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WOLFGANG MITTERER (*1958) coloured noise (2005) brachialsymphonie für 23 musiker und electronics 1 langsam 20:08 2 scherzo 1 10:36 3 scherzo 2 8:38 4 scherzo 3 7:57 5 attacca 21:50 TT: 69:09 Wolfgang Mitterer Orgel Klangforum Wien Peter Rundel UA 15.11.2005, Konzerthaus Wien, Wien Modern Erste Bank Kompositionspreis Coverphoto: © Peter Oswald 2 Klangforum Wien Thomas Frey Flöte Wolfgang Zuser Flöte Markus Deuter Oboe Reinhold Brunner Klarinette Stefan Neubauer Klarinette Lorelei Dowling Fagott Gerald Preinfalk Saxophon Christoph Walder Horn Anders Nyqvist Trompete Andreas Eberle Posaune Gunde Jäch-Micko Violine Sophie Schafleitner Violine Annette Bik Violine Dimitrios Polisoidis Viola Andrew Jezek Viola Benedikt Leitner Violoncello Andreas Lindenbaum Violoncello Uli Fussenegger Kontrabass Lukas Schiske Schlagwerk Björn Wilker Schlagwerk Florian Müller Klavier Marino Formenti Klavier 3 Wenn Fassaden fallen. Wiener Festwochen uraufgeführt, näherte sich der Einblicke in Wolfgang Mitterers coloured noise. 1958 in Lienz geborene Musiker vielleicht bisher am brachialsymphonie für 23 musiker und electronics weitesten dem herkömmlichen Verständnis eines Komponisten als Verfertiger einer penibel ausgear- Walter Weidringer beiteten und schriftlich niedergelegten Spielanwei- sung an – selbst wenn auch hier den InterpretInnen Brachial, lässt uns der Duden wissen, das meint immer wieder große Freiräume gewährt werden. Im- vor allem: rohe Körperkraft. Und wer den Musiker provisation, die präformierte Ereignisse überlagert, Wolfgang Mitterer schon einmal live erlebt hat, etwa der spontane Augenblick als Korrektiv des vorab an der Orgel im Wiener Konzerthaus, der versteht, Durchdachten, als individuelles Löcken wider den wie viel seine Klänge mit Kreatürlichkeit zu tun ha- Stachel der Hierarchie: Am Unvorhersehbaren, Un- ben, mit Gliedern, Muskeln, Gelenken. Da geht es erwarteten entzündet sich Mitterers musikalische um lustvoll spontane Wildheit, Rebellion gegen ge- Phantasie am Nachhaltigsten und Aufregendsten. fühlsarme Kopfmusik, um das Aushebeln überkom- In bodenständig-dörflicher Welt zwischen Blaska- mener Hörgewohnheiten, das Aufreißen oder auch pelle und Kirchenchor aufgewachsen, kam er über Zuschütten von Gräben, um Saft und Kraft unmit- Orgel- und Kompositionsstudium in Graz und Wien telbaren, unverfälschten Ausdrucks. Eine befreiend- bald zur Elektroakustik (u.a. nach Stockholm), um befreite Gegenwelt zu den längst nichtssagend ge- schließlich durch die kreativ-experimentelle Ver- wordenen Klischees überfeinerter Musikkultur. Das netzung von Elementen aus Jazz, Volksmusik, stimmt alles – und ist doch falsch zugleich. Denn New Wave, Geräusch und herkömmlich moderner niemals drischt Mitterer wahllos ein auf Manual und „E-Musik“ seine eigenen Klangwelten zu bauen. Pedal, auf Laptop oder was auch immer. Bei seiner Und die sind viel umfassender und komplexer, als grandiosen Neuvertonung von Friedrich Murnaus das eingangs geschilderte Konzerterlebnis sugge- Stummfilmklassiker Nosferatu, einem der Höhe- riert und erfassbar macht, weiten sich oft auch zu punkte von Wien Modern 2001, war bei 90 Minuten alternativen Formen eines zeitgenössischen Mu- Totaleinsatz zwischen pseudosakralem Orgelstil, siktheaters bis hin zum Gesamtkunstwerk. Eines schrägsten Elektronik-Samples (inklusive Knistern von mehreren Beispielen: Mitterers vertical silence, wie von abgespielten Schallplatten) und einer Pri- entstanden für die Tiroler Festspiele Erl 2000 und se Gruselgeheul wenn schon nicht im voraus, so uraufgeführt im dortigen Steinbruch, vereint etwa doch im spontanen Moment jeweils genau kalku- vier DJ’s, ebenso viele Schauspieler, ländliche Kol- liert, wann und wo Leinwandgeschehen und Musik lektive wie Feuerwehr, Blasmusik und Jäger, Kin- synchron, leicht gegeneinander verschoben oder derchor, Opernsänger, Maschinen (zwei Caterpillar, völlig unabhängig behandelt wurden. Und in seiner ein LKW, Mopeds und Motorsägen) sowie Tonband packend-blutrünstigen Bartholomäusnacht-Oper – und weiß sich bei alledem den Vermarktungsten- massacre nach Christopher Marlowe, 2003 bei den denzen einschlägiger „Event“-Großveranstaltungen 4 dennoch erfolgreich zu entziehen. Eines verbindet sie alle: Sie sind als freie Impro- Brachial, verrät uns Mitterer, das heißt für ihn: or- visationen entstanden, nicht am Computer, nicht ganisch, vielgesichtig, körperlich, durchschaubar, generiert, nicht notiert, intakte Resultate der un- fassungslos. Und noch eines: wenn Fassaden fal- mittelbaren Verbindung Mensch/Instrument. Musik len. Keine Spur von Gewalttätigkeit, wie der Unter- also, die sich in ihrer spontanen rhythmisch-melo- titel suggeriert (der im Übrigen von Sven Hartber- dischen Komplexität herkömmlicher Notation ver- ger stammt, dem Intendanten des Klangforums). weigert – und die, sollte man sie doch ins Korsett Absolute, abstrakte Musik in Form einer quasi einer schriftlichen Annäherung zu zwingen wissen, klassischen, fünfsätzigen Symphonie hat Mitterer als bloße Ausführung von Spielanweisungen nie- hier im Sinn, voll gleißender Schärfe, virtuoser mals ihre ursprüngliche Ausdrucksfreiheit wieder- Elastizität und mit prickelnd ausformulierten Kon- erlangen könnte. Am Computer umgeformt und in turen. Abseits der notwendigen Sprengungen, bei ein Gerüst fürs ganze Werk gebracht, dient dieses denen sehr wohl gewaltige Tonbrocken durch die Material nun als Imitationsvor- oder -grundlage für Luft sausen, geht es in diesem stets gut geerde- die live agierenden Musiker des Klangforums, wo- ten Stück jedoch immer wieder recht geschmirgelt bei sie „ihre ereignisse aus einer spielpartitur able- und geschliffen zu, verfeinert sich das Tongeröll zu send, teilweise improvisatorisch (an das im moment transparentem Feinstaub mit Tiefenwirkung, blei- gehörte anpassend) setzen. der ganze abend wird ben geheimnisvolle Akkorde stehen, über denen über zeitlinien (timecodes) gesteuert um punkt- es klingelt, klimpert und zirpt. Denn inmitten zweier genaue übereinstimmungen mit den ‚mehrkanal- ausgedehnter Rahmenteile werden hier drei recht electronics’ zu erreichen. dirigent, kontrabass und individuelle Scherzi vorgeführt, die sich steigern die 2 klaviere übernehmen quasi eine mittlerfunk- und verausgaben, um dann langsam auszupendeln tion: ihre ereignisse müssen oft exakt auf der zeit- – Beat und Schlagzeug-Drive fallweise inbegriffen. linie plaziert sein, um sichere orientierung für die Am feinsinnigsten klingt das im ausgedehnten, aber restlichen musiker zu garantieren.“ (Mitterer). Das ertragreichen Epilog, der glucksend beginnt, sich tönende Äquivalent frisch gepressten, naturtrüben einmal noch zu prächtigem Getöse steigert und Fruchtsafts ist es also, das er hier neu und in sei- endlich gerinnt – zu einem Schluss bewusst-unbe- nem Sinne verkocht, ihn live vergären lässt. Nun wusster, simpler Rätselhaftigkeit. wird auch der Titel coloured noise verständlich: Grundlage des Werks ist eine durchlaufende Während „weißes“ Rauschen in jedem Frequenz- Schicht aus Mehrkanal-Electronics, die Mitterer aus abschnitt die gleiche Stärke aufweist, von unserem seinem Fundus zusammengestellt hat – Fetzen aus Ohr jedoch eher unangenehm höhenlastig und wie verschiedenen älteren Werken wie KA und der Pa- das Urbild einer Tonstörung wahrgenommen wird, vian, den networds 1–5, aus Soloaufnahmen, aus entsteht „farbiges“ (z.B. „rosa“ oder „braunes“) gemeinsamen Projekten mit Wolfgang Reisinger, Rauschen durch spezielle nachgeschaltete Filter, Reinhardt Winkler, den „Callboys“ und anderen. die den Frequenzverlauf nach bestimmten Algorith- 5 men beeinflussen. Das Ergebnis klingt weicher, in coloured noise gewisser Weise musikalischer. Mitterer begreift den brachialsymphonie für 23 musiker und electronics Titel metaphorisch – als gefilterte Vielgesichtigkeit. Weißes Rauschen wäre in diesem Konzept ein Ge- Wolfgang Mitterer menge absolut freier, unabhängiger Einzelimprovi- sationen als tönendes Tohuwabohu. Das oben be- am computer umgeformte samples von aufnahmen schriebene kompositorische Handeln jedoch vertritt kollektiver improvisationen sind das ausgangs- die Filterung, die Beeinflussung des Geschehens in material für coloured noise. lebendige, musizierte bestimmte Richtungen – zu Neuer Musik, Free Jazz, klangbilder, mit nicht exakt notierbaren rhyth- Beat-Elementen und mehr. Dass dabei immer noch mischen und tonalen verhältnissen, als ausgangs- eine aufregende Unberechenbarkeit herrscht, dafür material (inspirationsmaterial, imitationsmaterial) für garantiert nicht nur der Komponist, sondern auch die musiker, die ihre ereignisse aus einer spielpar- der Musiker Wolfgang Mitterer, der mit einem sehr titur ablesend, teilweise improvisatorisch (an das freien Orgelpart live ins Geschehen eingreift. im moment gehörte anpassend) setzen. der ganze Selbst wenn er dabei nicht allzu viel Rampenlicht abend wird über zeitlinien (timecodes) gesteuert um für sich beansprucht: Dass „auch der Dirigent nicht punktgenaue übereinstimmungen mit den „mehrka- alles kontrollieren kann“, darauf kommt es Mitterer nal-electronics“ zu erreichen. dirigent, kontrabass an – und zielt damit weit über bloße Ironie hinaus und die 2 klaviere übernehmen quasi eine mittler- auf eine Steigerung emotionaler Anteilnahme bei funktion: ihre ereignisse müssen oft exakt auf der Musikern und Publikum, ja auf eine Transzendie- zeitlinie plaziert sein, um sichere orientierung für die rung der herkömmlichen Rollenverteilungen. Alte restlichen musiker zu garantieren. Begriffe umzudeuten, sich ihnen mit heutigem Wis- sen und Bewusstsein neu zu nähern,