Theaterpädagogik, langjährig auch Amateur- diesem praktischen Handbüchlein für ein pu- guren durch ein „Hilfs-Ich“, (5) die szenische Spieler) hat sehr sorgfältig und konzentriert blizistisches Theater. Interpretation eines literarischen Textabschnitts, einschlägige Literatur zum Thema (Radio-) (6) die Inszenierung selbst geschriebener Tex- Feature usw. herangezogen. Er situiert das Gerd Koch te, (7) Improvisationen, (8) Standbilder und neue Genre/Format „Theaterfeature“ im Statuen bauen und reflektieren sowie (9) das Zusammenhang von Szenischer Lesung und Erlebnis durch Sprechtheater. Hierbei ori- Dokumentartheater. Er sieht, dass künstleri- Anja Jäger (2011): Kultur szenisch erfahren. entiert sich Anja Jäger vorrangig an den viel sche und pädagogische Prozesse während des Interkulturelles Lernen mit Jugendliteratur zitierten Arbeiten von Manfred Schewe und Erarbeitens eines Theaterfeatures eine sich und szenischen Aufgaben im Fremdspra- Ingo Scheller und begründet schlüssig, war- wechselseitig beeinflussende Einheit bilden. chenunterricht, Frankfurt am Main, Berlin, um gerade szenische Aufgaben interkulturelle Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien: Kompetenzen fördern (130–137): Offenheit Der Verfasser baut Ergebnisse einer Teilneh- Peter Lang (= Europäische Hochschulschrif- und Dezentrierung, ganzheitliche Erfahrung mer_innen-Befragung als Material in seine ten. Reihe 11: Pädagogik 1012), 381 Seiten von Fremden und Eigenem, Erleichterung des Bearbeitung ein (und fragt auch danach, was Perspektivenwechsels, Entwicklung personaler nicht so gelungen erscheint …); ebenso gelingt es Anja Jäger legt mit ihrer Dissertation eine ge- und sozialer Kompetenzen, Umgang mit Vielfalt ihm, Passagen aus der Sekundärliteratur heran- wichtige Untersuchung zum interkulturellen und Differenz, Wahrnehmung und der Einsatz zuziehen, um das Genre des noch ungewohnten Lernen im Englischunterricht vor. Im Fokus von Körperlichkeit, Entwicklung und Festigung Theaterfeatures zu beschreiben. Das Theater der fast 400 klein gedruckten Seiten stehen deklarativen und prozeduralen Wissens sollen Daktylus aus Berlin hat diese Arbeitsweise hierbei die Jugendliteratur und so genannte als Stichworte hier genügen. Die tragende Rolle entwickelt und praktiziert sie kontinuierlich. szenische Aufgaben. Die Verfasserin arbeitet als spielt nach Anja Jäger vor allem der Perspekti- Jens Lassak hat eine erste Darstellung dieses Englischlehrerin an einer Realschule und wurde venwechsel. Argumente für diese Ansicht liefern Ansatzes verfasst und dessen Arbeitsweise teilweise an die Pädagogische Hochschule Frei- sechs früheren Studien sowie eigene Erfahrun- offengelegt: „Das Theaterfeature verzichtet burg abgeordnet. Den dadurch entstandenen gen mit dem Theater. Das Kapitel 6 begründet bewusst auf das Postulat der Neutralität und Freiraum nutzte sie in produktiver Weise, um den gewählten Unterrichts- (und damit auch Überparteilichkeit … Das Theaterfeature ist eine qualitative Unterrichtsstudie zu planen und Forschungs)gegenstand: Es handelt sich um szenisch performativ dargestelltes Ergebnis durchzuführen. Dabei half ihr die Möglichkeit, den Jugendroman „Bend It Like Beckham“, der kritischen Analyse zurückliegender Situa- Studierende mit Beobachtungsaufgaben und der eine Fülle von einschlägigen Themen und tionen und Begebenheiten, deren Bedeutung Abschlussarbeiten in das Projekt einzubinden, interkulturellen Konflikten bietet (150–158). und Problemstellung von erheblicher Tragweite natürlich auch ihre eigene langjährige Berufs- Die konzipierte Unterrichtseinheit dauerte für die Gegenwart ist. Im Vordergrund steht erfahrung sowie nicht zuletzt die inhaltlichen 25 bzw. 12 Schulstunden und wurde dreimal die subjektive Herangehensweise der Ent- Impulse der Freiburger PH, die als eines der in zwei Realschulen in den Klassen 9 und 10 wickler_innen und Darsteller_innen, welche englischdidaktischen Forschungszentren in durchgeführt. 87 SchülerInnen nahmen an es ihnen sowie den Zuschauer_innen ermög- Deutschland gilt. der Untersuchung teil (171). Um die Daten licht, sich kontrovers mit der Thematik zu zu erheben, wurden sowohl die teilnehmende befassen … das Theaterfeature (kann) als eine Nach einer knappen Einleitung wird in den Beobachtung als auch Video- und Audio- künstlerische Weiterentwicklung des Doku- ersten vier Kapiteln der Stand der Forschung aufnahmen eingesetzt. Daneben wurden ein mentartheaters angesehen werden … “ „Die zusammengefasst, bevor die für die Studie Forschertagebuch, Unterrichtsprodukte, retro- Ästhetik des Theaterfeatures ist durchgehend relevanten Erträge im Kapitel 6 noch einmal spektive Leitfadeninterviews sowie Fragebögen minimalistisch. Die Darsteller_innen nehmen resümiert werden. Mit der Materie vertraute verwendet. Ausgewertet wurden die Daten im keine psychologischen Rollen an und spielen Leser können also beruhigt dort anfangen zu Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse. sie durchgehend, sondern leihen den histori- lesen. Kapitel 7 und 8 stellen das Design und Von den sieben aufgelisteten Aufgaben wird schen beziehungsweise den für die Thematik die Ergebnisse der Unterrichtsstudie vor. Dem eine als zentral für die Analyse (206) ausge- des Stückes wesentlichen Figuren ihre Stimmen. Fazit in Kapitel 9 folgen das Literaturverzeichnis wählt und im Laufe des Forschungsprozesses Ziel ist es, wie auch beim Radiofeature, die und ein Anhang, der auch einen der eingesetzten optimiert. Hierbei handelt es sich letztlich um 72 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Rezensionen ein vorbereitetes, improvisiertes Rollenspiel auf mis nun eine Fallsammlung für den Einsatz im von Literaturvorstellungen, beispielsweise für der Basis eines Konflikts, wobei im Spiel ein Team- und Kommunikationstraining vor. Ein die Grundstruktur der Kriminalfälle sowie die Kompromiss gefunden werden soll. Mit dieser Bereich, der auch für die Theaterpädagogik – drei bearbeiteten Themenfelder. Gerhard Etzel getroffenen Entscheidung hätte ich mir als Thea- beispielsweise im Unternehmenstheater – nicht ist eine flüssig geschriebene, leicht verständliche terpädagoge eine intensivere Auseinandersetzung fremd sein dürfte. und gut umzusetzende Handreichung gelungen, mit der Improvisation im Theater gewünscht. Im Zentrum des Buches stehen die vier Mit- die auch für Theaterpädagogen ausgezeichnete Das Spannungsfeld von klar intendierter ver- spielkrimis Mord im Seminar, Das Assassinment Anregungen für spannende Workshops bereithält. zweckter Improvisation, ein Widerspruch an Center, Ein tödliches Projekt und Du sollst nicht sich (!), wäre ein theoretisch zu bearbeitendes NEIN sagen (71–258). Zuvor werden im ersten Maik Walter Dilemma mit entsprechenden Konsequenzen Teil (14–70) Mitspielkrimis mit verschiedenen für die Spielpraxis. Varianten und dem Spielverlauf ausführlich vorgestellt. Die Mitspielkrimis können als ein Axel Rachow (Hrsg.) (2012): Spielbar. 51 Am Ende der Arbeit steht eine Typologie szeni- Gesellschaftsspiel allein zur Unterhaltung oder Trainer präsentieren 77 Top-Spiele aus ihrer scher Aufgaben, die interkulturelle Kompetenzen aber auch als Rollenspiel im Training eingesetzt Seminarpraxis. Edition Training aktuell. 4., auf der Basis von literarischen Texten fördern werden, wobei hier der Fall lediglich als ein überarbeitete Auflage, 230 Seiten (340–342). Diese Systematik ist an Vorschlägen spannungserzeugendes Vehikel benutzt wird, der Französischdidaktikerin Daniela Caspari an- um Verhaltensweisen zu stimulieren, die im (Ders.) (2010) Spielbar II. 66 Trainer prä- gelehnt und umfasst die folgenden Kategorien: Training bearbeitet werden (18). Bewährt hat sentieren 88 neue Top-Spiele aus ihrer Wecken von Interesse für den literarischen Text sich der Einsatz in der Gesprächsführung, den Seminarpraxis. 4. Auflage, 265 Seiten und die fremde Kultur; fremdsprachliches Text- Moderationstechniken und der Konfliktbearbei- verständnis und Wahrnehmung des Fremden; tung im Team (38). Für diese drei Felder gibt es (Ders.) (2012) Spielbar III. 62 Trainer prä- kommunikative und szenische Aufwärmaktivitä- eine exzellent aufbereitete Einbettung, so dass sentieren 83 frische Top-Spiele aus ihrer ten; Auseinandersetzung mit den Romanfiguren man mit dem Buch ein gutes Fundament für Seminarpraxis. Edition Training aktuell.2. mit dem Ziel des Perspektivenwechsels; Deutung ein thematisches Seminar besitzt. Auflage, 271 Seiten und Beurteilung der literarischen Handlung Die Spielidee ist simpel und damit schnell mit dem Ziel des Perspektivenwechsels, der umzusetzen. Es ist die vertraute Runde von Als Dreierpack beim managerSeminare Verlags Perspektivenkoordination und des kritischen Bekannten und/oder Freunden am Kamin: GmbH Bonn bestellbar. kulturellen Bewusstseins; das Inbeziehungsetzen Ein Mord ist geschehen und alle Anwesen- von Eigenen und Fremdem mit dem Ziel der den haben mit dem Fall zu tun. In diesem Der Psychologe Jean Piaget hat in den 40er des Perspektivenkoordination und des kritischen Gespräch beginnt die Suche nach Motiven, letzten Jahrhunderts beschrieben, wie Kinder im kulturellen Bewusstseins. Es wird deutlich, dass Gerüchte werden gestreut und der Fall – also Murmelspiel ihre sozialen Regeln entwickeln. auch hier ebenfalls der Perspektivenwechsel die das Problem – soll gelöst werden. Alle haben Komplexe Zusammenhänge können im Spiel entscheidende Rolle spielt. ein Interesse daran, den Täter zu überführen, entdeckt und ggf. bewusst gemacht werden, bis auf einen. Fragen werden gestellt, die Be- und das auch noch im Erwachsenenalter. Dies TheaterpädagogInnen können sich mit die- teiligten in ein komplexes Beziehungsgeflecht gilt sowohl in der Theaterpädagogik als auch in ser Studie auf den aktuellen Stand bringen verwickelt. Mindestens 6 Spieler werden benötigt. Teilen der Erwachsenbildung als gesichert, in zunächst bei der gegenwärtigen Sicht auf die Zusätzliche Rollen wurden bereits vorgegeben, der Wirtschaft hingegen besteht beim Spielen Interkulturalität, aber auch ganz praktisch in so dass 10 Spieler aktiv beteiligt sein können. nach wie vor Aufklärungsbedarf und genau der Formulierung von adäquaten Aufgaben. Der Ein Spielleiter kann diesen Kreis für größere hier setzen die drei zu besprechenden Bände in der Fremdsprachendidaktik sehr prominen- Gruppen natürlich noch erweitern. Die Fälle aus dem Managerseminare-Verlag an. te und hier zugrunde gelegte aufgabenbasierte sind in maximal zwei Stunden zu lösen, wobei Zehn Glasmurmeln auf den Titeln laden Trai- Ansatz liefert konkrete Anregungen, über den die reine Spielzeit 45 Minuten beträgt. Damit ner und Spielleiter ein, spielerische Prozesse in Sinn und Zweck sowie die Formulierung von ist die realistische Möglichkeit gegeben, sie in Gang zu setzen. Doch welche Spiele sind mit angemessenen Aufgaben in der Spielpraxis ein Training mit fachlichem Input, Reflexions- Erwachsenen spielbar? Der Herausgeber Axel nachzudenken. phasen etc. einzubauen. Rachow, einer der bekannten deutschen Spiel- Neben dieser spielerischen – und theater- gurus, versteckt im Wortspiel SPIELBAR zwei Maik Walter pädagogisch wohl wesentlich spannenderen Ansprüche: Im Adjektiv verbirgt sich die Aussage, – Variante können die Fälle auch als eine rei- „erprobt, brauchbar, nützlich, von Trainings- ne Problemlösungsaufgabe eingesetzt werden. praktikern beschrieben“ zu sein (I, 1). Mit dem Gerhard Etzel (2010): Mord im Seminar. Hierbei versucht ein Team von Aufklärern, den Substantiv hingegen wird die Thekenmetapher Mitspielkrimis im Team- und Kommunika- Fall am Schreibtisch zu lösen (66–68), ohne aktiviert und die Spiele als „à la carte wählbar, tionstraining. 1. Auflage. ManagerSeminare dabei körperlich in Aktion zu treten. zuträglich und nicht belastend“ bezeichnet Verlags GmbH Bonn, 303 Seiten Im dritten Teil des Buches wird erklärt, wie (ebd.). Um es gleich vorwegzunehmen, dieser man einen eigenen Mitspielkrimi konzipiert. doppelte Anspruch wird vollends erfüllt. Es liegt Der Krimi gilt als eines der beliebtesten Genres Dies reicht von der Konfliktwahl über die An- eine persönliche und inspirierende Sammlung der Pop-Kultur. Als Tatort, letzter Zeuge oder zahl der Spieler und deren Verwicklungen bis vor, bei der jeweils mehr als 50 TrainerInnen als eine der verschiedenen SoKos im abend- hin zu Vorschlägen der Rollenbeschreibungen. ihre ca. 80 Favoriten beschreiben. Der Heraus- lichen Fernsehprogramm ist er seit Jahren Frage- und Beobachtungsbögen im letzten Teil geber trägt zwar kein eigenes Spiel bei, bringt ebenso präsent wie im Kino, auf Theaterbüh- strukturieren die Auswertung der Rollenspie- aber Ordnung in das Chaos und entwickelte nen oder ganz klassisch als fesselnde Lektüre. le und erleichtern die Arbeit des Spielleiters. damit sein Unterfangen zu einer eigenen, sehr Ein guter Krimi verspricht Spannung und die Hervorzuheben sind die zum Download be- erfolgreichen Reihe. Der dritte Band erhielt ein Erfüllung von Erwartungsmustern, die sich reitgestellten Materialien auf der Website des frisches Lay out, das in der aktuellen Auflage bei Zuschauern und Lesern im Laufe der Jahre Verlags, die zumeist als Worddokument auch auf den ersten Band übertragen wurde. Es ist verfestigt haben. Der Psychologe und Trainer leicht adaptiert werden können. Wünschens- anzunehmen, dass auch der zweite Band bald Gerhard Etzel legt mit seinen vier Mitspielkri- wert wäre noch eine knappe Zusammenstellung folgen wird. Alle drei Bände können sowohl Rezensionen 73

Rezensionen in Form eines Buches als auch einer Kartei verwendet werden. Von praktischem Nutzen ist überdies die getrennte Katalogisierung von Spielkategorien und -zielen, die die konkrete Auswahl erleichtert. Die Kategorien stimmen in den Bänden weitestgehend überein: Wahr- nehmungsspiele, Darstellende Spiele, Malspiele, Interaktionsspiele, Gruppendynamische Übungen, Sprach-, Schreib- und Diskussionsspiele, Spiele zur Wissensvermittlung, Bewegungs- (und Auf- lockerungs)spiele, Ulk-, Theken- und Partyspiele, Ratespiele, Quizformen, Rollen- und Entschei- dungsspiele sowie Outdoor-Übungen. Neben den beiden Zielen Aktivieren und Energien freisetzen sowie Sprechen und ausdrücken, die erst ab dem zweiten Band aufgelistet werden, werden 13 weitere angeführt: Kontakte aufbau- en, Kommunikation verbessern, Kreative Prozesse anregen, Emphatisch vorgehen, Spontan handeln, Kooperation einüben, Strukturiert vorgehen, Ver- trauen entwickeln, Sich selbst entdecken, Themen klären, Konflikte verdeutlichen, Harmonisierung und Ruhe sowie Standpunkte vertreten. In den ersten beiden Bänden finden sich die Spiele – Koordinationsübung für Körper und Geist, bei Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, in sieben Rubriken: Warming up; Motivation der mit zwei Buchstabenreihen gespielt wird. Winfried Marotzki, Uwe Sandfuchs (Hrsg.) mit den Schwerpunkten Aktivierung und The- Während der Buchstabe der ersten Reihe laut (2011–2012): Klinkhardt Lexikon Erzie- menbezug; Information; Interaktion; Evaluation gelesen wird, gibt ein zweiter Buchstabe ei- hungswissenschaft (KLE). Unter Mitarbeit sowie Präsentation. Die Namen der Rubriken ne bestimmte Bewegung an, die gleichzeitig von Stefan Iske. In Zusammenarbeit mit sprechen bis auf die Präsentation für sich. Dort vom Lesenden auszuführen ist. Die Quelle Christel Adick, Karl-Heinz Arnold, Lothar werden größere Spiele mit zum Teil sehr auf- „Entdeckt in einem Seminar beim Bildungs- Böhnisch, Karin Büchter, Hans-Peter Füs- wendigen Materialien präsentiert. Anders als werk Stefanus in Heiligkreuztal“ (II, 89 f.) sel, Hans-Werner Fuchs, Ingrid Gogolin, in den restlichen Rubriken ist man als Leser ist irrelevant, die Auswertung „Input über Friederike von Gross, Hilmar Hoffmann, nicht in der Lage, diese 11 Spiele anzuleiten die beiden Gehirnhälften und die Effektivi- Sabine Hornberg, Hans-Christoph Koller, und erfreulicherweise wurde im dritten Band tätssteigerung durch Koordinationsübungen“ Karl Lenz, Anne Levin, Dieter Nittel, Sabine auf eine solche Werbemaßnahme für die be- in dieser Kürze unbrauchbar. Zamyat Klein Reh, Lutz-Rainer Reuter, Uwe Sander, Uta teiligten TrainerInnen verzichtet. Dort gibt es zeigt in „Das tanzende Kamel“ (2008 im Stäsche, Werner Thole, Horst Weishaupt und die folgenden sechs Rubriken: Effekte einsetzen; gleichen Verlag erschienen), wie man diese Rolf Werning (= UTB Erziehungswissenschaft Mit Metaphern verdeutlichen; Gruppen aktivie- Übung auch angemessen aufbereiten kann 8468). Verlag Julius Klinkhardt. Bad Heil- ren; Teams fordern; Zum Thema arbeiten und (23–28). Für eine Neuauflage hätte ich mir brunn, 3 Bände im Schuber, 1509 Seiten Zwischendurch auflockern. gewünscht, dass der Herausgeber noch stärker Die Spielbeschreibungen wecken in den drei strukturiert und Verbindungen zwischen den Das KLE stellt sich die Aufgabe, einen „Ein- Bänden Lust, diese auch sogleich auszupro- drei Bänden herstellt. So sind auf der einen stieg in die Begriffswelt und Wissensgebiete bieren. Natürlich gibt es viele – gerade in Seite einige Spielnamen unglücklich gewählt: der Erziehungswissenschaft“ zu gewährleisten der Theaterpädagogik – bekannte Spiele. Beispielsweise macht ein Spielname „Warming und dabei „Fachkollegen als Referenzwerk Trotzdem wird man die Sammlung auch als up“ in der Kategorie der „Warming ups“ (II, nützlich“ zu sein (8). Es soll den derzeitigen Theaterpädagoge mit Gewinn lesen, denn die 71 f.) nur wenig Sinn. Hinter dem doppelt Stand der Kunst in der Allgemeinen Pädago- Schweizer zeigen doch sehr unterhaltsam, wie vergebenen Team-Puzzle (III, 57 f. sowie II, gik zusammentragen. In dieser Fülle – mehr theaterpädagogische Klassiker eben auch ein- 187 f.) verstecken sich zwei unterschiedliche als 1.500 Seiten, über 2.100 Stichwörter, die gesetzt werden können. Exemplarisch sei hier Spiele. Und auf der anderen Seite gibt es in der von nicht weniger als 700 AutorInnenr ve - die Einwortgeschichte erwähnt: Eine Gruppe Struktur identische Spiele wie das Vampir- (I, fasst wurden – liegt mit den drei Bänden das erzählt gemeinsam eine Geschichte, aber jeder 61 f.) und das Mörderspiel (III, 115 f.), ohne derzeit aktuellste und umfangreichste päda- Spieler darf hierbei nur ein Wort sagen. Die- dass darauf verwiesen wird. gogische Wörterbuch im deutschsprachigen ses kooperative Erzählen kann auch auf das Aber das sind Kleinigkeiten am Rande der Bereich vor. Der Verlag Julius Klinkhardt Programm eines Kommunikationstrainings Beckmesserei und sie sollen nicht darüber zählt zu den seriösen Wissenschaftsverlagen gesetzt werden (I, 179 f). Diese Verwendungs- hinwegtäuschen, dass die drei Bände eine und hat sich mit seinen Publikationen einen möglichkeiten zu sehen, dies kann man in den sehr schön gestaltete und informative Reihe hervorragenden Namen in der akademischen drei Bänden lernen. Die Anleitungen sind in sind, die mit großem Spaß und Gewinn ge- Welt erarbeitet. Die vier HerausgeberInnen den meisten Fällen kurz und prägnant. Für lesen werden kann. Die eingangs erwähnten betrachten ihr Projekt selbst – wie übrigens den begrenzten Raum einer Karteikarte im Murmeln geben Impulse weiter, wenn sie auf- alle vergleichbaren Unternehmungen in der Format DIN A5 ist diese Herausforderung einander treffen. Und genau dies wünsche ich Fachlexikografie – als konservativ: Durch die von fast allen Beteiligten ausgesprochen gut den drei Bänden. Ein Zusammentreffen mit Fixierung eines Fachdiskurses werde nämlich bewältigt worden. Nur selten v erbleiben die vielen Spielleitern, die die im Buch eingefan- in einem Wörterbuch ein Wissenskanon (wei- Beschreibungen im Zustand eines Appetizers. gene Energie an ihre Spieler weitergeben. Um ter) ausgebildet (7). Dies vollzieht sich auf Dies ist beispielsweise der Fall in der – ge- es mit Dieter Roth auf den Punkt zu bringen: Kosten von innovativen Nebensträngen, die wöhnlich dem NLP-Umfeld zugeschriebenen „Murmel, murmel.“ sich später durchaus einmal als einflussreich 74 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Rezensionen erweisen können. Andere Wissensbestände Literaturhinweisen weiterführende Anker- auch von TheaterpädagogInnen. In drei gro- hingegen werden vielleicht ein letztes Mal punkte zu setzen (3, 306 f.). Theaterpädagogik ßen Kapiteln werden „Begriffe und Konzepte“ gestärkt, bevor sie endgültig vergessen wer- wird von ihr als „Vermittlung der Kunst des (S. 1–104) vorgestellt, wird eine „Annäherung den. Über diesen Punkt können in einigen Theaters an nichtprofessionelle Akteure in ver- an das Drama in analytischer Perspektive“ (S. Jahren spannende Qualifikationsarbeiten in schiedenen pädagogischen und künstlerischen 104–170) unternommen und werden in dem der Fachgeschichte geschrieben werden. Was Kontexten mit dem Ziel ästhetischer Bildung“ umfangreichsten Kapitel die „Gattungen des hat ein Theaterpädagoge jedoch heute von der definiert. Stärker instrumentalisierende Ansät- Dramas im historischen Kontext“ (S. 171–327) Lektüre? Theaterpädagogen können im Wör- ze wie die Fremdsprachenvermittlung werden untersucht. Eine Auswahlbibliographie sowie ein terbuch zunächst einmal Fakten und historische zwar genannt, aber insbesondere hierfür zen- Sach- und Namen- und Titelregister am Ende Linien aus ihnen wahrscheinlich sehr fernen trale Stichworte wie Dramapädagogik oder der Publikation sind für die Lektüre sehr hilf- Gefilden nachschlagen: Dies können beispiels- Performativität nicht weiter betrachtet. Bei- reich. Obwohl sich diese Veröffentlichung auf die weise Einträge wie Ritterakademien, Supervision des konnte ich auch nicht an anderen Stellen Gattung Drama konzentriert, wird deutlich, dass oder Gruppenpuzzle sein, aber auch Personen ausfindig machen. Wolfgang Sting sieht in das Drama „per definitionem eine Schnittstelle wie Wilhelm von Humboldt, Clara Zetkin oder der „Auseinandersetzung mit und zwischen zu szenischen Darstellung bereit hält.“ Dieses Alan M. Turing. Die insgesamt 386 Einträge den Kulturen“ das Thema der interkulturellen „Bezogensein auf das Theater“ „scheint „ auch zu den Personen sind auf das Wesentliche Theaterpädagogik und führt dazu die bereits „eine Eindeutigkeit der Gattung zu verhindern“, reduziert, die Begriffe sind verständlich und 2004 beim theaterpädagogischen Fachforum zugleich aber die Gefahr zu beinhalten, mit dem knapp definiert. Hinzu kommen informative Sichten in Berlin vorgetragenen und in dieser „Primat der Literatur“ das Theater zu dominie- Kurzberichte über das Bildungssystem in 80 Zeitschrift ausformulierten vier Formen und ren. Die Autoren des vorliegenden Handbuchs Ländern und 7 Regionen. Die Literaturhinweise Haltungen gegenüber anderen Kulturen und sind sich dieser Ambivalenz bewusst, sie betonen am Ende eines Eintrags erweisen sich in den dem Fremden an: Exotismus, Internationalität, zum einen „die Bezogenheit auf das Szenische“ von mir überprüften Fällen zumindest als ein Transkulturalität und Hybridkulturalität. Ne- und nehmen zum andere „eine konsequente guter Anfangspunkt, um mit dem Schneeball- ben diesen beiden Einträgen finden sich bei Historisierung“ des Dramas vor, indem sie prinzip in die Tiefe zu gelangen. Leider sind die den Personen zwei Theaterpädagogen (bzw. vermeiden, „einen ahistorischen, kulturell un- Einträge untereinander nicht vernetzt, so dass Säulenheilige): Augusto Boal sowie Martin abhängigen Begriff von Gattung oder einzelnen man unter Umständen durchaus aufbereitete Luserke. Einschlägig sind daneben Einträge Formen zu bilden.“ Wichtig ist vor allem, dass Informationen wie zum Rollenspiel nicht findet. wie die von Hans-Rüdiger Müller verfassten dieses Handbuch den dramatischen Text in sei- Für Teilgebiete der Pädagogik wurde bereits zur Ästhetik, Ästhetischen Erziehung, Kulturelle ner Vielfältigkeit genauer betrachtet, der zum eine Reihe von wesentlich spezielleren Fach- Bildung und Kulturpädagogik sowie Erzählen einen zu Recht seine erdrückende Dominanz im wörterbüchern erarbeitet. So liegt für unsere in der Erwachsenenbildung (Christiane Hof), Theaterkontext verloren hat, der zum anderen Disziplin mit dem von Gerd Koch und Mari- Kreativität (Siegfried Preiser), Kultur (Marianne aber zu Unrecht im theatralen Prozess oft völlig anne Streisand im Schibri-Verlag herausgegeben Krüger-Potratz) und Simulationsspiele (Karin ausgegrenzt und negiert wird. Ästhetische Texte Wörterbuch der Theaterpädagogik ein fundiertes Rebmann). Hier verstecken sich auch die Rol- beinhalten nämlich ein ungeheuer produktives und weit über unsere Disziplin hinaus geschätztes lenspiele. Es bedarf also einiger Anstrengung, Potential, das in seiner Ambiguität und Diffe- und anerkanntes Grundlagenwerk vor. Für die den wenigen theaterpädagogischen Spuren in renziertheit zumeist über Alltagssprache und Theaterpädagogik bleibt dies die erste Adresse diesem Wörterbuch auf die Schliche zu kom- Alltagssituation deutlich hinausgeht. in der Informationsbeschaffung und es wäre men, aber es darf hierbei auch nicht vergessen In dem ersten Kapitel stellen die Autoren allge- unfair, die entsprechenden Einträge in beiden werden, dass es sich um ein Wörterbuch der mein die „Dramentheorie“ (besser wohl doch Wörterbüchern zu vergleichen, denn das hier allgemeinen Erziehungswissenschaft handelt. als Plural: Dramentheorien) dar, bevor sehr zu besprechende Lexikon kann aus theaterpä- Dort wird es auch auf große Resonanz stoßen. ausführlich die „Begriffe des Aristoteles“ und dagogischer Perspektive dabei nur verlieren. TheaterpädagogInnen mit einem Schwerpunkt seine Rezeption über die Jahrhunderte bis heute Nur am Rande sei deshalb bemerkt, dass sich in der pädagogischen Forschung können sich sozusagen als Grundlage des europäischen Dra- bei einer Stichprobe für die Buchstaben O, freuen über ein aktuelles solides Nachschla- mas und Theaters erörtert werden. Hier wäre P und Q kaum vergleichbare Stichwörter in gewerk, das verlässliche Anhaltspunkte für zu ein Blick auf die neuere Auseinandersetzung beiden Wörterbüchern finden, auch wenn mit bearbeitende neue Forschungsfragen offeriert. um die Tragödie sicherlich sinnvoll gewesen. ähnlichen Begriffen (wie Prozessorientierung vs. Es folgen die Unterkapitel „Wirkungskategori- Prozess und Produkt) eine kleines Sample aus- Maik Walter en“, d. h. das Tragische, das Komische und das gewertet werden könnte. Lediglich Pädagogik Wunderbare, Drama und Dramaturgie und das wird von beiden angeführt, wobei die Thea- „System der literarischen Gattungen“ in seinen terpädagogen auf die Geschichte der Pädagogik Peter W. Marx (Hg.) (2012): Handbuch Dra- historischen Veränderungen. Die drei folgenden und die Allgemeinen Pädagogen auf die Er- ma. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/ Abschnitte konzentrieren sich auf jeweils einen ziehungswissenschaft verweisen. Dieser Befund Weimar: Metzler, 348 Seiten spezifischen Aspekt: auf das „Theater jenseits kann nun in der Art so gedeutet werden, dass des Dramas“, also das postdramatische Thea- es nur eine kleine begriffliche Schnittmenge Nach dem Wörterbuch Theaterpädagogik, das für ter, auf „Interkulturelle Dramaturgie“ und auf zwischen den beiden Fächern gibt, was Thea- die Theorie und Praxis der Theaterpädagogik „Intermediale Dramaturgie“. Bei diesen guten terpädagogInnen erstaunen dürfte. unverzichtbar ist (eine überarbeitete Neuausgabe Überblicksdarstellungen irritiert allerdings eine Schauen wir uns stattdessen an, wie die The- nach bald zehn Jahren wäre sehr wünschenswert), recht undifferenzierte Kritik am postdramati- aterpädagogik im Wörterbuch repräsentiert nach verschiedenen Theaterlexika (Brauneck, schen Theater, als Zitat exponiert am Ende wurde. Es gibt zwei genuin theaterpädagogi- Sucher, Schwab/Weber) und dem Lexikon The- des Kapitels positioniert, sowie eine auffällige sche Einträge von bekannten SpezialistInnen: atertheorie, das trotz seines hohen theoretischen Reduziertheit des Kapitels zur „Interkulturellen Interkulturelle Theaterpädagogik (Sting) und Anspruchs zur alltäglichen Arbeit in der Theater- Dramaturgie“: Hier fehlt völlig die intensive Theaterpädagogik (Hentschel). Ulrike Hentschel pädagogik gehören sollte (auch hier wäre nach aktuelle Diskussion um das sog. postmigran- gelingt es, auf nur einer Seite Fachgeschichte, acht Jahren eine überarbeitete Neuausgabe sinn- tische Theater in Deutschland. zentrale Anwendungsfelder und Kontroversen voll) ist 2012 das Handbuch Drama erschienen Die Untersuchung der „Bausteine des Dramas“ der Theaterpädagogik zu vereinen und mit den – eine wichtige Ergänzung beim Handwerkszeug und der „Formprinzipien“, der „Regieanwei- Rezensionen 75

Rezensionen sungen“ und der „Erzählperspektiven“ sowie aber auch Carl Schmitts Hamlet oder Hekuba zwischen Bühne und Publikum“ weder aus weiterer Aspekte bilden eine solide Grundla- sowie schließlich Antonin Artauds Theater der wirkungsästhetischer noch aus psychologischer ge der „analytischen Perspektive“ im zweiten Grausamkeit von besonderer Bedeutung. Wie Sicht, weder unter performativen noch unter Kapitel. Das umfangreiche dritte Kapitel gibt schon im ersten Teil der Untersuchung wird theatertheoretischen Gesichtspunkten grund- dann einen umfangreichen und differenzierten allerdings auch hier wieder die große Heteroge- legend und umfassend untersucht. So stehen historischen Überblick seit der Antike, auch nität der Tragödien-Perspektiven deutlich, was in dieser Publikation neben interessanten Pas- mit Blick auf außereuropäische Theaterformen. sich in den Einzelinterpretationen zu Emilia sagen und guten Einzelinterpretation vor allem Der Gesamttitel des Kapitels „Gattungen des Galotti, Die Braut von Messina und Maria Stu- theoretische Unklarheiten, was zu einem am- Dramas im historischen Kontext“ ist allerdings art, Dantons Tod, Die Maßnahme und Mauser bivalenten Gesamteindruck führt. irreführend, weil im Folgenden Unterkapitel fortsetzt. Der Titel des Kapitels heißt deshalb wie „Antike“, „Mittelalter“, „Barock“ neben nicht umsonst „Von Überwindungsstrukturen Florian Vaßen Unterkapiteln wie „Kurzformen des Dramas zu neuen Konflikten“. seit der Moderne“, „Lesedrama“, „Episches Ob deren Kern allerdings wirklich tragisch Theater“, „Dokumentartheater“ stehen, also ist, bleibt offen bzw. wird von der Verfasserin Artur Pełka, Stefan Tigges (Hg.) (2011): Das eine historische Gliederung mit einer katego- selbst in Bezug auf Brechts Lehrstücke negiert. Drama nach dem Drama. Verwandlung dra- rialen vermischt wird. Dennoch erhalten die Auch Luciles Position am Ende von Dantons matischer Formen in Deutschland seit 1945. LeserInnen einen guten Einblick in die Ent- Tod als „absurd“ zu bezeichnen und die „am- Bielefeld: transcript, 491 Seiten wicklung des Dramas, bei dem sich aktuell bige Wechselspannung“ in Mauser als tragisch eine „Diversifikation der Gattungsmerkmale“ anzusehen, ist nicht überzeugend. Wenn wei- Dieser Sammelband ist das Ergebnis der Ta- abzeichnet und sich die „Schreibformen“ zuneh- terhin davon gesprochen wird, dass es „um die gung „Bühne frei! Verwandlungen dramatischer mend „ausdifferenziert haben“. Eine „Rückkehr Behauptung des Ich angesichts einer übermäch- Formen in Deutschland nach 1945“ im Ok- des dramatischen Erzählens?“ enthält deshalb tige scheinenden Realität“ gehe und so in „der tober 2009 in Łódź. 31 Beiträge, aufgeteilt in selbst als Frage gestellt – wie im Titel des letzten Rück-Erinnerung an die attische Tragödie […] zwei große Abteilungen und gegliedert in acht Unterkapitels – eine nicht unproblematische heute ganz ähnliche Fragen und Mechanismen Kapitel, liefern ein vielgestaltiges Mosaik der Eingrenzung. wieder zum Vorschein“ kommen, dann wird Entwicklung von Drama und bedingt auch Insgesamt ist dieses Handbuch Drama eine gu- übersehen, dass das Ich heute völlig anders vom Theater in den letzten ca. 60 Jahren. Es te Ergänzung anderer vorliegender Lexika und konstituiert ist als in der Antike, ja dass wir beginnt mit „Positionen nach 1945“, d. h. mit Wörterbücher, es ist verständlich geschrieben eher von einer Vielheit, einem „Dividuum“, , Wolfgang Hildesheimer und Rolf und die meisten Kapitel sind angenehm zu lesen. wie Brecht es schon nennt, ausgehen müssen Bongs, und setzt sich unter dem Titel „Grenz- Kultur-, Literatur- und Theaterwissenschaftle- als von Identität respektive Individuum. gänger und Raumvermesser“ fort mit Peter rInnen, aber auch TheaterpädagogInnen und Das letzte Kapitel „Das Theater der Gegenwart“ Hacks, Heiner Müller und Einar Schleef. Es TheaterprakterInnen werden von dem kon- greift den „Mythos als Gedächtnis“ auf und un- folgen drei Texte zum Theater der Wende („1989 zentrierten Blick auf das Drama zweifelsohne tersucht vor dieser Folie das „Theater zwischen und die Folgen: Geschichte (auf-)schreiben“) für ihre Arbeit profitieren. ‚Postdramatik‘ und ‚Gegenwart der Tragödie‘“. und vier zu „Mythos“ und „Erzähltheater“. Das postdramatische Theater als Gedächtnisraum, Das umfangreichste Kapitel beschäftigt sich Florian Vaßen zentriert auf den Tod und den Körper, sowie vor mit „Aktuellen Schreiproblemen (sic!)“, dar- allem als „‚Praxis der Ausnahme‘“ steht dabei gestellt an Roland Schimmelpfennig, Moritz neben einer neuen Sicht der Tragödie als Spiel Rinke, John von Düffel, René Pollesch und Tim Johanna Canaris (2012): Mythos Tragödie. (Menke), was zu einer Erörterung der „Mythen Staffels sowie jungen Autoren. Daran schließt Zur Aktualität und Geschichte einer theat- in der Gegenwart“ (Barthes) und Mythos und sich der Abschnitt „Dramatische Zerreißpro- ralen Wirkungsweise. Bielefeld: Transcript, Geschichte (Assmann) führt: „Der Umgang ben. Theater – Aktionismus – Authentizität“ 366 Seiten des Theaters mit dem Mythos ist also ebenso an, in dem unterschiedliche Grundhaltungen ambivalent wie der Mythos selbst.“ Es folgen des Theaters diskutiert werden. Zwei Dialoge, Diese überarbeitete Dissertation gliedert sich Interpretationen von drei modernen Klassiker- einer zu „Migration dichten und denken“ und in drei große Abschnitte: Zunächst werden Inszenierungen, von Theatertexten, die sich auf einer mit , leiten über zu dem in dem längsten Kapitel die „gezähmten Ur- Mythen beziehen (z. B. von Dea Loher und letzten Kapitel „Künstlerische Positionen“, in sprünge“ der Tragödie dargestellt. Dabei stellt Botho Strauß) oder Geschichte thematisieren dem Falk Richter, Oliver Kluck, Marius von die Verfasserin, ausgehend von Aristoteles’ Tr a- (z. B. Elfriede Jelinek) und die „unterschiedliche Mayenburg und Dirk Lauke zu Wort kommen. gödiendefinition, die Situation der attischen Ausprägungen des Erinnerns“ thematisieren. Schon an dieser Vorstellung der Kapitel, The- Polis, die Ursprünge der Tragödie (Ritual versus Natürlich ist es zutreffend, dass die Gattung men und Autoren wird sichtbar: Die Vielfalt „genialer hellenischer Geist“), Barnays, Scha- Tragödie – wie jedes literarische Genre – zu dominiert, aber was ist mit Zusammenhängen, dewaldts, Pohlenz’, Flashars, sowie Bremmers, verschiedenen Zeiten unterschiedliche Aus- Bezügen, Vergleichen, Berührungspunkten und Girards und Burkerts Erklärungsansätze dar und prägungen erfährt; interessant dabei aber sind Differenzen? Positiv ist hervorzuheben, dass konzentriert sich im Folgenden auf die Mythen doch die Differenzen und die Frage, ob die sich sowohl Theaterwissenschaftler als auch als Ausgangspunkt. Das Kapitel endet mit den Bezeichnung Tragödie wirklich noch tragfähig Theaterpraktiker, vor allem Theaterautoren, exemplarischen Interpretationen von Aischylos’ ist oder – nahezu umgangssprachlich – ausge- an der Diskussion mit Texten beteiligen, dass Sieben gegen Theben, Sophokles’ Antigone und weitet wird. Diese Gefahr besteht auch bei der theoretische Überlegungen zu „aktionistischen Euripides’ Die Backchen. vorliegenden Untersuchung, wenn „Tragödie als Praxen“, zu Politik und Theater, zum Prob- Das zweite kürzeste Kapitel beschäftigt sich Mythos“ verstanden wird, als „Dialog mit den lem des Authentischen, aber auch konkret zu mit den dialektischen Definitionen der Tr a - Toten“ (Heiner Müller), zumal gerade diese Er- „Utopie und Kritik“ bei Rinke, zur deutschen gödie seit Hegel, d. h. mit dessen besonders innerung an das Unerfüllte und Unabgegoltene Geschichte bei von Düffel und zum intertex- einflussreicher Theorie sowie mit Lessing, genuine untragische Züge hat. Vor allem aber tuellen Spiel bei Staffels formuliert werden und Schiller, Büchner, Brecht und Heiner Müller. wird die Tragödie als „theatrale Wirkungsweise“, dass in mehreren Beiträgen (Jean Jourdheuil, Dabei sind Peter Szondis Versuch über das Tra- wie im Untertitel der Publikation formuliert Artur Pełka, Frank Raddatz) Heiner Müller als gische, George S teiners Essay Tod der Tragödie, wird, also „als theatraler Moment der Wirkung einer der wichtigsten Dramatiker dieser Jahre 76 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Rezensionen genauer beleuchtet wird. Zudem gibt es über- allem „Kollektivität“ (Irit Rogoff), die „eine Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Ei- zeugende Analysen von Hans-Peter Bayerdörfer Form der Auseinandersetzung mit, über und ne Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld: zum „heutigen Erzähltheater“, von Guido Hiss durch Kunst“ beinhaltet, „in der die Stimmen transcript 2012, 310 Seiten zum „Mythos Klassiker“, von Marita Tatari zu von Kunstschaffenden, Publikum und Nicht- „Drama“ und „Performativität“. So weit, so gut publikum gleichberechtigt sind.“ Kernbauer Zwei Bereiche des Theaters finden in letzter – und der Leser und die Leserin, die sich zu ei- wertet in ihrer Analyse den Rezeptionsprozess Zeit besondere Aufmerksamkeit: die Probe nem Theaterautor und einer Theaterautorin oder auf und folgt Rancières Position, nach der und das Publikum (siehe die Rezension zu einem Thema informieren will, findet sicherlich Emanzipation das „Verschwimmen der Ge- „Publicum“), also ein Zeitabschnitt der Thea- interessante Texte. Aber was erfahren wir über gensätze zwischen denen, die betrachten, und terarbeit vor und eine Raumsequenz neben dem grundsätzliche Tendenzen und Strömungen des denen, die handeln“ bedeutet. traditioneller Weise als eigentliches Theaterer- Dramas dieser Zeit – und wäre es nicht wichtig Nach der Bildenden Kunst und einem Beitrag eignis angesehenen Bühnengeschehen. Diese gewesen, das Theater gleichermaßen zu untersu- zum Film dominieren im Weiteren vier Texte Ausweitung des Forschungsinteresses (und auch chen? Das Vorwort von neun Seiten, in dem vor zum öffentlichen Stadtraum, und zwar als Ver- des Interesses in der Theaterpraxis) ist nicht allem die einzelnen Autoren und Texte skizziert gleich von Kunst im Stadtraum von Ost- und zufällig und zeigt, dass sich die Beschäftigung werden, ist für diesen Zweck in keiner Weise West-Berlin, als Masken der Architektur, in mit dem Theater ausweitet, differenziert und ausreichend und auch einzelne grundlegende Bezug auf Public Viewing und die Architektur grundsätzlich verändert. Beiträge wie der zum „heutigen Erzähltheater“ des Stadions sowie als Heteronomieästhetik. Diese Publikation ist als Habilitationsschrift an oder zum „Authentischen“ im Theater können Rancières Theorie wird auch in den beiden Bei- der Freien Universität Berlin verfasst worden, dieses Defizit nicht ausgleichen. So dominieren trägen am Schluss des Sammelbandes diskutiert. aber sie ist gleichwohl gut lesbar und vermeidet Heterogenität und Detail und es bleibt ein am- Maria Tatari beschäftigt sich ebenfalls mit Ri- weitgehend eine angestrengte Wissenschafts- bivalenter Eindruck bei der Lektüre. mini Protokoll und entwickelt dabei Rancières sprache. „Arbeit am Theater“, Theater als Position von der „punktuelle(n) Freisetzung von Arbeit, Arbeit im Theater, diese Fragestellung Florian Vaßen Phantasie“ und der „gesellschaftskritische(n) verdankt dieser Text auch der Tatsache, dass die Funktion“ von Kunst ohne „politische(n) Autorin nicht nur Wissenschaftlerin, sondern Zweckmäßigkeit“; Leander Scholz untersucht auch Performancekünstlerin in der Gruppe Dietmar Kammerer (Hg.) (2012): Vom Publi- dagegen vor allem Rancières Theorem von der She She Pop ist und von daher die Arbeitsor- cum. Das Öffentliche in der Kunst. Bielefeld: „Kunstpraxis“ und der Gesellschaft als „sprach- ganisation am Theater, „die Frage nach den Transcript (= Image, Bd. 19), 241 Seiten liche Gemeinschaft“. Techniken des künstlerischen Produzierens, Theatralität, Publikum und kulturelle Öffent- die Ökonomie eines Inszenierungsprozesses“ Das Phänomen des Publikums rückt auch in der lichkeit sind zwar Leitbegriffe der Diskussion nicht nur theoretisch als „Untersuchungsge- Theaterpädagogik immer stärker in das Zent- in diesem Sammelband, aber erstaunlicherweise genstände“ behandelt, sondern sie auch aus rum des Interesses, wie zuletzt die BuT-Tagung beschäftigt sich nur Bettina Brandl-Risi in ih- der Theater-Praxis kennt. „Das aktive Publikum – Theatervermittlung rem Beitrag „Genuss und Kritik. Partizipieren Theater gilt ja gemeinhin wie alle Kunst als als künstlerische Praxis“ gezeigt hat und wie im Theaterpublikum“ mit dem Theater im ei- genuin schöpferischer Prozess voller Phanta- es demnächst ein Sammelband von André gentlichen Sinne, und zwar zunächst bezogen sie und Kreativität, und das soll auch nicht Barz und Gabriela Paule zum Zuschauer und auf das Publikum bei Richard Wagner, insbe- negiert werden. Aber Kunst hat auch – wie Zuschauen im theaterpädagogischen Kontext sondere die „Schnittstelle von Bewegen und man früher sagte – mit Können zu tun, ist ein zeigen wird. In diesem Zusammenhang ist Bewegtwerden“, die Reaktion des Klatschens handwerklicher Prozess, kurz: Es ist Arbeit auch die vorliegende Publikation Publicum und seine Regulierung sowie „die ritualisiernde nötig. Der Verdienst der vorliegenden Unter- von Dietmar Kammerer zu sehen. Perspektive“ des Festes. Darauf folgt eine kurze suchung ist es deshalb, dass Theater und Arbeit Das Kunstwort „Publicum“, begriffsgeschicht- Analyse der Partizipation, inklusive „Dissens und meines Wissens zum ersten Mal so umfassend lich seit Gottsched für gesellschaftliche und Stolpern“, sowie der „Live-Synchronisation“ bei zusammengedacht werden und dabei neue ästhetische Öffentlichkeit verwendet, soll in „Deutschland 2“ von Rimini Protokoll. An beiden Sichtweisen und Perspektiven entstehen. Der diesem Sammelband als „Durchgangs- und Beispielen zeigt die Autorin das Spannungsver- erste Satz der Einleitung klingt banal, ist aber Umschlageplatz“ verstanden werden, „der hältnis von „Differenz und Affirmation, von zugleich programmatisch zu verstehen: „‚Die selbst unbestimmt zu halten wäre: als denjeni- Sich-Hingeben an das Genießen und Gelingen Theaterleute üben einfach im Theater ihr Ge- gen Punkt, an dem Kunst und Öffentlichkeit und gleichermaßen ein Potential zur Kritik.“ werbe aus, so wie Bäcker das ihre in der Bäckerei konvergieren“ und „der sich nur im Nega- Der Sammelband enthält viele anregende und ausüben.‘“ Kein Geringerer als Bertolt Brecht tiven bestimmen lässt.“ Dementsprechend überraschende Sichtweisen und Perspektiven. wird hier zitiert und steht für ein Anti-Genie- „zeichnen“ die einzelnen Beiträge „ein Bild Vor allem wer sich mit Rancières Sicht auf Theater. Daraus folgt: „Das Kunstmachen des Publikums zwischen Kontemplation und den Zuschauer im Rahmen der ästhetischen wird zur anthropologischen Konstante: Der Intervention, als einen Raum der Möglichkeit „Neuaufteilung des Sinnlichen“ und seiner Mensch muss Kunst pr oduzieren genauso wie jenseits der Begrenzungen von Institutionen politischen Philosophie intensiver beschäftigen Lebensmittel.“ In diesem Kontext untersucht oder Einzelkünsten.“ möchte, wird diese Publikation mit Gewinn die Autorin „das Verhältnis von Theater und Diese allgemeine These reicht allerdings kaum lesen; wer als TheaterpädagogIn Orientierung Arbeit in ästhetischer, ökonomischer, anthro- als Grundlage der sehr heterogenen Beiträge und Hilfestellung im Kontext von Publikum pologischer und sozialer Hinsicht“. Dabei spielt aus. Zunächst wird der Raum der Bildenden und Öffentlichkeit erwartet, wird dagegen nicht nur Arbeit im Theater eine große Rolle, Kunst abgeschritten, Lars Blunck schreibt kaum auf seine Kosten kommen. Immerhin die Kunst wird auch zum „Modell“ für „ein über Relationale Kunst, Sebastian Gießmann wird die wichtige Frage gestellt, die sich auch anderes Konzept von Arbeit“, „die Kreativität über Marx Lombardi und Eva Kernbauer jede/r TheaterpraktikerIn immer wieder stellen des Künstlers wird zur Leitfigur bei der Um- über Museen sowie „Das Publikum in der sollte: „Welches Publikum sind wir? Welches gestaltung von der Arbeitsgesellschaft in eine kunsttheoretischen Tradition“ und reflektiert Publikum möchten wir sein? Und in welchem ‚Kulturgesellschaft‘.“ Da jede Kunstform ihre dabei Begriffe wie multitude (Michael Hardt/ Publikum möchte ich welchen Anteil haben?“ „Besonderheiten“ hat, sind Kunst und Arbeit Toni Negri) oder communauté/„Gemeinschaft“ „historisch genau zu differenzierende Begriffe“; (Maurice Blanchot/Jean-Luc Nancy) und vor Florian Vaßen das Theater besitzt also eine spezifische Form, Rezensionen 77

Rezensionen zu seiner Praxis gehört in besonderem Maße das „Zuschauen wie das Zeigen“ und es verändert sich ständig in einem historischen Prozess. Es geht der Autorin letztlich auch „um eine ‚Ent- zauberung des Theaters‘ durch die Offenlegung der Konstruktionen.“ Nach der ausführlichen Einleitung wird im ersten Kapitel zunächst die spannende Be- griffsgeschichte von Arbeit, ihre Gegenpole, Spielen und Müßiggang, sowie die sehr unter- schiedlichen Arbeitsbegriffe von Jean-Jacques Rousseau, Adam Smith, Karl Marx, George Bataille und Hannah Arendt vorgestellt. Das zweite Kapitel „Kunst und Arbeit“ zeigt die historisch entstandene Trennung von Kunst und Arbeit, thematisiert die speziellen Le- gimitationsprobleme der Theaterkunst im Spektrum der Künste und leitet über zur Arbeit am Theater, ein Begriff der hier wei- tergefasst ist als Brechts „Theaterarbeit“ und Pavis’ daraus abgeleitete travail théâtral, die sich auf die Tätigkeit der Hervorbringung der Inszenierung beschränkt. Die Probe als Arbeit im Sinne von „Wissensge- nerierung“, von Experiment, Suche nach dem Unbekannten, und zugleich als Wiederholung steht im Zentrum der weiteren Diskussion, die als Diskursgeschichte von den Anfängen um 1800 über die „Diskursivitätsbegründer“ Stanislawski und Brecht und deren Sichtweise und Probenpraxis bis zur heutigen Situation untersucht wird. Das sehr heterogene, wider- sprüchliche und undurchschaubare „Diskursfeld der Probe“ (Hajo Kurzenberger) besteht aus einem „Spannungsfeld von Ausstellen und Ver- bergen, Organisation und Kreativität, Disziplin und Freiheit, Kollektivität und Autorschaft“; es Martin Jürgens (2012): Helle Ekstasen. Essays schmutzigen und schmerzenden Themen seiner besteht zudem das Problem der Beobachtung zum Theater und zur Theaterpädagogik. In Zeit auseinander. Dabei gibt er sich stets als und Verbalisierung der Probenprozesse, die der Reihe: Lingener Beiträge zur Theaterpä- fühlendes und denkendes Individuum tief in Frage danach, was dargestellt und was wegge- dagogik, Band X. Berlin, Milow, Strasburg den gesellschaftlichen Konflikt hinein, nimmt lassen wird, sowie das Problem der Quellen. (Schibri-Verlag), 245 Seiten wahr, beobachtet, denkt dialektisch, erprobt Sehr detailliert werden in Kapitel 7 die „Ver- Haltungen, resümiert und positioniert sich. fahren und Techniken“ der Probe sowie in Der Soziologe, Literaturwissenschaftler, Hoch- Diese intellektuelle Praxis des „Sich-hinein- Kapitel 8 die zentralen Aspekte „Probenzeit“ schullehrer, Regisseur, Schauspieler, Schriftsteller, Begebens“ hat unweigerlich Konsequenzen: und „Arbeitsraum“ analysiert, bevor in Kapi- Lehrstückkollektivist und Mensch Martin Sie verändert den Menschen. In diesem Sinn tel 9 mit der „Kollektiven Kreativität“ (siehe Jürgens veröffentlicht im Schibri Verlag – auf zeugt Jürgens‘ Buch von einer „Vita activa“ Fischer/Vaßen: Collective Creativity 2011) mit Anregung von Gerd Koch und Bernd Ruping und nur zu einer solchen ist es zu gebrauchen. ihrem „Potenzial“, ihrer „Herausforderung wie – fünfzehn „Essays zum Theater und zur The- Die Süße, der Rausch und die Bitterkeit der Widerstand“ wieder ein Spezifikum des Thea- aterpädagogik“ aus den Jahren 1973 bis 2010. Früchte dieser Praxis der Einmischung kann ters kritisch erörtert wird. Wer nun eine Sammlung von Erinnerungs- nicht beworben werden. Den Eingeweihten Gegen eine „Mystifizierung künstlerischen Schaf- stücken aus einem „bewegten“ intellektuellen sind sie bekannt. Für Nichteingeweihte gibt fens“ hat die Autorin „das Verhältnis von Arbeit Leben erwartet, wird enttäuscht und überfor- es nur zwei Möglichkeiten: Öffnen oder ge- und Kunst“, speziell die Arbeit am Theater, d. h. dert. Bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis schlossen halten. Vor diesem Buch sei gewarnt. vor allem die Proben, sehr genau und systematisch könnte den unbedarften Leser jedoch warnen: Es gibt kein Zurück. untersucht und dabei drei „Dispositive“ entwi- Überschriften wie „Die Inszenierung des wirkli- ckelt: „Prüfung, Versuch, Übung“ als „T esten chen Todes“, „Intensive Moral oder amoralische Jan Weisberg eines Wissens“, als „Erfindung“ und Experiment Intensität“, „Der Wahn der Moderne und die sowie als „Einübung“ theatraler Praktiken. Diese Wahrheit der Irren“, „Elend und Wut der Statis- Publikation steht damit auch im Spannungsfeld ten der Geschichte“ lassen eine Kraft erahnen, Berichtigung zu Heft 61 der „Zeitschrift für von Produktionsästhetik und Performativität, die einen bequemen Lehnsessel am Kaminfeuer Theaterpädagogik“, S. 85 f. mit der Perspektive von Performativität als einer unversehens in den ungemütlichsten Ort der anderen „Ästhetik des Produzierens“. Welt zu verwandeln vermag. Dort wurden „Neue Bücher zum ‚Theater der Martin Jürgens setzt sich in seinen Essays (wie Unterdrückten‘“ vorgestellt. Richtig ist: Harald Florian Vaßen in seiner Theaterpraxis) mit den schwierigen, Hahn war der Rezensent. 78 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Ankündigungen ANKÜNDIGUNGEN

fair Culture – die Welt von morgen. Internationales Jugendtheaterfestival und Symposium vom 14.–18. Juni im Ballhof und im Leibnizhaus, Hannover

Jugendtheatergruppen aus Ghana, Malawi, Das Symposium über entwicklungsbezogene Weitere Informationen unter: Palästina, Polen, Tansania, der Türkei, aus Theaterarbeit findet vom 16.–18.06. statt. [email protected] Hannover und der Region nehmen mit Die besondere Chance des internationalen Veranstaltungsorte: ihren Produktionen und Projekten teil am Austauschs liegt in der direkten Verbindung Festival: internationalen Theatertreffen „fairCulture von Anschauung und Reflexion: Welche Vor- Junges Schauspiel Hannover, – die Welt von morgen“, das vom 14.–18. stellung von fairCulture haben die gezeigten Ballhofplatz 5, 30159 Hannover Juni 2013 im Jungen Schauspiel der nieder- Theaterprojekte gemeinsam – und damit junge Symposium: sächsischen Landeshauptstadt stattfindet. Menschen aus Ost und West, Nord und Süd? Leibnizhaus, Holzmarkt 5, 30159 Hannover Veranstaltet wird das internationale The- Welchen Beitrag leisten diese Projekte für die atertreffen – mit Festival und Symposium Diskussion um Gerechtigkeit und Teilhabe? Veranstalter: – von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Ausgehend von den konkreten Praxisbeispielen • Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Spiel Spiel & Theater, vom Jungen Schauspiel des wird ein Theater diskutiert, das Aufklärung, & Theater e. V., • Junges Schauspiel des Staatstheaters Han- Staatstheaters Hannover sowie dem Agenda soziales Bewusstsein und Selbstbestimmung nover, 21- und dem Kulturbüro der Stadt Han- fördern will. Die fachliche Auseinanderset- • Kulturbüro und Agenda 21-Büro der nover in Zusammenarbeit mit zahlreichen zung darüber ist auf unterschiedlichen Ebenen Stadt Hannover bundesweiten und internationalen Koope- angesiedelt: in Zusammenarbeit mit: rationspartnern. Die Theaterproduktionen, 1) Soziale Ästhetik: Welche ästhetischen • Leibniz Universität Hannover (Studien- gang Darstellendes Spiel), die auf dem Festival gezeigt und diskutiert Besonderheiten sind bei den internationalen • UNESCO-Chair „Cultural Policy for werden, stehen im Zeichen der Auseinan- Projekten und Produktionen zu beob- the Arts in Development“ (Universität dersetzung mit aktuellen Themen, die den achten? Welche künstlerischen und Hildesheim), jugendlichen Darsteller_innen unter den Nä- entwicklungsbezogenen Ziele verfolgen • Theaterpädagogisches Zentrum Hanno- geln brennen, wenn sie über die Welt heute die Theatermacher_innen? ver, • bundesweiten und internationalen Part- und ihre Welt von morgen nachdenken. Wie 2) Spielleitung/Kulturvermittlung: Welche Funk- nern. fair sind wir im Umgang mit den natürlichen tion übernimmt die Spielleitung innerhalb mit Förderung von: Ressourcen, mit Wasser und Nahrungsmit- der Theaterarbeit? Welche Arbeitsweisen und • Brot für die Welt/Evangelischer Ent- teln? Wie fair ist der Zugang zu Bildung, zu methodischen Ansätze werden genutzt? wicklungsdienst kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe in 3) Kultur- und Entwicklungspolitik: Welche • Bundesministerium für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend den verschiedenen Ländern? Wie geht fair Förderinstrumente gibt es für Theater • Bundesbeauftragter für Kultur und Me- in der internationalen Zusammenarbeit? im Entwicklungszusammenhang? Welche dien Künstlerisch tätige Jugendliche, Theater- Rahmenbedingungen braucht kulturelle • Niedersächsisches Ministerium für Wis- macher_innen und Theaterpädagog_innen, Bildung? senschaft und Kultur Darsteller_innen und Fachexpert_innen aus 4) Wirkungsforschung: Welche Auswirkungen • Stiftung Niedersachsen • Stiftung Mercator Süd und Nord, aus Ost und West treffen hat Theaterarbeit auf die gesellschaftliche • Goethe-Institut sich zu einem Dialog der Kulturen, zu ei- Situation der Beteiligten? Welchen Anteil • Stadt und Region Hannover nem Dialog über die Rechte der Kinder und kann Theater am gesellschaftlichen Wandel Jugendlichen, einen Dialog, der konkret in haben, kann es Wandel bewirken bzw. ver- künstlerischen Prozessen und anhand von stärken? Gibt es hierfür messbare Resultate? Theater-Produktionen geschieht, mit per- Das Symposium wird Formate nutzen und sönlichen Begegnungen und gemeinsamem erproben, die eine Fachdebatte von Theater- Handeln, mit Austausch von Ideen, Konzep- macher_innen aus allen Ländern ermöglichen ten und der Verständigung über Werte. Die und für den Aufbau neuer Partnerschaften zum Festival eingeladenen Theaterprojekte, genutzt werden sollen. In Fachvorträgen, die sich häufig an der Schnittstelle zwischen Projektpräsentationen, Workshops und Dis- sozialem Engagement und künstlerischem kussionsforen treten Expert_innen aus dem Anspruch bewegen, entwickeln eine eigene Feld der kulturellen Bildung und die theater- Ästhetik, sind häufig Motor für gesellschaft- spielenden Jugendlichen in einen öffentlichen lichen Wandel. und kritischen Dialog. In diesem Sinne wendet Das Festival bietet eine Plattform für Jugend- sich die Tagung an Theatervermittler_innen, liche und Künstler_innen, die sich mit ihrem die internationale Aktivitäten reflektieren, kritischen und produktiven Geist einbringen, neu entwickeln oder ausbauen möchten. Die sich als Expert_innen ihres Alltags kulturell Verständigung während des Festivals und auf artikulieren und die Freude entfalten an einem der Tagung erfolgt in englischer und deut- Miteinander-Gestalten der Welt von morgen. scher Sprache. Ankündigungen 79

Ankündigungen

Chorische Spielweisen – Kollektive Prozesse in der Theaterpädagogik Eine offene Werkstatt-Fachtagung vom 15. bis 17. November 2013 im Tagungshaus Himbergen

Die für alle Interessierten offene Werkstatt- einzubringen. Im Zentrum des Workshops Sonntag, 17.11.2013: Abschluss des Work- Fachtagung begreift das Konzept eines steht die gemeinsame Suche nach einer cho- shops, wor(l)d café; Abfahrt nach dem chorischen Theaters als eine besondere rischen Partitur, nach einer wirkungsvollen Mittagessen. Herausforderung an Theaterpädagogin- Abfolge minidramatischer Ereignisse – nach Ort: nen und -pädagogen. An die Stelle des/r jenem Mit- und Gegeneinander, das die Span- Tagungshaus Himbergen (Niedersachsen), Protagonisten und der psychologischen nung ausmacht zwischen dem Einzelnen und 29584 Himbergen, Bahnhofstr. 4, info@ Rollendarstellung tritt hier eine chorische den Vielen. thhimbergen.de, zwischen Uelzen und Lüne- Erzählweise, bei der ein Kollektiv aus vie- Ablauf: burg gelegen, DB-Anschluß in Bad Bevensen len Spielpartnerinnen- und partnern auf Der Workshop wird durchgeführt durch Dr. (plus Bus, Taxe oder Abhol-Absprachen); der Bühne agiert. Denn chorisches Theater Ole Hruschka und Rebekka Steil (Leibniz siehe auch: www.tagungshaushimbergen.de ist eine Kunstform, die den Protagonisten Universität Hannover, Studienfach Darstellen- Anmeldung und Information: ablöst und als vielstimmige und vielgestal- des Spiel). Anhand von Wahrnehmungs- und fl[email protected] tige Gruppe neuere und wirkungssichere Gruppenübungen werden Grundprinzipien Teilnahmekosten (einschließlich Übernachtung, Spielformen zu entwickeln vermag, die des chorischen Spiels vermittelt – durch Selbst- Verpflegung, Workshop-Leitung; Bettwäsche ist zudem die Brüchigkeit unserer heutigen erprobung ebenso wie durch Beobachtung, mitzubringen oder gegen Entgelt zu entleihen): Wirklichkeit einzufangen sucht. Chorische Beschreibung und Reflexion. Ein weiterer 130,-- für Berufstätige, 100,-- für Mitglieder Formen befördern die nicht-hierarchische, Schwerpunkt der Chorwerkstatt liegt auf dem der Gesellschaft für Theaterpädagogik/Nieder- gleichberechtigte Theaterarbeit; sie reflektie- Gesang und musikalisch-rhythmischen Übun- sachsen, 65,-- für Studierende, Arbeitslose ren sowohl auf der Ebene der Darstellung gen. Die Zwischenergebnisse sollen in einer usw. Bitte die Summe bis 1. November 2012 als auch im Dargestellten das Verhältnis Abschluss-Präsentation am letzten Workshop- unter dem Stichwort „Himbergen“ auf das zwischen Individuum und Gemeinschaft. Tag, dem Sonntagvormittag, gebündelt werden. Konto der Gesellschaft für Theaterpädago- Für die unmittelbare – etwa schulische und Bitte bedenken: Bequeme Kleidung ist not- gik, Sparkasse Hannover, BLZ 250 50 180, außerschulische – methodische Praxis ist die wendig. Kto.-Nr. 556106, überweisen. chorische Spielweise deshalb sehr geeignet Anreise bis Freitag, 15. 11. 2013, Veranstalter: Gesellschaft für Theaterpäda- für größere Gruppen. Chorische Theater- 18.00 Uhr: Abendessen; Impulsreferat: Cho- gogik/Niedersachsen e. V. (gefördert durch arbeit ist getragen von der gegenseitigen rische Spielweisen im zeitgenössischen die BAG Spiel und Theater e. V. aus Mitteln Wahrnehmung der Spielpartner, von der Theater des Bundesministeriums für Familie, Seni- Bereitschaft, sich zurückzunehmen und Samstag, 16.11.2013: Workshop. oren, Frauen und Jugend)

Theaterpädagogisches Wissen im Kontext gesellschaftlichen Handelns Ständige Konferenz Spiel und Theater an Hochschulen, Jahrestagung

Wann? > 20. bis 22. September 2013; tisch befragen und erkunden, welche Optionen hörerposition ‚getauscht‘ werden soll. Wir Mitgliederversammlung: 20. September des Widerstandes theaterpädagogisches Wissen möchten euch herzlich dazu einladen, auf 2013, 17 Uhr gegen ein „Regime der Kreativität“ in Zeiten diesem Basar einen 15-minütigen Beitrag Wo? > Institut für Theaterpädagogik, Uni- des Neoliberalismus entwickeln könnte. Nach zu leisten. Dieser kann in einem Kurzvor- versität der Künste Berlin, Bundesallee einer Einführung in die Fragestellung und zwei trag, einem Statement oder einer Lecture 1–12, 10719 Berlin Impulsvorträgen zum Thema ist geplant am 21. Performance bestehen. Dabei sind auch der Theaterpädagogisches Wissen und Handeln 9. nachmittags den „Basar theaterpädagogischen Einsatz von Medien (z. B. Bildmaterial auf konstituiert sich vor dem Hintergrund einer Wissens“ zu eröffnen, auf dem in mehreren dem eigenen Laptop) und/oder performative positiven Bewertung kreativen Produzierens Runden Theorie- und Praxis-Wissen der Theater- Anteile möglich. Eine Einladung mit allen und künstlerischen Agierens. Eben dieses pädagogik in einer persönlichen 1:1-Begegnung Anmeldungsmodalitäten geht den Mitglie- Wissen wollen wir in seiner Ambivalenz kri- und im Wechsel zwischen Vermittler- und Zu- dern der Ständigen Konferenz in Kürze zu. 80 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2013

Autorenverzeichnis – Kontakte

„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ AUTORENVERZEICHNIS – KONTAKTE (Aristoteles) Vivica Bocks Norma Köhler [email protected] [email protected] An der Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg ist zum 1.Ok- Claudia Bühlmann Silke Lenz tober 2013 in der Fakultät Soziale Arbeit cb.offi[email protected] [email protected] und Gesundheit eine Stelle als Lehrkraft Wiebke Dannecker Hülya Ösun für besondere Aufgaben im Bereich [email protected] [email protected] Theaterpädagogik (50%) Daniela Fichte Andreas Poppe (Sozialpädagoge/in, Diplom oder B.A.) danielafi[email protected] [email protected] zu besetzen. Die Stelle ist dem Aufga- Martin Frank Klaus Riedel benbereich „Kultur-Ästhetik-Medien“ zu- [email protected] [email protected] geordnet und soll die Theaterpädagogik innerhalb des Studiengangs Soziale Ar- Florian Frenzel Friedhelm Roth-Lange beit ergänzen und weiter entwickeln. fl[email protected] [email protected] Das Aufgabengebiet umfasst u. a.: • Konzipierung und Durchführung von Sabrina Guse Mira Sack (Lehr-) Veranstaltungen im Bereich [email protected] [email protected] Theater- und evtl. Spielpädagogik Melanie Hinz Christoph Scheurle • Entwicklung und Initiierung von Thea- [email protected] [email protected] terprojekten • Konzeptionelle Weiterentwicklung des Dorothea Hilliger Juliane Steinmann Aufgabenbereichs Theaterpädagogik [email protected] [email protected] • Mitwirkung bei Aufgaben der Selbst- verwaltung an der Hochschule Ole Hruschka Florian Vaßen [email protected][email protected] Einstellungsvoraussetzungen Felicitas Jacobs Maik Walter • Abgeschlossenes einschlägiges [email protected] [email protected] Hochschulstudium (z. B. grundstän- diges Studium der Theaterpädagogik Bärbel Jogschies Geesche Wartemann oder Aufbaustudiengang, auch künst- [email protected] [email protected] lerisches oder pädagogisches Stu- dium mit entsprechend anerkannter Gerd Koch Jan Weisberg theaterpädagogischer Weiterbildung) [email protected] [email protected] • Nach Abschluss des Studiums min- destens drei Jahre Berufserfahrung außerhalb einer Hochschule Lothar Kuschnik / Arno Paschmann • Künstlerische und pädagogische Eig- Lothar Kuschnik / Arno Paschmann THERAPIE IN AKTION nung THERAPIE • Weitere Kenntnisse in verwandten IN AKTION Joop Krops Aktionstherapie – Bereichen (z.B. Tanz, Spiel, Bewe- Eine Handlungsmethode für die Praxis gung, Musik) sowie Erfahrung in der 250 Seiten · ISBN 978-3-89797-081-6 · EUR 27,99 Lehre an Hochschulen erwünscht • Teamfähigkeit, sowie Kommunika- Claudio Hofmann EHP Joop Krops HILFEAktionstherapie KOMPAKT tions- und Kooperationsfähigkeit Eine Handlungsmethode für die Praxis ACHTSAMKEIT ALS LEBENSKUNST Die Stelle zielt auf eine Teilzeitbeschäf- tigung (4/8) ab. Die Beschäftigung ist 128 Übungen für den Alltag vorerst auf zwei Jahre befristet. Eine un- 298 S., Tab., Checklisten · ISBN 978-3-89797-302-2 befristete Verlängerung ist möglich. Die EUR 22,00

26. Jahrgang Eingruppierung erfolgt in Entgeltgruppe Claudio Hofmann Heft 2 / 2012 11 des TV-L. Forum für Gestaltperspektiven

ACHTSAMKEIT Spiritualität und Ethik

ALS LEBENSKUNST E T Spiritualität, Religion und Mystik

A B Gestalttherapie – Ethik und soziale Verantwortung Ihre Bewerbung mit den üblichen Un- H H  Integrative Gestalttherapie aus dem Blickwinkel der schöpferischen Indi erenz Salomo Friedlaenders

128 Übungen für den Alltag E  K »Unnished business« unserer Ahnen terlagen (Lebenslauf, Zeugnisse, Nach- P R  Entherrlichung von Psychotherapie V C Die Macht der Sehnsucht nach dem Vater GESTALTTHERAPIE oder: Wozu sind Väter gut? weise über den beruflichen erdegang Forum für Gestaltperspektiven und die wissenschaftlichen Arbeiten) 23. Jahrgang 2012 (Heft 2) 9,00 EUR werden bis 15.05.2013 erbeten an den Hg. Dt. Vereinigung für Gestalttherapie, DVG Zeitschrift für ISSN 0933-4238 · 2 Hefte jährlich; 90-120 S. Gestaltpädagogik Präsidenten der Hochschule für an- Einzelheft EUR 12,- / CHF 19,20 gewandte Wissenschaften Coburg Abo/Jahr EUR 20,- / CHF 34,50 Friedrich-Streib-Straße 2 96450 Coburg ZEITSCHRIFT FÜR GESTALTPÄDAGOGIK Bewerbungen per E-Mail bitte nur im Hg. Gestaltpädagogische Vereinigung (GPV) e.V. PDF-Format als eine Datei an: ISSN 1615-6404 · 2 Hefte jährlich; jeweils 64 S. Märchen und andere Wunder des Lebens Abo/Jahr: EUR 16,- / CHF 25,60 [email protected] senden. Gestaltpädagogigsche Vereinigung e.V. (Hg.) Die Hochschule Coburg hat sich die be- Einzelheft: EUR 9,- / CHF 14,40 rufliche örderung von rauen zum Ziel gesetzt und begrüßt deshalb ausdrück- lich Bewerbungen von Frauen. Weitere Infos zum Buchprogramm, zu Zeitschriften und Service: Bewerbungen von schwerbehinderten www.ehp-koeln.com Menschen im Sinne des § 2 i.V.m. § 68 EHP - Verlag Andreas Kohlhage · www.ehp.biz SGB IX werden bei sonst im Wesentli- chen gleicher Eignung bevorzugt. Tel. 02202-981236 · PF 200222 · 51432 Bergisch Gladbach