Sendung vom 7.3.2016, 20.15 Uhr

Franco Ambrosetti Jazz-Trompeter im Gespräch mit Roland Spiegel

Spiegel: Herzlich willkommen zum alpha-Forum. Ich freue mich heute auf einen Gast, der jahrzehntelang ein sehr, sehr spannendes Doppelleben geführt hat, nämlich eines als Industrieller und eines als weltberühmter Jazztrompeter. Herzlich willkommen, . Ambrosetti: Vielen Dank für die Einladung. Spiegel: Herr Ambrosetti, gleich am Anfang die Frage, wie es eigentlich möglich ist, zugleich ein Unternehmen zu führen und trotzdem auf dem Instrument so intensiv zu üben, dass man auf allerhöchstem Niveau mithalten kann über Jahrzehnte hinweg. Ambrosetti: Üben, das ist die erste Antwort. Aber ich muss auch sagen, dass ich als Student ziemlich lange studiert habe, sechs, sieben Jahre. Und in dieser Zeit habe ich hauptsächlich Trompete gespielt. Die Universität habe ich dabei fast nie von innen gesehen, bis mein Vater eines Tages gesagt hat: "So, jetzt ist es genug, jetzt musst du dich entscheiden. Entweder bist du Musiker oder du wirst Unternehmer." In diesen Jahren damals habe ich wirklich fünf bis sechs Stunden pro Tag geübt. Als ich dann nach dem Studienabschluss angefangen habe zu arbeiten als Unternehmer, habe ich eine Stunde pro Tag geübt, vielleicht auch mal Eineinviertel- oder Eineinhalbstunden oder halt weniger, wenn es nicht anders ging. Das Problem ist, dass man jeden Tag üben muss. Wenn man auf Geschäftsreise ist, dann ist es schon ein bisschen kompliziert, in den Hotels zu üben: Die Leute mögen das nicht so gerne. Ich habe dann aber herausgefunden, dass es ein System gibt, durch das ich das machen kann: Ich habe angefangen, in den Kleiderschrank zu spielen. Ich nahm einen Stuhl, habe mich vor den Kleiderschrank gesetzt, dessen Tür geöffnet und in den Kleiderschrank hinein geblasen. So ging das. Man muss allerdings noch das Fenster aufmachen, damit die Menschen, die irgendwie etwas hören, denken, ich schaue Fernsehen, und daher nicht reklamieren. So ging das. Spiegel: Das haben Sie jahrelang so gemacht? Ambrosetti: Ja, das habe ich jahrelang auf Reisen so gemacht. Hinzu kommt natürlich, dass man damals in den 70er, 80er und 90er Jahren, als ich schlussendlich alles verkauft habe, viel weniger gearbeitet hat, viel, viel weniger als heute. Ein Topmanager hat damals acht Stunden am Tag gearbeitet, heute sind es wohl mindestens zwölf Stunden. Das heißt, heute wäre das wahrscheinlich nicht mehr so möglich wie damals. Spiegel: Können Sie uns kurz erzählen, welche Art von Unternehmen Sie geführt haben? Sie haben das ja seit 1973 gemacht, wenn ich das richtig weiß. Ambrosetti: Ja, ich habe 1973 angefangen. Davor war ich als Headhunter in Zürich tätig gewesen, damals hieß das aber noch Executive Searcher. Danach hat mein Vater gesagt, ich solle zu ihm ins Unternehmen kommen. Also ging ich nach . Wir hatten zwei Fabriken, eine in Lugano und eine in Mailand. Die größere war in Mailand und stellte Räder für die Automobilindustrie und auch für Lastwagen her: für Iveco, Fiat, VW usw. In Lugano in der Schweiz hatten wir zwei Abteilungen, die eine hat ebenfalls Räder für die Automobilindustrie produziert: für Opel, Vauxhall usw. Wir haben in der zweiten Abteilung aber auch noch Fahrwerke für Flugzeuge hergestellt, z. B. für die Mirage usw. Wir haben da für die Schweizer Armee, aber auch für die Amerikaner gearbeitet. Spiegel: Konnten Sie sich denn mit dieser Firma identifizieren, wenn Ihr Hauptinteresse eigentlich der Jazz gewesen ist? Ambrosetti: Eigentlich schon. Ich glaube, es gibt da auch gewisse Punkte, die den beiden Bereichen gemeinsam sind. Ob man Jazzer ist oder Präsident oder CEO einer Firma – von irgendeiner Firma, denn diesbezüglich spielt es keine Rolle, was dort produziert wird –, es ist immer wichtig, dass man kreativ ist. Die Kreativität ist überall wichtig, aber das wird leider von den sogenannten HR-Abteilungen, also den "Human Ressources Abteilungen", auf Deutsch den Personalabteilungen, nicht verstanden. Und wenn man auch noch Jazz spielt, ist man den Leuten dort sowieso schon suspekt. Aber abgesehen davon muss ich sagen, dass es bei mir zu Hause nicht so gewesen ist. Ich habe auch immer versucht, herauszubekommen, ob die Leute, die ich eingestellt habe, auch Phantasie haben, ob sie eine Leidenschaft haben für das, was sie machen und ob sie kreativ sind. Diese drei Kriterien sind für mich auch im Jazz absolut notwendig: Wenn man keine Leidenschaft empfindet für die Musik, dann ist man auch kein Musiker. Diese gemeinsamen Elemente sind wirklich sehr interessant, denn es gibt davon sogar noch mehr. Vielleicht kennen Sie den Film "Prova d'orchestra", also "Orchesterprobe" von Federico Fellini: Dort wird ganz genau gezeigt, wie ein Sinfonieorchester funktioniert. Und ein Sinfonieorchester funktioniert wirklich genau wie eine Fabrik. Es gibt in jedem Bereich einen Chef, sei es bei den Geigen, den Trompetern usw. Dann gibt es über diesen "Unterchefs" ein paar Chefs und letztlich eben auch den Präsidenten oder CEO: Das ist der Dirigent. Der Dirigent in einem Orchester ist sehr streng, viel strenger als ein Chef in einer Fabrik, weil die Gewerkschaften in der Musik viel weniger stark sind als in der Wirtschaft. Spiegel: Würden Sie also sagen, dass ein Manager etwas von Jazzmusikern lernen könnte, weil eine der herausragenden Eigenschaften, die man im Jazz haben muss, darin besteht, dass man im Moment möglichst adäquat reagiert? Ambrosetti: Richtig, absolut richtig. Er kann auch noch etwas anderes lernen: dass man nämlich gleichberechtigt zusammenarbeitet. Der Jazz ist wirklich ein Interplay, die Improvisation funktioniert nur dann, wenn alle Musiker untereinander verstehen, was die anderen machen. Wenn ich irgendwie ein Zeichen vom Schlagzeuger bekomme, weil ich eine Phrase gemacht hatte und er deswegen auf etwas anderes gekommen ist, dann kann mich das wiederum oder auch meinetwegen den Pianisten woanders hinführen. Das ist ein wirklich konstantes Zusammenspiel und im Hinblick auf die gewissermaßen "rechtliche Seite" sind wir alle gleich, gleichberechtigt. Ob ich Bandleader bin oder nicht, ich bin darauf angewiesen, dass die Leute, die mit mir zusammenspielen – natürlich auf gleichem Niveau oder womöglich sogar besser als ich –, mich stimulieren. Die Stimulation muss vorhanden sein bei allen, die in diesem Moment gemeinsam spielen. Das ist etwas, was man in den Unternehmen viel seltener sieht: Dort ist die Struktur ganz anders, sie ist wie eine Pyramide mit einem Chef oben, von wo es ganz nach unten geht. Die Macht ist irgendwie anders verteilt in einem Unternehmen als in einer Jazzband. Solange gespielt wird, sind alle gleich. Hinterher ist natürlich der Bandleader derjenige, der mehr Geld verdient, während die einfachen Musiker nicht so viel verdienen. Das kommt natürlich auch darauf an, wie der Bandleader ist, ob er geizig ist oder nicht. Aber in musikalischer Hinsicht sind die Bandmitglieder alle gleich, sie sind alle einander ebenbürtig. Spiegel: Würden Sie denn dafür plädieren, dass Manager mehr Anregungen aus der Belegschaft annehmen, selbst von Mitarbeitern, die kaum Verantwortung tragen? Ambrosetti: Ja, natürlich. Die Japaner machen das ja schon lange so. Auf demokratische Art und Weise eine Firma zu führen, ist schon besser, als einfach zu befehlen. Aber heute wird das irgendwie total vergessen. Es sind heute überhaupt viele Punkte in Vergessenheit geraten, und das ist auch der Grund dafür, warum ich mich schlussendlich zurückgezogen und alles verkauft habe. Die protestantische Arbeitsethik, die im 18. und 19. Jahrhundert die industrielle Revolution – und zwar die erste und auch noch die zweite – angeschoben hat, hatte nicht den Profit als Ziel, sondern sie hat den Profit als ein Mittel zum Ziel erachtet. Wenn man Unternehmer ist und sozusagen mit dem eigenen Geld "spielt", dann muss man, um der Firma eine Zukunft zu geben, längerfristig planen. Das heißt, in diesem Fall kann der Profit gar nicht das ultimative Ziel sein, sondern er ist ein Mittel: Aufgrund des Profits kann man investieren, und die Investitionen wiederum sichern das Weiterbestehen der Firma. Manager hingegen denken kurzfristig, und sie müssen kurzfristig denken, weil sie nicht wissen, wie lange sie in einem Unternehmen bleiben. Denn die Firma gehört ihnen ja nicht und sie werden z. B. auch mit Aktien oder Aktienoptionen entlohnt. Deswegen versuchen sie natürlich so schnell wie möglich, viel Geld zu verdienen. Das ist aber nur ein kurzfristiges oder mittelfristiges Denken gegenüber einem Unternehmer, der langfristig denkt – und denken muss. Viele von diesen ethischen Grundsätzen sind in den letzten 20 Jahren verloren gegangen. Und deswegen habe ich mir gesagt: "Das ist nicht mehr meines, da mache ich lieber Musik." Spiegel: Wir sollten uns wünschen, dass sich diese Sendung ganz viele Manager anschauen und Ihren Worten Aufmerksamkeit schenken. Jetzt kommen wir zu einer Aufzeichnung, die ein Jahr, nachdem Sie Ihre Firma verkauft hatten, entstanden ist, nämlich im Jahr 2001 bei der Internationalen Jazzwoche Burghausen. Wir schauen uns jetzt einfach diese Aufnahme an und sprechen dann hinterher darüber. Filmzuspieler: (das Osby-Turner-Ambrosetti-Sextett bei der 32. Jazzwoche Burghausen im Jahr 2001 mit dem Stück "The Sidewinder") Spiegel: Ja, da sieht man, wie weit man kommen kann, wenn man über Jahrzehnte immer täglich eine Stunde lang in einen Kleiderschrank hineinbläst. Ambrosetti: (lacht) Spiegel: Das war die Gruppe von Franco Ambrosetti, meinem heutigen Gast, im Jahr 2001 bei der Jazzwoche Burghausen: Wir hörten und sahen den Saxofonisten Mark Turner, den Pianisten Jason Moran, den Bassisten Lonnie Plaxico. Der Saxofonist war ebenfalls mit dabei. Wer noch? Ambrosetti: am Schlagzeug. Spiegel: Das Stück hieß "The Sidewinder" und stammte von Lee Morgan. Sie haben ja viele Jahre lang mit ganz, ganz herausragenden internationalen Gruppen zusammengespielt. In diesem Fall waren das einige der ganz jungen amerikanischen Stars. Wie war es möglich, dass Sie immer wieder solche Leute bekommen haben? Ambrosetti: Es war möglich, weil mein Vater bereits Musiker gewesen ist: Er hat sozusagen genau wie ich gelebt, er hat ebenfalls ein Unternehmen geführt und nebenbei Jazz gemacht. Spiegel: Ihr Vater war der Saxofonist . Ambrosetti: Ja, er war ein Bebop-Pionier. In den 50er Jahren hat er in Lugano eines der ersten Festivals in Europa organisiert – außer dem in Comblain-la- Tour und Antibes gab es da sonst nichts. Weil er eben bereits als Jazzmusiker bekannt war und dieses Festival organisierte, kamen auch sehr viele Amerikaner nach Lugano. Unter anderen hat dann auch Norman Granz in Lugano gewohnt, kam ziemlich oft, weil Bill Grauer, der Besitzer von Riverside Records, für die Cannonball Platten gemacht hat, ebenfalls in Lugano gewohnt hat. Somit hat sich eine ganze Reihe von amerikanischen Jazzmusikern, die inzwischen von New York nach Paris ausgewandert waren, auch immer wieder auf den Weg nach Lugano gemacht: Bud Powell, Donald Byrd, Johnny Griffin, , Art Taylor usw. Alle diese Jazzer haben in Paris gewohnt und auch mit uns gespielt, weil sie eben in Europa waren. Jemand wie hat zwei Jahre lang mit dem Quintett meines Vaters gespielt! Auf diese Weise ist eine Freundschaft entstanden zu vielen amerikanischen Musikern. Auch dann, als sie peu à peu alle wieder zurück in die USA gingen, kamen sie sehr oft zu diesem Festival nach Europa. Als 14-, 15-, 16-Jähriger, also als Teenager habe ich auf diese Weise alle diese Musiker kennengelernt. Ich habe dabei auch ein bisschen Englisch mit einem leichten Brooklyn-Akzent von den Schwarzen gelernt. Ich bin eben irgendwie mit ihnen aufgewachsen. Es ist einfach so: Ich wurde bekannt, weil mein Vater bekannt war. Mein Name war schlicht und einfach bekannt, und aus diesem Grund hatte ich nie Probleme, Musiker auf Topniveau zu bekommen, die mit mir zusammenspielten, um mit mir bei den verschiedenen Projekten, die ich gehabt habe, zusammenzuarbeiten. Spiegel: Aber Sie sind ja nicht nur bekannt geworden, weil Ihr Vater bekannt war, denn Sie haben sich schon auch selbst durchgesetzt. 1966 haben Sie in Wien einen Wettbewerb gewonnen, bei dem ganz große Musiker in der Jury saßen: Cannonball Adderley, Art Farmer … Ambrosetti: J.J. Johnson, Ron Carter, Joe Zawinul, Mel Lewis. Spiegel: Das sind sehr, sehr berühmte und äußerst kritische Leute gewesen – und teilweise immer noch, denn ein Mann wie Ron Carter ist ja immer noch sehr, sehr kritisch. Ambrosetti: Ja, das stimmt. Spiegel: Sie haben sich damals bei diesem Wettbewerb durchgesetzt gegen solche Leute wie Randy Brecker und Claudio Roditi, also gegen zwei später sehr, sehr berühmte Trompeter. Ambrosetti: Ja, das stimmt. Bei der Endausscheidung traten wir alphabetisch geordnet nacheinander auf. Randy und ich saßen zusammen, denn zuerst kam ich, Ambrosetti, dann kam er, Brecker. Wir waren beide sehr nervös und ich trinke ja normalerweise fast nichts, dort aber haben er und ich zusammen fast eine halbe Flasche Whiskey getrunken – weil wir so gezittert haben. Spiegel: Vor dem Wettbewerb? Ambrosetti: Ja, noch davor. Wir saßen in der Bühne und mussten warten, bis ein paar andere mit dem Buchstaben A gespielt haben wie z. B. Lennart Aberg, der letztlich den zweiten Preis in der Kategorie Saxofon gewonnen hat. Nach ihm musste ich dann raus und nach mir kam Randy. Am Ende habe ich herausgefunden, dass ich 98 Punkten von 100 bekommen habe und Randy 97 von 100. Spiegel: Das heißt, er hat weniger getrunken als Sie und deswegen hat es bei ihm nicht so geklappt. Ambrosetti: (lacht) Er hat mehr getrunken! Denn er musste ja auch noch meinen Auftritt abwarten! Nein, nein, Randy ist ein fantastischer Trompeter. Um so einen Wettbewerb zu gewinnen, braucht man einfach auch Glück, denn das Können alleine reicht da nicht. Er hat auch eine vollkommen andere Art, Trompete zu spielen, als ich. Er hat damals einen viel schöneren Ton gehabt als ich, d. h. er hätte auch der Sieger sein können, und ich hätte mich darüber nicht beschwert. Spiegel: Sie haben bei diesem Wettbewerb einen Preis gewonnen, den Sie dann aber gar nicht eingelöst haben. Denn Sie hätten ein Studium am berühmten Berklee College of Music in Boston gewonnen. Stattdessen sind Sie jedoch nach Basel gegangen, um Wirtschaft zu studieren. Ambrosetti: Ja, das stimmt. Spiegel: Freiwillig? Ambrosetti: Doch, freiwillig – mit viel Druck. Spiegel: Ihr Vater hat also Druck gemacht? Ambrosetti: Ja. Spiegel: Und das, obwohl er selbst ja auch Musiker gewesen ist! Ambrosetti: Er hat gesagt: "Du musst dich jetzt entscheiden, was du willst." Er hat mich aber alleine entscheiden lassen, er hat nur gesagt: "Wenn du Musiker sein willst, dann geh nach Boston. Aber ich gebe dir dafür keinen Rappen! Wenn du aber Wirtschaft studierst und dann später bei uns arbeitest, dann kannst du auch Musik machen." Und das hat ja gestimmt. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich von Wien nach Boston gegangen wäre, zusammen mit , der einen ersten Preis gewonnen hatte, mit George Mraz, der einen zweiten Preis gewonnen hatte, mit Jan Hammer, der ebenfalls einen zweiten Preis gewonnen hat. Spiegel: Das sind heute alle ganz großartige Musiker. Ambrosetti: Ja, die meisten, die dort damals gewonnen haben bzw. in der Endausscheidung mit dabei waren, wurden später bekannte Musiker. Aber die meisten von ihnen sind auch wirklich in die USA gegangen. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn auch ich in die USA gegangen wäre. Vielleicht wäre ich schneller irgendwie bekannt geworden. Aber ich habe eben beschlossen, dass man auch Musik machen kann, wenn man gleichzeitig Unternehmer ist. Ich bin schlussendlich schon auch ein Wirtschaftswissenschaftler und schreibe darüber für Zeitungen und Zeitschriften, d. h. ich bin ein Echter und kein Amateur in der Musik und auch kein Amateur in der Wirtschaft. Nein, ich habe beides professionell gemacht. Man kann das wirklich. Es braucht aber ein paar Randbedingungen, ein paar zentrale Elemente, die dafür wichtig sind. Der wichtigste Punkt ist selbstverständlich, dass man ein Talent hat für die Musik. Das erbt man oder man erbt es eben nicht, d. h. das kann man nicht manipulieren. Der zweite Punkt ist, dass man die Möglichkeit hat, eine Fabrik zu besitzen (lacht). Allerdings, die wenigsten Musiker, die ich kenne, haben eine Fabrik oder einen Beruf, mit dem sie ins Familienunternehmen einsteigen können. Wenn man kreativ und talentiert ist und eine Fabrik besitzt, dann kann man in der Tat beides unter einen Hut bringen. Sie haben mich ja ganz am Anfang gefragt, wie ich das mit der Zeit für das Üben hinbekommen habe. Nehmen Sie mal zum Vergleich einen Politiker, nur einen Kommunalpolitiker, also noch nicht einmal einen Bundespolitiker. So ein Kommunalpolitiker hat pro Woche mindestens an vier Abenden bis Mitternacht zu tun. Wenn er gar noch Bürgermeister ist, hat er noch viel mehr zu tun, und das selbst in der kleinsten Gemeinde auf dem Land. Er verdient fast nichts, arbeitet aber viel, viel mehr als ein Jazzmusiker. Ich bin mit einem Pensum an Musik von einer Stunde, eineinhalb Stunden pro Tag ausgekommen. Das ist viel weniger als bei einem Kommunalpolitiker. Wenn man z. B. professioneller Golfer und gleichzeitig Anwalt ist, dann findet man auch die Zeit, um sich seinem Golfspiel widmen zu können. Man muss das aber halt jeden Tag machen, man muss jeden Tag üben – das ist die Krux dabei, das ist das etwas Langweilige dabei. Spiegel: In Ihrer Familie gibt es wohl wirklich ein großes Talent, das von Generation zu Generation weitervererbt wird, denn auch Ihr Sohn Gianluca ist Musiker: Er ist Saxofonist wie Ihr Vater. Ambrosetti: Er hat aber auch einen Doktor in Physik. Er arbeitet als Physiker und übt daneben jeden Tag auf seinem Instrument. Spiegel: Ist die Musik für Sie auch so etwas wie ein Ausgleich? Ambrosetti: Ja, eindeutig. Die Musik ist wie ein Psychiater, daran gibt es keinen Zweifel, wenn man jeden Tag eine Stunde lang wirklich konzentriert übt oder spielt. Gut, Üben ist etwas, was ich schon lange nicht mehr mache, denn ich spiele einfach: Ich lege eine CD auf und spiele dazu irgendetwas, oft weiß ich nicht einmal, was. Spiegel: Zur Musik der CDs dazu? Ambrosetti: Ja. Ich versuche, Changes einfach so zu kreieren. Nach so vielen Jahren, nach über 50 Jahren ist es selten, dass ich nicht weiß, wohin es geht. Aber das ist ja auch normal, das ist nichts Besonderes … Spiegel: Und der CD-Player steht sicher neben dem Kleiderschrank. Ambrosetti: Heute ist das Gott sei Dank anders. Ich wohne heute in einer Wohnung im Zentrum der Stadt, und da habe ich mir eine "Telefonkabine" zugelegt, wenn Sie so wollen. Das ist ein Whisper Room, d. h. das ist eine schallisolierte Zelle, die ich mir aus den USA habe schicken lassen. Montieren muss man diese Zelle dann selbst. Gianluca hat in seiner Wohnung in Zürich genau den gleichen Whisper Room. Man kann sehr bequem darin spielen, denn sie ist mit zwei auf zwei Meter ziemlich groß. Man ist da drin quasi wie in einem Beichtstuhl. Man hat jedenfalls das Gefühl, man ist vollkommen isoliert und kann dort drin spielen, was man will. Spiegel: Und es ist wohl wirklich so ähnlich wie im Beichtstuhl: Man ist manchmal vielleicht ganz froh, wenn nicht so viele Leute zuhören. Ambrosetti: Genau! Man ist da ganz alleine und kann und darf auch Fehler machen. Man kann alles Mögliche ausprobieren, denn niemand hört einen. Spiegel: Wir haben ein paar Fotos vorbereitet, die wir nun zeigen und kommentieren können. Das erste Foto stammt aus dem Jahr 1966: Das ist das Jahr, in dem Sie diesen Wettbewerb in Wien gewonnen haben. Der Mann, der Ihnen dort links gegenübersteht, ist Art Farmer, der große Trompeter, der damals in der Jury gewesen ist. Und rechts, das sind Sie, Franco Ambrosetti. Das nächste Bild zeigt eine wunderschöne Vierergruppe. Wer ist da alles zu sehen? Sie sind jedenfalls der Zweite von links. Ambrosetti: Das Foto stammt aus den 70er Jahren und zu sehen sind der Bassist Henri Texier und ganz rechts . Die beiden haben eine Zeit lang "The European Rhythm Machine" mit und zusammen gebildet. Und der Vierte ist René Urtreger, ein französischer Pianist, der in diesem Fall auch als Bandleader tätig war. Spiegel: Daniel Huimar ist Schlagzeuger und ist ebenfalls immer noch sehr, sehr aktiv, ein Musiker mit großer Power. Ambrosetti: Ja, ein fantastischer Musiker. Spiegel: Hier auf dem nächsten Bild sieht man Sie mit Friedrich Gulda, dem Pianisten: Gulda ist ja ein großer klassischer Interpret und ein leidenschaftlicher Jazzer gewesen. Ambrosetti: Ja, er war ein fantastischer Pianist, wie ich sagen muss. Er hat den Jazz wirklich verstanden. Seine größte Tat bestand darin, dass er versucht hat, beide Welten zu vereinen. Denn es ist ja nicht gesagt, dass ein klassischer Musiker nicht auch improvisieren sollte und könnte, sei es im Blues oder sonst auf irgendeine andere Art und Weise. Die Improvisation ist ja im 19. Jahrhundert in der klassischen Musik verschwunden, und zwar aus Gründen, die mir bis heute unklar sind. Denn ein Mann wie Bach hat die ganze Zeit über improvisiert. Ich habe z. B. mit Uri Caine, einem amerikanischen Pianisten, der beides spielt, eine Band aufgemacht, mit der wir Bach spielen und darauf improvisieren. Wir improvisieren aber so, wie Bach vielleicht heute improvisieren würde. Bach musste damals seine Noten halt aufschreiben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es damals noch keine CDs oder Schallplatten gegeben hat. Das heißt, für Bach gab es keine andere Möglichkeit der Übermittlung seiner Musik. Deshalb hat er alles, wirklich alles aufschreiben müssen. Aber die Kadenzen in der klassischen Musik sind über Jahrhunderte hinweg improvisiert worden. Die ganze Barockmusik war quasi eine einzige Improvisation. Wir als Jazzmusiker improvisieren mittels der Changes genau gleich wie die Barockmusiker. Gut, die Ziffern sind damals anders geschrieben worden, aber das Prinzip ist das gleiche. Spiegel: Ein Generalbass, an dem man sich entlanghangelt und den man gestalten kann. Ambrosetti: Genau. Die Anzahl der Takte ist immer gleich, das geht immer von A bis Z: Wenn es z. B. 30 Takte sind, dann fängt man nach dem 30. Takt wieder von vorne an. Wir haben da wirklich genau das gleiche System. Das ist auch logisch, denn: Der Jazz kam ja in New Orleans auf die Welt: Die Basis dafür war die französische Barockmusik, die die Franzosen dorthin mitgebracht haben. Die Schwarzen haben das dort aufgenommen und diese Improvisation auf die Changes, auf die Harmonien als eigene Musik weiterentwickelt, bis irgendwann der Jazz entstand. Das Wichtigste, was sie dabei mit eingebracht haben, war der Rhythmus – alle anderen Zutaten kamen von der weißen Barockimprovisation. Denn sie spielten Trompete, sie spielten Saxofon, sie spielten alle Instrumente der Weißen. Wäre das anders, wäre der Jazz ja in Afrika geboren worden. Die Schwarzen, die nach Amerika verschleppt worden waren, konnten das machen, weil die Franzosen mit ihrer Musiktradition selbst auch sehr frei umgegangen sind und sie irgendwie eben auch an die Schwarzen übermittelt haben. Ich finde es jedenfalls sehr schade, dass in der klassischen Musik die Improvisation verschwunden ist. Heute fängt man wieder ein bisschen an damit. Ann- Sophie Mutter z. B. improvisiert ab und zu die Kadenzen. Aber das wird wiederkommen, weil man inzwischen an den Konservatorien, an den Musikhochschulen auch Jazz lernen kann. Das muss ja auch wiederkommen, um den Komponisten die Möglichkeit zu geben, etwas anderes zu machen, als jede einzelne Note niederzuschreiben, die man dann genau perfekt so spielen muss. Spiegel: War denn diese Vorliebe für die Improvisation auch der Grund, warum Sie von Ihrer klassischen Klavierausbildung, die Sie ja zunächst einmal genossen haben, zur Trompete und zum Jazz gewechselt sind? Oder hatte das andere Gründe? Ambrosetti: Die Freiheit! Es hatte mit der Freiheit zu tun. Ich bin ein freidenkender Mensch, weswegen ich Gefängnisse nicht besonders gerne habe. Deshalb war ich auch ein schlechter klassischer Pianist. Ein Stück zu entdecken, meinetwegen ein Stück von Chopin zu entdecken, ist etwas Wunderbares, war auch für mich etwas Wunderbares. Aber wenn ich es verstanden habe, interessierte es mich nicht mehr, ob ich es perfekt spielen konnte oder nicht. Mich interessierte und interessiert bis heute, welche Idee hinter einem Stück steckt. Wenn ich dann die Melodie richtig spielen konnte, hat mich das gefreut. Und wenn ich dabei ein paar Fehler gemacht habe, fand ich das nicht so schlimm. Ich habe mich immer gefragt, warum ich das so absolut präzise spielen muss. Denn ich habe doch meine eigene Art zu spielen. Wenn ich von einem Stück eines Komponisten etwas lernen kann, etwas, das mich weiterbringt, dann kann ich meine eigenen Kompositionen spielen und darüber improvisieren. Improvisation ist Freiheit, das ist so. Alles andere ist Vorgabe, ist der Acht- oder Zehnstundentag in der Fabrik, wie es Charlie Chaplin in seinem Film "Modern Times" gezeigt hat. Es ist einfach so. Spiegel: Es gibt ja bei Musikern wirklich diese zwei Welten und es gibt nur wenige, die diese beiden Welten in sich vereinen können, wie das z. B. Friedrich Gulda versucht hat. Es ist einfach so: Manche Musiker fühlen sich nur dann wohl, wenn sie Noten vor sich haben, die sie spielen können. Andere Musiker wiederum fühlen sich nur dann wohl, wenn möglichst wenig Noten vorgegeben sind. Ambrosetti: Ja, das ist so und die Welt ist wohl allgemein in dieser Weise unterteilt. Es gibt Menschen, die, ohne dass man ihnen sagt, was sie machen müssen, nichts machen können, weil sie mit ihrem eigenen Kopf nicht denken können, jedenfalls nichts Eigenes denken können. Sie brauchen dafür den Kopf von anderen Menschen, die ihnen irgendetwas vorgeben, anschaffen oder verkaufen, sei es auf politischem Gebiet, sei es auf sozialem Gebiet usw. Ich hingegen habe schon als Kind gelernt, mit dem eigenen Kopf auf aufklärerische Art zu denken: Ich bin ein Fan von Voltaire und ich bin überzeugt davon, dass man mit dem eigenen Kopf denken muss. Ich bin froh darüber, dass ich ein Zweifler bin, und zwar immer. Wenn ich etwas lese, frage ich mich immer: Stimmt das oder stimmt das nicht? Erst wenn ich überzeugt bin, dass es stimmt, lese ich weiter. Ich versuche also immer zu analysieren, ob das stimmt, was ich da lese oder höre, d. h. ich nehme das nicht einfach so als gegeben hin, als selbstverständlich. Stattdessen versuche ich immer, selbst zu denken. Diese Freiheit, die man hat, wenn man selbst denkt, ist für mich wichtig. Aber genau diese Freiheit wiederum macht andere Menschen unsicher: Sie fühlen sich besser, wenn sie befolgen, was ihnen andere sagen. Das ist natürlich einfacher – sei es in Fragen der Religion oder der Politik. Es gibt allerdings auch politische Parteien, die eher so etwas wie eine Religion darstellen. Spiegel: Es ist ja fast ein Klischee, zu sagen, der Jazz ist die Musik der Freiheit, aber vieles spricht einfach dafür, es wirklich so zu sehen. Ambrosetti: Ja. Besser gesagt ist es so, dass man im Jazz mehr Freiheit hat. Denn die echte Freiheit – aber da wird es jetzt philosophisch – stellt sich eigentlich nur ein, wenn man Free Jazz spielt, wenn man alles an Begrenzungen wegwirft. Aber wie viel Wert hat diese Freiheit noch, wenn meine Freiheit z. B. Ihre Freiheit verletzt? Das geht also nicht. Wenn man also im Jazz alles wegwirft im Hinblick auf Regeln – und da gibt es ja doch ziemlich strikte Regeln –, dann passiert das. Die Freiheit innerhalb der Regeln, die es im Jazz gibt, also "freedom within the rules": Darum geht es! Das ist die Freiheit, die meiner Meinung nach funktioniert. Denn es muss im Leben einfach ein paar Regeln geben. Ich bin also kein totaler Anarchist – ein bisschen schon, aber eben nicht zu viel! Spiegel: Man könnte also sagen, der Jazz ist eine Schule des Zusammenlebens innerhalb behutsam gesetzter Grenzen. Ambrosetti: Genau. Und wenn man diese Grenzen wegnimmt, dann wird das eben etwas anderes. Meine Freiheit kann dann Ihre Freiheit verletzen – und Spaß macht das auch keinen. Wenn man keine Challenge, keine Herausforderung hat, wenn man machen kann, was man gerade will, ohne dass man das, was man macht, irgendwie messen könnte, dann hat das meiner Meinung nach weniger ethischen Wert. Spiegel: Lassen Sie uns zu zwei weiteren Fotos kommen. Auf dem nächsten Foto sehen wir Sie mit , dem Saxofonisten. Er ist der Bruder von Randy Brecker, der damals in diesem Wettbewerb in Wien "zu wenig" Whiskey getrunken hatte. Das nächste Bild ist ein Zeitschriftenausschnitt aus der französischen Zeitschrift "Jazz Hot": Links im Bild sehen wir den Saxofonisten John Coltrane, einen der internationalen Jazz-Giganten der damaligen Zeit, und rechts im Bild Franco Ambrosetti. Bei den bisherigen Bildern hielten Sie immer ein Flügelhorn in der Hand, hier auf diesem Bild ist jedoch kein Flügelhorn zu sehen, sondern eine Trompete. Ambrosetti: Ich bin Trompeter! Alle Flügelhornspieler sind ursprünglich Trompeter, die dann aber alle im Alter zum Flügelhorn gewechselt sind: Kenny Wheeler, Art Farmer usw. Das liegt daran, dass da die Musik einfach besser fließt: Das Rohr des Instruments ist konisch und nicht zylindrisch wie bei der Trompete. Es ist weniger anstrengend, ein Flügelhorn zu spielen. Und mit dem Alter soll man, wie ich meine, darauf schon auch ein bisschen aufpassen. Spiegel: Und es klingt ein bisschen weicher. Ambrosetti: Ja, das Flügelhorn ist weicher im Klang. Man kann es aber auch aggressiv spielen. Spiegel: Bei dem Ausschnitt, den wir vorhin von Ihnen in Burghausen gesehen haben, klingt das Flügelhorn sehr, sehr kantig, klar und konturenscharf. Wenn ich das nicht sehen, sondern nur hören würde, würde ich in diesem Fall diese beiden Instrumente sogar verwechseln. Ambrosetti: Das stimmt. Spiegel: Auf Ihrer jüngsten CD "After the Rain" spielen Sie ebenfalls ausschließlich Flügelhorn. Das Bindeglied zu dem Foto mit John Coltrane, das wir soeben gezeigt haben, besteht darin, dass diese CD der Musik von John Coltrane gewidmet ist, denn "After the Rain" ist nämlich auch ein berühmtes Stück von ihm. Ambrosetti: Ja, ein wunderbares Stück. Spiegel: Welche Rolle hat John Coltrane in Ihrem Leben gespielt? Ambrosetti: Eine viel größere, als man in meinem Fall als Trompeter meinen könnte. Coltrane war für mich ein Genie, das sehr, sehr viel geändert und den allergrößten Einfluss gehabt hat, nicht nur auf Saxofonisten. Ich habe ihn in den 60er Jahren mal kennengelernt. Er war ein sehr scheuer Mensch. Aber sobald er auf der Bühne stand, hat er eine unglaubliche Verwandlung durchgemacht: Er hatte auf einmal wahnsinnig viel Energie, eine Energie, die man ihm eigentlich nicht zutraute, wenn man ihn privat getroffen hat und mit ihm meinetwegen beim Abendessen zusammensaß. Seine Musik war unglaublich einfallsreich und auch unglaublich einflussreich. Seine Entwicklung von 1945 bis 1967, als er leider gestorben ist, war eigentlich eine sehr logische. Diese zwölf Jahre hatten wirklich eine innere Logik, die ihn bis zum Free Jazz gebracht hat. Seine Stücke wurden mit der Zeit immer komplizierter, denken Sie nur einmal "": Das ist eines der schwierigsten Stücke überhaupt, die man spielen kann, weil sich die Changes praktisch jede Sekunde ändern. Spiegel: Das sind auch sehr, sehr ungewöhnliche Akkorde. Ambrosetti: Ja, es sind auch sehr ungewöhnliche Akkorde. Das ist ein "Übungsstück" und inzwischen spielen wir es alle – aber halt erst 20 Jahre nach ihm, nicht wahr. Von da an aber ist seine Musik immer einfacher geworden, von den kompliziertesten Sachen ging es wieder zurück zu immer einfacheren Dingen – und die Stücke wurden auch ein bisschen esoterisch. So ganz langsam ist er dann schlussendlich total frei geworden. Das ist eine logische Entwicklung, die man auch verstehen kann. Andere Leute verstehe ich weniger gut, Leute, die bis gestern meinetwegen Dixieland gespielt haben und auf einmal Free Jazz machen, denn da fehlt irgendwie das Bindeglied in der Entwicklung. Coltrane hat diese Entwicklung jedoch gemacht. Er hat übrigens auch die Art zu improvisieren in den Changes geändert, indem er Intervalle verwendet hat, indem er intervallisch gespielt hat. Auf der Trompete ist das aber fast unmöglich, nur Woody Shaw hat das früher mal ein bisschen geschafft. Es ist auf der Trompete wirklich sehr schwierig, mit Intervallen zu spielen, auf dem Saxofon oder dem Klavier ist das einfacher. Das hat er also eingeführt und zudem hat er diese Art zu improvisieren eingeführt, die "in and out" heißt. Man hat irgendeinen Akkord, aber man muss nicht dauernd strikt diesen Akkord spielen, sondern man kann einen halben Ton höher oder tiefer oder einen verwandten Akkord spielen, um dann irgendwie wieder zurück zu diesem Akkord zu kommen. Das heißt, man ist "out" und dann eben wieder "in". Heute ist es ziemlich üblich, dass man das macht. Spiegel: Der berühmte Gitarrist macht das ständig. Er hat sich in seiner Entwicklung natürlich auch sehr stark an John Coltrane orientiert. Ambrosetti: In dem Stück "The Sidewinder", das wir vorhin gehört haben, war ich ständig "in" und "out". Als ich zum ersten Mal in diese Aufnahme hineingehört habe, habe ich mich gefragt, was das für ein Stück ist, weil ich die Changes nicht mehr mitbekommen habe. Und Jason Moran spielt da allerdings auch nicht gerade homologierte Changes, sodass man heraushören könnte, was das für ein Stück ist. Das liegt einfach daran, dass ich ziemlich intensiv "out" war und dann erst wieder "in" war. Das sind so die Sachen, die Coltrane eingeführt hat und an denen ich mich bis heute orientiere. Ich bin sehr froh darüber, dass dieser großartige Musiker in so kurzer Zeit so viel hat erneuern können im Jazz und beim Improvisieren im Jazz. Spiegel: Sie sind ihm also persönlich begegnet, wie wir auf dem Bild gesehen haben, hatten aber nie das Vergnügen, mit ihm zusammenzuspielen. Einmal hätten Sie beinahe mit ihm gespielt. Ambrosetti: Ja, allerdings. Spiegel: Diese Geschichte würde ich gerne hören. Ambrosetti: Gut, ich erzähle sie gerne. Er machte, das muss so im Jahr 1963 gewesen sein, ein Konzert im Volkshaus in Zürich, in dem ich auch gewesen bin als Zuschauer. Dabei habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Standing Ovations miterlebt. Das war damals einfach nicht üblich, das war extrem außergewöhnlich. Heute hingegen gibt es quasi bei jeder Show stehende Ovationen für irgendeinen Künstler. Damals aber war das noch etwas Neues und Ungewöhnliches: 20 Minuten stehenden Applaus. Sein Konzert hatte drei Stunden gedauert und man muss bedenken, dass es damals noch keine Soundanlagen gegeben hat. Er hatte nur vorne an der Bühne ein einziges Mikrophon. Man hat ihn fast nicht gehört, denn Elvin Jones hat sehr stark und sehr laut gespielt. Jimmy Garrison hat auch mitgespielt, aber man hat von ihm im Publikum quasi keine einzige Note gehört. McCoy Tyner hat man immerhin teilweise gehört. Dennoch war dieses Konzert unglaublich intensiv: Ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder so ein intensives Konzert erlebt. Weil ich ja Elvin Jones durch meinen Vater gekannt habe, bin ich anschließend hinter die Bühne gegangen und habe mit Elvin gesprochen. Er stellte mich dabei auch Coltrane vor und ich fragte ihn – das war damals in den 60er Jahren einfach so üblich –, ob wir noch zu einer Jamsession gehen wollen. Damals hat man nach einem Konzert eben immer noch eine Jamsession gemacht, heute ist das vorbei, aber damals hat man das fast immer gemacht: Alle Musiker, die damals nach Zürich gekommen sind, ob das Horace Silver, Sonny Rollins oder andere waren, sind nach den Konzerten zusammen zum Jammen gegangen. Auf diese Weise habe ich natürlich auch viele Musiker während solcher Jam Sessions kennengelernt und mit ihnen gespielt – damals in Zürich, als vermeintlicher "Student". Wir gingen also in den Club "Africana": Das war ein Club, in dem kein Alkohol ausgeschenkt wurde! Dort habe ich, dort haben wir oft und oft gespielt. Dollar Brand hat dort sogar fest gespielt, oft im Trio zusammen mit McCoy Tyner. Es war so ungefähr 23.30 Uhr, als ich John Coltrane gefragt habe, ob er Lust hätte, ein Stück mit uns zusammen zu spielen. Er hat gesagt: "Okay, go ahead!" "Fang du schon mal an!" Ich ging also zu Dollar und fragte ihn: "Wollen wir ein bisschen jammen?" Er antwortete: "Ja, bitte, bitte, spiel nur. Fang an." Ich weiß nicht mehr, was ich dann gespielt habe, das muss irgendwie "Bye Bye Blackbird" oder so etwas Ähnliches gewesen sein. Während ich also gerade mit dem Schlagzeuger zugange war und gespielt habe, habe ich gesehen, wie Coltrane sein Saxofon aus dem Koffer nimmt und es zusammenbaut. In diesem Moment aber schoss der Besitzer des Clubs, der keine Ahnung vom Jazz hatte, jedenfalls nicht vom Jazz nach 1930, auf Coltrane zu. Das war Herr Hugentobler, der heute leider auch schon nicht mehr lebt. Er schoss also wie eine Rakete auf Coltrane zu und meinte zu ihm auf Schwyzerdütsch: "Jetz könne Sie nit spielen! Jetz is es z'spot, oderrr! S'isch Polizeistund!" Es war tatsächlich so: Damals, im Jahr 1963, war in ganz Zürich um Mitternacht Polizeistunde, in allen Wirtshäusern und Clubs – außer in ein paar Nightclubs. Das heißt, nach Mitternacht kam immer die Polizei und hat kontrolliert, ob auch wirklich Ruhe herrscht und alles zu Ende war. Hugentobler wollte halt einfach keine Buße, also keine Strafe zahlen: So eine Buße hätte 20, 30 Franken gekostet – also quasi nichts für eine Jamsession mit John Coltrane! Aber das wollte er eben nicht zahlen. Coltrane hat natürlich kein Wort verstanden von dem, was Hugentobler zu ihm gesagt hat. Aber das Wort "Polizei" verstand er sehr wohl. Und den Ton, in dem Hugentobler mit ihm gesprochen hat, den hat er auch verstanden. Denn Hugentobler hat einfach nicht gewusst, wen er da vor sich hatte. Also hat Coltrane ganz scheu sein Saxofon wieder auseinandergenommen und es in den Koffer gelegt. Und so fand diese Jamsession nicht statt. Viele Jazzmusiker waren an diesem Abend mit dabei. McCoy war dabei, Irène Schweizer war da usw., viele Jazzmusiker, die heute ganz bekannt sind, waren mit in diesem Club. Alle erinnern sich bis heute ganz genau an diese Geschichte: Wir hätten alle mit John Coltrane spielen können! Aber die Polizeistunde hat das verhindert. So ist die Schweiz – und das war die Schweiz (lacht). Spiegel: Da ist wirklich ein ganz, ganz großer Moment verhindert worden, weil John Coltrane damals weltweit einfach der innovativste Jazzmusiker gewesen ist. Ambrosetti: Ja, eindeutig. Spiegel: Es war damals wohl wirklich für jeden Jazzer ein Lebenstraum, wenigstens einmal mit Coltrane zu spielen. Ambrosetti: Ja, natürlich. Spiegel: Sie haben soeben von der Polizeistunde erzählt: Dieses Problem haben wir jetzt quasi auch. Es gäbe noch viele Themen, über die ich gerne mit Ihnen sprechen würde, aber für heute bleiben wir einfach bei der verhinderten Session mit John Coltrane stehen. Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, ich kann Ihnen nur empfehlen, sich diese CD von Franco Ambrosetti anzuhören, die diesem großen Saxofonisten gewidmet ist. Herr Ambrosetti, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch. Ambrosetti: Ich bedanke mich bei Ihnen.

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