swissjazzorama jazzletter

Nr. 27, März 2013

EDITORIAL Liebe Leserinnen, liebe Leser Noch nie gab es einen Jazzletter, 24.6.1932 –10.1.2013 in dem wir über den Tod so vieler Schweizer Jazzgrössen zu berichten hatten. Gleich auf unserer Titelseite ehren wir George Gruntz, einen Musiker von herausragender Bedeutung. Die vielen Zeugnisse seines Schaffens sollen bei uns PIANIST sicher erhalten bleiben.

BANDLEADER Kaum ein Freund von Jazz und ARRANGEUR Blues hat mit soviel Konsequenz all das gesammelt, was während Jahr- KOMPONIST zehnten in irgendeiner Weise den Jazz in der Schweiz dokumentiert DIRIGENT hat. Was Hans Philippi geleistet hat, auch er ein Basler wie George RADIOMODERATOR Gruntz, stellen wir Ihnen auf den FESTIVALLEITER Seiten 2 und 3 vor und berichten darüber, wie sich Mario Schnee- BERLINER JAZZTAGE berger bemüht hat, Philippis Rie- senmenge an Dokumenten in einen CONCERT JAZZ BAND geordneten Rahmen zu bringen.

ZÜRCHER SCHAUSPIELHAUS Hier auf alles hinzuweisen, was es NEWPORT JAZZFESTIVAL in diesem Jazzletter zu lesen gibt, ginge zu weit. Sie werden bei der WORLD JAZZ OPERA Lektüre feststellen, dass wir auch dieses Mal in der Wahl unserer AUTOBIOGRAFIE: Beiträge die ganze Bandbreite von Jazz und Blues berücksichtigt ALS WEISSER NEGER GEBOREN haben.

WA Herzlich Es wäre vermessen, hier ausführlich sehr nahe stand, war tatsächlich, beschreiben zu wollen, was der ein- wie Uli Bernays am 14. Januar zigartige George Gruntz in seinem in seiner Würdigung in der NZZ Antworten waren so bedeutungs- Leben als Musiker alles geschaffen geschrieben hat, der international voll, dass wir sie mindestens teil- hat. Am 10. Januar ist er nach langer erfolgreichste Jazzmusiker der weise in einer ausführlichen Würdi- Krankheit im Kreise seiner Familie Schweiz. Trotz seines übervollen Ter- gung des Verstorbenen in unserer gestorben. Einstweilen beschränken minkalenders war es ihm im Som- nächsten Ausgabe einfügen wer- wir uns darauf, hier mit Stichworten mer 2002 nicht zu viel, uns einige den. Einen ersten von Fernand auf all seine Aktivitäten hinzuweisen. Fragen zur Situation des Jazz in Schlumpf verfassten Nachruf fin- George, der dem Swissjazzorama der Schweiz zu beantworten. Seine den Sie auf Seite 11.

Inhalt 2 In eigener Sache/Hans Philippis Zeitdokumente 4 John Ward: «Jazz ist mein Leben» 6 Blick ins Archiv: Unsere Notensammlung 7 Dave Brubeck: Jazz-Perspektiven 8 Erich Büsser: Jazzmusiker, Musiklehrer… 9 Notre page en français: Débat sur le Blues 10 Betty Bestgen: «Der Swing war meine Spezialität» 11 In memoriam George Gruntz / Claude Nobs 12 In memoriam / Welt-Jazztag / Impressum

1

weiterhelfen wollen. Raschmöglichst wollen wir den, uns zu besuchen. Wir gestalten gerne Grup- IN EIGENER SACHE unsere Datenbank auch ins Internet stellen. Jazz- penführungen, evtl. verbunden mit einem Essen interessierte aus aller Welt sollen in unserem Ar- oder Apéro. Mit kleinen, wohldosierten chiv-Katalog nachschauen können, was in Uster Eine grosse Menge Ausstellungsmaterial und Schritten vorwärts oder uns angeschlossenen Archiven tatsächlich -Mobiliar, zu dem auch unsere erste Ausstellung vorhanden ist und ob es sich lohnt, bei uns an «Jazz in der Schweiz» gehört, konnte übernom- Wie im Jazzletter Nr. 26 vom August 2012 Ort und Stelle in die Originale Einsicht zu neh- men und in Uster eingelagert werden. erwähnt, habe ich Ende Juli die Geschäftsleitung men, detaillierte Informationen zu sammeln oder Swissjazzorama im Radio SRF übernommen. Mit dem Sekretariat und mit tat- mit dem Material wissenschaftlich zu arbeiten. kräftiger Mithilfe des Vizepräsidenten, etlicher Beat Blaser, Redaktor bei SRF II, hat eine nicht Finanzielle Mittel für die Reorganisation Mitglieder der Crew und des Vorstandes, küm- überwältigend schmeichelhafte Sendung über mere ich mich seither um die laufenden Geschäfte Nach dem Kanton Graubünden, der unser mehr- die Arbeit des Swissjazzorama ausgestrahlt. und vorerst noch kleine Projekte. jähriges Reorganisationsprojekt von Anfang Basierend auf Aussagen von Fernand Schlumpf, Datenbank für unsere grossen Sammlungen an mit CHF 2000.– unterstützt hat, konnte sich Christian Steulet und Bruno Spoerri ging er der nach eher zähen Verhandlungen auch die Fach- Frage nach, ob das Sammeln und Archivieren von Soeben haben wir vom privaten Eigentümer eine stelle Kultur des Kantons Zürich dafür erwär- Dokumenten und Tonträgern aus dem Bereich Kopie der Datenbank «JazzIndex» gekauft. Auf men, uns mit einem einmaligen Beitrag von «Jazz» in der Schweiz überhaupt sinnvoll und Basis des bereits vorhandenen Datenmaterials CHF 25 000.– weiterzuhelfen. Wir haben zusätz- nötig sei. Für Material mit Schweizer Bezug, gab können wir unter eigenem Namen, uneinge- lich etwa 20 Gesuche an Stiftungen und Privat- es ein klares JA. Über die Art und Weise, wie und schränkt und ohne Lizenzgebühren, weiterarbei- personen versandt. Etlichen Absagen stehen durch wen das geschehen soll und wer das be- ten. Einerseits möchten wir vorhandene fehler- zahlreiche Pendenzen gegenüber. zahlen muss, gab es unterschiedliche Meinungen. hafte Eingaben eliminieren, anderseits neuere Weitere Diskussionen und Vorschläge sind er- «Helvetica» Archiveingänge erstmals erfassen und zusätzliche wünscht. Das Swissjazzorama fordert, wie auch Sparten neu einführen (Bücher, anderes Print- Weiter fortgeschritten sind die Arbeiten am Bruno Spoerri, ein professionelles Vorgehen. material, Dokumente, Noten usw.). Die Datenbank Projekt «Helvetica». Überraschend viele Doku- Schweizer Jazz am Fernsehen geht von Musiker-Namen oder Band-Bezeich- mente und Tonträger konnten identifiziert nungen aus, die mit dem ganzen Datenbestand und gekennzeichnet werden. Sie werden in Zur Zeit recherchieren drei Fachpersonen der Re- vernetzt sind. So kann sie z.B. für jeden Musiker diesem Jahr elektronisch erfasst und auch für daktion SRF zu einer dreiteiligen Sendung über die in unserem Archiv vorhandenen Originale die Fonoteca bearbeitet. Die Arbeit ist den Jazz in der Schweiz. Unser Archiv durfte für umfassend aufzeigen: welche Tonträger er einge- äusserst spannend und lehrreich. Sie liefert den ersten Teil zur Frühzeit des Schweizer Jazz spielt hat, wann, mit wem, mit welchen Titeln, in uns auch Hinweise auf Personen, die wir inter- wertvolle Dienste leisten. welchen Büchern, Dokumenten usw. sein Name viewen und über die «Frühzeit» des Jazz in der prominent auftaucht, welches Fotomaterial wir Schweiz befragen sollten. Ein Verzeichnis bereits Gerne begrüsse ich Sie, liebe Jazzfreunde, am von ihm haben usw. Es wird etwas Zeit brauchen durchgeführter Befragungen finden Sie NEU auf Freitag, 22. März, an der Jahresversammlung un- und ziemlich viel Arbeit geben, bis alles unseren unserer Webseite unter Medien, Publikationen. seres Vereins Swissjazzorama im Musikcontainer Vorstellungen entspricht, weil ergänzende Pro- Uster. Nur persönliche Aussprachen und aktives Ausstellungen gramme entwickelt werden müssen und vieles Mithelfen bringt uns weiter. Ich danke allen für neu erfasst werden muss. Mit dieser Wende zum Die laufende Ausstellung «Jazz Ladies» findet ihr teilweise überwältigendes Engagement zum Guten wird daher auch ein riesiges neues Betäti- guten Anklang. Noch fehlen Besuchsklassen der guten Gelingen unserer Organisation und ver- gungsfeld eröffnet, weshalb wir noch zusätz- Musikschulen und Jazzhochschulen. Auch Kultur- bleibe mit swingenden Grüssen liche Leute suchen, die uns durch Gratisarbeit vereine und Serviceclubs sind herzlich eingela- Andrea Engi

Datumszettel aus dem Abreiss- Jazz in der Schweiz kalender beigegeben, was eine exakte Datierung ermöglicht. Alles 1924 –1976 Zeitdokumente ist sorgfältig eingeklebt, sei es mit Fotoecken, Leim oder Klebeband. des Baslers Hans Philippi Über den von ihm gegründeten Hot Club Basel ist wenig enthalten. Hans Philippi, geboren am 17. Dezember1905, war einer der ersten Trotzdem ist seine Vaterstadt Basel Jazzfreunde in der Schweiz. Er bemühte sich um die Anerkennung die- vergleichsweise gut vertreten. ser neuen Musik als Kunstform, gründete einen Jazzclub, hatte eigene Sendereihen am Radio, hielt Plattenvorträge überall in der Schweiz, Die Inhaltsanalyse war bekannt mit Jazzgrössen wie Louis Armstrong und Kennern wie Hugues Panassié oder Charles Delaunay. Da kam also dieser Schatz aus hei- terem Himmel. Für dieses Glück Der Fund nerungsalben von Hans Phlippi. wollte sich der Verfasser revan- Die ersten Eintragungen datieren chieren. Er beschloss, den Inhalt Im Februar 2004 erzählte eine Be- von 1924, die letzten von 1976. der Alben zu beschreiben und kannte, bei einer Wohnungsräu- interessierten Kreisen zugänglich mung sei eine Anzahl Alben für die Philippis Erinnerungsalben zu machen. Müllabfuhr bereitgestellt worden. Sie handelten vom Jazz und ent- Die für ihn wesentlichen Ereignisse Jedes Ereignis wurde erfasst, ob hielten teilweise sehr altes Mate- hat er chronologisch in Alben do- wesentlich oder nebensächlich. rial. Ob man das nicht retten solle, kumentiert. Enthalten sind Briefe, Ein besonderes Augenmerk ist der fragte sie. Fotos, Präsenzlisten, Konzertpro- Liebhaberszene gewidmet, die im gramme, Vortragsmanuskripte, Buch «Jazz in der Schweiz» von Der Verfasser durfte die Alben an Clubprogramme, Annoncen, Kri- Bruno Spoerri nur am Rande be- sich nehmen. Sie sind nummeriert tiken, Skizzen und ähnliches. Oft ist handelt wird. So wurden z.B. Jazz- von 1 bis 28. Die Alben 14 und 19 vom jeweiligen Ereignisort eine clubmitglieder, die auf einer Foto fehlten, tauchten aber später an Ansichtskarte beigefügt. Vielen erkenntlich oder deren Namen auf anderer Stelle auf. Es sind die Erin- Ereignissen hat Hans Phlippi einen einer Präsenzliste leserlich sind, in

2 die Beschreibung aufgenommen. Die Detaillierung wurde so ge- wählt, dass in vielen Fällen der Rückgriff auf die Originalunter- lagen nicht nötig ist. Dieser Rück- griff ist recht aufwändig, denn die Alben tragen keine Seitennum- mern. Die vom Verfasser zugeteil- ten Sequenzennummern bezeich- nen zwar die Reihenfolge, aber die richtige Seite muss müham gesucht werden, und hoffentlich fallen dabei keine Belege heraus.

Das Verzeichnis

Das Resultat der Inhaltsanalyse ist ein Verzeichnis von 550 Seiten. Nebst dem Verzeichnis der Alben und ihrem Inhalt gibt es verschie- dene Stichwortverzeichnisse. Alles ist im pdf-Format erstellt. Was von (allfälliges Copyright vorbehalten). Formulierungen dürfte leider kein Interesse ist, lässt sich so schnell Eine Ausleihe findet nicht statt, Mangel sein. Dafür entschuldigt und gezielt finden und ausdrucken. damit für jeden Besucher die voll- sich der Verfasser im Voraus. An- ständige Sammlung bereitliegt. regungen und Verbesserungen Zugang zu den Alben werden dankbar entgegengenom- Feedback men und eingearbeitet. Die Alben sind beim Verfasser ar- Mario Schneeberger chiviert. Die Übergabe an ein pro- Die Inhaltsanalyse ist das Werk email: [email protected] fessionelles Archiv ist mittelfristig eines Einzelnen. Vieles würde ein vorgesehen. Nach telefonischer Profi besser machen, zum Beispiel Zugang zu den Alben in 4 Schritten: Voranmeldung können die Alben in der Gestaltung oder Strukturie- 1. www.jazzorama.ch 2. Links besichtigt werden. Kopien werden rung. An Druckfehlern und hilf- 3. Fachpartner weltweit CH: JAZZdocumentation.ch so grosszügig wie möglich erstellt losen oder gar missverständlichen 4. Hans Philippis Erinnerungsalben

Ausschnitt aus einer Beschreibung des Inhalts der Philippi-Alben.

3 «Jazz ist mein Leben» Ein Besuch bei Drummer John Ward in Walchwil

«A heavy question! Jazz ist für mich eigentlich alles, er ist mein Leben.» – So antwortet Drummer John Ward auf die Frage, was ihm Jazz bedeute. John muss es wissen: Er hat, still going strong, seinen 85. Geburtstag ge- feiert. Dabei hatten ihn die Behörden im belgischen Mechelen schon 1947 aus ihrem Bürgerregister als nicht mehr existent gestrichen. Über die Wech- selfälle eines reichen Musikerlebens diskutierten René Bondt und Fernand Schlumpf mit John Ward und Gattin Erika in deren Heim am Zugersee.

Mechelen gehört zu den geschichtsträchtigen land deportierten. Verwoerst senior kam nach sche «Entwicklungshilfe» in Sessions mit be- Städten im flämischen Teil Belgiens. Dort wurde Berlin und hatte für Hitlers «Endsieg» Waffen zu kannten belgischen Jazzern, zu denen Bassist Jean Baptiste Verwoerst am 15. Dezember 1927 schmieden. Der dreizehnjährige John blieb in Jean Warland, Multitalent Toots Thielemans, Big- geboren. Lange vor dem Triumphzug des «ameri- Belgien zurück, hatte bei Pflegeeltern keine gute band-Gründer und Saxofonist Jack Sels und John can way of life» wurde aus Jean ein John, dem Zeit, litt Hunger. Dem Vater gelang es, den Kna- Ward gehörten. «Ich spielte damals in der Sels- sein Vater – Wirt, Akkordeonist und Trompeter – ben zu sich in die Reichshauptstadt zu holen. Bigband, die Bill Kent in gute Form brachte», die Töne und Rhythmen sozusagen in die Wiege erinnert sich John und präzisiert: «Kent diente in legte. Schon der Vierjährige galt als «Wunder- Berlin! Das war nicht nur die Kapitale einer mör- der US Army, spielte Trompete und gehörte zeit- kind am Schlagzeug», dessen Künstlername derischen Diktatur, sondern bis gegen Ende des weilig zur Band von Drummer Gene Krupa, der Ward sich aus nachvollziehbaren Gründen besser Krieges auch eine Propaganda- und Zerstreu- neben Jo Jones zu meinen grossen Vorbildern kommerzialisieren liess als das amtliche Original. ungsbühne. In Hotels und Variétés sorgten Tanz- zählte. Die Antwerpener Grossformation swingte Damals ahnte freilich niemand, dass der in kapellen – meist mit Musikern aus den besetzten toll, konnte sich aber nach überzeugendem jungen Jahren vollzogene «Etikettenwechsel» Gebieten ergänzt, weil deutsche Kollegen an Debut nicht durchsetzen, weil es am nötigen nicht nur 1947, sondern auch noch im verwal- die Front beordert wurden – für lockeren Sound, Geld fehlte. Es wurde zu jener Zeit viel kommer- tungsseligen 21. Jahrhundert geeignet war, bei der öfter in den obrigkeitlich verpönten Jazz zielle Musik verlangt, aber unter den Musikern der Anforderung neuer Identitätspapiere für das abschweifte. Eines dieser Orchester leitete Kurt fanden sich die Jazzer immer wieder.Wir orien- Ehepaar Ward mancherlei Irrungen und Wirrun- Widmann, mal im Vergnügungstempel «Haus tierten uns via Radio und Schellacks am Swing gen hervorzurufen… Vaterland», mal im Hotel «Imperator» an der und am Bebop. Entscheidend waren für mich Friedrichstrasse. Das Hotel rühmte sich seiner jedoch die Live-Begegnungen, zu denen schon Ein Wunderknabe swingt in Hitlers Berlin tollen Clubsessel-Ambiance. Und genau dort 1946 jene mit Saxofonist Don Byas gehörte.» verschaffte der Multiinstrumentalist «Kutte» John steuerte ohne Umwege eine Musikerkarrie- Widmann dem belgischen Wunderkind Auftritte. Zur Sternstunde im transatlantischen Brücken- re an. Eine Zeitlang machte die Klarinette Spass. Schon 1940 produzierte die Widmann-Band schlag unter Jazzern wurde im Mai 1949 das Aber im Vordergrund blieben die Drums, die den mit John Ward am Schlagzeug den Plattentitel Pariser Festival International de Jazz. Die ameri- Weg zum swingenden Jazz der dreissiger Jahre «Heisse Tage». kanischen «crème de la crème» war mit Kenny wiesen. Der wurde freilich bald übertönt von Clarke, Tadd Dameron, Miles Davis, Al Haig, heulenden Stukas, rasselnden Panzerketten und Amerikanische «Entwicklungshilfe» James Moody, Charlie Parker und Max Roach, explodierenden Granaten. 1940 überfiel Hitler- im traditionelleren Segment mit Sidney Bechet, Deutschland Belgien. Am Eisenbahnknotenpunkt John überlebte in Berlin den Zusammenbruch des Pete Johnson und Hot Lips Page präsent. Frank- Mechelen wurden belgische Juden von der SS in Dritten Reichs. Kurz nach der Kapitulation ging's reich rückte mit seiner ersten jazzmusikalischen ein Sammellager getrieben und nach Osteuropa nach Hause. «Wir reisten 24 Stunden lang in Garde an, angeführt von Aimé Barelli, Jack abtransportiert – die meisten von ihnen ohne einem Viehwagen, bis wir Brüssel erreichten», Diéval und Hubert Rostaing. Aus Belgien kam Wiederkehr. Johns Vater blühte ein «gnädigeres» erzählt er. In Belgien standen nun westalliierte Toots Thielemans mit Pianist Francis Coppieters Schicksal: Er gehörte zu jenen männlichen Bel- Truppen – und mit ihnen blühten die Clubs auf. sowie den Rhythmikern Warland und Ward. Aus giern im Alter zwischen 18 und 45 Jahren, wel- Amerikanische Jazzmusiker kamen ins Land, der Schweiz gesellte sich mit che die Nazis als Zwangsarbeiter nach Deutsch- brachten Swing und Bebop mit, leisteten akusti- seinem Quintett zum Gipfeltreffen der Jazz- avantgardisten, Mainstreamer und Traditiona- listen. Die Pariser Jazzwoche erlebte John Ward als «grossartiges» Ereignis. «Ein Highlight waren die Jamsessions, wo mir Max Roach eröff- nete: You gonna play with Bird. Ich, damals ganze 21 Jahre jung und voller Respekt für Char- lie Parker, reagierte verdattert, aber Roach mein- te nur: Come on kid! Und ich tat es.» Im glei- chen Stil ging es weiter: Durch Vermittlung von Kenny Clarke wirkte John drei Tage lang «mit Vergnügen» an der Seite von Miles Davis.

Ein Vierteljahrhundert mit Hazy Osterwald

Zu jenem Zeitpunkt war eine andere Kooperati- on bereits eingefädelt. Osterwald trat in Paris zwar mit Gil Cuppini auf, hatte aber zuvor schon in Belgien einen Nachfolger für den norditalieni- schen Schagzeuger gesucht und war auf John Ward gestossen. John erinnert sich: «Hazy sagte mir, wir sehen uns in Paris, überlege dir, wie es aussieht, in meiner Band zu spielen. Ich sagte zu und klinkte mich in Milano in das Osterwald- Orchester ein. Wir vereinbarten eine dreimonati- ge Probezeit, daraus wurden volle 25 Jahre!» Die kommerzielle und musikalische Geschichte der Osterwald-Kleinformationen ist hinlänglich John Ward (rechts) mit dem Hazy Osterwald Sextett. bekannt. Das «klassische» Sextett agierte in der

4 Frontline mit Hazy (Trompete, Vibrafon), Ernst den Fähigkeiten, aber auch mit einer verletz- Zwei Jahre lang verloren sich John und Erika aus Höllerhagen respektive Werner Dies (Klarinette) lichen, sensiblen Seele. Zwei Menschen haben den Augen. Dann traf man sich zufälligerweise und dem Briten Dennis Armitage (Tenorsax, in diese Seele geschaut und John Ward nach der im Luzerner «Schweizerhof», wo John spielte Piano), im Rückwärtigen sorgten Curt Prina «Stunde null» überlebenswichtige Brücken in und Erika mit einer Freundin aufkreuzte. Der (Piano, Posaune), Sunny Lang (alias Günther die Zukunft gebaut. Der eine war Karl Suter, der harsche Dialog von Zürich war verraucht – Langenbacher, Bass) und John Ward für den soli- unter anderem im Zürcher Schauspielhaus insze- Freundschaft machte sich bemerkbar, Zunei- den Boden. Diese Truppe feierte in den fünfziger nierte und als Filmemacher die Hochs und Tiefs gung gar. Dann kam 1974 die geräuschvolle bis siebziger Jahren stupende Erfolge, wo immer der Kinokunst durchlebte und durchlitt. Regis- Trennung zwischen Hazy Osterwald und John es hinkam. Umfangreiche Tourneen führten nach seur Suter, Produzent Edi Baur,Texter Hans Gmür Ward. John verdrückte sich nach Basel, wo Erika Afrika und Israel, nach Südamerika und in die und Komponist Hans Moeckel bildeten jenes interimsweise im «Atlantis» aushalf und wahr- Sowjetunion, in die USA und die DDR, nach Erfolgsteam, das in den sechziger und siebziger nahm, wie sehr der geschasste Drummer unter Spanien und Skandinavien. Jahren muntere CH-Musicals auf die Hechtplatz- der Kaltstellung litt. Weil John den belgischen Bühne brachte und dem Kabarett Leben ein- Pass besass, drohte seine helvetische Aufent- In den deutschsprachigen Ländern war die Trup- hauchte. Karl Suter verschaffte John Ward in haltsbewilligung zu verfallen. In seine Heimat pe, die 1958 einen belanglosen italienischen Titel diesem Umfeld eine neue Tätigkeit: Statt mit aber zog es ihn nicht, vielmehr strebte er die coverte und als «Kriminaltango» in den Schla- Sticks und Besen überzeugte John nun mit seiner unbürokratische Scheidung von seiner ersten gerhimmel schoss, ohnehin allpräsent. Rücken- komödiantischen Art in den Musicals «Holiday in Frau an – als Voraussetzung für einen neuen wind verliehen unvergessliche Fernsehproduk- Switzerland», «Zauber, Zirkus, Zuckerhut» und Ehebund mit Erika und sein Verbleiben in der tionen, die der geniale Regisseur Michael Pfleg- «Ciao Ticino». Die Schauspielerei blieb letztlich Schweiz. «Ich kam für John zur rechten Zeit», har nach US-Rezepten gestaltete und dabei den eine Episode im vielgestaltigen Leben von John merkt Erika nach 38 Ehejahren an. Bald nach etwas steifen Berner Osterwald und seine Ward, aber noch heute bekennt der Fünfund- jener standesamtlichen Regelung gelang auch Mannen nicht nur als hinreissende Musiker, achtzigjährige, wie sehr ihm die Bühnenarbeit eine Versöhnung unter Musikern: Gut zwei Jahre sondern als veritable Enterainer und Ulknudeln Spass gemacht habe und wie sehr es ihn ander- nach ihrem Bruch reichten sich John Ward und zu inszenieren verstand. Für John Ward war seits als Schlagzeuger gelüste, nach Jahrzehnten Hazy Osterwald vor dem Zürcher Bernhard- Pfleghars Wirken «einmalig, er agierte nicht im «kammermusikalischen» Jazzklima noch Theater wieder die Hand. René Bondt streng, lieferte aber hochpräzise Arbeit ab. Viele einmal eine tolle Bigband vor sich herzutreiben. Szenen wurden nochmals, nochmals und nochmals gedreht. Es war Knochenarbeit, aber Womit wir wieder bei der Musik wären. Es kam man tat es gerne.» In diesen Performances lief auch nach der Ära Osterwald zu Highlights – so vor allem John Ward zur Hochform auf. Ein als John Ward 1976 sechs Wochen lang mit dem Diskografie John Ward Showtalent war entdeckt! «Dabei hatte ich nie Horst Jankowski Quartett durch Südafrika tourte. eine Show gemacht, bevor ich zu Hazy kam», «Horst war ein irrsinniger Pianist, der sich im Natürlich gehören die Jazz-Aufnahmen kommentiert John heute, «ich war zunächst Metier voll verausgabte», erinnert sich John. des Hazy Osterwald Sextetts dazu. ziemlich erstaunt, als man im Sextett zu Show- Seither hat er nicht mehr über längere Phasen in Man findet sie auf dem 4-CD-Set «Hazy blocks mit Hüten und Schnäuzen ansetzte.» festen Formationen gearbeitet. Eine Zeitlang Osterwald Classic Collection, 1951– 1964» funktionierte ein «sehr schönes Trio» mit Vali oder auf den Vinyls des «Ex Libris Grammo Und der Jazz?– Dem huldigten die Osterwald- Mayer und Bela Balint. Heute spielt John in Clubs GC 603» von 1954, aufgenommen Musiker, samt und sonders exzellente Improvisa- regelmässigen Abständen im Luzerner Hotel in Basel. Alle Aufnahmen sind im toren, jenseits der kommerziellen Verpflichtun- «Montana», gemeinsam mit Pianist Richard Swissjazzorama-Archiv abhörbar. gen wann immer es ging, vor allem in den ersten Decker und Bassist Jimmy Wettach. Jahren. «Am Anfang konnten wir mit Hazy viel Arild Wideroe weist in seiner Diskografie swingenden Jazz realisieren, damals mit Ernstli Erika – die Frau «zur rechten Zeit» noch auf die folgenden Aufnahmen hin: Höllerhagen an der Klarinette. That was real 1950 In Stockholm mit Hazy Osterwald music», schwärmt John. «Aber dann kam das Wenn John heute zu einem Gig aufbricht, so ist und Pierre Cavalli Fernsehen und verlangte nach neuen Tönen. In stets Fredi Bächler als Chauffeur, Packer, treuer auf Musica und Telefunken. jener Phase mahnte Hazy zurückhaltend: play Fan und «Bodyguard» zur Stelle. Lange war das 1952 Am 11. Dezember mit dem the way you feel, aber nicht zu viel Jazz.» John die Charge von Johns zweiter Gattin Erika – Francis Burger Quartett Ward kompensierte auf seine Weise, indem er jener starken Frau, welcher der Mann aus Bel- auf TELL SZ 29306. Session-Gelegenheiten wahrnahm. So kam es gien seit den siebziger Jahren nahezu alles zu Am gleichen Datum mit dem über die Jahre zu Begegnungen mit Lee Konitz, verdanken hat. Die beiden lernten sich 1970 in Pierre Cavalli Quartett Zoot Sims und Conte Candoli (Frankfurt), mit der Zürcher Casa-Bar kennen, wo Erika damals auf TELL 3000 und 3001. , Kenny Drew und Benny Good- arbeitete. «John war regelrecht whiskydick», 1952 Diverse Aufnahmen in Basel man (Kopenhagen), mit James Moody und Sam erinnert sie sich. «Über der Bar hing ein kleiner mit dem Hazy Osterwald Sextett Jones (New York), Oscar Peterson (San Francis- Spiegel, dorthin zerrte ich John und sagte: auf Elite Special. co), Tete Montoliu und Pony Poindexter (Berlin), ‚Schämst du dich eigentlich nicht, so herumzu- 1955 In Basel mit Hazy Osterwald mit Dizzy Gillespie, Stan Getz, Russ Freeman, Ray laufen!' Er war nicht eben einsichtig und erschienen u.a. Brown und Ella Fitzgerald (München). Andern schimpfte, während ich über seine unanstän- auf Columbia und EMI. gab John Ward eigenes Wissen mit auf den digen Musikerwitze nicht lachen mochte.» 1957 In Frankfurt 3 Aufnahmen mit dem Karriereweg – so den inzwischen längst arrivier- Hazy Osterwald Sextett auf Heliodor. ten Schweizer Drummern Charly Antolini, Daniel 1957 Am 12. November in Zürich Humair und Pierre Favre. mit dem Dennis Armitage Quartett auf Columbia. Lache Bajazzo… 1958 In Riehen mit Joe Turner auf Columbia. Das Ende der «musikalischen Ehe» Osterwald- 1977 Am 7. November in Küsnacht Ward war unschön. Als Hazy 1974 – nach einem mit Fritz Trippel auf Canova. vollen Vierteljahrhundert – mit seinem Drummer 1980 Mit Bela Balint und Vali Mayer brach, rückte er Alkoholprobleme und musikali- auf MPS CD. schen Stilwandel in den Vordergrund. Nun war 1998 In Halsenbach BRD mit Curt Prina John gewiss nie ein Kostverächter, im Rückblick «Return to forever» CD 98202. auf jene dunkle Stunde aber bringt er ein ande- 2008 «Sarah sings with the John Ward res Argument ins Spiel: «Durch die Pfleghar- Trio» mit Sarah Peng (voc), Elmar Serien wurde mein Sprachen-, Kommunikations- Kluth (p), Thomas Hirt (b). und Comedytalent plötzlich auch in Kreisen Im Swissjazzorama-Shop erhältlich. wahrgenommen, die mich ohne diese Auftritte nie sonderlich beachtet hätten. Damit stand ich Die seltenen 78er-Schellacks sind z.T. im dem etwas sperrigen Charme von Hazy vor der Swissjazzorama-Archiv und werden in der Sonne, was einen gewissen Neid erzeugte.» Fonoteca Lugano nächstes Jahr digitalisiert. Die musikalische Scheidung tat weh. John jovia- les und humorvolles Wesen kann darüber nicht Fernand Schlumpf hinwegtäuschen: Da steht jemand mit stupen-

5

Unsere Noten-Sammlung BLICK INS ARCHIV

Der Schweizer Psalm, fürs Stan zwei Ausnahmen, alle Arrange- ments integral von Trompete 1 bis Kenton-Orchester arrangiert Drums vorhanden. (Siehe Kasten).

Peter Stäheli, ehemaliger Primarlehrer und immer noch aktiver Jazz- Bei dieser Gelegenheit sei noch auf musiker, bringt Ordnung in unsere Notensammlung. Mit unserem Com- eine weitere Spezialität des Noten- puter-System erfasst er laufend alle Arten von Noten. Obwohl die Impro- Archivs des Swissjazzorama hinge- visation zweifelsohne ein wichtiges Merkmal der Jazzmusik ist, geht wiesen. Vor einige Zeit wurde das es je nach Grösse und Stil einer Band nicht ohne Noten. Eine Big Band Projekt «Helvetica» lanciert, das ohne Noten funktioniert kaum, doch auch Arrangements kleiner Forma- zum Ziel hat, vor allem Zeugnisse tionen werden oft nach Noten gespielt. J.T.S. der Schweizer Jazzszene zu sam- meln. Das Archiv enthält rund Unsere Sammlung von Big Band- ser, Rumba, Cha-Cha-Cha), alles ist 600 Original-Kompositionen von Arrangements ist nun beträchtlich da. A propos Stan Kenton: Falls Schweizer Jazzmusikern sowie erweitert worden. Der Trompeter jemand ein explizit für das Kenton- Notenvorlagen von Standard- Hans Hofmann aus Langnau a.A. Orchester geschriebenes Arrange- Titeln, die aus dem Nachlass von leitete während Jahren eine Big- ment über den «Schweizer-Psalm» verstorbenen Musikern stammen Band und erstellte dabei eine um- von Pater Alberik Zwyssig benötigt, und oft mit persönlichen Rand- fangreiche Noten-Sammlung. Nach auch das können wir anbieten. notizen (Arrangements, Harmonie- seinem Tod schenkte uns sein Sohn Variationen) versehen sind. Es han- all diese Noten. Im Verlauf der letzten Jahre delt sich somit um Unikate, die im wurden diverse BigBand-Arrange- Handel nicht erhältlich sind. Die Archivierung der Sammlung ist ments ins Musiknoten-Archiv inte- Peter Stäheli nun abgeschlossen und umfasst die griert, doch sind leider davon viele stattliche Zahl von 598 Arrange- unvollständig, da die Musiker ihre ments. Sie ist in der Tat für Insider Noten nicht zurückgegeben haben. Um den integralen Bestand des Noten- eine wahre Fundgrube, denn sie Wenn dann keine Partitur oder Archivs gewährleisten zu können, ist eine umspannt ein bemerkenswert brei- zumindest eine Direktions-Stimme Ausleihe von Archiv-Originalen grundsätzlich nicht möglich. Benützer des Noten-Archivs tes stilistisches Spektrum. Vom vorhanden ist, sind diese Unterla- werden gebeten, eine Kopie zu erstellen. klassischen Swing (Glenn Miller, gen wertlos. Hans Hofmann hat Harry James) über Duke Ellington, dieses Problem clever gelöst, indem Sammlung Hofmann: Ein Arrangement um- fasst ca. 40 A4-Seiten. Wenn Sie ein Paket Count Basie, Stan Kenton, Neal er seinen Musikern nur Kopien Kopierpapier selber mitbringen, ist keine Hefti, Ray Anthony bis hin zur ge- aushändigte und die Originale bei umständliche Abrechnung nötig. hobenen Tanzmusik (Hugo Stras- sich behielt. Dadurch sind, bis auf

Composed by A. Zwyssig Arranged by Robert Curnow Switzerland – Swiss Psalm

Alto Saxophone 1

Alto Saxophone 2

Tenor Saxophone 1

Tenor Saxophone 2

Baritone Saxophone

Trumpet 1

Trumpet 2

Trumpet 3

Trumpet 4

Trumpet 5

Trombone 1

Trombone 2

Trombone 3

6

men der klassischen Musik be- Jazz-Perspektiven kannt wurde, war es für ihn nur natürlich, diese Musik in sich In unserer letzten Ausgabe würdigte Chrsitian Steulet den grossen Dave aufzunehmen und sie im Jazz Brubeck mit einem ganzseitigen Beitrag in französischer Sprache. Nun ist wiederzuspiegeln, genauso wie Dave, der am 6. Dezember 1920 in Concorde, Kalifornien, zur Welt kam, er bei seiner früheren Berührung im hohen Alter von beinahe 92 Jahren am 5. Dezember des letzten Jahres mit den traditionellen Märschen, verstorben. Seine Musik war nicht nur vom Swing und Bebop inspiriert, Volksmelodien und Gesängen sondern auch von klassischen und barocken Komponisten. Auch der nach- diese in der Form des Rag und folgende Artikel, den er selbst geschrieben hat, ist als Würdigung des Blues reflektierte. Verstorbenen gedacht. Diese gekürzte Fassung enthält einige Gedanken, die man als Credo des Musikers auffassen kann. J.T.S. In den Vierzigerjahren gab es unter den Experimentatoren des Der Jazz entstand als musikalischer rassischen Schranken und vereinte Jazz auch eine wichtige New Yor- Ausdruck einer protestierenden Weisse und Schwarze. Der neue ker Gruppe. Diese Musiker spielten Minderheit. Seine Quellen waren Jazz zog dann von New Orlean aus, Improvisationen über eigene die Arbeitslieder, Blues und Spiri- den Mississippi hinauf und rund Themen, die auf Veränderungen tuals der schwarzen Bevölkerung um die Welt. Während er auf aller der Akkorde von bekannten Songs Amerikas. Im Bestreben, sich kultu- Welt Anhänger gewann, geriet er basierten, wobei sie die ursprüng- rell anzugleichen, übersetzten die auf immer grösseren Widerstand liche Melodie ignorierten (die der afroamerikanischen Sklaven die von seiten des puritanischen Ge- Eingeweihte auch kannte, wenn europäische Musik (wie auch Sitten wissens der Amerikaner. Die allge- sie nicht wiederholt wurde). Sie und Religion) in eine eigene aus- meine Öffentlichkeit sah im Jazz forderten vom Publikum, dass es drucksvolle Sprache. Sie alternier- und in dem Publikum, für das er zuhöre. Diese Musik, die man ten die europäische Tonleiter durch gespielt wurde, eine Bedrohung Bebop nannte, war ein radikaler Hinzufügung der sogenannten der anerkannten gesellschaftlichen Protest nicht nur gegen die Welt, «blue notes», die die Tonalität Grundsätze. Er fand vorwiegend in die sich im Krieg befand, sondern durch Verminderung der Terz und Frankreich, aber auch sonst überall auch gegen den wachsenden Kom- Septime veränderten. in Europa ernsthaftere Beachtung merzialismus, der eine amerikani- als zu Hause. Trotz des immer grös- sche Kunstform zu vernichten Der Jazz blieb ein namenloses Fin- ser werdenden Jazzpublikums und drohte. Der komplexe hochindivi- delkind auf den Strassen und Fel- der eindrucksvollen Zahl seiner duelle Stil von Parker und einer dern von New Orleans, bis er von weissen wie farbigen Musiker wur- Handvoll grosser Bop-Musiker be- den Bordellen und Music-Halls des de der Jazz in so engen Zusam- stimmte massgebend den Lauf der berüchtigten Storyville-Viertels menhang mit den Aussenseitern Jazzgeschichte. adoptiert wurde. Hier, wo eine der Gesellschaft gebracht, dass grosse Gruppe der weissen Bevöl- er ausserhalb der künstlerischen Der Bebop und später der Cool kerung in offener Verachtung puri- Erfahrungen der meisten Ameri- Jazz waren eine Reaktion gegen tanischer Sitten lebte, überwand kaner blieb. eine vulgäre Musik des Vergessens, diese herausfordernde, synkopierte die in der Hysterie jener Zeit ge- Musik alle psychologischen und Die allgemeine kulturelle Haltung dieh. Wenn man den Cool Jazz- der amerikanischen Kunst war so Leuten auch vorwerfen kann, dass

David Warren konservativ, dass selbst Neues in- sie einen grossen Teil des Publi- «Dave» Brubeck nerhalb der traditionellen Kom- kums dem Jazz entfremdet haben, Pianist Komponist positionsformen, z.B. Werke von so haben sie doch durch die kom- Bandleader Charles Ives, zugunsten sturer promisslose Einstellung zu ihrer 6.12.1920 – 5.12.2012 Nachahmungen der europäischen Musik den Jazz in der Nachkriegs- Musik des 19. Jahrhunderts abge- zeit am Leben und fruchtbar er- lehnt wurde. Indessen betrachte- halten. ten europäische Komponisten wie Milhaud, Strawinsky und Hinde- Erforschung des ganzen TAKE mith den Jazz aus der Ferne und musikalischen Erbes sahen in ihm grosse Möglichkeiten zur Wiederbelebung traditioneller Als Musiker fühle ich mich frei, FIVE Musikformen. das ganze Gebiet meines musika- lischen Erbes zu erforschen, von Dave Brubeck Quartet, 1958 Jazz war immer den afrikanischen Trommelwirbeln Joe Morello, dm eine hybride Musik bis zu Couperin, Bach, Jelly Roll, Paul Desmond, as DAVE Dave Brubeck, p Strawinsky oder Charlie Parker. Eugene Wright, b Die nichtnegroiden Elemente, die Als Mensch fühle ich mich frei, das «Take Five», eine Komposition von BRU im Swing der Dreissigerjahre auf- ganze Feld menschlicher Gefühle Paul Desmond im tauchten, stellten keinen Kom- zu erkunden. Wenn ich als Musi- 5/4-Takt, die für das Quartett zu einem promiss mit der Jazztradition dar. ker erfolgreich bin, wird dieses Grosserfolg wurde. BECK Als der Jazzmusiker mit den For- gemischte musikalische Erbe auf ➜ WA 7

Der Jazz war immer dabei

Wenn sich zwei gute Freunde nach Jahrzehnten beruflich bedingter ge- trennter Wege wieder treffen, wird das zu einem Wiedersehen der Freu- de, bei dem es eine Fülle zu erzählen gibt. In den späten Vierzigern packte ich wöchentlich einmal meine Trommeln und Becken zusammen und fuhr mit dem Zug von Oerlikon nach Uster zu Erich Büsser, wo wir mit ein paar weiteren Ustermer Jazzenthusiasten zusammen bemüht waren, in mög- lichst authentischer Manier Jazz zu spielen. Nun hatte ich endlich einmal Gelegenheit, Erich und seine Frau in ihrem Heim in Weinfelden zusammen mit Fernand Schlumpf zu besuchen. Teile unseres angeregten Gespäches seien hier in Interviewform festgehalten. Interview: Jimmy T. Schmid

Erich, wann hast du begonnen, Klavier Fünfzigerjahre, lernte ich George Gruntz kennen. zu spielen? Ich war sehr von ihm beeindruckt. Er war es, der Ich war in der vierten Primarklasse. Meine Leh- mir die Akkordfolgen der John Coltrane-Stücke rerin, sie hiess Margrit Bachofen, war damals erklären konnte. Bereits 1949 hatte ich aber Organistin in der Reformierten Kirche Uster. eines der eindrücklichsten Jazzerlebnisse: Das war der Besuch des Pariser Jazzfestivals mit all Wahrscheinlich hast du mit Fingerübungen den Grössen des Bebop wie Charlie Parker, Miles und Etüden begonnen. Wie ging's dann Davis, Tad Dameron, Max Roach usw. War ich Gab es da Konflikte zwischen deinem weiter? bis anhin eher swingorientiert, wurden meine neuen Beruf und deiner Liebe zum Jazz? Mit Bach, Mozart, Schumann usw., bis etwa zu Jazzambitionen nun in eine neue, musikalisch Überhaupt nicht. In Heiden hatte ich das Glück, den weniger schwierigen Stücken von Chopin. unerhört interessante Richtung gelenkt. einen Tierarzt kennen zu lernen, der Jazzfan war und Trompete spielte. Schon bald frönten wir Und wann kam der Jazz dazu? Ist dein favorisierter Pianist auch unserem Hobby gemeinsam und gründeten eine Ich hatte einen Onkel, der Jazzfan war. Anfangs ein Original-Beboper? kleine Band. Zudem lernte ich Jazzfreunde aus der Vierzigerjahre war es sehr schwierig, Jazz- Sicher. Nach wie vor betrachte ich Bud Powell St. Gallen kennen. noten aufzutreiben. Er brachte von Paris mehr- als einen der ganz grossen Meister. Sein Ideen- mals sogenannte Originaltranscriptions nach reichtum und seine stupende Technik. Kaum Welche Band brachte dir beim Spielen Hause von Teddy Wilson und Fats Waller. zu übertreffen. das eindrücklichste musikalische Erlebnis? Damit hatte ich Gelegenheit, etwas Neues zu Das war wohl die Band «New Sounds entdecken, das mich neben der Klassik ganz Hast du deine Ausbildung zum Organisten Erlenbach», mit der wir jeweils beim Drummer schön faszinierte. als Kaufmännischer Angestellter berufs- Rico Flad in Erlenbach probten. Das Zusammen- begleitend absolviert? spiel mit dem Oltener Trompeter Umberto Ar- Begegnungen mit Jazzmusikern. Was hat dir Weitgehend schon. 1957 habe ich meine erste latti, Siro Bianchi am Tenorsax, Kurt Weil am besonders Eindruck gemacht? Stelle als Organist in der Kirche Heiden im Vibrafon und Erich Peter am Bass war ein reines Im Rahmen des Jazzfestivals Zürich, anfangs der Appenzellerland angetreten. 1958 heiratete ich. Vergnügen. Das merkten auch andere. Wir be- legten am Zürcher Jazzfestival 1952 von André Berner in der Sparte «modern» den 1. Rang. Bei Rico Flad zuhause konnte ich auch Berühmt- heiten wie Duke Ellington, Don Redman, Glyn Paque und Hazy Osterwald kennen lernen. Das waren noch Zeiten!

Der gebürtige Ustermer Erich Büs- Diese Eigenaufnahme ser, Jahrgang 1928, ist eines der gelangte aus dem wenigen Ausnahmetalente, die Nachlass von Rico sich sowohl in der klassischen Mu- Flad ins Archiv des sik als auch im Jazz wohlfühlen. SJO. Besetzung der Band von1952: Auf der einen Seite professioneller Siro Bianchi,Tenorsax Organist, Chorleiter und Musik- Kurt Weil, Vibrafon lehrer in Weinfelden bis zu seiner Erich Büsser, Piano Ernie Büchi, Bass Pensionierung 1993, auf der ande- Rico Flad, Drums ren Seite begeisteter Jazzpianist. eine Weise in die Zukunft projiziert die an sich beengende 32iger-Takt- ist sicher: In etwas mehr als einem werden, die des Namens Kunst form erweitern? Wieviel Komposi- halben Jahrhundert ist aus dem würdig ist. tionstechnik können wir benützen, Protestschrei eine Stimme der Be- ohne die Spontanität der Grup- freiung geworden. Die musikali- Heute sieht sich der Jazzkünstler penimprovisation zu verlieren? sche Sprache einer amerikanischen einem Dilemma gegenüber. Wie Minorität hat die Möglichkeit, zur weit soll er vom folkloristischen Ich hoffe, dass die Hörer und Mu- universalen Musik aller Menschen Charakter des Jazz abgehen? Sollen siker der Zukunft bei der Beant- zu werden. Dave Brubeck wir den ständigen 4/4-Takt ändern, wortung dieser Fragen sich an die der so lange der Pulsschlag des Jazz doppelte Rolle des Jazz erinnern Dieser Text erschien 1956 als deutschsprachige gewesen ist? Brechen wir tatsäch- werden, an seine Rolle als folklori- Übersetzung im Kultur-Magazin «Perspektiven» lich mit der Tonalität? Sollen wir stische und als Kunstmusik. Eines des S. Fischer Verlages, Frankfurt am Main.

8

NOTRE PAGE EN FRANÇAIS Les grands maîtres du blues – Ro- bert Johnson, Bessie Smith, Char- ley Patton, Blind Lemon Jefferson et leurs descendants – ont été Débat:Mais où est passé érigés en idoles. Leur blues est un canon, comme la musique classi- l'esprit du blues? que. Il a été et sera interprété et imité par des générations et des A qui appartient le blues? C'est une question qui mérite d'être posée générations d'admirateurs, blancs aujourd'hui et qui en entraîne une autre: Le blues traditionnel est-il tou- et noirs, hommes et femmes. Pour jours une partie importante de la vie des Noirs ou, comme tant d'autres le bluesman afro-américain Chris de leurs créations, a-t-il été détourné par l'Amérique blanche et dénaturé Thomas King toutefois, l'essence en cours de route? Comment le blues, une forme d'expression qui plonge du blues n'est pas son universalité, ses racines dans la dure existence d'une population marginalisée, est-il mais sa spécificité en tant qu'ex- devenu une musique de fête pour touristes argentés? Le blues a-t-il un pression du malaise des Noirs futur ou est-il pétrifié dans un passé idéalisé et transformé en bien de américains. Chris Thomas King est consommation? tout à fait capable de jouer comme les bluesmen du delta. Les frères Le blues jouit actuellement d'une Bruce Iglauer, fondateur du label Cohen l'avaient choisi pour jouer vogue et d'une considération ja- de blues indépendant Alligator Re- le rôle de Tommy Johnson dans le mais égalées. Par vote du Congrès, cords, se souvient: «Lorsque je suis film O Brother, where Art Thou? la période du 1er février 2003 au arrivé à Chicago, dans les années Ce que King fait aujourd'hui puise 31 janvier 2004 avait été décrétée 70, le blues était considéré comme dans une large gamme de styles «année du blues» parce qu'il y une musique de vieux, de gens du comprenant aussi bien le rap que avait un siècle, W.C. Handy, le pre- Sud, de gens qui venaient de la le blues de ses ancêtres. «Ce que mier artiste à avoir publié une pauvreté. Puis les Blancs l'ont dé- beaucoup de gens appellent le partition de blues, entendait un couvert et il a commencé à y avoir blues depuis vingt ans n'a rien à autre musicien noir jouer de la de bons concerts pour les blues- voir avec ce qu'est le blues et ne guitare slide sur le quai de la gare men qui travaillaient pour eux. La représente pas ma culture. Les gens de Tutwiler dans le Mississippi. La réalité économique disait: ‚Hé, il y ne voient pas que le lien entre gare qui est restée gravée dans la a des Blancs qui sont prêts pour Muddy Waters et le rappeur Mas- mémoire de W.C. Handy est une nous entendre', ce qui permettait ter P, c'est le blues.» Pour beau- image poétique à souhait, parfaite aux artistes de vivre». coup de musiciens noirs, c'est plu- pour un art aussi éthéré. Qui sait tôt chez certains rappeurs qu'il combien de haltes le blues avait Relooké, idéalisé et présenté faut chercher aujourd'hui l'esprit fait et quelle distance il avait par- comme «authentique», le blues est originel du blues. couru avant de débarquer sur le devenu une attraction foraine, un Mother Jones / Albert Stolz quai de la gare de Tutwiler? Tout simulacre qui provoque une petite ce qu'on sait, c'est que le blues est montée d'adrénaline, mais qui, devenu une forme et un style à en réalité, ne conduit nulle part. part entière dans le delta du Mis- Le succès grandissant des festivals Extrait-résumé d’un long article sissippi au début du siècle passé. sur tout le territoire a contribué de Mother Jones (San Francisco). Puis les métayers (et les musiciens encore davantage de faire du blues Paru dans: Courrier International, no. 690. noirs itinérants qui les distrayaient) une musique à mettre de bonne Dans les archives du Swissjazzorama l'ont emmené vers le nord pendant humeur, s'adressant majoritaire- on trouve des LPs et/ou CDs de tou(te)s la Grande Migration qui a vu des ment à un public blanc. les musicien(ne)smentionné(e)s ci-dessus. centaines de milliers de Noirs quit- ter le Sud ségrégationniste et cher- Muddy Waters cher du travail dans le Nord in- dustriel. Grâce au microsillon et à la radio, il s'est ensuite répandu dans tout le pays et à l'extérieur de la société afro-américaine.

J'ai demandé à James Cotton, ce patriarche vénéré de l'harmonica blues qui a longtemps joué avec Muddy Waters, comment le blues avait changé depuis ses débuts il y a soixante ans: «La première chose est que de noir il est devenu blanc. Les gens entendaient les Rolling Stones jouer du blues, alors ils voulaient savoir d'où il venait.»

9 «Der Swing war meine Spezialität» Ein Fünfliber vom General Als 1939 der Zweite Weltkrieg aus- Betty Bestgen war die erste Schlagzeugerin der Schweiz. Die heute bald brach, fielen in der Schweiz viele 98-jährige Frau erinnert sich nicht ohne Stolz an ihre Zeit als Profimusikerin Profi-Tanzorchester auseinander. und an die Hindernisse, die es dafür zu überwinden galt. Musiker wurden zum Aktivdienst eingezogen, ausländische Instru- Dass sie die Bilder in ihrem Fotoal- gemalten Kulissen ein asiatisch an- mentalisten mussten das Land ver- bum nicht mehr richtig erkennt, gehauchtes Repertoire, um einige lassen. In diese Lücke sprangen macht Betty Bestgen zu schaffen. Wochen später an der Chilbi des Willy und Betty Bestgen. Ein erstes «Ich sehe schlecht, und es wird «Arbeiter-Radio-Bundes» als «Sa- professionelles Engagement führte immer schlimmer», sagt die alte lon-Apachenorchester» zu erschei- sie 1941 nach Andermatt, wo die Frau genervt. Klagen ist sonst nicht nen. Bei den «Swiss Boys», die laut Truppe gerade das «Reduit» be- ihre Spezialität. Betty Bestgen hat Eigenwerbung für einen Abend zog. «Im Sporthotel Sonne spielten zu viel vom Leben gesehen, um voll «genussreicher, rassiger Musik» wir die ganze Nacht fürs Militär sich allzusehr aus der Ruhe bringen garantierten, war bald auch ein und am Morgen begleiteten wir zu lassen. Wir sitzen am Stuben- Girl dabei. «Wegen einer langen die Soldaten ins Reduit», erinnert tisch ihres Hauses in Davos Dorf – Krankheit hatte ich keine Ausbil- sich Betty. «Einen Tag später trafen einem Haus, das beste Aussicht auf dung», erzählt Betty Bestgen, die wir per Zufall den General. Herr das Dischma-Tal und die Berge wie so oft in ihrem Leben auf Eige- Guisan bedankte sich bei meinem bietet. Betty Bestgen dürfte mit ninitiative setzte. «Ich hielt ich es Mann persönlich für unseren Ein- ihren bald 98 Jahren nicht nur eine bald nicht mehr aus, halbe Nächte satz und drückte ihm einen Fünf- der ältesten Schweizer Musikerin- hindurch in unserer Mansarde zu liber in die Hand. Ich fand das nen sein. Sie war auch die erste warten, bis mein Mann von seinen etwas schäbig für ein ganzes Or- Schlagzeugerin der Schweiz. Auftritten nach Hause kam. Er chester – obschon das damals noch meinte, dass ich halt ein Instrument ein ganz anderer Betrag war.» In Während der Kriegsjahre und in lernen solle. So hat es angefan- fanden die Musiker ein Daue- den späten 1940er-Jahren tingelte gen.» Zuerst versuchte sich Betty rengagement. «Im ‘Wiener Keller’ sie als Profi durch edle Ballsäle und Bestgen an der Gitarre. Auf zeit- hinter dem Warenhaus Loeb spiel- üble Knellen, wo sie zum Tanz und genössischen Fotos sieht man sie ten wir jeweils drei Monate jeden zur Ablenkung von den Sorgen mit einer Resonatorgitarre aus Abend», erinnert sich Betty. «Es aufspielte, die die Menschen da- Metall – einem ähnlichen Modell, war immer viel Militär dort, man mals plagten. wie sie damals die Bluesmänner traf sich zum Apéro. Dort wurde in den USA spielten. «Willy zeigte auch viel politisiert, über die Juden Die zierliche Frau, die beim Publi- mir das Nötigste, da ich ja keinerlei geschimpft und solche Sachen. Das kum auch mit ihrem attraktiven musikalische Bildung hatte: Die Klima war aufgeheizt. Einmal flog Äussern punktete, mag kein Auf- G-Dur- und C-Dur-Akkorde, und ein Bajonett, das einer in seiner heben aus ihrer musikalischen Ver- einige Gassenhauer wie ‘La Paloma’ Wut geschmissen hat, nur wenige gangenheit machen. Ihre Musik- und ‘O Sole Mio’.» Bald begleitete Zentimeter neben mir vorbei.» Karriere war eng an diejenige ihres Betty ihren Mann auf dem Sozius- Von der Gitarre hatte die junge Ehemanns Willy Bestgen geknüpft, sitz seines eben erstandenen «Con- Frau zum Schlagzeug gewechselt. den sie 1938 heiratete. «Willy hatte dor»-Töffs, den Willy mit dem Dieses Instrument galt als exotisch ein ‘schampares’ Talent für alles, Lernrfahrausweis zu Engagements und wurde mit der als «wild» emp- was mit Musik zu tun hat», sagt im Berner Oberland oder im fran- fundenen Jazzmusik gleichgesetzt. Betty Bestgen – und man hört zösischen Jura steuerte. Schlagzeuger waren damals in der ihren Erzählungen auch heute noch die Bewunderung an.

Selbst ist die Frau

Willy Bestgen hatte Ende der 1930er-Jahre seinen Traum wahr gemacht, und war zum Orchester- leiter avanciert. Mit seinen «Swiss Boys» spielte er in den angesagten Berner Dancings zum Tanz auf – im Repertoire war neben tagesaktuel- len Schlagern immer auch der Jazz vertreten. Willy Bestgen war stets darauf bedacht, sein Publikum mit Vielseitigkeit bei der Stange zu halten. So inszenierte er im «Ster- nen» Bümpliz die «Chinesischen Nächte» und intonierte vor selbst- Willy Bestgen (Mitte) und Betty Bestgen 10 Schweiz eine Seltenheit – ganz zu IN MEMORIAM George Gruntz & Claude Nobs schweigen von Schlagzeugerinnen. Kein Hindernis für Betty, als diese Stelle im Orchester neu zu beset- zen war. «Ein Tambourmajor hat Grosser Verlust für die Schweizer mir gezeigt, wie man bei einer Attraktion einen Tusch hinlegt, Jazz- und Festivalszene einen Marsch begleitet. Ich habe mir alle Mühe gegeben und drauf- Am 10. Januar 2013 verstarben Claude Nobs (geboren 4.2.1936) und los getrommelt. Ich war nicht be- George Gruntz (geboren 24.6.1932). Die Schweiz verliert zwei «Macher» sonders musikalisch, bin aber gut die für den Jazz in der Schweiz und für die Schweiz im Ausland viel mitgekommen. Der Lehrer hat je- Bedeutendes erreicht haben. Die Zeitungen sprechen vom «Funky Claude» denfalls nie reklamiert, und das und vom «Jazzer mit Weitblick und Neugier» (Gruntz). Publikum auch nicht. Eine Frau am Schlagzeug, das hatte es in der Schweiz vorher ja noch nie gege- ben.» Dem Jazz war Betty beson- ders zugetan: «Der Swing war meine Spezialität, mit den ‘Bäseli’ war ich gut», meint sie.

Das Ende der Profi-Zeit

«Willy ist mit der Zeit gegangen», berichtet Betty Bestgen, «er hatte ein Ohr für Schlager, die er sofort auswendig konnte oder gleich selber komponierte.» Nach dem Krieg war das «Bartrio Bestgen» permanent auf Achse, spielte in Kurorten, Städten und auf zahl- George Gruntz stand dem Swiss- Claude Nobs. Dem Montreux Jazz reichen Schallplattenaufnahmen. jazzorama sehr nahe und hat sich Festival stehen die Jazzer bekannt- Unterhaltungs-Stars wie Vico Tor- für unsere Organisation auch enga- lich distanzierter gegenüber. Was riani oder Lys Assia vertrauten auf giert. Seine Freundschaft mit Otto Claude am Anfang erreichte war Willy Bestgens Vielseitigkeit und Flückiger verhalf dem Schweizer phänomenal, das ganze «Who is engagierten ihn für Auslandtour- Jazzarchiv zu einer ersten grossen who» des Great-Jazz war in Mont- neen. Doch das Profi-Leben war auf Vinyl-Plattensammlung, die George reux zu Gast. Die ersten Aufnah- die Dauer zu unstet für eine junge als ehemaliger Leiter der Berliner men beweisen es und die beiden Familie. «Als 1951 das zweite Kind Jazztage (1972 –1994) von Bands Montreux-Bücher sind gefragte kam, konnte ich das nicht mehr und Musikern zugestellt erhielt Souvenirs. Bei einem Besuch bei durchziehen», sagt Betty. Inzwi- und die er an das Archiv abgab. Claude in den 90er-Jahren über- schen gründete Willy, der immer Eine Ausstellung zu Ehren George liess er uns einen ganzen Satz sei- mehr auch als Plattenproduzent Gruntz wurde noch in den Räumen ner bedeutenden Festival-Plakate, und Verleger agierte, in Luzern das in Arlesheim gezeigt. In Uster er- die bekanntlich in renommierten Geschäft «Music Bestgen», das spä- öffnete er 2000 das neue Domizil Kunstmuseen platziert sind. Claude ter in Davos weiter bestand. des Swissjazzorama und gratulierte war ein geschickter Manager, Pro- auch musikalisch bei der Kultur- duzent und Organisator, der Mont- Willy Bestgen starb 1976, im Alter preisübergabe an den Jazzclub reux zu einem beliebten Treff- von 62 Jahren. Seit dem Tod ihres Uster. Auf das weitläufige musika- punkt der Weltstars des Pop und Mannes hat Betty Bestgen keine lische Schaffen von George Gruntz Rock machte. Seine Kooperation Musik mehr gemacht. Die Erinne- werden wir in den nächsten Jazz- mit Atlantic Record brachte ihn an rung an ihre Zeit als Schlagzeuge- lettern eingehen. In unserem Ar- die Quelle zu den Musikstars. Sein rin aber bleibt wach. Betty Bestgen chiv ruhen Dutzende von Aufnah- grösster Coup (2010) war die Zu- hat ihr Leben gelebt und allen men und Dokumenten, die sein sammenarbeit mit der Ecole Poly- Widerständen zum Trotz einen Engagement für die wichtigste technique Fédéral de Lausanne zigeunernden Musiker geheiratet. musikkulturelle Errungenschaft (EPFL), die nun zum grossen Kom- «Ich habe in meinem Leben durch- des 20. Jahrhunderts – den Jazz – petenzzentrum für Archivierung gebracht, was ich mir vorgenom- beweisen. und Verwaltung der Datenbanken men hatte», sagt sie. Der Stolz in von Montreux-Sounds wird. Wir ihrer Stimme ist unüberhörbar. George Gruntz: können somit sicher sein, dass die «Ich bin dem Jazz wahnsinnig Ton-Zeugnisse von 46 Jahren Jazz Sam Mumenthaler dankbar. Diese Musik hat mir Festival Montreux abrufbar wer- Journalist, Medien-Jurist, ein unglaublich schönes Leben den und gesichert archiviert sind. Chronist und Sammler, Bern geboten.» Fernand Schlumpf

11 IN MEMORIAM JazzDayFestival 2013

Ted Curson Nach mehr als hundert Jahren Jazz- Trompeter und Komponist Geschichte gibt es nun endlich einen 3.6.1935 – 4.11.2012 Welttag des Jazz, der am 30. April 2012 zum ersten Mal statt fand. Dies Ted Curson entwickelte zwischen den Einflüssen von Bebop und Free Jazz einen eigenen attrak- zur Ehre und Freude aller Beteiligten tiven Stil. Er spielte mit Charles Mingus und Eric einer Musikrichtung, die geografi- Dolphy zusammen. Ted Curson, der am Konser- sche, soziale und religiöse Grenzen vatorium in Philadelphia und in New York bei überwinden und alle Altersgruppen John Coltrane studierte, arbeitete oft in Europa. verbinden kann. Das JazzDayFestival 1973 war er Mitglied des George Gruntz Orches- will jeweils am 30. April des Jahres ters des Schauspielhauses Zürich. Unvergesslich als gemeinnütziger Anlass an diver- sind seine Auftritte bei den legendären Jam sen Orten und Lokalitäten die Kern- Sessions im Saal des Zürcher Restaurants werte des Jazz würdigen: Freiheit, «Weisser Wind». Individualität und Vielfalt. Fritz Pauer Das JazzDayFestival soll sich zur Pianist, Arrangeur Plattform des Austauschs einer viel- 14.10.1943 –1.7.2012 fältigen und reichen Kulturszene Flavio Ambrosetti, der am 8. Oktober 1919 in Der klassisch ausgebildete Wiener Fritz Pauer entwickeln. Es ist geplant, dass in Lugano zur Welt kam, war ein hervorragender machte seine ersten Schritte als Jazzpianist in Zukunft neben Konzerten und Jam Improvisator, der seine Musik immer mit einer den Bands von Fatty George. Er war ein gesuch- Sessions auch Workshops, Lesungen konsequenten künstlerischen Haltung spielte. ter Begleiter von Amerikanern auf Tourneen in und Diskussionsrunden stattfinden. Sein Hochschulstudium absolvierte er während Europa: Johnny Griffin, Dexter Gordon, Lee der Kriegsjahre. Als Altsaxofonist war Falvio Konitz u.a. In den Jahren als Bandpianist bei der Das 2. JazzDayFestival 2013 Ambrosetti stark vom Spiel Benny Carters beein- ORF-Big Band machte er sich auch einen Namen flusst. Später war die Stilrichtung durch Charlie als Komponist und Arrangeur. In Oesterreich Alle Bands und Veranstalter, die Parker vorgegeben. Flavio wurde zu einem der erhielt Pauer verschiedene hohe Kulturauszeich- beim 1. JazzDayFestival dabei waren, ersten nachhaltig vom Bebop beeinflussten nungen. Für einige jüngere Kollegen war er ein haben bereits für das 2. JazzDay- europäischen Jazzmusiker. Flavio war auch einer geschätzter Lehrer und Ratgeber. Festival zugesagt. Folgende renom- der Organisatoren des Festivals JazzAscona. Am mierte Veranstalter und Schulen 22. August 2012 starb er in seinem 93. Altersjahr. John Tchicai werden ebenfalls teilnehmen: Seine Musik ist bei uns gut dokumentiert. Auf Saxofonist, Komponist einigen Aufnahmen spielte er zusammen mit 28.4.1936 – 8.10.2012 – BeJazz, Bern seinem am 10. Dezember 1941 in Lugano gebo- In Kopenhagen geboren, wagte John Tchicai, – Bird's Eye Jazz Club, Basel renen Sohn, dem international berühmten Trom- Sohn eines kongolesisch-dänischen Ehepaares, – Jazzkantine, Luzern peter und Flügelhornisten . 1962 den Sprung von Dänemark nach New York (Hochschule Luzern / ins Zentrum der Jazz-Avantgarde, nachdem er Musik Institut Jazz) in seiner Vaterstadt mit vielen amerikanischen – Moods im Schiffbau, Zürich und europäischen Musikern aufgetreten war. – Musikclub Mehrspur, Zürich Er gründete u.a. das New York Art Quartet. (Zürcher Hochschule der Künste, John Tchicai wurde von George Gruntz (wie Ted Abteilung Jazz und Pop) Curson) ins Musikensemble des Zürcher Schau- spielhauses geholt und trat 1975 zusammen Das Programm des Swissjazzorama mit Irène Schweizer am 1. Jazzfestival Willisau vom 30. April 2013: auf. Er galt als ein Magier der Töne. 19.00 Eine Führung durch die Heinz Wehrle Ausstellung JAZZ LADIES Organist, Kompanist, Radiomitatbeiter 20.30 Konzert mit der X-Elle Band, 8.3.1921– 21.7.2012 einem All Ladies Octet Heinz Wehrle war als professioneller Organist aus Luzern und Chorleiter auch Mann für den Jazz im Auch unsere Events werden helfen, Radiostudio Zürich des Senders Beromünster, den Welttag des Jazz mit Erfolg bei dem er seit 1954 als Musikredaktor ange- stellt war. Sein musikalisches Profil war ein gros- durchzuführen. J.T.S. ses Stück weit mit demjenigen Erich Büssers zu Kurt Weil vergleichen, mit dem er gut bekannt war und Am 12. Dezember 2012 ist in Volketswil Kurt den wir Ihnen auf Seite 8 vorstellen. Von 1964 IMPRESSUM Weil einem Herzleiden erlegen. Kurt ist uns bis 1982 produzierte Wehrle Jazzkonzerte im Studio 2. Sie liefen unter dem Label «Jazz Live». bestens bekannt als früherer Chefredaktor von Der Jazzletter erscheint 2 x jährlich Eine hauseigene Rhythmsection mit Klaus König «Jazz'n'more» als Vibrafonist mit der eigenen Redaktion: Jimmy T. Schmid (J.T.S.) am Piano begleitete internationale Solisten. Band «Vibes Revisited» und von seiner Zusam- Layout: Walter Abry (WA) Heinz Wehrle arbeitete bis 1986 beim Radio, wo menarbeit mit Robi Weber. Copyright: Swissjazzorama er sich mit Erfolg für seine musikalischen Favo- Kurt kam am 6. Januar 1932 zur Welt. Er erhielt Im Werk 8, 8610 Uster riten, die Orgelmusik und den Jazz, einsetzte. von Kindheit an Klavierunterricht und lernte Tel. ++41(0)44 940 19 82 J.T.S. später Schlagzeug und Posaune. 1952 wechselte [email protected], www.jazzorama.ch er in die Band Rio de Gregori, mit der er bis nach Schweden kam und sich dort niederliess. Seit Contact pour la Suisse romande: Christian Steulet 1957 war er mit eigenen Bands in ganz Europa Tél. 022 786 75 38, [email protected] tätig. Kurt war eine der profiliertesten Figuren Contato per la Svizzera italiana: Nicolas Gilliet Tel. 079 428 97 65, [email protected] des Schweizer Jazz. Ende der Sechziger löste er «Improvisation ist das Herz und seine Band auf und stieg in die Musikindustrie Mitarbeiter dieser Nummer: ein. Er produzierte Videoserien mit Billy Cobham, die Seele des Jazz.» (Gunther Schuller) Walter Abry, René Bondt, Dave Brubeck, Ron Carter oder den Brecker Brothers. Von 1984 Andrea Engi, Mother Jones, Sam Mumenthaler, bis 1992 war er Marketingdirektor Europa des «Armstrong, Peterson, Coltrane, Fernand Schlumpf, Jimmy T.Schmid, Mario US-Labels GR Records. das ist Jazz. Ich nicht.» (Jan Garbarek) Schneeberger, Peter Stäheli, Albert Stolz

12