A 1015 F MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE

GEGRÜNDET 1865

88. Jahrgang Heft 1 Januar 1992 Rcisbifoliofhek ig der Ber!!f»r StodtbiWiathe»

Der „Bogenschütze" im Schloßpark von Sanssouci, Parterre der Neuen Orangerie, Aufnahme November 1990 (Foto: Schmidt) Plastiken in : Der „Bogenschütze" von Ernst Moritz Geyger Ein Berliner Bildhauer und sein populärstes Werk Von Martin H. Schmidt

Nur schwer läßt sich die gigantisch erscheinende Skulptur des „Bogenschützen" von Ernst Moritz Geyger im Schloßpark von Sanssouci übersehen. Seit 1961 steht der — von dem Potsda­ mer „Blechner" Gustav Lind1 in Kupfer getriebene — nackte Jüngling im Parterre der Neuen Orangerie; er hatte ursprünglich (seit 1902) im Sizilianischen Garten und zwischenzeitlich (1927—1960) in der Nähe des Hippodroms Aufstellung gefunden. Folgende Bemerkungen seien zunächst dem Schöpfer des „Bogenschützen" gewidmet: Der Künstler Ernst Moritz Geyger — Sohn eines Schuldirektors2 — wurden am 9. November 1861 in Rixdorf (heute Berlin-Neukölln) geboren. Mit sechzehn Jahren begann er seine künst­ lerische Ausbildung in der Malklasse der Kunstschule in Berlin und setzte sie von 1878 bis 1883 an der akademischen Hochschule fort. Wie auf viele junge Künstler übte sein Lehrer, der Tier­ maler Paul Meyerheim, auf die früh entstandenen Gemälde und Graphiken des Eleven einen unübersehbaren Einfluß aus.3 Trotz positiver Erwähnungen aus den Reihen zeitgenössischer Kritiker scheiterte Geygers Versuch, im Atelier des staatstragenden Künstlers der Wilhelmini­ schen Ära, Anton von Werner, unterzukommen. Als Geygers Hauptwerk in der Gattung der Malerei gilt das große Ölgemälde „Viehfütterung" von 1885. Ein breites Publikum erreichte der Künstler mit satirischen Tiergraphiken; die Radierungen, Kranich als „Prediger in der Wüste", „Elephant bei der Toilette" oder „Affen in einem Disput über den von ihrer Sippe ent­ arteten Menschen", riefen bei jeder öffentlichen Präsentation „das Entzücken der Laien wie der Kenner in gleichem Maße hervor.. .".4 Geygers technische Reife und trefflich erarbeitete malerische Wirkung, die eine scharfe Naturbeobachtung voraussetzte, wurden bevorzugt in Rezensionen hervorgehoben. Im Auftrag seines Pariser Verlegers entstanden — in engster Ablehnung an Werke des engli­ schen Tiermalers Sir Edwin H. Landseer — Radierungen, wie „Hirsch in der Brunstzeit" (1887), wobei Geyger Landseer in technischer Präzision und naturalistischer Wiedergabe übertraf. Im selben Auftrag entstand eine graphische Wiederholung von Sandro Botticellis „Primavera". Mehr als vier Jahre intensiver Arbeit kostete Geyger diese Aufgabe, deren Ergebnis eine Spitzenleistung der Radiertechnik des 19. Jahrhunderts bildet.5 Die zweidimensionalen Ausdrucksmöglichkeiten stellten den Künstler jedoch nicht zufrieden; in autodidaktischer Annäherung entstanden in den späten 80er Jahren erste bildhauerische Arbeiten. Im Dreikaiserjahr 1888 hielt sich Geyger in Florenz auf; hier modellierte er die manieristisch anmutende Tierkampfgruppe „Nilpferd und Löwe"; noch im nämlichen Jahr erfolgte der Guß in Bronze. Für sein Bestreben, auch in der feinsten Schattierung die täuschend echte Nachahmung von Feuchtigkeit in der Umsetzung in das Material Bronze zu erwirken, benötigte Geyger eine Arbeitszeit von vier Jahren, die weitgehend der Ziselierung gewidmet war. Nachdem die Gruppe auf mehreren Ausstellungen vertreten war, ging sie in den Besitz der Nationalgalerie in Berlin über. Heute verstaubt dieses Faszinosum bildhauerischer Technik unverständlicherweise in den Kellergewölben des Museumsdepots. Der Ruf einer Professur holte Geyger 1893 nach ; er übernahm dort die Leitung des Kupferstich-Meisterkabinetts.6 Doch bereits fünf Monate später kehrte der Künstler nach

2 Abb.l: illillHMIi» Ernst Moritz Geyger in seinem Atelier (in: Beitragsband Ethos und Pathos — Die Berliner Bildhauerschule 1768-1914, Berlin 1990, S. 459)

Berlin zurück; er hatte den akademischen Zwang, dem er sich ausgesetzt fühlte, nicht akzeptie­ ren wollen. 1894 erwarb Geyger die Mediceer Villa Marignolle bei Florenz, führte dort ein Schüleratelier, behielt aber sein Atelier in Berlin bei. Innerhalb weniger Wochen modellierte Geyger in seinem räumlich beengten Berliner Atelier sein wohl bekanntestes Werk, die annähernd vier Meter hohe Plastik „Bogenschütze". Erst fünf Jahre später jedoch präsentierte er das Originalgipsmodell auf der Großen Berliner Kunst­ ausstellung des Jahres 1900 am Lehrter Bahnhof. Von den zeitgenössischen Kritikern wurde der „Bogenschütze", angesichts scheinbar belangloser Skulpturen anderer Künstler, wohl­ wollend aufgenommen.7 Kein Geringerer als Kaiser Wilhelm IL, der den Künstler bereits zuvor in seinem Atelier besucht hatte, erwarb den „Bogenschützen". Eine Reihe privater Aufträge folgten dieser Ehrung Geygers durch das kaiserliche Haus; so boten die Firmen Gladenbeck und WMF den „Bogenschützen" in insgesamt sechs unterschiedlichen Größen zum Verkauf an.8 Die Vielseitigkeit von Geygers Arbeiten, darunter Bildnisbüsten, wie die seiner Mutter Ida (1904), Bauplastiken, z. B. für das Palais Guthmann (1907-1909), und Kunstgewerbliches, wie Bestecke, Standspiegel, Kerzenleuchter, sowie lebensgroße Statuen „Heros" oder „Stier" (1904), soll hier nur angedeutet werden. Doch bereits 1910 konstatierten Kritiker, daß Geyger seinen künstlerischen Zenit überschritten habe.9 Der enge Kontakt zum Kaiserhaus und zu den Berliner Museen über Wilhelm von Bode blieb Geyger dennoch erhalten.10 1912 wurde in Neukölln eine Straße — schon zu Lebzeiten (!) — nach ihm benannt.

3 Zu Beginn des Ersten Weltkrieges mußte Geyger sein Landgut bei Florenz aufgrund der poli­ tischen Spannungen zwischen Italien und Deutschland verlassen. 1915 erging ein Auftrag zur Gestaltung eines Brunnen von der Stadt Neukölln an Geyger; 1919 war die Brunnenanlage mit dem Titel „Deutscher Wald" vollendet, konnte aber erst 1935 auf­ gestellt werden. Am 29. November übernahm Geyger — der zu dieser Zeit in der Öffentlichkeit weit mehr durch seine plastischen denn seine graphischen Arbeiten bekannt war — das Meisteratelier für Graphik an der Akademie der Künste in Berlin. Der Vertrag war auf zehn Jahre befristet und sah darüber hinaus keine Pensionsansprüche vor. 1928 — Käthe Kollwitz hatte sein Lehramt übernommen — verließ Geyger endgültig Berlin. Zuvor hatte er sein Florentiner Landgut zurückerwerben können. Das Ausbleiben von öffentlichen Aufträgen zwang ihn, seinen Lebensunterhalt auch durch den Anbau von Getreide, Öl und Wein zu verdienen.11 In Deutschland besetzten die Nationalsozialisten Geygers Arbeiten mit eigenen ideologischen Werten und stellten die Skulpturen des mittlerweile 70jährigen auf eine Stufe mit Skulpturen eines Arno Breker und anderer die nationalsozialistische Staatsidee unterstützender Künstler. Im Juli 1936 erhielt Geyger den „Ehrensold des Nationalsozialistischen Deutschlands" auf Lebenszeit zugesprochen. Am 11. Dezember 1941 starb Ernst Moritz Geyger in Florenz. Nach testamentarischer Bestim­ mung wurde seine Asche nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Ulmer Hauptfriedhof beige­ setzt. Den einfachen Grabstein ziert die Lilie von Florenz.12 Mit seinem CEuvre weist sich Geyger als ein Meister in verschiedenen künstlerischen Gattun­ gen aus: Malerei, Graphik und Plastik. Gerade in der Beherrschung unterschiedlicher Techni­ ken zeichnet sich Geygers Können ab. Betrachtet man die langen Zeiträume, die der Künstler zur Vollendung seiner Arbeiten benötigte („Nilpferd und Löwe", „Stier", „Primavera" jeweils vier Jahre), so erstaunt Geygers Gewissenhaftigkeit gegenüber der gestellten künstlerischen Aufgabe. Rücksichtslos gegen sich selbst verschwendete er seine Arbeitskraft geradezu an die kleinteilige Durchbildung der äußeren Form. Das Bild der von Ovid beschriebenen und am Pergamon-Altar in Marmor umgesetzten „Gigantomachie", der aussichtslose Kampf der Giganten gegen die Götter des Olymp, drängt sich als Vergleich auf. War es 1893 die Beschneidung der künstlerischen Phantasie, die Geyger die Lehrtätigkeit in Dresden niederlegen ließ, so muß man bei der Übersicht seiner Arbeiten feststellen, daß gerade das Fehlen dieser Phantasie eine durchgehende Größe in Geygers Schaffen darstellt. Das Gros seiner Werke ist in direkter Anlehnung an Arbeiten anderer Künstler entstanden. In der Auseinandersetzung mit Geyger fällt auf, daß die Literaturlage zu seinem Leben und CEuvre sehr spärlich ausfällt.13 Selbst zu Lebzeiten galt Geyger als „vergessener" bzw. „in Ver­ gessenheit geratener" Künstler" M, seine Emigration aus künstlerischer Intention nach Florenz mag diesen besonderen Umstand mit bewirkt haben.

Der „Bogenschütze"

Die Entstehung des „Bogenschützen" wurde von Geygers Zeitgenossen als Geniestreich ge­ feiert ; Geyger habe ohne ein Zwischenmodell in der Originalgröße modelliert, direkt nach der Natur, dabei habe er nach freiem Augenmaß gearbeitet, ohne Zirkel oder Zollstock zu benut­ zen. Erfahrungen im Gipsmodellieren und im Umgang mit überlebensgroßen Skulpturen fehl­ ten Geyger zu jener Zeit ebenfalls.

4 Abb. 2: Galvanobronzereplik des „Bogenschützen" der Firma WMF-Geislingen, Atelieraufnahme von 19. Dezember 1928, Höhe: 200 cm (Archiv der WMF; Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg)

Galt diese Vorgehensweise in der Wilhelminischen Ära als Garant für Qualität, so stand man ihr vor dieser Zeit und steht ihr auch heute eher skeptisch gegenüber. Zu erkennen sind bei allem Streben nach idealisierender Wiedergabe der Anatomie Fehler bzw. Ungereimtheiten der Formulierung. Dargestellt ist ein nackter junger Mann, der seinen zielgerichteten Lauf unterbricht, den Ober­ körper zurückdreht und mit dem gespannten Bogen den eingelegten Pfeil auf ein von ihm bestimmtes Ziel lenkt. Die klassische Nacktheit wurde vom Künstler gewählt, der Kopf mit einem „römischen Helm" bedeckt. Unterfangen wird die Skulptur von einer naturassoziieren­ den, rechteckigen Plinthe, deren eine Ecke sich zu einem leichten Hügel erhebt, auf dem der rechte Fuß des Jünglings ruht. Der Körperbau des Epheben weist, bei aller Jugend, stark durch­ gebildete Muskulatur auf, die in der Anspannung des bevorstehenden Schusses am ganzen Körper deutlich hervortretend modelliert ist. Doch weist die großangelegte Gebärde zum einen weit über das eigentliche Motiv des Bogenschießens hinaus, zum anderen erstaunt die tänzelnde Haltung, d. h. die Leichtigkeit der Drehung in der Hüfte angesichts der kraftfordern­ den Tätigkeit.

5 Trotz der monumentalen Größe von annähernd vier Metern ist jedes Detail genauestens her­ ausgearbeitet. Überflüssiges, das in neubarocker Manier das Genrehafte des Motives hätte unterstützen können, wurde von Geyger bewußt vermieden; eine Ausnahme bildet die Kopf­ bedeckung. Dagegen sind Elemente ablesbar, besonders in der weichen, fast floralen Linien­ führung, die man schon dem Formenrepertoire des Jugendstils zuordnen könnte. Ernst Moritz Geyger war nicht der erste Künstler, der sich im 19. Jahrhundert mit dem aus der Antike entlehnten, allgemeingehaltenen Thema „Bogenschütze" auseinandersetzte. Jahre zuvor (1884) hatte Joseph Uphues einen kleinformatigen „Bogenschützen" in Bronze gießen lassen.15 Geyger folgte der künstlerischen Strömung nach Reduktion von Form und Inhalt, überspannte und beendete aber gleichzeitig für sich selbst die Umsetzung des Themas, indem er die Ausführung der Skulptur ins Überlebensgroße steigerte, möglicherweise in direkter Anlehnung an den „Herkules Farnese" der Kasseler Wilhelmshöhe. Zeitlich später entstan­ dene Bogenschützen anderer Künstler, wie zum Beispiel von Emile Bourdelle (1909) und Hugo Lederer (1929), sind in der Umsetzung des Motives weit überzeugender. Geyger kannte die Vorliebe des Kaisers für monumentale Bauaufgaben, er kannte dessen Wunsch nach repräsentativen Lösungen, aber auch des Kaisers Vorliebe für Tanzdarstellungen und Abbildung von antikisch-klassischer Jünglingsnacktheit. Auch wußte Geyger um die generelle Überbewertung der Monumentalplastik, die meist identisch war mit der sogenannten „offiziellen Kunst" durch Bildhauer von Staatsaufträgen. Nur mit einer monumentalen Skulp­ tur konnte sich Geyger aus dem Meer der namenlosen Bildhauer herausheben. Vorbilder für den „Bogenschützen" lassen sich leicht aufzeigen. Am nächstliegenden sind antike Darstellungen des bogenschießenden Apollon oder des Herkules, wie sie auf Vasen oder in Reliefs zu finden sind. Auch die Graphiken des Antonio del Pollajiuolo und Albrecht Dürers müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Im dreidimensionalen Bereich fällt besonders Peter Flötners „Apollonbrunnen" (1532) für Nürnberg auf; aber auch der Herku­ leszyklus des Brandenburger Tores (nach 1791), das in seiner Planungsphase noch als „Porta Fridericiana" verstanden werden wollte, muß hier angeführt werden.16 Von der Vorbildfunktion des „Apollon von Belvedere" oder gar des „Idolino" muß abgesehen werden. Das direkte Vorbild, das bisher noch nicht in die Diskussion um den Geygerschen „Bogenschützen" eingebracht wurde, steht mit Friedrich II. in engster Verbindung. Es handelt sich um „einen unrichtig zum Bogenschützen ergänzten Torso eines Faustkämpfers".17 Der Torso wurde nach einer phrygischen Münze ergänzt und weist den für Geygers „Bogenschüt­ zen" typischen „interessante(n), etwas raffinierte(n) Gegensatz in der Richtung des Beckens und der Schulter" auf.18 Im Auftrag Friedrichs II. war unter anderen der sächsische Arzt Bianconi in Italien zum Zwecke von Antikenankäufen tätig. Bianconi erwarb vor 1770 die Natalische Sammlung in Rom, in der sich auch der o. g. Torso befand. Friedrich II. ließ das Schloß und den Schloßpark von Sanssouci mit diesen Skulpturen ausschmücken; der ergänzte Marmortorso befand sich damals vor dem Neuen Palais, gelangte später in das Alte Museum in Berlin. Auch mit der Wahl des Materials schlug Geyger eine Verbindung zu Friedrich II.; dieser hatte 1780 in Potsdam eine Werkstatt für Kupfertreibarbeiten gegründet.19 Als Kaiser Wilhelm II. den „Bogenschützen" von Geyger auf der Großen Kunstausstellung am Lehrter Bahnhof für 10 000 Mark erwarb, bemerkte er möglicherweise in der Skulptur nicht allein den äußerlichen Reiz. Er könnte auch an den „Bogenschützen" seines von ihm besonders verehrten Vorfahren gedacht haben. Eigentlich hatte die Städtische Kunstkommission den „Bogenschützen" zur Ausschmückung des Weddinger Humboldthains erworben, doch auf Wunsch des Kaisers mußte die Kommis-

6 Abb. 4: mmasimmmem „Fälschlich zu einem Bogenschützen ergänzter Torso eines kräftigen Jünglings". Vermutlich direktes Vorbild für Geygers „Bogenschützen", (in: Katalog der Königlichen Museen zu Berlin, Berlin 1891, S.183, Kat.-Nr.469)

mmmwmm sion von dem Kauf zurücktreten. Als Ersatz für den Humboldthain versprach Geyger einen lebensgroßen Stier in Marmor. Geyger ließ sich verständlicherweise den kaiserlichen Auftrag nicht entgehen, schließlich bedeutete dies eine besondere Auszeichnung und steigerte die künstlerische Nachfrage beson­ ders aus den Reihen des Bürgertums, das sich in Fragen der Kunst am Hof orientierte. Die bereits erwähnten Firmen Gladenbeck und WMF sorgten mit ihren Vervielfältigungstech­ niken für die Möglichkeit eines wohlfeilen Erwerbs des „Bogenschützen" nicht nur in Form von Ladenbronzen. Dabei nahm Geyger die Gefahr in Kauf, daß die ursprünglich monumen­ tale Bildidee seiner Skulptur durch die Verkleinerung in Vorgarten und Kommodengröße zu Nippes und Kitsch verkam. Die Vorurteilslosigkeit bei dieser lukrativen Vermarktung von Skulpturen wurde zur gleichen Zeit von anderen Künstlern geteilt. Die Minderbewertung der

7 Kleinplastik spielte für den einmal bekannt gewordenen Künstler keine Rolle mehr, hier ging es um rein finanzielle Interessen. Von den großplastischen Wiederholungen des „Bogenschützen" haben sich folgende fünf Exemplare erhalten: Das „Original" steht seit 1902 im Schloßpark von Sanssouci. Eine Galvanobronzereplik wurde 1913 von dem dänischen Brauereibesitzer und Kunstmäzen Carl Jacobsen angekauft und im Eingangsbereich des Isdraetsparken in Kopenhagen aufgestellt. Um 1920 gelangte eine Galva­ noreplik der WMF, 200 cm hoch, über die Richtersche Stiftung als Elternspende in den Besitz der Arndt-Oberschule in Berlin-Dahlem; vorübergehend fand sie in der Altensteinstraße, auf dem Gelände des damaligen Kunsthistorischen Institutes der Freien Universität Berlin, Auf­ stellung. 1926 übergab die WMF eine 200-cm-Replik der Stadt Ludwigshafen/Rhein als Wer­ begeschenk anläßlich der Süddeutschen Gartenbauausstellung (SÜGA) auf dem Gelände des heutigen Ebert-Parks. 1939 erwarb die Stadt Hannover eine 200 cm hohe Galvanoplastik des „Bogenschützen" aus Privatbesitz; sie steht seit 1967 vor dem Rathaus der Stadt. Auf der Großen Kunstausstellung in Dresden im Jahre 1934 wurde das Originalgipsmodell des „Bogenschützen" ausgestellt. Geyger schenkte der Stadt Dresden das Modell; ein Bronzeguß wurde hergestellt, seit 1936 ziert die Figur die Freitreppe des damals neugestalteten Königs­ ufers vor der Augustusbrücke. Im Vergleich der Standorte der Figuren fällt auf, daß nur — gemessen an der jeweiligen Größe — die Dresdner Aufstellung der Plastik den für sie notwendigen Freiraum beläßt. Im Parterre der Neuen Orangerie in Potsdam erscheint der Jüngling geradezu gefangen; in Kopenhagen, Berlin, Hannover und Ludwigshafen erhält die Figur zusätzlich die Funktion eines Wegwei­ sers, denn die Spitze des Pfeiles ist ausgerichtet z. B. auf den Eingang des Rathauses, des Stadions oder der Mehrzweckhalle. Am Königsufer dagegen bietet sich dem „Bogenschützen" ein weiter Raum, an dem er seine eigene Monumentalität am Korrektiv der Elbe abschätzen und ermessen mag.

Anmerkungen

1 Gustav Lind (Wien 1856 - Berlin 1903). 2 Geygers Vorfahren siedelten um 1824 von Neufchatel nach Berlin über. Sein Vater Gustav Ernst Geyger heiratete 1858 Albertina Lisetta Ida Brückner. Geyger hatte zwei Geschwister. Vgl. Bruno Goldbeck, in: Mitteilungsblatt des Neuköllner Heimatvereins e.V., Nr. 10 August 1957. 3 Kunst für Alle, Jg. 2, 1887/88, S. 370. 4 dito, Jg. 7, 1891/92, S. 331 f. 5 Die Auflage wurde auf 50 Exemplare begrenzt, die großen europäischen Kupferstichkabinette erhielten je einen Abzug; freundliche Mitteilung der Tochter des Künstlers. 6 vgl. Anm. 2; der ebenfalls für die Professur vorgeschlagene Max Klinger sagte ab, da er die akade­ mische Enge für seine künstlerische Entwicklung hinderlich glaubte. 7 Kunstchronik N.F., Jg. 9, 1899/1900, Nr. 33, S. 519; Kunst für Alle, Jg. 16, 1900, S. 284. 8 Die von Gladenbeck angebotenen Größen: 30,47,82 cm. Die Größen der WMF-Repliken: 100, 200, 344 cm. 9 Kunst für Alle, Jg. 36, 1910. 10 Das Archiv der alten Nationalgalerie verwahrt 113 Briefe Geygers an Bode. 11 Vgl. Brief Adrian Lucas Müller an den Oberbürgermeister von Dresden Ernst Zoerner vom 7. Oktober 1936; Stadtarchiv Dresden. 12 Bruno Goldbeck, in: Mitteilungsblatt des Neuköllner Heimatverein e.V., Nr. 32. 1967, S. 697 f.

8 13 Maximilian Rapsilber, Ernst Moritz Geyger, Berlin 1904; Johannes Guthmann, in: Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst, Bd. 4, München 1909, S. 177 ff.; Adrian Lucas Müller, in: Wester- manns Monatshefte, Bd. 150, Nr.898, München 1930, S. 360 ff.; vgl. Anm. 2 und 12, zuletzt Sibylle Einholz, in: Ausstellungskat. Ethos und Pathos, Hrsg. Bloch/Einholz/v. Simson, Berlin 1990, S. 109 f.; Geyger-Archiv des Heimatmuseums Neukölln. 14 besonders Müller, 1930, S. 363. 15 Höhe: 57,8 cm; vgl. Ausstellungskatalog Rheinland Westfalen und die Berliner Bildhauerschule des 19. Jahrhunderts, Hrsg. Bloch/Hüfter, Berlin 1984, S. 207. 16 Vgl. Gert-Dieter Ulferts, in: Das Brandenburger Tor, Hrsg. Arenhövel/Bothe, Berlin 1991, S. 117 ff. 17 Katalog der Königlichen Museen zu Berlin. Beschreibung der Antiken Skulpturen mit Anschluß der pergamenischen Fundstücke. Hrsg. Generalverwaltung, Berlin 1891, S. 183 mit Abb.; der Marmortorso wird als Kopie einer Bronzeplastik des Glaukias erwähnt. 18 Johannes Overbeck, Griechische Kunstmythologie, Besonderer Theil, 3. Band, 5. Buch, 1889, S. 218 ff. mit Abb. 19 u. a. wurde hier J. G. Schadows Quadriga gearbeitet, fertiggestellt 1793, Scheitelhöhe: 415 cm. Bekanntester Mitarbeiter Emanuel Jury.

Anschrift des Verfassers: Martin H. Schmidt, Schwingstraße 5—7, 6800 24

Buchbesprechungen

Herbert Sonnenfeld. Ein jüdischer Fotograf in Berlin 1933—1938. Ausstellungskatalog des Berlin- Museums vom August bis Oktober 1990. Texte von Maren Krüger, 146 Seiten, zahlreiche Abbildun­ gen, Anmerkungen und Literaturverzeichnis, Nicolai Verlag, Berlin 1990 Das Berlin-Museum hat Fotos aus dem reichen Nachlaß von Herbert Sonnenfeld präsentiert und in vorliegendem Katalog interpretiert. Das Ansprechende daran ist großenteils aus der ungewöhnlichen Biographie Sonnenfelds zu erklären. Als ein seit 1933 Verfolgter, aus seinem Beruf gedrängt, und nachdem er für sich selbst die Unmöglichkeit erkannt hatte, in Palästina zu leben, beschränkte er sich darauf, ausschließlich für jüdische Zeitschriften jüdisch geistiges und soziales Leben in der Periode seines Zusammengedrängtseins zu dokumentieren. Seine Leidenschaft, dies widerzuspiegeln, fällt in die erste Phase der Unterdrückung und Verfolgung bis 1938, als der Gedanke des Holocausts noch kaum denkbar erschien. So wird hier, wie das Vorwort betont, eine „Scheinwelt an der Grenzlinie des gerade noch und des noch nicht sichtbar". Die Berliner Judenschaft war auf die Wiederausbildung ihrer bisher schon verwischten Judenheit geworfen und suchte sich eine Zukunft in der Auswande­ rung nach Palästina. Dieser Vorzustand hat ein höchst gesteigertes Leben hervorgebracht. — Der Betrachter ist nicht nur beeindruckt von der Unmittelbarkeit der lebendigen Alltagsbilder, die ein hohes fotografisches Können zeigen, sondern auch von der bezeigten tapferen Lebensfreude trotz der Bedrohung. Er betrachtete sie aber auch von zeitlich rückwärts her und sieht die damals junge Gene­ ration sich in unerhörtem Pioniergeist vorbereiten, außer Landes zu gehen. Er findet hier die Keim­ zelle derjenigen sozialen und wirtschaftlichen Gebilde, die der Israel-Reisende noch vor 15 bis 20 Jah­ ren sehr lebendig vorfand und die nun heute auch schon von „modernerem" Leben überwachsen sind. Die Bilder müssen mit den erklärenden und ergänzenden Texten der Maren Krüger zusammen gele­ sen werden. Die Herausbildung so explizit jüdischen Lebens ist nur möglich gewesen, weil die Berliner jüdische Bevölkerung aus ihrer längst vollzogenen Anpassung herausgerissen und zur Anerkenntnis ihrer jüdischen Identität gezwungen wurde. „Die jüdischen Institutionen vermochten nicht nur die Auswirkungen der zunehmenden Verarmung und sozialen Isolation zu mildern. Nicht zuletzt versuchten sie, Antwort zu geben auf die Fragen nach den Standorten der Juden im nationalsozialistischen Deutschland, nach Inhalt und Form jüdischer Gemeinschaft, nach einer sich unter dem äußeren Druck wandelnden deutsch-jüdischen Identität."

9 Die krisenhafte jüdische Einengung zwang die Judenschaft zur Vervollkommung bestehender sozia­ ler und wirtschaftlicher und schulischer Einrichtungen, Altersheime und fürsorgerischen Anstalten, Säuglingsheimen und Wohlfahrtseinrichtungen wie der Winterhilfe, Krippen und Ambulatorien, Fortbildungsanstalten, Schulen und Landschulen, Nähstuben und Kurse für Kochen und Hebräisch. Jugendbünde und Sportvereine übten das Leben in Wohngemeinschaften. Die Erwachsenenbildung wurde ausgebaut, und entlassene jüdische Lehrer wurden umgeschult, jüdisches Theater wurde gepflegt, Ausstellungen jüdischer Maler organisiert. — Von alledem berichten die Bilder und Texte. Herbert Sonnenfeld lichtete die Tagungen der zionistischen Vereinigung ab, die die Auswanderung vorbereitete. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten stand die Berufsumschichtung der aus intellektuellen und kaufmännischen Berufen Verdrängten in handwerkliche Tätigkeiten. Da Auswanderung die Zukunft der Jugend schien, entfalteten sich in Jugendbünden Ideale vom einfachen Leben in der Gemeinschaft, in der Großstädter aufs Landleben eingestimmt und an primitive Wohn- und Lebens­ verhältnisse gewöhnt wurden. Diese zionistischen Bünde bildeten die Keimzellen der späteren Kibbu- zim. — Wir sehen Bilder aus Landwirtschaftsschulen und Lehrküchen und handwerklichen Ausbil­ dungsstätten. Wir werden aber auch tief berührt vom trügerischen Optimismus bei der Abfahrt eines Zuges nach Marseille, von wo ein Schiff die jungen Menschen nach Haifa bringen sollte. Sehr schmerzlich berührt dabei die tapfere Frische, ein bisher fremdes Schicksal in Palästina anzunehmen; noch tragischer erscheint die Reflexion, daß Inhalte und Ausdrucksformen auch hier gelebten jugend­ lich-bündischen Lebens denen der nichtjüdischen Jugend in Deutschland so ähnlich waren, hätte es die schreckliche ideologische Perversion nicht gegeben. So fragt sich der Betrachter, sollte es der älte­ ren Generation hüben und drüben nicht möglich sein, von diesen gemeinsamen Anfängen her über Gräben zueinander zu finden, sofern das unter den Überlebenden nicht schon geschehen ist? Christiane Knop

Axel Reibe: Unterwegs in Reinickendorf. Geschichte und Geschichten im Vorübergehen. Wilhelm Möller KG. Berlin 28. Broschiert 87 Seiten. 7,80 DM Auf acht Spaziergängen durch Reinickendorf selbst und durch die Ortsteile des Bezirks werden Histo­ risches und Kurioses beschrieben und Unbekanntes wie Merkwürdiges entdeckt. Die einzelnen Spa­ zierweg-Routen sind auf Karten eingezeichnet. Die Wappen des Bezirks und von sechs früher selb­ ständigen Gemeinden werden in Farbe wiedergegeben. Der Verfasser oder „Wanderführer" nimmt den Leser quasi an die Hand — „wir gehen ... ", „Sie sehen . . . —" und beantwortet viele Fragen, die ihm ein Begleiter stellen würde. Eine von ihm auf­ geworfene Frage, warum die Reinickendorfer Bezirkspolitiker den früheren Interessentenweg in Lengeder Straße umtauften, sei hier geklärt: es war nicht „Ironie oder unfreiwilliger Humor", sondern das Gedenken an das „Wunder von Lengede", als nach einem Bergwerksunglück in einem Schacht dieses bei Peine gelegenen Ortes nach zehn Tagen noch lebende Kumpel entdeckt wurden. Die Spazierwege umfassen fast das ganze Gebiet Reinickendorfs, vielleicht wurden Heiligensee, Tegelort und Konradshöhe deswegen ausgelassen, weil hier der Spaziergang wohl schon in eine Wan­ derung umgeschlagen wäre. So werden übrigens alle diese Kapitel überschrieben. Das Büchlein ist ein verläßlicher Führer und handlich-freundlich obendrein. Der aufmerksame Leser wird sich kaum an kleinen Unrichtigkeiten stoßen. So wurden die Gebeine Michael Glinkas (gestorben 1857) sicher in der Nähe St. Petersburgs und nicht Leningrads beigesetzt (S. 68). Die Brüder Humboldt würden sich dagegen verwahrt haben, als Gebrüder bezeichnet zu werden, weil sie keine Firma waren. Und wenn der Rundweg auf S. 24 der Entdeckung Frohnaus, „dem Dahlem des Nordens", gewidmet ist, so hätte Kurt Pumplun, dem diese Bezeichnung zu verdanken ist, hier bestimmt ein „des" geschrieben. Hans G. Schultze-Berndt

„Insel Potsdam. Ein kulturhistorischer Begleiter durch die Potsdamer Landschaft4' von Michael Seiler und Jörg Wacker, Vorwort von Goerd Peschken, Fotografien von Hermann Kissling, 159 Sei­ ten, viele Abbildungen, Literaturangaben, „Plan der Insel Potsdam " von 1867 und Luftbildkarte „Die Potsdamer Parklandschaft auf dem Weltraum". Museumspädagogischer Dienst im Verlag Dirk Nishen, Berlin 1990

10 Der Bild- und Textband läßt die Potsdamer Parks als ein Gesamtkunstwerk erstehen und ist ein höchst informativer Begleiter für 48 Spaziergänge zwischen Werder und der Pfaueninsel. Er entspricht der Ankündigung im Titel also in vollem Maße und verlockt zu eigener Erkundung im Potsdamer Umland. — Beide Autoren lassen den Betrachter die historische Bodengestalt gleichsam mit Rönt- genaugen durchdringen und legen die ursprünglichen architektonischen Grundlinien ihrer Bepflan- zung und Bebauung bloß, die vielfach überwuchert oder verfälscht waren. Das Grundkonzept ist der 1835 erstellte Lennesche „Verschönerungsplan der Umgebung von Potsdam", der Italien in die Mark zu versetzen strebte. Dies geschah nicht in einem Zuge, sondern wir hören im Vorwort, daß die ersten Anstöße schon auf des Großen Kurfürsten holländisch beeinflußtes Landschaftskonzept zurückge­ hen; sein Vermessungsingenieur Moritz von Nassau legte die ersten Blickverbindungen zwischen dem Ortschaften, Gütern und Schlössern des Kurfürsten. Stand für Friedrich Wilhelm wegen des Warenverkehrs die Schiffbarkeit der Havel im Vordergrund seines Interresses, so vervollkommnete sich die Landschaftsgestaltung in romantischer Zeit im Sinne der empfindsamen Kunstlandschaft. Wir lesen, wie die hohenzollerischen Auftraggeber, die Könige Friedrich IL, Friedrich Wilhelm II. und III. und IV, die Prinzen Carl und Wilhelm Stück für Stück eine Zutat nach der anderen dem Ganzen hinzufügten, jeder auf seine Art. Die Autoren suchen Orte allgemeiner Bekanntheit auf wie den Brauhausberg und den Pfingstberg, den Neuen Garten, aber auch Abseitigeres wie Bornim und Nattwerder, Golm und Eiche, Geltow und Petzow, Templin und Caputh, den Nedlitzer Kirchberg. Die Baumallee beim Kuhforter Damm und der Wildpark werden ebenso im ursprünglichen Zustand erlebt wie der Höhenweg zwischen Glienicke und Nikolskoe. Verff. haben auch alte italienische Villen am Jungfernsee und an der Glie- nicker Brücke — teilweise noch vor ihrem Abriß — aufgesucht und abgebildet. — Oft werden für das­ selbe Motiv alte Stiche oder Aquarelle den Aufnahmen aus neuer Zeit gegenübergestellt. Der Leser wird mit einer Fülle von Informationen beschenkt, die seine Entdeckerlust wecken. Christiane Knop

Berlinische Lebensbilder. Theologen. Sammelband von Aufsätzen einer Reihe von 21 Autoren, hersg. von Gerd Heinrich, 389 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Namensregister, Anmerkungen mit Literaturangaben, Colloquium Verlag, Berlin 1990 Das Buch bringt eine Auswahl — zumeist protestantischer — Theologen, die den Wandel der lutheri­ schen Lehre und des evangelischen Selbstverständnisses im brandenburgisch-preußischen Staat im Lauf von fünf Jahrhunderten markieren. Das Schwergewicht ihres Wirkens ist auf Berlin konzentriert. Ihre Reihe reicht vom ersten noch vorreformatorischen „Hofprediger" an der Schloßkapelle des Kur­ fürsten Friedrich I., Stefan Bodecker, bis zu Dietrich Bonhoeffer. Mit seinem Namen ist eine Perspek­ tive gegeben, die der Verantwortlichkeit des Christen für Staat und Gesellschaft seiner Zeit. Voraus­ setzung dafür ist der demokratische Staat, was auch seine zeitgenössischen katholischen Kollegen zu ihrem Widerstand gegen den unchristlichen Unrechtstaat bestimmt hat. — Die enge Verbundenheit der Berliner Geistlichen mit den brandenburgischen Kurfürsten, Königen und Kaisern als den obrig­ keitsstaatlichen Kirchenherren hat seit der Reformation ihre Besonderheit ausgemacht, sei es, daß sie als kurfürstliche Räte im diplomatischen Dienst tätig waren, sei es die Aufgabe der Harmonisierung beider evangelischer Glaubensrichtungen der Lutheraner und Reformierten (durch Bergius und Jablonski), sei es das Ausbilden der religiösen Grundlage der für die altpreußische Kirche charakteri­ stischen Verbindung von Thron und Altar durch Bergius und Hengstenberg, sei es das Einstehen für demokratische Freiheit und Menschlichkeit bei Bonhoeffer und den Katholiken Preysing und Lich­ tenberg. Jedes Lebensbild ist in sich stoffreich und gedanklich vielfältig gezeichnet. Jeder der Pastoren, Profes­ soren, Domprediger und Bischöfe trägt eine neue Farbe in das Bild evangelischen Christentums. Einige Namen wie Hengstenberg, Kottwitz und Jablonski sind relativ unbekannt, andere wie Propst Lichtenberg, Leo Baeck, Dietrich Bonhoeffer, Otto DibeUus sind deutlicher im Bewußtsein. — Geht man von der Maxime Leo Baecks aus, daß religiöse Bildung Gewissenserweckung sei, ist es zutiefst berechtigt, auch diesen jüdischen Religionsphilosophen und staatsmännisch denkenden Juden wie die Katholiken Bernhard Lichtenberg, Carl Sonnenschein und Konrad Graf von Preysing in den the­ matischen Kreis hineinzunehmen. Ihre Studienzeit fiel in die bildungsoffenen und kulturell reichen

11 ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Diese innere Fundierung machte sie wach und verant­ wortungsbewußt, vor nationalistischen und diktatorischen Gefahren zu warnen und gegen krasses Unrecht zu protestieren. Dies gab ihnen auch die Autorität, nach dem Ende des Dritten Reiches den geistigen Wiederaufbau und die Neugründung der Gemeinden im Westteil der Stadt zu leiten. Die Vielzahl christlicher und jüdischer Persönlichkeiten läßt sich bündeln nach landsmännischer Her­ kunft. Da sind neben den gebürtigen Berlinern wie Klepper die Schlesier Jablonski, Lichtenberg und Baeck, der Uckermärker Büchsel, die Sachsen Süßmilch, Sack, Stoecker und Dryander, der Westfale Sonnenschein. Es läßt sich ferner die Geprägtheit durch die vorwiegend protestantischen Universitä­ ten Wittenberg, Frankfurt an der Oder, Halle, vor allem aber Berlin beobachten. Durch ihre Reihe zieht sich das geistesgeschichtliche Band von lutherisch-orthodoxem Christentum, Kalvinismus, Pietismus, die Aufklärer wie Sack und Spalding und die „Stillen im Lande" zur Zeit Friedrich Wilhelms IV., dann die von sozialer Verantwortung geprägten Volkstheologen des ausge­ henden 19. Jahrhunderts, schließlich die „Bekenner" von Barmen. Eine schwierig zu beschreibende Sonderstellung nimmt Adolf Stoecker ein, dessen volksmissiona­ risch guter Wille aufs tiefste pervertiert wurde von seinem Antisemitusmus und seiner antiliberalen Haltung. Beides ist von den Nationalsozialisten ins Extreme verkehrt worden. Er ist also nicht ohne das Gespenst des Holocausts zu betrachten. Verf. Pollmann bemüht sich dennoch um ein angemesse­ nes Verständnis. Es ist ihm wohl zuzustimmen, wenn er trotz aller Bedenklichkeiten das Verdienst hervorhebt, die soziale Frage innerhalb der Massen- und Industriegesellschaft aufgegriffen und das kirchliche Anliegen streitbar vertreten zu haben, so sprunghaft, inkonsequent und naiv sein politi­ sches Vorgehen, eine christliche Arbeiterpartei gründen zu wollen, auch war. Er hat die gründerzeitli­ che Generation von Großstadtpfarrern in ihrem Kampf gegen die Entkirchlichung im ausgehenden 19. Jahrhundert ermutigt. Ohne ihn ist auch ein Bonhoeffer oder Sonnenschein schwer denkbar. Sein Werk und seine Methode der Stadtmission hatten Bestand. — In seinem Fahrwasser ist auch Büchseis Wirksamkeit an der Matthäuskirche zu nennen. Auf sein Betreiben wie auf das Stoeckers wurden die großen Parochien der einstigen vorstädtischen Gemeinden geteilt und für die Seelsorge an Arbeitern effektiver gemacht. Die Berliner Theologen werden geschildert als Oberhof- und Domprediger — wie Bergius. Hengsten­ berg und Stoecker —, als Vertraute und Berater der Hohenzollern wie Sack und Jablonski; andere tra­ ten hervor als Verfasser pädagogischer Schriften, Hausbücher, Bibelübersetzungen und -ausgaben und Zeitschriften, wieder andere als Gründer von Waisenhäusern und Schulen. Dieser Tätigkeit frü­ herer Zeiten entspricht im 20. Jahrhundert das Wirken der Stadtmission, die Wirksamkeit von Lich­ tenberg und Sonnenschein bei den Arbeitern und Akademikern, die er über die sozialen Schranken hinweg zusammenführen wollte. Schließlich sind Hilfswerke für verfolgte Juden zu nennen und aktive Teilnahme am Widerstand, gestützt auf ihre Verbindungen zur Ökumene. Ein Kapitel ist dem Kir­ chenhistoriker Hafftiz gewidmet. Die Aufmerksamkeit wird ferner gelenkt auf die Kirchenlieddichter Paul Gerhardt und Jochen Klep­ per und ihre unzerstörbare Glaubenskraft, die sich dem Grauen und Zweifel entgegensetzte. — Histo­ riker der Hohenzollernfamilie finden eine schlichte Würdigung des Oberhof- und Dompredigers Dryander und seiner Hingabe an die letzten Hohenzollern. Christiane Knop

Drei Wegweiser von Wolfgang Gottschalk: Südwestfriedhof Stahnsdorf; Garnison- und Invaliden­ friedhof; Friedhöfe der St.-Hedwigs-Gemeinde Dirk Nishen Verlag 1990 und 1991 je 9,80 DM In der Vorbemerkung seines „Büchleins" zu den Friedhöfen der St.-Hedwigs-Gemeinde schreibt der Autor: „Da Fehler und Lücken dabei nicht auszuschließen sind, bin ich für korrigierende und ergän­ zende Hinweise dankbar." Also nutzen wir die noblen Seiten der Vereins-Mitteilungen oder verschwenden wir sie (?) für eine Rezension, die die Fehler und Lücken nicht korrigieren kann, denn das hieße, neue Manuskripte zu verfassen. Artikulieren wir die vielen Fragen, die diese „Büchlein" aufwerfen, und versuchen wir, Antworten als ergänzende Hinweise einzubringen. Frage eins: Warum konnten diese journalistischen Hefte nicht vor der Wende erscheinen? Nur mit der Grenze DDR hätten sie eine gewisse Akzeptanz erreichen können. Heute ist man allerdings über ihre Veröffentlichung verwundert.

12 Frage zwei: Mit welcher Berechtigung kamen sie noch 1990 und 1991 in dieser Konzeption auf den Markt? Sie bieten nicht einmal dem anspruchslosen Friedhofsspaziergänger Informatives zu den Gräbern, den Bestatteten, den Künstlern, denn eine reine Aufzählung von Namen ergibt noch keinen „brauchbaren" Führer, und das Abbildungsmaterial, oft Orientierungshilfe zur Auffindung von Grä­ bern, ist unvermittelt — ohne direkten Bezug zu seinem Text — eingestreut. Der einzig rechtfertigende Aspekt für diese textdurchgängigen Friedhofsführer war nur im Hinblick auf die existierende DDR gegeben — nur in dieser politischen Konstellation hätte man wohlwollend über Mängel hinweggese­ hen, weil man zufrieden gewesen wäre, überhaupt etwas zu DDR-Friedhöfen zu haben. Frage drei: Warum übernahm der Verlag das Erscheinungsbild der „Berliner Forum"-Hefte? Legte er diese zugrunde, um auf der Beliebtheitswelle mitzuschwimmen? Glaubte er, damit die Qualität gesichert zu haben? Nun, dann muß man ihn und die Hefte — nota bene — auch am „Berliner Forum" messen. Im Gegensatz zu Herrn Gottschalk, der sich als gestandener Journalist versteht, sind die Hefte des „Berliner Forums" von Studenten der Freien Universität Berlin im Rahmen von Seminaren erarbeitet worden. Und selbst heute noch, 15 Jahre nach Erscheinen des ersten „Berliner Forums" (9/76), imponiert die solide kunsthistorische Arbeit, obwohl Studenten noch keine Autoren sind. Wichtig ist eben auch eine fundierte Redaktion! Den guten Autor und die Redaktion lassen die Gottschalk-Hefte vermissen. Im Vergleich zu Herrn Gottschalk verstanden es die Studenten schon 1976, ein systematisch geordne­ tes Heft herauszubringen, das einleitend die Historie des Kirchhofes erzählte und dann einen Katalog der Gräber anschloß, der jeden Grabstein ikonographisch beschrieb, in einem Foto abbildete und, wie es wissenschaftlich üblich ist, eine Literatur — wenn möglich — zum Grab, zum Toten oder zum Künst­ ler zitierte. Und es wäre, so denke ich, auch noch 1990/1991 unabdingbar gewesen, dem Benutzer einen solchen systematisch geordneten und damit „brauchbaren" Führer an die Hand zu geben. In den Studenten-Heften läßt sich über das Register nicht nur der Verstorbene (9/76; 2/78; 7/80) finden, sondern in den Nachfolgeheften (7/80; 9/85) auch der Bildhauer. Apropos Zurechtfinden! Das gelang mir bei Herrn Gottschalk nicht—die Sucharbeit strapazierte und verärgerte immens! Das einzig Brauchbare an diesen Bändchen sind die Historie und der Plan der Friedhöfe. Warum übernahm Gottschalk nicht auch die Konzeption des Katalogteiles? Warum ver­ faßte er eine Aufzählung bedeutender Namen und schwieg zur Grabplastik und dem Bildhauer? Gerade in diesem kulturhistorischen Thema kann die kunstgeschichtliche Darstellung nicht ausge­ klammert sein. Die Kapitel mit den Zwischentiteln „Die Grabmalskunst des Südwestfriedhofs" (Stahnsdorf, S. 45—59), „Bemerkenswerte Grabstätten und Denkmalskunst" (Garnisonfriedhof, S. 24—29) und „Zur Grabmalskunst des Invalidenfriedhofes" (S. 45—52) haben bei Gottschalk eine reine Alibifunktion, denn kunsthistorisch sagen sie nichts aus. Nur zum Verstorbenen formulierte Gottschalk übergewichtig. Ergo: Ein System ist nicht erkennbar, schon gar nicht in den willkürlich eingestreuten Abbildungen. Und warum nicht jedes Grab, was wichtig gewesen wäre, abgebildet wurde, ist unergründlich. Es wäre nicht so gravierend, hätte Herr Gottschalk das allein für sich zu tragen. Aber dem ist nicht so. Hier wurde eine große und gute Chance vertan. Bedauerlich für alle insofern, daß durch diese drei ver­ schenkten journalistischen Friedhofsbändchen, die nicht einmal populär-wissenschaftlichen Ansprü­ chen genügen, eine wissenschaftliche Erarbeitung damit für viele Jahre verhindert worden ist. Auf diese Desiderate wird nicht nur die Kunstgeschichte, sondern auch die Stadthistorie noch lange war­ ten müssen! Und wenn man im Geleitwort von Dr. Volker Hassemer zum Garnison- und Invalidenfriedhof liest, daß er hofft, „daß für beide bald eine denkmal- und gartenpflegerische Betreuung möglich wird, um dieses kulturelle Erbe unserer Stadt vor weiterem Verfall und vor Vernichtung zu schützen", dann wird dem Leser klar, daß bei der Zuordnung der „Historischen Friedhöfe" zur Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abteilung Bau- und Gartendenkmalpflege, die kunsthistori­ sche Betrachtung (Gutachten) in Zukunft außer acht bleibt. Nicht nur die ungenutzte Chance des Herrn Gottschalk ist eine Crux, sondern auch die Anbindung der „Historischen Friedhöfe" an dieses Ressort für Stadtentwicklung und Umweltschutz beim Senat von Berlin. Brigitte Hüfler

a Antike Welt auf der Berliner Museumsinsel: Pergamon- und Bodemuseum (= Antike Welt. Zeit­ schrift für Archäologie und Kulturgeschichte. 21. Jg. 1990. Sonderheft). Mainz: Verlag Philipp von Zabern, 1990, 140 Seiten, gebunden 39,80 DM, broschiert (im Museum) 22 DM. Anhand „ausgewählter Zimelien" (in neuen Aufnahmen des Photographen Jürgen Liepe) soll „erst­ malig ein repräsentativer Überblick über Vielfalt und Weite, künstlerische Qualität und Dichte" der weltberühmten archäologischen Sammlungen auf der Berliner Museuminsel gegeben werden (Geleitwort von Günter Schade, S. 7). Die einzelnen Sammlungen werden von Mitarbeitern der Staatlichen Museen vorgestellt: Ägyptisches Museum und Papyrussammlung (im Bodemuseum) von Karl-Heinz Priese (S. 8—37), Vorderasiatisches Museum (im Pergamonmuseum) von Liane Jakob- Rost, Evelyn Klengel-Brandt, Joachim Marzahn und Ralf-B. Wartke (S. 38—69), Antikensammlung (im Pergamonmuseum) von Max Kunze (S. 70—105) und Frühchristlich-Byzantinische Sammlung (im Bodemuseum) von Arne Effenberger (S. 106—137). Alle Objekte sind farbig abgebildet und ausführlich kommentiert. Sie illustrieren die Überblicksdar­ stellungen, die über Entstehung und Profil der Sammlungen sowie über die kunstgeschichtliche Ent­ wicklung des jeweiligen Bereichs informieren. Die ältesten Funde, die vorgestellt werden, sind Ton­ statuetten und eine bemalte Schale aus Mesopotamien aus dem 6./5. Jahrtausend v. Chr. (S. 41—43). Am anderen Ende der Zeitskala steht eine Mosaik-Ikone des ausgehenden 13. Jahrhunderts aus Kon­ stantinopel, erworben 1904 aus Sizilien (Abb. S. 107, Beschreibung S. 108) für die Frühchristlich- Byzantinische Sammlung, übrigens „die einzige ihrer Art in Deutschland"; sie umfaßt Kunstwerke des 3. bis 19. (!) Jahrhunderts und macht „die Mittlerrolle der byzantinischen Kunst zwischen Antike und Abendland" sichtbar (ebd.). Erklärtes Ziel ist die Zusammenführung der Sammlungsteile auf der Museumsinsel mit denen, die sich (noch) in den Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Dahlem und Charlottenburg befinden. Bis dahin bietet das „Antike Welt"-Sonderheft eine nützliche Einführung für die zahlrei­ chen altertumsinteressierten Besucher der beiden Ostberliner Museen. Der Mainzer Verlag Philipp von Zabern — spezialisiert auf Archäologie und Kunstgeschichte — kündigt zu allen vier Sammlungen ausführliche Bildkataloge („Katalog-Handbücher") an. Christiane Schuchard

Irina Liebmann: „Berliner Mietshaus." Erstausgabe 1982 im Mitteldeutschen Verlag Halle, 1990 Ausgabe der Frankfurter Verlagsanstalt. 196 Seiten. Der Verlag hat nicht erklärt, warum er eine Veröffentlichung aus der alten DDR von 1982 nach der Wende erneut publiziert hat, aber auf den zweiten Blick wird ersichtlich, daß in dieser Augenblicks­ aufnahme ein historisches Bild in der Phase seiner Entstehung vorliegt. Vfn. unternimmt im Auftrag des Fernsehens eine quasi protokollarische Aufnahme der Lebensgeschichten der Bewohnerschaft in einer Mietskaserne am Prenzlauer Berg. Getreu der Maxime, die Geschichte eines Hauses sei die Geschichte seiner Bewohner, entfaltet sie die Vielgestaltigkeit der Schicksale, hält sich aber mit per­ sönlicher Wertung und Stellungnahme völlig zurück, was doppelbödig wirkt, vor allem nach der Wende. Denn sie beabsichtigt vermutlich, durch Schweigen dem Erzählerischen Freiraum zu ver­ schaffen. In die Selbstdarstellung der Befragten bricht der Stolz auf die Bewältigung vieler Krisen nach dem Nichts von 1945, auch Stolz auf die erreichte gewisse Vorurteilslosigkeit und das Leben nach eignen Kategorien, wie es sich die zweite Generation der DDR geschaffen hat. Das gesellschaftli­ che Bild der Mieterschaft, Arbeiterschaft und Kleinbürgertum zugehörig, steht im Gegensatz zur ein­ stigen Hobrechtschen Absicht der sozialen Durchmischung. Es sind hier die eigentlichen Bevorrech­ teten in der sozialistischen Gesellschaft, aber die klassentypische Erscheinung des Arbeiters bietet sich nicht dar. Ihr Dasein wird als Nutznießertum entlarvt; man hat sich eingerichtet und lebt ohne Risiko und ohne nach dem Ganzen zu fragen. — Die ältere, die vorsozialistische Generation hat das Fazit ihrer Lebenserfahrungen in Binsenweisheiten gefaßt und gibt sich damit zufrieden. Vf. kenn­ zeichnet die Essenz ihrer Protokolle als „Darstellung des eignen Spielraums und dessen gelegentliche Berührung mit der Weltgeschichte, beides im Bratkartoffelgeruch des Alltags". — Diese so bequem eingerichtete Welt lebt vom Beharren. Wird sie fragwürdig, stellt sich Verdrängungswiderstand ein. Diese Einsicht hat den Verlag vielleicht zu einer Neuausgabe motiviert. Christiane Knop

14 Dagmar Jank: „Vollendet, was wir begonnen!" — Anmerkungen zu Leben und Werk der Frauen­ rechtlerin Minna Cauer (1841 bis 1922) (= Ausstellungsführer der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 23). Berlin: Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 1991, 27 S., geheftet, 2,00 DM. Die Verfasserin würdigt in einem Essay (S. 7—17) die Persönhchkeit einer führenden Vertreterin des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung im deutschen Kaiserreich. Minna Cauer, „Ver­ einspolitikerin wider Willen" (S. 7), dank innerer Unabhängigkeit streitbar, unangepaßt und für viele unbequem, engagierte sich u. a. im Vorstand des Vereins „Frauenwohl", als Gründerin und Heraus­ geberin der Zeitschrift „Die Frauenbewegung" (1895 bis 1919), als Vorsitzende des „Verbands Fort­ schrittlicher Frauen vereine", als Rednerin und Autorin: gegen die herrschende Doppelmoral, gegen sexuelle Belästigung von Frauen, gegen den § 218; für das Frauenwahlrecht, aber auch für die Verbes­ serung der Arbeitsbedingungen von Textilarbeiterinnen und Verkäuferinnen. 1918 begrüßte sie die Gründung der Republik; Partei- und Parlamentsarbeit waren jedoch nicht ihre Sache. Minna Cauer, die seit 1888 in Berlin lebte, starb dort am 3. August 1922; ihr Grab befindet sich auf dem St.-Mat- thäus-Friedhof in Schöneberg. — Das Begleitheft zu der anläßlich ihres 150. Geburtstags (am 1. November) veranstalteten Ausstellung enthält auch eine Sammlung von zeitgenössischen Äuße­ rungen, Nachrufen und Erinnerungsberichten über Minna Cauer (S. 19—22), eine Zeittafel ihres Lebens (S. 23—26), eine (Auswahl-)Bibliographie (S. 27) sowie vier Fotos. Im Vorwort (S. 5) weist die Verfasserin darauf hin, daß „das gültige wissenschaftliche Werk" über Minna Cauer noch zu schreiben sein wird. Christiane Schuchard

Im IV. Quartal 1991 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet

Adam, Ingrid, Pensionärin Mildt, Michael, Rechtsanwalt Witzlebenstraße 3, 1000 Berlin 19 Fellbacher Straße 10, 1000 Berlin 28 Tel. 3221733 Tel. 4046239 Beerbohm, Ingrid, Reichelt, Dr. Dr. Dieter, Busseallee 43, 1000 Berlin 37 Lektor u. Buchwissenschaftler, Tel. 8 02 87 55 Traberweg 8, O-11567 Berlin Komoß, Regine, Studentin, Tel. 5 08 37 35 Stresemannstraße 62, 1000 Berlin 62 Tel. 2650046

15 Veranstaltungen im I. Quartal 1992

1. Sonnabend, 8. Februar 1992, 17.00 Uhr im Xantener Eck, 1000 Berlin 15, Xantener Straße 1: Geselliges „Eisbeinessen", wahlweise Schnitzel, Anmeldungen telefonisch unter 8545816 ab 19.00 Uhr bis zum 1. Februar 1992. 2. Freitag, 13. März 1992, 19.30 Uhr im Rathaus Charlottenburg, Pommernsaal: Lichtbil­ dervortrag von Frau Dr. Maria Kapp „Ein Spaziergang über die Pfaueninsel um 1840". 3. Sonnabend, 21. März 1992, 10.00 Uhr: „Spaziergang durch die alte Friedrichstadt zwi­ schen Friedrich- und Chausseestraße" unter Leitung von Herrn Hans-Werner Klünner. Treffpunkt U-Bahnhof Französische Straße, Nordausgang. 4. Montag, 30. März 1992,19.30 Uhr im Rathaus Charlottenburg, Bürgersaal: Lichtbilder­ vortrag von Frau Dr. Sibylle Einholz „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. — Grabstätten bedeutender Berliner Künstler des 19. Jahrhunderts."

Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 24 08. Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-264. Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

16 KO?Sß!D!fO?neK Stellung der Berliner Stadtbikltartt»«*

A 1015 F *- MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

88. Jahrgang Heft 2 April 1992

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Haus Dr. Emil Herz in der Villenkolonie Grunewald, Straßenseite. Max Landsberg Von Myra Warhaftig

Er starb vor zweiundsechzig Jahren. Obwohl er der Zeit nach nicht vom Berufsverbot und der Verfolgung betroffen war, blieb sein Name doch bis heute aus der publizierten Baugeschichte Berlins ausgeschlossen. Es sind die zahlreichen Veröffentlichungen1 und seine — meist noch vorhandenen — Villenbauten in der „Villenkolonie Grunewald", die die Bedeutung des Mes- sel-Schülers Max Landsberg erkennen lassen. Er wurde 1878 in einer alteingesessenen Berliner jüdischen Familie in Berlin geboren. Schon bald verließ diese Berlin, nachdem der Vater, der Geheime Baurat Theodor Landsberg, zum Professor für Baukonstruktion und Brückenbau an der Technischen Hochschule in Darmstadt ernannt worden war. 1903 schloß Max Landsberg mit Auszeichnung das Architekturstudium an der damaligen Großherzoglichen Technischen Hochschule zu Darmstadt ab. Unmittelbar danach kehrte er nach Berlin zurück, um im Atelier des aus Darmstadt stammenden Architekten und Familien­ freundes Alfred Messel zu arbeiten. Während dieser knapp dreijährigen Berufspraxis war er für die folgenden Projekte verantwort­ lich: Das Teehaus der Villa Springer in Wannsee, die Villa Rosenberg in Grunewald, die glasüberdachten Höfe am Erweiterungsbau des Warenhauses Arthur Wertheim in der Voßstraße, den Erweiterungsbau der Berliner-Handels-Gesellschaft Behrenstraße und das Grabmal Simon. Noch bevor sich Max Landsberg von Alfred Messel trennte, entwickelte er eigene Gedanken zur Architektur. So wurde bereits 1906 sein Vorschlag zur Umgestaltung des Leipziger und Potsdamer Platzes publik — heute wieder aktuell. Er setzte sich dafür mit dem öffentlichen Ver­ kehr auseinander und schlug vor, die Führung der elektrischen Bahnen zugunsten der Fußgän­ ger und der Platzgestaltung zu vereinfachen. Die hinzukommenden Bepflanzungsflächen soll­ ten den Häusern um den Platz herum eine „gesteigerte Höhenwirkung" geben. Eines dieser Häuser war das erweiterte Warenhaus Wertheim, 1904—1906 von Alfred Messel erbaut. 1906 verließ Max Landsberg das Büro Messel und bereitete sich auf seine erste und größte Auf­ gabe vor: das Wilhelm Wertheimsche Landhaus in Dahlem bei Berlin. Auf einer etwa 7,5 ha großen Fläche mit Kiefernwald wurde das Haus in der nach dem Architekten benannten Mes­ selstraße 1910 fertiggestellt. Zum Wohnkomplex des Kunstsammlers Wilhelm Wertheim gehörten das 48 m lange Wohngebäude, die Orangerie, die Gewächshäuser, das Gärtnerar­ beitshaus, eine Garage, ein Hühnerstall und Schuppen. Der Wald wurde zu einem Park gestal­ tet und mit Säulen, Figuren, Brunnenbecken und Bänken ausgestattet. Max Landsberg schrieb dazu2: „Der Einfluß der englischen Vorbilder zeigt sich in der innigen Zusammenordnung von Haus und Garten, in der Lage der Wohnräume zu den Himmelsrichtungen und in den reichlich bemessenen Wirtschaftsräumen, welche an die Wohnung angegliedert sind und doch eine Anlage für sich bilden." Die zahlreichen Wohnzimmer „sind ruhig ernst gestimmte Räume, deren Formensprache den zahlreichen Kunstwerken der italienischen Renaissance angepaßt ist, die sich im Besitze des Bauherrn befinden. Auf wohltuende Abmessungen, auf ein gutes Zusammenwirken der ein-

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t- Abb. 1: Blick von der Zufahrt auf die Nordwestfront des Hauses Wilhelm Wertheim, Dahlem 1910.

zelnen Räume miteinander, auf wechselvolle Durchblicke wurde Wert gelegt. Es wurde ver­ sucht, jedem Raum ein eigenartiges Gepräge, nicht allein durch die Flächenbehandlung zu geben, sondern dasselbe noch durch ein eindrucksvolles Werk der Plastik, einen Kamin, ein hervorragendes Möbel oder dergleichen, zu verstärken." Die Inneneinrichtungen wurden ebenfalls von Max Landsberg entworfen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde dem Wertheimschen Familien­ leben wie auch der Existenz aller jüdischen Einwohner in Deutschland ein Ende bereitet. 1934 verkaufte die Witwe Martha Wertheim aus finanzieller Not einen Teil des Grundstücks, und bald darauf war das Haus ganz und gar verlassen. 1940 wurde die Straße umbenannt, und in dem instand gesetzten Haus ließ sich Dr. Josef Goebbels mit seiner Stiftung für Bühnenschaf­ fende nieder. Das Haus wurde 1957 in desolatem Zustand mit sämtlichen Dependancen gesprengt, ohne Spuren zu hinterlassen. 1913 hatte Max Landsberg im Wettbewerb für den Neubau des Rathauses in Potsdam unter 151 eingereichten Arbeiten den ersten Preis gewonnen. Das alte Rathaus war 1754 von J. Bou- mann, der dem Architekten Knobelsdorff nahestand, errichtet worden. Die Preisrichter, unter denen auch Peter Behrens war, hatten ihre Entscheidung begründet:

19 „Der Verfasser hat sein Projekt auf dem Grundsatz aufgebaut, den Charakter und die Silhou­ ette des alten Baues zu erhalten und den Umbau in selbständiger und der ganzen Umgebung und Architektur angemessener Form auszubilden. Dabei kommt er zu einem Vorschlag, der, wenn er auch nicht Gegenstand des Wettbewerbs ist, doch als guter Hinweis auf die Zukunft zu erachten ist, nämlich eine spätere Erweiterung des Rathauses durch Überbrückung der Schar­ renstraße. Dieser Gedanke würde städtebaulich wie künstlerisch sicher zu begrüßen sein. Selbst wenn seiner Verwirklichung Hindernisse im Weg stehen sollten, ist das vorliegende Pro­ jekt mit soviel Geschmack und Takt entworfen worden, daß es unter allen Projekten an erster Stelle steht. Dies gilt auch bezüglich der Fassadenanordnung nach der Scharren- und Brauer­ straße und im besonderen nach dem Blücherplatz." Von den fünf Einfamilien-Wohnhäusern, die Max Landsberg zwischen 1910 und 1914 errich­ tete, sind drei in der „Villenkolonie Grunewald" heute wieder von neuem zu entdecken. Als erstes das Haus des Mediziners Dr. Alfred Blaschko (1858—1922), auf dessen Initiative als Dermatologe und Sozialhygieniker die Reformen im Prostituiertenwesen in Preußen zurück­ gehen und der zusammen mit Albert Neisser Gründer der Gesellschaft zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten war. Das zweite Haus gehörte Dr. Ludwig Fulda, dem 1862 in Frank­ furt am Main geborenen Dichter, der 1939 in Berlin Selbstmord beging. Ludwig Fulda schrieb zahlreiche Theaterstücke, insbesondere Lustspiele, und er war auch für seine Übersetzungen der Stücke Molieres, Rostands und Beaumarchais' bekannt.

Das dritte Wohnhaus mit einem Atelier hat Max Landsberg für den 1869 in Hannover gebore­ nen Bildhauer Alexander Oppler entworfen. Alexander Opplers Bruder, der Maler und Radierer Ernst Oppler, starb 1922 in Berlin, und vor kurzem wurde sein Grab vom Berliner Senat zusammen mit 49 weiteren Gräbern zu Ehrengrabstätten ernannt. Über das Schicksal Alexander Opplers, der noch Anfang der 30er Jahre in Berlin lebte, ist bis heute nichts bekannt. Ein viertes Einfamilienhaus von Max Landsberg, das ebenfalls noch vollständig in der „Villen­ kolonie Grunewald" vorhanden ist, wurde erst 1926 für den Verlagsdirektor Dr. Emil Herz fer­ tiggestellt. Obwohl Max Landsberg die neuen Tendenzen, die seit Kriegsende in der Kunst und in der Architektur einsetzten, nicht ignorierte und er sich der Strömung gegen die sogenannte histori­ sche Baukunst, die sich in den 20er Jahren gefestigt hatte, bewußt war, hatte er sich doch ver­ pflichtet, beim Entwerfen des Hauses Dr. Herz klassizistische Formen anzuwenden. Den Grund dafür bildete der Wunsch des damaligen Kunstrates der Stadt Berlin, in Grunewald ein einheitliches Villenviertel entstehen zu lassen, und so sollte das Äußere des Hauses mit den schon vorhandenen Nachbarhäusern in Einklang gebracht werden. Im Jahre 1990 feierte die „Villenkolonie Grunewald" den hundertsten Jahrestag ihres Entste­ hens. Mit Schriften und einer Ausstellung wurde in diesem Zusammenhang auch der Personen gedacht, die während des wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik dort leb­ ten und zur kulturellen Blüte jener Zeit beigetragen hatten. Dagegen wurden die Bauherren von Max Landsberg, die vor 1933 in der „Villenkolonie Grunewald" lebten und ebenfalls wirt­ schaftlich, wissenschaftlich und kulturell gewirkt hatten, nicht erwähnt. Die von Max Lands­ berg in der Villenkolonie Grunewald errichteten Einfamilienhäuser wurden in der Zwischen­ zeit in Mehrfamilienhäuser mit Büroräumen umgewandelt. Im Alter von zweiundfünfzig Jahren starb Max Landsberg 1930 in Berlin und wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee begraben.

20 Abb. 2: Parkseite des Hauses Wilhelm Wertheim.

Alfred Messel (1853-1909) und Max Landsberg gehörten nicht zur gleichen Generation, stammten aber aus ähnlichem sozialem und kulturellem Milieu und waren großbürgerlich erzo­ gen. Die Liste der Bauten Alfred Messeis ist lang und vielfältig. Er errichtete öffentliche und pnvate Bauten und machte sich mit dem Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz einen Namen in der Geschichte des Warenhausbaues. Max Landsberg, zunächst Bauleiter dieses Architekten, hin­ gegen hinterließ einzelne Villenbauten und Grabmäler, die sich auf den jüdischen Friedhöfen in der Schönhauser Allee und der Herbert-Baum-Straße in Weißensee befinden. Seine kurze Auseinandersetzung mit der Messeischen Stilrichtung war für sein ganzes Schaffen bis zu seinem frühen Tod bezeichnend. Max Landsberg war von der Architektur Messeis beein­ druckt und beeinflußt, und er sah sich nach dessen frühem Tod verpflichtet, weiter für dessen Ziele einzutreten. Von Messeis Formensprache hat er vor allem bei den Ansichten seiner Einfamilienhäuser Gebrauch gemacht. Jedoch näherte er sich bei der Gestaltung seiner Grundrisse eher den Landhäusern Muthesius' an. In der Funktion verletzte er dabei die Symmetrie, doch gelang es ihm, sie originellerweise in der äußeren Form wieder herzustellen.

21 Oft gehörten Messeis und Landsbergs private Bauherren der gleichen Religion und dem glei­ chen Bildungsbürgertum an, und wenn sie nicht gerade Künstler waren, dann waren sie Kunst­ freunde und Kunstsammler.

Anmerkungen

1 u. a. „Bauwelt" 1910, H. 68 2 „Zentralblatt der Bauverwaltung", Berlin 1910 Anschrift der Verfasserin: Dr.-Ing. Myra Warhaftig, Einemstraße 8, W-1000 Berlin 30

Abb. 3: Haus Prof. Dr. Blaschko in der Villenkolonie Grunewald (1910-1914), Straßenseite. iii T II jygjjB

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22 Abb. 4: Haus Dr. Ludwig Fulda in der Villenkolonie Grunewald, Straßenseite.

Abb. 5: Haus des Bildhauers Alexander Oppler in der Villenkolonie Grunewald, Straßenseite.

Wohnhaus Bildhauer A Oppltr. Slraltaiseik. Archiirit: Mas IjndshtTf, Btrlm

Architekt! JAK l. Grundriß. Lifeplni.

23 und Berlin (II) Der verhinderte Aushilfskapellmeister Von Werner Notz

Wer heute von der S-Bahn-Unterführung am Alexanderplatz Richtung Norden, vorbei an der Weltzeituhr, über die große steinerne Leere schreitet, wandelt auf den Spuren des 23jährigen Richard Wagners, der sich im Mai und Juni 1836 Hoffnungen auf eine Karriere in Berlin machte. Denn ungefähr dort, wo heute beim „Alexanderhochhaus" eine kleine Grünanlage ihr Dasein fristet, stand einst an der Ecke Alexanderstraße/Alexanderplatz das Königstädtische Theater1.

Das Theater eines königlichen Strohmannes

König Friedrich Wilhelm III. (1797—1840) hatte sich während der Pariser und Wiener Frie­ denskonferenzen (1814/1815) an Vaudeville-Theatern und Volksstücken begeistert. Er war deshalb bestrebt, in Berlin neben Hofoper und Schauspielhaus noch ein drittes, der leichten Muse gewidmetes Theater einzurichten. Dem preußischen Hof kam es deshalb gelegen, daß auch in der Berliner Bürgerschaft, vor allem seitens der demokratisch gesinnten Intelligenz, der Wunsch nach einem bürgerlichen Theater laut wurde. Um die Errichtung eines solchen Thea­ ters zu ermöglichen und auf seine Entwicklung Einfluß zu nehmen, ohne selbst in Erscheinung zu treten, bediente sich der Hof Karl Friedrich Cerfs (1771—1845) als Strohmann. Cerf2, eigentlich Karl Friedrich Hirsch, 1802 bis 1811 Pferdehändler in Dessau, diente 1813 bis 1815 als Oberkriegskommissar des russischen Generals von Sayn-Wittgenstein-Ludwigsburg. Die­ ser empfahl Cerf an den preußischen Hausminister und königlichen Freund, Fürst zu Sayn- Wittengenstein-Hohenstein; bereits 1816 konnte Cerf das Bürgerrecht von Berlin erwerben. Während der Napoleonischen Kriege hatte er dem preußischen Königshaus offensichtlich so gute Dienste geleistet, daß man sich seiner auch in Friedenszeiten als Mann für besondere Auf­ gaben bediente3. So erhielt nicht ein erfahrener Bewerber, sondern der völlig theaterunkundige Cerf 1822 die erste private Berliner Theaterkonzession, die er sofort mit Billigung der Krone an einen noch zu gründenden Aktienverein verpachtete. Dieser hatte durch Ausgabe von 400 Aktien das erforderliche Kapital von 120 000 Talern zu beschaffen. Ohne zu zögern, zeichne­ ten Großbürger, Hausbesitzer, Handwerksmeister und Händler die Aktien, das Theaterdirek­ torium bildeten zunächst ein Jurist und sechs Bankiers, darunter der Vater Giacomo Meyer- beers und ein Onkel -Bartholdys. Für die künstlerische Leitung war der Hofschauspieler Heinrich Lewin Bethmann, 1834 bis 1836 Richard Wagners Theaterdirektor in Magdeburg, zuständig. Gültig war die Konzession, offenbar zum Schutz der beiden königlichen Bühnen, nur für das 1822 noch außerhalb der Stadt gelegene Cerfsche Haus am Alexanderplatz. Da dieses Grund­ stück für das geplante Theater zu klein war und es mit den Nachbarn zu keiner finanziell erträg­ lichen Einigung über den Ankauf ihrer Anwesen kam, gelang es nach zähen Verhandlungen, als Alternative die vier zusammenhängenden, bereits bebauten Grundstücke Alexanderplatz 1—3 und Alexanderstraße 2 zu erwerben. Aus Kostengründen entschloß sich der Aktienver­ ein, die Vorderhäuser nicht abzureißen, sondern für die Nutzung als Theater umzubauen, in den oberen Etagen Wohnraum für Direktion und Schauspieler zu schaffen. Auf den vier Hin-

24 terhöfen wurde der Theaterraum für knapp 1600 Besucher mit erhöhter Bühne, versenktem Orchester und amphitheatralisch angelegten Rängen errichtet. Mit dieser einfachen Lösung war es dem erst 24 Jahre alten Architekten Carl Theodor Ottmer aus Braunschweig, kurz dar­ auf auch Erbauer der Singakemie, gelungen, sich gegen Langhans d. J.4 durchzusetzen. Bei der Eröffnung des Theaters am 4. August 1824 begehrte eine große Menschenmenge Einlaß, mehr als das Theater fassen konnte. Auch in der Folgezeit konnte sich das Theater öffentlichen Inter­ esses erfreuen, selbst der greise Goethe nahm in den Briefen an seinen Berliner Vertrauten Zelter regen Anteil. Goethe war sogar bereit, an der „Königstadt" seinen „Faust" in einer Bearbeitung von Holtei auf die Bühne zu bringen. Schon bald zeigten sich jedoch die Schwierigkeiten des Regie-Komitees, untereinander einig zu werden und geeignete Stücke zu finden. Das Theater litt so von Anfang an unter einer gewissen Konzeptionslosigkeit, bedingt auch durch eine weitgehende Repertoire-Einschränkung in der Konzession: es durften weder das „erste Drama" noch die „heroische Oper" aufgeführt wer­ den, alle übrigen Werke erst dann, wenn sie zwei Jahre lang nicht mehr an den beiden königli­ chen Bühnen gepielt worden waren oder diese an der Aufführung kein Interesse zeigten. Da es die neuen Stücke, auf die das Haus ausgelegt war, noch nicht gab, mußte die Direktion zwangs­ läufig auf bekannte Werke zurückgreifen, was permanent zu heftigen Streitigkeiten mit Hof­ oper und Schauspielhaus führte. Verstärkt wurden diese Zwistigkeiten durch das Bemühen des Königstädtischen Theaters, nicht nur ein Opernrepertoire aufzubauen, sondern auch Gesang­ stars zu verpflichten. Ein besonderer Glücksgriff war dabei das Engagement der 19jährigen Henriette Sontag, die Berlin in das sprichwörtlich gewordene „Sontag-Fieber" der Jahre 1825 bis 1827 stürzte. Finanziell ging es mit dem Theater in diesen ersten Jahren bergab, die Direktionen wechselten, 1829 war der Aktienverein bankrott und beschloß seine Auflösung. Bereits seit 1827 hatte Cerf die Aktien des Theaters systematisch mit Geldern der Krone aufgekauft, was zu vielfältigen Gerüchten führte, auch wenn die Rolle des Königshauses verborgen blieb5. Cerf, entsprechend den Geheimverträgen nur Statthalter seiner königlichen Gönner, übernahm nun selbst Kon­ zession und Theater und übte die Direktion vom 19. Mai 1829 bis zu seinem Tode am 6. November 1845 aus — der preußische Hof hatte die Vorstellungen der demokratisch gesinn­ ten Bürger unter seine Kontrolle gebracht. Cerfs Repertoire umfaßte alle Genres mit Ausnahme des klassischen Dramas. Besonders erfolgreich waren Stücke von Charlotte Birchpfeiffer und des Hausdichters Karl von Holtei sowie die Übernahme der Wiener Zauberposse; Cerf machte die Berliner auch mit Ferdinand Raimund und Johann Nestroy bekannt. Die Opernabteilung widmete sich vorzugsweise zeit­ genössischen italienischen und französischen Werken. Dieser Spielplan erforderte einen gro­ ßen Personalstand; das hauseigene Orchester umfaßte ständig 45 bis 50 Musiker. Das bei einem derart aufwendigen Spielbetrieb anfallende Defizit glich die Krone aus, Cerf war ein Garantieeinkommen gesichert.

Blichard Wagners vergebliche Hoffnungen

Aufgrund von Streitereien und Eifersüchteleien im Magdeburger Ensemble war Richard Wag­ ners Verlobte Minna Planer im Herbst 1835 den Lockungen des Königstädtischen Theaters erlegen; zur gleichen Zeit gastierte auch Wagners Schwager Heinrich Wolfram an der „König­ stadt"6. Deshalb ist dem 23jährigen Richard Wagner jenes „das leichtere Genre pflegende"7 Haus am Alexanderplatz nicht ganz unbekannt, als er im Mai 1836 selbst sein Glück in Berlin

25 sucht. Da Heinrich Laube, Wagners Freund aus Leipziger Tagen, zu dem er in Berlin sofort wieder Kontakt sucht, das Königstädtische Theater für die Aufführung des soeben in Magde­ burg durchgefallenen „Liebesverbotes" empfiehlt, wird Wagner schon kurz nach seiner Ankunft vom „hiesigen Schriftsteller Glaßbrenner" dem Theaterdirektor Cerf vorgestellt: „Ich traf ihn in der besten Laune, u. kurz u. gut, ich sage Dir, daß ich bei ihm einen Stein im Brett gewonnen habe. Er sagte gleich: ,Wenn Sie jetzt nichts zu thun haben, so kann ich etwas für Sie thun. Gläser will verreisen, da können Sie hier seine Stelle so lange einnehmen.' Ich fing gleich von meiner Oper an, u. er zeigte sich willig, nur könne jetzt nicht davon die Rede sein, weil er seine neuen Sänger noch nicht hätte. Ich habe ihn noch öfter gesprochen, u. bin immer näher mit ihm gekommen .. ."8. In den fast täglichen Liebesbriefen an seine in Königsberg engagierte Verlobte Minna schildert Wagner den Fortgang seiner beruflichen Bemühungen und sein Verhältnis zu Cerf: Wagner steht „auf bestem Fuß" mit Cerf, der gibt die „besten Hoffnungen" für die Aufführung des „Liebesverbotes", Wagner fährt, um Cerf zu treffen, nach Charlottenburg hinaus, der umarmt ihn bei jeder Begegnung, kurzum, beide sind die „innigsten Freunde von der Welt"9. Gegen­ über seiner Mutter meint Wagner in seinem durch den Umgang mit Adolf Glaßbrenner noch verstärkten jungdeutschen Zynismus: „Cerf weiß vor Liebe zu mir gar nicht wohin, er wird sicher seine Nachkommenschaft aus dem Testament streichen, und mich dafür einsetzen, — er weint oft still an meinem Busen die Schmerzen seiner Direktorei aus"10. Hintergrund für diesen Galgenhumor ist Wagners wochenlanges Warten, daß Gläser endlich seinen Urlaub antritt und er dessen Kapellmeisterstelle aushilfsweise im Juli und August übernehmen kann11. Wichtiger ist Wagner jedoch, mit Cerf über die Aufführung seines „Liebesverbotes" handelseinig zu wer­ den — durch dessen Erfolg hofft er, als Nachfolger des Kapellmeisters Gläser oder des Musikdi­ rektors Kugler von Ostern 1837 an fest am Königstädtischen Theater engagiert zu werden12. Wagner denkt auch schon über das Gehalt nach: so um die 1000 bis 1200 Thaler sollten es schon sein13. Am 26. Juni 1836 teilt Wagner seiner Verlobten eine Hiobsbotschaft mit: Cerf müsse unerwar­ tet die Oper „ganz und gar" schließen, aus der Aushilfsstellung werde es somit nichts14. Zwar wehklagt Wagner, daß ihm Cerf die „wie gelegen" gekommene Stellung unablässig angeboten habe, doch scheint diese Enttäuschung wenig am beiderseitigen Verhältnis zu ändern: Cerf sei zwar „ein unbedachter und leichtsinniger Mensch", doch er habe es gewiß gut mit ihm gemeint, sie seien „immer noch die besten Freunde"15. Zu diesem Zeitpunkt hofft Wagner freilich noch, daß es zu einer Aufführung des „Liebesverbotes" kommt, Cerf dieses zu guten Konditionen ankaufe, gleichsam als Schadenersatz für die vertane Wartezeit — und er 1837 als Kapellmei­ ster engagiert werde16. Doch alle Träume zerrinnen im märkischen Sand — als weiterer Kapell­ meister wird 1837 Louis Schindelmeißer eingestellt17. Wagner selbst beurteilt seine Erfahrungen mit Cerf im Rückblick unterschiedlich: — 1840, während der Pariser Hungerjahre, meint er: „Ich war so weit, daß man meine Oper in Berlin angenommen hatte; es bedurfte weiter nichts, als daß ich ein halbes Jahr dort mich aufhalten konnte, um den schwachen und wankelmütigen Direktor, auf den ich jedoch per­ sönlichen Einfluß hatte, immer unter Augen u. Händen zu haben; — doch war ich arm, keiner wollte mich unterstützen. Ich gab es auf .. ."18 — 1842 schreibt Wagner in der „Autobiographischen Skizze": Cerf sei „unredlich" gewesen, habe ihm bedenkenlos Versprechungen gemacht und ihn dann hingehalten19. Und doch wünscht er sich im gleichen Jahr, als er im Bemühen um die Uraufführung des „Holländers" in Berlin nur auf Kälte und Ablehnung stößt, Cerf wieder herbei, der „bei aller Schroffheit seines Äußeren mit wahrer freundschaftlicher Sorge sich mir zugewandt hatte"20.

2h — Jahrzehnte später rechnet Wagner in „Mein Leben" unerbittlich mit Cerf ab: dieser, „eines der originellsten Produkte des Berliner Bevölkerungswesens", habe ihm bereits beim ersten Besuch erklärt, daß er mit den Zuständen an seinem Theater aufräumen wolle, insbeson­ dere sich von den älteren Sängern trennen wolle, und dafür jemand suche, der für die neuen Sänger eingenommen ist. Er habe sich an eine „besonders günstiges Wendung meines Schicksals" angelangt geglaubt, sei dann aber jäh aus seinen jugendlichen Träumen und Erwartungen in die triste Wirklichkeit zurückgeholt worden: „Nach Art der Potentaten hatte er seine Gnadenbezeigungen mir direkt und autokratisch erwiesen: die Rücknahme und Ungültigkeitserklärung seiner Versprechungen ließ er jedoch durch seine Beamten und Sekretäre ausführen, indem er auch sein ausnahmsweises Verhalten zu mir plötzlich in das gewöhnliche Geleis der scheinbaren Abhängigkeit des Potentaten von seiner Bürokratie hinübergleiten ließ. Mit denselben Menschen, vor denen er mich zuvor gewarnt hatte und gegen welche er mich sich verbündet wissen wollte, hatte ich mich endlich, als Cerf mög­ lichst ohne jede Entschädigung mich loszuwerden wünschte, über alles das, was zwischen uns bestimmt abgemacht war, gewissermaßen gesuchsweise zu verständigen, Kapellmeister, Regisseur21, Sekretär und ähnliche Herren hatten mir zu beweisen, daß meine Wünsche nicht zu erfüllen seien und daß der Direktor für meine nutzlos in der Erwartung der Erfül­ lung der mir gemachten Zusagen hingebrachte Zeit keinerlei Entschädigung schulde." Und zusammenfassend stellt Wagner fest: „Ich entsinne mich, daß der mühselig sich abwik- kelnde Prozeß dieser Erfahrung mich mit ahnungsvollem Weh für mein ganzes Leben erfüllte." Tief enttäuscht über diesen „boshaft aussehenden Betrug", in der Überzeugung, „auf Sand gebaut zu haben", mit „wahrhaftem Grauen", in einer durch Cerf verschlimmer­ ten Lage, sieht sich Wagner veranlaßt, Berlin zu verlassen.22 Nach heutigem Kenntnisstand dürfte Wagner ein Opfer der undurchsichtigen Finanzverhält­ nisse am Königstädtischen Theater geworden sein. Denn in den Jahren 1835 bis 1838 blieben die Zahlungen der Krone aus, Cerf mußte zu Sparmaßnahmen greifen: er stellte deshalb 1836 den Sommer über den Opernbetrieb ein und brachte nur Schauspiele auf die Bühne23. Wagners „Liebesverbot" dürfte jedoch von vornherein keine Chance gehabt haben, am Königstädtischen Theater aufgeführt zu werden. Kapellmeister Gläser mußte Otto Nicolai am 7. Juli 1836 mitteilen, daß eine Annahme der Oper „Dima" nicht stattfinden könne, „da in die­ sem Augenblicke sich die Oper aufgelöst hat und außerdem bei der Wiedereröffnung derselben eine große Anzahl bereits angekaufter Stücke in Scene gehen werde"24. Ganz so harmlos und unerfahren war aber auch der 23jährige Wagner nicht. Schon nach den ersten Gesprächen hatte er Cerf mißtraut, geprüft, „was er mir in's Gesicht sagt" und „was er hinter meinem Rücken sagt", ihn bereits Ende Mai als „niederträchtigen Kerl" bezeichnet, der freilich „Nutzen für den ist, der ihn zu behandeln weiß"25. Zugleich war ihm bewußt, daß man sich bei von Cerf genährten Hoffnungen „nicht verblenden lassen darf", „denn Du kennst ja den Cerf'26. Für Wagners Geschäftstüchtigkeit sprechen seine Überlegungen, wie er „Cerf in die Enge treiben könne", von ihm den „Contract vom künftigen Jahr an herauskriege", den „Kerl" zu einer definitiven Entscheidung über die Aufführung des Liebesverbotes zwingen könne27. Und kühl-strategisch kalkuliert Wagner, sein „Liebesverbot" auf die Bühne bringen zu können, sobald er — wenn auch nur als Aushilfskapellmeister — das „Heft in den Händen" hat28. Einige Künstler, die später Wagners Weg kreuzten, hatten vorher am Königstädtischen Theater gewirkt, insbesondere Karl von Holtei, 1837 bis 1839 Wagners Theaterdirektor in Riga, und Johann Michael Wächter (1825-1827), bei den Uraufführungen des „Rienzi" und „Hollän­ ders" in Dresden als Orsini bzw. als Titelheld zu sehen.

27 Cerf und kein Ende

Jahrzehnte später kreuzt noch einmal ein Cerf Wagners Lebensweg. Als Wagner an Straßburg denkt, „wenn Bayreuth uns abgeschlagen wird", lesen er und Cosima, daß Herr Cerf von Kai­ ser Wilhelm I. die Erlaubnis erhalten hat, im soeben eroberten Straßburg ein Theater zu errich­ ten. Cosima stellt dazu lakonisch fest: „der Name sagt alles"29. Und bei Wagners letztem Berlin-Besuch sollte dieser Name wie bei seinem ersten eine Rolle spielen: das Viktoria-Theater, in dem Mai 1881 der Berliner Erstaufführung des „Rings" statt­ findet, gehört den Cerfschen Erben30.

Das Ende des Königstädtischen Theaters

Friedrich Wilhelm IV, seit 1840 König von Preußen, war nicht länger gewillt, das Königstädti­ sche Theater zu unterstützen. So verpflichtete der geschäftstüchtige Cerf als Ausweg italieni­ sche Opernensembles. Es gelang ihm zwar, das Theater aus den roten Zahlen zu führen, doch künstlerisch setzte durch den Verzicht auf eigene Produktionen der Niedergang ein. Die von Cerf s Witwe und dessen ältester Tochter übernommene Direktion verlief glücklos, 1851 mußte das Theater schließen. Der Hof übernahm das Theatergebäude und die auf ihm lastenden Schulden, die Cerfschen Erben erhielten eine Abfindung von 17 500 Talern. Der Theatersaal, der zunächst jahrelang leerstand, wurde später als Wollspeicher genutzt31. Als er in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts immer baufälliger wurde, mußte er abgeris­ sen werden, während die Vorderhäuser weiter als Wohn- und Geschäftshäuser dienten; um 1900 wird das Haus Alexanderstraße 2 als „Cafe Aschinger" bekannt. Der großen Umgestal­ tung des Alexanderplatzes 1928 bis 1932 fallen auch die Vordergebäude des ehemaligen Königstädtischen Theaters zum Opfer — der Platz wird für den in Ausbau befindlichen großen Kreisverkehr benötigt. Heute erinnern nur noch einige historische Wandbilder in der weitläufigen Unterführung des „Alex" an die Geschichte dieses berühmten Berliner Platzes; einer dieser aus Meißner Porzel­ lan gefertigten Stiche zeigt das Königstädtische Theater. Anschrift des Verfassers: Werner Notz, Mühlenstraße 1—2 O-1162 Berlin

Anmerkungen

1 Ruth Freydank, Theater in Berlin, Berlin 1988, 222 ff.; Erika Fischer, Das Wallner-Theater in Berlin unter der Direktion von Franz Wallner (1855—1868), Dissertation 14ff.; Wilhelm Eylitz, Das Königstädtische Theater in Berlin, Dissertation, Rostock 1940; Hans Knudsen, Theater, in: Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1968,809ff. — Die Bau­ pläne und den Baufortgang hat der Architekt Carl Theodor Ottmer in seinen Architektur Mit­ theilungen, Bd. 1, Das Königstädtische Schauspielhaus zu Berlin, Braunschweig 1830, erläutert. — Die Nutzung der Gebäude nach Schließung des Theaters (1851—1928) läßt sich anhand der Berliner Addressbücher verfolgen. — Zahlreiche Abbildungen (1830—1928) finden sich bei Klaus J. Lemmer, Alexanderplatz — Ein Ort deutscher Geschichte, Berlin 1980. 2 s. Anm. 1; Allgemeine Deutsche Biographie; August Schmidt, Neuer Deutscher Nekrolog der Deutschen 1845,834ff.; L. Wolff, Almanach für Freunde der Schauspielkunst 1845, Berlin 1846, 124ff.; satirisch auch Adolph Glaßbrenner, Briefeines Bäckergesellen, in: wie war Berlin ver­ gnügt (Auswahl), Berlin 1977.

28 3 Da Cerf vom preußischen König und vom russischen Zar Gunstbezeugungen erhielt, könnte Cerf 1812 Kurierdienste zwischen dem von Napoleon besetzten Preußen und dem freien Rußland geleistet haben. Verschiedene Autoren vertreten die Auffassung, daß die Sonderbehandlung Cerfs auf einem Liebesverhältnis einer hochgestellten Persönlichkeit des preußischen Hofes, u. U. sogar König Friedrich Wilhelms III., zu Cerfs Ehefrau beruhte. Dafür spreche auch, daß die Fami­ lie Cerf bis 1924 von den Hohenzollern Unterstützungsgelder erhielt (s. auch Anm. 30). 4 Carl Ferdinand Langhans (1782—1869) gilt als der bedeutendste Theaterarchitekt im Übergang zum Historismus. Sein Hauptwerk in Berlin war der Wiederaufbau (1843—1844) und Anbau (1867—1869) des Opernhauses Unter den Linden (Uwe Kieling, Berlin — Baumeister und Bau­ ten, Leipzig 1987, 197f.). 5 Auch Wagner erwähnt diese Gerüchte um die „nicht besonders geschmackvollen Gründe" für die Protektion Cerfs durch den Hof (Richard Wagner, Mein Leben, München 1976, 131). 6 Richard Wagner, Mein Leben, 120; Repertorium des Königstädtischen Theaters 1835, 39 — vgl. auch Wagners tägliche Briefe an Minna Anfang November 1835 (Richard Wagner, Briefe 229ff.) 7 Richard Wagner, Mein Leben, 131. 8 ebda.; Richard Wagner, Briefe, 264 = Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836. 9 ebda., 268 = Brief an Minna Planer vom 24. Mai 1836; ebda., 277 = Brief an Minna Planer vom 30. Mai 1836; ebda., 290 = Brief an Minna Planer vom 7. Juni 1836; ebda., 280 = Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836. 10 ebda., 282 — Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836. 11 ebda., 268 = Brief an Minna Planer vom 24. Mai 1836; ebda., 264 «• Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836; ebda., 275 = Brief an Robert Schumann vom 28. Mai 1836; ebda., 277 = Brief an Minna Planer vom 30. Mai 1836; ebda., 285 — Brief an Minna Planer vom 4. Juni 1836; ebda., 298 = Brief an Minna Planer vom 12. Juni 1836. 12 ebda., 265 = Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836; ebda., 268 = Brief an Minna Planer vom 24. Mai 1836; ebda., 280f. = Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836; ebda., 285f. = Brief an Minna Planer vom 4. Juni 1836; ebda., 311 = Brief an Minna Planer vom 26. Juni 1836. 13 ebda., 285f. = Brief an Minna Planer vom 4. Juni 1836; ebda., 308 = Brief an Minna Planer vom 23. Juni 1836. 14 ebda., 309 = Brief an Minna Planer vom 26. Juni 1836 — Diese Äußerung Wagners hat zu Miß­ verständnissen in der Wagner-Literatur geführt. So schreibt Gregor-Delün im Jahre 1980: „Cerf hatte sich verspekuliert und mußte am 1. Juli sein Theater schließen". (Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner, München 1980, 119). Richtig ist, daß der Schauspielbetrieb des Königstädti­ schen Theaters ohne Unterbrechung den Sommer über lief, jedoch vom 27. Juli bis 7. Oktober 1836 keine Oper zur Aufführung gelangte (Repertorium des Königstädtischen Theaters 1836,24 ff.). Normalerweise betrug in jenen Jahren auch während der Sommermonate der Anteil der Oper 30%. 15 Richard Wagner, Briefe 309 = Brief an Minna Planer vom 26. Juni 1836. 16 ebda., 309ff. = Brief an Minna Planer vom 26. Juni 1836. 17 Repertorium des Königstädtischen Theaters 1837,5 — Weder in den bekannten Briefen Wagners aus Königsberg noch in den erhalten gebliebenen Unterlagen des Königstädtischen Theaters im Staatsarchiv Merseburg finden sich freilich Hinweise, daß es nach Wagners Abreise aus Berlin noch zu weiteren Kontakten zwischen ihm und Cerf gekommen ist. 18 Richard Wagner, Briefe, 406 = Brief an Theodor Apel vom 20. September 1840 — Dieser Brief sollte den Freund aus Leipziger Tagen nach mehreren Jahren der Kontaktpause veranlassen, Wagner finanziell zu unterstützen. 19 Richard Wagner, Briefe, 103. 20 Richard Wagner, Mein Leben, 233. 21 Friedrich Genee — Genees Sohn Richard schrieb Libretti für Johann Strauß („Eine Nacht in Venedig"), „Boccaccio" (Suppe), „Gasparone" und „Der Bettelstudent" (Millöcker). 22 Richard Wagner, Mein Leben, 131f. 23 Eylitz, a.a.O., 55. 24 Nichtveröffentlichter Brief Franz Gläsers an Otto Nicolai vom 7. Juli 1836 (Berlin, Staatsbiblio­ thek Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung).

29 25 Richard Wagner, Briefe, 285 — Brief an Minna Planer vom 4. Juni 1836, ebda., 282 = Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836. 26 ebda., 265 •» Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836. 27 ebda., 265 = Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836; ebda., 270 «• Brief an Minna Planer vom 25. Mai 1836. 28 ebda., 264 = Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836. 29 Cosima Wagner, Tagebücher, Bd. 1,372 = 21. März 1871 — Die Meldung in der „Illustrierten Zei­ tung" vom 18. März 1871 lautete: „In Straßburg soll, wie verlautet, ein deutsches Theater mit kai­ serlicher Subvention errichtet werden. Dem Vernehmen nach wurde die Leitung dem Direktor Cerf, der bekanntlich sein Viktoria-Theater in Berlin verpachtet hat, angetragen." Es handelte sich dabei um Rudolf Cerf (1811—1873), den Sohn des einstigen Direktors des Königstädtischen Theaters, der sich ebenfalls als Theaterunternehmer versuchte und sich offenbar der gleichen Unterstützung durch die Hohenzollern wie sein Vater erfreuen konnte. Die Hintergründe zum Straßburger Theaterprojekt Cerfs sind soweit ersichtlich noch nicht erforscht. 30 Freydank, a. a. O., 293, 298; Berliner Addressbücher 1881. 31 Am Alexanderplatz fand einst jährlich die größte Wollmesse Deutschlands statt.

Schwerverwundete Kriegsgefangene 1866 in Berlin Von Paul Habermann

Der Deutsche Krieg von 1866 brachte viele schwerverwundete Kriegsgefangene in die Haupt­ stadt des siegreichen Preußen. Die Behandlung der Verwundeten und der vielen an Typhus und Cholera Erkrankten lag zu einem großen Teil bei den damals nicht sehr zahlreichen zivilen Krankenhäusern und in den Händen freiwilliger Hilfsorganisationen. In Berlin war auch das 1837 gegründete und heute noch bestehende Elisabeth-Diakonissen- und -Krankenhaus an der Sorge für die Verwundeten beteiligt. Aus einem von Pastor Johannes Gossner gegründeten „Frauen-Krankenverein" war 1837 unter tätiger Mithilfe des Königs­ hauses, vor allem der Prinzessin Marianne, Gemahlin des Bruders Wilhelm des Königs Fried­ rich Wilhelm III., das genannte Krankenhaus hervorgegangen. Die Prinzessin Marianne ver­ mittelte auch, daß das Haus mit Zustimmung des Königs den Namen der damaligen Kron­ prinzessin Elisabeth erhielt1. Das Ausland blickte auf das Kriegsgeschehen und auf die schweren Verluste, die auf beiden Seiten entstanden waren. Auch im Monatsblatt der englischen Quäker „The Friend" erschie­ nen Berichte; im Januarheft 1867 wird unter der Überschrift: „Ein Ereignis aus dem vergange­ nen Deutschen Kriege" ein Auszug aus einem Brief gebracht, in dem über die Hilfstätigkeit des Elisabeth-Krankenhauses berichtet wird. Als Zeitdokument kann der Brief auch im Hinblick auf die damals weite Kreise erfassende Hinwendung zu einer ausgeprägten Religiosität heute noch Interesse finden:

30 „Wir sind in der glücklichen Lage, im folgenden Auszüge aus einem Brief eines Berliner Herrn an einen Quäker in England zu veröffentlichen. Wir bieten sie unseren Lesern als Beitrag einer erfreulichen Veranschauung der Macht christlicher Liebe, unter dem Segen Gottes, um auch das stolze Herz eines verwundeten gefangenen Adligen zu besiegen: ,... Glauben Sie nicht, daß ich als Patriot über die Erfolge der Preußen begeistert bin. Ich bin zu sehr überzeugt, daß die Erde Gottes und jeder Bewohner mein Bruder ist, daß ich nicht Erbarmen mit den Leiden fühlte, die der vergangene Krieg über Millionen von unschuldigen Menschen gebracht hat. Angesichts von einigen tausend schrecklich verstümmelter Menschen hatten wir hier zuviele Beweise vor unseren Augen, um nicht überzeugt zu sein, daß Krieg zwei­ fellos das Schlimmste aller Übel ist. Krieg ist eine Anhäufung aller Sünden. Solche Zeiten sind wie Gewitterstürme, die die Atmosphäre reinigen. Wir haben sehr erfreuliche Berichte über die tiefen Eindrücke, die unzählige Menschen gewonnen haben. In unserem eigenen Krankenhaus (Gossners Elisabeth-Krankenhaus in Berlin) gewannen wir solche beglückenden Erfahrungen. In vier Monaten haben wir mehr als 160 verwundete Solda­ ten gepflegt; katholische Österreicher, einige Italiener und einen Juden. Sie besuchten regel­ mäßig den Abendgottesdienst, wobei von einigen frommen Geistlichen, die sich dabei abwech­ selten, ein Text aus der Schrift ausgelegt wurde. Sie hörten mit größter Aufmerksamkeit zu, und bei ihrem anständigen und guten Verhalten wurde der Nutzen für sie offenkundig. Nur ein Fall war sehr auffallend: Ein aus Böhmen stammender österreichischer Feldwebel verhielt sich außergewöhnlich unverschämt. Er kam bald nach der großen Schlacht von Königgrätz. Sein rechter Arm war schrecklich zerschmettert und lag in einem Pflaster-Verband. Der Feldwebel wies eine Anordnung des Arztes vor, der ihm in Böhmen den Verband gemacht hatte, und wonach der Arm unverzüglich amputiert werden müsse. Er verlangte, daß dies sofort gesche­ hen sollte, obwohl es spät nachts war, als er ankam. Als ihm unser Arzt sagte, er werde ihn, weil es jetzt zu spät wäre, am nächsten Morgen untersuchen, begegnete er ihm mit ärgerlichen Aus­ drücken, und er rühmte seine hohe Abkunft, er sei von tschechischem Adel. Tatsächlich wollte nichts ihm gefallen; unser Kaffee, unsere Speisen, unser Brot; nichts war für ihn gut genug. Er behandelte unsere Schwestern mit Unverschämtheit, obwohl sie sich ihm mit der größten Freundlichkeit widmeten. Nein, als einstmals die Witwe unseres Königs (Königin Elisabeth; Verf.), die Schirmherrin unseres Krankenhauses, dort einen Besuch abstattete, sich ihm sehr freundlich zuwandte und sagte, sie hoffe, daß sein Arm geheilt werden könne, antwortete er kurz angebunden: Das ist leicht gesagt, und wandte seinen Kopf ab. Trotzdem, sein Arm wurde erhalten. Nach seiner Untersuchung fand unser Arzt, daß der Oberarm zwar gebrochen sei, doch daß er bei sorgfältiger Pflege geheilt werden könne. Er machte sich viel Mühe mit dem hochmütigen Mann: Er entfernte viele Knochensplitter, legte einen neuen Pflasterverband an, ließ seinen Arm drei Stunden lang morgens und abends baden. Und schließlich — in kurzer Zeit behandelte er ihn so erfolgreich, daß C — y, als er uns verließ, seine Finger bewegen und seinen Arm ein wenig gebrauchen konnte. Nun besuchte dieser Mann unsere Kirche und wurde gut beeinflußt, denn allmählich wurde er freundlicher, und oft sagte er, er könne länger als eine Stunde ohne müde zu werden einer solchen Schriftauslegung zuhören. Der Gottesdienst erschien ihm zu kurz, obwohl er eine Stunde dauerte. Nach dem Friedensschluß wurden die Kriegsgefangenen nach Österreich zurückgesandt. Und als C — y uns verließ, rannen Tränen über seine Wangen. Beim Händeschütteln mit dem Arzt und mit den Schwestern sagte er: ,Ich bin zwei Mal besiegt worden, ein Mal auf dem Schlachtfeld durch die Gewalt der Waffen, und ein zweites Mal in Ihrem Haus durch Güte und christliche Liebe.' In der vergangenen Woche erhielt unsere Oberin einen Brief von ihm — aus Neustadt in Mähren, datiert vom 30. Oktober 1866: Ehrwürdige Oberin — Nachdem ich vor vier Wochen zurückgesandt worden bin, habe

31 ich jetzt meine Heimat erreicht. Wie oft habe ich an Ihr Krankenhaus gedacht, wo wir unermüd­ lich freundliche Zuwendung erhielten und wo wir an Leib und Seele gestärkt wurden. Wie oft habe ich diese gesegnete Zuflucht vermißt, diesen Ort christlicher Liebe und Selbstverleug­ nung. Wie groß war der Gegensatz, als wir in diesem Lande in unsere eigenen Hospitäler kamen! Alle meine Kameraden riefen auf einmal: Was für ein Unterschied! Wo sind unsere Schwestern Agnes und Dorothee!... Oh!, wie danke ich Gott, daß er mich in Ihr Haus brachte, daß mein Arm so gut geheilt ist und daß ich gelernt habe, wie echter und wahrer Glaube ver­ bunden mit der größten Selbstverleugnung und Liebe zu jedermann, ob Freund oder Feind, nur verlangt, Leib und Seele zu heilen. In Anbetracht, daß so mancher von uns Ihr Haus mit neuen Kräften verlassen hat, ist es deutlich, daß Gottes Segen auf Ihrem Hause ruht und daß es von seinem Geiste beherrscht wird. Seien Sie so freundlich und grüßen Sie mir den Arzt und alle Schwestern, vor allem aber Agnes und Dorothee und die Gräfin C, die uns mit der größten Freundlichkeit und Geduld betreut haben. Ich behalte sie alle in bleibendem Gedächtnis. Ich verbleibe Ihr dankbarer Joseph C — y.' Berlin, 7. November 1866" (deutsch von P. H.) Anschrift des Verfassers: Dr. med. habil. Paul Habermann Franz-Nölken-Weg 9, 4770 Soest

Literatur:

1 Baur, W.: Prinzeß Wilhelm von Preußen, geborene Prinzeß Marianne von Hessen Homburg, 1886 2 Elisabeth-Diakonissen- und -Krankenhaus, Festschrift, Berlin 1987 3 „The Friend", London 1867.

Buchbesprechungen

Ursula E. Koch, Der Teufel in Berlin. Von der Märzrevolution bis zu Bismarcks Entlassung / Illu­ strierte politische Witzblätter einer Metropole 1848 bis 1890. Informationspresse — c. w. leske verlag Köln, 1991. 880 Seiten. Mag das Urteil vielleicht etwas vorschnell sein, so lebt das Biedermeier doch als eine Zeit gemütlicher bürgerlicher Behaglichkeit in der Nachwelt fort. Der Fluß der Geschehnisse schien beschaulich dahin­ zuziehen, bis die Märzrevolution ihm jenen Stau gebot, diesseits dessen sich fortan das Büd einer neuen gesellschaftlichen, auf mehr „Kommunikation" bedachten Wirklichkeit entwickeln sollte, angefangen mit der Gründung populärer Vereine bis hin zu den sich aus politischen Strömungen ver­ dichtenden politischen Parteien, mit denen die Geschichte des Parlamentarismus in den deutschen Ländern und der Dualismus von Regierungsfraktionen und Opposition anheben. Industrialisierung und soziale Frage erheischen immer gebieterischer Aufmerksamkeit, nicht minder gerät die Bis- marcksche Staatslenkung in ein diskutables Für und Wider der Bürger. Die neuen staatsbürgerlichen Freiheiten erlösen auch die Kritik aus langer Repression, am wenigsten wohl noch in Berlin, dessen Bewohnern von jeher eine handfeste kritische Sinnesart nachgerühmt wurde, gern verbunden mit Witz und Schlagfertigkeit. Die Verfasserin des „Teufels in Berlin" nennt nicht weniger als 35 Titel von Blättern „kritischen Witzes", die im Trend jener Jahre lagen. Nur drei davon konnten sich über längere

32 Zeit hinweg am Leben halten: der „Kladderadatsch", „Die Wespen" und der „Ulk". Alle drei darf man als Blätter einer liberalen Mitte bezeichnen. Ihre Auflagezahlen waren zeitentsprechend hoch. In ihrem Sog trieb rechts und links eine Anzahl meist kurzlebiger und mehr parteigebundener Periodika dahin. Man war „witzig" politikbegleitend,-kritisierend,-erwartend. Die viel aussagende bildliche Darstellung rangierte vor dem Wort als Gedicht, Anekdote oder Dialog. Hin und wieder gab es kleine Rangeleien mit empfindlichen Staatsanwälten. Dabei entbehrten Satire und Parodie gemeinhin noch jenes aggressiven Sarkasmus, den sie in unserem Jahrhundert gewannen. Das Buch bietet in seinem ersten Teil die Geschichte der Presseerzeugnisse, der Journalisten, Zeich­ ner und Verleger; im zweiten stellt es die Witzblätter als „humoristisch-satirische Chronik Europas" vor. Revolution, Bismarck, Kriege, Parteien, Kirche, Sozialisten, Weltkrisen: dem Text, der den bewegenden Ereignissen bis in deren feine, dem heutigen Leser nicht immer mehr durchweg allgegen­ wärtige Verästelungen — seien sie personaler oder sachlicher Natur — nachgeht, folgt das Echo mit den karikierenden Bildern des Blätterwaldes. Die stattliche Neuerscheinung ist durch Inhaltsver­ zeichnis, Anmerkungen (116 Seiten!), Quellen- und Literaturangaben sowie diverse Register hervor­ ragend erschlossen. Man könnte das Buch im Fall der Fälle geradezu als Lexikon benutzen. Ein kurzes Nachwort gelte dem Titel „Der Teufel in Berlin", der im ersten Augenblick etwas stutzig macht. Die Verfasserin gab ihn ihrem Werk nicht, weil sich ein flüchtig auf dem Markt erschienenes Blättchen so titulierte, sondern sie lehnte sich an Goethes „Faust" an, in welchem dem Teufel — Mephisto — die Rolle des Schalks zugedacht ist, der den schnell erschlaffenden Geist des Menschen zu immer neuen Taten anfacht. Freilich ist Fausts Gegenspieler grundsätzlich ein Verneiner alles Gewor­ denen ... Sind die Künste der Satire und der Karikatur wahrlich „teuflisch oder satanisch" zu nennen, wie im Geleitwort von K. Koszyk vorgestellt? (S. 13). Stammt nicht die gescheite Erkenntnis „ridendo dicere verum" (scherzend die Wahrheit sagen) schon aus den Satiren des alten Horaz? Gerhard Kutzsch

Gottfried Eisennann: „Gottfried Benn in Berlin. Stationen." 85 Seiten, kurzes Literaturverzeich­ nis, CMZ-Verlag, Rheinbach-Merzbach 1991. Die Verbindung von Arzt und Schriftsteller hat der dichterischen Persönlichkeit in neuerer Zeit eine besondere Prägung gegeben; kommt noch eine stammesmäßige Geformtheit hinzu — wie etwa beim niederbayerischen Carossa —, wirkt sie auf eigenartige Weise anziehend. Außer Döblin, dem Verkör­ perer berlinischen Lebens, bietet sich die Beschäftigung mit dem gegenwärtig etwas verblaßten Benn an. Es werden seine Lebensstationen nachgezeichnet, in denen sich dichterische und ärztliche Wir­ kung durchdringen. Benn wuchs als Pfarrressohn auf dem Lande in der östlichen Mark Brandenburg auf, versuchte sich als Student der Theologie und Philosophie und Germanistik, wechselte über zur Medizin und wuchs über die alte Pepiniere und die Berliner Universität in die kaiserliche und „weimarische" Reichshauptstadt, mit der er sich seit dem Ersten Weltkrieg identifizierte. Der Schwerpunkt seines Grüblertums lag seit dem Ende des Kaiserreiches in dem Klärungsprozeß vieler Großstadtphänomene, vor allem beschäf­ tigte ihn die Ausgesetztheit des Ichs vor dem materiellen Verfall. Mit dem Schwinden aller Werte und Bindungen ist der Einsame auf die Leere zurückgeworfen. Bekannt sind seine Gedichtstrophen aus „Morgue", die Erlebnisse aus seiner Sektionstätigkeit am Moabiter Krankenhaus reflektieren. Dem steht gegenüber, wie er sich in äußerster Anspannung mit dem antiken Erbe, mit (dem Naturwissen­ schaftler) Goethe und Nietzsche auseinandersetzte. Noch näher lag ihm die Radikalität der Schiller- schen Gedankenlyrik. — Verf. zeichnet die Schauplätze von Benns Wirken in Berlin nach, die sich in großen Zügen mit den Stufen seines Sich-Wandeins decken: die Studienorte an der Kaiser-Wilhelms- Akademie, die Praxis in der Belle-Alliance-Straße, die Wohnungen in der Passauer und Bozener Straße, die Welt der Cafes am Kurfürstendamm und Potsdamer Platz, das Leben am Bayerischen Platz im Alter. Wichtiger ist das jeweilige Ins-Bild-Fassen existentieller Grunderfahrungen, von denen Verf. sagt, seine individuellen Erlebnisweisen seien ohne Berlin nicht denkbar. Der Dichter Benn gibt ja, anders als der behutsame Carossa, eine gewaltsame Figur ab. Die Grundtöne des Him­ melstürmenden und schrill Expressiven klangen in den Künstlerkreisen, Cafes und Kleinkunstbüh-

33 nen der ersten beiden Jahrzehnte in Berlin schon auf; genannt seien Benns Freunde Sternheim und Hasenclever oder Pfemfert in seinem „Aktions"-Kreis und der Salon Paul Cassirers. Doch zwischen ihnen ging Benn seinen Weg als ein einzelner mit seiner dichterischen Form der „Cerebration", das ist der Zerdenkung des Gärenden, die kühl alles Lebendige in eine rational überbetonte Wortform faßt und allem Gefälligen absagt. Wo Carossa das Heilende im Träumerischen suchte, kämpfte sich Benn zur „Wirklichkeitszertrüm­ merung" durch, d. h. zur Konfrontation mit dem sozialen und körperlichen Elend, um es in geistigem Überfliegen zu bewältigen. — Verf.s Versuch der Stationenbeschreibung und des Gruppierens der vielfältigen Strömungen und Erlebniskreise um Benn in Berlin kann auf dichterische Interpretation seiner sprachlichen Eigenart weniger eingehen als eine germanistische Studie, doch wird versucht, das Besondere seiner gewaltsamen Abstraktion darzulegen, wie z. B. in den „Gesammelten Gedichten" von 1927 und dem Roman „Der Phänotyp". Er verweist auf Wortschöpfungen durch Neuzusammen­ setzung wie „Westendweiße" oder „Villenwälder" — ähnlich denen des Sturm und Drang, die neue Erfahrungsweisen erschließen sollen. Ein Blick auf die Zeitgenossen Bobrowski oder Huchel hätte noch mehr deutlich gemacht, wie sehr Benn ein Wegbereiter war. Der Arzt und Mensch Benn war ein Schwermütiger und Verquälter. Verf. beschreibt seine tägliche Mühsal der Kassenpraxis und der Gutachter-Tätigkeit im OKW in der Bendlerstraße zur Zeit des Attentats von 1944! — Um seine schweren Lebensphasen in beiden Weltkriegen, im Nachkriegs- und Blockade-Berlin und in der Zeit des zögernden Wiederaufbaus herum gruppiert Verf. die Glanzlich­ ter in den Zwanzigern und Dreißigern. Er schildert ihn, wie er nach dem Tode seiner ersten Frau ein Sich-Verzehrender war. Er leistete Uterarische Beiträge für anspruchsvolle Zeitschriften und für den Rundfunk. Seine intensivste Mitarbeit war die an Hindemiths Oratorium „Das Unaufhörliche", in dem er sich über das Leiden am Verfall zu hoher Bewußtheit erhob. — Seine ruhmreichste Station begann, als er, mit Loerke befreundet, in die Sektion Dichtung der Akademie aufgenommen wurde. Er durfte die Hoch-Zeit der Zusammenarbeit mit Heinrich Mann, Döblin und der Huch genießen; Liebermann war sein Weggefährte. Vor allem über seine geistige Verwandtschaft mit Loerkes Lyrik wäre noch mehr zu sagen. Die frühen dreißiger Jahre waren ein gewisses Sich-Konsolidieren. Seine Daseinssuche ist verhaltener geworden und wirkt gefestigter als die Rilkes oder Georges. Verf. beschreibt ihn als Stadtmenschen: die Sinnesreize der Großstadt rühren an seine Sensorien, er nimmt die Schwingungen seiner Künstlerfreunde auch in sich auf und bringt sie in Form und Klang seiner Gedichte, als deren schönstes „Astern" gilt. Verf. streicht über die beschämende Episode seines Bekenntnisses zum neuen Staat der braunen Her­ ren etwas leicht hinweg. Es erfolgte trotz des deprimierenden Erlebens um die Vorgänge des Rück­ tritts Heinrich Manns und die Auflösung der Sektion Dichtung, als deren Sekretär auch Loerke entlas­ sen wurde. Dieser Widerspruch im Leben Benns ist schwer zu verstehen. Hier stand er nicht im Ein­ klang mit den Grundwerten „Härte und Klarheit des Gedankens, Verantwortung im Urteil, Skepsis", die er als besondere Tugenden der Pepiniere nachlobt, die ihn geformt hätten. Auch sein Wort von der Armee als innerer Emigration bedürfte eingehender Klärung. Dagegen standen, fast verschlüsselt, den Unrechtstaat entlarvende Gedichte; er schrieb sie 1943/44 unter den Augen der Nazis während seiner Dienststunden in der Bendlerstraße. Damals war er ein Verfemter, die Nazis hatten ihn mit Schreibverbot belegt. Er zahlte einen bitteren Preis im „Zeitalter der Angst". Was bleibt, ist sein Ringen um das dichterische Ich. Die „dürftige Zeit" der Nachkriegsjahre war der fruchtbare Boden dafür; damals erschienen seine Gedicht- und Prosabände und machten ihn als einen der Großen der Öffentlichkeit zugänglich. Seit seinem Tode 1956 ist es stiller um ihn geworden; sein gewaltsames, aufs äußerste komprimiertes Wort ist heute unbequem und will erobert werden. Die letzten Gedichte sehen Berlin als ein Lebens-, Leidens- und Erfahrensraum von archaischer Größe. Dies zu akzeptieren bedarf es der mehr interpretatorischen Beschäftigung, als es auf dem knappen Raum eines Bändchens möglich ist. Christiane Knop

M „Albrecht von Brandenburg. Kurfürst — Erzkanzler — Kardinal. 1490—1545" Beiträge von Horst Reber, Friedhelm Jürgensmeier, Rolf Decot, Peter Walter, hersg. von Berthold Roland, 252 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen. Katalog des Landesmuseums Mainz anläßlich des 500. Geburtstages Albrechts von Brandenburg. Wenn das Landesmuseum Mainz eine Ausstellung über den Erzbischof Albrecht von Brandenburg veranstaltet, steht wegen seines reichen kunsthistorischen Fundus die kulturelle und geistige Bedeu­ tung im Vordergrund, die anscheinend mehr auf den rheinischen Kulturraum weist; aber der Hohen- zollernfürst, Bruder Joachims I. von Brandenburg, ist gleichermaßen für die brandenburgische Lan­ desgeschichte von Interesse, und der vertiefende Begleitband mit seinen Einzelstudien wird auch die­ sem Anliegen gerecht, wenn er auch nur partiell Neues bringt. Aber da, wie Horst Reber in seiner Ein­ führung betont, eine aktualisierte Gesamtdarstellung bisher fehlt, geht es in den Beiträgen darum, den Kurfürsten in den großen Zusammenhang der Reformationsgeschichte einzuordnen. Albrecht war der Adressat des Lutherschen Thesenanschlags, da er für Tetzel die Generalinstruktion für den Ablaßhandel ausgestellt hatte und da er als Betroffener die Angelegenheit Luther pflichtgemäß nach Rom weiterleitete. Durch ihn ist die Reformation angestoßen worden. Wer die große Bewegung ein­ mal nicht von Person und Wirken des Reformators her und nicht im Rahmen der Reichsgeschichte sehen will, dem erschließt sich hier mit Hilfe der Einzeldarstellungen — Rolf Decot stellt Albrecht in das Beziehungsgeflecht zwischen Kirche, Reich und Reichsreform des 15. Jahrhunderts; Horst Reber zeichnet den Umriß seiner Persönlichkeit, Friedhelm Jürgensmeier seinen Pontifikat als Kardinal, Kurfürst und Administrator von Halberstadt; Peter Walter untersucht seine Beziehungen zum Huma­ nanismus — ein großer Macht- und Kulturraum um die Zentren Brandenburg und Berlin — Magde­ burg — Erfurt — Halle — Halberstadt bis hin zum Main als eine in sich gespannte, vielfältige Einheit. Albrechts Verhalten als Erzkanzler des Reiches und zugleich Erzbischof von Mainz trug wesentlich dazu bei, daß sich mit dem Protestantischwerden von Magdeburg 1561 die brandenburgisch-sächsi­ sche Rivalität zugunsten Brandenburgs verschob und die Länder mitteldeutsch-lutherischer Prägung ein Machtfaktor wurden. Als auch noch das ehemalige Ordensland Preußen unter dem brandenburgi­ schen Vetter Albrecht aus dem Ansbachischen Hause ein weltliches Herzogtum wurde, erbauten sich im Verein mit dem genannten mitteldeutschen Komplex die Voraussetzungen für den Staat des Gro­ ßen Kurfürsten. Verf. Decot siedelt den hohenzollerisch-brandenburgischen Kirchenfürsten in Mainz an auf dem Wendepunkt zwischen Beharrung und Aufbruch, was bedeutet, für ihn war zunächst noch die alte reichskirchliche Amtsauffassung bezeichnend, das geistliche Amt für den Kirchenfürsten als seinen Lebensunterhalt anzusehen; der Bischofssitz aber war „Objekt aristokratischer Herrschaftsfa­ milien". Die im Katalog ausgebreiteten Kunstgegenstände — viele darunter aus Berliner Besitz — zei­ gen einen Kirchenmann von überzeugender mittelalterlicher Frömmigkeit; so hat er anfangs, beein­ flußt von Erasmus' irenischer Auffassung, noch Scheu gehabt, gegen Luther mit der ganzen Konse­ quenz eines Reichsfürsten vorzugehen. F. Jürgensmeier urteilt, daß er die Eigendynamik und Trag­ weite der Reformation nicht erkannt habe. Wegen dieser Scheu habe er auch sein Reichsamt als Erz­ kanzler halbherzig ausgeübt. — Will man im Kardinal Albrecht dagegen den Renaissancefürsten des Aufbruchs sehen, hat man nach seinen Beziehungen zum Humanismus zu fragen. Von aktuellem Interesse ist da der Anteil der Fürstenbrüder Joachim und Albrecht an der Gründung der Universität Frankfurt an der Oder. In ihrer Absicht lag es, sie zur Hohen Schule für das künftige Landesbeamten­ tum zu machen; in dieser Hinsicht hatte die Viadrina geistige und juristische Bedeutung für den inne­ ren Ausbau der drei sich berührenden Territorien Magdeburg — Halberstadt — Halle und Branden­ burg mit der Lausitz, hinzu kam dann das protestantisch-säkularisierte Ordensland Preußen. Das Verflochtensein der humanistischen Professoren mit den Künstlerkreisen um die Nürnberger Vischer, Dürer, Cranach, Grünewald und den Buchwerkstätten in Mainz wird bloßgelegt. — Eine Schlüssel­ rolle für die Ausbildung des Renaissancefürsten Albrecht von Brandenburg spielte dabei die diplo­ matische Tätigkeit des brandenburgischen Adügen Dietrich von Bülow. Bülow, Albrechts Lehrer und Förderer seiner Karriere, war der Vermittler des modernen römischen Rechtes, wie es an der Univer­ sität Bologna gelehrt wurde. Verf. Peter Walter beleuchtet, wie Albrecht von Brandenburg gegen die Ansprüche des märkischen Adels als moderner Landesfürst auftrat, vor allem aber als feinsinniger Mäzen. Er war der Auftraggeber des Halleschen Heilstums, das in dem Katalogband in seiner ganzen Schönheit wiedergegeben ist. Es war eine Reliquiensammlung, die ähnlich wie die des Kurfürsten Friedrichs des Weisen in Wittenberg zur Vertiefung der Volksfrömmigkeit angelegt worden war. Von Rang und Würde seiner Persönlichkeit sprechen ferner die beiden Grabmäler, die er ebenfalls in Auf-

35 trag gab, das seines Vorgängers Uriel von Gemmingen im Mainzer Dom und sein eigenes, das für seine Grablege in der Stiftskirche von Halle bestimmt war. Es ist wohl denkbar, daß in frommer Iko­ nographie und fürstlichem Anspruch frühe Herrschervorstellungen aus seiner Jugend am Berliner Hof (Verf. läßt ihn unrichtigerweise in Berlin—Neukölln geboren sein) eine Rolle spielten, wo sein Vater Johann Cicero und sein Bruder Joachim als die gebildetsten Fürsten ihrer Zeit galten. Von da stieg er auf zu einem der am meisten geachteten Reichsfürstentümer. Seine Rolle als „Königsmacher" Karls V. wird gestreift. Es werden u. a. die Porträtbilder Lukas Cranachs und Dürers und die Darstellung als Bischof in den Illustrationen seiner Stundenbücher in herrlicher Farbigkeit wiedergegeben, die einen Eindruck von spätmittelalterlicher religiöser Kunst vermitteln. Christiane Knop

Joachim Wiese: Berliner Wörter & Wendungen. Akademie-Verlag Berlin 1987, Quart, Leinen, 160 Seiten. Der begrenzte Umfang dieses Wörterverzeichnisses, das einen kleinen Einblick in den Berliner Wort­ schatz geben will, zwang in der Auswahl der Stichworte zu einer Beschränkung. Möglichst vollständig aufgenommen wurden solche berlinischen Wörter, die in der deutschen Schriftsprache und allgemein umgangssprachlich nicht belegt sind (z. B. acheln, Trall). Weiterhin wurden umgangssprachliche Wörter berücksichtigt, wenn sie für das Berlinische in besonderer Weise typisch oder durch das Berli­ nische verbreitet wurden. Dabei wird eine normalisierende Schreibweise verwendet. Die Wortartikel sind in der Weise gegliedert, daß dem Stichwort eine Bedeutungsangabe oder ein Bedeutungshinweis folgt, gegebenenfalls durch einen Beleg ergänzt, wenn der Sprachgebrauch dadurch besonders illu­ striert wird. Angaben zur Herkunft eines Wortes werden vor allem bei solchen Stichwörtern gemacht, deren Etymologie in Wörterbüchern nicht ohne weiteres nachzuschlagen ist. Das Wörterverzeichnis wurde auf der Grundlage des Materials zusammengestellt, das sich im Archiv des Brandenburg-Berli­ nischen Wörterbuchs bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig befindet. Bei Quellen des 19. Jahrhunderts wird der Leser durch Namensigel wie Br = Brendicke, Gl = Glaßbren- ner, RB = der „Richtige Berliner" darauf verwiesen. Bei der Lektüre fällt auf, daß die heutige Sprache noch nicht berücksichtigt wurde und die Politik von Ausnahmen abgesehen ausgeklammert worden ist. Mehr der Kuriosität halber sei hier eine der Bedeutungen für „Schweinebraten" angeführt: „Durch unangepaßte Normvorschriften erreichte Planübererfüllung". Einige Beispiele seien zitiert: Armenkasse: Det jibt wat aus de Armenkasse, „es gibt Prügel" Bärme: „Hefe"; mit Bezug auf die Bierhefe: Wat nachkommt, is Bärme, das heißt taugt nichts. Mehr Bedeutungen, als sie das Wörterverzeichnis aufführt, gibt es etwa für Koks, nämlich als fünfte auch noch Kokain, für Schnee (gleichfalls eine Droge) und für Lulatsch, worunter der Berliner neben „lang aufgeschossenem Kerl" eben auch seinen Funkturm versteht. Auch für Tunte gibt es neben „energielose, langweilige, verweichlichte Person" eine eher noch gängigere Bedeutung. Man kann aus dem Büchlein viel lernen. Während die Bedeutung „sich entfernen" für „Leine ziehen" bekannt ist, wird der Ursprung „auf den Strich gehen" nicht jedermann geläufig sein. Dies gilt auch für „Potsda­ mer" = „Mischgetränk aus Bier und Limonade" und für „Weiße mit Strippe", weil der Schnaps den Weißbierschaum bändigt. Überhaupt fällt auf, wie reich das Berlinische an Ausdrücken für Trinken oder betrunken ist, wenn wir hier nur unter den Buchstaben A und B zitieren: andudeln, anjeäthert, anjenüchtert, anjesäuselt, bedudeln, beschmort, beschnurjelt, eenen zur Brust nehmen und büjeln. Hans G. Schultze-Berndt

Wolfgang Ribbe, Spandau. Colloquium Verlag Berlin 1991. 158 Seiten. Ganze fünf Jahre früher als Berlin wird Spandau 1232 erstmals in einer Urkunde erwähnt. Die Mediaevisten nehmen gewiß zu Recht an, daß beide Städte doch etwas älter sind als die schriftliche Überlieferung bekundet. Wolfgang Ribbe, auch als Spandau-Spezialist ausgewiesen, die Fortent­ wicklung der kleinen brandenburgischen Landstadt über die mittlere Provinzstadt zum 8. Bezirk einer Metropole darzustellen, bündelt das Wesentliche aus seinen bisherigen zahlreichen Arbeiten instruk­ tiv zusammen. Über „Kirche und Gesellschaft" im Mittelalter hätte man gern etwas mehr erfahren

36 mögen als sich hier auf einer knappen Seite zusammendrängt. Der Abschnitt „Verfolgung und Wider­ stand" im Hitler-Staat hätte hingegen ein paar Kürzungen durchaus vertragen. Fünfundvierzig Jahre britische Schutzmacht und ihr Einfluß auf den Bezirk und seine Bevölkerung bleiben außer Betracht. (Die arg verfehlte Schreibung einiger mehr oder weniger bekannter Personennamen [S. 64,108,132] sollte das Lektorat in der 2. Auflage des Buches richtigstellen. Und die Fußgängerbrücke über die Heerstraße [S. 25] überquerte einmal die Tauentzienstraße). Gerhard Kutzsch

Manfred Gerlach: „Mitverantwortlich. Als Liberaler im SED-Staat." 471 Seiten, zahlreiche Abbil­ dungen, Personenverzeichnis Morgenbuch Verlag, Berlin 1991 Schon der Titel „Liberaler im SED-Staat" zwingt zwei inkompatible Gegebenheiten zusammen und reißt das Dilemma auf, das zwischen einer parlamentarischen Partei und einer pluralistisch verfaßten Gesellschaft und der Ausschließlichkeitspartei im totalitären Staat besteht. Daß in der DDR ein Bür­ gerlicher diese Vereinbarkeit dennoch immer wieder herzustellen versuchte, liegt in seinen Anfängen begründet: als jugendlicher Idealist, der 1945 „ein friedliches, demokratisches und menschlich besse­ res Deutschland" erstrebte und diese Zukunft im sozialistischen Staat verwirklicht glaubte. Er hat noch bis in die Wende an diesem Irrtum festgehalten. — Die stoffreiche Selbstdarstellung des Manfred Gerlach betrifft in erster Linie den Politiker, der zu ermessen hat, inwieweit sein politisches Umden­ ken überzeugend vollzogen ist. Doch dieser Prozeß ist noch zu sehr gegenwärtig und kann in einem Geschichtsverein vorläufig kaum bewertet werden. Für die Berlin-Geschichte ist die Karriere des letz­ ten Staatsoberhauptes der DDR nach dem 9. November und des Vorsitzenden der Blockpartei inso­ fern relevant, als er seine hochpolitische Funktion seit den 50er Jahren von Berlin her ausübte; denn an sich kam er von den sächsischen Liberalen her. Er beschreibt sehr ausführlich — weil er alles Mate­ rial zu seiner Selbstanalyse ausschöpfen will — seine Laufbahn vom Initiator einer antifaschistischen Jugendgruppe über seine Tätigkeit als Mitbegründer der FDJ und darin fungierendes Zentralratsmit­ glied in der Nähe des frühen Honecker. Seit 1945 Mitglied der LDP, wurde er 1950 Bürgermeister und Stellvertreter des Oberbürgermeisters von Leipzig. Stetig und seltsam unbehindert von Macht­ kämpfen durchmaß er alle Bereiche eines politisch Verantwortlichen; er schildert unter anderem sein Fernstudium der Staats- und Rechtswissenschaften bis zur Promotion und Habilitation unter uns fremden Rechtsbegriffen, berichtet über seine Zeit als stellvertretender Vorsitzender und dann Gene­ ralsekretär der LDPD. Schließlich bekleidete er, dieser Blockpartei angehörend, das Amt des Amtie­ renden Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und wurde nach dem 9. November 1989 Staatsober­ haupt. — Wenn Verf. seinen Weg durch die DDR-Jahre als einen in sich zwingenden Gang rekapitu­ liert, erkennt der westliche Leser ihn von immer derselben schiefen Bewußtseinslage bestimmt. Es hat, u. a. seit ersten Fühlungnahmen mit der FDP, immer wieder Anlässe gegeben, sich zu fragen, ob er im echten Sinne ein Liberaler gewesen sei, was er eigentlich hätte verneinen müssen. Aber er über­ zeugte sich selbst, Blockpolitik der LDPD in enger Fühlungsnahme mit der SED sei der durchset­ zungskräftigste Weg, nationale deutsche Geschicke zu gestalten; so schlug sich Verf. auf die Seite der Befürworter einer DDR als eines sozialistischen deutschen Staates. Folgerichtig befürwortete er die Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, bekannte er sich zur Notwendigkeit des Mauer­ baus, rechtfertigte er die Sozialisierung der Landwirtschaft und der Betriebe. — In Berlin stieg er zu nationalen Führungsaufgaben auf und war doch schon belastet mit der Hypothek, sich immer von der SED vereinnahmt haben zu lassen und seine Praxis des Wegsehens habitualisiert zu haben. — Es ist also in 40 Jahren DDR der Aufstieg eines repräsentativen Machthabers und bietet die — eigentlich wenig informativen — Innenansichten des Staats- und Parteiapparates. Des Verf .s Selbstbefragen, sei­ ner Motive und Entscheidungen und ihrer Folgen, bietet das Bild einer ähnlichen Laufbahn wie vor ihm in der Sowjetunion der des Kommunisten Wolfgang Leonhard von einer zweifelhaften Situation zur anderen; er nennt es selbst das Musterbeispiel eines Konfliktes zwischen Anpassung und kriti­ schem Zweifel und der stets wiederholten Selbstbeschwichtigung. Um das Fazit, sich selbst einen ver­ antwortlichen Täter zu nennen, kommt er nicht herum. Der Leser kann als Außenstehender nur schwer beurteilen, wieweit er noch Wichtiges verdrängt und ob in den schicksalsträchtigen Situatio­ nen andere Möglichkeiten hätten gefordert werden können oder müssen.

37 Westliche Leser, die 45 Jahre in einer parlamentarischen Demokratie gelebt haben, können nur schwer nachvollziehen, wie auch bei einem, der sich der Humanität verpflichtet fühlte, wie er betont, die oben skizzierte begriffliche Unklarheit über die Grundpositionen des Liberalismus über einen so langen Zeitraum hat durchgehalten werden können. Auch sein Anspruch, Liberalismus als menschli­ che Geisteshaltung postuliert zu haben, hilft darüber nicht hinweg. Verf. beschreibt aber im nachhin­ ein, wie bei entscheidenden Ereignissen der deutsch-deutschen Teilung seit der Chruschtschow-Ära tatsächliche freiere Entscheidungen zu anderen Ergebnissen hätten führen können. Die Selbstbeschreibung durch 45 Jahre Ostdeutschland ist weitschweifig und zeigt doch immer wieder dasselbe geschilderte Verhaltensmuster. Unser vorrangiges Interesse beanspruchen die Schilderun­ gen der Vorgeschichte der Wende, die er bis in die Mitte der 80er Jahre zurückverlegt. Es läßt sich ver­ folgen, wie die politische und geistige Austrocknung der DDR schon bald nach Honeckers Macht­ antritt begann und wie dieser schon bald die in ihn gesetzten Erwartungen auf größere Lebensnähe enttäuschte. Schon früh hat Verf. ihn — in der Hoffnung, als sein langjähriger Vertrauter noch etwas ausrichten zu können — auf die Ineffektivität der Staatswirtschaft hingewiesen und angedeutet, daß sie nicht der Volkswohlfahrt, sondern der Machterhaltung der SED-Führung diene. Er hat sich damit zwischen die Stühle gesetzt und sich bei der eignen Partei unbeliebt gemacht. Honecker hat auch unter dem Druck, der von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion ausging, am erstarrten Kurs der SED festgehalten und sich zunehmend isoliert. Als sein Verdienst führt Manfred Gerlach an, daß die LDPD diese Verkrustungen bei Namen genannt und sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für eine Kurskorrektur eingesetzt habe — mit zweifelhaftem Erfolg. — So kann Verf., indem er nach den Ursa­ chen für den Zusammenbruch der DDR fragt, nur zu dem Schluß kommen, 1989 sei der Widerspruch von Theorie und Praxis des Sozialismus so brennend geworden, daß das Volk seine Macht spürte. „Die Macht lag auf der Straße, und das Volk hob sie auf." Christiane Knop

Studienfahrt vom 11. bis 13. September 1992 nach Braunschweig und in den Ostharz

Auf Einladung des Direktors des Braunschweigischen Landesmuseums Gerd Biegel, M. A., wird die diesjährige Exkursion zum gewohnten Zeitpunkt am zweiten Wochenende im September stattfinden. Das vorläufige Programm sieht einen Auftakt im Braunschweigischen Landesmuseum vor, dort auch einen Vortrag „Braunschweig und Preußen im 18. Jahrhundert", und einen mit Stadtrundgang, Besichtigungen (u. a. Dom) und Führungen (z. B. wahlweise Herzog-Anton-Ulrich-Museum oder Städtisches Museum) gefüllten Tag, der der Stadt Braunschweig gewidmet ist. Am letzten Reisetag wird der Bus mit den Teilnehmern zu historischen Orten im Ostharz fahren: Halberstadt und Qued­ linburg sind vorgesehen, auch ein Besuch Stolbergs wird erwogen. Interessenten an der Exkursion können sich vorab unverbindlich beim Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, melden. Ihnen wird das genaue Programm mit allen Zeitangaben und Informationen über die Kosten, das Hotel usw. unaufgefordert zugeleitet, das mit der Meldefrist im Heft 3/1992 dieser „Mitteilungen" veröffentlicht wird. SchB.

38 t Im ersten Quartal 1992 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:

Hagemann, Christel, Rentnerin Hintze, Hans-Jürgen, Reederei-Kaufmann (früher Sachbearbeiterin) Otto-Grotewohl-Straße 14 c, Sophie-Charlotten-Straße 55/56, O-1080 Berün 1000 Berlin 19 Tel. 2 29 45 34 (Gerhard Hintze) Tel. 3 212813 (Wolfgang Treppe) Koch, Klaus, Dipl.-Ing. Hagemann, Hans, Oberstaatsanwalt a. D. Belfaster Straße 54, 1000 Berlin 65 Sophie-Charlotten-Straße 55/56, Tel. 4516353 (Gerhard Koch) 1000 Berlin 19 Koch, Ursula, Hausfrau Tel. 3 212813 (Wolfgang Treppe) Belfaster Straße 54, 1000 Berlin 65 Hager, Bernhard, M. A., Tel. 4 5163 53 (Gerhard Koch) Regierungsinspektoranwärter Schüler, Gisela, Sozialamtsrätin Nettelbeckstraße 2, 6200 Neidenburger Allee 5, 1000 Berlin 19 Tel. 0611/441235 Tel. 3021947

Tagesordnung der Ordentlichen Mitgliederversammlung

Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und des Bibliotheksberichtes. Bericht der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer. Aussprache. Entlastung des Vorstandes. Verschiedenes. Anträge sind bis zum 30. April der Geschäftsstelle zuzuleiten.

39 Veranstaltungen im II. Quartal 1992

1. Freitag, 24. April 1992,16 Uhr: Wiederholung des geplanten Spaziergangs anläßlich des 150. Todestages Carl Friedrich Schinkels am 9. Oktober 1991 vom Alten Museum über Schloßbrücke, Königliche Wache, Friedrichswerdersche Kirche zum Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Leitung Herr Günter WoUschlaeger. Treffpunkt vor dem Alten Museum an der Granitschale. 2. Mittwoch, 13. Mai 1992, 19 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im BerUner Rat­ haus, Wappensaal. Haupteingang Rathausstraße. Tagesordnung siehe Seite 39. Anschließend ein Lichtbildervortrag von Herrn Günter WoUschlaeger: „Anmerkungen zu Haus und Park Neuhardenberg". Bitte beachten Sie den vorverlegten Veranstaltungs­ beginn. 3. Sonnabend, 23. Mai 1992, 10 Uhr: Spaziergang durch das ehemalige Regierungsviertel zwischen Leipziger Straße und Unter den Linden. Leitung: Herr Hans-Werner Klünner. Treffpunkt: U-Bhf. Stadtmitte, Südausgang. 4. Sonnabend, 13. Juni 1992,10 Uhr: Führung zum Kleist-Grab und zu dessen Umgebung. Leitung: Herr Hans-Werner Klünner. Treffpunkt: Vorplatz S-Bhf. Wannsee. 5. Dienstag, 16. Juni 1992, 16.30 Uhr: Führung durch die AussteUung des Landesarchivs „Der Teufel in Berlin — Politische Karikaturen der Bismarckzeit". Leitung: Frau Prof. Dr. Ursula Koch. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthstraße 1/2, 1000 BerUn 30.

Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-264. Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05. Konten des Vereins: Postgiroamt Beriin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Beriin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. HersteUung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

40 Rats Bibliothek Pochabt der Berliner Stadtbibliothek A 1015 F MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

88. Jahrgang Heft 3 Juli 1992

Badensche Straße 9, Wilmersdorf. „Wiederaufbau" als Sgraffito an einer Giebelwand (Zustand 1987). „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst." — Kunst am Bau in den fünfziger Jahren in Berlin1 Von Volker Welter

Städtebau und Architektur der fünfziger Jahre, der Periode „zwischen Kriegsende 1945 und dem Beginn der sechziger Jahre, in denen die letzten der in den Fünfzigern geplanten Bauten ausgeführt wurden"2, sind in die Diskussion gekommen. Während Tütenlampen und Nieren­ tische zu Sammlerobjekten aufstiegen, sanken die gebauten Zeugnisse der Zeit im Ansehen. Der Städtebau, in Berlin in so unterschiedlichen Anlagen wie dem Ernst-Reuter-Platz oder der Karl-Marx-Allee, dem Hansaviertel oder der Siedlung Charlottenburg Nord präsent, wird pauschal als „autogerechte Stadt" abqualifiziert.3 Einzelne Bauten werden nicht unbedingt positiver beurteilt. „Großstadtsymphonie in Parkgrün und Beton" würde selbst in Fachkreisen heute wohl nicht mehr nur als Lob verstanden werden.4 Immer häufiger werden Gebäude aus der Zeit einer grundlegenden Renovierung unterzogen. Veränderte Nutzungen, aufgetretene Schäden oder erhöhte Anforderungen an den Wärme­ schutz machen das nötig. In den letzten Jahren hat die Denkmalpflege begonnen, sich mit die­ ser Architektur zu beschäftigen, um Kriterien für Unterschutzstellungen und Renovierungen zu entwickeln.5 Durch den Zusammenschluß beider Teile Berlins wird dieser Arbeitsbereich erweitert. Zum einen sind die neoklassizistischen Wohnkomplexe an der Karl-Marx-Allee Gebäude, die es in dieser Form im bisherigen West-Berlin nicht gegeben hat6; zum anderen wird bei zunehmender Bautätigkeit in Groß-Berlin manches Bauwerk aus der Zeit vor dem Abriß und Ersatz durch einen größeren Neubau zu schützen sein. Die Spannweite der Architektur der Fünfziger in Berlin ist groß. Sie reicht von einfachen, kla­ ren und kubischen Baukörpern, wie sie Max Taut in dem Buch „Berlin im Aufbau" skizzierte7, bis hin zu Formen der „Nierentisch-Ästhetik", die heute am ehesten mit jener Zeit identifiziert werden. Bekanntestes Beispiel in Berlin ist die Kongreßhalle im (1956/57, Hugh Stubbins). Zwischen diesen Polen liegen so verschiedene Bauten wie das „Ruhrkohle-Haus" in der Bismarckstraße in Charlottenburg (1958/59, Paul G.R. Baumgarten), das „Kranzler-Eck" (1957/58) und einige Meter entfernt das Kaufhaus Bilka (1956), die beide von Hanns Dust­ mann in der Nähe des Bahnhofs Zoo gebaut wurden. Ebenfalls in die Zeit gehören der Wieder­ aufbau des Schiller-Theaters 1950/51 (Heinz Völker, Rudolf Gross) oder die als parabolisch geformtes Gewölbe entworfene Canisius-Kirche in der Witzlebenstraße in Charlottenburg (1954-57, Reinhold Hofbauer).8 Ein wesentliches Merkmal der Architektur war die Freude an der Verwendung von Ornamen­ ten und anderen Dekorationen. Dies galt auch für die aus ökonomischen Gründen äußerst sparsam und einfach gebauten Wohnhäuser in den Wiederaufbaugebieten Berlins. Gerade bei ihnen versuchte man, mit einfachsten Mitteln zu gestalten. Differenzierte Strukturen auf den Fassaden wurden durch glatt abgezogene Flächen im rauhen Kratzputz erreicht, in den Putz gezogene Fugen ergaben verschiedenste Muster. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Wellenförmig gebogene Flacheisen, zu Rauten verschweißte Stäbe, ellipsenförmige Gittermu­ ster und barock anmutende freie Formen sind nur wenige Beispiele aus der Vielzahl von Bal­ kongittern, die an Häusern aus den fünfziger Jahren zu sehen sind. Für zwei der wichtigsten Gestaltungsmaterialien, Fliesen und Glasmosaiksteinchen, sprachen drei Erwägungen:

42 Abb. 1: Kat. Nr. 8. Brandenburgische Straße 20, Wilmersdorf. Hauseingangs­ gestaltung mit Relief­ darstellungen einer Frau und eines Mannes.

— unbegrenzte Einsatz- und Gestaltungsmöglichkeiten und — Wirtschaftlichkeit, da keine Kosten für Pflege und Reparatur der Fassaden in den nächsten Jahren anfallen sollten. (Ein Grund, der nur bei sorgfältigster Ausführung zutraf.) Außerdem waren Fliesen und Glasmosaik sauber und ansehnlich, also hygienisch. Das hatte auch eine symbolische Bedeutung. Nach den Kriegsjahren wollte man in einer gepflegten, sau­ beren Umwelt leben. Mit gefliesten und mosaizierten Flächen wurden Säulen, Fenster- und Balkonbrüstungen usw. gestaltet. Rieste man ganze Häuser, beschränkte man sich auf wenige Grundfarben, um mit anderen Fliesen farbige Akzente setzen zu können. Ebenfalls Akzente setzten Kunstwerke, die an Außen- und Innenwänden von Häusern ange­ bracht wurden. Mit „Kunst am Bau", der Begriff wurde in den Fünfzigern oft wörtlich umge­ setzt9, sollte — das Aussehen der Gebäude verbessert werden, — dem Repräsentationsbedürfnis der Bauherren entsprochen werden und, — ein sehr wichtiger Grund, Künstlern in der wirtschaftlich schwierigen Zeit Arbeit vermittelt werden.

43 Häufig wurde ein Bauwerk mit mehreren Objekten ausgestattet. Im schon erwähnten Schiller- Theater findet man Strukturreliefs von Bernhard Heiliger, Mosaike an Säulen aus der Werk­ statt A.Wagner, ein Foyerwandbild von Hans Kuhn und Glasmalereien von Ludwig Peter Kowalskis.10 Entgegen der Regelung, daß staatliche Bauherren einen bestimmten Prozentsatz der Bau­ summe für Kunst am Bau ausgeben sollten, war die Initiative privater Bauherren freiwilliger Art. Dennoch waren die Kosten für sie nicht unrentabel. In der DIN 276 war festgelegt, daß Kosten für Kunst am Bau bei den für die Berechnung der Miete wichtigen „Kosten des Gebäu­ des" angesetzt werden durften.11 Die im folgenden beschriebene Inventarisation von Kunst-am-Bau-Objekten beschränkt sich auf an Fassaden angebrachte Kunstwerke. Die Sammlung der 39 Beispiele erfolgte nach dem Zufallsprinzip. Sie ist nicht repräsentativ, aber dennoch lassen sich Aussagen treffen, die über die Einzelfälle hinaus gültig zu sein scheinen.12

Materialien und Techniken Die beschriebene Vorliebe für Fliesen ist bei den Kunst-am-Bau-Objekten nicht so deutlich. Von den 39 Beispielen im Katalog sind elf aus bzw. mit Fliesen hergestellt. Zwölf Objekte sind Sgraffitoarbeiten, und bei neun Kunstwerken wurde Metall verwendet. Für ein Sgraffito wer­ den aus dem noch feuchten Wandputz die beabsichtigten Formen oder Flächen herausge­ kratzt. Die tieferliegenden Putz- oder Mauerwerksflächen können dann z. B. bemalt werden. Sgraffitos waren die beliebteste Technik und Fliesen sowie Metall die am häufigsten verwende­ ten Materialien. Es folgen vereinzelte Natursteinreliefs und Kunstwerke aus Glas oder Beton. Außerdem gibt es Wandgestaltung aus Farbflächen auf einem Untergrund, meistens Putz.

Flächen der Anbringung Die Flächen, an denen Kunst-am-Bau-Objekte an den Fassaden angebracht wurden, lassen sich systematisch einteilen. Im folgenden umfaßt die größte Gruppe 20 Beispiele der Gestal­ tung einer ganzen Fassadenseite. Elf davon sind Objekte, die eine Giebelwand schmücken. Diese bevorzugte Stelle läßt sich aus veränderten städtebaulichen Vorstellungen heraus erklä­ ren. Der Idee einer aufgelockerten Stadt folgend, lehnte man die alte Struktur der Blockrand­ bebauung ab. Neue Wohnhäuser wurden als alleinstehende Zeilen gebaut, dadurch lagen die Giebelseiten frei. Alle Fassaden konnte und wollte man nicht mit Fenstern versehen, deshalb wurden die „leeren" Wände gerne mit Kunst am Bau dekoriert. Auch in sogenannten „offenen Ecken" gibt es Giebelwände mit Kunstwerken. Das spezifische Element des Städtebaues jener Zeit war dort weit verbreitet, wo Neubauten alte Blockstrukturen ergänzten. Die Gebäude wurden nicht mehr bis an die Blockecken herangebaut, so daß eine viereckige Restfläche frei blieb.13 Gelegentlich wurden die „offenen Ecken" für die Einrichtung von Tankstellen oder eingeschossigen Verkaufspavillons genutzt. Gestaltete Brandwände von Altbauten, die infolge von Kriegszerstörungen der Nachbarhäuser frei lagen, und Fassadenvor- bzw. -rücksprünge bei Neubauzeilen sind andere Flächen, die in diese Gruppe gehören. Gestaltungen von Hauseingängen bilden mit zehn Beispielen die zweite größere Gruppe. Ent­ weder wurden kleine Objekte über oder neben der Tür angebracht, oder es wurde die gesamte Fassadenfläche des über dem Eingang liegenden Treppenhauses gestaltet. Künstlerische Glas­ scheiben in Oberlichtern sowie in Windfangfenstern waren eine weitere Variante, die oft ähnli­ chen Hauseingänge zu akzentuieren. Eingangsgestaltungen können auch als der Versuch ange­ sehen werden, mit zeitgenössischen Mitteln an die Tradition der prächtigen Eingangshallen der früheren Bürgerhäuser anzuknüpfen.

44 Abb. 2: Kat. Nr. 10. Königsberger Straße 36, Steglitz. Brüstungsfeldergestaltung mit farbigem Fliesenbruch.

Themen und Motive Je nach Art der Darstellung können die Objekte in drei Gruppen unterteilt werden: — die naturalistisch-gegenständlichen Kunstwerke (6 Beispiele), — die stilisiert-gegenständlichen Kunstwerke (14 Beispiele) und — die ungegenständlichen Kunstwerke (19 Beispiele). Die fast gleichen Zahlen von gegenständlichen und ungegenständlichen Arbeiten spiegeln die Auseinandersetzung in der zeitgenössischen Kunst um die Art der Darstellung — realistisch versus abstrakt/konkret — wider.

Die naturalistisch-gegenständlichen Kunstwerke Auffallend häufig sind Tiere und Naturszenen das Motiv. In der Sachsenwaldstraße 24 äsen Rehe friedlich neben der Eingangstür (Kat. Nr. 4)14, an einem Gebäudevorsprung in der Leib- nizstraße erlegt Freiherr von Münchhausen gerade einen wütenden Eber (Kat. Nr. 2), und am Spandauer Damm 70 sitzt ein schelmischer Uhu auf einem Ast über der Haustür; einen Ein­ gang weiter ist es ein gewitzt dreinschauender Igel (Kat. Nr. 5,6). Merkmal der Kunstwerke ist, daß die Motive verniedlichend und kindlich dargestellt werden. Die Gestaltung der Balkongit­ ter am Haus Olivaer Platz 4 mit Tieren, die vor allem Kinder begeistern, wie Seepferd, Fohlen, Eichhörnchen usw., macht dies noch einmal deutlich (Kat. Nr. 3). Bemerkenswert an diesem Beispiel ist auch, daß Tiere von so unterschiedlichen Größen wie Bär und Katze auf eine Dar­ stellungsgröße angeglichen worden sind.

4? Darstellungen des Menschen gibt es weniger. Eines der beeindruckendsten Beispiele ist die Giebelwandgestaltung am Wohnhaus Badensche Straße 9 (Kat. Nr. 1). Das haushohe Sgraf- fitto thematisiert den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Ganz oben auf der Wand ist ein kleines Fachwerkhaus neben der Jahreszahl 1720 aus dem Putz gekratzt. 1890 mußte es einem bürgerlichen Wohn- und Geschäftshaus weichen, wie in der Mitte zu sehen ist. Dann mußte man die Ärmel hochkrempeln: Der untere Teil des Sgraffittos zeigt eine Szene auf einem Baugerüst. Die Arbeit war das, worauf man stolz war, nicht das Aussehen des neuen Hauses. Die wahrscheinlichen Gründe für den Neubau, Nationalsozialismus und Krieg, waren 1956 kein Thema für Kunst am Bau. Um, symbolisch gesehen, festen Boden unter die Füße zu bekommen, griff man weit zurück in die Geschichte und stellte sich in eine „normale" Tradition von Abriß und Erneuerung der Häuser (Titel). Rehe im Wald oder die Jagdszene mit dem Frei­ herrn von Münchhausen (Abb. 6) sind ebenfalls als solch ein Zurückgehen in die Geschichte, die vermeintlich bessere Zeit, zu verstehen. An Materialien und Techniken sind Sgraffittos und Natursteinarbeiten am häufigsten vertre­ ten, es gibt kein Kunstwerk mit Fliesen.

Die stilisiert-gegenständlichen Kunstwerke Die Themenwahl ähnelt der vorigen Gruppe, also Tier- und Menschendarstellungen. Aller­ dings wurden hier auch Signets oder Werbebilder, z. B. die Ansammlung von überdimensiona­ len Taschen und Koffern, in Sgraffitotechnik an einer Altbaufassade in Neukölln (Kat. Nr. 9) eingeordnet. Wenn Tiere oder Naturszenen Inhalt sind, findet man wieder eine kindliche Dar­ stellungsweise. Die mit Fliesenbruchmosaik gestalteten Fensterbrüstungen am Haus Königs­ berger Straße 36 lassen eher an einen Kindergarten als an das ehemalige Schwesternheim des benachbarten Krankenhauses denken (Kat. Nr. 10, Abb. 2). Hervorzuheben sind die Reliefs einer Frau und eines Mannes an einem Hauseingang in Wil­ mersdorf (Kat. Nr. 8). Jeweils an einen Baum gelehnt, wenden beide dem Hineingehenden das Gesicht zu. Die Frau ist nackt, der Mann hat einen Lendenschurz um die Hüften geschlagen. Es scheint, als sollten beide an einen glücklichen Urzustand des Menschen gemahnen. Die Dar­ stellung erinnert auch an das uralte Motiv des Lebensbaums. Eine andere Eingangsgestaltung sind die künstlerischen Glasfenster im Windfang der Stadtbü­ cherei in der Oranienstraße (Kat. Nr. 18). Auf der Glasscheibe neben der Tür symbolisieren unten Fische das Element Wasser und darüber Pflanzen das Element Erde. Der Besucher der Bibliothek muß die beiden Elemente, in denen der Mensch sich von Natur aus bewegen kann, beim Betreten oder Verlassen des Gebäudes passieren. Gleichzeitig geht er unter den Ober­ lichtern hindurch. Dort verkörpern Vögel und Schmetterlinge das Element Luft. In der Obentrautstraße 67 ist an einem Wohnhaus eines der inhaltlich am wichtigsten Kunst- am-Bau-Objekte zu sehen (Kat. Nr. 15, Abb. 5). Rundstähle sind zu Umrissen von Häuser gebogen und mit Abstand vor die Wand montiert, Fliesenbruchstücke dazwischen in den Putz gedrückt worden. Kreisförmig abstrahierte Bäume sind um die Silhouette der aufgelockerten, modernen Stadt verteilt. Das Ideal des Städtebaus seiner Zeit konnte der Architekt des teil­ weise wiederauf- und neugebauten Hauses nicht umsetzen. Es blieb ihm nur die programmati­ sche Realisierung des Traumes als Kunst am Bau übrig.

Die ungegenständlichen Kunstwerke Formen, die mit dem Ausdruck „Nierentisch-Ästhetik" charakterisiert werden können, sind in dieser Gruppe zu finden. Doch dominieren Kunstwerke, die aus geometrischen Formen beste-

46 Abb. 3: Kat. Nr. 27. Goltzstraße 8, Schöneberg. Wandgestaltung an einem Fassadenvorsprung.

hen. Fünf der geometrischen Gestaltungen wurden von den Architekten der Häuser mit ent­ worfen. (Allerdings sind nur bei vierzehn der 39 Objekte die Autoren bekannt geworden bzw. sind die Kunstwerke signiert.) Es sind sämtliche Materialien und Techniken vertreten, und die Größe der Kunstwerke korrespondiert meistens gut mit der zu gestaltenden Fläche. Die Fassade eines Hochhauses in der Oranienstraße ist mit dreieckigen Sgraffitos geschmückt worden (Kat. Nr. 37). Dreiecke aus schwarzen Fliesen teilen die Giebelwand des Hauses Gier- kezeile 3 in verschieden große Flächen (Kat. Nr. 26). Die Flächen wurden mit in Farbe und Struktur unterschiedlichen Putzen versehen. Die straßenseitige Wand des eingeschossigen Garagentraktes in der Zillestraße, der zum Haus gehört, wurde in ähnlicher Weise gestaltet. Mit einem aus Putz, Farbflächen und Metallprofilen hergestellten Relief ließ die DEGEWO ihre Bauherrenschaft an einem Haus in der Leibnizstraße verkünden (Kat. Nr. 34). Dies ist das einzige Objekt, bei dem ein Signet mit ungegenständlichen Formen kombiniert worden ist. In der Bismarckstraße in Steglitz ist das Objekt Kat. Nr. 22 zu sehen. Ein Rundstab wurde gekrümmt mit Abstand vor die Wand montiert. Ähnlich einem Collier betonen farbige Fliesen die untere Krümmung. Unter den beiden freien Stabenden sind sechs sichelförmige Flächen aus farbigen Fliesen verteilt. Um das Kunstwerk nicht zu zerstören, wurde bei einer Fassaden-

47 renovierung (1990) an dem Wandvorsprung auf die Wärmedämmung verzichtet. Die ver­ schlungene Metallplastik am Haus Mehringdamm 39 wurde ebenfalls im Zuge der Fassadenre­ novierung restauriert und tritt nun wieder deutlich sichtbar hervor (Kat. Nr. 35). Die Gestal­ tung einer Brandwand eines Altbaues ist in der Grammestraße 7 zu sehen (Kat. Nr. 29). Senk­ rechte Sgraffitos in Schwarz, Blau und Weiß markieren den durch Kaminzüge gebildeten Vor­ sprung in der Wand. Links daneben sind ein großflächiges und drei kleine Sgraffitos aus dem Putz gekratzt und mit freien Formen ausgemalt worden. Aufgrund des schlechten Zustandes des Wandputzes ist auch das Sgraffito schon an mehreren Stellen beschädigt. Ernst war das Leben in den fünfziger Jahren, deshalb wurde es ungerne in der Kunst am Bau dargestellt. Heiter war dagegen die Kunst der Zeit, deshalb die Thematisierung von Idyllen, die kindliche Motivauswahl oder das farbenfrohe Spiel mit freien Formen. Fassadengestaltende Kunst am Bau der fünfziger Jahre war auf jeden Fall vielfältiger, als daß es gerechtfertigt erscheint, von „einer homogenen Formensprache der 50er" zu reden." Bezeichnend für die Bedeutung der Kunstwerke heute ist die Tatsache, daß die Namen der Künstler meistens nicht mehr zu erfahren waren.16

Anschrift des Verfassers: Volker Welter, Mindener Straße 6, 1000 Berlin 10

Katalog Der Katalog folgt der Teilung in naturalistisch-gegenständliche, stilisiert-gegenständliche und ungegenständliche Kunst-am-Bau-Objekte. Innerhalb einer Gruppe sind die Objekte alpha­ betisch nach Straßen und numerisch nach Hausnummern sortiert. Die Kunstwerke wurden nach folgendem Schema17 aufgenommen: Lage, Gebäude, Baujahr, Architekt, Kunstobjekt, Motiv, Material/Technik, Autor, Erläuterung. Die Grundlage des Kataloges ist eine Semesterarbeit, die ich 1987 im Fach Baugeschichte an der TU Berlin, FB 08 — Architektur unter Betreuung von Frau Dipl.-Ing. Gabriele Baer erar­ beitet habe. Für den vorliegenden Beitrag wurden alle Kunstobjekte noch einmal im Septem­ ber 1990 angesehen. Veränderungen gegenüber der Inventarisation von 1987 wurden unter dem Punkt „Bemerkung" notiert. Allen, die Hinweise auf Kunst-am-Bau-Objekte bzw. Aus­ künfte zu den Kunstwerken gegeben haben, sei an dieser Stelle noch einmal gedankt.

Naturalistisch-gegenständliche Objekte

Kat. Nr. 1 (Titel) Lage: Badensche Straße 9, Wilmersdorf (31) Gebäude: Wohnhaus, sechsgeschossig Baujahr: 1956 Kunstobj ekt: Giebelwandgestaltung Motiv: Wiederaufbau „1720-1890-Mehlitz 1956" Material/Technik: Sgraffito, schwarz und rot Autor: signiert: Entwurf K. Tarasanski, Ausführung J. P. Dartsch Bemerkung: Das Gebäude wurde September 1990 renoviert. Dabei wurde das Sgraf­ fito auf den neuen Putz übertragen und farblich mit Blau und Hellgelb neu gefaßt. Die Angaben des Entwerfenden und Ausführenden wurden entfernt. Details der Darstellung wurden verändert.

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4 Kat. Nr. 2 (Abb. 6) Lage: Leibnizstraße 102, Charlottenburg (12) Gebäude: Wohnhaus, sechsgeschossig Baujahr: Altbau Kunstobjekt: Wandgestaltung am Fassadenvorsprung zum Haus Nr. 103 Motiv: „1791 — Freiherr v. Münchhausen jagte hier auf dem Hofjagdrevier Charlottenburg" Material/Technik: Sgraffito, grün und braun Autor: signiert: H 56 — Näheres nicht zu ermitteln Kat. Nr. 3 Lage: Olivaer Platz 4, Charlottenburg (15) Gebäude: Wohnhaus, sechsgeschossig Baujahr: fünfziger Jahre Kunstobjekt: Balkongittergestaltung in den fünf Obergeschossen Motiv: Tiere (von unten nach oben): Bär, Seepferd, Katze, Pferd, Eichhörnchen Material/Technik: Metallscheiben, ausgestanzt Kat. Nr. 4 Lage: Sachsenwaldstraße 24, Steglitz (41) Gebäude: Wohnhaus, viergeschossig Kunstobjekt: Wandgestaltung über und neben dem Hauseingang Motiv: Rehe im Wald Material/Technik: Sgraffito, grün Kat. Nr. 5, 6 Lage: Spandauer Damm 70, 72, Charlottenburg (19) Gebäude: Wohnhäuser, viergeschossig Baujahr: zwanziger/dreißiger Jahre, 1953 Wiederaufbau Kunstobjekt: Reliefs über den Hauseingängen Motiv: Nr. 70: Uhu, Nr. 72: Igel Material/Technik: Kalkstein (?)

Stilisiert-gegenständliche Objekte

Kat. Nr. 7 Lage: Badensche Straße 31, Wilmersdorf (31) Gebäude: Wohnhaus, sechsgeschossig Baujahr: 1954 Architekt: Carl Röthele Kunstobjekt: Gestaltung der Fensterbrüstungen des Treppenhauses über dem Hauseingang Motiv: florale Ornamente Material/Technik: Sgraffito, schwarz und weiß Autor: nicht zu ermitteln Bemerkung: Die Fassade wurde nach 1987 renoviert, dabei wurden die weißen Farb­ reste von den erhabenen Teilen der Sgraffitos entfernt. Kat. Nr.:8(Abb.l) Lage: Brandenburgische Straße 20, Wilmersdorf (31) Gebäude: Wohn- und Geschäftshaus, fünfgeschossig Baujahr: 1910, um 1952 Wiederaufbau Architekt: Rudolf Krause; Wilhelm Peters (Wiederaufbau) Kunstobjekt: zwei Reliefs in der Laibung des Hauseingangs Motiv: Frau und Mann Material/Technik: Naturstein (?), mit Binderfarbe, weiß, überstrichen Autor: nicht zu ermitteln

49 Kat. Nr. 9 Lage: Karl-Marx-Straße 165, Neukölln (44) Gebäude: Wohn- und Geschäftshaus Baujahr: Altbau Kunstobjekt: Werbebild oberhalb des Erdgeschosses Motiv: Koffer und Taschen Material/Technik: Sgraffito, ocker, blau, grün und braun

Kat. Nr. 10 (Abb. 2) Lage: Königsberger Straße 36, Steglitz (45) Gebäude: Verwaltungsgebäude, dreigeschossig Baujahr: um 1958 Kunstobjekt: Gestaltung der Brüstungsfelder der Fenster des Mittelrisalits Motiv: Tiere (von links nach rechts): EG:Schlange, Seestern, Muschel (?); Hase, Ente, Igel; 2. OG: Vogel, Sonne, Vogel Material/Technik: Fliesenbruchmosaik, farbig, Tiere immer schwarz Autor: Studenten der Hochschule der Künste Bemerkung: Das Gebäude ist das frühere Schwesternheim des benachbarten Königswarter Krankenhauses.

Kat. Nr. 11 Lage: Kolonnenstraße 42, Schöneberg (62) Gebäude: Wohn- und Geschäftshaus, fünfgeschossig Baujahr: Altbau, Ladenfrontgestaltung 1959/60 Kunstobjekt: Gestaltung der Ladenfront Motiv: Steinmetz bei der Arbeit Material/Technik: Natursteinrelief Autor: signiert: R. H. W., Rudi H.Wagner

Kat. Nr. 12 Lage: Lauenburger Straße 22—16, Steglitz (45) Gebäude: Turnhalle der Sachsenwald-Schule Baujahr: 1957 Architekt: Hochbauamt Stegütz Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung Motiv: Globus, Schüler und Buch Material/Technik: Sgraffito und Farben; eine vertiefte Linie umschreibt drei parabelartige Felder: oben links: Globus, blau; unten Mitte: Schüler, rot; oben rechts: Buch, grün. Globus und Schüler sind in Mischtechnik von Sgraffito und Farben gestaltet, das Buch nur unter Verwendung von Farben. Autor: nicht zu ermitteln

Kat. Nr.: 13 Lage: Mehringdamm 14/Obentrautstraße, Kreuzberg (61) Gebäude: Bürohaus, siebengeschossig Bildungs- und Technologiezentrum der Handwerkskammer Berlin Baujahr: 1957-59 Architekt: Paulisch Kunstobjekt: Wandgestaltung an der Obentrautstraße Motiv: Handwerkszeichen (Hammer, Eichel und Eichenblatt im Kreis) Material/Technik: Mosaik, goldfarben Bemerkung: Im unteren Teil der Fassade ist der alte Name der Einrichtung „Gewerbe­ förderungsanstalt Berlin" ebenfalls in Mosaiktechnik am Gebäude ange­ bracht.

50 Abb.4:Kat. Nr. 31. Hohenzollerndamm 51, Zehlendorf. Giebelwand­ gestaltung.

Kat. Nr. 14 Lage: Morgensternstraße 30/32, Steglitz (45) Gebäude: Wohnhaus, dreigeschossig Baujahr: fünfziger Jahre Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung Motiv: Vögel Material/Technik: Fliesen, hellblau und gelb, Metallstäbe, schwarz Kat. Nr. 15 (Abb. 5) Lage: Obentrautstraße 67, Kreuzberg (61) Gebäude: Wohnhaus, fünfgeschossig Baujahr: Altbau, 1954-56 Wiederaufbau Architekt: Gerhard Riwalsky

51 Kunstobjekt: Wandgestaltung über der Hofeinfahrt Motiv: Silhouette einer Stadt Material/Technik: Metallstäbe, schwarz, Fliesenbruch, farbig Autor: Gerhard Riwalsky

Kat. Nr. 16, 17 Lage: Oranienstraße 64, 65, Kreuzberg (61) Gebäude: Geschäfts- und Ladenzeile, zweigeschossig Baujahr: 1959-62 Architekt: Max Rudolph Kunstobjekt: Oberlichtgestaltung über den Hauseingängen Motiv: Pflanzen Material/Technik: Glas, schwarz, matt und glänzend, Bleiverglasung Autor: Paul Ohnsorge

Kat. Nr. 18 Lage: Oranienstraße 72, Kreuzberg (61) Gebäude: Stadtbücherei Baujahr: 1959-62 Architekt: Max Rudolph Kunstobjekt: Gestaltung der Fenster des Windfanges am Eingang Motiv: Tiere und Pflanzen Material/Technik: Glas, farblos, klar und gesandstrahlt Autor: Paul Ohnsorge

Kat. Nr. 19 Lage: Reichssportfeldstraße 16, Charlottenburg (19) Gebäude: Wohnhaus, siebzehngeschossig Unite d'habitation „Typ Berlin" Baujahr: 1957/58 Architekt: Le Corbusier (d. i. Charles-Edouard Jeanneret) Kunstobjekt: Reliefs an den östlichen und westlichen Erdgeschoß! gestaltungen der Innenwände der Loggien. Motiv: westliche Fassade: Darstellung des Modulors östliche Fassade: Charta von Athen — Der Mensch in seiner gebauten und natürlichen Umwelt Loggien: Darstellung von Modulormaßen Material/Technik: Reliefs: Sichtbeton Loggien: Farben auf Beton Autor: Le Corbusier Bemerkung: Seit 1987 werden die Fassaden des Hochhauses renoviert. Der Sichtbeton wird dabei mit einem Schutzanstrich gegen Witterungseinflüsse versehen. Die Gestaltungen der Loggien werden erneuert.

Kat. Nr. 20 Lage: Osnabrücker Straße 28/Tauroggener Straße 13, Charlottenburg (10) Gebäude: Wohnhäuser, fünfgeschossig Baujahr: 1956 Architekt: nicht zu ermitteln Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung in der offenen Ecke Motiv: Sommer und Winter Material/Technik: Sgraffito, grün, blau und gelb Autor: signiert: IO (in Ligatur), Näheres nicht zu ermitteln Bemerkung: laut Auskunft der Eigentümerin stand in der Ecke ursprünglich noch eine Skulptur — Näheres war nicht zu ermitteln.

52 Abb.5:Kat. Nr. 15. Obentrautstraße 67, Kreuzberg. Die „aufgelockerte Stadt" als Kunst-am-Bau- Objekt an einer Hauswand.

Ungegenständliche Objekte Kat. Nr. 21 Lage: Bismarckstraße 6, Steglitz (41) Gebäude: Wohnhaus, dreigeschossig Baujahr: 1960 Architekt: Gerhard Milbach Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung Motiv: Quadrate Material/Technik: Sgraffito, grün, rot und weiß Autor: Gerhard Milbach

53 Kat. Nr. 22 Lage: Bismarckstraße 13, Steglitz (41) Gebäude: Wohnhaus, viergeschossig Baujahr: fünfziger Jahre Kunstobjekt: Wandgestaltung an einem Fassadenvorsprung Motiv: freie Form Material /Technik: Metallstab, schwarz, Fliesen, farbig Bemerkung: 1990 Fassadenrenovierung, Kunstwerk erhalten Kat. Nr. 23 Lage: Berliner Straße 143, Wilmersdorf (31) Gebäude: Wohn- und Geschäftshaus, sechsgeschossig Baujahr: fünfziger Jahre Kunstobjekt: Gestaltung der Straßenfassade Material /Technik: Fliesen, schwarz und orange, vertiefte Putzstreifen, orange Kat. Nr. 24 Lage: Brandenburgische Straße 24, Wilmersdorf (15) Gebäude: Wohnhaus, fünfgeschossig Baujahr: Altbau Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung (Brandwand) Motiv: Rechtecke Material/Technik: Fliesen, weiß, schwarz und mehrere Blautöne Bemerkung: Wahrscheinlich wurde das Objekt im Zusammenhang mit der ehemalig Tankstelle auf dem Eckgrundstück ausgeführt. Kat. Nr. 25 Lage: Ebereschenallee 45 a, Charlottenburg (19) Gebäude: Wohnhaus, zweigeschossig Baujahr: fünfziger/sechziger Jahre Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung Motiv: geometrische Form Material/Technik: Farbe auf Putz Kat. Nr. 26 Lage: Gierkezeile 3, Charlottenburg (12) Gebäude: Wohnhaus, sechsgeschossig Baujahr: 1955/56 Architekt: Edmund Stelter Kunstobjekt: Gestaltung der Giebelwände von Wohnhaus und Garagentrakt Motiv: geometrische Formen Material/Technik: Fliesen, schwarz, verschiedenfarbige und -strukturierte Putzflächen Autor: Edmund Stelter Kat. Nr. 27 (Abb. 3) Lage: Goltzstraße 8, Schöneberg (30) Gebäude: Wohnhaus, fünfgeschossig Baujahr: 1959 Architekt: Manfred Frankenberger Kunstobjekt: Wandgestaltung an einem Fassadenvorsprung Motiv: freie Form Material/Technik: Metallstäbe, gerade und gebogen, blau, gelb und weiß, Metallscheiben, rund, weiß Autor: Manfred Frankenberger Kat. Nr. 28 Lage: Goltzstraße 35, Schöneberg (30) Gebäude: Wohnhaus, fünfgeschossig Baujahr: Altbau

54 Abb.6:Kat. Nr. 2. Leibnizstraße 102, Charlottenburg. Sgraffito an einem Fassadenvorsprung.

Kunstobjekt: Wandflächengestaltung zwischen dem 4. OG und dem Attikageschoß Motiv: freie Formen Material/Technik: Sgraffito, rot und schwarz Bemerkung: Nach 1987 wurde die Fassade renoviert, die Sgraffitos wurden entfernt. Kat. Nr. 29 Lage: Grammestraße 7, Spandau-Siemensstadt (13) Gebäude: Wohnhaus, viergeschossig Baujahr: Altbau Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung (Brandwand) Motiv: freie Form Material/Technik: Sgraffito, schwarz, weiß, blau und rot, die einzelnen Farbflächen sind durch Fugen, schwarz, getrennt Autor: signiert: ... ansing 1955 - Signatur teilweise zerstört, Näheres nicht zu ermitteln Bemerkung: Das Objekt wird von den Anwohnern „Himmelsgeige" genannt.

55 Kat. Nr. 30 Lage: Habsburgerstraße 1, Schöneberg (30) Gebäude: Wohnhaus, sechsgeschossig Baujahr: 1960 Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung Motiv: geometrische Formen Material /Technik: Sgraffito, hellblau, Fliesen, grau, blau, rot, gelb und weinrot Bemerkung: Die Fassade wurde nach 1987 renoviert, die Giebelgestaltung wurde dabei überstrichen. Kat. Nr. 31 (Abb. 4) Lage: Hohenzollerndamm 51, Zehlendorf (33) Gebäude: Wohnhaus, fünfgeschossig Baujahr: fünfziger/sechziger Jahre Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung Motiv: geometrische Formen Material/Technik: Metallstäbe und quadratische Blechscheiben, dunkelgrün Kat. Nr. 32 Lage: Hohenstaufenstraße 1, Schöneberg (30) Gebäude: Schulgebäude Baujahr: fünfziger/sechziger Jahre Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung Motiv: geometrische Formen Material /Technik: Farbe auf Putz, verschieden strukturiert Kat. Nr. 33 Lage: Krumme Straße 93, Charlottenburg (12) Gebäude: Wohnhaus, fünfgeschossig Baujahr: Altbau Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung (Brandwand) Motiv: geometrische Formen Material/Technik: Fliesen, schwarz, weiß und rot Bemerkung: Ursprünglich wurde das Objekt wahrscheinlich zusammen mit einer Tank­ stelle auf dem Eckgrundstück ausgeführt. 1990 wurde das Grundstück mit einem mehrgeschossigen Gebäude bebaut, das Kunst-am-Bau-Objekt ist nicht mehr sichtbar. Kat. Nr. 34 Lage: Leibnizstraße 105, Charlottenburg (12) Gebäude: Wohnhaus, sechsgeschossig Baujahr: fünfziger Jahre Kunstobjekt: Relief an Fassadenvorsprung zum Haus Nr. 104 Motiv: „DE GE WO", geometrische Formen Material/Technik: Metallrechteckprofile, schwarz, Putzflächen, erhaben, glatt, schwarz und weiß Kat. Nr. 35 Lage: Mehringdamm 39, Kreuzberg (61) Gebäude: Wohn- und Geschäftshaus, sieben- und eingeschossig Baujahr: 1954 Architekt: Richard Hilscher Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung Motiv: freie Form Material/Technik: Metallprofile, gerade und geschwungen, schwarz, Fliesen, hellgelb und orange Autor: nicht zu ermitteln

56 Kat. Nr. 36 Lage: Motzstraße 79, Schöneberg (30) Gebäude: Wohnhaus, fünfgeschossig Baujahr: 1958/59 Architekt: Wilhelm Siegmund Kunstobjekt: Giebelwandgestaltung Motiv: geometrische Form Material/Technik: Metallstangen, blau, gelb und rot Autor: Wilhelm Siegmund Bemerkung: Die Fassade des Hauses wurde im September 1990 renoviert. Die Metallpla­ stik wurde restauriert. Kat. Nr. 37 Lage: Oranienstraße 63, Kreuzberg (61) Gebäude: Wohnhaus, achtgeschossig Baujahr: 1959-62 Architekt: Max Rudolph Kunstobjekt: Wandflächengestaltung zum Moritzplatz Motiv: Dreiecke Material/Technik: Sgraffito: Dreiecke, braun und rot, senkrechter Balken, schwarz Autor: Paul Ohnsorge Kat. Nr. 38 Lage: Prager Straße 11, Schöneberg (30) Gebäude: Wohnhaus, sechsgeschossig Baujahr: 1961 Architekt: Fehr Kunstobjekt: Wandgestaltung neben und oberhalb des Eingangs Motiv: viereckige Farbflächen Material/Technik: Farbe auf Putz, die einzelnen Felder durch Fugen, schwarz, voneinander getrennt Autor: Fehr Kat. Nr. 39 Lage: Württembergische Straße 6, Wilmersdorf (31) Gebäude: Bürohochhaus, achtzehngeschossig Baujahr: 1954-56 Architekt: Werry Roth Kunstobjekt: Wandflächengestaltungen Motiv: geometrische Formen Material/Technik: Fliesen, farbig Autor: Prof. Kirschberger

Anmerkungen (abgekürzt zitierte Literatur siehe Literaturauswahl)

1 Schiller, Friedrich: Prolog zu Wallensteins Lager. Zitiert nach der Ausgabe: Reclam Universal- Bibliothek Nr. 41. Stuttgart 1988. S. 6, Zeile 138. 2 Durth/Gutschow, S. 16. 3 Die Anlage des Ernst-Reuter-Platzes folgte einem Entwurf von Bernhard Hermkes, der 1955 den Wettbewerb zur Platzanlage gewonnen hatte. Die Karl-Marx-Allee wurde zwischen 1951 und 1960 u. a. nach Entwürfen der Kollektive Hen- selmann und Paulick bebaut. Das Hansaviertel war das Hauptausstellungsgebiet der Interbau 1957. Die Häuser wurden von international bekannten Architekten geplant.

57 Mit der Siedlung Charlottenburg-Nord erweiterte Hans Scharoun 1957—60 die Großsiedlung Siemensstadt aus den 20er Jahren. Reichow, Hans Bernhard: Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrschaos. Ravensburg 1959. 4 Wissen Sie Bescheid über Berlin?, S. 14. 5 Verwiesen sei auf die Bücher des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, außerdem auf die Inventarisierung von Bauten der 50er Jahre in der City Berlins und im Hansa viertel durch Car­ men Jung im Auftrag des Landeskonservators Berlin (West) aus dem Jahre 1986. Zu einer Presse­ fahrt siehe: „Visuelle Präsenz erhalten — Landeskonservator will Architektur der 50er Jahre schützen lassen". In: Volksblatt Berlin vom 27. Oktober 1987. 6 Siehe Anmerkung 3. Helas, Volker: Die Zuckerbäcker. Zur Wende in der DDR-Architektur der fünfziger Jahre. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 197 vom 21. Dezember 1988. Helas, Volker: Die Architektur der 50er Jahr in der DDR. In: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz: Architektur und Städtebau der Fünfziger Jahre. S. 49—55. 7 Taut, Max: Berlin im Aufbau. Berlin 1946. 8 Das Portalrelief an der Kirche wurde 1955 von Ludwig Gabriel Schrieber entworfen. Zement­ steinguß, 2,85 m X 9,70 m. 9 Eine Definition des Begriffes kann hier nicht erfolgen. Wichtig wäre es, eine Trennung der Begriffe „Kunst am Bau" und „Kunst im Stadtraum" einzuführen, die häufig synonym verwandt werden. 10 Wörner, Martin; Mollenschott, Doris: Architekturführer Berlin. Berlin: Reimer 1989. Seite 53. 11 Die heute gültige Fassung der DIN 276 enthält die gleiche Regelung. Es wird aber genauer diffe­ renziert zwischen „Kunstwerken und künstlerisch gestalteten Bauwerken" in Punkt 3.5.5 und „Kunstwerken und künstlerisch gestalteten Bauteilen im Freien" in Punkt 5.5. 12 Eine umfassende Inventarisierung von Kunst am Bau in Berlin wurde meines Wissens bisher nicht vorgenommen. Einzelne Baugesellschaften und Bezirksämter besitzen zwar Listen von Kunst­ werken an ihren Häusern, aber meistens sind sie nicht vollständig oder reichen gar nicht bis in die fünfziger Jahre zurück. In dem vom Senator für Bau- und Wohnungswesen herausgegebenen Buch „Kunst im Stadtraum" sind auch Kunst-am-Bau-Objekte aus öffentlichem Besitz erfaßt, doch ist auch das Buch keine vollständige Bestandsaufnahme. Weitere Objekte sind abgebildet und beschrieben in Damus/Rogge: Fuchs im Busch und Bronzeflamme. Für das Thema dieses Aufsatzes siehe vor allem: S. 200—203 und 251/52. Im Katalog zur 7. Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes 1957 in Berlin sind ebenfalls Kunst-am-Bau-Objekte beschrieben, abgebildet allerdings nur zwei. Anders ist die Situation für die ehemalige Hauptstadt der DDR. 1969 began­ nen der Verband bildender Künstler der DDR und die Deutsche Bauakademie zu Berlin mit der Herausgabe eines mehrbändigen Kataloges. Unter dem Titel „bildende kunst 4- architektur" wurde in der gesamten DDR Kunst am Bau mit einer beispielhaften Systematik inventarisiert. Teil 1 behandelt Berlin, und im Teil 6: Ergänzungen sind auch für Berlin Nachträge verzeichnet. 13 Die Bauordnung für Berün von 1958 führte die Ecklösung allgemein ein. Bisher waren Eckgrund­ stücke von Blockrandbebauungen beim Nachweis von Hofflächen im Blockinneren bevorzugt. Für sie mußten nur 40 anstatt der sonst üblichen 60 m2 nachgewiesen werden. Diese alte Regelung aus der Bauordnung von 1925 (§8a) wurde aufgehoben. 14 Nähere Angaben zu den Objekten sind im Katalog zu finden. 15 Straka, Barbara: Kunst im Zeichen einer Stadt — Eine Stadt im Zeichen ihrer Kunst. In: Kunst im Stadtraum. S. 6. 16 Die Ermittlung der Autoren erfolgte durch Nachfragen bei Eigentümern, Verwaltern und Archi­ tekten. Es wurden keine Bauakten eingesehen, doch ist es wenig wahrscheinlich, daß dort die Künstler benannt werden. Eine Möglichkeit, die Autoren festzustellen, wäre die Einsichtnahme in Ausschreibungs- und Abrechnungsunterlagen der Häuser, soweit solche erhalten sind. Diese aufwendigen Recherchen konnten von mir nicht vorgenommen werden. 17 Das Schema der Inventarisierung folgt demjenigen für die Bestandsaufnahme von Kunst am Bau in der DDR. Siehe: bildende kunst + architektur. Teil 1. Berlin 1969.

58 Literaturauswahl

Architektur, Kunst und Design der fünfziger Jahre. Bangert, Albrecht: Der Stil der 50er Jahre. München 1983. Berlinische Galerie e.V. (Hrsg.): Hauptstadt Berlin. Internationaler städtebaulicher Ideenwettbe­ werb 1957/58. Berlin 1990. Borngräber, Christian: Stil Novo. Design in den 50er Jahren. Frankfurt am Main 1979. Claßen, Martin; Vorfeld, Michael: Architektur der 50er Jahre in Köln. Köln: Bachern 1986. Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.): Architektur und Städtebau der Fünfziger Jahre. Bonn 1988 (Schriftenreihe des Deutschen Nationafkomitees für Denkmalschutz Band 36). Durth, Werner; Gutschow, Niels: Nicht wegwerfen! Architektur und Städtebau der fünfziger Jahre. Hrsg.: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz. Bonn 1987 (Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 33). Hackelsberger, Christoph: Die aufgeschobene Moderne. Ein Versuch zur Einordnung der Architek­ tur der Fünfziger Jahre. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag 1985. Jung, Carmen: Untersuchung der Bauten der fünfziger Jahre im Citybereich und im Hansaviertel in Berlin (West). Berlin 1986. Die Bestandsaufnahme erfolgte im Auftrag des Landeskonservators Berlin (West). Maenz, Paul: Die 50er Jahre. Köln: Du Mont 1984. Der Senator für das Bau- und Wohnungswesen: Wissen Sie Bescheid über Berlin? Hauptstadt im Aufbau. Berlin 1958. Zaunschirm, Thomas: Die fünfziger Jahre. München: Heyne 1980. Kunst am Bau — Kunst im Stadtraum. Damus, Martin; Rogge, Henning: Fuchs im Busch und Bronzeflamme. Zeitgenössische Plastik in Berlin (West). München: Moos 1979. Deutsche Bauakademie zu Berlin (Hrsg.): Bildende Kunst + Architektur. Katalog Teil 1 Berlin. Ber­ lin (DDR) 1969. Katalog Teil 6 Ergänzungen. Berlin (DDR) 1974 (Deutsche Bauinformation). Deutscher Künstlerbund (Hrsg.): 7. ausstellung 1957 berlin mit Sonderausstellung kunst am bau. Berlin 1957. Der Finanzminister des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.): Kunst am Bau. Kunst an staatlichen Hochbauten des Landes Schleswig-Holstein. Neumünster: Wachholtz 1985. Frenzel, Christian Otto: Kunst am Bau in Hamburg 1947—58. Hamburg: Springer 1959. Informationszentrum Raum und Bau der Fraunhofer-Gesellschaft (Hrsg.): Kunst am Bau. Stuttgart: IRB-Verlag 1983, 1985 (2. Auflage) (IRB-Literaturauslese Nr. 102). Kunst am Bau. Informationsdienst des Berufsverbandes bildender Künstler Berlins (Hrsg.). Berlin Jg. 1. 1979 ff. Senator für Bauwesen (Hrsg.): Die Kunst am Bau. Bremen 1965 (Die Neugestaltung Bremens. H. 10). Der Senator für Bau- und Wohnungswesen: Kunst im Stadtraum. Berlin 1988 (Bildband sowie Künstler- und Ortsverzeichnis). Presse- und Informationsamt des Landes Berlin (Hrsg.): Deutscher Werkbund: Informationen Bauen und Bildende Kunst in Berlin. Berlin 1968 (Berliner Forum 8/68).

Abbildungsnachweis

Alle Fotografien wurden vom Verfasser gemacht und zeigen den Zustand der Objekte im September 1990, soweit nicht anders vermerkt.

59 Richard Wagner und Berlin (III) „Meine schriftstellerischen Bekannten Heinrich Laube und Adolf Glaßbrenner" Von Werner Notz

Die ersten Gebäude Berlins, über die Richard Wagner noch vor seinem ersten Aufenthalt in der preußischen Hauptstadt schreibt, sind die damaligen Berliner Gefängnisse: die Stadtvogtei am Molkenmarkt und die Hausvogtei an dem nach ihr benannten Platz. Aus Magdeburg hatte Wagner nämlich voll Anteilnahme das Schicksal seines Freundes aus Leipziger Tagen, Hein­ rich Laube, verfolgt, der vom 25. Juli 1834 bis 20. März 1835 in Berlin das Los eines Unter­ suchungsgefangenen erdulden mußte.1 Das königliche Polizeipräsidium am Molkenmarkt, in dessen hinterem Teil sich die Stadtvogtei befand, war bereits im 16. Jahrhundert ein kurfürstliches Haus, das brandenburgische Staats­ männer und Militärs bewohnten. Seit 1776 von der Tabakverwaltung genutzt, überließ es der preußische Staat nach deren Auflösung 1791 dem Berliner Magistrat als Polizeipräsidium und Stadtvogtei; eingesperrt wurden dort alle „nichteximierten" Personen, also Bürger ohne besonderen Stand und Rang, für die das Stadtgericht zuständig war. Infolge des ständige stei­ genden Bedarfs an Zellen wurden später auch die Anwesen Molkenmarkt 2 und das „Schwe­ rin-Haus" (Molkenmarkt 3) der Stadtvogtei angegliedert, dieses im Vorderhaus als Kriminal- gericht genutzt.21889 wurde das Polizeipräsidium in den Neubau am Alexanderplatz verlegt. Die alte Stadtvogtei am Molkenmarkt diente zunächst verschiedenen städtischen Einrichtun­ gen als Bürohaus; zunehmend zogen aber kleine Gewerbebetriebe, Handwerker und Läden ein.3 Seit 1936 bestanden Pläne, auf einem von Molkenmarkt, Stralauer Straße, Mühlendamm und Spreeufer begrenzten Areal eine neue Reichsmünze zu errichten; 1942, als die Bauarbei­ ten kriegsbedingt eingestellt werden mußten, war anstelle der Anwesen Molkenmarkt 1 und Molkenmarkt 2 das Verwaltungsgebäude der Münze fertiggestellt, am Ufer der Spree am Mühlendamm gegenüber dem Ephraim-Palais gelegen. Sehenswert ist an diesem Gebäude die Kopie des „Berliner Münzfrieses", eine Schöpfung von Gottfried Schadow.4 Das „Schwerin-Haus" (Molkenmarkt 3), vermutlich nach Plänen von de Bodt 1704 erbaut, ist ein dreigeschossiger Putzbau mit Sandstein-Gliederungen, stark von der zeitgenössischen Ber­ liner Architektur abweichend: im Erdgeschoß ein nur wenig hervortretender Mittelrisalit und Stichbogenfenster, im ersten Stock Rundbogenfenster mit Reliefs von Kindergruppen, welche die Jahreszeiten und die mit ihnen verbundenen Arbeiten darstellen, zwei Steinbalkons auf Konsolen mit durchbrochenem steinernem Brustgeländer, auf dem Dachgesims eine bekrö­ nende Mittelgeruppe. Dieses Gebäude sollte nach den Vorkriegsplänen als nichtöffentliches Museum für Münztechnik in die Neubauanlage integriert werden.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Bauarbeiten nicht mehr aufgenommen, in die beiden Anwesen zog das Kulturministerium der DDR ein. Seit der deutschen Einheit residiert nun dort, wo sich einst die Stadtvogtei befand, die Außenstelle Berlin des Bonner Innenministe­ riums. Das Areal der 1750 errichteten Hausvogtei, Gefängnis für Personen gehobenen Standes, die der Gerichtsbarkeit des Kammergerichtes unterstanden, diente ursprünglich als landwirt­ schaftlich genutztes „Vorwerk", später für Stallungen des Königlichen Jägerhofes. Nach meh­ reren Umbauten und Neubauten im Innenhof wurde die Hausvogtei 1881 mit der Inbetrieb­ nahme des modernen Zellengefängnisses Moabit überflüssig. Die Gebäude wurden vorüber­ gehend als Wohnraum genutzt, sogar eine Bezirkswache der Berliner Polizei zog noch ein, doch

m 1891 kam es zum Abriß: die benachbarte Reichsbank errichtete anstelle der Hausvogtei einen Erweiterungsbau, das Grundstück wurde Teil des riesigenReichsbank-Areals , das im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche sank. Da das sozialistische Ostberlin am Wiederaufbau dieses kapitalistischen Symbol-Gebäudes kein Interesse hatte, ist das Gelände wie einst vor Jahrhun­ derten wieder zum Brachland geworden, auf dessen Leere die Herren des Politbüros aus ihrer gegenüberliegenden Schaltzentrale herunterblickten — seit 1990 tun es andere.6 Heinrich Laube lernte diese Bauten Berlins als politisch Verfolgter wegen Wahrnehmung von Grundrechten wie Meinungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit kennen. Nach seiner Auswei­ sung aus Sachsen im Frühsommer 1834 flüchtete sich Laube nicht in den nächsten deutschen Staat, um dort wieder auf preußischen Druck wegen seiner jungdeutschen Betätigung verjagt zu werden, sondern ging nach Berlin, auf seine Verhaftung wartend, schon die beiden mögli­ chen nächsten „Wohnorte", Stadtvogtei und Hausvogtei, besichtigend. Die „romantisch an der Spree gelegene" Stadtvogtei, eingerichtet für „gewöhnliche Spitzbuben", vermittelte ihm ein „zutraulicheres Aussehen", durch die ständigen „Einführungen" neuer Gefangener sah er zudem die Möglichkeit zu unterhaltsamen Studien der unterschiedlichsten Charaktere — kurzum, Laube zog es vor, „im Notfall dahin" gebracht zu werden. Sein Wunsch ging in Erfül­ lung: am 25. Juli 1834 wurde er verhaftet und in die Stadtvogtei eingeliefert. Während seines sechswöchigen Aufenthaltes in einer schmalen Zelle mit Blick auf den kleinen Hof, ohne Son­ nenstrahl, da nach Norden gerichtet, verbringt Laube die Zeit mit literarischen Arbeiten, wan­ delt sich dabei vom Novellisten zum Erzähler. Nach vier Wochen kommen ihm Fluchtgedan­ ken : wie könnte er durch das Tor des an die Spree grenzenden Spazierhofes und dann über den Fluß auf die andere Seite gelangen ? Schon bald erkennt Laube freilich, daß dies die „Honigwo­ chen" seiner Gefangenschaft waren: drehten sich die Verhöre bislang um seine „Reisenovel­ len" und einzelne Artikel der „Zeitung für die elegante Welt", werden Anfang September die Untersuchungen auf seine Jahre zurückliegende burschenschaftliche Betätigung in Halle aus­ gedehnt — und Laube wird am 7. September 1834 in die Hausvogtei, Verwahrungsort für „gefährliche Verbrecher", verlegt. Die „eintönige Hausfront" mit ihrer „fehlenden Physiognomie" der nach dem gefürchteten Untersuchungsrichter auch „Hotel Dumbach" genannten Hausvogtei hatte in Laube bereits bei der Besichtigung schlimme Befürchtungen geweckt, die durch die Realität noch übertroffen werden: eine finstereZelle , genannt das „Loch", mit einer Blechblende vor dem Fenster, ohne Buch und Papier, gemartert von der „Langeweile der Verzweiflung", ohne „Abfluß der Gedanken", erst nach Monaten Freistunden und einen Zellengenossen, kurzum, Laube ver­ bringt in der Hausvogtei die „traurigsten Monate meines Lebens". Doch sobald er Februar 1835 wieder Tinte und Feder hat, schreibt er sich seine Qualen von der Seele, beginnt „Die Krieger", verarbeitet dabei den nahe erlebten polnischen Freiheitskrieg; seine Hafterlebnisse finden in „Die Bürger" ihren Niederschlag. Wagner, der dies alles in Magdeburg durch eine Jugendfreundin Laubes mitbekommt, beschreibt dessen Los im „jungdeutschen" Sinn: „Laube geht es gut: er sitzt in der Berliner Hausvogtei und darf nicht lesen, nicht schreiben, nicht rauchen", kommentiert später in „Mein Leben" die Untersuchungshaft als „höchst quälend" für Laube.7 Als Laube am 20. März 1835 unter Auflagen freigelassen wird, ist er ein „bleicher, elender" Mann mit einem brustlangen Bart, der noch lange an den Haftfolgen leidet, monatelang unfähig zur Ausübung seiner Schriftstellerei. Doch Wagner schreibt erfreut „Laube ist frei - wenigstens aus dem Gefäng­ nis".8. Als der 23jährige Richard Wagner Mai 1836 voll Hoffnungen nach Berlin kommt, wartet Heinrich Laube in der preußischen Hauptstadt „privatisierend und mit literarischen Arbeiten

61 beschäftigt" auf das Urteil in seinem Prozeß; für Wagner ist Laube sofort ein „vertrauter Anhalt", der Umgang mit ihm hat „immer etwas Tröstliches", ja Wagner wird im Rückblick sagen, daß er durch Laube „die einzigen, einigermaßen lohnenden Eindrücke von Berlin gewonnen hat", wobei Laube die „besondere Bewandtnis" des „leidenschaftlich verzehrt aus­ sehenden jungen Mannes" erahnt.9 Laube führt den Freund aus Leipziger Tagen in die Berliner literarische Gesellschaft ein, macht ihn mit den „ihm dienenden Schriftstellern"w bekannt, namentlich mit Adolf Glaßbrenner. Laube selbst hatte Adolf Glaßbrenner bereits Mai 1834 als „frisches witziges Berliner Blut" im Hotel „de Russie" kennengelernt, wo Glaßbrenner zu jener Zeit seinen ständigen Wohnsitz hatte. Der „junge Raufbold", der Laube durch dessen „Zei­ tung für die elegante Welt" bereits geistig gefolgt war, hatte sich dem „jungdeutschen" Wort­ führer rasch mit der „Hingabe eines Glaubensgenossen" angeschlossen. Laube erlebte Glaß­ brenner als „engagiert liberal", der „alles im Himmel und auf Erden mit dem Maßstab des Liberalismus mißt", in jungdeutscher Manier fragt „warum schlecht leben, wenn einem in jedem Augenblick der Kuckuck holen kann".11 Laube und Glaßbrenner machen „furchtbares Aufsehen und Hailoh" um Wagner, feiern ihn als „erstes Genie der Welt", ihn überall als solches „ausposaunend".12 Laube, der eine Schwä­ che für Wagners jungdeutsches „Liebesverbot" hegt, empfiehlt dem Nachwuchskomponisten, sein Werk am Königstädtischen Theater zur Aufführung zu bringen, gibt ihm Tips für die Thea­ terverhandlungen, plant für Wagner eine PR-Kampagne, sogar im Ausland.13 Deshalb stellt Adolf Glaßbrenner den Nachwuchskomponisten bereits am 19. Mai, einen Tag nach Wagners Ankunft in Berlin, dem Direktor des Hauses, Karl Friedrich Cerf, vor; dabei versucht auch Glaßbrenner, den Theaterdirektor zur Annahme von Wagners Werk zu bewegen.14 Das wird auch der innersten Überzeugung des „hiesigen Schriftstellers" entsprochen haben, der wie Wagner in seinem „Liebesverbot" im Adel die Inkarnation des Spätfeudalismus sieht. Glücklicherweise hat Adolf Glaßbrenner sein nur wenige Jahre umfassendes Tagebuch wäh­ rend Wagners Berlin-Aufenthalt am 20. Juni 1836 begonnen15, somit neben Laubes Schilde­ rungen des Jahres 1834 und Wagners eigenen Berichten einen Anhaltspunkt für das Treiben der drei jungdeutschen Geister geliefert. Wagner berichtet, sich mit Laube, Glaßbrenner und anderen in der Friedrichsstadt zu treffen, um Ausflüge nach Charlottenburg zu machen, mit Laube „jugendlich erregt" Spaziergänge durch Berlin zu machen, an die er sich bei seinem Ber­ lin-Aufenthalt Frühjahr 1842 voll Sehnsucht erinnert.16 Gesprächsgegenstand werden dabei auch Laubes Arbeiten am zweiten Band des „Jungen Europa", gewidmet dem polnischen Frei­ heitskampf, gewesen sein — Wagner schreibt ja während des Berliner Aufenthaltes die „Ouver­ türe Polonia" P Entsprechend Glaßbrenners Notizen wird man sich im Tiergarten „In den Zel­ ten" „sehr gut unterhalten haben", über Liberalismus und jungdeutsche Anliegen im allgemei­ nen diskutiert haben, über den von allen dreien unterstützten polnischen Freiheitskampf, wohl auch über die in jenen Tagen von Glaßbrenner notierte massive Kritik an Goethe.18 Wagner ist offensichtlich von Glaßbrenner stark beeindruckt; er imitiert in seinen Briefen aus Berlin des­ sen Galgenhumor19, hätte keine Bedenken, die Erstaufführung des „Liebesverbotes" von Laube und Glaßbrenner überwachen zu lassen; die beiden würden schon dafür sorgen, daß „die Leute recht zufrieden mit mir" sind.20 Nach dem Scheitern seiner Pläne mit dem Königstädtischen Theater hält Wagner nichts mehr in Berlin. „Ohne weiter darum angegangen zu werden", kümmert sich Laube „energisch" darum, Wagner aus seiner „Berliner Verlassenheit" zu befreien und ihm das Erreichen seines nächsten Zieles Königsberg zu ermöglichen: der „treffliche Freund" treibt bei mehreren Perso­ nen, darunter wohl auch Glaßbrenner, Wagners Reisegeld auf.21. Vor der Abreise am 7. Juli 1836 ermahnt Laube ihn noch, seine Fähigkeiten zu pflegen, sich nicht in den Bann der „Flach-

62

i heit des Theaterlebens" ziehen zu lassen, sich Büchern statt Liebchen zu widmen — Wagner verschweigt ihm freilich, daß er mit festen Heiratsplänen zu seiner Minna nach Königsberg reist.22 Zwar sind 1836 Wagner und Glaßbrenner „jungdeutsch" bewegt — doch schon bald führen ihre geistigen Wege in gegensätzliche Richtungen. Bereits 1834 hatte sich Glaßbrenner gegen neuromantische Komponisten ausgesprochen, da ihr Werk breiten Schichten nicht verständ­ lich sei, worauf allein es aber Glaßbrenner ankommt — deshalb feiert er Johann Strauß Vater und dessen Walzer.23 Glaßbrenners Ziel ist entsprechend seinem Bekenntnis zur menschlichen Wirklichkeit die Volksbühne; den Rückgriff auf geschichtliche und mythologische Stoffe lehnt er als Abkehr von einer realitätsnahen Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die sich an der gesellschaftlichen Zukunft orientiert, ab.24 Ganz anders Wagner: für ihn war die jungdeutsche Bewegung, die Auflehnung gegen die alten Meister, nur eine vorübergehende Erscheinung vor allem durch den Einfluß Laubes, die mit dem „Rienzi" abgeschlossen ist. Wagner bewegt sich von da an auf den Spuren historischer und mythologischer Stoffe Richtung Gesamtkunstwerk, während Glaßbrenner „System-Menschen" ablehnt, da sie „immer ihr einzelnes Gute tödten, weil sie etwas Ganzes bringen wollen, und unser Wissen Stückwerk bleibt".25 So wird Wagner in den sechziger und siebziger Jahren zum Ziel von Glaßbrenners Attacken und Spott, vor allem in der „Berliner Montagszeitung". Eine beträchtliche Zahl bissiger Äußerungen über Wagner und sein Werk im „Wörterbuch der Unhöflichkeit" stammt aus Glaßbrenners Zei­ tung.26 Ein Zeugnis dieser Spannungen ist heute noch das Grabmal Karl Tausigs (1841—1871) auf dem Jerusalemskirchhof III (Mehringdamm 21), das einen Grabspruch von Richard Wag­ ner trägt:

Reif sein zum Sterben, Des Lebens zögernd spriesende Frucht, Früh reif sie zu erwerben In Lenzes jäh erblickender Flucht, — War es Dein Loos, war es Dein Wagen, Wir müssen Dein Loos wie Dein Wagen beklagen.27

Adolf Glaßbrenner kommentierte diesen letzten Gruß als „auf Stelzen gehenden Unsinn" und verfaßte ein Spottgedicht:

War es Dein Loos, war es Dein Wagen, O Tausig Eine Grabschrift so grausig, Die geistlos gedichtet, Dich und Dein Wirken vernichtet, Von Richard Wagner friedhöflich zu tragen: So muss ich Dein Loos wie Dein Wagen beklagen?28

Fünf Jahre später hat Adolf Glaßbrenner selbst auf dem Jerusalemskirchhof III seine letzte Ruhe gefunden.

Anschrift des Verfassers: Werner Notz, Mühlenstraße 1/2, 0-1162 Berlin

63 Anmerkungen

1 Heinrich Laube schildert seine Erfahrungen und Erlebnisse in den beiden Berliner Gefängnissen eingehend in seinen Lebenserinnerungen (Heinrich Laube, Gesammelte Werke in 50 Bänden, Bd. 40, Leipzig 1909, 217—290). Diese Darstellung ist Grundlage der nachfolgenden Schilde­ rung von Laubes Gefängnisaufenthalt. 2 Zur Geschichte der Stadtvogtei: Bericht über die Verwaltung der Stadt Berün in dem Jahre 1829 bisincl. 1840, Berlin 1842; E. Fidicin, Berlin historisch und topographisch dargestellt, 1. Auflage Berlin 1843,61 f. ;Mila, Berlin oder Geschichtedes Ursprungs. . . , Berlin und Stettin 1829,272, 436; Friedrich Nicolai, Wegweiser durch Berlin und Potsdam, 6. Auflage, Berlin 1833, 58f.; Borrmann, 359 ff. 3 Die Angaben zur Nutzung nach Auszug von Polizeipräsidium und Stadtvogtei wurden den Berli­ ner Adreßbüchern entnommen. 4 Zu den Bauplänen seit 1936, den fertiggestellten Baumaßnahmen, der weiteren Nutzung und zur Kopie des „Berliner Münzfrieses" im Detail: Otto Uhlitz, Der Berliner Münzfries, in: Der Bär von Berlin, Jahrbuch 1978 des Vereins für die Geschichte Berlins, 51 ff. (76ff.); derselbe, Der Berliner Münzfries und der Neubau der Reichsmünze am Molkenmarkt, in: Der Bär von Berlin, Jahrbuch 1979 des Vereins für die Geschichte Berlins, 119 ff. 5 Zur Geschichte des „Schwerin-Hauses" s. Anm. 2—4. 6 Zur Geschichte der Hausvogtei: Hans Brendicke, Führer auf der Wanderung durch Alt-Berlin- Kölln, Berlin 1918,15; Freiherr von Zedlitz, Neuestes Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam, Berlin 1834,300; E. Fidicin, a. a. O., 144; Nicolai, a. a. O., 58; Mila, a. a. O., 192,297. — Die Angaben zur Nutzung 1881—1891 wurden den Berliner Adreßbüchern entnommen. 7 Richard Wagners sämtliche Briefe, Band I, Leipzig 1967, 169 = Brief an Theodor Apel vom 7. November 1834; Richard Wagner, Mein Leben, München 1976, 111. 8 Richard Wagner, Briefe, Bandl, 197 (Brief an Theodor Apel vom 8. November 1835). 9 Richard Wagner, Mein Leben, 131 ff. 10 Richard Wagner, Briefe, Band I, 281 (Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836). 11 Laube, a. a. O., 228. 12 Richard Wagner, Briefe, Band I, 264 f. (Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836); ebenda, 281 (Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836). 13 Richard Wagner, Mein Leben, 131; Richard Wagner, Briefe, Band I, 310 (Brief an Minna Planer vom 22. Juni 1836) — Aufgrund der deutschen Kleinstaaterei galten andere deutsche Staaten als Ausland. 14 Richard Wagner, Briefe, Band I, 264 f. (Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836); ebenda, 281 (Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836); Richard Wagner, Mein Leben, 131. 15 Das im Stadtarchiv Berlin verwahrte Tagebuch nennt in der Handschrift Glaßbrenners den 20. Juni 1826; unkritisch ist dies auch in der einzigen gedruckten Ausgabe so übernommen (Heinz Gebhardt, Glaßbrenners Berlinisch, Berlin 1933, 111—118). Dieses Datum kann aber nicht stimmen: bereits Tage später notiert Glaßbrenner ein Gespräch mit Heinrich Laube. Glaß- brenner hat Laube aber erst Mai 1834 kennengelernt (Laube, a. a. O., 228). Auffallend ist, daß Glaßbrenner mehrfach auf 1826 statt 1836 datiert, sogar einen „31. Juni" einführt. Da Glaßbren­ ner sich auch als Rätselfinder betätigte, das Zahlenspiel bereits als Mitarbeiter des „Eulenspie­ gels" beherrschte, könnte hinter diesen falschen Datumsangaben System stecken; vielleicht dien­ ten sie auch als Schutz vor Durchsuchung und Beschlagnahme des dann schon „zehn Jahre alten" Tagebuchs. 16 Richard Wagner, Mein Leben, 133; Richard Wagner, Briefe, Band 1,290 (Brief an Minna Planer vom 6. Juni 1836). 17 Vgl. dazu Teil I dieser Serie in den „Mitteilungen" 1991II, 395 ff. 18 Gebhardt, a.a.O., 112f. 19 Richard Wagner, Briefe, Band 1, 281 (Brief an Johanna Rosine Geyer vom 31. Mai 1836). 20 Richard Wagner, Briefe, Bandl, 265 (Brief an Minna Planer vom 21. Mai 1836); ebenda, 268 (Brief an Minna Planer vom 24. Mai 1836). 21 Richard Wagner, Mein Leben, 134.

64 22 Ebenda. 23 Ingrid Heinrich-Jost, Adolf Glaßbrenner, Berlin 1981, 64 f. 24 Ebenda, 211 — ausdrücklich wendet sich Glaßbrenner gegen die Bearbeitung der Nibelungen (Friedrich Hebbel). 25 Gebhardt, a. a. O., 112 (Mitte Juni 1836). 26 Wilhelm Tappert, Ein Wagner-Lexicon, Leipzig 1877; Wilhelm Tappert, Richard Wagner im Spiegel der Kritik (2. Auflage von „Ein Wagner-Lexicon"), Leipzig 1903. 27 Den Grabspruch hat Wagner mit nicht geringem Stolz in seiner Schrift „Das Bühnenfestspielhaus in Bayreuth" wiedergegeben (Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Volksaus­ gabe, Band 9, 6. Auflage, Leipzig 1912, 323 ff.) 28 Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung vom 9. Juli 1873, 446.

Nachrichten

Historische Mitte Berlins

Wir möchten unsere Mitglieder über den einstimmig gefaßten Beschluß unseres Vorstands in Kennt­ nis setzen, der in dieser Form dem Regierenden Bürgermeister E. Diepgen und den Senatoren Dr. V. Hassemer und W. Nagel zur Kenntnis gebracht sowie der Presse zugeleitet worden ist.

Beschluß: Der Vorstand des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, befaßte sich auf seiner letzten Sit­ zung mit der Forderung, wenigstens das ehemalige Außenministerium der früheren DDR unter Denkmalschutz zu stellen. Der Vorstand des Vereins forderte den Senat von Berlin auf, angesichts der Scheußlichkeit des Baues und seiner Architektur von derartigen Vorhaben abzulassen und den Abriß des früheren Außenmini­ steriums zu beschließen. Der Vereinsvorstand vertrat die Auffassung, daß die historische Mitte Berlins soweit wie möglich wie­ der hergestellt werden müsse. Der Verein plant, in naher Zukunft in einer öffentlichen Veranstaltung mit Berliner Experten der Frage nach dem Wiederaufbau des Schlosses und dem künftigen Schicksal des Staatsratsgebäudes nachzugehen.

65 Studienfahrt nach Braunschweig und in den Ostharz vom 11. bis 13. September 1992

Freitag, 11. September 1992 8.30 Uhr Abfahrt mit Omnibus am Hauptgebäude der TU Berlin, Straße des 17. Juni 135, U-Bahnhof Ernst-Reuter-Platz, S-Bahnhof Tiergarten 11.30 Uhr Beziehen des Hotels 13.00 Uhr Gemeinsamer Mittagsimbiß auf Einladung der Feldschlößchen Brauerei AG, an­ schließend Besichtigung der Feldschlößchen-Brauerei AG, Wolfenbütteler Str. 33, 3300 Braunschweig, Begrüßung und Führung Dipl.-Br.-Ing. Kurt Neunert 19.00 Uhr Treffen im Braunschweigischen Landesmuseum am Burgplatz 1, Vortrag, Gerd Biegel, M. A., Direktor des Braunschweigischen Landesmuseums, zur Geschichte und Konzep­ tion des Historischen Museums. Führung durch das Braunschweigische Landesmuseum mit anschließender Diskussion bei einem Glase Wein auf Einladung des Museums. Sonnabend, 12. September 1992 9.30 Uhr Stadtrundgang (Führung Jürgen Neubauer), Treffpunkt Burgplatz mit Besichtigung des Doms Heinrichs des Löwen, Burg Dankwarderode (Mittelalter-Abteilung des Herzog- Anton-Ulrich-Museums), Altstadtmarkt und Historischem Rathaus, Gang quer durch die Stadt zum Magni-Viertel mit Besuch im Städtischen Museum. 12.00 Uhr Mittagspause Besuch der Abteilung Jüdisches Museum des Braunschweigischen Landesmuseums im Ausstellungszentrum hinter St. Aegidien (Führung Dr. Hans-Jürgen Derda), ggf. Vikto­ ria-Luise-Ausstellung. Rückweg zum Hotel mit Kaffeepause 19.00 Uhr Gemeinsames Abendessen 20.00 Uhr Treffen im Braunschweigischen Landesmuseum am Burgplatz 1, Vortrag Gerd Biegel, M. A., Direktor des Braunschweigischen Landesmuseums: Braunschweig und Preußen im 18. Jahrhundert. Sonntag, 13. September 1992 9.00 Uhr Abfahrt mit Reisebus 10.30 Uhr Halberstadt, Führung (auch in Quedlinburg) Museumsdirektor Dr. Adolf Siebrecht. Besuch des Städtischen Museums und des Gleimhauses, Besichtigung von Dom und Liebfrauen sowie kurzer Rundgang im Altstadtbereich. Anschließend Quedlinburg, Besuch St. Servatius und Feininger-Galerie. Mittagessen in der Burg (Stiftsschenke). Heimfahrt über Hamersleben (Stiftskirche) und Sommerschenburg (Gneisenau) bis Autobahn-Auffahrt Marienborn. Für die Unterkunft steht das Frühlings-Hotel, Bankplatz 7,3300 Braunschweig, Tel. (05 31) 4 9317/ 49318, Telefax (05 31) 13268, zur Verfügung, in dem eine hinreichende Zahl von Zimmern, auch Einzelzimmern, sämtlich mit Dusche/Bad/WC, reserviert werden konnte. Die Übernachtung ein­ schließlich Frühstücksbuffet kostet 58 DM pro Person im Doppelzimmer, 68 DM pro Person im Ein­ zelzimmer. In einigen Fällen konnte das Restaurant noch nicht gebucht werden, in dem die Mahlzeit eingenommen werden soll. Es ist aber sichergestellt, daß die Verköstigung wie in all den Vorjahren zur Zufriedenheit klappt. Das Teilnehmerhonorar beläuft sich auf 139 DM, es schließt die Omnibusfahrt, alle Führungen, Besichtigungen und Eintrittsgelder ein. Anmeldungen werden bis spätestens 31. Juli 1992 bei Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Tel.: 45 09—264 erbeten. Dann erhalten alle Teilnehmer das endgültige Programm zusam­ men mit dem üblichen Fragebogen.

66 Buchbesprechung

Berlin im November. Texte: Anke Schwartau, Cord Schwartau und Rolf Steinberg. Fotos: Klaus und Dirk Lehnartz, Pressefoto Mrotzkowski, Günter Peters, Zenit u. a. Berlin: Nicolaische Verlagsbuch­ handlung, 1990.167 Seiten, 24,80 DM. - Bilder aus Berlin. Der Weg zur deutschen Einheit. Bildre­ daktion: Rolf Steinberg. Fotos: Paul Langrock, AU Paczensky, Günter Peters, Günter Schneider, Andreas Schoelzel, Hans Peter Stiebing u. a. Chronologie: Richard Schneider. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 1990. 150 Seiten. Die beiden Bildbände, ähnlich in der Aufmachung, ergänzen sich inhaltlich: auf „Berlin im Novem­ ber" mit Fotos von 1989 folgt „Der Weg zur deutschen Einheit" bis zum 4. Oktober 1990. [Statt des 3. Oktober, des Tages der deutschen Einheit, wurde der 4. Oktober 1990 als Abschlußtag gewählt, weil an diesem Tag im Berliner Reichstagsgebäude erstmals seit 57 Jahren wieder „ein frei gewähltes, demokratisches gesamtdeutsches Parlament" zusammentrat (S. 149).] „Berlin im November" enthält außer Bildern auch ein Vorwort des damaligen Regierenden Bürgermeisters Walter Momper, einen Essay unter dem Titel „Berlin — Wiedergeburt einer europäischen Metropole?" über die Jahre der Teilung durch die Mauer 1961 bis 1989 und deren Überwindung sowie eine „Chronik der Ereignisse" vom 13. August 1961 bis zum 31. Dezember 1989; alle Texte, auch die knappen Bildunterschriften, mit englischer und französischer Übersetzung (auf die der Folgeband verzichtet). Statt eines Essays sind — nach einem Vorwort von Richard Schneider — in diesem Band drei Texte als zeitgeschichtliche Dokumente abgedruckt: die „Gemeinsame Erklärung des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper und des Oberbürgermeisters Tino Schwierzina am 2. Oktober 1990 im Rathaus Schöne­ berg" („Erklärung zur Wiederherstellung der Einheit Berlins", S. 8 f.), die „Fernseh- und Rundfunk­ ansprache von Bundeskanzler Helmut Kohl am Abend des 2. Oktober 1990" („Ein Tag der Freude, des Dankes und der Hoffnung", S. 10—12) und die „Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei einem Staatsakt zum ,Tag der deutschen Einheit' in der Berliner Philharmonie am 3. Oktober 1990" („Sich zu vereinen heißt teilen lernen", S. 13—24). Eine knappe „Chronologie" der Ereignisse vom 18. Januar 1989 bis zum 4. Oktober 1990 (S. 145—149) beschließt diesen Band, der weit mehr Fotos von „Staatsaktionen" enthält als der erste, in welchem sehr viel stärker die Atmo­ sphäre der letzten Wochen des Jahres 1989 eingefangen ist in Bildern, die bei allen, die diese Epoche in Berlin miterlebt haben, die Erinnerung an die bewegenden Ereignisse wieder wachrufen wird. Zugleich machen diese — im doppelten Wortsinn historischen — Bilder deutlich, in welchem Zeitraf­ fertempo sich hier Geschichte abgespielt hat und wieviel uns heute bereits von diesen Bildern trennt. Doch nicht nur für die in Berlin „Dabeigewesenen" werden diese Fotodokumentationen die schon geschriebenen und noch zu schreibenden historischen Rückblicke anschaulich illustrieren. Christiane Schuchard

Im zweiten Quartal 1992 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Selmke, Wolf-Jürgen, Disponent Bolstorff, Annemarie Berchtesgadener Straße 33 Hüninger Straße 37 1000 Berlin 30 1000 Berlin 37 Tel.: 213 49 31 (Karl-Heinz Grave) Tel.: 8313103 Weil, Hans, Techn. Angestellter von Drigalski, Fedor, Rentner Undinestraße 10 Bielefelder Straße 10 a 1000 Berlin 45 1000 Berlin 31 Tel.: 8615810 Dr. Hutter, Peter, Wiss. Volontär/Staatl. Schlösser u. Gärten Akazienstraße 12 1000 Berlin 62 Tel.: 7842434

67 Veranstaltungen im III. Quartal 1992

Sommerpause im Monat Juli

1. Sonnabend, den 1. August 1992, 11 Uhr: Sommerlicher Spaziergang durch den Neuen Garten. Leitung: Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt in Potsdam, Haltepunkt des Busses 106 von Wannsee kommend, an der Endhaltestelle der Straßenbahn, Nähe Schwa- nenallee. 2. Sonntag, den 23. August 1992, 11 Uhr: Sommerausflug des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Besichtigung der historischen Räume des Schlosses Oranienburg. Lei­ tung: Frau Dawid. Anschließend gegen 13.15 Uhr in freier Entscheidung Mittagessen oder Imbiß im Hotel Oranienburger Hof. Individuelle Anfahrt, Fahrverbindungen S-Bahnhof Oranienburg, dann etwa 500 Meter Fußweg. Treffpunkt Kreismuseum Ora­ nienburg am Schloß. Anmeldungen bis 7. August 1992 telefonisch unter 8 54 5816, ab 19 Uhr. 3. Montag, den 7. September 1992,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter WoU­ schlaeger: „Anmerkungen zu Haus und Park Neuhardenberg". Pommernsaal des Rat­ hauses Charlottenburg. 4. Vom 11. bis 13. September 1992 Studienfahrt nach Braunschweig und in den Ostharz. Leitung Herr Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Programm S. 66. 5. Sonnabend, den 26. September 1992,10 Uhr: Führung durch das ehemalige Bankenvier­ tel. Friedrich-/Ecke Behrenstraße. Leitung: Herr Hans-Werner Klünner. Treffpunkt U-Bhf. Französische Straße, Nordausgang.

Bibliothek: BerUner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 772 34 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-264. Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteüungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 BerUn 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. HersteUung: Westkreuz-Druckerei BerUn/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

68 FcdlCtt *' ß-W S^-bliothek A 1015 F MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

88.Jahrgang Heft 4 Oktober 1992

Johann Friedrich Dieffenbach Johann Friedrich Dieffenbach und sein Berliner Umfeld* Ein Gedenkblatt zum 200. Geburtstag Von Walter Hoff mann- Axthelm

Als der preußische Staatsminister für die geistlichen Unterrichts- und Medizinalangelegenhei­ ten Karl Freiherr von Stein zum Altenstein (1770—1840) am 22. Mai 1829 die Ernennung des seit sechs Jahren als praktischer Arzt in Berlin wirkenden Dieffenbach zum „Charitearzt bei der chirurgischen Station" vollzog, hatte er den Grund gelegt für die akademische Laufbahn eines der bedeutendsten Chirurgen des 19. Jahrhunderts. Dieser Johann Friedrich Dieffenbach wurde am 1. Februar 1792 in Königsberg i. Pr. geboren, wo sein Vater Conrad Philipp seit kurzem als Magister an der hochangesehenen Stadtschule, dem Collegium Fridericianum, wirkte. Zwei Jahre später starb er mit 30 Jahren, die Mutter, Tochter des Rostocker Ratschirurgen Buddig, kehrte mit zwei Kindern in ihre Heimatstadt zurück, wo der Sohn aufwuchs, die Lateinschule besuchte und 1810 das Studium der Theologie begann. 1813, als sein mecklenburgischer Landesherr im Aufstand gegen Napoleon zur Bil­ dung eines freiwilligen Jägerkorps aufrief, meldete er sich zu einer berittenen Einheit, und ein Pferdenarr ist Dieffenbach zeitlebens geblieben. Da die Mecklenburger nur auf Nebenkriegs­ schauplätzen eingesetzt wurden, liefen die Kampfhandlungen bis auf ein Reitergefecht mit den auf Napoleons Seite streitenden Dänen im wesentlichen an dem begeisterten Freiheitskämpfer vorbei, so daß er im Mai 1814, wie er schreibt, „ehrenvoll nach Hause" ging. Daheim in Rostock hatte er den inzwischen erfolgten Tod der sehr geliebten Mutter zu beklagen. Der heimgekehrte Krieger gab nach langem Schwanken die Theologie auf und begann 1816, also mit 24 Jahren, in seiner Geburtsstadt Königsberg das Studium der Medizin, wo er durch den bedeutenden Karl Ernst von Baer{ 1792—1876) in die Anatomie und Physiologie, durch Karl Unger {119,2—1835) in die Chirurgie eingeführt wurde. In Ungersbescheidener 10-Bet- ten-Klinik unternahm Dieffenbach Selbstversuche, verpflanzte Haare fremder Personen mit Erfolg in seinen Arm. Als begeisterter Schwimmer fand er aber auch Zeit, eine städtische Schwimmschule zu gründen und zu betreuen; folgenreicher war, daß er 1818 nach dem Besuch eines Wartburgfestes Mitbegründer der Königsberger Burschenschaft wurde, was ihm 1819 nach Einsetzen der Demagogenverfolgung den Entzug des Stipendiums und beinahe die Rele­ gation eingetragen hat. Eine weitere Folge war die Auflage, die Vaterstadt zu verlassen, was ihm umso schwerer fiel, als er inzwischen in leidenschaftlicher Liebe zu der neun Jahre älteren Frau des prominenten Königsberger Arztes Motherby verfallen war. Johanna, eine nach Wilhelm von Humboldt „sehr kluge und gute aber gar nicht hübsche, eigentlich häßliche Frau", hatte schon einige Affä­ ren hinter sich, als sie die Gefühle des 27jährigen Studenten ebenso heiß erwiderte. Dieser ging 1820 nach Bonn, wo er in Philipp von Walther (1182—1849) einen chirurgischen Lehrmeister von Rang gefunden hat, der die operative Begabung seines Schülers erkannte und förderte. Selbstbewußt schrieb der Student an seine Schwester: „Zur Chirurgie bin ich geboren. Meine technische und mechanische Fertigkeit der Finger läßt mich mit der Tüchtigkeit eines alten Meisters jede Operation machen."

* Festvortrag, gehalten am 9. April 1992 auf dem Dieffenbach-Symposium „Ästhetische Gesichts­ chirurgie" an der Berliner Charite.

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4 Abb. 1: Die „Alte Charite", erbaut 1785-1800, 1910 größtenteils abgebrochen

Walther gewährte diesem Naturtalent bald eine gewisse Selbständigkeit und verschaffte ihm nach anderthalb Jahren einen Aufenthalt in Paris als Betreuer einer von ihm am Auge operier­ ten russischen Fürstin. Hier lernte er die Pariser Chirurgen kennen, den dominierenden Dupuytren (1777—1835) und den Wundarzt der Napoleonischen Feldzüge Larrey (1766—1842), der ihm ein glänzendes Zeugnis auf den Weg gab, auch frischte er seine theoreti­ schen Kenntnisse bei dem führenden Experimentalphysiologen Magendie( 1783—1855) auf. Nach Lösung von der Fürstin führte ihn der Weg für einige Monate nach Montpellier, der Stadt, in der im 14. Jahrhundert Guy de Chauliac (gest. um 1368) mit seinem Werk „Chirurgia magna" den Grund für die europäische Chirurgie gelegt hatte. Jetzt lernte er bei Jacques Mathieu Delpech (1777—1832) die geschlossene Sehnendurchtrennung kennen, die er später, nach dem Beispiel seines Freundes Louis Stromeyer durch einen kleinen Hautschnitt ausge­ führt, so meisterhaft handhaben wird. Da geriet er in den Begeisterungsstrudel für den griechi­ schen Befreiungskampf gegen die Türken, als Arzt wollte er helfen und begab sich zur Einschif­ fung nach Marseille, doch fehlte es zunächst noch am Gelde. Hier fand ihn die herbeigeeilte Johanna Motherby, und es gelang ihr, ihn nach Deutschland, nach Würzburg zurückzuholen, wo er neben anderen Größen den Internisten Johann Lucas Schönlein (1793—1864) kennen­ lernte, der später nicht ohne sein Mitwirken nach Berlin berufen wurde. In Würzburg verfaßte Dieffenbach die in seine Zukunft weisende experimentelle Dissertation „Nonnulla de Regeneratione et Transplantatione" (Einiges über Wiederherstellung und [Gewebs-] Überpflanzung), die er seinem Lehrer von Walther widmete. Nun hatte er mit 30 Jahren zwar den Doktortitel erworben, doch es fehlte noch das Staatsexamen, das er als gebür­ tiger Preuße in Berlin abzuleisten hatte. Im ersten Halbjahr 1823 war auch diese letzte Klippe umschifft, sofort folgte die Niederlassung in Berlin als „Arzt und Operateur".

71 Das war zunächst eine reine Armenpraxis, doch bald sprachen sich seine Leistungen herum, so daß er 18 24 die inzwischen geschiedene Johanna heimführen konnte. Wie zuvor in Königsberg eröffnete sie bald einen literarischen Salon, was dem vielbeschäftigten Arzt die Ruhe raubte, sie führte ihn aber auch bei ihrem alten Freund Wilhelm von Humboldtein, den er, wie uns dessen Bruder A lexanderberichtet, noch auf dem Totenbett betreut hat. Um es vorwegzunehmen: Die an diese Ehe gestellten Erwartungen erfüllten sich nicht, vor allem war es wohl der Altersunter­ schied, der nach einigen Jahren die Scheidung ausgelöst hat. Zu diesem Thema schreibt ein Biograph des Jahres 1883: „Dieffenbach hat viel geliebt, und deshalb möge ihm viel verziehen sein." 1831 ging er eine neue Ehe ein mit der 21jährigen Tochter Emiliedes märkischen Arztes Heidecker, die ihm mit drei gesunden Kindern, zwei Töchtern, einem Sohn, ein volles Fami­ lienglück bescherte. Auch der Praktiker Dieffenbach arbeitete vorwiegend chirurgisch, führte, da es keine Privatkli­ niken gab, selbst Eingriffe wie die Lösung akuter Brucheinklemmungen in seiner oder des Patienten Wohnung durch, dies in einer Zeit, in der keimfreies Arbeiten und Narkose unbe­ kannt waren und alles von der schnellen und geschickten Hand des Operateurs abhing. Leben­ dig schildert er, in welchem Milieu und unter welch primitiven Umständen dies oft geschehen mußte. Und ein Arzt auch der kleinen Leute ist er lebenslang geblieben, ähnlich wie in der Generation zuvor der Prototyp des deutschen Hausarztes, der „alte Heim" (Ernst Ludwig Heim, 1747-1834), und nach ihm der Augenarzt Albrecht von Graefe (1828-1870). Bald nach der Niederlassung finden wir als erste fachliche Veröffentlichung den Bericht über seine Transplantationsversuche, es folgten in den kommenden Jahren Beiträge vorwiegend zur plastischen Chirurgie in allen Regionen, wobei ihn speziell der operative Verschluß der ange­ borenen Gaumenspalte fesselte. 1829 publizierte er die „Gelungene Heilung eines Wolfsra­ chens durch Hasenschartenoperation und Gaumennaht". Auch arbeitete er über die Übertra­ gung von Blut, in Berlin ein Gebiet mit Tradition, hatte doch hier der Leibarzt des Großen Kur­ fürsten Johann Sigismund Elsholtz (1623—1688) 1664 als einer der ersten Blutinjektionen in menschliche Venen ausgeführt. Als Berlin 1831 von einer Cholera-Epidemie heimgesucht wurde, der auch der philosophische Kopf der Universität Georg Hegel (1770—1831) zum Opfer fiel, stellte sich der Chirurg Dief­ fenbach auch dieser Herausforderung: Durch Einleitung präparierten Blutes versuchte er, das Gefäßsystem der Cholerakranken wieder aufzufüllen. Durch seine Veröffentlichungen, auch Vorträge in den ärztlichen Vereinen, vor allem aber durch operative Erfolge war der Neuankömmling schon bald zu einem nicht zu übersehenden Faktor in der Berliner Chirurgengilde aufgestiegen. So war es nicht erstaunlich, daß, als der 2. Wundarzt an der Charite Alexander Kluge (1782—1844), dort für die Chirurgie, die Geburtshilfe und die Stationen der Syphilitiker und Geisteskranken verantwortlich, beim Direktor Rustum Entlastung von der Chirurgie nachsuchte, dafür den 36jährigen Dieffenbach als Nachfolger vorschlug: „Unter allen hiesigen praktischen Wundärzten finde ich nur einen Mann,... und das ist der ebenso talentvolle, als fleißige und bescheidene Dr. Dieffenbach." Als Dieffenbach im Frühjahr 1829 in die Charite eintrat, die sich ja noch in einer Zwitterstel­ lung zwischen militär-ärztlicher und akademischer Ausbildungsstätte befand (Abb. 1), hatte er sich zwei prominenten Chirurgen zu stellen, seinem Chefarzt Rust und dem Direktor des Chir­ urgischen Universitäts-Klinikums von Graefe. Johann Nepomuk Rust (1775—1840, Abb. 2) vertrat von 1818 an als 1. Wundarzt und Gene­ raldivisionschirurg an der Charite die Chirurgie, war auch Vortragender Rat im Ministerium und wurde 1824 ordentlicher Professor der Universität, war also Dieffenbachs oberster Chef. Seine Verdienste waren vor allem organisatorischer Art, sie wirkten sich positiv in ganz Preu-

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. Abb. 2: Johann Nepomuk Rust

ßen aus, seine Zeit als zuverlässiger Chirurg alter Schule aber hatte er jetzt mit 55 Jahren und schwindender Sehkraft hinter sich. Dieffenbachs kongenialer Freund Louis Stmmeyer (1804—1874) beschreibt ihn etwas boshaft in seinen Memoiren: „Er war ein kleiner dicker Mann, sehr kurzsichtig, seine rechte Hand war eben so ungeschickt wie seine linke, man freute sich bei jeder seiner Operationen, wenn der Assistent unverletzt davonkam, aber er war doch ein guter Lehrer." Bald überließ Rust seinem Mitarbeiter Dieffenbach das Operieren und beschränkte sich auf die klinischen Vorlesungen, die er, wie ein anderer Chronist berichtet, nur im Sitzen abhielt, mit einer grünen Tuchmütze auf dem Kopf und einem dicken Teppich unter den in Plüschstiefeln steckenden Füßen. Seine konservative Einstellung selbst auf dem Gebiet der Tumorchirurgie erweist sich in seinem posthum erschienenen Buch „Helkologie, oder Lehre von den Geschwü­ ren". Ganzanders Carl Ferdinand von Graefe(1787-1840, Abb. 3), 1810durch Wilhelm vonHum- boldt mit 23 Jahren als erster Direktor des Klinisch-chirurgisch-augenärztlichen Instituts der eben begründeten Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen; er war also als Chefarzt ein Jahr jünger als Dieffenbach bei Beginn seines Medizinstudiums. Als Graefe sich 1813 zur Befreiungsarmee meldete, wurde er von König Friedrich Wilhelm III. zum Divisions-General- chirurgus mit der Aufsicht über das gesamten Lazarettwesen zwischen Weichsel und Weser ernannt, eine gewaltige Aufgabe, die er vorbildlich erfüllt hat. Nach Friedensschluß rekla­ mierte ihn die Universität und stellte ihm nach zunächst recht kümmerlicher Unterbringung zwei Gebäude einer ehemaligen Bleizucker- und Stärkefabrik in der Ziegelstraße 5/6 zur Ver­ fügung, die er 1818/19 umbauen ließ und in denen er und seine Nachfolger Dieffenbach und Langenbeck so erfolgreich gewirkt haben (Abb. 4). Graefe, 1826 auf Vorschlag des polnischen Senats nobilitiert, war ein ebenso eleganter wie gewissenhafter Chirurg mit einer speziellen Neigung zur plastischen Chirurgie im Kiefer- Gesichtsbereich. Ihm war 1816 als erstem überhaupt der Verschluß einer Gaumenspalte gelun­ gen, er führte die erste Entfernung eines von Krebs befallenen Unterkiefers in Deutschland

73 durch, und den Nasenersatz aus körpereigenem Material übte er mit zwei Methoden aus, der 1814 von dem britischen Chirurgen Carpue (1764—1846) ans Licht gezogenen uralten indi­ schen, die sich eines aus dem Stirnbereich entnommenen und um einen Stiel geschwenkten Hautlappens bedient, und der von ihm selbst nach mehr als zwei Jahrhunderten wiedererweck­ ten und bevorzugten italienischen des Gaspare Tagliacozzi(1545—1599), die das Material dem Oberarm entnimmt. Diese Eingriffe erregten natürlich Dieffenbachs höchstes Interesse, wurden bald von ihm aus­ geführt und weiterentwickelt. Er neigte mehr zur indischen Nasenplastik, weil „die Stirnhaut wegen ihrer Dicke und Derbheit ein besserer Stoff ist als die Armhaut". Sein Verhältnis zu Graefe war, da sie beide das Feld der plastischen Chirurgie beackerten, nicht spannungsfrei, doch von gegenseitiger Achtung getragen. So verteidigte er Graefes Primat des Gaumenver­ schlusses gegen die Pariser Chirurgen, er machte sich aber darüber lustig, daß Graefedem indi­ schen und italienischen Nasenersatz noch einen deutschen hinzufügte. Spannungen ergaben sich im Laufe der Jahre mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zwi­ schen! dem impulsiven und selbstbewußten Dieffenbachund dem alternden Rust, die sich erst lösten, als der nun bereits 48jährige Nachwuchschirurg am 25. Mai 1840 mit der Vertretung seines erkrankten Chefs beauftragt wurde, mit berechtigter Hoffnung auf die Nachfolge. Im gleichen Jahr starb Rust am 9. Oktober auf seinem schlesischen Gut. Inzwischen hatte sich aber eine ganz neue Situation dadurch ergeben, daß Graefe am 4. Juli in Hannover auf einer Konsultationsreise — er sollte dort den augenleidenden Kronprinzen, den späteren blinden König Georg operieren — mit 53 Jahren einem Typhus-Infekt erlegen war. Schon am 9. Juli wurde Dieffenbach zum interimistischen Leiter auch der Graefeschen Klinik ernannt. Nun leitete er also zwei chirurgische Kliniken, jedoch beide nur vertretungsweise mit dem einschränkenden Zusatz „ohne weitere Konsequenz", was ihn beunruhigte und zu einem Beschwerdebrief an das Ministerium veranlaßte. Der ihm durchaus gewogene Minister von Altenstein reagierte zunächst mit Schweigen, so daß Dieffenbach verärgert sogar ein Übersie­ deln nach Wien in Erwägung zog, wohin er durch einen früheren Schüler zu Gastoperationen und Demonstrationen geladen war. Dann aber folgte am 2. Oktober 1840 die Ernennung zum Nachfolger von Graefes als ordentlicher Professor und Direktor des Königlich chirurgisch- augenärztlichen Klinikums, das ihm am 6. November offiziell übergeben wurde. Nachfolger von Rust&n der Charite wurde der Leiter der Augenstation Johann Christian Jüng- ken (1793—1875), ein Grae/e-Schüler, der als ein mittelmäßiger Chirurg nunmehr beide Klini­ ken in einer Hand vereinigte. Auf seinem eigentlichen augenärztlichen Gebiet beherrschte er zwar exzellent den Starstich, doch stand er allen Neuerungen wie dem Augenspiegel reserviert gegenüber, so daß sich in den sechziger Jahren der Schwerpunkt der Berliner Ophthalmologie in die Privatklinik des genialen Graefe- Sohnes Albrecht verlagerte, dessen akademische Lauf­ bahn Jüngken jedoch bis zu seinem Ausscheiden 1868 blockierte. Da aber war der Wegbereiter der deutschen Augenheilkunde bereits der tödlichen Tuberkulose verfallen. Dieffenbach war am Ziel. Zwar standen die Räumlichkeiten in der Ziegelstraße mit nur 28 Bet­ ten jenen der Charite erheblich nach, doch hatte er endlich die so lang ersehnte Selbständigkeit. Sein Tagewerk begann um 9 Uhr mit den Hausbesuchen, für ihn wohl auch eine Entspannung, konnte der Pferdefreund doch dabei das stattlichste Gespann Berlins in scharfem Trab selbst durch die Straßen lenken. Der Chirurg saß auch im Vorstand des Vereins für Pferdezucht und verfaßte noch kurz vor seinem Tode eine Schrift über „Das Selbstfahren". Kleinere Eingriffe wurden wie damals üblich in der Wohnung des Patienten, bei Auswärtigen im Hotel durchgeführt, ein Privatassistent hatte sie vorzubereiten. Um 12 übergab er in der Zie­ gelstraße dem Kutscher die Zügel, es folgte die Visite, einige Verbände wurden gewechselt,

74 Abb. 3: Carl Ferdinand von Graefe

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vielleicht etwas operiert, dann hielt er, wie schon zu Graefes Zeiten und bei allen Nachfolgern üblich, von 2 bis 3 die Klinik. Auch der Verfasser sah hier als Student Ende der zwanziger Jahre den letzten Großen im Klinikum A ugust Bier (1861—1949) operieren und erinnert sich dessen Bemerkung, dies sei kein Operationssaal, sondern eine Operationsscheune. Das war natürlich nicht mehr Dieffenbachs Wirkungsstätte, es war der von 1879 bis 1893 unter den Nachfolgern Langenbeck und Bergmann entstandene, uns vertraute Klinkerbau, in welchem sich die Bet­ tenzahl von 28 auf 138 erhöht hat (Abb. 5). Zurück zu Dieffenbach. Nach der Klinik ging er zu Fuß zum Mittagessen in seine Wohnung am Zeughaus 2, ohne Pause folgte dort die Sprechstunde, anschließend vielleicht noch einige Besuche oder dringende Eingriffe. Um 9 Uhr das gemeinsame Abendbrot mit anschließender Plauderstunde und in der Nacht die Schreibtischarbeit. Stromeyer zitiert in seiner Autobiogra­ phie die Charakteristik eines Freundes: „Dieffenbach war ein entschiedenes Genie, voll der edelsten, großartigsten Züge; er hatte ein gewaltige göttliche Liebe zu seiner Wissenschaft. Andere neben sich ließ er nicht gern aufkommen, weil er dann nicht so viel sehen, nicht so viel operieren konnte. Geldinteresse hatte er gar nicht; er kannte den Werth des Geldes nicht. Unter den Berliner Schlemmern lebte er auf das mäßigste; er trank fast nichts, aß auffallend wenig; er schlief fast nie mehr als sechs Stunden, denn abends arbeitete er regelmäßig von 11 bis 2 Uhr in der Nacht, oft noch später."

75 Während sich Graefebci der Studentenausbildung auf klinische Demonstrationen beschränkt hatte, wobei er aber als Novum die Studenten praktisch mitarbeiten ließ, hielt der neue Direk­ tor daneben noch Vorlesungen über allgemeine und spezielle Chirurgie. Da es im Klinikum keine Prosektur gab, mußten sich die zwei Assistenten der Pathologie annehmen, bei der mikroskopischen Diagnose der Geschwülste half der Dieffenbach noch aus Bonn freund­ schaftlich verbundene Johannes Müller(1801—1858), der in Berlin zum Begründer des Fach- ses Physiologie geworden ist. „Wir sind alle seine Schüler gewesen", sagte Rudolf Virchow (1821—1902) über ihn 1858 in seiner Gedächtnisrede in der Berliner Universitätsaula. Drei großen Ärzten, dem 1839 unter Dieffenbachs Mitwirkung von Zürich an die Charite berufenen Internisten Johann Lucas Schönlein, der dort eine neue Ära der Inneren Medizin begründete, dem Physiologen Müllerund dem Chirurgen Dieffenbachverdankte die medizinische Fakultät der jungen Friedrich-Wilhelms-Universität den Aufstieg zur Weltgeltung. Fortgesetzt wurde diese Entwicklung durch den jungen Virchow, der 1844 als Assistent, 1846 als Nachfolger des mit Dieffenbach befreundeten pathologischen Anatomen Robert Froriep (1804—1861) an der Charite seine steile Kometenbahn begann. Bis Albrecht von Graefe den Durchbruch für eine selbständige Augenheilkunde bewirkte, wurde dieses Fach in Deutschland als Anhängsel der Chirurgie verwaltet, so auch in der Ziegel­ straße. Dieffenbach aber hatte ophthalmologische Erfahrungen, er hatte Lidplastiken und Hornhautüberpflanzungen durchgeführt, und über die 1839 publizierte Schieloperation durch Muskeldurchschneidung sagte später der jüngere Graefe, sie allein genüge, um seinem Namen Weltgeltung zu schaffen. Wieder war, wie bei der Sehnendurchtrennung, der Hinweis von Stro- meyer gekommen, der die Operation ersonnen und an der Leiche erprobt hatte, doch die Durchführung am Lebenden dem Freunde überließ. Diese Freundschaft mit dem damaligen Professor in Freiburg, seit 1848 Langenbecks Nachfolger in Kiel, hat erst Dieffenbachs früher Tod gelöst. Der Chronist von 1883 schrieb, die beiden verhielten sich zueinander wie Gedanke und Tat. „Dieffenbach wandelte die Stromeyer'sche Idee in die That und förderte damit ebenso seinen eigenen Ruhm als den seines Freundes." Nur sieben Jahre waren Dieffenbach als Klinikleiter vergönnt, in unablässiger chirurgischer Tätigkeit, unterbrochen 1843 durch eine Berufung nach St. Petersburg an den Zarenhof, um dort durch Sehnendurchtrennung den Klumpfuß eines Zarenenkels zu heilen. Der Eingriff war ein voller Erfolg, über zwei Monate dauerte die Nachbehandlung, doch um das Honorar wurde er geprellt, was er, der Unzählige umsonst behandelt hat, in diesem Fall als Kränkung empfand. Dieffenbachs letzte Schrift, auch sie ein stilistisches Meisterwerk, wurde durch ein Ereignis in den Vereinigten Staaten ausgelöst. Am 16. Oktober 1846 hatte der Zahnarzt William T. G. Morton im General Hospital von Boston bei einer Operation des bedeutenden Chirurgen John Collins Warren die Äthernarkose demonstriert, eine Sensation, die sich wie ein Lauffeuer auch über die alte Welt verbreitete. Nur Monate später erschien Dieffenbachs auf Versuchen beru­ hende Abhandlung. „Der Äther gegen den Schmerz" mit kritischer Stellungnahme. Darin beschreibt er das Eintreten euphorischer Gefühle „besonders beim weiblichen Geschlechte", auch von Tobsucht, stellt aber fest, daß selbst der höchste Schmerz bei den größten Operatio­ nen aufgehoben wird. „Der schöne Traum, daß der Schmerz von uns genommen wird, ist Wirk­ lichkeit geworden. Der Schmerz, dieses höchste Bewußtwerden unserer irdischen Existenz, diese deutlichste Empfindung der Unvollkommenheit unseres Körpers, hat sich beugen müs­ sen vor der Macht menschlichen Geistes." Er erkennt aber auch die Gefahr der Überdosierung und warnt vor Anwendung bei Neigung zu Schlagfluß und Blutsturz. Abschließend die nüch­ terne Feststellung, daß „bei umsichtiger Anwendung für die leidende Menschheit ein bedeu­ tender Gewinn erwachsen ist".

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Abb. 4: Das Chirurgische Universitätsklinikum in der Ziegelstraße, 1820—1878

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Abb. 5: Der Klinikneubau in der Ziegelstraße von der Spreeseite, 1880. Baubeginn 1878

Am 19. Oktober 1847, dem Tage des silbernen Doktorjubiläums, schrieb der 55jährige Chir­ urg: „Es ist mir, als hätten die vielen Kranken, unter denen ich gelebt, mich so gestählt und gestärkt, daß ich auf noch 25 Jahre kontrahiere." Welch tragischer Irrtum! Drei Wochen später, am 11. November, stellte Dieffenbach in der mittäglichen Klinik einen zwei Tage zuvor operier-

77 ten Patienten vor, gab Anweisungen für die Nachsorge und setzte sich in Erwartung des näch­ sten Falles auf ein Sofa, wobei er einen hospitierenden Pariser Kollegen an seine Seite winkte, um ihm in dessen Sprache einige Erläuterungen zu geben. Kaum hatte dieser Platz genommen, fühlte er des Meisters Kopf an seiner Schulter. — Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Bis zu diesem Tage hatte Dieffenbach jeden freien Augenblick für die Abfassung seiner „Ope­ rativen Chirurgie" verwandt, deren erster Band 1845 erschien; der zweite wurde 1848 post- hum von seinem Neffen und Schüler Julius Bühring ediert. So wurde der Nachwelt sein Testa­ ment auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie übermittelt. Im Berliner Bezirk Kreuzberg begegnet sich eine Dieffenbachstraße mit einer Graefestraße, nahe dabei, auf dem Friedrichswerderschen Kirchhof, fand der Chirurg in seiner Grabkapelle die letzte Ruhe (Abb. 6). Dieffenbach konnte wie einst Moses nur einen Blick werfen in das Neuland, das sich durch ein schmerzloses Operieren für die Chirurgie eröffnet hatte, und genau 20 Jahre später begann mit der Einführung der Antiseptik, der Keimbekämpfung durch Desinfektionsmittel, durch den schottischen Chirurgen Joseph Lister (1827—1912) der Weg zum keimfreien Operieren unse­ rer Tage. Seinem würdigen Nachfolger Bernhard von Langenbeck(18W—1887) sind diese ent­ scheidenden Entwicklungen während einer 34jährigen Amtszeit in einem Maße zugute gekommen, daß darüber — schon von den Zeitgenossen beklagt — die Verdienste seines eben­ bürtigen, aber so ganz anders gearteten Vorgängers überschattet wurden. Der zweite Nachfol­ ger Ernst von Bergmann(1836—1907) erarbeitete dann an dieser Klinik konsequent und rich­ tungweisend das uns Heutigen selbstverständliche aseptische System, das im absolut keim­ freien Milieu arbeitet. So erfüllen wir mit diesem Gedenkblatt eine Ehrenpflicht im Erinnern an einen vor 200 Jahren Geborenen, der sich die „Wiederherstellung zerstörter Teile des menschlichen Körpers" als Lebensaufgabe gestellt und wie kein anderer vor ihm erfüllt hat.

Literatur

Brunn, W. v.: Die Chirurgie unter Johann Friedrich Dieffenbach 1840—1847. In: Diepgen, Paul/Paul Rostock, Das Universitäts-Klinikum in Berlin. Leipzig 1939, S. 66—78 Dieffenbach, J. F.: Beiträge zur Gaumennaht. Ann. ges. Heilk. Berlin, 4 (1826a) 145—165; 4 (1827) 450-455 Dieffenbach: J. F.: ... Wiederherstellung zerstörter Teile des menschl. Körpers .. . Berlin 1829 Dieffenbach, J. F.: Über die Durchschneidung der Sehnen und Muskeln. Berlin 1841 Dieffenbach, J. F.: Die Operative Chirurgie. Bde. I und II, Leipzig 1845/1848 Elsholtius, J. S.: Clysmatica nova. 2. Ed., Colonia Brandenburgica (Berlin-Köln) 1667 Genschorek, W.: Johann Friedrich Dieffenbach. In: Wegbereiter der Chirurgie. Leipzig 1983 Hoffmann-Axthelm, D.: Hegel in Berlin. Mitt. Verein. Gesch. Berlins 66 (1970) 317-322 Hoffmann-Axthelm, W.: Die Familie von Graefe und ihre Villa Finkenherd im Berliner Tiergarten. Mitt. Verein. Gesch. Berlins 66 (1970) 294-301, 322-334 Humboldt, W. v.: Briefe, Tagebücher, Dokumente. Hrsg. Rudolf Freese (o. Jg.) S. 859 u. 967 Killian, H: Meister der Chirurgie. 2. Aufl. Stuttgart 1980, S. 346-347 Lampe, R.: Dieffenbach. Leipzig 1934 Rohlfs, H; Johann Friedrich Dieffenbach. Dtsch. Arch. Gesch. Med. 6 (1883) 452-489; 7 (1884) 44-143 Scheibe: 1710—1910 Zweihundert Jahre des Charite-Krankenhauses zu Berlin. Berlin 1910 Stromeyer, G. F. L.: Erinnerungen eines deutschen Arztes. 2. Ausg. Hannover 1875

Anschrift des Verfassers: Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm, Schlierbergstraße 84, W-7800 Freiburg i. Brsg.

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i Abb. 6: Dieffenbachs Grabkapelle auf dem Friedrichswerderschen Kirchhof

Das Mausoleum Blüchers in Krieblowitz Von Jörg Kuhn

Am 16. Dezember 1992 jährt sich zum 250. Male der Geburtstag des Feldmarschalls Gebhard Leberecht von Blücher. Blücher, der wohl prominenteste preußische Heerführer der Befrei­ ungskriege, wurde am 16. Dezember 1742 in Rostock geboren. Bereits zu Lebzeiten eine Legende, wurde er mit bedeutenden privaten und öffentlichen Gunstbezeugungen geehrt. Eine Fülle von Denkmälern wurde ihm zu Ehren errichtet: 1819 in Rostock (G. Schadow), 1819-27 in Breslau (Rauch), 1819-26 in Berlin (Rauch) und 1892-94 in Kaub am Rhein (Schaper), um nur einige der wichtigen zu nennen. Das gewaltigste Denkmal, das Blücher und

79 dem siegreichen preußischen Heer gleichermaßen gewidmet wurde, ist jedoch das von 1843 an in Krieblowitz in Schlesien erbaute Mausoleum. Die Geschichte des Bauwerks und die Beto­ nung seiner kunsthistorischen Bedeutung sollen aus gegebenem Anlaß in dem folgenden Bei­ trag behandelt werden.

Die erste Grabgestaltung (1819 bis 1842)

Am 12. September 1819 starb auf seinem Sommersitz Krieblowitz in Schlesien Feldmarschall Gebhard Leberecht Blücher, Fürst von Wahlstatt, im Alter von 76 Jahren. Blücher hatte 1814 diese Besitzung in Anerkennung seiner militärischen Verdienste von König Friedrich Wilhelm III. als Geschenk erhalten1. Seinem persönlichen Wunsch2 folgend, wurde Blücher auf dem weitläufigen Gutsbesitz, in einem von Kornfeldern umgebenen und aus Linden angepflanzten Hain beigesetzt3. Über der Grabstätte sollte nach Verfügung des Verstorbenen ein gewaltiger, als „Blücherstein"4 bekannter Findling vom Zobten5 errichtet werden. Dieses Vorhaben schei­ terte jedoch an der technischen Schwierigkeit, den 13 000 Zentner schweren Granitstein nach Krieblowitz zu schaffen6. So blieb das Projekt unausgeführt. Erst 1842, „beim Festmahle zu 100jährigen Geburtstagsfeier" des Feldmarschalls, konnte Blüchers ehemaliger Adjutant, Fer­ dinand Ludwig Graf Nostiz7, König Friedrich Wilhelm IV. von der mißlichen Lage der Grab­ stelle unterrichten8. Der König erteilte daraufhin Nostiz und dem Bildhauer Christian Daniel Rauch (1777—1857) den Auftrag, dem Verstorbenen ein würdiges Grabmal zu schaffen. Das seit 1819 „in unzureichender Weise in feuchtem Grunde mit niedriger Steinbedeckung"9 lie­ gende Grab sollte, auf Anregung des Königs, durch ein Grabgebäude nach dem Vorbild „des Grabmals der Plautier bei Tivoli" entworfen werden10.

Die Neugestaltung des Grabmals seit 1842

Auf Befehl Friedrich Wilhelms IV. wurde 1842 mit der Planung eines Mausoleums für Blücher begonnen. Den Auftrag zum Entwurf der Architektur erhielt, wahrscheinlich auf Empfehlung Rauchs11, der seit 1841 im Hofbauamt tätige Architekt Johann Heinrich Strack (1805-1880)12. Strack, Schüler Schinkels an der Berliner Bauakademie, hatte 1842 auf einer mit August Stüler unternommenen Reise nach England dort die an die Antike angelehnte Sepulkralarchitektur des 18. Jahrhunderts kennengelernt13. Für den Grabbau Blüchers ent­ warf er nun einen über 11 Meter hohen Monumentalbau. Die vom König gewünschte Anleh­ nung des Entwurfes an den Rundbau des aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stam­ menden Plautier-Mausoleums wurde von Strack jedoch nicht wörtlich umgesetzt. Der Vorbild­ charakter des 2 km von der Villa Adriana in Tivoli an der Via Tiburtina gelegenen antiken Grabbaues ist nur von allgemeiner Art, wie der Vergleich zeigt (Abb. 1). Im Hinblick auf ein konkretes Vorbild ist das von den Architekten des 18. und 19. Jahrhunderts häufig als architek­ tonisches Versatzstück verwendete Lysikrates-Monument von 335 bis 334 v. Chr. in Athen bedeutsamer.

80 Das Blücher-Mausoleum in Krieblowitz. Stahlstich um 1860. Archiv Einholz, Berlin

Beschreibung des Mausoleums in Krieblowitz

Der über quadratischem Grundriß errichtete Unterbau birgt die eigentliche Gruftkammer. Ein vorgelegter Sockel mit Wulstabschluß betont den Denkmalcharakter. In die östliche Haupt­ front des Gruftgeschosses ist ein rechteckiges Portal mit profiliertem Gewände tief eingeschnit­ ten. Das Portal wird durch eine zweiflügelige kassettierte Eisentür verschlossen. Eine vierstu­ fige Freitreppe, die von Eckpodesten flankiertwird , leitet den Besucher zum Eingang. Von der leicht konischen Form des Unterbaues vorbereitet, wird der Bau über einem kräftigen Kranz­ gesims mit einem zylindrischen Turm fortgesetzt. Die von einem monumentalen Konsolgesims getragene Attika dient als Auflager für die flache Kuppel. Das Gruftgeschoß ist in symbolhafter Weise aus glattpolierten, bronzeverdübelten Quadern des Materials vom „Blücherstein" gefügt14. Die gleichfalls glatten Blöcke des Turmgeschosses sind aus grauem Granit der Streh- lenschen Granitwerke gearbeitet. Die Kuppel mit einem Durchmesser von 4,54 Metern wurde nach dem Vorbild des Theoderich-Grabmals in Ravenna15 vom Breslauer Steinmetzmeister Bungenstab16 aus einem Granitfindling herausgeprellt. Die Versetzung des 240 Zentner schweren Monoliths verzögerte die Fertigstellung des Mausoleums um fast zwei Jahre17.

81 Außer der vorgegebenen Verwendung des farbigen Steinmaterials setzte Strack zur Gestaltung des Baues weitere architektonische Mittel ein. Fugenführung, Gesimse und Profilbänder bil­ den eine kontrastreiche horizontale Gliederung des monumental aufstrebenden Bauwerks. Das Gruftgeschoß weist über dem Portal eine auf den Geehrten und auf die Stifter hinweisende Inschrift auf: „Dem Fürsten Blücher von Wahlstatt, Friedrich Wilhelm III., Friedrich Wilhelm IV. und das Heer, vollendet 1853". Die als Gestaltungselement genutzte Inschrift war ehemals vergoldet.

Das Porträtrelief Blüchers von Rauch und Berges

Der wichtigste Schmuck des Mausoleums ist jedoch das in eine Rundnische eingelassene, kolossale Porträtrelief Blüchers von Christian Daniel Rauch, ausgeführt von Heinrich Berges. Gemäß dem im Dezember 1842 erteilten Auftrag zur Gestaltung der Grabstätte reiste Rauch am 16. Juli 1843 nach Schlesien, um sich über die lokale Situation einen Überblick zu verschaf­ fen18. Vor seinem Aufenthalt in Krieblowitz besuchte er das bei Löwenberg (Lowöwek Slaski) gelegene Schlachtfeld an der Katzbach, wo zur Erinnerung an die Schlacht vom 26. August 1813 auf Betreiben von Graf Nostiz eine von Rauch geschaffene Kolossalbüste Blüchers am 26. August 1841 aufgestellt worden war19. Das Modell für das Porträtrelief für Krieblowitz dürfte Rauch kurz nach seiner Rückkunft in Berlin am 22. Juli 1843 geschaffen haben. Sein Gehilfe Heinrich Berges führte daraufhin das Originalgipsmodell in der für die Marmor­ fassung gewünschten Größe aus (ca. 135 cm Durchmesser). (Abb. 2) In der Formulierung des Kopfes hatte Rauch, die Blickrichtung nach rechts verändernd, weit­ gehend auf seine 1815 modellierte Blücherbüste zurückgegriffen, die auch der Büste an der Katzbach zugrunde gelegen hatte. Die 1815 entstandene Büste Blüchers war im Auftrag des bayrischen Kronprinzen Ludwig für die Walhalla bei Regensburg geschaffen worden. Auf Ver­ mittlung von Johann Gottfried Schadow gewährte Blücher Rauch am 1. und 5. April 1815 Modellsitzungen20. Das am 10. April bereits fertiggestellte Gipsmodell gelangte zu großer Popularität. Bis Februar 1816 waren wegen der starken Nachfrage bereits 76 Abgüsse angefer­ tigt worden21. Aufträge zur Ausführung dieses Büstenmodells in Marmor, Bronze und Eisen unterstrichen die Wertschätzung, die Rauchs Darstellung des Fürsten entgegengebracht wurde. Im Gegensatz zu dieser Büste, deren Bruststück antikisch-ideal unbekleidet ist22, ist dasselbe bei dem Krieblowitzer Porträtrelief durch ein assoziativ an Herkules23 erinnerndes Löwenfell bedeckt. Das antike Nischenbildnis vom Typus des imago clipteata verlassend, läßt Rauch malerisch die sichtbare Pranke des Löwenfells weit über den Reliefrahmen hängen. Interessant hierzu ist der Vergleich mit einer nach Karl Friedrich Schinkels Entwurf 1816 entstandenen Eisengußplakette24 (Abb. 3). Die von Berliner Bürgern Blücher gewidmete Plakette zeigt die stark nach rechts gewandte Profilbüste Blüchers, deren Bruststück ebenfalls durch ein Löwen­ fell bedeckt wird. Fast einem Mantelverschluß vergleichbar, sind die Vordertatzen des Fells wehrhaft vor der Brust Blüchers zusammengeknotet. Rauch hat sein Krieblowitzer Blücher­ porträt, wenngleich formal anders gestaltet, inhaltlich sichtbar an diesen Entwurf Schinkels angelehnt. Ähnlich wie bei Schinkel wirkt auch die Porträtformulierung gegenüber der Büste von 1815 vergröbert und gleichzeitig malerischer. Trotz aller realistischen Elemente — Falten, Fettpolster, buschige Augenbrauen und ebensolcher Oberlippenbart — wirkt das Porträt Blü­ chers von 1815 feiner und würdevoller. Die ungewöhnlich hohe Anbringung und die dadurch bedingte Kolossalität des Krieblowitzer Reliefs lassen, zusammen mit den beschriebenen Modifikationen des Porträts gegenüber der Büste von 1815, stärker Blüchers Bild als „Mar-

82

4' Abb.l: Mausoleum der Plantier bei Tivoli, 1. Jh. n. Chr. Aufnahme um 1890. Archäologisches Institut der FU Berlin.

schall Vorwärts" hervortreten. Von einer früheren Planung, die einen Bronzeguß des Reliefs vorsah, nahm man wegen der offensichtlich schon damals geläufigen Gefahr eines Metalldieb­ stahls Abstand25. Nach der Umsetzung des Modells in den Originalgips betraute Rauch seinen Schüler und Mit­ arbeiter Heinrich Berges (1805-1852)26, der bereits 1829/30 bei der Ausführung des Rauch- schen Modells zum Münchner Maximilian-Denkmal eine wesentliche Aufgabe übernommen hatte, auch mit der Ausführung in Carrara-Marmor. Als frühe Erwerbung (1851) hat sich in der Berliner Gipsformerei die Originalabformung bis heute erhalten (Formnr. 3311). Spätestens 1851 war das Relieftondo angebracht und das Mausoleum — bis auf die Kuppel — fertiggestellt worden. Endlich konnte am 26. August 1853, dem Jahrestag der Schlacht an der Katzbach, das Mausoleum in Anwesenheit des Königs eingeweiht werden27. Die Wahl dieses Datums anstelle des eigentlich zu erwarten gewesenen Datums des Todestages Blüchers verändert die Bedeutung des Grabmals, über seine Funktion als Bestattungsort Blü­ chers hinaus, zum Siegesdenkmal des preußischen Heeres und des regierenden Königshauses.

83 Veränderungen am Mausoleum nach 1853

Während eine niedrige Mauer mit Tor, die das Areal weitläufig umgibt, mit der Errichtung des Mausoleums nach 1843 entstanden sein dürfte, handelt es sich bei der hinter dem Mausoleum vertieft angelegten Gruftkammer um eine spätere Ergänzung für die Familie Blüchers. Da Blü­ chers zweite Frau, Amalie von Colomb, 1850 verstarb, könnte diese spätere Gruft in der nach­ folgenden Zeit entstanden sein. Nach 1945 wurden das Mausoleum geplündert, der innere Gruftkammerboden aufgebrochen und der Sarg Blüchers verschleppt. Von den Särgen der Familie in der rückwärtigen Gruft sind nur noch geringe Reste vorhanden. Das Porträtrelief Blüchers von Rauch wurde bis zur Unkenntlichkeit zerstört (Abb. 4). Auf Initiative der polnischen Denkmalpflege ist das Relief — in Unkenntnis des Vorhandenseins des alten Gipsabdruckes in Berlin und wohl auf der Grundlage alter Fotographien — kürzlich wieder ergänzt worden. „Das Ganze", hatte 1853 ein Besucher über das Mausoleum geäußert, „macht einen würdigen monumentalen Eindruck und ist nach Construktion und Material geeignet, den Jahrhunderten zu trotzen"28. In der Abenddämmerung betrachtet, bietet sich auch heute noch — trotz aller Verwüstungen — dem modernen Besucher dieses Bild.

Anmerkungen:

1 Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig, Bd. 2 (1875), S. 727—733 (v. Meerheimb). 2 Grundmann, Günther, Stätten der Erinnerung in Schlesien, Weiler i. Allgäu 1964, S. 64. 3 Der romantische Wunsch aufgeklärter Fürsten, sich in Landschafts- und Parkgrüften beisetzen zu lassen, hatte seit der Beisetzung Johann Moritz' von Nassau-Siegen 1679 in einem Wäldchen auf seinem Besitz in Kleve eine reichhaltige Tradition hervorgerufen, von der auch in Schlesien viele in Parks eingebettete Grabstätten und Mausoleen des 18. und 19. Jahrhunderts zeugen. Vgl. hierzu: Ausstellungskatalog „Der große Kurfürst 1620—1688. Sammler Bauherr Mäzen", Pots­ dam-Sanssouci 1988, S. 40; Grundmann, Günther, Stätten der Erinnerung. Denkmäler erzählen schlesische Geschichte, München 1975. 4 Zeitschrift für praktische Baukunst, Hrsg. von J. A. Romberg, 11, Leipzig 1851, Spalte 279. 5 Der Zobten (Sleza) 15 km östlich von Schweidnitz (Swidnica) gelegen, ist mit 718 m die höchste Erhebung des nördlichen mittelschlesischen Eulengebirges (Gory Sowie). Seit dem S.Jahrhun­ dert v. Chr. wurden auf diesem sog. „Heiligen Berg Schlesiens" verschiedene keltische und ger­ manische Kultstätten angelegt. (Vgl. hierzu: Ivan Bentschev u. a., Polen. Geschichte, Kunst und Landschaft einer alten Kulturnation, Köln 1989. S. 546). 1816 wurde der Zobten auch als mögli­ cher Aufstellungsort für ein Blücherdenkmal (u. a. lieferte J. G. Schadow einen Entwurf) vorge­ schlagen. (Vgl. hierzu: Karl und Friedrich Eggers, Daniel Christian Rauch, Berlin 1878, Bd. 2, S. 110). Es wäre interessant, der Überlegung nachzugehen, ob Blüchers seit 1784 bestehende Mit­ gliedschaft in einer Freimaurerloge (seit 1803 war er sogar Meister vom Stuhl in der Loge „Zu den drei Balken" in Münster) für ihn ausschlaggebend war, sich als Grabmal einen „kultischen" Find­ ling vom Zobten zu wählen. 6 Grundmann, 1964, a. a. O., S. 79 7 Ferdinand August Ludwig Graf Nostiz (1770—1866), Adjutant Blüchers in der Schlacht von Ligny (1815), rettete geistesgegenwärtig dem vom Pferd gestürzten Blücher das Leben. Schadow porträtierte Nostiz (auf dessen Verlangen) auf dem die verlorene Schlacht von Ligny darstellen­ den Sockelrelief am Rostocker Blücherdenkmal. Vlg. hierzu: Schmidt, Martin H., Johann Gott­ fried Schadow — Das Blücherdenkmal in Rostock unter besonderer Berücksichtigung des ver­ wendeten Materials Bronze, Magisterarbeit FU Berlin, Berlin 1991, S. 25 8 Eggers, Christian Daniel Rauch, a. a. O., Bd. 2, S. 161. 9 Ebenda, S. 161

84 Abb. 2: Chr. D. Rauch/H. Berges: Relieftondo für Krieblowitz. Foto: D. Graf, Archiv Gips­ formerei SMBPK

10 Ebenda, S. 161. 11 Johann Heinrich Strack (Bückeburg 1805—1880 Berlin), war bereits 1825 auf Empfehlung Rauchs von K. F. Schinkel als Schüler aufgenommen worden. 1835 entwarf Strack für die Familie von Rauchs Tochter Agnes d Alton-Rauch eine repräsentative Villa in Halle, die von Rauch mit eigenen Werken ausgeschmückt wurde. Vgl. hierzu: Findeisen, Peter, Die Villa dAlton in Halle, in: Kunze, Max (Hrsg.), Christian Daniel Rauch. Beiträge zum Werk und Wirken (Beiträge der Winckelmann- Gesellschaft, Bd. 10), Stendal 1980, S. 58-67. 12 Zeitschrift für praktische Baukunst, 11,1851, a. a. O., Spalte 279. Zu Strack vgl.: Kieling, Uwe, Berlin — Baumeister und Bauten, Leipzig 1987, S. 211 ff. Interessant für die Entstehungsgeschichte des Blüchermausoleums dürften Stracks Reisen nach Italien (1838), Frankreich und England (1842) sein. Bekannt sind auch Stracks hervorragende archäologischen Bauaufnahmen.

85 Abb. 3: Fr. Schinkel: Blücher-Plakette, Eisen,1816. Foto: Archiv Arenhövel, Berlin

13 Stellvertretend für ähnliche, damals allgemein bekannte britische Sepulkralbauten, sei hier auf das 1778 von Robert Adam (1728-1792) für den Philosophen David Hume (1711-1778) auf dem Calton-Friedhof in Edinburgh errichtete Mausoleum verwiesen. Vlg. hierzu: Curl, James Steven, Entstehung und Architektur der frühen britischen Friedhöfe, in: Ausstellungskatalog „O ewich is so lanck. Die historischen Friedhöfe in Berlin-Kreuzberg", Landesarchiv Berlin, Berlin 1987, S. 268 Abb. 3 14 Zeitschrift für praktische Baukunst, 11, 1851, a. a. O., Spalte 279. 15 Zeitschrift für Bauwesen, 3, Leipzig 1853, Spalte 308 16 Ebenda, Spalte 172. 17 Zeitschrift für praktische Baukunst, 11, 1851, a. a. O., Spalte 279.

86 Abb. 4: Blücher-Mausoleum, Zustand 1989. Foto: Noack, Breslau

18 Eggers, a. a. O., Bd. 2 (1878), S. 161 f. 19 Ebenda, S. 162. 20 Ebenda, S. 294. Schadow verwendete die 1815 von Rauch modellierte Blücherbüste als Vorbild für die Formulierung des Kopfes seines Blücherdenkmals für Rostock. Zur Blücherbüste Rauchs siehe: Ausstellungskatalog „Ethos und Pathos. Die Berliner Bildhauerschule 1786—1914", hrsg. von Bloch, Peter, Einholz, Sibylle und Simson, Jutta v., Berlin 1990, S. 362 Abb. 310. 21 Eggers, Karl und Friedrich, Christian Daniel Rauch, Berlin 1873, Bd. 1 S. 166. 22 Das einzige — mit Uniform — bekleidete Exemplar der Rauchbüste von 1815 bestellte am 19. Februar 1826 der Herzog von Wellington. Vgl. hierzu: Eggers, 1873, a. a. O., Bd. 1, S. 56 und S.161.

87 23 Seit der Renaissance wurden insbesondere Fürsten (u. a. Prinz Eugen, August der Starke von Sachsen, König Friedrich II. von Preußen) als Herkules dargestellt. Die Würdigung Blüchers als Herkules klingt auch in dem Titel der Blücherbiographie „Fürst Blücher von Wahlstatt und seine Heldentaten" von Rumpf an. Das Löwenfell-Motiv ist auch bei den frühen Blücherdenkmälern zu finden. 24 Ausstellungskatalog „Berlin und die Antike", hrsg. von Arenhövel, Willmuth, Berlin 1979, S. 219 Kat.-Nr. 401 und S. 222 Abb. 401. Die Rückseite der Plakette zeigt den drachentötenden Erzen­ gel Michael, Symbolfigur der Deutschen seit den Befreiungskriegen. Frdl. Hinweis von Dr. Sibylle Einholz, Berlin, und Dr. A. Arenhövel, Berlin. 25 Eggers, Rauch, a. a. O., Bd. 2 (1878), S. 162. 26 Zu Heinrich Berges (Berlin 1805—1852 Rom) vgl. zuletzt: Hüfler, Brigitte, Kurzbiographien Berliner Bildhauer, in: „Ethos und Pathos...", Berlin 1990, a. a. O., Beiträge, S. 414 (mit weite­ rer Literatur). Berges war seit 1821 Schüler, dann Gehilfe von Rauch und blieb bis zu seinem Tod in Rom dessen wichtigster Mitarbeiter. Eigenhändige Werke Berges befinden sich u. a. in den Schlössern von Potsdam-Sanssouci. 27 Eggers, Rauch, a. a. O., Bd. 2 (1878), S. 162. 28 Zeitschrift für Bauwesen, 3, 1853, a. a. O., Spalte 308. Der Autor besuchte Krieblowitz im Sep­ tember 1989.

Anschrift des Verfassers: Jörg Kuhn, Fehmarner Straße 19, W-1000 Berlin 65

B uchbesprechungen

„Berliner Ring. Bilder und Texte." Hrsg. Ulrich Eckardt, Stefanie Endlich, Rainer Höynck, 214 Sei­ ten, zahlreiche Abbildungen, Anhang. Nicolaische Verlags-Buchhandlung, Berlin 1990 Das Projekt einer Zustandsbeschreibung des Gegenwärtigen im Berliner Umland mit dem Blick auf das Vergangene geht auf die Zeit vor der Wende zurück und erfährt durch die Ereignisse der letzten beiden Jahre seine Bestätigung und neue Perspektiven; dies macht den Reiz des Lesens aus. — Das Buch ist konzipiert als eine Dokumentation über die Wechselwirkungen zwischen dem Ballungsraum Berlin und seinem einst ländlichen Umland. Sein Titel „Berliner Ring" meinte ursprünglich die Ver­ kehrsverbindung, die das Umland umschloß und einband, daraus wurde ein begrenzender Stadtring, der heute eine historische, sozioökonomische und kulturelle Lebenswelt erschließt. — Die schon früh angesetzte Projektierung machte es möglich, das Land innerhalb des Ringes wehmütig als ein Land der Strenge und Dürftigkeit zu beschreiben, in die sich die Furcht vor eventueller schneller Nutzung einschleicht. „Armut des Landes widersteht nicht den Verlockungen des großen, schnellen Geldes" (15). Nun ist diese Gefahr konkreter und dringender geworden. Bilder und Texte zeigen allenthalben ein gefühlshaft starkes Engagement, den beschaulichen, stark von der Vergangenheit geprägten Zustand abzubilden und zu beschwören; sie sprechen vom Dank, das ersehnte Umland wieder eigen nennen zu können. Inzwischen betrachtet der Leser die selbst erfahrenen Dörfer und Gehöfte, Stra­ ßen und Wasserläufe und empfindet in den widergespiegelten Bildern eine sich stets erneuernde Bezauberung.

88 Die Fotos von Elke Nord berühren durch ihre harten Schwarzweißkontraste; es sind Bilder, aufgebaut aus geometrischen Figuren, ferner sind da filigranartige Gebilde vor bewegter Wasserlandschaft. Sie sind nicht schön im Sinne von gefällig, strahlen aber den Reiz des einfachen Sichdarbietens aus. Im Gegensatz dazu erscheinen die Bilder von Peter Berndt. Es sind die flammenden Kronen der Allee­ bäume, es sind heitere Tage über Dorfstraßen und Wiesen, es ist schwarzer Regen, der das helle Land frißt. Seine Farbigkeit ist den märkischen Malern des 19. Jahrhunderts verpflichtet, so etwa die „Fähre in Caputh". In ihnen erscheint eine fast archaische Welt eingefangen und stilisiert. — Begleitet werden die Bilder von einfühlsamen und aufschlußreichen Texten. So berichtet Heinz Knobloch vom Ora­ nienburg der Kurfürstin Louise Henriette, und die historische Skizze entfaltet die Problematik, die eine gegenwärtige wirtschaftliche Erschließung zu berücksichtigen hat: die einst in den Zweckver­ band eingeschleppte Unausgewogenheit der Interessen von Stadt und Land, die durch Gewerbe und Handel seit der Randwanderung der Industrie entstanden sind und die schon 1910 nicht mehr harmo­ nisiert werden konnten, die Verzerrung durch den Großraumgedanken von Speers „Germama", dann durch den wirtschaftlichen Niedergang seit dem Mauerbau, andererseits die Bewahrung histori­ scher Strukturen. Christiane Knop

Irina Liebmann: „Berliner Mietshaus". Erstausgabe 1982 im Mitteldeutschen Verlag Halle, 1990 Ausgabe der Frankfurter Verlagsanstalt. 196 Seiten. Der Verlag hat nicht erklärt, warum er eine Veröffentlichung aus der alten DDR von 1982 nach der Wende erneut publiziert hat, aber auf den zweiten Blick wird ersichtlich, daß in dieser Augenblicks­ aufnahme ein historisches Bild in der Phase seiner Entstehung vorliegt. Vfh. unternimmt im Auftrag des Fernsehens eine quasi protokollarische Aufnahme der Lebensgeschichten der Bewohnerschaft in einer Mietskaserne am Prenzlauer Berg. Getreu der Maxime, die Geschichte eines Hauses sei die Geschichte seiner Bewohner, entfaltet sie die Vielgestaltigkeit der Schicksale, hält sich aber mit per­ sönlicher Wertung und Stellungnahme völlig zurück, was doppelbödig wirkt, vor allem nach der Wende. Denn sie beabsichtigt vermutlich, durch Schweigen dem Erzählerischen Freiraum zu ver­ schaffen. In die Selbstdarstellung der Befragten bricht der Stolz auf die Bewältigung vieler Krisen nach dem Nichts von 1945, auch Stolz auf die erreichte gewisse Vorurteilslosigkeit und das Leben nach eigenen Kategorien, wie es sich die zweite Generation der DDR geschaffen hat. Das gesellschaft­ liche Bild der Mieterschaft, Arbeiterschaft und Kleinbürgertum zugehörig, steht im Gegensatz zur einstigen Hobrechtschen Absicht der sozialen Durchmischung. Es sind hier die eigentlichen Bevor­ rechteten in der sozialistischen Gesellschaft, aber die klassentypische Erscheinung des Arbeiters bei- tet sich nicht dar. Ihr Dasein wird als Nutznießertum entlarvt; man hat sich eingerichtet und lebt ohne Risiko und ohne nach dem Ganzen zu fragen. — Die ältere, die vorsozialistische Generation hat das Fazit ihrer Lebenserfahrungen in Binsenweisheiten gefaßt und gibt sich damit zufrieden. Vf. kenn­ zeichnet die Essenz ihrer Protokolle als „Darstellung des eignen Spielraums und dessen gelegentliche Berührung mit der Weltgeschichte, beides im Bratkartoffelgeruch des Alltags". — Diese so bequem eingerichtete Welt lebt vom Beharren. Wird sie fragwürdig, stellt sich Verdrängungswiderstand ein. Diese Einsicht hat den Verlag vielleicht zu einer Neuausgabe motiviert. Christiane Knop

Hans Jürgen Räch: „Die Dörfer in Berlin. Ein Handbuch der ehemaligen Landgemeinden im Stadt­ gebiet von Berlin", hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, 392 Seiten mit 625 Abbil­ dungen, VEB-Verlag für Bauwesen, Berlin 1988, in zweiter Auflage 1990. Welcher Westberliner vor der Wende sein heimatkundliches Interesse an der Erkundung der einst brandenburgischen Dörfer auf Barnim und Teltow auf den Westteil von Berlin beschränken mußte, kann nun eine vollständige Übersicht über alle Landgemeinden, die 1920 in den Stadtkreis Berlin ein­ gemeindet wurden, gewinnen. Das Handbuch versteht sich als Nachschlagewerk, aufgeteilt in eine all­ gemeine, historische Darstellung und eine Katalogisierung der Ortsteile von Adlershof bis Zehlen­ dorf, und bietet eine erneute Gesamtberliner sozioökonomische und baugeschichtliche Analyse der Stadtlandschaft außerhalb der einstigen fünf Städte von 1709. Sie war schon 1988 vor der Wende erschienen und liegt nun in 2., durchgesehener Auflage vor. Sie basiert auf dem „Historischen Orts-

W lexikon" von Brandenburg, bezieht aber eigene Aufmessungen und Dokumentationen des Verfassers mit ein, stützt sich ferner auf Aufnahmen des Meßbildarchivs am Institut für Denkmalpflege im einsti­ gen Ostteil der Stadt. — Der Leser kann die Entwicklung der um Berlin herum gruppierten Dörfer gleichsam in drei Augenblicksaufnahmen verfolgen: am Zustand, den die mittelalterliche Ostbesied­ lung (die hier „feudale Ostexpansion" genannt wird) geschaffen hat und den das Landbuch Karls IV. noch dokumentierte, am Zustand vieler Kolonistenansiedlungen des 18. Jahrhunderts, und schließ­ lich sieht er den Prozeß der Verstädterung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor sich. Es ist erstaunlich, zu beobachten, wie lange sich die soziale Abstufung erhalten hat. Sie ist noch immer an den dörflichen Wohnbauten ablesbar. So kann der Leser sich die Sozialgeschichte jedes Dorfes selbst zusammenstellen, nachdem er den Vorgang und seine bestimmenden Faktoren einmal erkannt hat. Verfasser ist Volkskundler und lenkt den Blick auf die ländliche Volksarchitektur in ihrem Wandel; er verweist auf Einzelheiten wie etwa Traufen- oder Giebelstellung, Quergliederung und Raumanord­ nung der Bauernhäuser, beschreibt ihre Herkunft vom mitteldeutschen Ernhaus. Er verweist ferner auf Ziegelziersetzungen an Wohngebäuden und Stallungen, Back- oder Waschhäusern, Taubentür­ men, auf Fachwerk- und Ziegelbauten, Dorfkirchen und Brücken. In dieser Hinsicht werden die Dör­ fer im einstigen Ost und West gleichwertig behandelt. An fast allen Orten läßt sich der Prozeß der Verstädterung ablesen; er ging von der verkehrsmäßigen Erschließung aus, die mit der preußischen Städteordnung ihren Anfang nahm und Ansiedlung von Gewerbe, später Industrie, für die Großstadt zur Folge hatte. Viele Dörfer bekamen erst in den Grün­ derjahren eine zahlreichere Bevölkerung durch Ausflugslokale und Villenkolonien. Verfasser führt uns die verschiedenartigsten Industriebetriebe vor Augen: Leim- und Palmölsiedereien, Brauereien, Eiswerke, Anilinfabriken, Krankenanstalten und Rieselfelder, Rennplätze und Güterbahnhöfe, Direktorenwohnhäuser und Feuerwehren, Kommunalbauten und Schulen, Büdner- und Kossäten­ häuser. Er führt — meist anhand alter Fotos — alte Gutshäuser vor Augen, vor allem die spätklassizisti- schen Wohnhäuser der reichen Bauern aus den Gründerjahren. — Ein Sachworterklärungsteil ver­ deutlicht die Fachbegriffe aus Architektur und materieller Kultur, Verwaltung und Landwirtschaft. — Wenn auch unterschwellig eine gewisse Vorliebe für die Ansiedlungszeugnisse der ärmeren ländli­ chen Schichten und Vorbehalte gegen Villenkolonien und reiche Mietshäuser spürbar sind, so ergibt sich doch aufgrund des in Ost und West gleichen Gegenstandes eine gleiche Behandlung. Doch hätte die 1990 durchgesehene Auflage aktualisiert werden müssen; sie spricht noch von „Berlin (West)", „Hauptstadt der DDR" und „Wohnbedürfnissen der Bourgeoisie". Christiane Knop

Gerd Koischwitz: „Märkische Geschichte und Geschichten. Zwischen Havel und Oder", 190 Sei­ ten, 68 Abbildungen, Möller Druck und Verlag, Berlin o. J. (1991). Die Mark Brandenburg zwischen Havel und Oder wird in der vorliegenden Schilderung auf das Gebiet im Halbkreis um das nördliche und nordöstliche Berlin beschränkt, so, wie es seit dem ausge­ henden 18. Jahrhundert durch Wasserstraßen und Eisenbahnen zu einem Lebens- und Wirtschafts­ raum verbunden wurde. Die Erschließung durch Klöster, Städte und ritterliche Siedlungsherren hat diese Entwicklung vorgebahnt. Im Sinne seiner Heimatforschung der Dörfer, die den Bezirk Rei­ nickendorf ausmachen, hat Verfasser nun den Erfahrungsraum auf das bisher unzugängliche histori­ sche Umland ausgeweitet; so entsteht über unterschiedliche geographische Landschaften wie Dünen­ gebiete der Eiszeit, Luchgebiete von Rhin und Havel, Fließtäler und landwirtschaftliche Nutzflächen hinweg der Eindruck der Einheit in der Vielfalt. Festgemacht an der noch faßbaren Welt der Klöster wie Chorin und Lindow, der Leistung der Bauern und Kolonisten, der Städter des 13. und 14. Jahr­ hunderts, wird die materielle Kultur ausgiebig recherchiert, so etwa Hausformen, Wald- und Weide­ wirtschaft, Bienenzucht, Bierbrauen und Metallverhüttung, aber auch die Fülle anderer Gewerbe und bäuerlicher Tätigkeiten. In heutigen Kleinstädten wie Liebenwalde, Bernau oder Kremmen wird der märkische Alltag vergangener Zeiten geschildert. Im Mit- und Gegeneinander der verschiedenen Gruppen und Stände, im Verlauf der Kämpfe zwischen Landesherren und Ständen und in den wirt­ schaftlichen Maßnahmen im Staat der Hohenzollern entfaltet sich die ganze Palette der Sozialge­ schichte. So ist das Büchlein im besten Sinne dazu geeignet, das Umland neu zu erfahren. — Leider ist aus manchen älteren Fotos nicht ersichtlich, ob ihre Objekte heute noch auffindbar sind. Christiane Knop

90 Eingegangene Bücher — Besprechung vorbehalten

1. Bauhaus Archiv Berlin: Bauhaus Berlin, Auflösung Dessau 1932, Schließung Berlin 1933, Bau­ häusler und Drittes Reich, 1985, 301 Seiten. 2 Berlin-Museum — 750 Jahre Berlin: Stadtbilder, Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin, 1987, 576 Seiten. 3. Dieter Blum, Emanuel Eckardt: Das Orchester, die Innenwelt der Berliner Philharmoniker. Scripta Verlags-Gesellschaft, Stuttgart 1983, 228 Seiten. 4. Iris Demmler: Friedrich Karl von Savigny, Reihe politische Köpfe, Politik. Stapp Verlag Berlin, 1985, Taschenbuch 140 Seiten. 5. Hans Dollinger: Friedrich II. von Preußen. Sein Bild im Wandel von zwei Jahrhunderten. List Verlag München, 1986, 223 Seiten. 6. Hans-Ulrich Engel: Berlin und die Mark Brandenburg. Eine Erinnerung, Bildband mit 96 Foto­ grafien. Verlag Weidlich, Würzburg, 1987, 116 Seiten. 7. Käthe Frankenthal: Der dreifache Fluch: Jüdin, Intellektuelle und Sozialistin. Lebenserfahrun­ gen einer Ärztin in Deutschland. Campus Verlag Frankfurt/New York, 1981, 320 Seiten. 8. Klaus-Dietrich Gandert: Vom Prinzenpalais zur Humboldt-Universität, Henschelverlag Kunst und Gesellschaft Berlin, 1986, 200 Seiten. 9. Günther Hahn, Alfred Kernd'l: Friedrich der Große im Münzbildnis seiner Zeit. Ullstein Verlag Frankfurt-Berlin, 1986, 271 Seiten. 10, Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk 1415—1915. Verlag Paul Parey Hamburg und Ber­ lin, 1987, 704 Seiten. 11. Winfried Hofmann: „Flegels haben Wir genung im lande", Friedrich der Große in Zeugnissen, Berichten und Anekdoten. Ullstein Verlag Berlin, 1986, 411 Seiten. 12 Norbert Huse: verloren, gefährdet, geschützt, Baudenkmale in Berlin. Argon Verlag Berlin, 1988, Ausstellungskatalog, 374 Seiten. 13. Josef P. Kleihues und Heinrich Klotz: Internationale Bauaustellungen Berlin 1987, Beispiele einer neuen Architektur. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 1986, 283 Seiten. 14. Dorothea Kolland: Zehn Brüder waren wir gewesen. . . Spuren jüdischen Lebens in Berlin-Neu­ kölln. Verlag Editions Hentrich Berlin, 1988, 515 Seiten. 15. Karl-Heinz Metzger, Ulrich Dunker: Der Kurfürstendamm, Leben und Mythos des Boulevards in 100 Jahren deutscher Geschichte. Konopka Verlag für Architektur Berlin, 1986, 284 Seiten. 16. Gert von Paczensky, Herbert Ganslmayr: Nofretete will nach Hause, Europa-Schatzhaus der „Dritten Welt". Verlag C. Bertelsmann, München, 1984, 318 Seiten. 17. Herbert Remmert und Peter Barth: Hannah Hoch, Werke und Worte. Verlag Frölich & Kauf­ mann Berlin, Ausstellungskatalog 1982, 147 Seiten. 18. Helmut Richter: Berlin, Aufstieg zum kulturellen Zentrum. Ferd. Dümmels Verlag Bonn, 1987, 180 Seiten. 19. Jutta von Simson: Der BUdhauer Albert Wolff, 1814-1892. Gebr. Mann Verlag Berlin, 1982, 255 Seiten. 20. Wolfgang Schäche: Ludwig Hoffmann, Stadtbaurat von Berlin 1896—1924, Lebenserinnerun­ gen eines Architekten. Gebr. Mann Verlag Berlin, 1983, 394 Seiten.

91 Veranstaltungen im IV. Quartal 1992

1. Freitag, den 30. Oktober 1992,15 Uhr: Geführte Besichtigung der Domäne Dahlem und des Museums im Haus. Gruppen-Eintrittspreis 1,50 DM pro Person. Treffpunkt auf dem Hof. Fahrverbindungen Dorfaue Dahlem, U-Bhf. Dahlem-Dorf. 2. Mittwoch, den 11. November 1992, 15 Uhr: Fachführung zur Restaurierung des Reiter­ standbildes Friedrich Wilhelms IV. vor der Alten Nationalgalerie. Treffpunkt Lübarser Straße, Tor 3, Wittenau. Telefonische Anmeldungen wegen der beschränkten Teilneh­ merzahl erforderlich. Nur diese können berücksichtigt werden. Anmeldungen unter 8 54 5816 ab 19 Uhr bis zum 5. November. Fahrverbindungen S-Bahnhof Wittenau, Nordbahn. 3. Freitag, den 20. November 1992,18 Uhr: Führung durch die Ausstellung „Neue Welten — neue Wirklichkeiten. Amerika von 1492 bis 1992". Leitung: Frau Dr. Elke Ruhnau. Treff­ punkt im Foyer des Martin-Gropius-Baues. Der Eintrittspreis ist bitte von den Mitglie­ dern zu entrichten. 4. Donnerstag, den 26. November 1992, 16.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung des Landesarchivs „Platz der Republik — Vom Exerzierplatz zum Regierungsviertel". Lei­ tung: Herr Dr. Uwe Schaper. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs Berlin, Kalck- reuthstraße 1/2, Berlin 30. 5. Freitag, den 4. Dezember 1992,16 Uhr: Adventskaffee im St.-Michaels-Heim, Bismarck- allee 23 in Berlin 33. Telefonische Anmeldungen unter 854 5816 ab 19 Uhr bis zum 28. November 1992. Treffpunkt Raum 014/015.

Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 7723435. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Bemdt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-2 64. Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

92 A 1015 F MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

89. Jahrgang Heftl Januar 1993

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Der Berliner Schriftsteller August Friedrich Cranz (1737-1801) im Kreis seiner Familie August Friedrich Cranz. Ein preußischer Kriegsrath als freier Schriftsteller Nachricht von einem merkwürdigen Zensurfall aus dem Jahre 1782 Von Dieter Reichelt

„Du gütiger Monarch! auch ich verdank es Dir, Daß nicht der Kerker mir die Freyheit raubte, Als frey zu denken sich mein Geist erlaubte; Als ich nach Potsdam floh, zu Dir — Ein Königliches Wort gab Freyheit mir, Gab mir das Glück, daß ich, geschützt von Deinem Throne, Noch ungekränkt und ruhig wohne; Oh schütze ferner mich — bey jedem Mißverstand. Nur wo Du herrschest, ist mein wahres Vaterland." Diese Verse, an die nicht das klassische Maß angelegt werden darf (sie sind mehr von inhalt­ lichem Interesse), sind enthalten im 8. Stück der Berlinischen Correspondenz vom 3. Januar 1783. Herausgegeben wurde diese Zeitschrift von dem Preußischen Kriegsrath August Fried­ rich Cranz, der seit 1779 in Berlin als freier Schriftsteller wirkte. Er veröffentlichte seitdem Unterhaltungsliteratur unterschiedlicher Art als sogenannte periodische Schriften, Wochen­ schriften, Broschüren, Fliegende Blätter in einem Umfange von oft nur 16 Druckseiten, meist im Oktav-Format zu niedrigen Preisen bei kleineren Berliner Verlegersortimentern, wie Ch. L. Stahlbaum, S. F. Hesse, oft aber auch „Auf Kosten des Verfassers", das heißt im Selbstverlag. Dabei erhielt er viel Beifall von einem Publikum, das seit etwa 1770 ein verändertes Lesever­ halten zeigte. Während in den Jahrzehnten, eigentlich Jahrhunderten, vorher die Bibel, Kate­ chismus, Gesangbuch, Erbauungsschriften, auch Volkskalender u. ä. die Hauptlesestoffe brei­ terer Bevölkerungskreise waren, die immer wieder zu Rate gezogen wurden, entwickelte sich im letzten Drittel des 18. Jh. seine sogenannte extensive Lektüreweise. Es wurden immer wieder neue Stoffe als Romane, Unterhaltungsschriften der verschiedensten Art, oft auch als Periodika, gelesen, wobei verstärkt auch neue soziale Schichten, Handwerker, Bedienstete, Manufakturarbeiter, auch Frauen, als Leser in Erscheinung traten.1 Cranz hatte in Berlin Zensurfreiheit erlangt, diese aber nach einiger Zeit wieder verloren. Wir wollen im folgenden auf diese Seite seines Schaffens etwas näher eingehen, unter Heranzie­ hung bisher nicht veröffentlichter handschriftlicher Quellen sowie seltener Drucke dieses Autors.2 Uns interessiert vor allem die Beantwortung zweier Fragen: 1. auf welche Weise erlangte er Zensurfreiheit, und welche Auswirkungen ergaben sich daraus, und 2. wie hat er sie wieder verloren und welche Folgen waren damit verbunden?

1 Zur Zensurfreiheit von August Friedrich Cranz in der Zeit von 1779 bis 1782

In seiner Studie „Die Freiheit der öffentlichen Meinung unter der Regierung Friedrichs des Großen" schreibt Franz Etzin in bezug auf die seit dem 1. Juni 1772 gültige neue Ministerial- verordnung, die das Zensuredikt von 1749 abgelöst habe: „Unter der neuen Verordnung für die Buchzensur kam es auch vor, daß einzelnen Leuten völlige Freiheit der Meinungsäußerung

94 Abb. 1: ' ** '•" i -«spr. Druckerlaubnis durch ^ &*ffijW'-£t£. ,#*, j^Uj^j!" > Friedrich II. für die periodi- " * ' ' sehen Blätter von Cranz *

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für die von ihnen zu veröffentlichenden Werke zugesichert wurde. Es ist nicht ersichtlich, durch welche Mittel sie zu diesem Sonderrecht gelangten. Nur besonderes Vertrauen des Königs oder der verantwortlichen Minister kann ihnen dazu verholfen haben. Einer solchen Freiheit erfreute sich der Kriegs- und Steuerrat Heinrich Crantz."3 Bereits Zeitgenossen berichteten, daß Cranz unter dem Schutz Friedrichs gestanden habe. Der bekannte Berliner Aufklärer Friedrich Gedike geht in der Berlinischen Monatsschrift auf die Dominanz der Aufklärung und die Beweise für die Meinungsfreiheit in Berlin ein und verweist darauf, daß diese Freiheit teils sogar durch den ausdrücklichen Befehl des Monarchen erwirkt wurde, womit eine spezielle Kabinettsordre von Friedrich gegenüber Cranz, und zwar die vom 28. November 1782 gemeint sein dürfte.4 Die eingangs zitierten Verse von Cranz beziehen sich unmittelbar auf die Entschei­ dung Friedrichs des Großen vom 28. November 1782, wir kommen noch darauf zurück.

95 1.1 Zur Erteilung der Zensurfreiheit

Cranz hatte sich Anfang September 1779 mit einem Antrag an den König gewandt. Er wurde von Friedrich am 6. September 1779 (vgl. Abb. 1) positiv beschieden, zunächst so, daß dem Kriegsrath Cranz „wohl erlaubet werden kann, seine periodischen Blätter, wovon ein Stück hierbey liegt, ferner drucken zu lassen .. ."5 Der Kriegsrath Schlüter als der von der Sache her zuständige Zensor wurde von dem Etats-Minister von Münchhausen über diese Kabinettsor- dre des Königs mit Schreiben vom 8. September 1779 unterrichtet. Am 13. September geht Münchhausen auf die Zensurfreiheit direkt ein. In einem Schreiben an Schlüter (Abb. 2) heißt es: „In Folge der Cabinets-Ordre vom 6. Sept. sind des Kriegsraths Cranz periodische Blätter von der Censur befreyet.. ."6

1.2 Beweggründe und Folgen der Zensurfreiheit

Zunächst verdient hervorgehoben zu werden, daß die Initiative von Cranz selbst ausging. In seiner Unterhaltungsschrift „Meine Lieblingsstunden in Briefen", 2 Bände, die 1781 bei dem bereits erwähnten Berliner Buchhändler Ch. L. Stahlbaum erschienen sind, hat er sich ziemlich klar zur Zensur geäußert. In seiner „Vorrede zum zweyten Theil", geschrieben am 27. August 1779, geht er in dieser Frage davon aus, daß es der Zensor nicht einfach hat. „Es ist ein gar zu epinenses Amt Zensor zu seyn. Wenn einmal Zensur da ist, wer soll ihre Grenzen bestimmen?" Cranz stellt fest, daß der Zensor „arm ist", er aber als Autor lieber selbst die Verantwortung übernehmen möchte. „Mag lieber was ich thue und schreibe bey meinen Obern selbst verant­ worten. Um also niemand meiner Schriften wegen in Unruhe zu lassen, suchte ich — in dem Bewußtseyn der treuesten Ergebenheit gegen die Gesetze des Staats die unmittelbare aller­ höchste Königliche Protektion und Erlaubniß auf meiner eigenen Verantwortung, meine peri­ odischen Schriften ungehindert fortsetzen zu dürfen."7 Cranz wollte sich in seinem schriftstel­ lerischen Schaffen die besten Bedingungen, eine möglichst große Unabhängigkeit, sichern. Dieses Ziel glaubte er im wesentlichen durch drei Schritte zu erreichen: 1. Verzicht auf sein Amt als Kriegs- und Steuerrath und Aufnahme einer Tätigkeit als freier Schriftsteller in Ber­ lin8, 2. Erlangung der Druck- und Zensurfreiheit und 3. Tätigkeit nicht nur als Autor, sondern gleichzeitig als Herausgeber, als „Selbstverleger", in der Kombination der Herausgabe von Zeitschriften und periodischen Blättern. Cranz vertraute sich damit in einem starken Maße dem sich auch in Berlin herausbildenden modernen Buchmarkt an; er ging ein sehr hohes unternehmerisches Risiko ein, auch finanziell, indem er hohe Kredite zur Selbstfinanzierung aufnahm. Dieser sehr eigenwillige Autor wollte viel schreiben und „nicht nach Art der privile- girten Journalisten ankündigen, was vorgeschrieben wird, sondern wie ichs finde" .9 „Mein Plan war, auffallende Dinge zu schreiben, um das Publikum stark in Contribution zu setzen — weil ich Geld brauchte."10 Gerade deshalb, sowohl aus Gründen der „Brodschreiberei" als auch weil er glaubte, daß der Schriftsteller ein natürliches Recht auf Meinungs-, Zensur- und Presse­ freiheit habe, wollte er Zensurfreiheit haben. „Ich habe sie erhalten, diese nie genug zu vereh­ rende allerhöchste Protektion des besten der Könige, und unter diesen glorieusen Schutz, unter dem milden Schatten der königlichen Huld athmet mein Geist edle Freyheit des wahren Mensch. Meine Brust schläft sanfter."11 Aus der Sicht des Königs lag 1779 nichts vor, was eine ablehnende Haltung bedingt hätte, zumal er bereits in einer viel früheren Zeit, in den vierziger Jahren, einen solchen Versuch bei Ambrosius Haude gestartet hatte und das Bestreben von Cranz auch ganz in der Denkart

96 Abb. 2: Zensurbefreiung für die periodischen Blätter durch den Etats-Minister von Münchhausen

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Friedrichs lag: „Was mich betrifft, so wünsche ich ein edles, kühnes, freidenkendes Volk zu beherrschen, ein Volk, das Macht und Freiheit hätte, zu denken und zu handeln, zu schreiben und zu sprechen ..."12 Warum sollte man bei einem Kriegsrath, der noch dazu in Cleve tätig gewesen war, eine solche Vergünstigung nicht ermöglichen? Die Formulierung, daß dem Kriegsrath Cranz „wohl erlaubet werden kann", deutet darauf hin. Cranz war während seines ersten Aufenthalts in Berlin Hauslehrer beim Grafen Solms, und er soll seine Stelle als Kriegs­ und Steuerrath in Cleve auf dessen Empfehlung erhalten haben. Möglicherweise gab es auch bei der Erteilung der Zensurfreiheit eine befürwortende Stellungnahme der Familie Solms. In dem Freiherrn von Münchhausen hatte Cranz jedenfalls einen Minister, der dem König sehr nahestand und dem Antrag wohlwollend gegenüberstand. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, daß Cranz trotz der ihm erteilten Zensurfreiheit dennoch unter Kontrolle stand, keine „völlige Freiheit der Meinungsäußerung" hatte, wie Etzin schreibt, denn genaugenommen war er nur von der Vorzensur, nicht aber von der Zensur überhaupt befreit. Münchhausen teilte dem Zensor Schlüter am 13. September 1779 aus-

97 drücklich mit, daß „Cranz vor dem Inhalt verantwortlich bleibet".13 Schlüter war ein von sei­ nem Amt äußerst besessener Zensor, und er machte von Anfang an auch aus seiner ablehnen­ den Haltung gegenüber der erteilten Zensurfreiheit kein Hehl. Er beklagte, daß er nunmehr keine einheitliche Zensorennorm mehr habe und andere Autoren dann ebenfalls Forderungen stellen könnten. Da Cranz und Schlüter offensichtlich sehr unterschiedliche Auffassungen über Schriftstellerei hatten und sie sich zudem rein subjektiv mit äußerster Antipathie gegenüber­ standen, kam es von Anfang an zwischen den beiden Kriegsräthen zu Spannungen und zu zahl­ reichen Auseinandersetzungen.14 Anfangs wirkte sich die Zensurfreiheit für Cranz als durchaus positiv aus. Er konnte viel publi­ zieren, und da er in seiner Schreib-Art die freie Denk-Art des Königs nutzte, erregte er Auf­ merksamkeit. Die Nachfrage nach seinen Schriften stieg; er hatte auch gute Einnahmen, wie er glaubhaft berichtete. „Ich hatte von Anbeginn meiner Schriftstellerschaft das Glück gehabt, daß alles, was ich drucken ließ, häufig verkauft, und viel gelesen wurde." a Zugleich rief Cranz mit seiner Vielschreiberei, der ungewöhnlichen Art, wie er schrieb, und der öffentlichen Ver­ kündung, daß er von der Zensur befreit sei, verschiedene Widersacher auf den Plan. Cranz berichtet, daß er sich viele Feinde gemacht habe, „daß Männer von Wichtigkeit und Einfluß sich ganz ernstlich auf die Lauer legten mich zu verderben, mich selbst bey der ersten Gelegen­ heit um der von Sr. Königl. Majestät Allerhöchst verliehenen Censurfreyheit zu bringen, Bedacht nähmen; daß Männer, die mit Christenthum und Wohldenkenheit viel Parade machen, mir Gruben bereiteten — und ihre Schleuder mit Steinen luden, um mir solche an den Kopf zu werfen".16 Es scheint, daß vor allem zwischen gleichgelagerten Autoren, Wochen­ schriftenschreibern, in Berlin ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf geführt wurde. Da die Gegner von Cranz, die allerdings nicht nur unter Autoren zu suchen waren, zunächst nichts Genaues über die verliehene Zensurfreiheit wußten, waren sie am Anfang vorsichtig, zumal einige „Berichterstattungen" über Cranz am Hofe bei Friedrich keinen Anklang fanden. „Laß er ihn immer schreiben, das müssen wir uns alle gefallen lassen", so etwa soll der König geant­ wortet haben.17 Daß es Versuche gab, den Konkurrenten Cranz zu vernichten, wurde vor allem sichtbar, als gegen ihn 1782 zwei anonyme Schmähschriften veröffentlicht wurden. Daraufhin strengte Cranz einen Injurienprozeß gegen Schlüter an, der nach seiner Meinung seine Pflich­ ten als Zensor verletzt habe, indem er diese Schriften habe unzensiert durchgehen lassen. Der Drucker hatte bei Schlüter tatsächlich angefragt, ob er so etwas drucken könne, und aus den Akten ist zu entnehmen, daß der Zensor dagegen keine Einwände hatte; sogar von einer Ermunterung des Druckers ist die Rede. Möglicherweise hat der Zensor mit den Pasquillanten zusammen gearbeitet.18 Obwohl der Injurienprozeß schließlich nicht zustande kam, hatte aber das Ansehen von Cranz durch die Schmähschriften gelitten. Die Rufmord-Campagne gegen Cranz, wozu er allerdings auch selbst durch falsches Verhalten beigetragen hatte, nahm ihren Lauf. Man muß bei ihm zwischen subjektiven und objektiven Faktoren unterscheiden. Rein subjektiv war sein Vorgehen insofern kritikwürdig, als er zwar auf die neuen Möglichkeiten, die sich aus der Herausbildung des modernen Büchermarktes ergaben, sehr wagemutig ein­ stieg, er aber mit Geld im unternehmerischen Sinne überhaupt nicht umgehen konnte, so daß er bei seinen Kreditoren deshalb zunehmend in Mißkredit geriet. Objektiv betrachtet hatte sich Cranz mit seinen Unterhaltungsschriften von der in Berlin dominierenden Art der Literatur in Gestalt der Moralphilosophie abgesetzt. Er war ein herausragender Vertreter des sich in dieser Stadt neu entwickelnden Unterhaltungsschrifttums unterhalb der Popularphilosophie, und er entsprach damit durchaus den neuen Bedingungen des Buchmarktes, vor allem in bezug auf Unterhaltung. Da er in seine Stücke oft kritische Untertöne, Charlatanerien u. ä. „nur so nebenbei" mit einfließen ließ und nicht wie etwa Wieland und Nicolai die Mittel der Verfrem-

98 Abb. S.­ Instruktion des Königs an den Minister von Münch- hausen über die Vorgehens­ weise gegenüber Cranz

dung nutzte, mitunter sogar ziemlich deutlich adressierte, stieß er jedoch auf die Schranken der Zeit. Besonders deutlich wurde dies, als das „Erneuerte Censur-Edict" von 1788 erlassen wurde, in dem „sogenannte Volksschriften" scharf kritisiert wurden; man kann mit Sicherheit feststellen, daß die Cranzschen Schriften für die diesbezüglichen Passagen Modell gestanden haben. Aber auch die Berliner Aufklärer kritisierten die Fliegenden Blätter von Cranz, weil sie nach ihrer Auffassung „keinen edlen Zweck verfolgten, nicht nützlich" seien, obwohl sie beim Publikum sehr gefragt waren. Cranz konterte immer damit, daß Unterhaltung durchaus nütz­ lich sei: „Das Urtheil des Publikums, nicht einzelne, sondern die meisten Stimmen der wirkli­ chen Leser, werden mir zum Barometer dienen." „Indessen kenne ich zu meiner Befriedigung viele vernünftige Leser die den Nutzen mancher vergnügten Stunde von meinen Schriften gehabt haben."19

2 Verlust der Zensurfreiheit und Folgen

Die ständigen Reibereien, die Cranz seit der Erlangung der Zensurfreiheit mit dem für Wochenschriften und periodische Blätter zuständigen Zensor Kriegsrath Schlüter hatte, die aber meist nicht an die Öffentlichkeit kamen, aber auch mit strenggläubigen Lutheranern oder Pietisten, traten in dem Moment offen zutage, als er dazu überging, seit November 1782 die Berlinische Correspondenz herauszugeben. Obwohl es sich bei dieser Zeitschrift um eine

QQ Wochenschrift handelte, kam sie vom Inhalt, ihrer Themenstruktur, Machart, Funktion und Wirkung sehr stark in die Nähe einer Tageszeitung. Waren für die beiden einzigen Berliner Tageszeitungen, die 1721 gegründete „Berlinische privilegierte Zeitung", die spätere „Vossi­ sche Zeitung", und die 1746 gegründeten „Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehr­ tensachen", die unter dem Namen „Haude-Spenersche Zeitung" bekannt wurde, die Zensur­ bestimmungen ohnehin bereits schärfer als bei Büchern, Broschüren, so kam für die Berlini­ sche Correspondenz von Cranz noch verschärfend hinzu, daß der Herausgeber über Berlin unterhaltsam und zugleich räsonierend berichten wollte, wobei er sich auch auf das Feld der Politik wagte. „Um die neuesten Revolutionen in den europäischen Staaten einem jeden ver­ ständlich zu geben, werde ich Beschreibungen von Staaten, von Verfassungen und die Geschichte derselben in gedrungener Kürze voranschicken, und mir politische Raisonnements erlauben, um richtige Einsicht in allgemein interessirende Begebenheiten zu befördern."20 Bereits im 1. Stück vom 15. November 1782 gab er von dieser Zielstellung eine Probe, in dem er ein Urteil des Berliner Cammergerichts über den in Berlin sein Unwesen treibenden „neuen Messias" Rosenfeld, wir würden heute sagen, „erörterte". Obwohl er diesen Menschen offen­ bar für ein schädliches Mitglied der Gesellschaft hielt, auch das Urteil hielt er für gerecht, bemängelte er die Begründung: „ . . . aber die Gründe des Referenten sind kein Kompliment für ein Zeitalter, dem man in mehr als einem Betracht zuviel Ehre erweiset, wenn man ihm nicht einen neuen Thomasius wünschen sollte, um die Erleuchtung selbst in Gerichtshöfen zu beför­ dern."21 Daraufhin kam es am 25. November zu einem heftigen Protestschreiben des Berliner Cammer­ gerichts an den König, mit dem Vorschlag „dem Hoffiscal Behrends den Auftrag zu thun, den Crantz wegen dieser ... aufrührerischen, in öffentlichen Blättern angebrachten Critique sofort zur Verantwortung zu ziehen, und dem Landreuter aufzugeben, den Crantz .. . zur Hauß Vog- tey abzuliefern".22 Schon am nächsten Tag stellte der General-Fiscal einen Haftbefehl aus, dem sich Cranz jedoch durch die Flucht nach Potsdam entzog. Hier überreichte er dem König seine Petition. Dieser erließ am 28. November die folgende Cabinettsordre. Wir zitieren hier die Bayreuther Zeitung Nr. 149 vom 3. Dezember 178223: „Der Kriegsrath Cranz, der bekannte Berlinische Schriftsteller, fährt noch immer fort, das hie­ sige Publikum mit seinen kleinen periodischen Werken voll beißender Satyre zu amüsieren, sich aber auch öfters manchen Verdruß damit selbst zuzuziehen. Seine Kritic im ersten Stück seiner Berlinischen Correspondenz ist ein neuer Beweis davon. Da er geglaubt, das von dem Criminal-Senat des Kammergerichts gesprochene Urteil über den letzhin ausgepeitschten vor­ geblichen neuen Messias sey nicht philosophisch genug abgefaßt, so nimmt er den Referenten desselben darüber heftig durch. Es war aber andern, daß Herr Cranz durch den Fiscus deshalb sollte arretiret werden, wenn er nicht die Flucht ergriffen und sich nach Potsdam begeben hätte. Hier überreichte er dem Monarchen seine Vorstellung und bittet um Schutz wider seine Anklä­ ger. S. Majestät haben ihm aber darauffolgende merkwürdige Cabinetts-Resolution ertheilen lassen: ,So lange der Kriegsrath Cranz zu Berlin sich in seinen Schriften in denjenigen Schran­ ken, die ein jeder ehrliebender Mann beobachten muß, halten und nichts darinn einfließen las­ sen wird, was wider den Staat, eine aufgeklärte und vernünftige Religion und die guten Sitten läuft, so lange wird ihn auch der König bey der ihm bewilligten Censurfreyheit schützen. Zu dem Ende haben Se. Majestät den Befehle an den Staatsminister von Münchhausen für diese Freyheit nicht nur erneuert, sondern Sie haben ihm auch zugleich befohlen, ihn wegen seiner neuerlichen periodischen Schrift wider allen Anfall und Gefangenschaft in Schutz zu nehmen. Se. Majestät erwarten nun aber auch Ihrer Seits, daß er diese Freyheit nicht mißbrauchen, und seine beißende Feder so in dem Zaum halten werde, damit Sie sich nicht genöthigt sehe, diese

100 Abb. 4: Schreiben der Minister von Finckenstein und von Hertz­ berg an den König in der Angelegenheit der „Österrei­ chischen Charlatanerien" mit der Marginal-Ordre vom 4. Dez. 1782

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Freyheit wieder aufzuheben, und andere scharfe und für ihn empfindliche Verfügungen erge­ hen lasse. Potsdam, den 28. November 1782 Friederich." Äußerst wichtig ist dabei ein Kabinettsschreiben des Königs vom selben Tage an den Minister von Münchhausen (vgl. Abb. 3), weil in ihm die Haltung Friedrichs zu Cranz noch etwas deutli­ cher als in der Cabinettsordre sichtbar wird: „Mein lieber Staats Minister von Münchhausen. Der Kriegs-Rath Crantz soll auf die Original-Anlage so wenig in seiner ihm ertheilten Censur- Freyheit beeinträchtigt, als wegen seiner beygelegten periodischen Schrift von jemand beunru­ higt werden. Ich will vielmehr, daß Ihr Ihn dagegen, so oft er nichts wider den Staat, eine ver­ nünftige Religion, wahre Tugend, und gute Sitten, schreibt, jedesmal schützen sollet, jedoch habe Ich ihn bey dieser Gelegenheit gewarnet, daß er nicht allzu naseweis seyn möchte, sonsten er doch einmal anlaufen, und seine beißende Schreib-Art ihm Ungelegenheiten zuziehen könte. Ich überlaß obiges Eurer Verfügung und bin Euer wohl affektionirter König. Potsdam den 28ten November 1782 Friedrich".24

101 Daraus geht klar hervor, daß Cranz beim König unmittelbar vorgelassen wurde und von ihm direkt Ratschläge erhielt. Der König verwies ihn dann an Münchhausen, der das weitere veran- laßte. Merkwürdig an diesem Zensurfall ist einmal die erlassene Cabinetts-Ordre. Cranz wurde also nicht, wie vom Cammergericht vorgeschlagen, inhaftiert, sondern die Zensurfreiheit wurde erneuert und der Minister von Münchhausen sogar mit seinem Schutz beauftragt. Eigentlich noch merkwürdiger wird der „Zensurfall Cranz" aber dadurch, daß der Befehl des Königs nach nur einer Woche, am 4. Dezember 1782, bereits wieder aufgehoben wurde und Cranz seit dem 6. Dezember 1782, nicht erst 1783, wie Etzin feststellt, der üblichen Zensur unterworfen wird, verbunden auch mit Auswirkungen auf das gesamte Berliner Buchwesen. Wie kam es zu einer so schnellen Veränderung? Cranz hatte in dem 2. Stück seiner Berlinischen Correspondenz, das vermutlich am 22. November erschienen war25, angekündigt, daß er über die von Kaiser Joseph II. seit 1780 eingeleiteten Reformen berichten will. Es heißt bei ihm: „Anfrage des Verfassers an seine Leser. Seit dem Antritt der Regierung Kayser Josephs des zweyten, sind alle öffentlichen Blät­ ter von den neuen Reformationen und treflichen Anordnungen, welche in den österreichischen Erbländern vorgenommen werden, angefüllt... Meine darüber erhaltene Originalnachrich­ ten bin ich nicht abgeneigt, unter dem Titel: Oesterreichische Realitäten und Charlatanerien öffentlich herauszugeben, und solche mit freyen Raisonnements für das Publikum in Wien und Prag Stückweise drucken zu lassen." Er fragt an, ob das hiesige Publikum am Besitz solcher Nachrichten interessiert ist, und er bittet um Subscription beim Buchhändler Stahlbaum an der Stechbahn.26 Damit begab er sich auf ein für Brandenburg-Preußen äußerst sensibles Gebiet, die Beziehungen zu Österreich bzw. zum Kaiser in Wien. Von der Zensur her war dafür das Außenministerium zuständig. Finckenstein und Hertzberg wandten sich mit Schreiben vom 4. Dezember 1782 (vgl. Abb. 4) an den König, machten auf die Konsequenzen einer derartigen eventuellen Veröffentlichung aufmerksam und sagten außenpolitische Verwicklungen voraus. „Wir glauben, daß es unsere Pflicht ist, Ihrer Majestät zu berichten, daß der besagte Kriegsrath Cranz offensichtlich zum Nachteil der Interessen des Staates die Zensurfreiheit, die ihm gewährt wurde, mißbraucht hat." Bemängelt wird, daß der Autor seinem Publikum verspricht, „besondere Begriffe seiner Einschätzung zu den Reformen des Kaisers zu geben ... Der Titel Charlatanerien enthält schon eine Beleidigung gegen die Regierung des Kaisers, und dieser wird nicht zögern, Genugtuung zu fordern ... Schließlich haben wir Grund zu der Vorhersage, daß dieser Mensch Ihre Majestät kompromittieren wird bei allen Höfen und daß wir nicht mehr wissen werden, was wir auf deren Klagen antworten sollen."27 Der Schaden, der dadurch ent­ steht, ist dann im nachhinein durch eine bloße Bestrafung nicht immer zu reparieren, schreiben sie am 7. Dezember.28 Die Randnotiz des Königs zum Schreiben vom 4. Dezember lautete: „il faut les soumettre ä la Critique . .. ne permettre l'Impression que des choses, qui ne choquent point les Prussames de l'Europe. Frederic."29 Bezugnehmend auf diese Marginal-Ordre Fried­ richs vom 4. Dezember teilten Finckenstein und Hertzberg am 6. Dezember Cranz mit, daß er nunmehr wieder der Zensur unterworfen sei. Ihm wurde eine solche Veröffentlichung bei Stra­ fandrohung untersagt und genau vorgeschrieben, im doppelten Sinne, daß und wie er zu wider­ rufen habe.30 Der Autor wandte sich wieder an den König und beschwerte sich über die Vorge­ hensweise des auswärtigen Departements, hatte damit aber keinen Erfolg. Da das 2. Stück, der Stein des Anstoßes, bei seinem Aufenthalt in Potsdam am 21.12%. November höchstwahr­ scheinlich bereits vorgelegen haben dürfte, als der Monarch die Zensurfreiheit von Cranz erneuerte, kann man vermuten, daß wir es hier mit unterschiedlichen Herangehensweisen in bezug auf Zensurbedingungen zu tun haben, denn immerhin ist in der Marginal-Notiz des

102

. Abb. 5: Special Befehl zur Zensur­ Berliner Buchhändler und Buchdrucker vom ~? 4. Dez. 1782 O^

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Königs von einer Mißbilligung nicht die Rede. Im Gegenteil: Wir interpretieren die Notiz so, daß Friedrich bei entsprechender Kritik oder Zensur durchaus für eine Veröffentlichung war. Auch ein Schreiben von Finckenstein und Hertzberg an Münchhausen vom 7. Dezember deu­ tet in diese Richtung wie die Entscheidungsalternativen, die bereits im Schreiben vom 4. Dezember benannt werden (vgl. Abb. 4). Zweifellos waren die von Finckenstein und Hertz­ berg gegenüber Cranz eingeleiteten Maßnahmen sowohl durch die Cabinetts-Ordre des Königs vom 28. November als auch durch die mehr oder weniger allgemein gehaltene Rand­ notiz vom 4. Dezember gedeckt, aber es scheint, daß Friedrich zwar für eine mehr „kontrol­ lierte Publikationspolitik", nicht aber für Verbot, Wegnahme der Zensurfreiheit u. ä. gegen­ über einem Mann wie Cranz war, der „seine Berliner" immerhin oft auf recht groteske Weise zum Lachen brachte; zumal dieser Wochenschriftenschreiber zwar auch manche Handlungen von Staatsdienern, auch Ministern, respektlos offenlegte, er aber ein überzeugter Anhänger der brandenburg-preußischen Monarchie war. Welche Widersprüche der viel zitierte Begriff „aufgeklärter Absolutismus" einschließt: am Zensurfall Cranz kann die diesbezügliche Pro­ blematik in Reinkultur studiert werden. Im Rückblick aus dem Jahre 1790 machte Cranz in

103 bezug auf diesen Zensurfall eine sehr interessante Feststellung: „Bis dahin rechnete ich allein auf den großen, allein herrschenden König, dachte nicht auf den Einfluß der Mächtigen, die dem souverainsten Willen andere Richtung geben können — und fügte mich in die Umstände — mußte sich der große König doch auch fügen!"31 Was den ihm wörtlich vorgegebenen Widerruf betraf, so mußte er ihn in seine Zeitschrift auf­ nehmen. Allerdings brachte er zahlreiche nicht von der Hand zu weisende Argumente an, die für eine solche Veröffentlichung sprachen und begründete sein Vorhaben auch dem König gegenüber. Er schreibt u. a.: „An der mir marquirten Königl. Ungnade bin ich unschuldig. So lange Schlözers Briefwechsel und Staatsanzeigen hier öffentlich debitirt werden, so lange Büsching seine Materialiensammlung zur neueren Geschichte öffentlich herausgiebt und die hießigen Zeitungen Beweise enthalten daß Kaiserliche Verfügungen und Reformen um alte Mißbräuche abzustellen auch von hießigen Landeseinwohnern ohne Verbrechen gewußt wer­ den dürfen, so lange waren die Nachrichten, welche ich unter dem Titel: Oesterreichische Rea­ litäten und Charlatanerien ankündigte die unschuldigste Sache von der Welt..."32 Wenn er in seiner Berlinischen Correspondenz allerdings feststellte, daß „kein Gesetz existirt, wodurch die Geschichte des laufenden Zeitalters, außer den Grenzen des brandenburgischen Vaterlandes, zu kennen verboten wäre"33, so irrte er insofern, da im Zensuredikt von 1749 Formulierungen enthalten waren, die in ihrer Allgemeinheit — nichts wider den Staat zu veröffentlichen, durch­ aus im Sinne eines Verbotes ausgelegt werden konnten. Und dieses Zensuredikt von 1749, die Grundsubstanz, war auch 1782 noch voll gültig, nicht, wie Etzin meint, das von 1772. Hier han­ delte es sich um eine wichtige Präzisierung, nicht aber in bezug auf die drei klassischen Zensur­ grenzen. Tatsächlich waren die außenpolitischen Argumente so stark, daß Cranz in diesem Fall nicht recht behielt. Richtig ist, daß in den achtziger Jahren in Brandenburg-Preußen, speziell in Berlin, viel über die Reformpolitik Josephs II. veröffentlicht wurde; in der gelehrt-wissen­ schaftlichen und auch in der popularphilosophischen Form war das möglich. Daß es bei Cranz zu einem Verbot kam, lag hauptsächlich auch daran, daß dieser Autor, oft Satirenschreiber, sehr eigenwillig und kaum berechenbar war. Seine populär-unterhaltsame Schreibweise erreichte auch Handwerker, breitere Schichten. Erfolgreich waren die Bemühungen von Cranz, von dem Zensor Schlüter befreit zu werden, der offiziell, nach dem 6. Dezember, nur noch wenige Tage gegenüber Cranz im Amt war. Es dürfte auf den König und seinen Minister Münchhausen zurückzuführen sein, daß er schon am 13. Dezember den bekannten Berliner Aufklärer Geheimrat C. W. von Dohm als Zensor zuge­ teilt bekam, mit dem er 1783 und 1784 auch relativ gut arbeiten konnte, und der wie Friedrich, der Großkanzler von Carmer und Münchhausen im Gegensatz zu Hertzberg und Finckenstein mehr für eine „aufgeklärte Zensurpolitik" gegenüber Cranz eintrat. Wie gefährlich dieser Autor in seinem Bestreben, „lächelnd Wahrheiten zu verkünden", 1782 in Berlin eingeschätzt wurde, das wurde nicht zuletzt daran sichtbar, daß es sogar zu einer speziellen Art von Zensur­ erneuerung in Auswirkung der geschilderten Vorfälle kam, wobei auch hier das Departement für Auswärtiges die Regie übernahm. In einem vom Finckenstein und Hertzberg am 7. Dezem­ ber 1782 erteilten „allergnädigsten Special Befehl" an sämtliche Berliner Buchhändler und Buchdrucker heißt es bei Androhung von Strafe, „daß sie nicht das geringste, auch nicht für den Kriegs Rath Cranz, drucken sollen, was nicht die ordnungsmäßige Censur passirt" (Abb. 5).34 Das bereits 1749 erlassene Zensuredikt war, wie weiter oben betont, in seiner Grundsubstanz immer noch gültig. In der Praxis der siebziger und achtziger Jahre wurde es aber teilweise nicht beachtet. Nicht wenige Berliner Buchhändler hielten sich nicht an die Bestimmungen des Edikts. Sie reichten ihre Manuskripte nicht ein und waren quasi zu einer Art Selbstzensur über­ gegangen, weil sie aus Erfahrung wußten, was sie schreiben durften und was nicht.

104

. Die Rücknahme der erteilten „Zensurfreiheit" an Cranz, der erlassene „allergnädigste Special Befehl" vom 4. Dezember 1782 wie die Untersuchung der Zensurbedingungen dieses Autors insgesamt, die er von 1779 bis 1782 hatte, all das macht das Widersprüchliche der spätfrideri- zianischen Zeit deutlich. Sein Spielraum als Autor war tatsächlich relativ groß, was die Behaup­ tungen von Gedike über die Berlinischen Freiheiten durchaus bestätigt. Andererseits hatte die Zensur in dem Staate Brandenburg-Preußen Grenzen. Dies war aber durchaus nicht etwas, das nur auf Preußen zutraf, noch viel weniger sind die Vorgänge um Cranz etwa eine Bestätigung des vielzitierten Lessingschen Zitats, wonach Preußen das sklavischste Land Europas gewesen sei. Eher zeugen sie vom Gegenteil. Es waren Grenzen der Zeit, des 18. Jahrhunderts über­ haupt.

Anmerkungen 1 Über die Zäsur im Leseverhalten, dem Wandel von einer intensiven zu einer mehr extensiven Leseweise, vgl. die Schriften von Rolf Engelsing, bes.: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 10 (1970), Sp. 945—1002, Frankfurt/Main, neuerdings das Kapitel VI. Die Entstehung des modernen Publikums — die „Leserevolution", in: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, von Reinhard Wittmann, München 1991, S. 171-199. 2 Für die uns gewährte Hilfe und Unterstützung bei der Nutzung der Quellen möchten wir uns herz­ lich bedanken bei Herrn Dr. W. Vogel, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin- Dahlem, Frau Dr. Kohnke und Herrn Dr. Waldmann, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kultur­ besitz, Abt. Merseburg, sowie Herrn A. Burkhardt, Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg e.V. Die vorliegenden Ausführungen sind Teil einer Studie des Verfassers mit dem Titel: August Friedrich Cranz. Ein fast vergessener Berliner Schriftsteller im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Zwischen Zensurfreiheit und Zensorenmacht. Ein Versuch aus den Quellen. 3 Vgl. in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 33 (1921) S. 127. Der Vorname Heinrich ist falsch, gemeint ist August Friedrich Cranz. So schrieb er sich selbst immer. In der Literatur ist auch die Schreibweise Crantz anzutreffen. Cranz wurde auch nach seinem Aus­ scheiden aus der clevischen Kriegs- und Domainenkammer, in der er als Kriegs- und Steuerrat tätig war, zumeist als „Kriegsrath Cranz" bezeichnet. 4 Wir beziehen uns hier auf die von Harald Scholtz herausgegebene Schrift Friedrich Gedike: Über Berlin. Briefe „Von einem Fremden" in der Berlinischen Monatsschrift 1783—1785. Berlin 1987, bes. auf den 5. Brief Dominanz der Aufklärung und Beweise für die Meinungsfreiheit in Berlin, S. 28-32. 5 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK), Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2 a, Fasz. 30, Bl. 1. 6 Ebenda, Bl. 1 R. 7 Meine Lieblingsstunden in Briefen, den besten Menschen bestimmt. Berlin 1781, S. 271. Die 1. Auflage dieser Schrift erschien bereits 1779 in Baden. 8 In Berlin lebten im letzten Drittel des 18. Jh.s etwa 280 Schriftsteller. Darunter waren aber nur sehr wenige „freie Schriftsteller", die das Schreiben berufsmäßig betrieben, womit bedeutende Risiken in finanzieller Hinsicht und auch in bezug auf ihr Ansehen in der Gesellschaft verbunden waren. Zu dieser Problematik verweisen wir auf zwei Abhandlungen: Helga Eichler: Berliner Schriftstel­ ler und Publizisten am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturge­ schichte. 30. Band (Neue Folge Bd. 15), Jahrgang 1987, Berlin 1987, S. 9-42, und Wolfgang von Ungern-Sternberg, Schriftsteller und literarischer Markt (Hansers Sozialgeschichte der deut­ schen Literatur, Bd. 3, hrsg. von R. Grimminger. Erster Teilb.) München 1984, S. 133—185. 9 Berlinische Correspondenz historischen und litterarischen Inhalts. Eine periodische Schrift. Von dem Verfasser der Lieblingsstunden, Berlin 1782, S. 5. 10 Fragmente über verschiedene Gegenstände der neuesten Zeit. Berlin 1790, S. 14.

105 11 Meine Lieblingsstunden, S. 271. 12 In der Übersetzung aus den Werken Friedrich des Großen, veröffentlicht 1784 in der Berlinischen Monatsschrift, III, 316, abgedruckt in der Publikation: Norbert Hinske (Hrsg.) Was ist Aufklä­ rung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift (1783-1786), Darmstadt, 1981, S.393, zitiert bei Harald Scholtz, S. 161. 13 Vgl. Abbildung 2, Note 6. 14 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 16-17, verschiedene Seiten. 15 Fragmente, S. 3/4. 16 Charlatanerien in alphabetischer Ordnung, als Beyträge zur Abbildung und zu den Meynungen des Jahrhunderts. Berlin 1781, S. 4/5 im 4. Abschnitt. 17 Wir stützen uns auf Selbstdarstellungen von Cranz; zu nennen ist z. B. seine periodische Schrift Fragmente über verschiedene Gegenstände ..., hier Seite 16, die aber in den Akten über ihn durchaus bestätigt werden. 18 Auf diese für die Zensurgeschichte hochinteressante Seite können wir aus Platzgründen hier nicht näher eingehen. 19 Zitate aus der Berlinischen Correspondenz, S. 126/127 und Anhang, 3. Beilage, S. 16. 20 Berlinische Correspondenz, 1. Stück, S. 4. 21 Berlinische Correspondenz, S. 11/12. 22 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 16/17, Blatt 51 R. 23 zitiert bei Franz Etzin, S. 128. In den Akten ist sogar von den „verschiedenen aufhetzerischen Schriften des bekannten Berlinischen Schriftstellers Herrn Kriegsrath Crantz" die Rede (Hand­ schriften zur Geschichte Berlins und der Mark Brandenburg. Eine Auswahl aus den „Manu- scripta Borussica" der Deutschen Staatsbibliothek, bearb. v. Helga Döhn, Berlin 1988, HA 1/6/ 60, S. 40, Abschrift einer „Cabinets Resolution" des Königs Friedrich II. von Preußen, Potsdam, 28.11.1782, an den Kriegsrath Crantz), geschuldet der Tatsache, daß Cranz oft ziemlich respekt­ los schrieb, er sich als Satirenschreiber nicht an die üblichen Normen hielt, obwohl er als ein „kon­ servativer Aufklärer" außerordentlich königstreu, keinesfalls ein Gegner des brandenburgisch- preußischen Staates war. 24 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 16-17, Blatt 45. 25 Dieses 2. Stück ist undatiert, aber zwischen dem 1. Stück (15.11.) und dem 3. Stück (30. IL), also wahrscheinlich als „Wochenstück" am 22.11. erschienen. 26 Seiten 31/32. 27 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 30, Blatt 9. Von uns aus dem Französischen über­ setzt. 28 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 16-17, Blatt48. 29 Vgl. Abb. 4. 30 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 16-17, Blatt 50. 31 Fragmente, S. 34. 32 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2 a, Fase. 30, Blatt 42. 33 Seite 70. 34 GStAPK, Abt. Merseburg, Rep. 9, F. 2a, Fase. 30, Blatt 62.

Schreibweise und Zeichensetzung der Originaltexte wurden von uns nicht verändert.

Anschrift des Verfassers: Dr. Dr. Dieter Reichelt, Traberweg 8, 0-1157 Berlin

Die Abbildung im Titel ist enthalten in seiner Publikation Der Freund des Staats eine periodische Schrift zur Verbreitung nützlicher Volkskenntnisse, Berlin, im Selbstverlag des Verfassers (1797)

106 Abb. 1: Eduard Veit (links) und Robert W. A. Warschauer im Bankgebäude Behrenstraße 48. Foto­ montage 1874 aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Bank.

Robert Warschauer (1860—1918) — ein Berliner Privatbankier Von Herbert May

Robert Warschauer war der Sohn Robert Wilhelm Adolph Warschauers (1816—1884), der 1849 zusammen mit dem Bankier Eduard Veit (1824—1901) das Berliner Bankhaus Robert Warschauer & Co. gegründet hat. Seine Wurzeln hatte das Bankhaus in dem 1803 in Königs­ berg gegründeten Handels- und Bankgeschäft Oppenheim & Warschauer, das seit 1805 von dem Großvater Robert Warschauers, Marcus Warschauer (1777—1835), mitgeleitet wurde und in dem von 1839 bis 1849 auch Robert W. A. Warschauer leitend tätig war.1 Damals war das Bankgeschäft zumeist nicht Gegenstand eines selbständigen Berufes, sondern trat häufig als Nebenzweig des Handels- und Speditionsgewerbes auf. Marcus Warschauer trat vermutlich als Erwachsener vom jüdischen zum christlichen Glauben über — sein Sohn ist bereits kurz nach der Geburt getauft worden2 — und gehörte damit zusam­ men mit den Berliner Bankiersfamilien Mendelssohn und Oppenheim zu der einige tausend Personen zählenden Gruppe von Juden, die vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Übertritt zum Christentum vollzogen haben.3

107 „Was auch immer die Motive beim Übertritt zum Christentum gewesen waren, die Taufe erwies sich tatsächlich als Eintrittbillet zur deutschen Gesellschaft, die die Preisgabe der jüdi­ schen Identität mit der vollständigen Integration zu belohnen schien."4 Insofern war die Ent­ scheidung für diesen Schritt in der Mehrzahl der Fälle weniger religiös als sozial bedingt: Trotz des Emanzipationsedikts von 1812, das die Juden zu preußischen Staatsbürgern mit entspre­ chenden Rechten und Pflichten machte, blieb die gesellschaftliche Wirklichkeit weit hinter dem Anspruch auf vollkommene soziale Gleichheit zurück.5 Der latent vorhandene Antisemitis­ mus des 19. Jahrhunderts wirkte hemmend auf die soziale Mobilität der Juden und verunsi­ chernd. Die Aufgabe der jüdischen Religion war daher „keine skurrile Verirrung charakterlo­ ser Verräter, sondern ... ein Reflex auf die allgemeine Lage des deutschen Judentums insbe­ sondere im Zeitalter der Restauration".6 Durch Heirat gelangten die Warschauers zu verwandtschaftlichen Beziehungen mit den Spit­ zen der preußischen Hochfinanz. Marcus Warschauer war mit der Nichte des bekannten Berli­ ner Bankiers Mendel Oppenheim verheiratet, Robert W. A. Warschauer heiratete 1840 Marie Mendelssohn, die Tochter Alexander Mendelssohns, seit 1828 Inhaber des Berliner Bankhau­ ses Mendelssohn & Co. Robert W. A. Warschauers Tochter Marie wiederum ehelichte Ernst v. Mendelssohn-Bartholdy, der seit 1874 das vorgenannte Mendelssohnsche Bankhaus leitete.7 Das junge Bankunternehmen Robert Warschauer & Co. hatte seinen Sitz im Berliner Banken­ viertel um die Behrenstraße, die parallel zur Straße Unter den Linden verläuft. Die Bank war zunächst in der Charlottenstraße ansässig, 1856 zog sie dann in ein größeres Haus in der Beh­ renstraße, das Robert W. A. Warschauer gekauft hatte. Im Erdgeschoß des um 1800 gebauten und 1909 abgebrochenen zweigeschossigen Hauses Behrenstraße 48 waren die Geschäfts­ räume untergebracht, das Obergeschoß diente der Familie Robert W. A. Warschauers, später dann auch der seines Sohnes Robert als Privatwohnung.8 Im Zusammenhang mit dem Aufstieg Berlins zum Bank- und Börsenplatz entwickelte sich das Bankhaus Robert Warschauer & Co. schon bald zu einem der renommiertesten und kapital­ kräftigsten Bankhäuser Preußens. Es war ohnehin noch die Zeit der Privatbankhäuser, eine Zeit, in der Gerson Bleichröder als wichtigster Geldbeschaffer Bismarcks fungierte. Zu den angesehensten Berliner Privatbanken zählten neben Robert Warschauer & Co. und Bleichröder die Häuser Delbrück, Gebr. Schickler, Leo & Co., J. Gebert & Co., F. M. Magnus, J. Mendelssohn & Co. sowie Gebr. Arons. Die Privatbankhäuser waren vor allem mit Staatsanleihen befaßt, in vielen deutschen Staaten jedoch auch an der Gründung von Eisenbahngesellschaften beteiligt.9 Die Staatsanleihen bildeten auch einen wesentlichen Geschäftsgegenstand des Bankhauses R. Warschauer & Co. — vor allem in den ersten drei Dekaden seines Bestehens. Bereits 1859 ver­ schaffte R. Warschauer im Konsortium mit anderen angesehenen Privatbankhäusern wie Bleichröder, Mendelssohn & Co., Gebr. Schickler, F. M. Magnus dem mobilmachenden preu­ ßischen Staat eine Anleihe von über 30 Mio. Talern.10 Dies waren die Anfänge des sogenannten Preußenkonsortiums, aus dem später das Reichsan­ leihekonsortium wurde. Im Preußenkonsortium emittierte Robert Warschauer & Co. im Dezember 1870 zusammen mit zahlreichen anderen Banken aus Anlaß des Deutsch-Französi­ schen Krieges Anleihen in Höhe von mehr als 51 Mio. Talern. Dabei übernahm Robert War­ schauer & Co. einen Emissionsanteil von 2122 500 Talern. In den folgenden 10 Jahren führte das Konsortium 640 Mio. Mark Preußen- und 142 Mio. Mark Reichsanleihen dem Markt zu.11 Mit nur 22 Jahren trat Robert Warschauer 1882 als öffentlicher Sozius in die Leitung der Bank ein, nachdem sein Vater seit 1878 infolge eines Schlaganfalls keine Leitungsfunktion mehr wahrnehmen konnte. Robert Warschauer war damit dem Wunsch seines Vaters gefolgt und trat

108 Abb. 2: Das Bankhaus Robert Warschauer & Co. in der Behrenstraße 48, um 1874. dessen Nachfolge in der Bank an, nachdem er im Anschluß an sein Abiturexamen zunächst einige Semester Jura und Biologie an verschiedenen Universitäten studiert hatte. Das banken­ wirtschaftliche Rüstzeug holte sich der junge Warschauer während eines einjährigen Aufent­ haltes in Großbritannien beim Londoner Bankhaus C. H. Hambro & Son.12 In einer Zeit wachsender internationaler Wirtschafts- und Finanzbeziehungen stieg das Bank­ haus unter der Ägide Robert Warschauers zunehmend ins Auslandsgeschäft ein.13 Die Bank beteiligte sich zusammen mit anderen Privat- und vor allem Großbanken an zahlreichen aus­ ländischen Emissions- und Gründungsgeschäften. Sie war an der Emission ausländischer Staatsanleihen (China, Serbien, Osmanisches Reich, Italien, Rußland) ebenso beteiligt wie am Bau und an der Finanzierung ausländischer Eisenbahnlinien als Aktionär und Obligationär entsprechender Eisenbahngesellschaften. Auf diese Weise wirkte die Bank bei der Errichtung von Eisenbahnlinien in Ägypten, Nord­ amerika, Italien, Rußland und Südafrika mit. 1889 saß Robert Warschauer zusammen mit Bleichröder, Mendelssohn & Co., J. S. H. Stern, M. A. v. Rothschild & Söhne sowie einigen Großbanken im Gründungskonsortium der Aktio­ näre der Deutsch-Asiatischen Bank. Einige Jahre später war das Bankhaus Mitbegründer des Credito Italiano in Mailand und Genua. Daß Robert Warschauer & Co. mit den kapitalkräftigen Großbanken durchaus mithalten konnte, beweist die Tatsache, daß das Bankhaus 1887 zusammen mit dem Frankfurter Privat­ bankhaus J. S. H. Stern mit einer 5,5 % chinesischen Anleihe über 5 Mio. Mark den Markt unterbieten konnte.

109 Das Auslandsgeschäft barg hingegen auch große Risiken, waren bei den oft unsicheren politi­ schen Verhältnissen in den jeweiligen ausländischen Staaten weder regelmäßige Zinsleistun­ gen noch eine Kapitalrückzahlung gewährleistet. Bekanntes Beispiel dafür ist das langjährige und zähe Ringen Carl Fürstenbergs, des Chefs der Berliner Handelsgesellschaft, mit dem zah­ lungsunfähigen und -unwilligen serbischen Staat. Als durch den Burenkrieg die Wirtschaftlichkeit der Niederländisch-Südafrikanischen Eisen­ bahngesellschaft in Frage gestellt wurde, bildeten die am Unternehmen beteiligten Berliner Banken Robert Warschauer & Co. und die Berliner Handelsgesellschaft ein Schutzkomitee, um die Rechte der Aktionäre und Obligationäre dieses Unternehmens wahrzunehmen. Die trotz dieser Imponderabilien „fast krampfhaft zu nennende Bemühungen der Bankleiter, deutsches Kapital ins Ausland zu werfen"14, sind ursächlich in dem industriellen Interesse der Banken zu suchen. Die Beschäftigung der deutschen Industrie mittels Anleiheemissionen war entweder durch Aufnahme von Zusatzklauseln in den Anleiheverträgen geregelt oder erfolgte auf indirektem Weg. Als Gewinn für die beteiligten Banken ergab sich eine Stabilisierung und Ausweitung ihrer Geschäftsbeziehungen zu Handel und Industrie. Eine der großen inländischen Finanzgeschäfte war die Beteiligung Robert Warschauers & Co. als Aktionär beim Magdeburger Gruson-Werk, einer vornehmlich im Rüstungsbereich (Pan­ zerplatten und Geschosse) tätigen Metall- und Maschinenbaufirma, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts von dem Ingenieur H. Gruson gegründet und 1886 in eine AG umgewan­ delt worden war. Die intensive und expandierende Geschäftstätigkeit des Bankhauses machte Neueinstellungen erforderlich und führte somit zu einer beträchtlichen Vergrößerung des Personals. Teilhaber der Bank war neben Robert Warschauer und dem Mitbegründer und Seniorchef Eduard Veit seit 1871 Warschauers Cousin Hugo Oppenheim (1847—1921). 1898 schied Robert Warschauer aus gesundheitlichen Gründen — er litt an einer chronischen, nicht operablen Blinddarmreizung — aus der Bank aus. Ein Jahr später legte auch der Senior­ chef Eduard Veit die Leitung nieder. An ihre Stelle rückten die zwei Einzelprokuristen der Bank, Alfred Cohn und Otto Mendelssohn-Bartholdy, als öffentliche Sozien nach. Gleichzei­ tig wurde mit der Darmstädter Bank für Handel und Industrie ein Kommandit-Vertrag geschlossen, um dem Haus auch Ersatz für die mit dem Ausscheiden der beiden Teilhaber War­ schauer und Veit entzogenen bedeutenden Kapitalien zu schaffen.15 Dem Konzentrationsprozeß im deutschen Bankwesen zollte schließlich auch Robert War­ schauer & Co. Tribut. Die Privatbanken waren im Vergleich zu den großen Aktienbanken (Dresdner Bank, Deutsche Bank, Disconto-Gesellschaft, Darmstädter Bank für Handel und Industrie) nur schwer in der Lage, die gerade nach 1896 — nach Überwindung der „Gründer­ krise" — von der Industrie benötigten bedeutenden Kapitalien zu Verfügung zu stellen.16 1905 wurde das Bankhaus Robert Warschauer & Co. von der Darmstädter Bank für Handel und Industrie übernommen. Die Großbank hatte an die drei Teilhaber Cohn, Mendelssohn-Bar­ tholdy und Oppenheim insgesamt 29 375 000 Mark zu vergüten.17 „Das allgemeine tiefe Bedauern, welches das Aufhören der Firma bei ihrem in- und ausländischen Kundenkreise auslöste ... mußte den Sozien die Überzeugung gewahren, daß sich ihr Haus das Ansehen einer vornehmen Weltfirma errungen hatte."18 Nach seinem Ausscheiden aus der Bank hat Robert Warschauer seinen Wohnsitz nach Charlot­ tenburg verlegt. Die Familie besaß in dem als Ort der Sommerfrische beliebten Charlottenburg ein Grundstück an der Berliner Straße (heute Otto-Suhr- Allee), auf dem Robert Warschauers Vater 1870 durch die namhaften Architekten Martin Gropius und Heino Schmieden eine repräsentative Villa hatte errichten lassen.19 Das Grundstück war seit den 40er Jahren des

110 Abb. 3: Robert Warschauer (9. August 1860 - 30. Mai 1918).

19. Jahrhunderts im Besitz der Warschauers. Zunächst befand sich dort ein kleines Haus, das später auch als Gästehaus genutzte sogenannte „Biedermeierhaus", das ebenso wie die spätere Villa von der Familie in der Regel im Sommer bewohnt wurde; während des Winters lebten die Warschauers in ihrem Berliner Domizil in der Behrenstraße. Das Charlottenburger Wohnhaus des Millionärs Warschauer (geschätztes Vermögen 1913: 5 bis 6 Mio. Mark)20 lag in einer großbürgerlich geprägten Wohngegend um das sogenannte Knie, den heutigen Ernst-Reuter-Platz. Hier lebten die Exponenten der lokalen und überre­ gionalen „High Society", die Charlottenburger Industriellen Gebauer und March, der Histori­ ker Theodor Mommsen, die Physiker Werner v. Siemens und Hermann v. Helmholtz sowie die Bankiers Bleichröder und Reichenheim. Großbürgerlich gestaltete sich auch das Leben der Warschauers in der Berliner Straße 31/32, wo sich über ein Dutzend Hausangestellte um das Wohl der Familie und die Instandhaltung der aufwendigen Wohn- und Gartenanlagen kümmerte. Mit dem Rückzug aus dem Berufsleben wurde das Charlottenburger Haus zum Lebensmittel­ punkt des erst 38jährigen Warschauer. Doch auch in seinem Privatleben mußte Robert War­ schauer einen herben Rückschlag hinnehmen: Nach nur lOjähriger Ehe starb 1900 seine Frau

111 Katharina, eine Tochter des Berliner Hofkapellmeisters C. Eckert. Robert Warschauer heira­ tete ein zweites Mal: Aus der Ehe mit Adele Thevoz gingen drei Kinder hervor, von denen die beiden Töchter später in die USA auswanderten, während der 1982 verstorbene Sohn Robert in Berlin blieb und nach den Zweiten Weltkrieg als promovierter Historiker am Geheimen Preussischen Staatsarchiv in Dahlem arbeitete.21 Nachdem Charlottenburg zu seiner Heimatstadt geworden war, unterstützte Robert War­ schauer zusammen mit seiner Frau als Mäzen das soziale und kulturelle Leben der Stadt. Kari­ tativ tätig war Robert Warschauer u. a. als Kurator des nach seiner Großmutter Marianne Men­ delssohn benannten und in der Scharrenstraße (heute Schustehrusstraße) gelegenen Marian­ nenstifts. Zweck dieser Stiftung war es, „weiblichen, ausnahmsweise männlichen Personen in vorgerücktem Lebensalter Wohnung nebst Heizmaterial zu gewähren".22 Robert Warschauer war Mitglied im Verein der Gönner für das Kaiserin-Auguste-Victoria- Haus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit in Deutschland, welches 1907—09 westlich des Schlosses Charlottenburg errichtet wurde. Er trug außerdem finanziell zum 1904 an der Guerickestraße vollendeten Bau des Kaiser-Friedrich-Andenkens des Vereins für Armen-, Kranken- und Kinderpflege bei.23 Besonders engagierten sich die Warschauers in der Pflege kriegsverwundeter deutscher Solda­ ten des Ersten Weltkrieges. In einem Gebäude des Grundstücks Berliner Straße 31/32 richtete Warschauer ein Lazarett für verwundete Frontsoldaten ein, und Adele Warschauer unter­ stützte als Vorstandsmitglied die entsprechende Arbeit des Vaterländischen Frauenvereins, einer im „Cecilienhaus" an der Berliner Straße beheimateten Organisation des Roten Kreu­ zes.24 Im kulturellen Bereich erfuhr der Bau des 1912 eröffneten Deutschen Opernhauses an der Bismarckstraße die finanzielle Unterstützung Robert Warschauers.25 Robert Warschauer starb am 30. Mai 1918. Die Villa in der Berliner Straße blieb noch bis 1922 im Besitz der Familie und wurde schließlich 1939 abgerissen, nachdem sie einige Zeit leer­ gestanden hatte und dem Verfall preisgegeben war. Auf dem Grundstück sollte ein Gebäude des Deutschen Chemieverbandes errichtet werden, dessen Ausführung die Kriegswirren jedoch verhinderten.26 Heute befindet sich dort, wo die Warschauer-Villa stand, das „Eternit"- Haus. Adele Warschauer bezog mit ihren Kindern eine Villa im Grunewald. Während der NS-Zeit spielte sie als engagierte Christin eine bedeutende Rolle innerhalb der „Bekennenden Kirche". Adele Warschauer unterstützte die Bekenntnisgemeinde nicht nur finanziell, in ihrem Haus im Grunewald fanden auch Versammlungen von Mitgliedern statt.27 Martin Niemöller, einer der führenden Vertreter der Bekennenden Kirche, hat auf die Bedeutung Adele Warschauers für die Bekenntnisgemeinde hingewiesen und sich in diesem Zusammenhang 1973 für die gefähr­ deten Erhaltung des Warschauer-Erbbegräbnisplatzes stark gemacht.28 Die jüdische Geschichte holte in der NS-Zeit die Warschauers wieder ein. Aus Furcht vor nationalsozialistischen Repressalien legte die Familie den Namen Warschauer ab und führte fortan als Familiennamen den Geburtsnamen Adele Warschauers: Thevoz. Bestattet sind Robert Warschauer und die 1941 verstorbene Adele Thevoz auf dem Charlot­ tenburger Luisenfriedhof I an der Guerickestraße und damit in unmittelbarer Nähe ihres ehe­ maligen Anwesens.29 Die repräsentative, exedraartige Grabanlage ist eines der wenigen noch erhaltenen Erbbegräbnisse auf diesem ältesten Begräbnisplatz Charlottenburgs. Robert War­ schauer ließ die Anlage nach dem frühen Tod seiner Frau Katharina errichten, nachdem er die Grabstelle bereits zwei Jahre zuvor erworben hatte.30 Entworfen wurde die Grabanlage von dem Königlichen Hofbaurat Ernst von Ihne.31 Zu den bekanntesten Bauwerken des 1888 zum Hofarchitekten avancierten Ihne zählen das in Nach-

112

i Abb. 4: Villa Warschauer, Berliner Straße 31/32 (um 1874). Architekten: Martin Gropius/Heino Schmieden.

barschaft zum Berliner Stadtschloß gelegene Königliche Marstallgebäude, das Kaiser-Fried­ rich-Museum (heute Bode-Museum) sowie die Preußische Staatsbibliothek an den „Lin­ den".32 Die Auftragsvergabe an den Hofarchitekten Wilhelms II. für die Errichtung einer Familiengrabstätte ist symptomatisch für das Bemühen des Großbürgertums in der damaligen Zeit, „renommierte Architekten zu gewinnen, deren Bekanntheit und Ansehen dem sozialen Geltungsdrang der jeweiligen Familie Nachdruck verlieh".33 Die Warschauer-Grabstätte hat heute nicht mehr die ursprüngliche Gestalt. Es fehlen sowohl die einst auf der halbrunden Mauer befindlichen und von dem Bildhauer Walter Schott ange­ fertigten Engelsfiguren als auch das große Kreuz in der Mitte der Anlage, von dem nur noch der Sockel übriggeblieben ist.34

Anmerkungen

1 Vgl. Hugo Rachel/Paul Wallich, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Bd. 3, Berlin 1939, neu hrsg. von Johannes Schultze/Henry C. Wallich/Gerd Heinrich, Berlin 1967, S. 56. Alfred Cohn, Geschichte des Bankhauses Robert Warschauer & Co., Berlin 1919, S. 2 ff. (unveröffent­ lichtes Manuskript). 2 Vgl. beglaubigte Abschrift des Taufscheins der Evang. Löbenicht-Kirchengemeinde in Königs­ berg vom 15. September 1816 (im Besitz von Bernhard Thevoz).

113 3 Vgl. Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780—1871, hrsg. von Monika Richarz, Stuttgart 1976, S. 47. 4 Peter Melcher, Der Bürger als Landedelmann. Die Familie Oppenheim/Oppenfeld als Beispiel jüdischer Assimilation, in: „O ewich is so lanck". Die historischen Friedhöfe in Berlin-Kreuzberg, Ausstellungskatalog, hrsg. von Christoph Fischer und Renate Schein, Berlin 1987, S. 231. 5 Vgl. Reinhard Rürup, Juden in Preußen. Probleme ihrer Geschichte, in: Juden in Preußen, Aus­ stellungskatalog, hrsg. vom Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Dortmund 1981, S. 33 ff. 6 P. Melcher, Der Bürger als Landedelmann . . ., S. 231. 7 Vgl. Mendelssohn-Stammbaum, in: Die Mendelssohns in Berlin. Eine Familie und ihre Stadt, Ausstellungskatalog, hrsg. von der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Wiesbaden 1983, Anhang. 8 Zum Haus Behrenstraße 48 vgl. Julius Kohte, Wohnhäuser von kunstgeschichtlichem Wert in Berlin und Vororten, o. O., o. J. (1923), [maschinenschriftliches Manuskript], S. 9. Zu den spezi­ fischen Wohnverhältnissen im Haus vgl. Berliner Adreßbücher 1859 ff. 9 Vgl. Reinhard Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, Göttingen 1984, S. 68 ff. 10 Vgl. Erich Achterberg, Lebensbilder deutscher Bankiers aus fünf Jahrhunderten, Frankfurt/ Main, 21964, S. 163 f. 11 Vgl. Fritz Seidenzahl, 100 Jahre Deutsche Bank. 1870-1970, Frankfurt/Main 1970, S. 303 f. Wolfgang Radtke, Die Preußische Seehandlung, Berlin 1987, S. 75. 12 A. Cohn, Geschichte des Bankhauses Robert Warschauer & Co. ..., S. 8 f. 13 Vgl. zum folgenden: Hans Weber, Der Bankplatz Berlin, Köln/Opladen 1957, S. 63 f.; Karl Für­ stenberg, Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers, Berlin 1931, Neudruck 1961, S. 155, 159,197 f., 368; Fritz Seidenzahl, Als in Europa noch chinesische Anleihen emittiert wurden, in: Beiträge zu Wirtschafts-und Währungsfragen und zur Bankgeschichte, hrsg. von der Deutschen Bank AG, Mainz 1984, S. 35 ;ders., 100 Jahre Deutsche Bank.. .,S. 77; Erich Achterberg, Berli­ ner Hochfinanz. Kaiser, Fürsten, Millionäre um 1900, Frankfurt/Main 1965, S. 152 f.; A. Cohn, Geschichte des Bankhauses Robert Warschauer & Co. ..., S. 10 f. 14 H. Weber, Bankplatz Berün ..., S. 64. 15 A. Cohn, Geschichte des Bankhauses Robert Warschauer & Co. ..., S. 13. 16 Vgl. Manfred Pohl, Die Entwicklung des deutschen Bankwesens zwischen 1848 und 1870, in: Deutsche Bankengeschichte, hrsg. vom Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für bankenhistori­ sche Forschung e.V., Bd. 2, S. 263, 271 ff. 17 Vgl. E. Achterberg, Berliner Hochfinanz..., S. 56. Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Berlin, Berlin 1913, S. 190. 18 A. Cohn, Geschichte des Bankhauses Robert Warschauer & Co., S. 14. 19 Vgl. Paul Ortwin Rave/lrmgard Wirth, Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Stadt und Bezirk Charlottenburg, Textband, Berlin 1961, S. 370 f. 20 Vgl. Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre im Königreich Preußen: Provinz Brandenburg, Berlin 1913, S. 10. 21 Auskunft Bernhard Thevoz. 22 Statut des Mariannenstifts in Charlottenburg, in: Die Mendelssohns in Berlin ..., S. 255. 23 Auskunft Dietlinde Peters. Evangelisches Zentralarchiv Berlin, Konsistorium Rep. 14/4278, Verwaltungsbericht des Vereins von 1904. 24 Auskunft Bernhard Thevoz. Bezirksamt Charlottenburg von Berlin, Abt. Volksbildung — Hei­ matmuseum, Rechenschaftsbericht des Vaterländischen Frauenvereins von 1915. 25 Auskunft Bernhard Thevoz. 26 P. O. Rave/I. Wirth, Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin ..., S. 370. 27 Auskunft Bernhard Thevoz. 28 Evangelische Luisen-Kirchengemeinde — Kirchhofsverwaltung, Erbbegräbnisakte Warschauer, Brief Niemöllers. 29 Die heute nicht mehr existierende Grabstätte R. W. A. Warschauers befand sich auf dem Friedhof der Jerusalemer und Neuen Kirchengemeinde am Halleschen Tor. 30 Vgl. Evangelische Luisen-Kirchengemeinde — Kirchhofsverwaltung, Erbbegräbnisakte War­ schauer. 31 Ebd.

114

i Abb. 5: Grabanlage Warschauer/Thevoz auf dem Luisenlriedhol 1, Zustand 1989.

32 Vgl. zu Ernst Ihne: Neue Deutsche Biographie. 33 Vgl. Peter Melcher, Weißensee. Ein Friedhof als Spiegelbild jüdischer Geschichte in Berlin, Ber­ lin 1986, S. 26. 34 Ein Engel ist noch erhalten und steht nur wenige Meter von der Grabanlage Warschauer entfernt vor der Friedhofskapelle.

Bildnachweis

Alle Fotos, mit Ausnahme von Nr. 5 (Klaus Schulze, Berlin): Bernhard Thevoz, Berlin.

Anschrift des Verfassers: Herbert Mey, Kunigundendamm 7, W-8600 Bamberg

Aus Platzmangel kann die Bekanntgabe der im letzten halben Jahr aufgenommenen Mitglieder erst im nächsten Heft erfolgen. Die Redaktion

115 Veranstaltungen im I. Quartal 1993

1. Sonnabend, den 13. Februar 1993, 17 Uhr im Xantener Eck, 1000 Berlin 15, Xantener Straße 1: Geselliges „Eisbeinessen", wahlweise Schnitzel. Anmeldungen telefonisch unter 8 54 58 16 ab 19 Uhr bis zum 6. Februar 1993 2. Freitag, den 19. Februar 1993,15 Uhr. Führung durch die Nikolaikirche, Stadtmitte. Lei­ tung Frau Donata Kleber. Treffpunkt in der Turmhalle. Der Eintrittspreis ist von den Mit­ gliedern zu entrichten. 3. Montag, den 15. März 1993,19.30 Uhr im Rathaus Charlottenburg, Bürgersaal: Lichtbil­ dervortrag von Herrn Günter WoUschlaeger „Beispiele Berliner Jugendstilarchitektur". 4. Montag, den 29. März 1993,19.30 Uhr im Rathaus Charlottenburg, Bürgersaal: Lichtbil­ dervortrag von Herrn Hans-Werner Klünner „Das Berliner Schloß in seinen letzten hun­ dert Jahren".

Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 77234 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-264. Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

116 RatsbibUcthek Fachabt. der Berliner StockbibliothekA 1015 F MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

89. Jahrgang Heft 2 April 1993

„Pfaueninsel Russ. Rutschbahn", Postkarte 1928 Die russische Rutschbahn auf der Pfaueninsel Von Michael Seiler

Zum 200. Gartenjubiläum der Pfaueninsel, die Friedrich Wilhelm JJ. durch Kabinettsorder vom 12. November 1793 zur Gartenanlage bestimmt hatte, möchte der Verfasser hiermit eine Folge von Beschreibungen wenig bekannter Besonderheiten der Insel beginnen. Verläßt der Pfaueninsel-Besucher den wiederhergestellten Rosengarten Lennes auf der Ost­ seite am Schöpfbrunnen und folgt der buchsbaumgesäumten Chaussee, so tritt am Ende der Wegebiegung, diagonal gestellt und nur zum Teil sichtbar, ein grauer, hölzerner Kubus ins Blick­ feld (Abb. 1). Die Legende des Inselplanes erklärt, daß es sich um den Rest der ehemaligen Rutschbahn oder „montagne russe"l handelt, der ohne nähere Erklärung unverständlich bleibt. Caesar von der Ahe hat 1939 in den Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams2 der 1937 teilweise abgetragenen Rutschbahn einen eigenen Aufsatz gewidmet. Wenn ich dieses Thema wieder aufgreife, so deshalb, weil die Arbeit von der Ahes ohne Abbildungen auskom­ men mußte und dem Anekdotischen den Vorrang gegenüber der architektonisch-gärtneri­ schen Darstellung einräumte. Heute dagegen, da ein Teil der Anlage verschwunden ist, wissen die wenigsten, wie diese Rutschbahn aussah und wie sie sich in das Parkbild fügte. Nach der Aussage des Hofgärtners J. A. F. Fintelmann wurde die Rutschbahn im Sommer 1818 erbaut3 und, wie von der Ahe schreibt, im Mai 1819 eingeweiht. Der Bau der Rutschbahn geht ebenso wie der etwas spätere Bau des Blockhauses Nikolskoe (Sommer 1819) auf Eindrücke zurück, die der preußische Monarch Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1818 anläßlich des Besu­ ches bei seiner mit dem Großfürsten Nikolaus seit 1817 verheirateten Tochter Charlotte emp­ fangen hatte. Der kaiserlich russische Oberstlieutenant von Traitteur hatte 1818 für den preußi­ schen König ein Modell der Rutschbahn angefertigt, das, wie von der Ahe ermittelte, erst im März 1819 an das Berliner Hofmarschallamt übersandt wurde. Wenn kein Datierungsfehler vorliegt, kam dieses Modell als Vorlage für den Bau auf der Insel zu spät. Der erste Kostenan­ schlag für die von Baurat Andreas Ludwig Krüger entworfene und dem Zimmermeister Kratz ausgeführte Rutschbahn betrug 4245 Taler 13 Groschen. Die Summe war dem König zu hoch, und Krüger hat dann den entsprechend reduzierten Bau für fast die Hälfte des Betrages, näm­ lich 2306 Taler 22 Groschen, entstehen lassen. Das Inventar von 1833 beschreibt die Rutsch­ bahn wie folgt: „Dieselbe besteht aus einem hölzernen Gebäude mit Treppe und Fahrbahn, welches unten einen Raum zur Aufbewahrung der Wagen pp. enthält, über welchem die mit einer hölzernen Balustrade umgebene Platforme befindlich ist, welche sich in die, in gebogener Linie bis zur Erde hinab laufende Fahrbahn endigt. Es gehören hierzu: 1. Vier kleine Rollwa­ gen, von denen zwei gelb und zwei blau gestrichen, im Sitz und in der Lehne gepolstert und mit Tuch bezogen. Jeder derselben mit 4 eisernen kleinen Rollen statt der Räder und mit zwei kugelförmigen messingenen Handgriffen versehen. 2. Eine eiserne Winde, mit starker Leine, Rolle und Kloben, 3. Eine Glocke mit Zug, 4. Eine hölzerne Barriere, zum Verschließen und zum Wegnehmen eingerichtet."4 Nach dem von Ferdinand Fintelmann 1820 aufgestellten Inventar waren die Sitze und Lehnen ursprünglich mit Leder überzogen und die Wagen mit eisernen Rädern versehen, die 1823 durch messingene und dann durch eiserne Rollen ersetzt wurden. Nach der Bauaufnahme von F. Fleschner aus dem Jahre 1877 (Abb. 2) setzte an den heute noch erhaltenen und als Lagerraum der Gärtnerei genutzten Kubus eine hölzerne, asymptotisch durchgebogene Abfahrt von 19,55 m Länge an. Die Abfahrt hatte zwei Rollbah­ nen von je 0,78 m und eine Treppe von 1,04 m Breite. Daran anschließend wurden die beiden hölzernen Rollbahnen direkt auf dem leicht geneigten Gelände aufliegend in einer Länge von

118 Abb. 1: Der erhaltene Kubus der Rutschbahn, an der linken Seite setzte die Abfahrtsrampe an. Foto Rogge 1979. 38 m bis zum Stellweg geführt, der an dieser Stelle mit einer Aufweitung reagierte. Aus einem Brief Fintelmanns geht hervor, daß der König selbst den Platz für die Rutschbahn bestimmte.5 Man kann davon ausgehen, daß der Monarch sich dabei von Lenne und Fintelmann raten ließ. Die Rutschbahn ist jedenfalls so geschickt in das Gehölz zwischen zwei Wege gesetzt, daß sie in der landschaftsgärtnerischen Komposition unbemerkt bleibt. Sie zeigt sich auf beiden Seiten erst dann als interessante Überraschung, wenn man unmittelbar vor ihr steht. Ihre nordwestli­ che Ausrichtung verhindert nicht nur, daß der Hinabgleitende von der Sonne geblendet wird, sondern zeigt ihm den Endpunkt im besten Lichte. Westlich vom Endpunkt der Rutschbahn stand eine der alten Insel-Eichen, um deren Stamm man eine Rundbank gelegt hatte. Fintel­ mann bemerkte dazu: „Der Blick nach dem Schlosse von der Bänke vor dieser schrägen Holz­ bahn, ist bei guter Beleuchtung eine hübsche Parthie.'"' So eröffnete sich dem Benutzer der Bahn nach dem Nervenkitzel der Abfahrt einer der schönsten Bücke der Insel. Daß die Wagen über den Endpunkt der Holzbahn am Stellweg hinaus über den Rasenhang rollten, wie man aus der Schilderung der Gräfin Keller entnehmen könnte7, ist mehr als unwahrscheinlich. Einer­ seits hätten bei dem sandigen Untergrund die Eisenräder im Nu den ganzen Hang zerwühlt, und andererseits sagt Fintelmann ausdrücklich, daß die Bahn „nur kurz und grade ausführend" sei.8 Auch sprechen alle Plandarstellungen gegen diese Annahme. Die Gräfin meinte wohl die verbohlte 38 m lange Strecke mit nur noch geringem Gefälle, die am Rande des Rasens endete. Der noch erhaltene hölzerne Kubus der Rutschbahn, in dem früher die kleinen Rollwagen untergebracht waren, mißt 5,95 X 6,25 mim Grundrißundist ohne die nicht mehr vorhandene Balustrade 6,10 m hoch. Die Balustrade hatte eine Höhe von nur 1,005 m.

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Abb. 2: Bestandszeichnung der Rutschbahn von F. Fleschner 1877, SSGP Planslg. Nr. 9018.

Friedrich Wilhelm III. erprobte, wie von der Ahe ausführlich beschreibt, höchstselbst die Rutschbahn anläßlich eines Familienfestes auf der Pfaueninsel am 28. Mai 1819. Dabei stieß er mit einem Schlitten, den der Prinz Carl gerade dieselbe Bahn hinaufzuziehen begann, zusam­ men. Eine Verletzung des Nasenbeins, die aber schon am 8. Juni wieder ausgeheilt war, war die Folge. Das war dem Frondeur, dem General Friedrich August Ludwig von der Marwitz, in sei­ nen „Denkwürdigkeiten" Anlaß zu beißender Kritik, die in dem Satz gipfelte: „Aber welch ein Skandal, daß in einem Lande, wo niemand rutscht, der neunundvierzigjährige König sich bei solchem Vergnügen die Nase zerschlagen mußte!"9 Wir werden bei dem folgenden Exkurs über die Geschichte der Garten-Rutschbahnen erfahren, daß der volkstümliche Monarch sich durchaus nicht in schlechter Gesellschaft bewegte. Cäsar von der Ahes Behauptung: „Für die damalige Zeit war dieser ,Montagne russe' genannte russische Rollberg etwas ganz Neues" mag für Preußen gelten, ist jedoch im Rahmen der europäischen Gartengeschichte nicht zutreffend. Schon 1665 wird im Versailles Ludwigs XIV. im Bereich der Menagerie eine „ramasse" oder „roulette" zum Vergnügen des Hofes betrieben. Ein mit Rollen oder Rädern versehener hölzerner Schlitten, der 8 bis 9 Personen Platz bot, fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf einer hölzernen Schiene den Hügel von Satory herunter. Ihren Ursprung hat die „ramasse" in Savoyen, wo man schon seit Jahrhunderten auf aus Reisig zusammengebundenen schlittenähnlichen Gefährten die gefährlich vereisten Hänge herunter zu Tale glitt. „Ramazza" (= ramasse) bedeutet im piemontesischen Dialekt Reisigbe­ sen.10 Um eine so vergnügliche Talfahrt in die Gärten der schneearmen lle de France zu holen, war der Wechsel zur Rolle oder zum Rad vonnöten. Zugleich war diese Zerstreuung damit in

120 Abb. 3: Park Oranienbaum, Katalnaja Gorka, der Pavillon und ein Teil der Rutschbahn, Abb. 140 aus Audrey Kennet, Die Paläste von Leningrad, Luzern 1974.

der schönen Jahreszeit, der Zeit der Gartenfeste, möglich. Gegen 1672 wurde es still um die „ramasse" in Versailles, die dann, fast 20 Jahre später, 1691 in Marly unter Verwendung des alten Schlittens eine prachtvolle Wiedergeburt erlebte. Wenn auch der 53jährige Sonnenkönig nicht mehr selbst hinabfuhr, so sah er doch mit Vergnügen den Prinzen dabei zu und unterließ es nie, seinen Gästen dieses Gartenvergnügen zu zeigen und anzubieten. So hatte die Königin von England am 28. Juli 1694 die Ehre, den Schlitten von Marly zu benutzen.11 1762 bis 1774 entstand im Park von Oranienbaum bei St. Petersburg für die Zarin Katharina II. nach Antonio Rinaldis Entwürfen die Katalnaja Gorka. Das ist ein dreiflügeliger Gartenpavil­ lon, im ersten Geschoß mit breiten Terrassen versehen, an den sich ein dreibahniger Rollberg, begleitet von Kolonnaden, anschloß (Abb. 3). Die mittlere Bahn diente der Abfahrt, während auf den beiden Seitenbahnen die Wagen mit einem an einer Winde befestigten Seil wieder emporgezogen wurden. Der Hof Katharinas amüsierte sich hier sommers wie winters mit Roll­ wagen oder mit Schlitten, nahm im Pavillon Erfrischungen ein oder schaute von den Terrassen zu. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die in Verfall geratene Rutschbahn mitsamt der Kolonnade abgetragen. Der dreiflügelige Pavillon ist erhalten. Die Literatur berichtet, daß sol­ che Roll- und Rutschberge in Rußland allgemein verbreitet waren und sind. Ob diese Tradition der Anregung durch das französische Vorbild bedurfte oder eine unabhängige Parallelentwick­ lung ist, muß offen bleiben. Mit Sicherheit jedoch hat das Muster der russischen Rutschbahnen wieder auf Paris gewirkt. Denn bereits 1816, drei Jahre vor Einweihung der Rutschbahn auf der Pfaueninsel, waren die ersten „montagnes russes" in der Nähe der Barriere du Roule in Paris Zielscheibe der Karikaturisten.12 Diese Rutschbahnen verbreiteten sich in den Pariser Vergnü-

121 Abb. 4: Konstruktionszeichnung der Rutschbahn von Klüsener nach 1900, SSGP Planslg. Nr. 9019.

gungsgärten auch unter anderen Namen wie „montagnes suisses" oder „montagnes egyptien- nes" bis in die Mitte des Jahrhunderts. 1829 gründeten die Brüder Gericke auf dem Berliner Kreuzberg nach Pariser Vorbild den Vergnügungspark Tivoli und statteten ihn mit einer stadt­ berühmten Rutschbahn aus, die selbst den Philosophen Hegel und den Prediger Schleierma­ cher zu ihren Benutzern rechnen durfte.13 Nicht unerwähnt bleiben soll die von Friedrich Wilhelm IV. Ende Dezember 1844 im Park des Schlosses Bellevue erstmals errichtete „russi­ sche Rutsch-Eisbahn", deren Benutzung allen bei Hofe vorgestellten Personen vorbehalten war.14 Doch nun zurück zur Pfaueninsel. Wie aus der schon genannten Beschreibung der Gräfin Kel­ ler hervorgeht, war es bis zur Revolution 1918 beim Besuch des Hofes auf der Insel Gepflogen­ heit, „daß auf der unter Friedrich Wilhelm III. angelegten russischen Rutschbahn gefahren werden mußte". Wie ich aus Erzählungen des Reviergärtners Hugo Neubert, der seit 1910 auf der Pfaueninsel arbeitete (er starb 97jährig im Jahre 1983), weiß, durfte er noch als junger Gar­ tengehilfe die Rutschbahn erproben, bevor „allerhöchste Herrschaften" sich ihr anvertrauten. Aus Neuberts Nachlaß stammt ein Foto, daß ihn in fröhlicher Runde (Bierfäßchen) am Fuße der Bahn zeigt. Eine Postkarte aus dem Jahre 1928 gibt ein Bild der gesamten Bahn vom Stell­ weg aus gesehen (Titel). Wie so häufig in Gärten, so auch auf der Pfaueninsel, war man, wenn Einrichtungen wegen mangelnder Unterhaltsmittel in Verfall gerieten, stets geneigt, die Ord­ nung durch Abriß der ruinösen Anlagen wiederherzustellen. Dies widerfuhr um 1936/37 der Abfahrtrampe der Rutschbahn, während der blockhafte Anfangsbau als Geräteschuppen unter Verlust der nun nicht mehr benötigten Balustrade erhalten blieb. Dieser Abbruch ist um

122 Abb. 5: Der gerettete hölzerne Rollwagen der Rutschbahn mit Messinggriffen, Eisenrädern und seit­ lichen Führungsrädchen, Foto Rogge 1979. so ärgerlicher, als man 1936 anläßlich der Olympischen Spiele und 1937 in dann zum Glück beendeter Tradition die Insel für diese „großartigen Feste" mit aufwendigen, ephemeren Bau­ ten verschandelte. Erfreulicherweise wurde noch im November 1935 vor dem Abbruch eine Aufnahme des Bestandes gefertigt. Wir besitzen insgesamt sechs bautechnische Darstellungen der Rutschbahn, die meist aus Anlaß notwendiger Instandsetzungsarbeiten entstanden. Die älteste ist eine wenig aussagekräftige Zimmermannsskizze aus dem Jahr 1833. Eine gute Vor­ stellung des schlichten Bauwerkes bietet die von Klüsener signierte, undatierte (mit Sicherheit nach 1900 entstandene) Konstruktionszeichnung (Abb. 4) zusammen mit der Bestandszeich­ nung von Fleschner aus dem Jahre 1877 (Abb. 2). Es ist das Verdienst des jetzt pensionierten Kutschers Willy Grenda, in der Nachkriegszeit einen der drei erhaltenen Rollwagen vor der Vernichtung bewahrt zu haben (Abb. 5). Das stark lädierte Gefährt soll so weit restauriert wer­ den, daß es in der Ausstellung zum Jubiläum der Insel gezeigt werden kann. Ich halte es für wünschenswert, die Rutschbahn als ein einzigartiges, zum Teil erhaltenes Zeugnis des spieleri­ schen Vergnügens in der Gartenkunst durch Rekonstruktion der Abfahrtsrampe wiederherzu­ stellen. Ich halte dies bei der guten Quellenlage für gerechtfertigt, zumal auch erfahrungsge­ mäß die Fundamente für die Zimmermannskonstruktion noch im Boden stecken. Man wird auf einem so wiederhergestellten „montagne russe" allein schon aus heutigen Sicherheitsvor­ stellungen nicht mehr rutschen. Man wird ihn aber besichtigen und die aussichtsreiche Platt­ form betreten können. Rein praktischen Nutzen würde die wiederhergestellte Abfahrtsrampe den Gärtnern der Insel bringen, die unter der Rampe wieder wie früher Frühbeetfenster und Blumentöpfe lagern könnten. Finanzpolitisch wäre die Wiederherstellung also die Schaffung

123 von dringend benötigtem Lagerraum in Form einer Rutschbahn mit gleichzeitigen hohen kul­ turgeschichtlichem Demonstrationswert. Anschrift des Verfassers Prof. Dr. Michael Seiler 1000 Berlin 39 Pfaueninsel

Anmerkungen

1 Fintelmann, Gustav Adolph, Wegweiser auf der Pfaueninsel, Berlin 1837, kommentierter Nach­ druck, Berlin 1986, S. 27. 2 Ahe, Caesar von der, Die einstige Rutschbahn auf der Pfaueninsel, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams, NF Heft 5, S. 426-429. 3 „Inventarium des Königl. Schlosses und anderer Gebäude auf der Pfaueninsel", angefertigt im Dezember 1820 von Fintelmann, S. 27, SSGP Inv. 451. 4 SSGB, Inventarium der Königl. Gebäude auf der Pfauen-Insel 1834, Vol. II, S. 85. 5 von der Ahe, a.a.O., S. 427. 6 a.a.O., S. 26, Fußnote. 7 Keller, Mathilde Gräfin von, Vierzig Jahre im Dienste der Kaiserin, Leipzig 1935, S. 35, ausführ­ lich zitiert bei von der Ahe. 8 a.a.O., S. 27. 9 vgl. von der Ahe, a.a.O., S. 427. 10 Raynal, Marcel, Marly, 1691: l'escarpolette et la ramasse, ARTKEO 1, Marly le Roi 1990, S. 31-35. 11 ebd., S. 43. 12 Langlois, Gilles-Antoine, Folies Tivolis et attractions les premiers parcs de loisirs parisiens, Paris 1991, S. 173-178. 13 sieh Anm. 1, S. 428. 14 Krieger, Dr. Bogdan, Das Königliche Schloß Bellevue, Berlin 1906, S. 162—164 mit zwei zeitge­ nössischen Darstellungen der Bahn.

124 Der Situationsplan von Christian Friedrich Schmidt aus dem Jahr 1643 Ein Beitrag zu seiner Zuordnung auf den Werder bei Colin

Von Erika Schachinger

Die Federzeichnung des Baumeisters Christian Fri(e)drich Schmidt zeigt das Gelände vor der Hundebrücke um 1643 mit dem Besitz an Land und Gebäuden, die der Kurfürst Friedrich Wil­ helm dem Oben ägermeister Jobst Gerhard von Hartefeld (Hartenfeldt, Hertefeld) und seiner Ehefrau Margarete von Effern auf dem Werder bei Colin zeit ihres Lebens überließ. Hartefeld war außerdem noch Kammerherr und Hauptmann der Ämter Zehdenick und Liebenwalde. Von dem Geschenk ausgenommen waren außer dem Gärtnerhaus mit den angedeuteten Bee­ ten der Bärenplatz mit dem Bärenkäfig sowie die mit B B bezeichnete Konditorei, die in kur­ fürstlichem Besitz blieben. Das Ehepaar erhielt das sog. Erbhaus (A A), das zuvor der Hofmar­ schall bewohnt hatte und das nach Osten (Bereich d e f) bis an eine — auf dem Plan nicht sicht­ bare — Kalkgrube erweitert werden durfte. Auf dem mit C bezeichneten „Plätzlein" hatte ein Büchsenmacher seine Wohnung und sicher auch seine Werkstatt. In dem mit b c gekennzeich­ neten Gebäudeteil des Erbhauses lebte und arbeitete ein Bernstein-Schleifer im Erdgeschoß. Beider Quartiere wurden in das kurfürstliche Geschenk mit einbezogen, ebenso das Gewölbe (Eingang g), das unter bzw. an der Konditorei entlang bis zu dem Bärenkäfig reichte. Das Ehe­ paar erhielt außerdem das im Süden liegende Gelände (EFGHIKL), das etwas größer als ein Morgen war. Es umfaßte zwei Teiche (N M) sowie das Terrain (E L F G), das an die beiden Tei­ che stieß, im Text der Schenkung Holzgarten genannt, von dem es einen kleinen Teil darstellte. Für das Gelände sowie für die erwähnten Gebäude und geplanten Neubauten galt der aus­ drückliche Vorbehalt, daß sie nach dem Tode des Ehepaares wieder an den Kurfürsten und dessen Nachfolger zurückfallen mußten. Den Erben des Ehepaares wurde jedoch ein Anspruch auf Erstattung der Ausgaben eingeräumt.1 — Sämtliche Gebäude mußten später der Errichtung des Zeughauses weichen. Für die Regulierung der Spree und den Ausbau des Wer­ ders zu der als Friedrichswerder bekannten Stadtanlage hatte der Oberjägermeister das ihm überlassene Gelände schon frühzeitig wieder abtreten müssen. Die Zeichnung von C. F. Schmidt wurde erstmals von Albert Geyer veröffentlicht, der sie jedoch in den Zusammenhang mit der Entwicklung der Anlage des Lustgartens stellte.2 Lise­ lotte Wiesinger und Clemens Alexander Wimmer folgten ihm in dieser Hinsicht.3 Goerd Peschken änderte die Blickrichtung auf die von Geyer vorgestellte Konstruktion, bezog sie jedoch weiter auf den Lustgartenbereich.4 Waltraud Volk war die erste, die die Zeichnung von 1643 mit dem Hinweis auf das Gelände und Umfeld des späteren Zeughauses veröffentlichte.5 Schon Hans Jahn hatte in diesem Bereich das Hartefeldsche Haus erkannt, als einen Neubau von 1661, der auf dem Perspektivplan von Johann Bernhard Schultz, „Residentia Electoralis Brandenburgica", von 1688 — gegenüber dem einstigen Anwesen von Johann Gregor Mem- hardt an der Hundebrücke — zu sehen ist.6 Den beiden zuletzt genannten Autoren kann ich mich anschließen. Zur Begründung ihrer Zuordnung läßt sich folgendes beitragen: 1. Die die Schmidtsche Zeichnung von 1643 enthaltende Akte gehört seit alters zu dem das Gebiet von Friedrichswerder umfassenden Aktenbestand, den das Findbuch der Rep. 21 des GStAPK auf S. 65 f. ausweist. Man kann davon ausgehen, daß die früheren Archivare aufgrund ihres ständigen Umgangs mit dem Aktenmaterial gute Ortskenntnisse besaßen.

125 Der Situationsplan von Christian Friedrich Schmidt, 1643.

2. Das oben erwähnte Findbuch der Rep. 21, S. 66, weist im Zusammenhang mit der Schen­ kung vom 4. April 1643 auch auf das Haus des Oberjägermeisters von Hartefeld mit der „merkwürdigen" Zeichnung vom 17. November 1660 hin. Diese nur im Findbuch erwähnte, leider nicht mehr vorhandene Zeichnung könnte der Entwurf für den Neubau von 1661 gewesen sein, vielleicht von Memhardt, doch wenigstens unter seiner Aufsicht. Die Anlage des Friedrichswerders — im Zusammenhang mit dem Festungsbau, den er lei­ tete — stellt eine bisher nicht genügend beachtete städtebauliche Leistung von Memhardt dar. Der gekrümmte Verlauf der Straßen, der die Anlage wie eine traditionelle Stadterwei- terung aussehen läßt, hat zum großen Teil wasserbautechnische Ursachen. 3. Die Aufzählung von Angaben für 1643 und 1660 in einer Position des Findbuches der Rep. 21, S. 66, läßt die Schlußfolgerung zu, daß der 1661 errichtete Neubau auf dem 1643 verschenkten, damals bereits bebauten Gelände entstand. 1660 hatte der Oberjägermeister von Hartefeld noch das Haus des Holzförsters Andreas Her- man(n), eines seiner Untergebenen, dazu erworben, offensichtlich um seinen Baugrund zu erweitern. Für den geplanten Neubau bat er den Kurfürsten im Januar 1661 um die benötigten Baumaterialien, mit dem Versprechen, ein ansehnliches Gebäude zu Ehren seiner Kurfürstli­ chen Durchlaucht zu errichten. Aus seiner Bitte, die ihm gewährt wurde, ist auch zu entneh-

126 Ausschnitt des Perspektivplanes von Johann Bernhard Schultz, 1688. In der Mitte die Hundebrücke, die Colin mit dem nördlichen Friedrichswerder verband. men, daß es ihm um die Gleichsetzung der „Freiheiten" für beide Objekte, für das von ihm erhandelte wie für sein eigenes Wohnhaus auf dem Werder vor der Hundebrücke ging7, gleich­ sam als eine gemeinsame Basis für das Bauvorhaben. Hartefeld ließ einen stattlichen Neubau errichten, der an beiden Seiten je einen turmartigen Trakt hatte, die eine Dreiflügelanlage andeuteten, wie ihn die ältere Gebäudegruppe auf dem Plan von 1643 nahezulegen schien (C A A). Die Frage muß offen bleiben, ob alte Bauteile in den Neubau übernommen wurden. Das Hartefeldsche Haus kam später in den Besitz des magdeburgischen Kammerjunkers und Hauptmanns Ludwig von der Groben, eines Schwiegersohnes des Ehepaares Hartefeld. Bereits am 25. August 1680 kaufte der Kurfürst diesen Besitz von Ludwig von der Groben für 4500 Taler.8 Vermutlich diente das Gebäude noch eine Weile als Dienstwohnung, bis es für die Errichtung des Zeughauses abgebrochen wurde, dessen Erbauung 1695 unter der Leitung von Johann Arnold Nering begann. Noch zwei Bemerkungen zu der von Geyer und Peschken angeführten Argumentation. 4. Der Begriff „Garten" ist bekanntlich vielschichtig. Auf dem Werder als dem erweiterten Wirtschaftsbereich des Schlosses befanden sich u. a. ein Küchengarten und ein Holzgarten. Deshalb muß die in der Schenkungsurkunde von 1643 angeführte kurfürstliche Garten­ mauer (auf dem Schmidtschen Plan mit der Linie E F gekennzeichnet) nicht unbedingt eine frühe Lustgartenmauer darstellen, waren doch der Küchengarten, Holzgarten usw. auch „Unser", d. h. in kurfürstlichem Besitz.

127 5. Das auf dem Schmidtschen Plan angegebene und in der Schenkungsurkunde von 1643 erwähnte Gewölbe war nicht das einzige auf dem Werder. Auch das alte Ballhaus dort hatte ein Gewölbe9, u. a. zur Kühlung der für den Ausschank bestimmten Getränke. Dem bereits erwähnten Hofmarschall unterstand die Hofküche, zu der auch die angeführte Konditorei gehörte. Es war sinnvoll, zur Kühlhaltung und Lagerung der Lebensmittel ein Gewölbe in der unmittelbaren Nähe zu haben. Daß die Maße dieses Gewölbes mit denen des Münztur­ mes übereinstimmen, der bekanntlich kein Gewölbe hatte, wie Peschken ausführt, mag Zufall sein, wenn nicht als eine bestimmte Größenordnung Brauch. Diese Darlegungen können keinen endgültigen Beweis liefern, den Schmidtschen Plan von 1643 dem späteren Zeughausgelände und seiner Umgebung zuzuordnen. Jedoch spricht vieles für diese Sicht. Darauf möchte ich mit diesem Beitrag aufmerksam machen. Das Problem, die Palisade auf dem Plan schlüssig zu deuten, konnte nicht gelöst werden.

Anmerkungen:

1 GStAPK, Rep. 21, Nr. 191 b, Fasz. 15, bezeichnet „des Oberjägermeister von Hartenfeldt Haus auf dem Werder", Bl. 1 f.: Text der Schenkung vom 4.4.1643; Bl. 3 v u. Bl. 4 r: der zu dem Text gehö­ rige Situationsplan von Christoph Fri(e)drich Schmidt. — Zur Bedeutung von Hartenfeldt (Harte- feld, Hertefeld) und seinem Amt vgl. Franz Genthe: Die preußischen Oberjägermeister. Ein Bei­ trag zur Geschichte des Oberjägermeister-Amtes von 1579—1825, in: Hohenzollern-Jahrbuch, Bd. 10, Berlin 1906, S. 261-274, bes. S. 268. 2 Albert Geyer: Geschichte des Schlosses zu Berlin, Bd. 1: Die kurfürstliche Zeit bis zum Jahre 1698, Teil 2: Die Bilder, Berlin 1936, Nr. 74. Vgl. seine Konstruktion, a.a.O., Nr. 73, mit Kommentar, Bd. 1, S. 46. 3 Liselotte Wiesinger: Das Berliner Schloß. Von der kurfürstlichen Residenz zum Königsschloß, Darmstadt 1989, S. 86 f. mit Abb. Clemens Alexander Wimmer: Addenda zum Berliner Lustgar­ ten, 1645—1713, in: Geschichte und Pflege, hrsg. von Frank Augustin u. a., Berlin 1991, S. 96. 4 Goerd Peschken: Das königliche Schloß zu Berlin, Bd. 1: Die Baugeschichte von 1688—1701, mit Nachträgen zur Baugeschichte des Schlosses seit 1442, Beiträge von Hans Junecke und Erich Kon­ ter, München 1992, S. 76 f. mit Abb. Der Autor weist auf S. 77 f. darauf hin, daß der Schmidtsche Plan zur Erläuterung der Situation zum größten Teil perspektivisch gezeichnet wurde, der in die­ sem Plan dargestellte Grundriß jedoch maßstäblich gehalten ist. 5 Waltraud Volk: Berlin, Hauptstadt der DDR. Historische Straßen und Plätze heute, 1. Auflage, Berlin 1972, S. 12. (Die Abbildung, irrtümlich mit 1647 datiert, fehlt in den letzten Auflagen.) 6 Hans Jahn: Berlin im Todesjahr des Großen Kurfürsten. Erläuterungen zum Perspektivplan von Johann Bernhard Schultz aus dem Jahr 1688, in: Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, Heft 55, Berlin 1935, S. 32. Nachlaß Jahn, LAB, Rep. 200, Acc. 220, Nr. IV/40. 7 GStAPK, Rep. 9, CC 22, Fasz. 1, Bl. 38 r: Hartefelds Gesuch. Bl. 40 f.: Gewährung der Baumate­ rialien vom 18.1.1661, u. a. mit dem Hinweis auf sein Versprechen, das Gebäude gar „ziehrlich", d. h. zur Zierde der Residenz, aufbauen zu lassen. 8 Jahn, a.a.O., S. 32. GStAPK, Findbuch der Rep. 21, S. 65. Brand. LHA, Pr. Br. Rep. 2, S 3203/6: Konzept und eine Ausfertigung des Kaufvertrages vom 25. 8. 1680, mit Quittung von 1681 über den Erhalt des Kaufpreises. 9 GStAPK, Rep. 21, Nr. 191 c, Fasz. 2, bezeichnet „Apoteker undt Materialisten aufdn Friederichs­ werder", Bl. 11 u. Bl. 14 f. Auf den Fundamenten des Ballhauses stand später die „Einhornapo­ theke" in der Kurstraße. Vgl. Friedrich Nicolai: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam und aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten, Berlin 1786, Bd. 1, S. 151. Jahn, a.a.O., S. 31. Für Hinweise danke ich Herrn Professor Dr. Michael Seiler.

128 Abkürzungen:

GStAPK = Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Brand. LHA = Brandenburgisches Landeshauptarchiv LAB = Landesarchiv Berlin Acc. = Accession (Aktenzugang) Fasz. = Faszikel (Aktenbündel, Heft) Rep. = Repositur (Aktenbestand) Bl. - Blatt (Vorder- und Rückseite) r = recto (Vorderseite) v = verso (Rückseite)

Abbildungsnachweis:

— Der Schmidtsche Plan von 1643 stammt aus dem Werk von A. Geyer, a.a.O., Teil 2, Nr. 74. — Ausschnitt des Schultzschen Planes von 1688, der folgender Mappe entnommen wurde: Heinz Spitzer und Alfred Zimm (Hrg.): Berlin von 1650 bis 1900. Entwicklung der Stadt in historischen Plänen und Ansichten, Berlin und Leipzig 1986, Tafel 2.

Vorankündigung:

Eine Publikation der Verfasserin obigen Beitrags wird voraussichtlich Ende 1993 mit folgendem Titel erscheinen. Der Friedrichswerder. Die Geschichte einer Berliner „Vorstadt", 1658—1708, Köln und Weimar: Böhlau-Verlag (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 4).

Anschrift der Verfasserin: Erika Schachinger, Reichsstraße 28 a, 1000 Berlin 19

Das Denkmal am Berliner Königstor Von Paul Habermann

Am 20. Februar 1913 wurde am Königstor neben der Bartholomäuskirche ein Gedenkstein für den hundert Jahre zuvor hier gefallenen Alexander Freiherrn von Blomberg eingeweiht. Der junge Offizier hatte in einem Kosakenregiment bei einem Angriff russischer Truppen auf das von den Franzosen besetzte Berlin seinen Tod gefunden (Abb. 1). Der Sockelstein aus Muschelkalk hat die Zerstörungen des Krieges überstanden und wurde auch in der DDR-Zeit nicht als militaristisches Denkmal beseitigt, sondern fand als ein Zeichen der gern betonten historischen russisch-preußischen Waffenbrüderschaft in der Zeit der Befreiungskriege eine gewissen Beachtung und auch gelegentlich Erwähnung in Ost-Berliner Zeitungen.1 Doch ist Alexander Freiherr von Blomberg in Berlin fast völlig vergessen. Aber in der Zeit nach den Befreiungskriegen 1813 bis 1815 galt er wie Theodor Körner als Symbolgestalt eines jun­ gen Dichters und Soldaten, der sein Leben im Kampf gegen die bedrückende Napoleonische

129 Herrschaft eingesetzt hatte. Wesentlich für die Ausbreitung seines Ansehens war die Freund­ schaft mit dem damals noch sehr geschätzten romantischen Dichter Friedrich de la Motte Fou- que (1777—1843), der im Jahre 1820 Blombergs literarischen Nachlaß mit einer biographi­ schen Einführung herausgab3, die dann auch die Grundlage späterer Darstellungen, meist aus dem lippischen Raum, wurde. Zu Blombergs Ruhm trug damals auch mit bei, daß man meinte, er sei der erste deutsche Offi­ zier gewesen, der in diesem Feldzug im Kampfe gegen Napoleon sein Leben verlor. Jedoch war schon zwei Tage zuvor, ebenfalls in russischer Uniform, der Hauptmann Otto von Arnim bei dem gleichen Vorstoß auf Berlin bei Werneuchen gefallen. Hans Scholz hat über den „Tod des Kosakenhauptmanns" ausführlicher berichtet.11 Der schöne klassizistische, mit einem antiken Helm geschmückte Stein an der Bartholomäus­ kirche am Königstor war vom Verein der Lipper in Berlin gestiftet worden und wurde am Gedenktag, dem 20. Februar 1913, vom Fürsten Leopold von Lippe enthüllt.2 Sogar eine Delegation der russischen Botschaft unter Führung eines Obersten war zur Einweihung erschienen1, da der junge Offizier hier ja als russischer Soldat gefallen war. Im Jahre 1986 setzte ihm der Lippische Heimatbund mit einer von H. Detering besorgten Neu­ herausgabe von Gedichten Blombergs ein literarisches Denkmal in unserer Zeit.2 Carl Alexander Johann Ludwig Freiherr von Blomberg wurde am 31. Januar 1788 auf dem elterlichen Gut Iggenhausen bei Lage in Lippe geboren. Sein Vater Ludwig Walfart Alexander Freiherr von Blomberg war als Hofrichter Chef einer hohen juristischen Behörde des Fürsten­ tums Lippe und als Landrat ständischer Deputierter des lippischen Adels. Auch die Mutter, Catrin Sophie Friederike geborene Freiin Schott zu Schottenstein aus einem süddeutschen Geschlecht, entsprach nicht dem üblichen Bild der Gutsfrau der damaligen Zeit. Sie war als Verfasserin geistlicher Schriften hervorgetreten und stand mit vielen bedeutenden Zeitgenos­ sen in persönlicher und brieflicher Verbindung. Wie auf den Adelshöfen üblich, erhielt der junge Freiherr seine erste Schulbildung zu Hause durch einen Pfarramtskandidaten. Im Jahre 1797 zogen die Eltern nach Lemgo, um den Söh­ nen den Besuch des dortigen sehr angesehenen Gymnasiums zu ermöglichen. Aber schon im Jahre 1800, also mit zwölf Jahren, tritt Alexander als Gefreitenkorporal8 in das in Hamm in Westfalen garnisonierende preußische Infanterieregiment v. Bremer, später v. Schenck, ein. Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, was ein so junges Kind in einer Kompanie rauh­ beiniger Soldaten erlebt haben mag. Der Soldatenstand war damals durchaus nicht sehr ange­ sehen. Als später, am 3. September 1814, in Preußen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, empörten sich die Bürger, daß ihre Söhne in einer so wenig anständigen Gesellschaft dienen sollten. Üblicherweise kamen die jungen Adligen, auch aus den Kadettenanstalten, erst mit sechzehn Jahren als Offiziersnachwuchs zur Truppe. Aber es gab durchaus auch Ausnah­ men. Die allgemeine Erziehung und geistige Bildung hing weitgehend vom Zufall bzw. von der Anteilnahme der jeweiligen Kommandeure ab. Zu dieser Zeit wurden Kinder fast allgemein in einer für die Gegenwart undenkbaren Weise frühzeitig belastet.4 Mit dem Datum vom 2. Juni 1801 ist Alexander von Blomberg Porte-epee-Fähnrich in der Kompanie v. Bodelschwingh des Infanterieregiments v. Schenck. Erst 1804, nach der Ernennung zum Fähnrich, zählt er dann zu den Offizieren (Abb. 2).8 Mit seinem Regiment nahm er an der verhängnisvollen Schlacht bei Jena teil und geriet mit ihm nach der Kapitulation von Erfurt in französische Kriegsgefangenschaft, aus der die Offiziere mit dem Versprechen, nicht wieder die Waffen gegen Napoleon zu führen, entlassen wurden. Nach dem Frieden von Tilsit (1807) war diese Verpflichtung hinfällig. Blomberg begab sich nach Pommern zu den von Blücher geführten Truppen. Aber der König von Preußen hatte jetzt

130 Abb. 1: Der Gedenkstein

weniger Soldaten als vor der Schlacht von Jena, und nicht alle Offiziere erhielten ihre vollen Bezüge. Mit halbem Sold konnte Blomberg dann als „inaktivierter Offizier" in Berlin leben. Er fand jetzt Zeit, seine Kenntnisse zu erweitern und an seinen Dichtungen zu arbeiten. „Er hatte hier das Glück, die Bekanntschaft mehrerer der ausgezeichnetsten Menschen aller Art zu machen, deren Zuneigung und Freundschaft ihm viele glückliche Stunden schuf und in deren Umgang er reichen Gewinn für seinen Geist fand."2 Auch den Major von Schill lernte er kennen. Als dieser 1809 glaubte, er könne mit einer militä­ rischen Aktion einen allgemeinen Volksaufstand gegen Napoleon auslösen, wollte sich auch Alexander von Blomberg seinen Truppen anschließen. Er nahm an, daß König Friedrich Wil­ helm III. insgeheim diese Aktion billigte. Doch der König sah in dem unzeitigen Vorgehen eine gefährliche Disziplinlosigkeit.12 Blomberg wurde auf dem Wege zu Schill von preußischen Husaren festgenommen und erhielt einen dreimonatigen Festungsarrest in Kolberg. Durch das Eingreifen der preußischen Husaren war Blomberg dem harten Schicksal entgan­ gen, das viele der Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften traf, die sich Schills vergeblichem

131 Zuge angeschlossen hatten. Es wurden ja nicht nur die von der patriotischen Geschichtsschrei­ bung in den Vordergrund gestellten elf Offiziere in Wesel erschossen, sondern in Braunschweig auch vierzehn Unteroffiziere und Mannschaften; etwa fünfhundert Mann kamen auf französi­ sche Galeeren, von denen die Überlebenden dann erst nach 1814 befreit wurden. Der scharf­ sichtige Kritiker Friedrich August Ludwig v. d. Marwitz, der Schill persönlich kennengelernt hatte, urteilt über den Husarenmajor: „Er war sehr tapfer, auch listig, aber unglaublich dumm, wodurch bald Hochmut erregt wurde, den er unter einer erheuchelten Bescheidenheit zu ver­ bergen trachtete. Zu nichts weniger war er geschaffen als zu einem Feldherrn, und den wollte er spielen. Daran ist er gescheitert."9 Nachdem die ihm viele Freiheiten lassende Haft in Kolberg überstanden war, konnte Blomberg nach Berlin zurückkehren und traf dort viele seiner alten Bekannten wieder. Einige seiner Gedichte erschienen in dieser Zeit im Druck, und etwa um 1810 begannen die Arbeiten an sei­ nem Trauerspiel „Konrad in Welschland". Als er danach als Leutnant in ein schlesisches Infan­ terieregiment in Neisse eingestellt wurde, hatte er als Mitglied eines Liebhabertheaters Gele­ genheit zu verschiedenen Dichtungen. In dem Verlangen, am Kampf gegen Napoleon teilnehmen zu können, waren in dieser Zeit nicht wenige deutsche Offiziere in russische Dienste getreten. Bei Fouque wird über von Blom­ berg berichtet: „Er kam um seinen Abschied ein und ging zur russischen Armee, wo er als Capitain und Ajutant des Generals von Tettenborn, der die Avantgarde befehligt, eingestellt wurde."2 Doch hat es sich, mindestens formal, wohl nur um eine Beurlaubung gehandelt, denn am 24. Juni 1813 erscheint in „Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen" vom Kommandeur des Füsilierbataillons des 10. Regiments ein „Erneuter Aufruf, dem Regiment bestimmte Nachrichten mitzuteilen von dem wahrscheinlichen Ableben des v. Blomberg oder sonst vorhandenen triftigen Gründen, welche die Wiederkehr des im Regiment allgemein geschätzten Offiziers bis jetzt verhinderten".5 Als russischer Hauptmann ist Alexander Freiherr von Blomberg dann am 20. Februar 1813 am Königstor in Berlin gefallen. Zum Tod seines elf Jahre jüngeren Freundes, mit dem ihn auch das „brüderliche Du" verbunden hatte5, gibt Fouque eine Schilderung, bei der er sich auf den Ohrenzeugenbericht einer Darstellung des Generals von Tettenborn beruft. Dieser war mit einer Kosakenabteilung durch das Schönhauser Tor in Berlin eingedrungen und bis zum Alex­ anderplatz vorgestoßen; doch mußten sich die Kosaken wieder zurückziehen. Sein Adjutant, von Blomberg, sollte dem Obersten von Benekendorff den Befehl überbringen, das Bernauer Tor—das amtlich aber schon seit 1809 Königstor benannt wurde — anzugreifen. Blomberg bat, sich an diesem Angriff beteiligen zu dürfen. Als das Tor geöffnet wurde, glaubte er, daß es Ber­ liner Bürger seien, die den Befreiern ihr Tor öffneten. Er ritt den Kosaken voran hinein. Von einer Salve tödlich getroffen, stürzte er vom Pferd. Ein ehemaliger preußischer Leutnant von Höbe, der gleichfalls in der russischen Armee diente, schildert den Kampf um das Bernauer Tor ausführlicher. Dort hatte Blomberg das Kommando über zwei Kanonen der russischen Artillerie. „Er hatte den Auftrag, das Bernauer Tor einzu­ schießen und dann mit den Kosaken, welche seinen Kanonen als Bedeckung beigegeben waren, womöglich in das Tor hineinzusprengen."6 Tettenborn und der die gesamte Angriffs­ truppe befehligende General Tschernitscheff hatten beabsichtigt, durch die Aktion am Ber­ nauer Tor die Aufmerksamkeit der Franzosen vom Hauptangriff durch das Schönhauser Tor abzulenken. „In der festen Erwartung, es würde dann ganz Berlin gegen die Franzosen losbre­ chen, wie ihnen dies durch ihre hiesigen Vertrauensleute eingeredet sein mochte."6 Aber diese Hoffnung war durchaus unbegründet. Einige Berliner hatten die Kosaken zwar begeistert begrüßt. Als sie dann aber aufgefordert wurden, sich selber am Kampf zu beteiligen, zogen sich

132 Abb. 2: Carl Alexander Ludwig Freiherr von Blomberg

die Bürger wieder still in ihre Häuser zurück. Bei Klöden und Rellstab finden sich reizvolle Schilderungen der damaligen Situation aus der Sicht der Einwohner der preußischen Haupt­ stadt, in der der unerwartete Angriff der Kosaken zunächst beträchtliche Verwirrung bei den Franzosen ausgelöst hatte. Varnhagen schreibt in einem Brief vom 26. Februar 1813 kühl distanziert über die dramati­ schen Ereignisse13; von Höbe schildert als Soldat die militärische Lage aus der Sicht des Angreifers. Über den Tod Blombergs schreibt er: „Wir hatten nach der Rückkehr vom Alexan­ derplatz etwa zehn Minuten am Schönhauser Tor gehalten, als eine Meldung kam, der Haupt­ mann von Blomberg sei am Bernauer Tor gefallen. Tschernitscheff teilte dies seiner Umgebung mit: Das Bernauer Tor habe sich bewegt und da habe der Hauptman von Blomberg geglaubt, es werde für ihn geöffnet, er sei also mit den Kosaken herangesprengt, sei aber aus dem offenen Tore, dem Wachthause und ebenso aus dem Hause des Steuereinnehmers mit Gewehrfeuer

133 empfangen worden, worauf man ihn, zwei Kosaken und einige Pferde habe zusammenstürzen sehen. Die einige Stunden später erfolgten Erörterungen haben auf das bestimmteste heraus­ gestellt, daß der Hauptmann von Blomberg dicht am Bernauer Tor, außerhalb desselben, erschossen und vom Pferd gefallen ist."6 Bürger trugen den Gefallenen in ein Haus. Er wurde dann auf dem St.-Georgen-Kirchhof nahe der Blindenanstalt begraben. Sein Freund Zeune, Leiter der Blindenanstalt und seit 1810 Pro­ fessor der Erdkunde, ließ an einer dem Grabe nahestehenden Pappel einen ehernen Grab­ schild mit Namen und Todestag des Gefallenen befestigen mit der Inschrift: .Erstes Opfer im deutschen Freiheitskampf.' Ein später am Königstor errichtetes Erinnerungsmal mußte dem sich ausweitenden Verkehr weichen, bis dann 1913 der noch heute stehende Gedenkstein geschaffen wurde. Fouque hatte schon 1816 einen Lebenslauf des Freundes verfaßt und gab 1820 „Hinterlassene poetische Schriften des Freiherrn Alexander von Blomberg" heraus, die in Berlin in der Mau- rerschen Buchhandlung erschienen. Hundert Jahre später gibt B. Heinemann eine ausführliche Würdigung Blombergs in einer 1916 in Münster verfaßten Dissertation. Hier werden auch noch weitere Arbeiten Blombergs erwähnt, die bei Fouque nicht veröffentlicht sind. Auch Briefe vervollständigen das Lebensbild.5 Gedichte des noch nicht Zwanzigjährigen zeigen eine an barocke Vorbilder erinnernde Natur­ lyrik. Als Beispiel soll hier die erste Strophe des Gedichtes „Der Frühling" von 1806 angeführt werden:

Der junge Lenz senkt lächelnd sich hernieder Und leeret seines Füllhorns gold'ne Pracht Und Phöbus Milde kehrt beglückend wieder, Besiegt entflieht des Winters lange Nacht, Und mit des Lebens Wiederkehr erwacht Im Busen mir der heitre Geist der Lieder.

Auch der patriotische Aufschwung vor den Befreiungskriegen findet seinen Wiederhall in Gedichten: „Auf den Einzug des Königs und der Königin in Berün. 1809" oder in Erinnerung an die in Wesel erschossenen Kameraden: „Nachruf der in Wesel Gefallenen an ihre Waffen­ brüder. 1809". Nach dem Tod der Königin Luise: „Klagen um die Allgeliebte. 1810". Die Gedichte können vor der Nachwelt eher bestehen als das dramatische Werk. Hier erstaunt zunächst, welche Geschichtskenntnisse sich Blomberg in der unruhigen Kriegszeit verschafft hat, um „Konrad in Deutschland", Vorspiel in einem Aufzug, und „Konrad in Welschland", ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, zu schaffen. Unvollendet ist das Schauspiel „Woldemar in Däne­ mark" geblieben. Aber diese Bühnenwerke zeigen auch die Schwäche der poetischen Kraft des Dichters. Zu „Konrad in Welschland" nennt das Personenregister einundvierzig Darsteller. Die Handlung wird umständlich ausgebreitet. Die Charaktere sind edel oder schurkisch und zeigen keine Ent­ wicklung. Längere Dialoge sind nach dem Vorbild Schillerscher Dramen in reimlosen, fünfhe- bigen Blankversen geschrieben. Dabei gibt es auch einprägsame schöne Sätze:

Von Gärtners Hand zur rechten Zeit beschnitten Zu neuem Leben grünt der Weinstock auf.

134 Abb. 3: Preußische Soldaten am Königstor

In einer Zeit schwärmerischer Romantik und der nationalen Begeisterung nach dem Kampf gegen Napoleon fanden unverkennbar zeitbezogene Textstellen besondere Zustimmung der Leser:

Sieh'! wenn ich dies Treiben sah, Dies Schmiegen in das Joch der fremden Knechtschaft, Dies Sichgefallen in den Ketten selbst, Wenn ich die heim'schen Sitten allgemach Verschwinden sah in diesem fremden Wesen, Ja selbst die Sprache sich verlieren sah, Das letzte Band des Volks an seinen Boden, Da dünkt es mich, als sei schon alles todt.

Die Zeitgenossen fanden in solchen Versen das Schillersche Pathos und ihr eigenes nationales Empfinden. Aber die Literaturkritik muß die Tiefe der Charakterzeichnungen vermissen. Der dichterische Ruhm des Alexander Freiherr von Blombergs ist heute verklungen. Aber der Stein an der Bartholomäuskirche erinnert an einen Abschnitt deutscher Kultur — und Berliner Stadtgeschichte.

135 Literatur:

1 Berliner Zeitung am Abend (Ost) v. 10.12.1958. 2 Detering, Heinrich: Alexander von Blomberg „Die verlassene Wirklichkeit". Gedichte. Detmold - Göttingen 1986. 3 Fouque, Friedrich Freiherr de la Motte: Hinterlassene poetische Schriften des Freiherrn Alexan­ der von Blomberg. Berlin 1820. 4 Habermann, Paul: Zur Frage d. soziolog. Bedingtheit d. Pubertätsprobleme in d. Vergangenheit. Kinderärztl. Praxis 19. Jg. Leipzig 1951. 5 Heinemann, Bernhard: Wilhelm und Alexander von Blomberg. Zwei westfälische Dichter. Dis­ sertation Münster 1916. 6 Höbe, v.: Bericht in Adami, Friedrich: Vor 50 Jahren. Berlin 1863. 7 Klöden, Karl Friedrich v.: Jugenderinnerungen, hrsg. v. Karl Koetschau. Berlin 1911. 8 Kloosterhuis, Dr. Jürgen: pers. Mitteilung. 9 Marwitz, Friedrich Aug. Ludw. v. d.: Nachrichten aus meinem Leben. Hrsg. v. Günter de Bruyn, Berlin 1989. 10 Rellstab, Ludwig: Aus meinem Leben. Berlin 1861. 11 Scholz, Hans: Wanderungen und Fahrten in der Mark Brandenburg. Bd. 8, Berlin 1980. 12 Stamm-Kuhlmann, Thomas: König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melan­ choliker auf dem Thron. Berlin 1992. 13 Varnhagen, Karl August von Ense: Schriften und Briefe. Hrsg. von Werner Fuld, Stuttgart 1991 Für wertvolle Hinweise dankt Verf. Freiherrn v. Eckardstein-Iggenhausen.

Bildnachweis:

Abb. 1: Fotografie von R. Kondmann, Berlin Abb. 2: Aus Fouque, Friedrich Freiherr de la Motte. Abb. 3: Foto Landesbildstelle

Anschrift des Verfassers: Dr. med. habil. Paul Habermann, Franz-Nölken-Weg 9, 4770 Soest

Nachrichten

Bohlendächer in Berlin und Brandenburg

Als Bauhistoriker und Bauforscher habe ich vor kurzem mit einer baugeschichtlichen Dissertation über Bohlendachkonstruktionen des 18. und 19. Jahrhunderts in Berlin und der Mark Brandenburg begonnen. Bei Bohlendächern handelt es sich um eine besondere holzsparende Konstruktionsweise für Dächer; es werden relativ kurze Brettbohlen zwei- und dreilagig versetzt zu Sparren miteinander vernagelt, die so ziemlich große Spannweiten überbrücken können. Gestalterisch fallen die Bohlen­ dächer in der Regel durch ihre tonnen- oder spitzbogenförmigen Dachflächen sehr auf. Das auffällig­ ste erhaltene Berliner Beispiel ist wohl das Gebäude Breite Straße 20 in Berlin-Spandau. Allzu viele der ehemals im Stadtbild Berlins zahlreichen Bohlendächer sind mittlerweile verschwun­ den ; einiges findet man heute noch in Hinterhöfen auf eher untergeordneten Neben- und Wirtschafts­ gebäuden. Zur Zeit möchte ich mir einen Überblick über den Gesamtbestand der noch erhaltenen Dächer verschaffen. Ich möchte die Leser dieser Zeitschrift freundlich bitten, mir aus ihrer Kenntnis von erhaltenen Bohlendächern in Berlin und der Mark Brandenburg zu berichten. Ich bin gespannt auf das Echo! Dipl.-Ing. Eckhart Rüsch, M. A., Hochkirchstraße 12, 1000 Berlin 62, Telefon (030) 7883402.

136 Aus dem Mitgliederkreis

Am 2. Oktober 1992 ist unserem Mitglied Dr. Rainer Hildebrandt, dem langjährigen Leiter der „Arbeitsgemeinschaft 13. August" e.V., im Kronprinzenpalais der Verdienstorden des Landes Berlin verliehen worden. SchB.

Studienfahrt nach Braunschweig und in den Ostharz

Wieder war dem Verein und der halben Hundertschaft Mitreisender der Glücksfall beschert, in der Person des Leitenden Museumsdirektors Gerd Biegel, M. A., des Direktors des Braunschweigischen Landesmuseums, eine Persönlichkeit an der Hand zu haben, die sich in gleicher Weise als Organisator und Vortragender, als Stadtführer und glänzender Vertreter der guten Sache seines Landesmuseums bewährte, der Reisegruppe trotz vieler anderer Verpflichtungen ein ganzes Wochenende widmete und durch Engagement und Kenntnisreichtum ebenso auffiel wie durch liebenswürdige Präsenz. Auf G. Biegel geht auch die Einladung nach Braunschweig zurück, als er aus den „Mitteilungen" erfahren hatte, welchem Mißgeschick wir bei der geplanten Exkursion 1991 nach aufgesessen waren, und auf dessen gute Vorschläge sich auch das Programm stützen konnte. Der Besuch in der Feldschlößchen Brauerei AG, mit einem kräftigen Imbiß auf Einladung der Braue­ rei eingeleitet, mit der vortrefflichen Führung durch den Betriebsleiter Dipl.-Br.-Ing. Kurt Neunert, dürfte allerdings mehr auf das Konto des Schriftführers gehen. Dafür gab es dann bereits am ersten Abend im Braunschweigischen Landesmuseum im Anschluß an den Vortrag Gerd Biegeis zur Geschichte und Konzeption des Historischen Museums Wein ad libi­ tum, wie dann auch am zweiten Abend, als Dr. Christof Römer seinen inhaltsreichen Vortrag „Braun­ schweig und Preußen im 18. Jahrhundert" zu Gehör brachte. Beide Male war Gelegenheit gegeben, die reichen Sammlungen des Braunschweigischen Landesmuseums kennenzulernen und sie mit den Augen der beiden Referenten zu betrachten. Zwischen diesen beiden Museumsbesuchen lag ein ganzer Tag Braunschweig, mit einem von Jürgen Neubauer sympathisch angeführten Stadtrundgang, der zum Dom St. Blasii Heinrichs des Löwen, zur Burg Dankwarderode und in die Mittelalter-Abteilung des Herzog-Anton-Ulrich-Museums führte, zur Brüderkirche und über den Altstadtmarkt schließlich ins Historische Rathaus. Zwischendurch war Gelegenheit gegeben, der Eröffnung einer Fotoausstellung über die preußische Prinzessin und braunschweigische Herzogin Victoria Luise in einem Braunschweiger Kaufhaus beizuwohnen, mit der auf die am 20. Dezember 1992 eröffnete große Ausstellung über Victoria Luise aufmerksam gemacht werden sollte. Im Ausstellungszentrum hinter St. Aegidien war Dr. Hans-Jürgen Derda ein aufgeschlossener Führer durch die Abteilung Jüdisches Museum des Braunschweigischen Landes­ museums, die im Hinblick auf den Neubau des Jüdischen Museums mit künftigem Sitz des Vereins am Berlin-Museum, die ständige Ausstellung im Martin-Gropius-Bau und das Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße des Interesses der Berliner Gäste sicher sein konnte. Mit der bei diesen Studienfahrten und von den so disziplinierten Teilnehmern gewohnten Pünktlich­ keit traf der Reisebus am Sonntag in Halberstadt ein, wo Museumsdirektor Dr. Adolf Siebrecht die Besucher erwartete, um sie zunächst an Domkustos Leuschner weiterzureichen. Dieser verstand es, den Dom und vor allem dessen Schatz lebendig werden zu lassen. Im Städtischen Museum zeigte Dr. A. Siebrecht anhand eines Stadtmodells die Historie Halberstadts auf, die dann auch in Liebfrauen noch einmal sichtbar wurde. In Quedlinburg herrschte großes Gedränge, doch war dafür gesorgt worden, daß die Gruppe aus Ber­ lin zur festgesetzten Zeit durch die Stiftskirche St. Servatius geführt werden konnte. Vielleicht weniger große Kunst, dafür aber ein größeres Erlebnis noch bereitete der Besuch der Stiftskirche St. Pankra- tius in Hamersleben, weil H.H. Pfarrer Ludger Kemming es verstand, die Gäste in seinen Bann zu zie­ hen und das Schicksal seines Gotteshauses und der Gemeinde sichtbar werden zu lassen. Der Beschluß, das August Graf Neithardt von Gneisenau zum Geschenk gemachte Schloß Sommerschen­ burg in Sommersdorf ebenso wie das benachbarte Mausoleum nur von außen zu betrachten, war leichter gefaßt als realisiert. Denn als der Bus mit inzwischen angelaufenen anderthalb Stunden Ver­ spätung vor dem Schloß eintraf, wartete dort ein so unwiderstehlich freundlicher Führer, daß man den

137 Wunsch, das Schloßinnere mit dem Gneisenau-Gedenkzimmer zu besichtigen, wirklich nicht aus­ schlagen konnte. Niemand hat auch diesen herzerfrischenden Rundgang durch das immer noch als Schule genutzte Schloß bereut. Und weil die Zeit nun schon sehr weit vorgeschritten war, wurde im „Deutschen Haus" in Sommerschenburg auch noch das Abendessen eingenommen und die vielleicht auf einen Sonntagsbesuch von 50 hungrigen Gästen nicht eingerichtete Küche bis auf den letzten Brotkrumen leergegessen. Gute Stimmung und wohlverdiente rechtschaffene Müdigkeit hielten sich auf dem Heimweg unter der Obhut des zuverlässigen Fahrers die Waage. Ein Dank geht noch einmal von dieser Stelle an alle Gastgeber, vor allem an Gerd Biegel, M. A., der es sich vom Reiseleiter (nicht ungern) gefallen lassen mußte, der „August Everding von Braunschweig" tituliert zu werden. Das Ziel und gleich auch Programm der anstehenden Exkursion 1993, vorzugsweise in eine Stadt oder Region der neuen Bundesländer, wird im Juli-Heft der „Mitteilungen" veröffentlicht, voraus­ sichtlich die Bergstadt Freiberg in Sachsen (Termin: 10 bis 12. September). Hans G. Schultze-Berndt

Buchbesprechungen

Hans Jürgen Räch: „Die Dörfer in Berlin. Ein Handbuch der ehemaligen Landgemeinden im Stadt­ gebiet von Berlin", hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, 392 Seiten mit 625 Abbil­ dungen, VEB-Verlag für Bauwesen, Berlin 1988, in zweiter Auflage 1990. Welcher Westberliner vor der Wende sein heimatkundliches Interesse an der Erkundung der einst brandenburgischen Dörfer auf Barnim und Teltow auf den Westteil von Berlin beschränken mußte, kann nun eine vollständige Übersicht über alle Landgemeinden, die 1920 in den Stadtkreis Berlin ein­ gemeindet wurden, gewinnen. Das Handbuch versteht sich als Nachschlagewerk, aufgeteilt in eine all­ gemein historische Darstellung und eine Katalogisierung der Ortsteile von Adlershof bis Zehlendorf, und bietet eine erneute gesamtberliner sozioökonomische und baugeschichtliche Analyse der Stadt­ landschaft außerhalb der einstigen fünf Städte von 1709. Sie war schon 1988 vor der Wende erschie­ nen und liegt nun in 2., durchgesehener Auflage vor. Sie basiert auf dem „Historischen Ortslexikon" von Brandenburg, bezieht aber eigene Aufmessungen und Dokumentationen des Verfassers mit ein, stützt sich ferner auf Aufnahmen des Meßbildarchivs am Institut für Denkmalpflege im einstigen Ost­ teil der Stadt. — Der Leser kann die Entwicklung der um Berlin herum gruppierten Dörfer gleichsam in drei Augenblicksaufnahmen verfolgen: am Zustand, den die mittelalterliche Ostbesiedlung (die hier „feudale Ostexpansion" genannt wird) geschaffen hat und den das Landbuch Karls IV noch dokumentierte, am Zustand vieler Kolonistenansiedlungen des 18. Jahrhunderts, und schließlich sieht er den Prozeß der Verstädterung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor sich. Es ist erstaunlich, zu beobachten, wie lange sich die soziale Abstufung erhalten hat. Sie ist noch immer an den dörflichen Wohnbauten ablesbar. So kann der Leser sich die Sozialgeschichte jedes Dorfes selbst zusammenstellen, nachdem er den Vorgang und seine bestimmenden Faktoren einmal erkannt hat. Verfasser ist Volkskundler und lenkt den Blick auf die ländliche Volksarchitektur in ihrem Wandel; er verweist auf Einzelheiten wie etwa Traufen- oder Giebelstellung, Quergliederung und Raumanord­ nung der Bauernhäuser, beschreibt ihre Herkunft vom mitteldeutschen Ernhaus. Er verweist ferner auf Ziegelziersetzungen an Wohngebäuden und Stallungen, Back- oder Waschhäusern, Taubentür­ men, auf Fachwerk- und Ziegelbauten, Dorfkirche n und Brücken. In dieser Hinsicht werden die Dör­ fer im einstigen Ost und West gleichwertig behandelt. An fast allen Orten läßt sich der Prozeß der Verstädterung ablesen; er ging von der verkehrsmäßigen Erschließung aus, die mit der preußischen Städteordnung ihren Anfang nahm und Ansiedlung von Gewerbe, später Industrie, für die Großstadt zur Folge hatte. Viele Dörfer bekamen erst in den Grün­ derjahren eine zahlreichere Bevölkerung durch Ausflugslokale und Villenkolonien. Verfasser führt uns die verschiedenartigsten Industriebetriebe vor Augen: Leim- und Palmölsiedereien, Brauereien, Eiswerke, Anilinfabriken, Krankenanstalten und Rieselfelder, Rennplätze und Güterbahnhöfe, Direktorenwohnhäuser und Feuerwehren, Kommunalbauten und Schulen, Büdner- und Kossäten­ häuser. Er führt — meist anhand alter Fotos — alte Gutshäuser vor Augen, vor allem die spätklassizisti­ schen Wohnhäuser der reichen Bauern aus den Gründerjahren. — Ein Sachworterklärungsteil ver­ deutlicht die Fachbegriffe aus Architektur und materieller Kultur, Verwaltung und Landwirtschaft. —

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J Wenn auch unterschwellig eine gewisse Vorliebe für die Ansiedlungszeugnisse der ärmeren ländli­ chen Schichten und Vorbehalte gegen Villenkolonien und reiche Mietshäuser spürbar sind, so ergibt sich doch aufgrund des in Ost und West gleichen Gegenstandes eine gleiche Behandlung. Doch hätte die 1990 durchgesehene Auflage aktualisiert werden müssen; sie spricht noch von „Berlin (West)", „Hauptstadt der DDR" und „Wohnbedürfnissen der Bourgeoisie". Christiane Knop

Gerd Koisehwitz: „Märkische Geschichte und Geschichten. Zwischen Havel und Oder", 190 Sei­ ten, 68 Abbildungen, Möller Druck und Verlag, Berlin o. J. (1991). Die Mark Brandenburg zwischen Havel und Oder wird in der vorliegenden Schilderung auf das Gebiet im Halbkreis um das nördliche und nordöstliche Berlin beschränkt, so, wie es seit dem ausge­ henden 18. Jahrhundert durch Wasserstraßen und Eisenbahnen zu einem Lebens- und Wirtschafts­ raum verbunden wurde. Die Erschließung durch Klöster, Städte und ritterliche Siedlungsherren hat diese Entwicklung vorgebahnt. Im Sinne seiner Heimatforschung der Dörfer, die den Bezirk Rei­ nickendorf ausmachen, hat Verfasser nun den Erfahrungsraum auf das bisher unzugängliche histori­ sche Umland ausgeweitet; so entsteht über unterschiedliche geographische Landschaften wie Dünen­ gebiete der Eiszeit, Luchgebiete von Rhin und Havel, Fließtäler und landwirtschaftliche Nutzflächen hinweg der Eindruck der Einheit in der Vielfalt. Festgemacht an der noch faßbaren Welt der Klöster wie Chorin und Lindow, der Leistung der Bauern und Kolonisten, der Städter des 13. und 14. Jahr­ hunderts, wird die materielle Kultur ausgiebig recherchiert, so etwa Hausformen, Wald- und Weide­ wirtschaft, Bienenzucht, Bierbrauen und Metallverhüttung, aber auch die Fülle anderer Gewerbe und bäuerlicher Tätigkeiten. In heutigen Kleinstädten wie Liebenwalde, Bernau oder Kremmen wird der märkische Alltag vergangener Zeiten geschildert. Im Mit- und Gegeneinander der verschiedenen Gruppen und Stände, im Verlauf der Kämpfe zwischen Landesherren und Ständen und in den wirt­ schaftlichen Maßnahmen im Staat der Hohenzollern entfaltet sich die ganze Palette der Sozialge­ schichte. So ist das Büchlein im besten Sinne dazu geeignet, das Umland neu zu erfahren. — Leider ist aus manchen älteren Fotos nicht ersichtlich, ob ihre Objekte heute noch auffindbar sind. Christiane Knop

„Berlin-Mitte um die Jahrhundertwende", 103 Fotos aus dem Bildarchiv der Berliner Verkehrsge­ sellschaft (BVG), hersg. von Jürgen Grothe, 120 Seiten, Haude & Spener, Berlin 1991. Unter den neu erschienenen Bildbänden vom alten Berlin nimmt der vorliegende einen guten Platz ein. — Auf Wunsch des Bildarchivs der BVG ist ein Teil der dort geretteten Zweckaufnahmen publi­ ziert worden, die die Hochbahngesellschaft 1907 von unbekannten Fotografen hat herstellen lassen. Sie sollten anläßlich des U-Bahn-Baus vom Leipziger Platz zum Spittelmarkt die Fassaden dokumen­ tieren, um eventuell später auftretende Schäden feststellen zu können. Der Weg der Betrachtung läuft von der Voßstraße über den Wilhelm- und Zietenplatz, die Oberwall- und Niederwallstraße, den Spittelmarkt und die Wallstraße bis zur Neuen Grünstraße, darüber hinaus der Friedrichsgracht. Dabei kommen heute fast unbekannte Straßenabschnitte ins Bild wie die Alte Leipziger und die Kleine Jägerstraße. — Aufgerissenes Straßenpflaster, Bauzäune und Arbeitsgeräte, Arbeitsvorgänge, denen die Berliner geruhsam zuschauen, vermitteln einen Hauch von Alltäglichkeit und leise sich andeutender Veränderung; beides kann der heutige Betrachter, auch wenn er das historische Berlin kennt, schwer nachvollziehen. Hier werden geschäftige Nebenstraßen abgebildet, keine spektakuläre Repräsentation, und darin liegt der melancholische Reiz. Viel Aufmerksamkeit wird dem Hausvogteiplatz als dem Konfektionszentrum geschenkt. Er ist bau­ geschichtlich in die Gründerzeit-Architektur einzuordnen, sein So-Sein wird erklärbar durch die Aus­ weitung des Konfektionsexports und die Ansiedlung neuer Reichsbehörden und Banken. Der Bilder­ raum ist Erlebnis, wohin man auch sieht, sei es das Hotel Kaiserhof, der Messelbau Wertheims am Leipziger Platz, die kleinbürgerliche Wallstraße und das Spreeviertel im alten Colin, der Anblick der Gaslampen an den Auslagen der Geschäfte, die Reklamen mit den auffallend vielen jüdischen Namen in der Konfektionsbranche, der angepriesenen Produkte, von denen es viele, wie zum Beispiel Jupons, nicht mehr gibt, der Roll- und Pferdewagen und Baubuden; erstaunlich ist die Vielfalt der Branchen, der Versicherungen und Banken. Einigen der Fotos sind Bilder vom gegenwärtigen Zustand beigegeben; sie bestätigen die heutige Fremdheit, und es erweist sich als schwierig, aber mög­ lich, mit dem Buch in der Hand einen Spaziergang durch Teile der Friedrichstadt, des Friedrichswer-

139 ders und des Fischerviertels zu versuchen. Drei alte Kartenausschnitte eines Stadtplans helfen zum Auffinden der Objekte. — Spannungsvoll war das Miteinander barocker, spätklassizistischer und wil­ helminischer Fassaden. Christiane Knop

Dieter H. Schubert: Berliner Köpfe. Wer lebt(e) wo? Ein touristisches Adreßbuch. Elefanten Press Verlag GmbH, Berlin 1992. Broschiert, 185 Seiten. Daß man über Berlins Ruf streiten kann, wie der Autor in seiner Einleitung schreibt, ist nicht zu bezweifeln, trifft aber auch auf seine Aussage zu, daß der Ruf der Berliner immer besser war als der ihrer Stadt. Genau 50 Berliner, geborene wie gelernte, werden mit ihren Berliner Adressen und einer kurzen Beschreibung ihres Erdenwandels vorgestellt. Die sehr kurze Charakterisierung der „Berliner Köpfe" im Inhaltsverzeichnis wird dann aber in den Text nicht übernommen. Heißt es über den alpha­ betisch ersten Kopf, Arnim, Bettina von, „Die literarische Anwältin der Armen aus der Lindenallee", so lautet der entsprechende Untertitel der eigentlichen Lebensbeschreibung „Die Dichterin, die dem preußischen König trotzte — verstorben am 20. Januar 1859 in Berlin". Bismarck, Fürst Otto von, kann sich gegen seine Kurzcharakterisierung: Deutschlands „Eiserner Kanzler" und „Depeschenver- dreher" nicht wehren. Bemerkenswert sind die Darstellungen auf Seite 16 (nicht 17) „Nikolai Bersarin. Der erste sowjetische Stadtkommandant in Berlin — schreibt sich in sieben Wochen in die Berliner Stadtchronik ein" — im Inhaltsverzeichnis kürzer gekennzeichnet als „sowjetischer Kommandant mit Herz für Berlins Bevöl­ kerung". Nicht jedem Berliner dürfte geläufig sein, daß Bersarin am 16. Juli 1945 an der Kreuzung Alt-Friedrichsfelde/Schloßstraße tödlich verunglückte, als die Bremsen seines Motor­ rades versagen und er gegen einen Militärlastwagen seiner Armee geschleudert wird. Als Pendant kann dann Lucius D. Clay nicht fehlen, „Der Initiator und Mitorganisator der Luftbrücke—wird 1962 zum Ehrenbürger Berlins ernannt", treffender vielleicht im Inhaltsverzeichnis: Der „Luftbrücken­ mann" aus Georgia/USA. Wer nach der Länge der einzelnen Beiträge urteilt, könnte den Verdacht hegen, die Gewichte seien ungleich verteilt (beispielsweise je vier Seiten für Karl Liebknecht und Rudi Dutschke, drei Seiten für Fontane und je zwei Seiten für Else Lasker-Schüler und Moses Mendelssohn), doch ist eine solche Zählweise nicht bezeichnend für den Inhalt des Büchleins. Daß auch dort von Faschismus gesprochen wird, wo der Nationalsozialismus gemeint ist, stört sicher nicht nur den Historiker, dem die gravieren­ den Unterschiede zwischen den Inhalten dieser beiden Begriffe geläufig sind, hätte aber sicher auch dem Lektor auffallen müssen. Hans G. Schultze-Berndt

„Berliner Plätze. Hans-Werner Klünner. Photographien von Max Missmann". 140 Seiten, 117 Abbildungen, Argon Verlag, Berlin 1992 Unser Vorstandsmitglied Hans-Werner Klünner hat ein Bilderbuch für geistige Spaziergänge zusam­ mengestellt und mit so kenntnisreichen Beschreibungen versehen, wie wir das von ihm gewohnt sind. Doch seine Ansprüche gehen höher, sie wollen historisch greifen, wenn auch für den Betrachter das nostalgische Vergnügen zunächst im Vordergrund steht. Die Fotos von Max Missmann stammen aus dem Bestand des Märkischen Museums und sind in ausgezeichneter Qualität wiedergegeben. Über ihre Entstehung und ihren künstlerischen Wert gibt das Nachwort des Dr. Gottschalk Aufschluß. Beim Betrachten beschleicht den Leser immer wieder das Gefühl schmerzlichen Bedauerns, wie schön Berlin vor seiner Zerstörung war — trotz aller damals schon geäußerten kritischen Anmerkun­ gen am Stadtbild. Verf. führt Karl Scheffler an, auf den sich auch spätere Kritik bezog. Doch von der modernen Verödung oder Überbauung her gesehen möchte man dem Verdikt widersprechen, weil das einst so urban Gestaltete uns wohltuend anrührt. So rückt auch der historische Exkurs von Klün­ ner alte, überzogene Urteile zurecht. Plätze kannte die mittelalterliche Stadt als bloße Verkehrsverbreiterungen. Der historische Gang durch die Bilder zeigt ihre Entwicklung von Marktorten zu den pompös gestalteten und umbauten Schmuckplätzen um die Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts auf, wie der „Zug nach dem Westen" sie erzeugt hat und wie sie — zuerst in der alten Luisenstadt — auf dem Reißbrett entworfen sind. Es werden dann die Plätze betrachtet, wie sie sich im Zuge der Stadterweiterung im 18. Jahrhun­ dert aus Tor- und Festungsanlagen entwickelten und die dann die Doppelfunktion von Markt- und Exerzierplätzen bekamen wie das alte Octogon, das Quarree und Rondell. Dabei ist es wichtig zu wis-

140 sen, daß nach der Städteordnung von 1808 zunächst der Staat für das Land für Plätze zuständig war und erst seit 1876 wieder die Stadtväter von Berlin. Der Name des Hobrechtschen Bebauungsplanes wird neu gewertet als eine stadtplanerische Reißbrettgestaltung, von Lennes Ideen befruchtet und von der Erschließung der Verkehrswege angestoßen. — Die nächste Gestaltungsphase brachte Denkmäler und Brunnen auf die Plätze, v. a. auf die, welche gestaltet wurden, als die Stadt Berlin sich nach Westen und Süden ausdehnte und ihre Bebauungspläne mit denen der benachbarten Städte wie Charlotten­ burg, Schöneberg und Wilmersdorf zusammenstießen. — Verf. macht darauf aufmerksam, daß die Platzgestaltung der reichen Nachbargemeinden vorbildhaft für Berlin wurden und diese wiederum auf die neuen aufwendigen Schmuckplätze, etwa in Schöneberg und Charlottenburg, zurückwirkten, d. h. die neueren — etwa in Friedenau und Wilmersdorf—sind nicht als historisch gewachsene zu ver­ stehen, sondern aus spekulativen Gründen so angelegt, sie sollten neue Bauherren anziehen. — Gestreift wird ferner die Entwicklung, die seit den 20er Jahren greifbar ist, begrünte Plätze zu gepfla­ sterten „umzubauen" — als Beispiel werden der Lustgarten, der Wilhelm- und Opernplatz genannt — und sie zu leeren Aufmarschplätzen veröden zu lassen. Die historische Betrachtung gipfelt in Anmer­ kungen zu der gegenwärtigen Neuplanung von Potsdamer und Alexanderplatz und klingt versöhnlich aus mit einem Blick aus dem Cafe Josty auf den alten Potsdamer Platz, worin die Fontane-Zeit auf­ schimmert. Beim Stadtbummel anhand der Bilder beglückt den Betrachter an der Nikolaikirche die kleinstädtisch anmutende Abgeschiedenheit, am Petriplatz die schöne Perrikirche von Strack, deren Ruine noch lange Jahre nach dem Krieg zu sehen war; bei der Marienkirche zeigt sich noch der alte Marktplatz, der heute als Vorplatz gestaltlos geworden ist. Beim Rosenthaler Platz läßt sich noch die alte Gestal­ tung nachvollziehen, ebenso wie beim alten Alex der Grundriß der Esplanade. — Mit Bedauern betrachtet man, vergleichend mit der heutigen Anschauung, die alte Gestalt des Spreewaldplatzes, des Wilhelm- und des Augustenburger Platzes; der Nostalgie frönt man beim Anblick des weiträumi­ gen Oranienplatzes mit seiner Brücke über den damals noch existierenden Luisenstädtischen Kanal. Oder man genießt ein Stück Italien in der Luisenstadt, z. B. auf dem Mariannenplatz von 1908, um nur einiges herauszugreifen. — Am andern Ende der Bilderkette schaut man auf den dörflichen Richardplatz oder die Dorfaue von Müggelheim. — Man läßt sich vom Erklärer Klünner auch gern in persönlich weniger gekannte Stadtgegenden entführen, weil er das Geschaute so nachvollziehbar beschreibt und mit altem Leben bestückt. Die Plätze zeigen alle Zustände alten berlinischen Lebens. Man greife nur hinein... Christiane Knop

Jeffrey Ethel und Alfred Price: „Angriffsziel Berlin. Auftrag 250: 6. März 1944". 280 Seiten mit Sach- und Personenregister und zahlreichen Abbildungen, Motorbuch Verlag, Stuttgart 1982 Zwei Autoren, der Amerikaner J. Ethell und der Brite A. Price, beschreiben aus zeitlicher Distanz und nach längst erfolgter Versöhnung den bis 1943 größten und verlustreichsten Einsatz der 8. ameri­ kanischen Luftflotte auf Berlin, zusammengestellt aus vielen Zeugenaussagen und Interviews der damals Beteiligten bzw. Betroffenen, ergänzt durch Funde aus den Militärarchiven. „Als die Auto­ ren" — sie werden vom Verlag als kompetente Militärschriftsteller bezeichnet — „einen über dreißig Zentimeter hohen Berg offizieller Dokumente, persönlicher Berichte und Interviews vor sich hatten, war darin der Beitrag von 160 Einzelpersonen der daran Beteiligten und der militärischen Stellen und Archive bei den damaligen Kampfgegnern enthalten ... Danach brauchte dann nur noch das Buch geschrieben zu werden." (236) — So ungefüge und aufgeschwollen ist es dann auch geworden; leicht lesbar und farbig ist es nur für den fliegerischen Fachmann, schwerer nachvollziehbar aber für den Laien, weil er durch die Überfülle an Kampfberichten nur schwer einen roten Faden hindurchzuzie­ hen vermag. Dennoch sei zugestanden, daß der Aufwand an gesammeltem Material, das bis in die Oral history reicht, dem ungewöhnlichen Gegenstand angemessen ist, weil bis dahin ungewohnte Kräfte und weite strategische Überlegungen in das Ringen eingesetzt wurden, das die Kriegsentschei­ dung herbeiführen sollte. — Die Berliner, die den Bombenkrieg miterlebt haben und sich der ersten amerikanischen Großangriffe am Tage noch erinnern, haben ein Recht zu erfahren, inwieweit sie kriegsentscheidend waren und welche Rolle die eigenen deutschen Kräfte gespielt haben. — Der Angriff fiel in die Zeit sich mehrender deutscher Verluste an allen Fronten und angespanntester Rüstungsproduktion. Bisher hatte die Royal Air Force nur Nachtangriffe auf größere Städte bei gün­ stigen Bewölkungsverhältnissen geflogen. Angriffe auf Berlin erschienen des weiten Rückflugs zu den englischen Luftbasen und wegen des starken Luftabwehrgürtels um die Reichshauptstadt risiko-

141 reich. Aber Berün war das erstrebenswerteste Ziel, weil es mit seinen Ministerien und Stäben der poli­ tische und administrative Mittelpunkt und die Großstadt mit der stärksten Industriekapazität war. Diese Umstände werden detailliert ausgeführt, desgleichen die Schwierigkeiten des 900 km weiten Rückweges der Bomber zu ihren Stützpunkten an der englischen Südostküste. — Die amerikanische Luftflotte hatte ihre Angriffe auf deutsche Ziele 1942 verhältnismäßig bescheiden begonnen, trug sie dann, ausgehend von einem Angriff auf Wilhelmshaven, 1943 selbstbewußter weiter ins Reichsgebiet hinein und bereitete sich auf das Ziel Reichshauptstadt nun planmäßig vor, seit es gelungen war, feu­ erkräftige Begleitjäger an ihre Seite zu stellen. Seit 1944 lag ganz Deutschland in Reichweite für große Angriffe der starken Verbände. So erschien 1944 der Erfolg eines Schlages gegen Moral und Indu­ striekapazität der Berliner realistisch. Als sich in den ersten Märztagen über Norddeutschland eine Schönwetterfront mit günstigen Bewölkungsverhältnissen aufbaute, war man schnell entschlossen. Die Vorbereitungen werden ausführlich geschildert. Noch waren Kräftepotentiale und Erfahrungen auf beiden Seiten unterschiedlich, noch war die deutsche Luftabwehr durchaus zu fürchten. Es wird dann Ausmaß und Schwere der Luftschlachten dramatisch geschildert, in die sich der Verband der B 17-Bomber begab. Durch hohe Verluste durch deutsche Jäger und Flak ist er auf dem Rückflug vor allem verletzlich geworden. — Die Augenzeugen aus Berlin geben vom Angriff und seiner Auswir­ kung (auf die Luftwaffenhelfer!) nur ein punktuelles Bild; es erscheint irgendwie blaß. Darum ist für einen Rezensenten das Kapitel „Rückschauende Betrachtung" (230 ff.) das Wesentliche: Das eigent­ liche Ziel wurde nicht erreicht, denn die Produktionsstätten wurden nicht getroffen, das Bomben „aufs Geratewohl" war sogar ein Fehlschlag, und die Moral der Berliner blieb unerschüttert. — Die deutsche Luftverteidigung funktionierte so wirkungsvoll, wie es ihr möglich war; sie erlitt einen ver­ hältnismäßig geringen Verlust an Jägern, dafür war die Einbuße an erfahrenem Flugpersonal um so schmerzlicher. Da andererseits die US-Luftflotte tief ins Feindgebiet einfliegen mußte, hatte die Luft­ abwehr genügend Zeit, sich zu sammeln und den Feind auf seinem Rückweg mit frischen Kräften anzugreifen. Dennoch werten Vff. ihren Sieg als zweifelhaft, da der Verlust an flugerfahrenem Perso­ nal um diese Zeit kaum noch zu ersetzen war, ebenso wie der knappe Ausstoß an neuen Maschinen, während die Amerikaner frische Kräfte ins Feld führen konnten. Mit dem Schlag vom 6. März 1944 bewies die 8. Luftflotte, daß das schwierige Ziel Berlin trotz aller Verluste erreichbar war und daß die Deutschen im Reich wie in den besetzten Gebieten überall am Tage zu treffen waren. — Die amerikanischen Verluste konnten infolge reichlichen Nachschubs besser als beim Gegner ersetzt werden; denn bei den Deutschen war der Mangel Ausbildungskapazitäten für das junge Flugpersonal unaufhebbar. In der Folgezeit mußte die Ost- und Südfront von Jagdeinheiten stark entblößt werden, um die Heimat zu schützen. Diese Kräfteverschiebung war auf die Länge kriegsentscheidend, da im Juni die Invasion der Alliierten einsetzte. Ihre Luftwaffe konnte der deut­ schen das Gesetz des Handelns vorschreiben. Vff. behaupten sogar, beim Einsatz gegen die Invasions­ armee sei die Jagdflotte verzettelt worden und habe sich nie wieder so weit erholt, dem Schlag des Gegners zuvorzukommen. Während die Augenzeugenberichte der Berliner Zivilisten uns vertraute Erlebnisse von Angst und Schrecken wiedergeben, berichten auch die US-Piloten von den ungeheuren physischen und psychi­ schen Anstrengungen dieser Einsätze, die sie gegen die eigene Angst fliegen mußten. Wenn der Klappentext von Ausgewogenheit im Sinne von Objektivität spricht und von ungeschmink­ ter Darstellung ohne Effekthascherei, so ist dem wohl zuzustimmen. — Die deutsche Übersetzung von Roderich Cescotti ist nicht frei von Anglizismen und ungelenken Passagen. Christiane Knop

Ekkhard Verchau: „Theodor Fontane. Individuum und Gesellschaft", 310 Seiten, 13 Abbildungen, Literaturverzeichnis, Zeittafel, Register und Quellenverzeichnis, Ullstein Taschenbuch, Berlin 1983. Als die Mauer gefallen war, ersetzten Fontanes „Wanderungen" mit einer Fülle von Auszügen den Mangel an historischen Informationen, bis neue Reiseführer in die Mark Brandenburg erschienen waren. Diese Suche hat den literarischen Fontane ein wenig in den Hintergrund gedrängt. So läßt es sich auf ein Kompendium zurückgreifen, in dem Verf. die Fachliteratur bis an die Schwelle der 80er Jahre verarbeitet. Für den Nichtfachmann ist darin ein Leitfaden in das Gewirr der sozialwissen­ schaftlich und ideologisch beeinflußten Deutungen gegeben, der den Leser auf die werkgerechte Betrachtung verweist. Denn daß die scheinbar so eindeutige Grundfrage aller Fontaneschen Dich­ tung, die nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, doppelbödiger ist, als man glaubt,

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I zeigt das Spektrum der Fontane-Bücher aus verschiedenen geistigen Lagern. Dem hält Verf. zu Recht entgegen: „Fontane ist für jeden ein Ärgernis, der versucht, ihn einseitig zu interpretieren." Schon die Monographien der zwanziger Jahre haben ihn aus der Einengung auf den Preußen-Sänger und märki­ schen Heimatdichter befreit; ebenso falsch ist es, ihn als Bruder der Naturalisten und Verfechter des vierten Standes zu verabsolutieren. Wie sehr er ein Gestalter von Geschichte ist, zeigt Verf. am Kapitel „Fontane und Menzel" auf. Hierin liegt sein gedanklicher Schwerpunkt. — Verf. gibt eine sorgfältige Biographie, erzählt vom jungen Apotheker, vom demokratischen Barrikadenkämpfer und Journali­ sten, vom Kriegsreporter und Reiseschriftsteller, vom Literatur- und Theaterkritiker, vom Autobio­ graphen und Romancier, kurz, er blättert das ganze Spektrum auf, weil er betont, der späte Fontane sei ohne den jungen und mittleren undenkbar, so, wie es die Darstellung von Hans Scholz schon vor Jahren tat. Aber das Wesentliche liegt für ihn beim Romanschriftsteller der Meisterjahre, eingebun­ den in die Eckpunkte „LAdultera" und „Der Stechlin", wobei jeder Roman nach seinen Grundzügen berichtet und bewertet wird. Wie der einzelne sich im Raum seiner Geschichte und Gesellschaft ver­ steht und sein Lebenskonzept nach Schuld und Sühne durchlebt und durchleidet, das bringt Verf. auf die bisher weniger beachtete Maxime des Professors Willibald Schmidt aus „Frau Jenny Treibel". Die­ ser hat seiner klugen Tochter Corinna als tröstliche Lebensweisheit das Pindar-Wort mitgegeben: „Vollende dich aus dir selbst — se ipsum habere!" Hier wird vom Verf. ein interpretatorischer Neuan­ satz gemacht. Von Fontanes freiheitsbetonter Selbstdeutung her ergibt sich das umfassende Prinzip seiner Selbstfindung. Sein Unabhängigkeitsdrang sei ein „Grundgestein", es habe ihn als Künstler freigemacht, nur sich selbst und den Forderungen des Stoffes anzugehören, ohne nach beengenden Kunstregeln und nach der Meinung der Kritiker zu fragen. Habe ihm Mut und Kraft gegeben, seine soziale Existenz dafür aufs Spiel zu setzen; gemeint ist seine Berufs- und Ehekrise von 1876. Von hier aus ergibt sich das ganze „weite Feld" seiner Gestalten und Probleme, Ereignisse und Gespräche als ein Spannungsfeld gesellschaftlicher Probleme, auf dem jeder seiner Romane seinen Platz hat. Dies führt Verf. knapp, doch erschöpfend aus. Ihm kommt zustatten, daß der Roman „Mat­ hilde Möhring" erst 1969 in seiner wahrscheinlich echten Textgestalt aus dem Nachlaß wieder herge­ stellt wurde und so in die moderne soziologische Deutung einbezogen werden konnte. Sie ist am besten geeignet, das durchdringende Prinzip von Individuum und Gesellschaft von hier aufzurollen. Erzählt hierin 1891 Fontane noch kühl und fast ohne Anteilnahme von der Verstrickung der Klein­ bürgerin Mathilde Möhring in das Geflecht von lieblosem Charakter, kleinbürgerlichem Milieu und wilhelminischer Gesellschaft, so bringt er mit der Reihe der anrührenden Frauengestalten wie Effi Bliest, Stine, Lene, Grete Minde, Cecile, Melanie van der Straaten „ganz aus mir selbst" die Men­ schen hervor, die natürlicherweise das Leben lieben und daran leiden, eben weil sie es lieben und des­ halb gegen die Normen der Gesellschaft verstoßen. Ihnen gilt Fontanes warmherzige Anteilnahme. Ihre Gestalten soll der Leser liebgewinnen. — Nach literargeschichtlichem Brauch wird das Dreige­ stirn der Altersromane „Vor dem Sturm", „Effi Briest" und „Der Stechlin" als eine Einheit abgehan­ delt und unter den Begriff „politischer Roman" subsumiert. Politisches Anliegen meint in den neunzi­ ger Jahren Adelskritik und die Frage nach dem gesellschaftlichen Recht des Arbeiterstandes. Die so liebenswürdigen Gestalten in ihrem weltabgeschiedenen Winkel und bei ihren scheinbar bloß char­ manten Plaudereien verkörpern eine Adelsgesellschaft im Umbruch. An ihr verdeutlicht Fontane den Adel, „wie er sein sollte und wie er ist". Verf. zitiert die oft angeführten Aussprüche vom Respektieren des Alten und dem liebenswerten Neuen, von der Einsicht in das Gegebene und seinem Verhältnis zum Neuen, vom anderen Unterbau der Gesellschaft, der notwendig werde, und der Kritik an der überholten Vorherrschaft des Adels im Wilhelminischen Kaiserreich. Erweist daraufhin, wie sehr das Bild vom Stechlinsee als einem Naturwesen autobiographische Züge von Fontanes seelischer und gei­ stiger Gestimmtheit widerspiegelt: sein feinnerviges Gespür für die Zeit, die gelassen jeden und jedes gelten läßt, aber revolutionär „auffährt, wenn irgendwo in der Welt etwas los ist". Als ein Kernkapitel erscheint das über die Wahlverwandtschaft mit Menzel dem Historienmaler. Was beide im tieferen Sinne verbindet, ist ihr echtes Erleben der preußischen Geschichte in Berlin und darüber hinaus der Geschichte überhaupt als Inbegriff der Wahrheit. Fontane habe in Menzels Bildern nicht nur preußische Lebensluft gepriesen, sondern in ihm den Künstler der Lebens­ wahrheit erkannt, der das Rauchsche der Plastik in die Malerei überführt habe: den großen Men­ schen — etwa im Bild des Eisenwalzwerkes. 1887 äußerte er sich über Menzels Wiedergabe der Geschichte, er finde in ihr das „Hineinragen des Großen in das Kleinleben". Das ist mit seiner eignen Gestaltung historischer Gestalten identisch. Und noch weiter geht die innere Nähe: „Menzel ist ein

143 Meister darin, in der Großstadt zu leben und doch nicht von ihr gefressen oder abgetötet zu werden. Die große Stadt hat nicht Zeit zum Denken, und was noch schlimmer ist, sie hat auch nicht Zeit zum Glück. Was sie hunderttausendfältig schafft, ist die Jagd nach dem Glück, die gleichbedeutend ist mit dem Unglück!" So erweist sich Fontanes Standortbestimmung als das Gegengewicht zur Einseitigkeit, den Menschen entweder als bloßes Gesellschaftswesen oder als Gegenstand rein personaler Geschichtsschreibung zu sehen, sondern er sei da wahrer Mensch, wo er im Rahmen der Gesellschaft seine Entfaltungsmög­ lichkeiten gesucht und gefunden habe. Christiane Knop

Renate Petras: „Das Schloß in Berlin. Von der Revolution 1918 bis zur Vernichtung 1950", 160 Seiten, 109 Abbildungen, davon einige farbig, Anhang mit Dokumentationen und Literaturver­ zeichnis, Verlag für Bauwesen, Berlin und München 1992 In eine gegenwärtig aktuelle Debatte hinein schildert Vfn. aus ihrer unmittelbaren Kenntnis als freie Mitarbeiterin bei der Denkmalpflege im Ostteil der Stadt und als Schülerin von Professor Hamann, damals Leiter des Kunsthistorischen Instituts der Humboldt-Universität, die Kämpfe um die Erhal­ tung des Berliner Schlosses. Es ist zwar nicht so, daß die vorhandene Literatur—so die Presseinforma­ tion des Verlages — „sich vordergründig historischen Glanzpunkten der Geschichte und Bauge­ schichte zuwendete"; eine solche Baugeschichte stellt ebenso umfassend das Buch von Peschken/ Klünner „Das Berliner Schloß" dar, dem sich Vfn. auch verpflichtet fühlt, wie sie dankend anmerkt. Aber sie gibt durch kunsthistorische Wertung und ausgezeichnete Architekturbeschreibung, vor allem der Innenräume, ihrer Darstellung die notwendige Fundierung, um den tragisch zu nennenden Ablauf des Widerstandes durch einen Teil des damaligen geistigen Berlin zu schildern und ihn nach Wert und Ausmaß zu würdigen. Sie konnte nach der Wende das bisher totgeschwiegene Thema abhandeln und kommentieren, soweit das nicht schon vor einigen Jahren durch die Veröffentlichung im Haude & Spener Verlag geschah. Den Schwerpunkt legt sie auf die „demokratische Phase" des Bestehens des Schlüterbaues, als seine im kaiserlichen Berlin hoch angesetzte Bedeutung auf das rein Kunsthistorische gerichtet wurde und sein Wert als schönster und kostbarster, europäischen Rang beanspruchender Barockbau uneingeschränkte Geltung bekam. Durch die Kunstbestrebungen im Schloßmuseum und bei der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten schob es sich ins Bewußtsein der Bevölkerung. In die Erinnerung älterer Leser tritt noch einmal die Faszination, die im Nachkriegs-Berlin von den großen im Schloß veranstalteten Ausstellungen der französischen Impressionisten und Expressioni­ sten und von der Dokumentation des Jahres 1848 ausging. Durch die Epoche der Verwaltung unter dem Magistrat von Groß-Berlin, dem ersten freigewählten Magistrat von 1946, und schließlich unter dem Ost-Berliner Magistrat nach Gründung der DDR zog sich eine Entwicklungslinie, die insgeheim schon zu der ideologisch motivierten, politischen Entscheidung für den Abriß gegen jedes kunstkriti­ sche und städtebauliche Argument führte. Bei der Erörterung der heutigen Gesichtspunkte über den Wiederaufbau oder seinen Verzicht ist zu bedenken, daß schon in frühester Nachkriegszeit durch Scharoun, damals Leiter der Abteilung Bau- und Wohnungswesen, die Weichen für eine Substanzer­ haltung gestellt worden waren, und zwar keineswegs rückwärts gewandt und nicht in Verkennung der historischen Situation, sondern im Zusammenhang mit der wegweisenden Ausstellung der Entwürfe „Berlin baut" — den modernen Städtebau aus dem Geiste des Bauhauses. Bei allem Engagement ging es Scharoun so wie später Hamann um das Schloß als einen Ort künftigen demokratischen Lebens. Schon von dieser frühen Debatte berichtet Vfn. von einer heftigen Spannung zwischen den vorge­ schobenen Nützlichkeitserwägungen der ideologiebestimmten offiziellen Stellen und den wegweisen­ den Vorschlägen und Bestrebungen der Befürworter für die Erhaltung, vor allem vom Akademieprä­ sidenten Rolf Stroux, den Kunsthistorikern Hamann und Justi, um nur einige aus der Reihe namhafter Protagonisten zu nennen. Noch 1949 erachtete der Arbeitskreis für die Geschichte Berlins im „Kul­ turbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" das Schloß als eine Jahrhundertaufgabe. „Sicher wird eine spätere Zeit einmal in der Lage sein, das Schloß von innen heraus neu aufzubauen und es einem demokratischen Verwendungszweck zuzuführen, den es schon seit 1918 hatte." — Um die Würde eines hohen Kunstwerks zu wahren, hatte Scharoun die Kosten bereits aufgelistet und erhaltenswerte Teile mit damals möglichen Mitteln gesichert. Doch bald danach wurde mit der neuen Hauptstadtplanung, ihrem Raumordnungsvorschlag und dem Entwurf des Aufbaustädtegesetzes die abschüssige Bahn betreten, ideologisch gesteuert von i/i/i ATT

1 Emigranten aus Moskau und politisch durchgeführt vom Aufbauministerium. Sie erklärten, einge­ nommen von der Vorstellung des Roten Platzes, die Neugestaltung des alten Stadtzentrums zur neuen nationalen Aufgabe. Den Abschluß bildete die bekannte Ulbricht-Rede, der Lustgarten und das Gebiet der Schloßruine solle und müsse zu einem großen Demonstrationsplatz für den Aufbauwillen „unseres Volkes" werden. — Auf einer Seite stand die offizielle Denkmalpflege mit der Behauptung, das Schloß sei das Symbol für den Verfall der feudalistischen Macht, dagegen standen die Warnungen und Klagen der Fachleute, daß mit dem Abriß Schlüter ausgelöscht werden würde. Grotewohl zeigte sich ihren Argumenten, vor allem von Hamann zugespitzt, anfangs noch zugeneigt, aber sein Sich- Einsetzen war nur matt; auch ihn überholte der rücksichtslose Erneuerungswille. Seit den ersten Sprengungen im September 1950 trat Hamann durch persönliches Erscheinen und weitausgreifende Aufklärung in einer Fülle von Gutachten und Appellen immer mehr an die Spitze derer, die noch etwas zu retten suchten. Vfn. bezeichnet dies als „ergreifendste Einzelleistung". Er erhielt anfangs noch Schützenhilfe von Konservatoren anderer, darunter westdeutscher, Länder, nicht aber offiziellen Protest aus Bonn oder West-Berlin, da die DDR von diesen nicht anerkannt wurde. Nur die Direktorin der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, Margarete Kühn, konnte noch mit ihrer Stellungnahme die schwedische Presse von der künstlerischen und historischen Bedeutung des Schlosses überzeugen und sie zu moralischem Protest ermutigen, aber es war zu spät. Sie sagte: „Es gibt kein politisches Argument, das den Abbruch rechtfertigen könnte." So kann Vfn. den ganzen Vorgang resümieren: „Die Proteste, die faktisch erfolglos waren und das Berliner Schloß nicht retten konnten, stehen bis in die Gegenwart für die Wahrung der deutschen Kunst und Kultur; sie dokumentieren die Auflehnung einzelner gegen Gewalt und Willkür." So ist dies in der Zeit, in welcher nach Zivilcourage gerufen wird, ein bedeutsames Buch. — Darüber hinaus betrachtet man mit schmerzlicher Anteilnahme die schönen Fotos — von guter Qualität — von Glanz und Zerstörung des Schlüterbaus. Ferner ist es instruktiv, im Anhang Briefwechsel, Appelle und offi­ zielle Verlautbarungen zu lesen und deren Untertöne zu vernehmen. Christiane Knop

„Gruppe Ulbricht" in Berlin April bis Juni 1945. Von den Vorbereitungen im Sommer 1944 bis zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945. Eine Dokumentation. Mit einem Geleitwort von Wolf­ gang Leonhard. Herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Keiderling, Berlin 1993 (Politische Dokumente, Bd. 13). Berlin Verlag Arno Spitz, gebunden, 766 Seiten, 198 DM. Der exponierteste Vertreter der SED-abhängigen DDR-Geschichtsschreibung war, was die Geschichte Berlins seit 1945 angeht, der Historiker Gerhard Keiderling. Dieser hat es nach dem Ende der SED und der DDR unternommen, die für die deutsche und speziell auch die Berliner Nachkriegs­ entwicklung außerordentlich bedeutsame Tätigkeit der „Gruppe Ulbricht" durch eine umfangreiche Quellenpublikation zu dokumentieren. Keiderling zeigt sich hierbei als perfekter historiographischer Verwandlungskünstler, der nicht nur von seinen inhaltlichen Aussagen her, sondern auch im ganzen Sprachgebrauch — insbesondere in der verwendeten Begrifflichkeit — gegenüber seinen früheren Ver­ öffentlichungen nicht wiederzuerkennen ist. So hat er noch vor wenigen Jahren selbst eine SED-konforme Kurzschilderung der Tätigkeit der „Gruppe Ulbricht" geliefert (in: Berlin 1945-1986. Geschichte der Hauptstadt der DDR [1987], S. 60—66), während er nunmehr die „Hofchronistik" und „legitimatorische Funktion der SED- Geschichtsschreibung" anprangert und seine Quellendokumentation als einen „Beitrag zur geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und zur historiographischen Abrechnung mit dem rea­ len Sozialismus' in der früheren DDR" verstanden wissen möchte (S. 738, 21,19). Die „Gruppe Ul­ bricht" sieht er heute als „Weichensteller für jene .antifaschistisch-demokratische Umwälzung' in der SBZ, die die Übertragung des stalinistischen Sowjetsystems auf die DDR vorbereitete" (S. 104); 1970 figurierten die Gruppenmitglieder dagegen als „Pioniere des Neuaufbaus" (Gerhard Keiderling/ Percy Stulz: Berlin 1945-1968, S. 24), und noch 1987 wurde die Gruppe von ihm als „ein Zentrum für den antifaschistischen Neubeginn in Berlin" gelobt (Berlin 1945—1986, S.65). Auf die Problematik dieser Kehrtwendung Keiderlings soll hier nicht weiter eingegangen werden. Seine erste Publikation nach der politischen „Wende" von 1989 bietet jedenfalls erstmals die Mög­ lichkeit, einen ungeschminkten Überblick über die intensiven Aktivitäten der „Gruppe Ulbricht" im Mai/Juni 1945 zu gewinnen, die als deutsches Hilfsorgan der Roten Armee zwei Hauptaufgaben zu erfüllen hatte: die Bildung einer — kommunistisch dominierten — Berliner Stadtverwaltung und die Wiedergründung der KPD. Neben Ulbricht selbst, den Keiderling gleich dreimal als machtehrgeizi-

145 gen, organisatorisch sehr fähigen Apparatschik charakterisiert (S. 17 f., 45 f., 74 f.), gehörten seiner Aktionsgruppe neun weitere Mitglieder an. Hierzu zählten unter anderem Karl Maron (Mai 1945 bis Dezember 1946: erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters und „starker Mann" im Berliner Magi­ strat, 1950-1955: Chef der Deutschen , 1955-1963: Innenminister derDDR)und Otto Winzer (Mai 1945 bis Dezember 1946: Stadtrat für Volksbildung im Berliner Magistrat, 1965—1975: Außenminister der DDR). Einer der beiden letzten Überlebenden der Gruppe, der 1949 abtrünnig gewordene Wolfgang Leonhard, hat zur vorliegenden Dokumentation ein anerkennendes „Geleit­ wort" verfaßt. Als Kenner der frühen Nachkriegsgeschichte Berlins, mit der er sich schon seit über drei Jahrzehnten befaßt, hat Keideriing insgesamt 175 aussagekräftige Dokumente für den Druck ausgewählt und kommentiert. Die Quellen stammen überwiegend aus dem ehemaligen Zentralen Parteiarchiv der SED (heute wichtigster Bestandteil der dem Bundesarchiv unterstehenden „Stiftung Archiv der Par­ teien und Massenorganisationen der DDR") und dort vor allem aus den Nachlässen von Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Sie sind chronologisch geordnet und werden hier, von einigen Ausnahmen abgesehen, das erste Mal veröffentlicht, wobei der Abdruck zum weitaus größten Teil in Form von Faksimiles erfolgt. Gegliedert ist der Dokumententeil in vier Komplexe: 1. Vorbereitungen der KPD-Führung in Mos­ kau auf die politische Betätigung in Deutschland nach dem Ende des Krieges (40 Dokumente: Juli 1944 bis Ende April 1945); 2. Hauptteil: die „Gruppe Ulbricht" in Berlin (95 Dokumente: Anfang Mai bis 13. Juni 1945); 3. „Nachträge": Berichte zur politischen Entwicklung, insbesondere zur KPD, aus dem Sommer 1945 (19 Dokumente); 4. Erinnerungsberichte von Mitgliedern der „Gruppe Ul­ bricht" (21 Dokumente). Besonders erwähnenswert ist die Fülle von Informationen, die im zweiten Dokumentenkomplex in den Berichten der Gruppenmitglieder aus den einzelnen Berliner Bezirken zu den dortigen politischen Entwicklungen in den ersten Nachkriegswochen enthalten ist. Ergänzt werden die Dokumente durch eine nützliche Aufstellung von Kurzbiographien aller zehn ursprüngli­ chen Mitglieder der Gruppe. Eine grobe Durchsicht ergibt den Eindruck, daß die vom Herausgeber vorgenommene Kommentie­ rung der Quellen insgesamt als gelungen anzusehen ist: zu den erläuterungsbedürftigen Begriffen, Namen, Ereignissen und Sachzusammenhängen finden sich im allgemeinen informative Anmerkun­ gen, die den Benutzungswert der Dokumentation stark erhöhen. Angesichts des enormen Detail- und Inhaltsreichtums der aufgenommenen Dokumente kann man es Keideriing nicht zum Vorwurf machen, wenn in Einzelfällen doch einmal eine wünschenswerte Erläuterung unterblieben ist (z. B. hinsichtlich eines Otto Schulz, der kurzzeitig als Berliner Oberbürgermeister vorgesehen war, siehe S. 312 u. 320). In formaler Hinsicht sind dagegen mancherlei Mängel zu beanstanden. So zählte der Rezensent 34 fehlende Seitenzahlen, und die Seiten 103 und 104 sind vertauscht. Die Dokumente 3 und 4 sind in umgekehrter Reihenfolge abgedruckt; es fehlt der wesentliche Teil von Dokument 143 b, ebenso der Quellennachweis für die Dokumente 143 und 150. Die aus mehreren Quellen bestehenden Doku­ mente 134,138,143 und 163 sind nicht entsprechend untergliedert im Dokumentenverzeichnis auf­ geführt. Dieses Verzeichnis enthält zudem keine Seitenangaben, mit deren Hilfe einzelne Dokumente leichter aufzufinden wären. Immerhin halten sich die kaum vollständig zu vermeidenden Druckfehler und falschen Zahlenangaben in engen Grenzen: Solche Fehler finden sich z. B. auf S. 275 („1954" statt „1945"), S. 339, Anm. 3 („1944" statt „1945") und S. 566, Anm. 3 („1871" statt „1889" als Geburtsjahr Ernst Reuters). Ein Ortsregister wäre wünschenswert gewesen, insbesondere um die vielen in den Quellen enthalte­ nen Informationen zu den einzelnen Berliner Bezirken und Stadtteilen schnell auffinden zu können. Es ist außerdem bedauerlich, daß in das Personenregister nur diejenigen Personen aufgenommen worden sind, die „eine größere Rolle" gespielt haben: Gerade solche umfangreichen Quelleneditio­ nen wie die hier zu besprechende Dokumentation können mittels eines vollständigen Personenregi­ sters die Gelegenheit bieten, auch über Politiker der zweiten Reihe und weniger wichtige Zeitgenos­ sen auf einfache Weise etwas in Erfahrung zu bringen. Die Bibliographie hätte bei einem so grundle­ genden Quellenwerk ausführlicher gestaltet werden sollen. Schließlich fragt sich der Leser noch, warum der Band nur Fotos von fünf der zehn Mitglieder der „Gruppe Ulbricht" enthält. In vielen Fällen ist sowohl die handschriftliche Originalquelle als auch eine maschinenschriftliche „Klarschrift" derselben abgedruckt worden. Mag dies aus Gründen der Authentizität und histori-

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i sehen Bedeutung bei den Bleistiftnotizen Wilhelm Piecks, die er in Vorbereitung oder als Protokollie­ rung wichtiger Besprechnungen anfertigte, noch angängig sein, so hätte es zumindest bei den Doku­ menten 94,95 und 127 völlig ausgereicht, jeweils die sog. „Klarschrift" in die Dokumentation aufzu­ nehmen. Die Reproduktionsqualität der faksimilierten Dokumente ist im allgemeinen wenig befriedi­ gend und zum Teil sogar so ungenügend, daß die Schrift kaum noch lesbar ist. Dies bleibt auch dann ein schwerwiegender Kritikpunkt, wenn man den oft schlechten Zustand der Originalquellen und die technischen Probleme ihrer Reproduktion in Rechnung stellt. Es fragt sich daher, ob man anstelle des ganz überwiegend praktizierten Faksimileverfahrens nicht besser alle Quellen in Form eines neu zu erstellenden Drucksatzes hätte publizieren sollen. Allerdings hätte ein solches Vorgehen wohl auch zu einer Erhöhung des mit 198 DM ohnehin schon sehr beträchtlichen Buchpreises geführt, der nicht zuletzt auf die bemerkenswerte Tatsache zurückzuführen ist, daß der Verleger die Produktion des Quellenbandes ohne Bezuschussung von anderer Seite finanziert hat. Ist also die mangelhafte formale Gestaltung der Publikation ihr wesentliches Manko, so stellt die historische Einführung des Herausgebers ein wichtiges inhaltliches Positivum dar: Neben der Kärr­ nerarbeit der Suche, Auswahl und Kommentierung themenrelevanter Dokumente und knappen Aus­ führungen zur Quellenlage und zum Forschungsstand (S. 733—740) bietet Keiderling auf 80 Seiten (S. 25—104) in einer gut strukturierten und konzentriert geschriebenen Einleitung einen informati­ ven Überblick über die programmatische Vorbereitung der Exil-KPD in Moskau auf die Zeit nach dem Nationalsozialismus, die Ausbildung von Kadern in der Sowjetunion für den Einsatz in Deutsch­ land, die Reise der „Gruppe Ulbricht" von Moskau nach Berlin (30. April bis 2. Mai 1945), die Errichtung der weitgehend kommunistisch beherrschten Orts- und Bezirksverwaltungen, die Bildung des Berliner Magistrats — in dem die entscheidenen Positionen ebenfalls mit Kommunisten besetzt wurden —, die Führungsfunktion der Moskauer Exilanten unter den deutschen Kommunisten, die Vorbereitungen zur Bildung von Einheitsgewerkschaften, die Wiedergründung der KPD (11. Juni 1945) und das damit verbundene Ende der „Gruppe Ulbricht". So klar und kompakt wie in Keider- lings Einführung sind viele der hier behandelten Zusammenhänge bisher nirgends dargestellt wor­ den. Es kann z. B. jetzt die Geschichte der Bildung des ersten Berliner Nachkriegsmagistrats, dessen Mitglieder am 19. Mai 1945 vom sowjetischen Stadtkommandanten Bersarin offiziell in ihr Amt ein­ geführt wurden, in groben Zügen als aufgeklärt gelten (S. 57—68). Trotz ihrer formalen Mängel stellt die Dokumentation über die „Gruppe Ulbricht" eine außerordent­ lich wertvolle Edition von Quellen dar, die für die Zeitgeschichtsforschung bis vor kurzem größten­ teils unzugänglich waren. Paradoxerweise ist es ausgerechnet einer der ehemaligen historiographi- schen Hauptlegitimerer der SED-Herrschaft, der durch dieses kompetent zusammengestellte Quel­ lenwerk und dessen fundierte Einleitung und Kommentierung in der Tat einen grundlegenden „Bei­ trag zur Aufhellung zur Frühgeschichte der SBZ, zur Genesis der SED und der sowjetischen Besat­ zungspolitik sowie (...) zur Biographie Walter Ulbrichts" und damit auch einen „Beitrag zur geisti­ gen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus" (S. 19) geleistet hat. Dieter Hanauske

Kulturland-Karte Berlin — Brandenburg. Herausgegeben vom Verkehrsamt Berlin und dem Landesfremdenverkehrsverband Brandenburg. Verlag Dirk Nishen GmbH & Co. KG Berlin 1992, 4,95 DM. Die auch mit englischem und spanischem Text erhältlichen Karten führen zu insgesamt 40 ausgewähl­ ten Zielen, je zur Hälfte in den beiden Bundesländern Berlin und Brandenburg. Auf der eigentlichen Landkarte wird mit Pfeilen auf die Ziele hingewiesen. Diese werden briefmarkengroß abgebildet und beschrieben, wobei die Fahrverbindungen, Öffnungszeiten, Telefonnummern usw. angegeben sind. Unter der Nummer 30 Märkisches Museum/Berlin-Museum werden so die nötigen Angaben gemacht, auf der gesonderten Karte der Berliner Innenstadt fehlt dann aber der Hinweis auf das Ber­ lin-Museum. Ein Ausschnitt aus dem Stadtplan von Potsdam und ein Übersichtsplan über das Schnellbahnnetz der Region Berlin vervollständigen diese freundlich gestaltete Handreichung. Wenn man übrigens Dammsmühle nicht auf der Landkarte findet, so nicht deswegen, weil wie früher dies einstige -Territorium von den Plänen ausgemerzt worden ist, sondern des Maßstabs wegen. SchB.

147 Hans-Rainer Sandvolt: „Widerstand in Pankow und Reinickendorf." In der Reihe „Widerstand von 1933-1945", hrsg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Heft 6, Berlin 1992, 288 Sei­ ten, zahlreiche Abbildungen, Angaben über Ehrungen, Gedenktafeln und Gräber, Literatur- und Personenverzeichnis. In bekannter Vorgehensweie werden vom Verf. zwei weitere Bezirke Berlins auf der Suche nach Spu­ ren des Widerstandes abgefragt. Betrachtet man — außer den Quellenbelegen — das Alter der Zeit­ zeugen, ahnt man, daß dies vielfach in letzter Minute geschieht, ehe das Vergessen einsetzt bzw. die Spuren undeutlich werden. Für den Stoff ist es von unschätzbarem Vorteil, daß nach der Wende die beiden Bezirke als die Einheit behandelt werden können, die sie tatsächlich sind. Denn in ihren Vor­ aussetzungen sind sie beide ähnlich strukturiert als eher bürgerliche denn Arbeiterbezirke, aber mit einigen Großbetrieben und Laubenkolonien oder Einzelhäusern versehen, boten sie jedoch — ähnlich wie in Spandau — mit einem hohen Anteil an Arbeiterbevölkerung Ansatzpunkte für sozialdemokra­ tisch und kommunistisch organisierten Widerstand. Als quasi vorbestimmte Orte bewährten sich sol­ che Reformsiedlungen wie die Weiße Stadt in Reinickendorf, ferner die Reformschulen in Nieder­ schönhausen und Pankow und Einrichtungen moderner Medizin in den Anstalten von Buch und Wit­ tenau. Besondere Wirkung ging ferner von der „Hochburg der Bekennenden Kirche" in Pankow mit ihren Stützpunkten in Tegel, Wittenau und Hermsdorf aus. Durch sie gewann der Widerstand ein intensives Gesicht. — Verf. geht anfangs auf die Strafanstalt Tegel ein, wo die Geistlichen als Begleiter der verurteilten Opfer zur Menschlichkeit herausgefordert wurden; genannt sei unter anderen Poel- chau; darunter waren ferner religiöse Sozialisten, die die Widerstandskämpfer und Angehörigen ver­ botener Parteien aus Arbeiterkreisen betreuten. Tegel war zeitweise die Gefängnisstätte von Dietrich Bonhoeffer, Martin Albertz, Pater Delp und Probst Bernhard Lichtenberg. Es wird ersichtlich, wie der Widerstand in diesem und allen weiteren Kapiteln festgemacht ist an vielen herausragenden Namen, es kommen aber auch unerwartet viele unbekannte ans Licht. Es ist überhaupt nötig, die Geschichte des Widerstandes in ihren wesentlichen Zügen zu kennen, um die Struktur des hier Gelei­ steten zu sehen. — Vom Widerstand der SPD wird ähnliches berichtet, wie es allgemein andernorts bekannt ist. Das Muster ihres Verhaltens sind illegale Flugblattaktion, Treffen an geheimen Orten, Verhaftung, Prozeß und Verurteilung. Ihr Antrieb war das Bewußtsein, als SPD seit dem Preußen- Schlag von 1932 die letzte Verteidigerin der Weimarer Demokratie zu sein. Um so tragischer erscheint es, daß viele ihrer Mitglieder nach demEndeder Diktatur in der DDR wieder verhaftet wurden, als sie sich der Zwangsvereinigung widersetzten. — Der kommunistische Widerstand ging von kleinen unab­ hängigen Gruppen aus, nachdem die KP verboten war, und die Partei sich anderen Gruppen gegen­ über verbohrt verhielt. Die Arbeit der Kleingruppen und Einzeltäter war größtenteils heldenhaft und opferbereit. Verf. leuchtet dann in die reformpädagogische Arbeit der „weltlichen Schulen" hinein, wie sie seit der Weimarer Zeit auf dem Wedding und in Pankow bestanden; er nennt die Lebensge­ meinschaftsschule in Niederschönhausen ebenso wie die Schulfarm Scharfenberg. Ihre ehemaligen Schüler attestieren die ihnen dort selbstverständlich gewordene aufrechte Haltung, die sie zum Wider­ stand trieb. — Ein glücklicher Umstand war es, daß beide Bezirke — bis hinaus auf das Umland von Birkenwerder und Hohen Neuendorf — im Kirchenkreis Berlin Land II organisiert waren, an dessen Spitze der Superintendent Dr. Fritsch stand, der die Bekennende Kirche, obwohl selbst neutral, mutig förderte. Unter seinem Schutz konnten sich die Gemeinden in Pankow, Wittenau und Hermsdorf sowie Tegel im Sinne der Erklärung von Barmen profilieren. Langsam in Vergessenheit geratende Namen wie die der Pfarrer Beschoren und Jungclaus, Pankow und Beyerhaus, Dannenberg, Ruhnke und Gehann, vor allem die ersten Vikarinnen, sind zu nennen. Ihr Widerstand spiegelt sich auf der Ebene der theologischen Auseinandersetzung ebenso ab wie im täglichen Kleinkrieg, den die Deut­ schen Christen aus Zermürbungsgründen anzettelten. Jede der Gemeinden hatte ihre eigene Prägung durch ihren jeweiligen Pfarrer, und einige von ihnen waren Vertrauensleute der BK-Kirchenleitung. — Die Hochburg war Pankow, das einheitlich der BK angehörte, genannt das „Dahlem des Nordens". Seine Gläubigen kamen teils aus dem Pankower Bürgertum, teils fand der Kampf auch in den Arbei­ terwohnstraßen statt, die an den Prenzlauer Berg grenzten. In die Auseinandersetzung wurde auch der spätere Bischof Dr. Kurt Scharf verstrickt. Die Pankower Hoffnungskirche war die Asylstätte für jüdische Amtsbrüder und sonstige jüdische Verfolgte. Es wird ferner vermerkt, daß es Dr. Fritschs fortschrittlicher Sinn war, der die ersten Pfarrerinnen heranzog, als allgemein noch Frauen in geistli­ chen Ämtern abgelehnt wurden. Ihr Einsatzfeld waren die Notgemeinden. — Aus den Reihen der Katholiken wird der Bischof Graf von Preysing genannt, der vielen Verfolgten zur Emigration verhol-

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j fen hat, ferner Pfarrer Erxleben in der Frohnauer Invalidensiedlung als Vermittler zwischen dem Obersten Wilhelm Staehle und dem Solf-Kreis und den Kreisauern. Ferner gab es viele Opfer aus den Reihen der Zeugen Jehovas in beiden Bezirken. — Das Krankenhaus Nordend in Niederschönhausen war die letzte Station des todkranken Carl von Ossietzky. — In zwei weiteren Gruppen werden Einzel­ täter aufgeführt; es sind vorwiegend Künstler, deren Haltung hier als „innere Emigration" gekenn­ zeichnet wird. Genannt werden die Maler Max Grunwald, Hannah Hoch und Bernhard Hoetger, der Dichter Oskar Loerke, ferner „Ärzte als Helfer" oder Mitglieder des Kreisauer Kreises wie Otto von der Gabelentz, der ein Vordenker der Kreisauer war und später Direktor des Otto-Suhr-Institutes wurde. In Frohnau knüpfen sich außer an die Person Staehles die Fäden an den Kreis um den Arzt Dr. Wentzler, der, obwohl Leibarzt Görings, Kenntnisse vom geplanten Attentat weitergab. — Bisher wenig gewürdigt und weithin unbekannt ist die „Gruppe Mannhart", initiiert von Dr. Max Klesse und ausgehend von revolutionär-sozialistischer Gründung; sie leistete vorwiegend in Betrieben der metallverarbeitenden Industrie — Rheinmetall-Borsig — aufklärerische Arbeit. Ihre Ärzte und Päd­ agogen erörterten Verfassungspläne und Unterrichtsstoffe für die Nachkriegszeit und -Ordnung und gewannen Teile der Rüstungsarbeiterschaft für den Widerstand. Hier gab es Querverbindungen zum Widerspruch der Ärzte um Wladimir Lindenberg. Aus allem Dargestellten ergibt sich eine Geschichte in der Geschichte. — Das Erstaunliche ist, daß, wer sachgetreu den Einzelheiten nachgeht, im Unter­ grundereignis Widerstand ein Ganzes entdeckt. Verf. hat es in seiner Verflochtenheit sichtbar gemacht. Er hat alle Gruppen aufgesucht, viele Tatsachen recherchiert und sie in das Gemälde einge­ bracht. Nicht nur die mannigfachen Verbindungen unter ihnen werden sichtbar, sondern auch eine Geistesgeschichte in der Zeit des Dritten Reiches ergibt sich. Man kann von einer Aufarbeitung spre­ chen. Christiane Knop

Der Buchzwilling Nr. 1: Aus dem Berliner Verbrecherleben/Das Kriminalmuseum (Polizeihistori­ sche Sammlung Berlin) 1990; Der Buchzwilling Nr. 2: Berlins heimliche Sehenswürdigkeiten/Ber­ lins unheimliche Sehenswürdigkeiten; Der Leierkasten/Ein Wahrzeichen Berlins. Alle drei Bände im Verlag Wort- & Bild-Specials H. P. Heinicke Berlin 1990/91. Der Königlich-Preußische Kriminal-Kommissar Karl Weien veröffentlichte 1890 Enthüllungen aus der Praxis über Gaunersprache, Einbrecher, Unterweltlokale, Bauernfänger und die berüchtigten Louis (Zuhälter). An Literatur über diese Themen fehlt es nicht: kulturhistorisch am interessantesten und sehr ausführlich sind bei Weien wohl die Ausdrücke des Gaunerjargons wiedergegeben, von denen einige heute noch in jenen Kreisen lebendig sind und andere sich sogar in unsere brave Umgangsspache eingeschlichen haben (ausbaldowern, Schale [Kleidung], Lurke [Kaffee], Nepp, Kaschemme usw.). Die Gaunersprache bediente sich der Ausdrücke, schuf sie aber keineswegs immer originär: viele sind dem Hebräischen entlehnt. Hinweisen kann man auf einen gewissen Sinnwandel der Wörter „Verbrechen, Verbrecher": betrachtete das vorige Jahrhundert schon jeden geringfügigen Taschendiebstahl als Verbrechen, versteht man heute — cum grano salis — darunter mehr schwere Vergehen gegen Leib und Leben. Von diesen ist im kleinen Band „Berliner Verbrecherleben" auch keine Rede. Hundert Jahre weiter - 1990 - führt uns der Zwillingsband „Das Kriminalmuseum" in die Polizei­ historische Sammlung Berlins am Platz der Luftbrücke. Das Museum soll, wie einer seiner Mitarbeiter im Vorwort sagt, als Lehrmittelsammlung und Instrument der Öffentlichkeitsarbeit auch dokumen­ tieren, zu welchen Vergehen und Verbrechen sich der Mensch hinreißen läßt, zum anderen sollen die Aufgaben der Polizei als Ordnungs- und Machtinstrument des Staates verdeutlicht werden. Das geschieht im Museum selbst wie im Buch höchst eindringlich — starke Nerven müssen sich hier bewei­ sen. Buchzwilling Nr. 2 behandelt Berlins „heimliche" und „unheimliche" Sehenswürdigkeiten. Hier spe­ kuliert man wohl ein wenig auf das vermutete Sensationsverlangen der Buchkäufer. Diese werden enttäuscht. Was an Texten und Bildern geboten ist, ist (meistens) weder heimlich noch unheimlich. Menschen und Schauplätze, Unfälle, Prozesse, Affären, Spionage - kurz alles, was in den Spalten der Presse einmal wochenlang für Furore gesorgt hat, findet sich zusammen, mit knappen, nicht immer ganz präzisen Texten und uninteressanten, nichtssagenden, technisch schlechten Bildchen versehen. Hier wurde, wie man so sagt, mit heißer Nadel gestrickt.

149 Mit ungleich liebenswürdigerer Materie stellt sich ein drittes Bändchen des Verlages vor: Der Leier­ kasten/Ein Wahrzeichen Berlins. Wirklich wird ein gutes Stück Kulturgeschichte vorgeführt, nicht nur der deutschen Hauptstadt zugehörig, aus der Feder mehrerer Autoren und wissenschaftlich fun­ diert. Der Leser wird eingehend informiert über die Geschichte des Drehorgelbaues, dessen Techni­ ken und über die Darstellungen auf Straßen und Plätzen vor entzückten Zuhörern. Mögen auch heute noch Geräte gebaut werden, sie bleiben ein Relikt vergangener Tage: eigentlich schade! Gerhard Kutzsch

„Berliner Straßen und Plätze". Verschiedene Autoren. 160 Seiten, 26 Abbildungen, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Sender Freies Berlin, Berlin 1988 Was sich im Vorwort „Mosaiksteine einer Stadtgeschichte" nennt, ist die schriftliche Aufzeichnung einer Sendereihe des Senders Freies Berlin zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987. Wer anhand des Büch­ leins eine imaginäre Reise durch Berlin unternimmt, wird durch die vielfältigste Topographie in alle Himmelsrichtungen geführt, über Boulevards sowie über Dörfer am Stadtrand. Er liest von versteck­ ten und unbedeutenden Straßen wie der Kunkelstraße, von Relikten aus vorindustrieller Zeit oder von einstigen Grenzorten wie Staaken. Er begegnet großbürgerlichem Wohnen am Bayerischen Platz und im einstigen „Geheimratsviertel" an der Köthener Straße. Dichter und Schriftsteller wie Auerbach und Bergengruen, Goethe und Glaßbrenner, Gutzkow, Stinde und die Bettina werden mit ihren Lebensbildern vorgestellt, Musiker wie Quantz und Beetho­ ven, Fasch und Furtwängler werden erinnert, desgleichen Maler wie Baluscheck, Zille, Stadtplaner wie Brix und Architekten, Unternehmer wie Borsig und Gotzkowsky, der Erfinder Nipkow, Ärzte wie Dieffenbach, Widerständler und Verfolgte wie Stauffenberg und Lise Meitner. Die unterhaltsame Reise zu Menschen vergangener Jahrzehnte und Epochen gerät zur kleinen Kul­ turgeschichte. Christiane Knop

150 Im III. Quartal 1992 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet

Dr. Bert Becker, wiss. Mitarbeiter Bernd Müller, Handwerker Düsterhauptstraße 2, 1000 Berlin 28 Florastraße 48, 0-1147 Berlin Tel. 4024259 Tel. 5626234 Ernst Kluge, Rentner, Dieter Zins, Rentner Königsheideweg 72, O—1195 Berlin Leonberger Ring, 1000 Berlin 47 Tel. 6372329 Tel. 6041645

Im IV. Quartal 1992 haben sich gende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet

Karen Birckholz, Rechtspflegerin Klaus Linsener, Rentner Max-Lingner-Straße 5 B, O-1100 Berlin Friedensweg 33, 1000 Berlin 49 Tel. 4728266 Tel. 7466450 Alfred Etzold, Dipl.-Gärtner Sabine Linsener, Pensionärin In den Ruthen 9, 0-1413 Schüdow Friedensweg 33, 1000 Berlin 49 Tel. (033056)910 Tel. 7466450 Gisela Freydank, Museologin Eveline Naumann Wilhelmsruher Damm 93, 1000 Berlin 26 Tänzerin, Tanzpädagogin Tel. 415 2410 Am Schlehdorn 18, 0-1147 Berlin Gertrud Fritsch, Rentnerin Tel. 5626254 Brunnenstraße 185, O-1054 Berlin Ruth Neumann, Rentnerin Klaus Geike Conrad-Blenkle-Straße 42, O-1055 Berlin Herrenmaßschneider/Rentner Tel. 4297174 Rochowstraße 18, O-1017 Berlin Jutta Pagel, Dipl.-Betriebswirtschaftlerin Heinz Knobloch Schmollerstraße 9, 0-1193 Berlin Schriftsteller, Journalist Tel. 2728283 Masurenstraße 4, O-1100 Berlin Karl Pagel, Dipl.-Afrikanist Tel. 4722083 Schmollerstraße 9, 0-1193 Berlin Jürgen Krämer, Bezirkschronist Tel. 2728238 Kienbergstraße 30, O-1140 Berlin Joachim Strunkeit, Dipl.-Braumeister Tel. 545 2132 Roedernstraße 48, 1000 Berlin 28 Karl-Heinz Laubner, Dipl.-Ing. Tel. 4041449 Am Steinberg 122 a, O-1120 Berlin Tel. 4714158 oder 4297174

151 Veranstaltungen im II. Quartal 1993

1. Mittwoch, den 5. Mai 1993, 19 Uhr: (Bitte beachten Sie die veränderte Anfangszeit!) Jahreshauptversammlung 1993 im Raum 219 des Berliner Rathauses, Stadtmitte. Tagesordnung: 1. Begrüßung durch den Herrn Vorsitzenden. 2. Entgegennahme des Tätigkeits-, des Kassen- und des Bibliotheksberichtes. 3. Berichte der Kassen- und Bibliotheksprüfer. 4. Aussprache. 5. Entlastung des Vorstandes. 6. Wahl des Vorstandes. 7. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern. 8. Verschiedenes. 9. Anschließender Vortrag. Anträge aus dem Kreis der Mitglieder sind spätestens bis zum 23. April 1993 der Geschäftsstelle einzureichen. 2. Freitag, den 14. Mai 1993, 15 Uhr: „Märkische Sakralplastik in der Nikolaikirche". Stadtmitte. Leitung Frau Donata Kleber. Treffpunkt in der Turmhalle. Der Eintrittspreis ist von den Mitgliedern zu entrichten. 3. Dienstag, den 25. Mai 1993, 14.30: Führung durch die Parochialkirche in der Kloster­ straße. Stadtmitte. Leitung Archivleiterin Frau Gudrun Meckel. Treffpunkt vor dem Kir­ chenportal. Ein eventueller Eintrittspreis ist von den Mitgliedern zu entrichten. 4. Sonntag, den 6. Juni 1993, 10 Uhr: Führung durch das ehemalige Vergnügungsviertel zwischen Linden und Weidendammer Brücke. Leitung Herr Hans-Werner Klünner. Treffpunkt U-Bhf. Französische Straße, Nordausgang. 5. Sonnabend, den 19. Juni 1993,17 Uhr: Im Alten Dorfkrug zu Lübars, 1000 Berlin 28, Alt-Lübars 8, geselliges Beisammensein. Drei Gerichte stehen zur Auswahl. Bekannt­ gabe bei den telefonischen Anmeldungen unter 8545816 ab 19 Uhr bis zum 15. Juni 1993.

Bibliothek: Berliner Straße 40, 1000 Berlin 31, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 1000 Berlin 45, Telefon 772 34 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 45 09-264. Schatzmeisterin: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 100100 10), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

152 A 1015 F MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

89. Jahrgang Heft 3 Juli 1993

Rätiblbllothek Fachcbt. der Berliner Stadlblbllothok

Der Altaraufsatz der Dorfkirche zu Döbbersen in Mecklenburg von H. J. Bulle, 1729 Die St.-Vitus-Kirche zu Döbbersen Von Günter Wollschlaeger

Einige Kilometer nördlich der Stadt Wittenburg liegt im Gebiet des ehemaligen Bistums Rat­ zeburg das Dorf Döbbersen, nicht weit von der sächsisch-lauenburgischen Grenze entfernt. Seine Kirche steht, schon von weitem für den aus allen Himmelsrichtungen Ankommenden sichtbar, inmitten einer weit gestreckten Niederung auf einem Hügel in unmittelbarer Nähe des sich südöstlich hinziehenden, von lichtem Mischwald halb eingefaßten Woezer Sees. Wie in Brandenburg begann auch in Mecklenburg der Kirchenbau im hohen Mittelalter. Das auf uns gekommene Gotteshaus von Döbbersen, das einen Vorgängerbau aufweisen muß, ist am 30. Juni 1255 geweiht worden: „Nos Fridericus dei gratia Razeburgensis episcopus consecravimus hanc ecclesiam et hoc altare in honorem sancte Crucis, beate Mariae virginis, Viti... martyris ... et omnium sancto- rum, anno domin(i) M. CC.L.V II. kalend. Julii, pontificatus nostri anno quinte."1 heißt es in mittelalterlichem Latein. „Wir, Friedrich, von Gottes Gnaden Ratzeburgs Bischof, haben diese Kirche und diesen Altar geweiht, zu Ehren des Heiligen Kreuzes, der gesegneten Jungfrau Maria, des Märtyrers Virus und aller Heiligen im Jahre des Herrn 1255. ... In unserem fünftem Amtsjahr." Die ersten Kirchdörfer waren mit der frühen Besiedlungswelle im letzten Viertel des 12. Jahr­ hunderts entstanden. Besonders gut organisierte das Bistum Ratzeburg die Kolonisation des Landes. Von den hier gegründeten großen Dörfern faßte man jeweils neun bis fünfzehn zu einem Kirchspiel zusammen. Döbbersen wird schon 1194 als eine zu Ratzeburg gehörende Parochie erwähnt und reiht sich damit in die Reihe der frühen Gründungen von Schlagsdorf, Carlow, Mustin, Karchow, Vellahn und Vietlübbe. Die Ratzeburger Diözese umfaßte um 1195 schon dreißig Pfarren mit einem Ausstattungssoll von je vier Hufen, das aber nirgends verwirk­ licht wurde. Überall blieb es bei den üblichen zwei Hufen.2 Auch an der Ostseeküste bezeugen zahlreiche bis in das beginnende 13. Jahrhundert zurückreichende Kirchenbauten die zeitige Erschließung. Um 1230 war dann das Netz der kirchlichen Gliederung vollendet worden. Erst viel später teilte man die großen Kirchspiele dieser Zeit wieder auf. Das Patronat über die Got­ teshäuser und die damit verbundene Verpflichtung für deren Instandhaltung und den Unter­ halt der Priesterschaft besaß der jeweilige weltliche oder geistliche Landesherr. Die Backstein­ kirche von Döbbersen ist im Übergangsstil errichtet worden, im wesentlichen von der Spät­ romanik geprägt: Ein Bau mit eingezogenem, also schmalerem und niedrigerem Chor mit geradem Schluß für die Geistlichkeit, einem Langhaus für die Gemeinde und einem ursprüng­ lich mächtigen Westturm in der gleichen Breite: Eine sinngemäße Übersetzung großer Archi­ tektur in ein kleines Format. Auf der Südwestseite des Turmes führt die ursprüngliche enge gemauerte Treppe, die sehr stark ausgetreten ist, zum heutigen Glockenstuhl im Obergeschoß. Über einfachem Sockel mit Plattenschräge besteht das aufgehende Mauerwerk im wendischen Verband — zwei Läufer, ein Binder — in allen drei Teilen — Chor, Langhaus, Turm — aus dem mittelalterlichen Klosterformat und ist, abgesehen von vereinzelten neuzeitlichen Ausbesse­ rungen, jeweils einheitlich durch Ecklisenen und Zahnfriesen unter dem Kranzgesims geglie­ dert, während die Westwand eine stillose moderne Verblendung besitzt. Die eben erwähnten Lisenen erscheinen als schmale Wandvorlagen ohne Basen und Kapitelle deutlich funktionsge­ bunden, sie dienen im dünneren Mauerwerk der einzelnen additiv gebundenen Baukörper als haltgebende Wandschicht.

154 Im Südosten fällt der Hang zum See hin ab. Dort liegen sichtbar unter dem ebenfalls teilweise ausgebesserten Backsteinsockel mehrere Feldsteinschichten zur besseren Isolierung, weil Feld­ steine das Wasser nicht in dem Maße wie Backsteine aufsaugen. Die Fensteröffnungen sind der Wölbung im Inneren wegen paarweise angeordnet und schließen im Chor im Rundbogen, im Langhaus im gestelzten Rundbogen und im Turm im Spitzbogen. Die Schauseite bildet die Nordwand zum Dorf hin. Im Turmuntergeschoß befindet sich das mehrfach abgetreppte Rundbogenportal für die Gläubigen mit eingestellten Rundstäben und durch kelchartige Formsteine und doppelte Platten betonter schwarz glasierter Kämpferzone. Darüber setzt die Archivolte die Gewändegliederung fort. Alle Formsteine und die Ziegel der äußeren Wand­ schicht des Rundbogens sind alternierend brandfarben und schwarz glasiert. Über dem Portal reißt ein neuzeitlich gefaßtes großes Rundbogenfenster die Mauerfläche auf und wird von ursprünglichen rundbogigen, verputzten Blendarkaden unter zierlichen verputz­ ten ursprünglichen Kreisblenden flankiert. Ein doppelter Zahnfries mit dazwischenliegender nur aus Läufern bestehender „Backstein­ stromschicht" schließt das Untergeschoß ab. Das zweite Turmgeschoß unter behelfsmäßigem Dachstuhl, der Turm ist in den siebziger Jah­ ren abgetragen worden, zerreißt ebenfalls eine neuzeitlich gefaßte große Luke, die wohl dem Einbringen der drei Glocken gedient haben mag, westlich flankiertvo n einer erhaltenen roma­ nischen verputzten Kreisblende. Sie und die Portalbogen sind nicht perfekt ausgeführt worden und wirken daher besonders lebendig. Auch reduziert wirkt der Westbau wuchtig und eindrucksvoll. Unheil und Tod kamen nach frühchristlicher Überlieferung aus dem Westen. Der Westbau symbolisiert daher in unseren Breiten die Burg des kriegerischen Erzengels Michael. Er verteidigt das himmlische Jerusalem, das der Kirchenbau von alters her bedeutet. Die zugesetzte Priesterpforte in der Chorwand zeigt unter den Abrißspuren eines späteren Anbaues die gleiche aufwendige Gliederung des Laienportals. An dieser Nordwand der kleinen Dorfkirche feiert sich in der Mitte des 13. Jahr­ hunderts noch einmal die ganze repräsentative Schmuckfreude der Backstein-Spätromanik, und man ist versucht, dem unwiederbringlich im Dunkel der Vergangenheit versunkenen Bau­ herren-Geheimnis dieses Gotteshauses auf die Spur zu kommen. Im Inneren verweisen Turmhalle und Langhaus mit kuppelartigen, aufwendig gebusten Domi- kalgewölben auf die spätromanische Baukunst Südwestfrankreichs und Westfalens. Der Chorraum ist kreuzgratgewölbt. Die Turmhalle öffnet sich zum Langhaus in einem Spitzbogen mit konsolartig auf halber Höhe endendem Unterzug, beide sind heute zum Kirchensaal zusammengefaßt. In gleicher Weise ist der Chor- oder Triumphbogen gestaltet.

In jeder mittelalterlichen Kirche raunt für den, der es hören will, das über Jahrhunderte einge­ fangene Leben. Wie die alten Häuser atmen auch die Dorfkirchen den Geist früherer Genera­ tionen, obwohl wir nichts von den Menschen, die sich dort zur Messe, an den hohen Feiertagen, zur Taufe, Kommunion, Hochzeit, zum Totengedenken oder zum Gottesdienst und zum Ern­ tedank versammelten, wissen können. An jenem 30. Juni 1255 war Heinrich der Löwe sechzig Jahre tot. Er hatte 1154 auf dem Reichstag zu Goslar von König Friedrich I., der sich dann auf seinem ersten Italienzug von Papst Hadrian IV. zum Kaiser hatte krönen lassen, das Recht der Bischofsinvestitur in seinen Marken erhalten und wahrscheinlich noch im selben Jahr das Bistum Ratzeburg wiedergegrün­ det. Das Recht der Bischofsinvestitur galt damals als königliches Recht, und sicher mochte der

155 junge Staufer mit dem Privileg die Herkunft seines Vetters berücksichtigt haben. Denn dieser war Enkel Lothars HL, der sich 1133 in Rom von Innocenz IL ebenfalls zum Kaiser hatte krö­ nen lassen und in der Benediktinerabteikirche von Königslutter seine letzte Ruhestätte gefun­ den hat. Vielleicht war Friedrich auch anfänglich bereit gewesen, dem Herzog als seinem Ver­ treter die uneingeschränkte Herrschaft im Norden des Reiches einzuräumen, um selbst im Süden freie Hand zu haben. Doch die übersteigerten Ansprüche Heinrichs hatten das gute Ein­ vernehmen, das Friedrich wünschte, bald zunichte gemacht. Nach dem Tod des Löwen hatte das Land die starke Hand verloren, die es schützte. Uneinigkeit und hierdurch bedingte Fehden waren an der Tagesordnung. Mit dem unerwarteten Tod Heinrichs VI. 1197 und der unheil­ vollen Doppelwahl des Barbarossa-Sohnes Philipp von Schwaben und des Löwen-Sohnes Otto IV. zu deutschen Königen und dem daraufhin im Reich auflodernden Bürgerkrieg konn­ ten die Dänenkönige Knud und nach 1202 Waldemar IL die südliche Ostseeküste zwischen Hamburg und Rügen unterwerfen. Im November 1201 war Ratzeburg in die Hände Waide­ mars gefallen, aber überall regte sich Widerstand, und der Bischof Philipp von Ratzeburg begleitete 1210 den Weifenkaiser Otto LV. auf seinem Italienzug.3 Nach der vorübergehenden Gefangennahme Waidemars durch den Grafen von Schwerin im Jahre 12234 zerfiel das däni­ sche Großreich so schnell, wie es entstanden war, und auch der Versuch Waidemars, das Verlo­ rene wiederzugewinnen, endete mit seiner Niederlage bei Bornhöved am 22. Juli 1227. Etwa eine Generation vor dem Kirchweihtag hatten Wolfram von Eschenbach den „Parzival", Hartmann von Aue den „Armen Heinrich", der jüngere Gottfried von Straßburg „Tristan und Isolde" gedichtet und Walther von der Vogelweide die Zerrissenheit seines Vaterlandes beklagt. Die vier haben dem Leben der Stauferzeit poetischen Ausdruck verliehen; mit ihnen hatte die deutsche Lyrik ihre erste Klassik erlebt. Aber das fünfte Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts, von der zweiten Kirchenbannung des Staufers Friedrichs IL, Königs beider Sizilien, 1239 bis zu seinem Tod im Kastell Fiorentino in der Capi- tanata am 13. Dezember 1250 hatten Zeitgenossen als die Phase des „Apokalyptischen End­ kampfes" zwischen Kaiser- und Papsttum in der Auseinandersetzung um die Vorherrschaft in der christlichen Welt gesehen.5 Diese Auseinandersetzungen wurden auf allen Ebenen geführt, mit Waffen auf den Schlachtfeldern und mit Worten und Pamphleten in den Kirchen. Fried­ rich IL, der wohl geistvollste, aber auch der umstrittenste und doch einer der größten Herrscher des Abendlandes, der 1248 bei der Belagerung von Parma in Vittoria Staatsschatz, Kaiser­ krone, Königssiegel und das persönliche Exemplar seines Buches „De arte venandi cum avi- bus" eingebüßt hatte, war nun zum Mittelpunkt der politischen Streitigkeiten zwischen Zen­ tralgewalt und Kurie, Kirche und Ketzern geworden. Er galt entweder als treuer oder undank­ barer Sohn der Kirche, als ihr Verteidiger, Vernichter oder Erneuerer. An jenem 30. Juni 1255 lagen diese Erschütterungen erst wenige Jahre zurück. Im Jahre 1226 war Franz von Assisi gestorben, die andere bedeutende geistige Potenz dieser Zeit. Seine Bettelordensbewegung unterwanderte über die Städte langsam, aber sicher die reichsitalischen Machtstrukturen, bis Reichstreue schließlich als unvereinbar mit Glaubens­ treue gesehen werden konnte. Für den einzelnen jedoch entstanden in ihrem Gefolge die ersten sozialen Einrichtungen größeren Umfangs, Siechen- und Armenhäuser, Spitäler, Armenkü­ chen und andere Wohltätigkeitseinrichtungen. Im Jahre 1226 gehörte Döbbersen dem damals bereits dreihundert Jahre alten Benediktiner-Nonnenkloster Zeven.6 Ursprünglich in Heeslin- gen nordöstlich von Bremen gegründet, war es durch Erzbischof Adalbert von Bremen 1141, neunzehn Jahre nach Beendigung des Investiturstreites durch das Wormser Konkordat, das der Kirche nicht die gewünschte Unabhängigkeit vom Staat gebracht hatte, wenige Kilometer süd­ westlich nach Zeven verlegt worden. Das Kloster war einem der vierzehn Nothelfer, dem heili-

156 gen Vitus, geweiht worden und hatte dieses Patrozinium dem Vorgängerbau in Döbbersen übertragen. Vier Jahre später erwähnt das Ratzeburger Zehntregister von 1230, die älteste Bauernurkunde Deutschlands, Zeven nicht mehr als Besitzer, es wird es verkauft haben. Das Christentum hatte über ein Jahrtausend die Entwicklung des öffentlichen und gesellschaft­ lichen Lebens mitvollzogen und immer wieder in der Achtung der Gottebenbildlichkeit des Menschen und der Welt als Schöpfung Gottes seinen Standort neu bestimmt. Wir wissen nicht, ob sich die Menschen im Jahre 1255 in Döbbersen über ihre Zugehörigkeit zur Kirche hinaus innerlich wirklich als Christen fühlten. Heidnische Überlieferungen spielten jedenfalls im Bau­ ernvolk noch immer eine große Rolle. In der Rostocker Umgebung war es noch um 1500 — etwa eine Generation vor der Reformation — altheiliger Brauch, in der Ernte das letzte Eck­ chen des Kornfeldes ungemäht stehen zu lassen. Man sammelte sich dort zu folgendem Gebet: „ Wode, du Goder, hal dienern Rosse nu Foder; up dit Johr Distel un Dorn, up anner Johr beter Korn".7

Beharrlich setzte die Kirche der Orientierungslosigkeit einer Lebensführung, die zwischen Heiden- und Christentum schwankte, die Bereitschaft des persönlichen Glaubensbekenntnis­ ses und die Treue zur christlichen Sittenlehre entgegen. In einem Fest der Sinne machte sie die Verinnerlichung, die Einkehr und die Buße der Gläubigen im Gottesdienst sichtbar. Der Mensch des Mittelalters lebte aus der Anschauung. Im Schmuck des Gotteshauses erlebte er in der heiligen Messe das Heilsgeschehen der Vergangenheit immer wieder von neuem, die histo­ rische Distanz war aufgehoben. Die Feier wahrte nicht nur die Erinnerung an das Leiden Chri­ sti, sondern gab ihm die lebendige Kraft zur Bewältigung seines schwierigen Alltagsdaseins. Der Einzug des Priesters in das Gotteshaus, das Anlegen des liturgischen Gewandes, das Gebet an den Altarstufen, der Kuß von Evangelienbuch, Altar und Kruzifix, die verlesenen Texte, die Weihräucherung, die Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut, die Seg­ nungen und die Entlassung waren von beeindruckender, von uns Heutigen, die wir in Begriffen denken, nicht mehr nachvollziehbarer Stärke. Die himmlischen Heerscharen und die Dreiei­ nigkeit Gottes sollten die Dämonenfurcht bezwingen, die in der alten Vielgötterei wurzelte. Das strenge Protokoll der kirchlichen Festtage lehrte die Menschen aber auch, sich Ordnungen und Gesetzen zu fügen, die nicht von ihnen stammten, den göttlichen Geboten. Beichte und Buße sollten das bäuerliche Volk disziplinieren. Die an den Altären betenden Gläubigen fühl­ ten sich als Einwohner des himmlischen Jerusalem. Das im Westbereich des Gotteshauses lie­ gende Eingangsportal führte zur Passionsdarstellung im Osten und machte den durch Jerusa­ lem gehenden Weg nach Golgatha nachvollziehbar. Das gesamte mittelalterliche Denken loka­ lisierte das Paradies im Osten, und Thomas von Aquin hatte gelehrt: „Wir beten nach Osten, weil das Paradies im Osten liegt." Auch die drei Weisen aus dem Morgenland hatten den Stern von Bethlehem im Osten gesehen.

Aus der Reformationszeit — Herzog Heinrich von Mecklenburg hatte am 17. September 1533 das Abendmahl in beiderlei Gestalt gefeiert — stammen zwei sich entsprechende Wandmale­ reien, die noch schwach erkennbar sind, in den Fensterzonen des Langhauses. Auf der Nord­ wand flankieren Moses und Aaron das Kreuz mit der ehernen Schlange über dem Lamm mit der Siegesfahne, auf der Südwand stehen Melanchthon und Luther neben dem Gekreuzigten. Nach dem Protokoll der Kirchenvisitation von 1534 hatten die von Pentz zu Raguth der Pfarre Döbbersen eine Hufe, drei Wiesen, Hebungen und Zinsen genommen.8 In dieser lapidaren Notiz wird der starke Einfluß deutlich, den die Adelsfamilien auf die kirchli-

157 chen Verhältnisse auf dem Lande nach der Reformation gewinnen konnten. Sie übten bereits in diesem Jahr 1534 über hundertundvierunddreißig Kirchen das Patronatsrecht aus.9 Auf der anderen Seite hielt sich das katholische Element im Bereich der Domstifte Schwerin und Ratze­ burg hartnäckig. Die Gestaltung des Gottesdienstes änderte sich nicht, nur daß die Messe deutsch und die Predigt evangelisch geworden waren. Schwer begreiflich für den Gläubigen blieb zunächst die Abschaffung der Wandlung der Abendmahlselemente und die Einführung des Laienkelches. Aber nach und nach wandelte sich Döbbersen zu einer streng lutherischen Bekenntnisgemeinde, die alle innerprotestantischen konfessionellen Streitereien nicht berührte. Diese Unbeirrbarkeit in Glaubensdingen wird auch Jahrhunderte später für die Gemeinde Döbbersen bestimmend sein. Erst zu Anfang des 18. Jahrhunderts hatte man sich von den Folgen des Dreißigjährigen Krie­ ges so weit erholt, daß auch der Patronatsherr von Döbbersen daran denken konnte, die Aus­ stattung des Gotteshauses zu erneuern. Nachdem Wallenstein Mecklenburg 1627 erobert hatte und ein Jahr später vom Kaiser mit diesem Herzogtum belehnt worden war, hatten kaiserliche, dänische und schwedische Truppen das Land verheert und die Bevölkerung drangsaliert und gemordet. Seuchen und Krankheiten kamen hinzu. Besonders schwer betroffen waren die mittleren, östlichen und südlichen Gebiete Mecklenburgs, deren Einwohnerschaft teilweise auf ein Zehntel schrumpfte.10 Vielleicht, um Plünderungen auszugleichen, oder aus Dankbarkeit für das eigene Überleben stiftete kurz vor dem Ende der Schrecknisse laut Inschrift „Franz Sitz, Meister der Glas Hidden zu Boddin, Anno 1646,20. März" dem kleinen Gotteshaus drei Altarleuchter aus Messing. Im Jahr zuvor waren mit dem Friedensschluß von Brömsebro die schwedisch-dänischen Ausein­ andersetzungen beendet worden. Da außerdem seit 1644 in Münster und Osnabrück die Gesandten der kriegführenden Staaten verhandelten, hatte man vielleicht auch in Döbbersen neue Hoffnungen auf eine Zukunft ohne Greuel und Töten geschöpft. Infolge weiterer glücklicher Umstände konnte man dann schon im Friedensjahr 1648 den zer­ störten Kirchturm erneuern.11 Die oktogonal gebrochene Granit-Fünte auf jüngerem Fuß aus dem 13. Jahrhundert — viel­ leicht schon im Vorgängerbau vorhanden —, die, mit einer Taufschale versehen, noch heute in Gebrauch ist, und gotische Wandmalerei-Reste aus dem 15. Jahrhundert — eine heilige Ger­ trud in der nördlichen Triumphbogenlaibung, ein heiliger Georg im östlichen Bereich der süd­ lichen Langhauswand und zwei Rosetten im dortigen Gewölbe — sind aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg auf uns gekommen. Auch muß der mittelalterliche Altarschrein die Kriegswirren überdauert haben, denn die Pfarrchronik berichtet ohne Einzelheiten, daß 1727 Altar und Kanzel abgebrochen und die Schnitzfiguren der Heiligen auf dem Speicher des Pfarrhauses gelagert worden seien. Deshalb hätten sich die Mägde nicht mehr über den Boden getraut — Jahrhunderte nach der Reformation! Später seien die Skulpturen, als der Woezer See ausgepumpt wurde, im Dampfkessel verheizt worden! Liturgische Geräte aus der Zeit vor 1618 fehlen. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts erhielt der Sakralbau, den raumillusionistischen Vorstellun­ gen dieser theaterbesessenen Zeit entsprechend, einen aus dem Chorgewölbe herunterzulas­ senden Taufengel, der durch Schönheit und Eleganz besticht. Sein Haupt trägt nach antikem Vorbild einen Lorbeerreif. In seiner Rechten hält er einen Lorbeerkranz, der als Halterung der massiv goldenen Taufschale, die 1945 die Sieger erbeutet haben, diente. Die Haltung der lin­ ken Hand und die leicht aufgeblasenen Wangen deuten auf eine verlorene Posaune, mit der er frohlockend die vollzogene Taufe verkündete und die auf unserer Abbildung noch zu sehen ist. Die Taube des Heiligen Geistes innerhalb der Strahlen der Gottesgnade krönt ihn.

158 Abb.l: Der Taufengel, Anfang 18. Jh.

Wieder erhebt sich die Frage nach dem Stifter, der einen ungewöhnlich begabten Bildhauer mit dieser Arbeit für die Dorfkirche beauftragt hatte. Etwa zwanzig Jahre danach fertigte zwischen 1724 und 172912 H. J. Bulle, der zu den über lokale Bedeutung hinaus gelangten mecklenburgischen Bildhauern gehörte und der wenige Jahre vorher, 1721, in der ehemaligen Zisterzienser-Nonnenklosterkirche von Ivenack im Landkreis Malchin, die um 1700 barockisiert worden war, ein prachtvolles Marmorepitaph für Ernst Christoph von Koppelow vollendet hatte13, den wiederum für eine Dorfkirche unge­ wöhnlich aufwendigen Altaraufsatz mit reichem figürlichem Schmuck. Gotische Altäre dienten der Heiligenverehrung, protestantische Altäre zeigen theologische Abhandlungen. Die Predella weist mit der Abendmahlsdarstellung auf die Sündenvergebung hin. Sie flankier­ ten zwei Engelchen, die heute im Pfarrhaus stehen. Der eine trägt auf einem Kissen ein Herz nach dem Hebräerbrief 3/8 „verhärtet Eure Herzen nicht...", und der andere trägt Helm und Rüstung, Buch und Schwert nach dem Hebräerbrief 4/12 „Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert.. ,".14 Im Zentrum des architekto-

159 nisierend aufgebauten Retabels finden wir Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes, in den versetzten Interkolumnien stehen Moses mit den Gesetzestafeln und Aaron mit dem Räu­ chergefäß. Von weiteren Engeln umgeben, darunter dem Erzengel Michael als Seelenwäger, kündet die Grablegung Christi darüber vom Triumph über den Tod und der Erlösung der Welt. Grabplatten und Totenschilde sowie die Konsole einer nicht mehr vorhandenen Totenkrone deuten auf zahlreiche Begräbnisse unter dem Kirchenschiff, die von einem Treppenlauf in der Sakristei an der Südwand, die aufgrund ihrer Formensprache in die Erbauungszeit des Sakral­ baues gehört, zugänglich sind. Den weiteren Verlauf der Geschichte kennzeichnen die identischen Inschriften zweier Silber­ kelche, Stiftungen des Erbherren auf Badow Heinrich von Döring vom 20. März 1738 und von Ernst und Duna Pentzen, Anno 1791: „Geraubt am 6. November 1806, beschädigt wieder­ erhalten am 26. Oktober 1807, am 16. Dezember 1807 repariert durch Spenden der Gemeinde." Nach den notwendigen Renovierungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts — die Kirche erhielt damals eine neue Kanzel und Emporen — lieferte die Firma Runge in Hagenow 1878 eine neue Orgel, und zwei Jahre später, 1880, goß man die älteste Glocke aus dem Jahre 1429 um. Deren Mantel trug in einem Medaillon einen stilisierten einköpfigen Adler mit ausgebrei­ teten Schwingen im Durchmesser von sieben Zentimetern, von A und O in gotischen Majus­ keln gerahmt.13 War diese Glocke dem Mahner Johannes geweiht? Die zweite verkündet: „Mich hat gegossen Laurentz Stralborn in Lübeck, anno 1743. Zur Buss und Gottesdienst — Ruf ich mit meinem Schall — die noch im Leben sind — zur Ruh die Toten all. — H. T. Past. Johannes Henricius Schwarz." Die dritte, die jüngste, ist schlicht und schmucklos und weist in das 19. Jahrhundert. Unter bescheidenen und überschaubaren Verhältnissen wurde in Döbbersen das Glaubensbe­ kenntnis gesprochen, wie es durch Jahrhunderte überliefert worden war, wurden Lieder gesun­ gen, die Martin Luther und Paul Gerhardt gedichtet hatten, wurde das Evangelium gepredigt, und in der Kontinuität, in der Wiederholung vertrauter Texte war die disziplinierte und nach innen gewandte geistige Kraft des Glaubens so stark geworden, daß in unserem Jahrhundert dort einmal die „Klarheit und Geltung des Evangeliums" (Paul Bard) gegen alle Widerstände behauptet werden konnte. In den ersten Wochen nach der „Machtergreifung" hatte die nationalsozialistische Führung den Eindruck zu erwecken versucht, treu auf der herkömmlichen christlich-nationalen Tradi­ tion zu fußen. Auch das NS-Programm hatte sich zum positiven Christentum bekannt. Aber bald schon setzte die seit 1932 aktiv gewordene „Deutsch-christliche Bewegung", seit dem Februar 1933 offen begünstigt durch die Partei, zur Gleichschaltung von Staat und Kirche an und drängte im Sommer 1933 nach dem manipulierten Wahlsieg vom Juli massiv in die Kir­ chenbehörden. Obwohl der lutherische Protestantismus durch die Überlieferung des Landes- kirchentums, durch die althergebrachte Auffassung von „christlicher Obrigkeit" und Luthers Lehre von den „Zwei Reichen" in seinem religiös begründeten Widerstandsrecht stark befan­ gen war, protestierten am 7. September 1933 der Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller und Die­ trich Bonhoeffer, die die Wahrheit des Christentums gefährdet sahen, unüberhörbar gegen den kirchlichen Antisemitismus des Arierparagraphen und riefen zur theologischen Neuorientie­ rung auf. Nur wenige Tage später wählte eine Reichssynode den Königsberger Wehrkreispfar­ rer Ludwig Müller zum Reichsbischof. Auf der anderen Seite stimmten dem Dahlemer Aufruf innerhalb weniger Wochen etwa zweitausend Pfarrer zu, und im Dezember 1933 hatten sich bereits sechstausend Mitglieder im „Pfarrer-Notbund" zusammengeschlossen. Die in der

160 Abb. 2: Ansicht der additiv gegliederten Kirche von Süden.

Nachfolge der Dahlemer Aktion gegründete Bekenntniskirche und die katholischen Bischöfe stellten sich teilweise in verschiedener Taktik entschlossen nicht nur der inneren Zersetzung der Kirche durch Gestapo-Einflüsse entgegen, sondern vor allem gegen den Totalitätsan­ spruch des nationalsozialistischen Regimes, das heißt, gegen die Mißachtung der Grundrechte des einzelnen, gegen die rassendogmatische Umdeutung des Glaubens, gegen den Personen­ kult um Hitler und gegen die sogenannte Blutsgemeinschaft des Volkes. Die Intensität dieses Widerstreites verdeutlichen die Predigten Kardinal Faulhabers über das Alte Testament und die Hirtenbriefe der deutschen Bischöfe aus dem Sommer 1933, die „Barmer Erklärung" vom Mai 1934 oder die amtlichen Verkündigungen der Bekenntniskirche. Im März 1935 wurde das von protestantischen Kanzeln verlesene Manifest gegen die „Rassenmystik" Anlaß zur Verhaf­ tung von siebenhundert Geistlichen. In der zu Pfingsten 1936 vom Bruderrat, der Leitung der Bekenntniskirche, entworfenen Denkschrift, die Hitler übergeben werden sollte, heißt es: „Wenn Blut, Rasse, Volkstum und Ehre den Rang von Ewigkeitswerten erhalten, so wird der evangelische Christ durch das erste Gebot gezwungen, diese Bewertung abzulehnen. Wenn der arische Mensch verherrlicht wird, so bezeugt Gottes Wort die Sündhaftigkeit aller Menschen. Wenn dem Christen im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Antisemitis­ mus aufgedrängt wird, der zum Judenhaß verpflichtet, so steht für ihn dagegen das christliche Gebot der Nächstenliebe." Und ein Hirtenbrief der deutschen Bischöfe erklärt im Jahre 1942: „Wir möchten ganz besonders betonen, daß wir nicht nur für religiöse und kirchliche Rechte eintreten, sondern auch für menschliche Rechte schlechthin ... Ohne ihre Gewähr muß der ganze Bau westlicher Kultur zusammenfallen."

161 Trotz unterschiedlichem Taktieren in den Konfessionen und kirchlichen Gruppen wurden diese Grundsätze nicht nur gepredigt, sondern vorgelebt. Hunderte von Pfarrern und Kirchen­ beamten wurden aus ihren Ämtern und von ihren Kanzeln entfernt oder in Gefängnisse und Konzentrationslager geworfen. Berlin-Dahlem stellte das inoffizielle Hauptquartier der Bekennenden Kirche, und Martin Niemöller war einer ihrer bekanntesten Leiter. Gehörten, um ein Beispiel zu nennen, 1937 in Berlin nur 160 Geistliche der Bekennenden Kirche an, waren 40 deutsche Christen und eine breite Gruppe von 200 Pfarrern in einer mittleren Posi­ tion, so hat die Wirksamkeit der kirchlichen Opposition mehr als einmal die Regierung vor extremen Maßregeln zurückschrecken lassen.16 Vor diesem Hintergrund wenden wir uns wieder der kleinen mecklenburgischen Landge­ meinde zu. Am 1. Oktober 1934 war dort Paul Bard als Vikar eingeführt und drei Wochen spä­ ter, am 21. Oktober, ordiniert worden. Doch schon ein halbes Jahr später, am 18. Februar 1935, mußte der Landessuperintendent Schönrock aus Wittenburg an den Oberkirchenrat berichten, der Vikar habe in den Dörfern der Gemeinde statt der Bibelstunden „Vorträge zur kirchlichen Lage" gehalten und in scharfer Weise gegen den Reichsbischof und gegen den Landesbischof Stellung bezogen, weil diese deutsche Christen seien. Darüber hinaus habe der Vikar zum 17. Februar die Gemeindemitglieder aufgefordert, im Pfarrhaus den Eintritt in die Bekennt­ nisgemeinde zu erklären. Zehn Tage später zählte man fast 200 Mitglieder. Knappe drei Wochen später wurde daraufhin durch Verfügung des Oberkirchenrates vom 16. März der Bard erteilte Auftrag zurückgenom­ men. Der Kampf verschärfte sich zusehends. Sechs Tage vorher, am 10. März, war der Vikar nach einer kurzen Kanzelerklärung mit der Gemeinde und einem Amtsbruder der befreunde­ ten Landeskirche in das Pfarrhaus gezogen — 300 Gläubige, die zum unverfälschten Wort Got­ tes standen. Bekenntnisgottesdienste in Kirchenbauten waren verboten. Am 22. März beschloß der Gemeindekirchenrat Döbbersen, nur gemeinsam mit dem Vikar zur Verhandlung über dessen anderweitige Verwendung zu erscheinen. Man sollte sich diese Bauern einmal vorstellen, die da in ihrer Glaubensstärke und Glaubenstreue vor dem Oberkir­ chenrat in ihren Sonntagsanzügen den Verbleib ihres „Pastors" forderten! Den neuen Vikar hatten sie abgelehnt. Im Kirchspiel Döbbersen hatten sich zuvor innerhalb von vierundzwanzig Stunden 560 Gemeindemitglieder für Paul Bard entschieden, trotzdem lehnte der Oberkir­ chenrat das Gesuch ab. Der Vikar beschwerte sich nun über seine Absetzung beim mecklenbur­ gischen Staatsministerium und beim Reichsministerium des Innern und nahm ohne Erlaubnis weiterhin Amtshandlungen in der Gemeinde vor. Es kam, wie es kommen mußte. Bard wurde durch die Geheime Staatspolizei am 26. März verhaftet, aber nach wenigen Tagen wieder ent­ lassen — eine erste Warnung an den tapferen Geistlichen. Danach drängten sich am 31. März 1935 500 Gottesdienstbesucher im Pfarrhaus, Ausdruck des damals möglichen schärfsten Widerspruchs gegen die erkennbare Inhumanität des Regimes, aber auch der Identifikation der Gemeinde mit den nichtnazifizierten Geistlichen, die entschlossen gegen die Anpassung und ideologische Verblendung der deutschen Christen antraten und das Evangelium unver- wässert bewahrt wissen wollten. 350 Erwachsene besuchten durchschnittlich den Gottesdienst im Pfarrhaus und standen unverdrossen in den Stuben, zwischen den Türen und auf den Trep­ pen. Acht Zehntel der Gemeinde rechneten sich zur Bekenntniskirche, zehn bis zwanzig deut­ sche Christen dagegen hörten die Predigten in der Kirche. Daß Bard eines Tages von Unbekannten vor seinem Pfarrhaus zusammengeschlagen werden konnte, kennzeichnet treffend die inneren Verhältnisse unter dem Nationalsozialismus. Nach diesem Zwischenfall siedelte er in das Gutshaus Raguth über, behielt aber seine Dienstwoh­ nung im Dorf. Von nun an stellten sich die Gräfinnen Bernstorff schützend vor die Gemeinde.

162 Konfirmanden- und Bibelstunden, Andachten und Gottesdienste wurden jetzt im Gutshaus gehalten. Die nervöse Spannung nahm zu. Am 29. August 1935 erließ die Geheime Staatspoli­ zei Mecklenburgs ein Rede- und Aufenthaltsverbot für das Land Mecklenburg gegen Bard, „um die durch die staatsfeindliche Tätigkeit des Vikars Bard in seinem früheren Kirchspiel Dobbersen dauernd hervorgerufene Unruhe zu beseitigen". Bei der gewaltsamen, zwangswei­ sen Räumung der Dienstwohnung nahm der Landessuperintendent Schönrock Bards Privat­ papiere an sich und benutzte diese später, um den Vikar als Staatsfeind beim Reichsstatthalter zu denunzieren. Das war das Ergebnis der jahrelangen Mißachtung aller christlichen Grund­ sätze des Regimes, die auch die Kirche in wachsende Bedrängnis gebracht hatte. Wenige Wochen später forderte der Pfarrverweser, der natürlich deutscher Christ war, in einer Eingabe vom 10. Oktober das Verbot der Bibelstunden und Gottesdienste im Raguther Haus, die über den Rahmen der Hausgemeinschaft hinausgingen, ein Hinweis auf die Glaubenstreue der Gemeinde auch nach der Landesverweisung Bards. Dieser versuchte inzwischen erfolglos von Berlin-Spandau aus, er war im Johannesstift untergekommen, seine Wiedereinsetzung als Vikar der Gemeinde Dobbersen zu erreichen. Schließlich wurde er als Prädikant der Gemeinde Barver bei Diepholz überwiesen. Aber am 24. April 1936 wurde durch den Gene­ ralamnestie-Erlaß des Reichsministers Kerrl auch das Rede- und Aufenthaltsverbot Bards auf­ gehoben. Er verbrachte daraufhin seine Jahresurlaube in Mecklenburg und predigte nach wie vor hierbei im Gutshaus Raguth. Nach dem Krieg scheiterten die Bemühungen der Gemeinde, ihn wieder als Pastor in Dobbersen zu gewinnen an der Weigerung der Ehefrau, in die Sowjeti­ sche Zone überzusiedeln.

Die Denkarten der oppositionellen Kräfte unterschiedlicher politischer Couleur spiegeln die wirklichen Verhältnisse unter der nationalsozialistischen Herrschaft wider. Ein Beispiel bildet wieder die Familie Bernstorff. Gegen den Gutsbesitzer Graf von Bernstorff zu Raguth und Dobbersen sowie zu Wotersen im Herzogtum Lauenburg hatte der Reichsstatthalter Hildebrandt wegen der Aufnahme und Unterstützung des Vikars Bard und der Bekennenden Kirche ein Verfahren vor dem Parteige­ richt beantragt. Graf Bernstorff war seit dem 1. Oktober 1931 Mitglied der NSDAP und Ober­ sturmbannführer der SA. Der Streit durchlief erfolglos für den Reichsstatthalter die Instanzen verschiedener „Gaugerichte" und endete mit dem Freispruch des Grafen, der nicht Mitglied der Bekennenden Kirche war. Parteizugehörigkeit schließe die Mitgliedschaft in der Beken­ nenden Kirche nicht aus, hieß es — eine Folge der unklaren Linie in der Kirchenpolitik Hitlers. Ein anderer Angehöriger der Familie, der 1890 geborene Albrecht Graf von Bernstorff, war bis 1933 Botschaftsrat an der Deutschen Botschaft in London gewesen und wurde, „Bankier und Gutsbesitzer", als Widerstandskämpfer am 24. April 1945 hingerichtet.17 Nach dem Freispruch des Grafen kam es zu verschärften Repressalien gegen Glieder der Bekennenden Kirche zu Dobbersen durch die NSDAP und zu Verhaftungen — ein Zeichen dafür, wie sehr die Herrschaftsausübung des Regimes auf dauernder, ratloser Improvisation und mangelnder Koordination der Führungsentscheidungen beruhte. Die Leitung der Bekennenden Kirche in Berlin war jedoch weiterhin trotz aller Konfrontatio­ nen bestrebt, die geistliche Versorgung dieser großen Bekenntnisgemeinde durch Vikare sicherzustellen. Friedrich Heinrich von Arnsberg hatte als ehemaliger Oberleutnant der Reichswehr Theologie studiert. Im Haus Raguth untergebracht, wurde auch er von der Gehei­ men Staatspolizei vor die Wahl gestellt, ins Gefängnis zu gehen oder seine Wirksamkeit in der Gemeinde Dobbersen aufzugeben. Pastor Buchin aus Neubrandenburg nannte ihn „einen der ritterlichsten und tapfersten Kämpfer der Bekennenden Kirche". Kurz vor dem Krieg trat er

163 wieder in die Wehrmacht ein und kam als Major in Rommels Afrika-Korps in britische Gefan­ genschaft. Damals hatte die Leitung der Bekennenden Kirche erkannt, daß die Versorgung der Gemeinde durch Vikare nicht mehr durchführbar sei. Von jetzt an setzte sie emeritierte Pasto­ ren ein, da „durch unkirchliche Maßnahmen der deutsch-christlichen Kirchenleitung in Meck­ lenburg die bekenntnistreue Verkündigung des Wortes Gottes gefährdet ist, andererseits aber die Gemeinde der seelsorgerlichen Betreuung dringend bedarf". Bis zum Kriegsende kam es immer wieder zu mehr oder minder harten Konfrontationen mit dem Chef der Geheimen Staatspolizei, dem damaligen Oberregierungsrat Oldag.18 Obwohl die Gemeindemitglieder aus den Dörfern mit ihren bescheidenen Mitteln das Gottes­ haus wiederholt liebevoll ausgebessert haben, ist heute seine Bausubstanz gefährdet. Die Turmdeckung ist nicht mehr dicht, und der Regen spült ab und zu schon einen Stein herunter. Zwar ist die kleine Dorfkirche am 3. Oktober 1982 in die Kreisdenkmalliste aufgenommen worden, doch nur eine gründliche Wiederherstellung von der Trockenlegung der Fundamente bis zur Dachsanierung kann dem Wert des kulturhistorischen Gebäudes entsprechen. Noch ist es Zeit, das unbekannte Baudenkmal nicht nur seiner Vergangenheit zu überlassen, sondern ihm wieder eine Zukunft zu geben. Persönliches Engagement ist gefragt, weil auch die Mittel der deutschen Stiftung Denkmalschutz begrenzt sind. Die von uns vor kurzem durchgeführte finanzielle Hilfsaktion für die Dorfkirche von Zernikow im Kreis Gransee macht der Redak­ tion Mut zu einem Aufruf, auch die Erhaltung der Kirche von Döbbersen zu fördern. Wer sich also mit einem kleinen Betrag beteiligen möchte, möge sich mit der Redaktion unter der Telefonnummer 8545816 in Verbindung setzen oder sich direkt an Frau Judith Braun, evangelisch-lutherische Pfarre St. Vitus, 19243 Döbbersen über Hagenow, wenden. Auch die Übernahme längerfristiger Patenschaften wäre denkbar, die einen jährlichen Förderungs- und Instandhaltungsbetrag nach eigenem Ermessen in beliebiger Höhe erfordern würde. Mögliche Sponsoren der Wirtschaft sind gesondert angesprochen worden. Alle Förderer werden auf einer Tafel im Kirchenschiff namentlich genannt werden, falls sie damit einverstanden sein sollten. Anschrift des Verfassers: Günter Wollschlaeger Kufsteiner Straße 2 10825 Berlin

Anmerkungen:

1 Mecklenburgisches Urkundenbuch, Schwerin 1864, 2. Band, Nr. 752. 2 Chronik der Pfarre Döbbersen. 3 Chronik der Pfarre Döbbersen. 4 Chronik der Pfarre Döbbersen. 5 Friedrich Graefe, Die Publizistik in der letzten Epoche Kaiser Friedrichs II. 1909, Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, 24. 6 Germania monastica, Klosterverzeichnis der deutschen Benediktiner und Cisterzienser, Otto- beuren, 1967. 7 Chronik der Pfarre Döbbersen. 8 Archiv Schwerin, Handakten der Pfarre Döbbersen. 9 Horst Ende, Dorfkirchen in Mecklenburg. Evangelische Verlagsanstalt Berlin, ohne Erschei­ nungsdatum. 10 Horst Ende, Dorfkirchen in Mecklenburg. Evangelische Verlagsanstalt Berlin, ohne Erschei­ nungsdatum.

164 11 Chronik der Pfarre Döbbersen. 12 Chronik der Pfarre Döbbersen. 13 Thieme/Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Band 5, Deutscher Taschenbuch Verlag, Oktober 1992. 14 Freundliche Auskunft von Herrn Pastor Christian Voß, Zarrentin. 15 Chronik der Pfarre Döbbersen. 16 Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler, Fischer Bücherei, November 1969. 17 Totentafel bei Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler. 18 Chronik der Pfarre Döbbersen.

Abbildungsnachweis:

Titel und Abb. 1 Archiv der Pfarre Döbbersen. Abb. 2 Günter Wollschlaeger.

Zwischen Stasi und CIA Aus den Memoiren eines Charite-Professors Von Walter Hoff mann-Axthelm

Mein Eintritt in die Charite geschah im Hauruckverfahren. Im November 1950 erhielt ich im märkischen Perleberg ein Telegramm von Professor Rosenthal, binnen zwei Tagen als Oberarzt die Leitung der Kieferchirurgischen Poliklinik zu übernehmen. Rosenthal, eine Doppelbega­ bung, war bekannt als ein guter Operateur von Gesichtsspalten, der sich, aus dem Leipziger Thomanerchor hervorgegangen, in den zwanziger Jahren zu einem der bedeutendsten Orato­ riensänger seiner Zeit entwickelt hatte. In Berlin war wieder einmal Not am Mann, aber Rosenthal wußte, daß ich in der Kriegs- und Nachkriegszeit als Soldat und Zivilist am Berliner Lazarett und der Hamburger Klinik bei Schuchardt, dem damals bedeutendsten Kiefer-Gesichtschirurgen, eine entsprechende Fach­ ausbildung erhalten hatte. So siedelte ich also Hals über Kopf von der Perleberger Poliklinik um in die Chirurgische Abteilung des ältesten deutschen Zahnärztlichen Universitäts-Instituts in der Invalidenstraße, in welchem meine Frau und ich dereinst studiert hatten. Meine Frau folgte mit vier Kindern, was damals noch unproblematisch war, völlig legal nach Berlin-West in ihr Elternhaus am Kleinen Wannsee, nach recht wehmütigem Abschied von unserem Perleber­ ger Haus.

165 Bald hatte ich mich in den Lehr- und Ausbildungsbetrieb eingearbeitet, hielt Kollegs, Kurse und Vorträge, prüfte Staatsexamen, wurde Mitbegründer und Schriftleiter der einzigen Fach­ zeitschrift der DDR, holte den Dr. med. nach, schrieb an einem ersten Lehrbuch, fuhr aber auch unverdrossen fort, über das Erlebte Buch zu führen, mal regelmäßig, mal mit langen Inter­ vallen, so daß ganz nebenbei eine „Chronik zwischen Ost und West" entstanden ist. Ich lebte in einer gewissen Unbekümmertheit, trug keinen Maulkorb, legte mich wenn nötig mit Funktio­ nären an, einmal in öffentlicher Diskussion mit Gesundheitsminister Steidle, was diesen zu einer seitenlangen Replik im „Deutschen Gesundheitswesen" bewog. Meist ging es darum, in der Zeitschrift Glückwünsche für den großen Stalin oder Walter Ulbricht abzuwehren, was manchmal etwas aufregend war, wobei mir aber SED-Genosse Rosenthal wacker sekundierte. Das hatte auch das Gute, daß man niemals auf die Idee gekommen ist, mich für die Partei zu werben oder gar als Informanten für den Stasi anzuheuern. Wohl aber erhielt ich ein solches Angebot vom amerikanischen Geheimdienst, der Central Intelligence Agency (CIA: Uns interessiert, ob in der Geschwulstklinik mit Isotopen gearbeitet wird), das aber mit dem Hin­ weis auf die Verantwortung für meine große Familie leicht abzulehnen war. Im März 1954 habe ich mich habilitiert, die Berufung als Dozent zog sich lange hin, 1958 wurde auch die Ernennung zum Abteilungsleiter nach Rosenthals Emeritierung zunächst vom Rektor abgelehnt mit der Begründung, „daß er noch kein positives Verhältnis zur Deutschen Demo­ kratischen Republik und ihrer Gesellschaftsordnung gewonnen hat". Zuvor hatten Magnifi­ zenz das gleiche befürwortet. Im Begleitschreiben des Staatssekretariats wird abwiegelnd bemerkt, „daß bei allen Besprechungen Ihre fachliche Qualifikation stets und von jeder Seite voll anerkannt wurde". Ich hatte ihnen aber auch einiges geboten, so im Oktober 1955 den Ruf nach Jena abgelehnt — das war doch etwas weit von West-Berlin — und mich zwei Monate später im zuständigen Poli­ zeirevier offiziell in das westliche Wannsee-Haus umgemeldet, was damals innerhalb von Groß-Berlin noch möglich war. Es war dies meine Reaktion auf die Kündigung des von mir bewohnten Institutszimmers durch die Charite-Verwaltung, verbunden mit polizeilicher Abmeldung hinter meinem Rücken. Am nächsten Morgen erschien ich pünktlich zum Dienst, zugegeben, mit leicht beschleunigtem Puls. Schwierig wurde es natürlich bei der Ernennung zum Professor. Von der dafür eingesetzten Kommission unter Vorsitz des Dekans, des Pathologen Kettler, wurde ich einstimmig für wür­ dig befunden, dann aber legte die SED-Parteigruppe ihr Veto ein. Vor der Abstimmung in der Fakultätssitzung im März 1959 verkündete der Sozialhygieniker Genosse Winter auftragsge­ mäß, man könne einen Mann, dessen Frau republikflüchtig geworden ist, nicht zum Professor machen. So mußten alle SED-Mitglieder einschließlich des Dekans — an den Fingern abzuzäh­ len — gegen mich stimmen, während die Direktoren der großen Kliniken dafür waren, so daß ich eine Stimme Mehrheit erhielt. Anderntags erschien ich mit der Perleberger polizeilichen Abmeldung meiner Frau bei Kettler, der, etwas peinlich berührt, sich einen Auszug machte und Weiterleitung versprach. Zugleich bestellte mich Felix, Herr der Chirurgie als Nachfolger von Sauerbruch, zu sich und sicherte mir nach Einsichtnahme zu, gegen diese „unglaubliche Frech­ heit" Stellung zu nehmen. Mit der Hartnäckigkeit eines Cato stellte er in jeder Fakultätssitzung die Frage, ob es angängig sei, daß ein angesehenes Mitglied der Fakultät verleumdet werde, bis Kettler seinen Irrtum bedauerte und Winter eine gequälte Rücknahme äußerte. Dennoch zog sich die Sache hin, bis ich zum intelligentesten unter den Genossen, dem auch fachlich guten Biochemiker und Altkommunisten Rapoport ging und ihm vortrug, daß von den fünf Habilitanden von Rosenthal ich als einziger noch hier sei, die anderen seien geflüchtet. Einige von ihnen hätten schon eine Professur, auf die ich hier vergeblich warte. Schon nach

166 Hoffmann-Axthelm beim Kolleg im Institut, 1952

wenigen Stunden kam sein Anruf, die Angelegenheit verliefe in meinem Sinne. Und so geschah es auch, aber nichts ist ohne Kampf, aber auch nichts mit der geringsten Konzession meinerseits gegangen. Stets wurde mir ein treues SED-Mitglied als Assistent und Aufpasser hineingesetzt. Zuerst der aus Hamburg eingewanderte KPD-Mann Peters, dem ich eines Tages in ruhiger Aussprache meinen politischen und weltanschaulichen Standort klarmachte, was er ernsthaft zur Kenntnis nahm. Damit wurde mir bestätigt, daß den überzeugten Genossen Leute mit einer festen, wenn auch konträren Einstellung lieber sind als jene, die es mit keiner Seite verderben wollen, die sich mit Kompromissen durchzumogeln suchen. Er verunglückte auf einer Dienstfahrt nahe Rostock tödlich, ich habe ihm als sein Vorgesetzter dort die Grabrede gehalten. Sein Nachfolger Raue hatte bei mir studiert und die Studentenorganisation im Hause geleitet. 1956 wurde er mir als Assistent oktroyiert. Fachlich war er tüchtig, nebenamtlich stieg er zu immer höheren Würden auf, vertrat die Zahnmedizin im Staatssekretariat und im Zentralko­ mitee der Einheitspartei, deren Mitglieder er im Parteigebäude, der früheren Reichsbank, behandelte. Dann aber beichtete er mir während eines dienstlichen Zwiegesprächs, daß er alle diese Funktionen im Auftrag der CIA wahrnähme. Später erfuhr ich von ihm, daß sein Bruder zweiter Mann in der Abteilung Abwehr West des Staatssicherheitsdienstes sei und seine Schwägerin als Medizinstudentin in Moskau Augen und Ohren offenhielte, ebenso daß seine

167 Helferin Ingrid, wohl nur als Botengängerin, mit im Spiel sei. Also ein perfekter Spionagering. So sehr mich dieses Vertrauen berührte, stärker war die Last der Mitwisserschaft in meiner damaligen Stellung und unter den obwaltenden Umständen. Jahrelang ging dieses gefährliche Spiel gut. Als ich am 15. Juni 1959 mit meiner Frau von einer Aufführung in der Ostberliner Staatsoper nach Wannsee fuhr, hielt ich mit dem Wagen in der Invalidenstraße vor unserem Institut, um nach dem Bereitschaftsdienst zu sehen. Der angetrof­ fene Assistent sagte mir, daß für diese Nacht Raue eingeteilt sei, ihm aber die Nachtschwester telefonisch dessen Ausbleiben mitgeteilt habe. So sei er spontan eingesprungen. Am anderen Morgen erschien Raue nicht zum Dienst, dann kam zwischen 10 und 11 Helferin Ingrid in mein Zimmer: Sie hätte eben nach ihm gesucht, aber seine Wohnungstür sei verbarri­ kadiert, mit Stempeln des Stasi. Sie wolle schnell zu Hause Bescheid geben, ihre Papiere holen und ab über die Grenze. Ich sagte: „Lassen Sie das, Mädchen, nichts wie aus dem Haus und über die Brücke!" (Die benachbarte Sandkrugbrücke war die Grenze. Noch jahrelang erhielt ich von ihr, jetzt Verwaltungsleiterin einer Klinik der Freien Universität, zu Weihnachten Blu­ mengebinde). Wenige Minuten nachdem Ingrid mein Zimmer verlassen hatte, erschien ein der Partei zugehö­ riger Assistent, machte mir offiziell von den Vorgängen Mitteilung und fragte beiläufig nach ihr. Ich sagte, sie sei eben bei mir gewesen und habe um eine Stunde Urlaub für irgendeine Erle­ digung gebeten. — „Leider ist Schwester Ingrid nach Westberlin entwichen", hieß es in einer Institutsversammlung im Oktober 1960, in der zwei uniformierte Stasi-Offiziere uns mitteilten, daß Raue im März wegen Verrats wichtiger Staatsgeheimnisse zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt sei. Raues Domizil befand sich neben dem Raum in der Charitestraße, in welchem ich mein Möbel­ lager unterhielt. Schon vor längerer Zeit hatte mich meine Vermieterin gebeten, ihrer Nachba­ rin für deren Mieter, einen ordentlichen jungen Herrn von der Charite, ein Bett zur Verfügung zu stellen. Dagegen war nichts einzuwenden, und so hat Raue bis zu seiner Verhaftung in unse­ rem Bett geschlafen. Davon hatte ich keine Ahnung, aber — wer hätte mir das geglaubt? Das „Lebenslänglich" brauchte nicht abgesessen zu werden, nach einem Jahrzehnt Haft wurde Raue auf Bewährung entlassen und mit der Leitung einer Staatspraxis im Ostberliner Bezirk Köpenick beauftragt. 1972 erschien mein einstiger Assistent in meinem Dienstzimmer an der Freien Universität, ich weiß nicht mehr ob als Flüchtling, ob ausgetauscht oder freigekauft. Die Überführung in den Westen war im abgeschlossenen Kofferraum eines anonymen Wagens erfolgt, ohne daß man ihn über Sinn und Ziel der Fahrt unterrichtet hätte. Erst als er nach mehrfachem Halt herausgeholt wurde, merkte er an der Lichtfülle, daß er sich auf West-Berli­ ner Boden befand. Nach seiner Verhaftung hatte er im Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen in der Dauer zermürbende, aber sonst korrekte Verhöre zu überstehen, dann wurde er nach der Ver­ urteilung dort fachlich eingesetzt, gemeinsam mit seinem Zellengenossen Oberarzt Voigt von der II. Medizinischen Klinik der Charite. Der hatte mir 1964, nach drei Jahren Haft nach West- Berlin entlassen, berichtet, daß er Dokumente und Personalpapiere zwischen so plötzlich aus­ einandergerissenen Familienmitgliedern hin- und hergetragen hatte, was auch ich in den Wochen zwischen Mauerbau und Ausscheiden täglich praktiziert habe. So war z. B. Pfarrer Strauß, wohnhaft in Potsdam, von seiner Kirche Nikolskoe hoch über der Havel getrennt. Die Kirchenschlüssel waren bei ihm, sein Geld lag in der Sakristei. Auch das ließ sich ausgleichen. Bemerkenswert war Raues Schilderung, auf welche Weise man ihn der Spionage überführt hatte. Seine West-Berliner CIA-Dienststelle befand sich in Zehlendorf. Im gegenüberliegen­ den Haus hatte sich der Stasi eingenistet und jeden, der das CIA-Gebäude verließ, mit einem

168 Abb. 2: Das Zahnärztliche Universitäts-Institut in der Invalidenstraße, erbaut 1912. Die Plakate tragen „Kampfparolen", 1952

Feraobjektiv fotografiert. So mit seinem Abbild vor der Haustür des eigenen Dienstherrn kon­ frontiert, war jedes Leugnen sinnlos. Natürlich habe ich ihn gefragt, ob er auch meine Kenntnis seiner Spionagetätigkeit preisgege­ ben habe. „Ach, Sie glauben ja nicht, wie sie mir zugesetzt haben, immer ging es um Mitwisser. Da ist mir auch mal Ihr Name herausgerutscht." Und ich war zu dieser Zeit und noch Jahr und Tag an der Charite, ahnungslos, wie dünn das Eis gewesen ist, auf dem ich mich — und oft recht lebhaft — bewegt hatte. Selbstverständlich hätte ich damals gern gewußt, was darüber in meine Stasi-Akte eingetragen wurde, über deren Existenz ich durch Raue informiert war. Vieles mußte erst geschehen und fast 85 Jahre mußte ich alt werden, bis ich im Januar 1993 vom „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Repu­ blik", nach ihrem Leiter Gauck-Behörde genannt, meine „personenbezogenen Unterlagen" erhielt, ein Konvolut von 21 paginierten Seiten, in welchem aber Blatt 12 und 17 fehlen. Der Inhalt übertraf alle Erwartungen. Die Überwachung war eine totale, und nicht nur im „Demokratischen Berlin". So gibt es im Dezember 1959, als ich also schon vier Jahre West-Berliner Bürger war, einen „Ermittlungs­ auftrag" über mich mit der (unkorrekten) Wannsee-Anschrift, in welchem Name und Adresse des beauftragten Informanten von der Gauck-Behörde gelöscht wurden. Der „Ermittlungsbe­ richt" vom 28. Januar 1960 entwirft ein geradezu idyllisches Bild über unser Familienleben, sogar die beiden Großmütter in unserem Haushalt werden erwähnt. „Zwischen den Eheleuten besteht ein sehr gutes Verhältnis. Politisch treten sie im Wohngebiet nicht in Erscheinung. Ihre Einstellung ist nicht bekannt, ihr Ruf ist sehr gut, sie werden als ruhige und ordentliche Men-

169 sehen bezeichnet, die einen einwandfreien Lebenswandel führen." — Kann man mehr verlan­ gen? — Abschließend werden aus dem West-Berliner Telefonbuch die richtige Wannsee- Anschrift und die Praxisadresse meiner Frau zitiert. Aber schon 1955 bin ich unangenehm aufgefallen. In einer Stellungnahme der Kaderabteilung der Charite vom 7. Januar heißt es anläßlich der Reisegenehmigung zu einem Kongreß in Genf: „Seine Haltung gegenüber unserer Republik ist nicht positiv. In seiner Eigenschaft als Schriftleiter der .Deutschen Stomatologie' lehnte er es kategorisch ab, Artikel z. B. anläßlich des Monats der Deutsch-Sowj. Freundschaft zu veröffentlichen. Seiner Wahlpflicht bei den Volkskammerwahlen am 17. Oktober 1954 ist er trotz Aufforderung nicht nachgekommen." Ganz einig scheinen sich die hohen Gremien aber nicht zu sein, denn: „Da die Ernennung zum Dozenten trotz unserer (der Kaderabteilung) Ablehnung ausgesprochen wurde, überlassen wir die Entscheidung über diese Reise dem Staatssekretariat für Hochschulwesen." Und das hat sie genehmigt. Am 8. Februar 1960 erhalte ich vermutlich die Quittung auf Raues Geständnis meiner Mitwis­ serschaft: „Gegen Hoffmann-Axthelm wird Material zur operativen Bearbeitung gesammelt. Er gehört zur reaktionären Klinikleitung, die eine feindliche Kaderpolitik betreibt." Angeblich sorge ich für die Entfernung aller fortschrittlichen Kräfte, womit meine Einflußmöglichkeiten allerdings überschätzt werden. Dann aber wird es ernst: „Es wird an der Aufklärung der Person gearbeitet. Zur Bearbeitung wird im II. Quartal eine Person geworben. Ziel der Bearbeitung ist der Nachweis staatsfeindlicher Tätigkeit und die Inhaftierung des H.. " Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Fehlen des Namens Raue. Vielleicht wurde dessen Fall auf den beiden verschwundenen Seiten behandelt, denn seine Angelegenheit — ein ganzer Spionagering innerhalb des Staatssicherheitsdienstes — war ja für diesen eine eklatante Blamage. Daß ich damals so gut davongekommen bin, dürfte ich wohl einem gewissen Bekanntheitsgrad in Ost und West zu danken haben. Eine „Inhaftierung" hätte Wirbel gemacht und sich letztlich nicht gelohnt. Erstaunlich ist ein Bericht vom 9. Juni 1961 aus Marburg an der Lahn, wo unser damals zwan­ zigjähriger Sohn Dieter Theologie studierte. In Studentenkreisen habe er erzählt, „daß sein Vater, obwohl er an der Humboldt-Universität lehre, ein entschiedener Gegner der DDR wäre". Ich solle zahlreichen Assistenten zur Flucht nach Westdeutschland verholten, ihnen Referenzen mitgegeben haben, sogar einem Agenten des amerikanischen Geheimdienstes. Der „fand nach seiner Entlassung aus der Haft sofort die Unterstützung des Prof. Hoffmann- Axthelm". Das kann auch nur der Fall Raue gewesen sein, der aber saß damals und noch lange beim Stasi fest. Der Spitzel hat seinen Bericht wohl kräftig ausgeschmückt. Weiter heißt es im Schreiben der Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit an die Leitung der Stasi- Verwaltung Groß-Berlin: „Wir werden versuchen, weitere Einzelheiten in Erfahrung zu brin­ gen, bitten jedoch um Mitteilung, ob es an der med. Fakultät einen Professor genannten Namens gibt." — Mein Sohn meinte jetzt dazu, der Informant könne nur einer der vier Kommi­ litonen gewesen sein, die mit ihm von der Berliner Kirchlichen Hochschule nach Marburg gegangen sind. Und der sitzt heute vermutlich in einer westdeutschen Pfarre und liest seiner Gemeinde aus dem Matthäus-Evangelium vor: Einer unter euch wird mich verraten. Noch einmal werde ich im Mai 1961 aktenkundig. In aller Arglosigkeit hatten wir mit Hilfe unseres Ostmarkkontos im staatlichen Reisebüro eine Rußlandreise gebucht. Auch das wurde an den Stasi weitergeleitet und löste eine Anfrage der Hauptverwaltung an den mich seit lan­ gem betreuenden Unterleutnant Zeiseweis aus: „Es wird gebeten, uns umgehend mitzuteilen, welche Gründe zur operativen Bearbeitung der vorgenannten Person vorliegen und ob auf-

170 Abb. 3: Blick von Westen in die Invalidenstraße und die Sandkrugbrücke mit den Grenzsperren. Der spitze Giebel in der Bildmitte gehört dem Zahnärztlichen Institut grund des vorhandenen Materials gemeinsame operative Maßnahmen während der Reise, wenn ja — welche, eingeleitet werden sollen." — Anfang Juni sind wir mit Zwischenaufenthalt in Moskau wohlbehalten vom Schwarzen Meer heimgekehrt, ohne etwas von operativen Maß­ nahmen gemerkt zu haben. Am 13. August folgte der Mauerbau, am 27. März 1962 bittet Zeiseweis, inzwischen zum Leutnant befördert, „die beiliegende Handakte zur Ablage zu bringen, weil H.-A. seine Tätig­ keit im Demokratischen Berlin nach dem 13. August 1961 aufgegeben hat", d. h., er wurde eli­ miniert, nachdem er in einer in verbindlicher Form geführten Verhandlung mit dem Rektor und dem stellvertretenden Staatssekretär für das Hochschulwesen im Hauptgebäude der Humboldt-Universität eine Rückkehr mit der Familie in die DDR abgelehnt hatte. Mancher Hochschullehrer und mancher Politiker wäre wohl ganz froh, wenn er eine derartige Stasi-Anamnese vorlegen könnte. Andererseits ist es doch recht schlimm, daß man diesen, und nicht nur diesen roten Ballast jahrzehntelang mit sich herumschleppt, aber er läßt sich nun ein­ mal nicht so einfach abwerfen, selbst wenn man zu denen gehört, die noch einmal davonge­ kommen sind. Anschrift des Verfassers: Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm Schlierbergstraße 84 79100 Freiburg i. Br.

171 Das Niederländische Palais Ein Beitrag zur Geschichte der Oranier in Berlin Von Bert Becker

Wer heute auf den Spuren der Niederländer in Berlin und Brandenburg wandelt, wird noch einige entdecken.1 Sowohl in Gebäuden als auch in Straßennamen manifestieren sich die engen Beziehungen zwischen Preußen/Deutschland und den Niederlanden — von der Einwande­ rung holländischer Kolonisten im Mittelalter und in der Neuzeit2 bis zu den dynastischen Ver­ bindungen der beiden Höfe in Berlin und im Haag3. Vor allem die Mark Brandenburg kann mit dem Holländischen Viertel in Potsdam4 und dem Oranienburger Schloß einzigartige Denkmä­ ler deutsch-niederländischer Beziehungen aufweisen. Dagegen steht Berlin vergleichsweise bescheiden da. Prominentes Zeugnis des niederländischen Einflusses in Berlin war bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein eindrucksvolles Gebäude in der Straße Unter den Linden: das Nie­ derländische Palais. Zwar wird es noch in einigen modernen Stadtführern erwähnt5, doch schwindet zunehmend die Erinnerung an das Haus und seine Bewohner. Kaum einem Berliner ist wohl die Tatsache bekannt, daß der erste niederländische König sein Exil und seine letzten Lebensjahre in der Straße Unter den Linden zubrachte. Mit der Abräumung der Reste des zer­ störten Palais im Jahre 1963 scheint auch das Wissen um das bedeutende Gebäude und um die Herkunft seines Namens langsam im Bewußtsein zu verschwinden. Dabei manifestiert das Haus einen wichtigen Abschnitt deutsch-niederländischer Beziehungen auf dynastischer Ebene. Der vorliegende Aufsatz versucht, die Geschichte des Niederländischen Palais näher zu beleuchten, wobei dem 19. Jahrhundert, als es sich im Besitz des Hauses Oranien befand, besondere Beachtung geschenkt wird.

Zur frühen Geschichte des Hauses

Das Haus Nr. 36 Unter den Linden entstand im Zuge des Ausbaus der Dorotheenstadt in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein Vorgängerbau war bereits 1673 auf den Grundstücken Nr. 35 und 36 als „Artillerie-Etablissement" errichtet worden. Dieses Gebäude umfaßte somit auch das rechte Nachbargrundstück des späteren Palais. Als militärische Befestigung in Richtung der Spree bestand es nach dem Plan von J. B. Schultz (1688) „aus einem großen, mit einer Mauer umgebenen Hof (...), auf dem nach der Linden- und nach der Wall-Seite je ein großes einstöckiges, nach der West- und Ost-Seite je ein ähnliches, doch kleineres Gebäude sich befand."6 Kaum verwunderlich, daß der erste Besitzer ein Soldat war. Durch Allerhöchste Ver- schreibung überließ es König Friedrich Wilhelm I. am 17. Oktober 1713 dem General der Infanterie und Chef des Feld-Artillerie-Regiments, Christian von Linger, gegen Zahlung von 2500 Talern. Das Gebäude blieb fast 40 Jahre im selben Besitz. In dieser Zeit (1736—1740) entstanden die ersten Skizzen und Pläne des Kronprinzen Friedrich und seines jungen Baumeisters Knobels- dorff zur Gestaltung des Lindenforums.7 Das Forum war ursprünglich wesentlich größer kon­ zipiert, als es sich heute darstellt. Friedrich entwarf unter anderem den Plan für eine Kunstaka­ demie, die dreimal so groß wie die Oper werden sollte. Von den sogenannten Offiziershäusern, zu denen von Lingers Haus zählte, bis fast zur Friedrichstraße sollte der Komplex der Akade­ mie reichen. Mit den beschränkten Mitteln des Staates war aber eine solche monumentale

172 Abb. 1: Außenansicht des Niederländischen Palais nach dem Umbau von 1777 (Foto aus: J. Lazarus, Die Geschichte der Straße „Unter den Linden", in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Ber­ lins 4/1908, S. 97)

Umgestaltung mit vielen Abrissen, Um- und Neubauten nicht zu verwirklichen. So entstand später nur ein verkleinertes Forum, das die Offiziershäuser nicht antastete.8 Sein Haus verkaufte General von Linger am 25. Februar 1752 für 6100 Taler. Der neue Käufer, Gastwirt Friedrich Wilhelm Peters, scheint jedoch seine Verpflichtungen dem Verkäufer gegenüber nicht eingehalten zu haben oder in finanzielle Schwierigkeiten geraten zu sein. General von Linger mußte das Haus zurückkaufen, veräußerte es jedoch wenig später am 2. April 1753 an den Kriegsrat Burchhard Ludwig Schmidt für 5600 Taler. Dieser hatte die günstige Lage des Geländes inmitten der Dorotheenstadt erkannt, die inzwischen mit schönen Gebäuden bebaut worden war. Das alte Gebäude ließ Schmidt völlig abreißen und teilte das Grundstück in zwei gleich große Hälften auf. Auf jeder Hälfte errichtete er zu den Linden hin großzügige Neubauten. Die hintere Seite wurde mit Höfen und Gärten bestückt und mit einer Mauer abgeschlossen. Die beiden Häuser erhielten die Nummern 35 und 36. Das Haus Nr. 36 war nach den Plänen des Oberbaudirektors Friedrich Wilhelm Dietrichs von Andreas Krüger als Palais erbaut worden. Dietrichs war ein erfahrener Baumeister, der in Buch die Dorfkirche, in Berlin die Böhmische Kirche, mehrere Palais und die Orangerie in Potsdam errichtet sowie den Bau von Schloß Sanssouci begonnen hatte. Der 17 Jahre jüngere Andreas Krüger hatte sich vor allem durch Landschaftsmalereien und Prospekte mit Ruinen einen Namen gemacht. Von ihm stammten die künstlerischen Verzierungen der Tür, die das Haus bis 1777 schmückten.9 Nach dem Tod von Schmidt (1755) wechselte das Palais mehrfach seinen Besitzer. Von 1775 bis 1782 gehörte es dem königlichen Minister Freiherr Friedrich Christoph von Görne, der umfangreiche Veränderungen vornehmen ließ. So ließ er 1777 die Treppe des

173 Gebäudes beseitigen und dafür einen von acht gekuppelten ionischen Säulen getragenen Bal­ kon setzen. Zugleich wurde die Stirnwand verändert und gleichförmig verziert. Im Inneren wurde 1779 im linken Flügel ein Speisesaal in ovaler Form eingefügt, das wohl erste Beispiel der gegen Ende des 18. Jahrhunderts beliebten ovalen und runden Gestaltung rechteckiger Räume durch elliptische Säulenstellungen an den Schmalseiten. Vermutlich geht der Umbau auf den älteren Langhans zurück10, der den Speisesaal damit zum „vielleicht schönste(n) aller im neuklassischen Geschmack eingerichteten Säle Berlins" machte.11 Durch zwei Geschosse reichte der Saal, der wie andere Räume im Palais von den Malern Rode und Frisch ausgestaltet wurde.12 Nachdem von Görne 1782 seines Amtes enthoben worden war, ging das Gebäude in den Besitz des Kriegsrates Gravius über und wurde schließlich am 10. März 1787 vom preußischen König Friedrich Wilhelm II. für 35 000 Taler gekauft. Er schenkte es seinem unehelichen Sohn, dem Grafen Friedrich Wilhelm Moritz Alexander von der Mark, unmittelbar nach dessen Geburt. Das Kind war aus der Liebesverbindung des Königs mit Wilhelmine Rietz hervorgegangen. Doch schon 1787 starb es, und so blieb das Haus im Besitz der Geliebten des Königs, die 1796 zur Gräfin von Lichtenau erhoben wurde.13 Zwischen 1787 und 1794 erfolgte im Auftrag des Königs ein Umbau des Palais durch den Architekten M. P. Boumann.14 Das Haus wurde durch die Verlängerung der Flügelbauten und ein zweites Quergebäude um einen neuen zweiten Innenhof mit Ställen für 24 Pferde, Wagenremisen, Räumen für Bedienstete, einem Theater- und Tanzsaal, einer Gemäldegalerie und anderen Räumlichkeiten großzügig erweitert. Die Innenräume stattete Boumann in frühklassizistischem Stil aus. „Aus väterlicher Liebe, zum Vergnügen und zur mehren Bequemlichkeit" ließ der König in dem Palais sogar ein „Schau­ spiel-Haus" nach den Ideen seiner Geliebten einbauen. In den nächsten Jahren gelang es der Lichtenau, ihr kostbar ausgestattetes Palais zu einem Treffpunkt der feinen Berliner Gesell­ schaft zu machten. Durch die Raffinesse der Gräfin und die politische Unfähigkeit des Königs wurde das Palais zu einer Art „Nebenhof", an dem Hofadel, die Prinzessinnen und sogar die Königin erschienen. Staatsmänner, Diplomaten, Offiziere und Künstler gingen bei Empfängen und Gesellschaften ein und aus.15 Doch die Geselligkeit währte nur kurz. Nach dem Tod von König Friedrich Wilhelm II. am 16. November 1797 und dem Regierungsantritt seines Sohnes verlor die Gräfin ihre Güter und wurde aus Berlin verbannt. Das Palais Unter den Linden schenkte König Friedrich Wilhelm III. 1798 der Berliner Armen-Direction. Der wohltätige städtische Verein konnte mit dem pracht­ vollen Haus wohl wenig anfangen und überließ es zeitweise der englischen Gesandtschaft. Am 24. März 1803 wurde es für 67 000 Taler an den niederländischen Erbprinzen veräußert, „dem seine Beziehungen zum Königlich Preußischen Hofe es wünschenswerth erscheinen ließen, hier in der Residenz ein eigenes Heim zu besitzen".16 Damit begann die Geschichte des „Nie­ derländischen Palais", das von dieser Zeit mit diesem Namen oder auch mit „Oranisches Palais" bezeichnet wurde.17 Welche Beziehungen die Niederlande zum preußischen Hof hatten und warum die Oranier viele Jahre in Berlin zubrachten, soll im folgenden ausführlich erläutert werden.

Die Häuser Oranien und Hohenzollern

Die engen Familienbande zwischen dem niederländischen Königshaus Oranien-Nassau und deutschen Adelgeschlechtern reichen bis in das 16. Jahrhundert zurück. Der erste deutsche Prinz von Oranien in den Niederlanden, der berühmte Wilhelm der Schweiger (1533—1584),

174

1 Abb. 2: Der ovale Saal im Niederländischen Palais von C. G. Langhans (Foto aus: Bogdan Krieger, Berlin im Wandel der Zeiten, Berlin 1923, S. 163) war zugleich ein Graf von Nassau. Er wurde als Begründer der niederländischen Unabhängig­ keit der Urvater des heutigen niederländischen Königshauses. Die komplizierten genealogi­ schen Abfolgen der folgenden Jahrhunderte sollen hier nicht im einzelnen beleuchtet werden. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf den Beginn des Königtums in den Niederlanden Anfang des 19. Jahrhunderts. In den Jahrhunderten zuvor hatten Statthalter des Hauses Oranien-Nas­ sau und Seitenlinien das Land regiert. Der letzte Statthalter Wilhelm V. (1748—1806) heiratete 1767 in Berlin die preußische Prinzessin Friederike Sophie Wilhelmine, deren Onkel und Vor­ mund Friedrich der Große von Preußen war. Damit begann die Geschichte der engen Bezie­ hungen zwischen dem Haus Oranien und dem Haus Hohenzollern. Friedrich II. hatte seine Nichte selbst über die Taufe gehalten und ihr die Namen seiner Lieblingsschwester, der Mark­ gräfin von Bayreuth, gegeben.18 Aus dieser Ehe ging fünf Jahre später, am 24. August 1772, der erste Sohn hervor. Wilhelm VI. wurde in 's Gravenhage (Den Haag) geboren und erfuhr eine sorgfältige Erziehung durch seine kluge Mutter und durch bekannte Gelehrte der damaligen Zeit. Ein Teil der Ausbildung erfolgte in Berlin. Nach dem Studium des Staatsrechts in Leiden ging der junge Erbprinz 1789 auf eine längere Deutschlandreise, die ihn 1791 wieder nach Berlin führte. Dort lernte er seine zwei Jahre jüngere Kusine Friederike Luise Wilhelmine kennen, eine Tochter König Friedrich Wilhelms IL, die Schwester des späteren Königs Friedrich Wilhelm III. Der Hochzeitskontrakt war bereits drei Jahre zuvor von seiner Mutter vorbereitet worden. So heiratete der neunzehn­ jährige Erbprinz von Oranien-Nassau am 1. Oktober 1791 — wie sein Vater — eine preußische Prinzessin. Die Feierlichkeiten in Berlin dauerten siebzehn Tage. Aus der Ehe gingen vier Kin­ der hervor, die — außer dem ersten Sohn — alle in Berlin geboren wurden.'"

175 Erwerb des Palais

Nach der Besetzung der Niederlande durch französische Truppen im Januar 1795 floh der Statthalter mit seiner Familie zunächst nach England. Damit begann auch für den Erbprinzen eine fast neunzehnjährige Zeit der Verbannung. Am 10. September 1795 reiste der junge Wil­ helm nach Berlin, um preußische Hilfe zu erbitten. Bei Friedrich Wilhelm II. fand er jedoch kein Gehör. Der Preußenkönig hatte gerade Frieden mit Frankreich geschlossen und war durch die dritte polnische Teilung in Anspruch genommen.20 Trotz dieser Enttäuschung beschloß der Prinz, auf Dauer in Berlin zu bleiben, um auf die erhoffte Niederlage der Franzosen zu warten. Seine Frau und sein Sohn folgten ihm im Mai 1796, sie bewohnten einige Räume des königli­ chen Schlosses. Seine Zeit im Exil nutzte Wilhelm, um sich mit seinen durch die Heirat erwor­ benen Besitzungen in Schlesien zu beschäftigen, die er durch verschiedene Ankäufe langsam vergrößerte. Von Berlin aus suchte der Erbprinz Kontakte zu oraniertreuen Kreisen in den Niederlanden. Wiederholt verließ er die Stadt, um an der Vorbereitung von militärischen Aktionen der Eng­ länder und Russen teilzunehmen, die versuchten, die Niederlande dem französischen Einfluß zu entreißen. Als diese ergebnislos verliefen, orientierte sich Wilhelm an Napoleon Bonaparte, der ihn 1802 für den Verlust seines Landes mit einigen Besitztümern in Deutschland entschä­ digte, darunter dem Bistum Fulda. Wihelm nahm seine Stellung als Fürst von Fulda und — nach dem Tode des Vaters — auch von Nassau ein. In den folgenden vier Jahren verbrachte seine Familie die Sommermonate in Fulda, im Winter lebte sie in Berlin. Eine standesgemäße Bleibe in der preußischen Hauptstadt war bald gefunden: 1803 kaufte Prinz Wilhelm das Haus Nr. 36 in der Straße Unter den Linden. Damit wurde das Palais zur dauernden Residenz des exilierten Erbprinzen der Niederlande. Nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt (1806) verlor der niederländische Prinz sämtliche deutsche Besitzungen und floh mit dem preußischen Hof nach Ostpreußen. In den Augen Napoleons war Wilhelm ein Verräter, weil er den Oberbefehl über den rechten Flügel des preußischen Hauptheeres übernommen hatte. Erst nach dem Frieden von Tilsit (1807) konnte der Erbprinz nach Berlin zurückkehren und sein Palais Unter den Linden wieder bezie­ hen.21 Von hier aus pflegte er heimlichen Kontakt mit jenen Kreisen, die in Berlin den Wider­ stand gegen die Franzosenherrschaft organisierten. Die vertriebenen Oranier spielten dabei eine wichtige Rolle, weil sie enge Verbindungen mit ihren in England lebenden Verwandten unterhielten, „die vom Haß gegen Napoleon lebend, von England aus die Restauration der Weltverhältnisse erwarteten".22 Ihnen schloß sich der preußische Offizier von Gneisenau an, der in England Kontakte mit den Oraniern aufgenommen hatte.23 Ein geistiges Zentrum des Widerstandes in Berlin bildete die Gräfin Brühl, „bei der sich eine kleine Koterie vereinigte, die ausschließlich vom Haß gegen Napoleon, Hoffnung auf England und von den kleinen Mittei­ lungen lebte, die in horriblen Geschichten über den einen und großartigen Aussichten vom anderen ihre Nahrung suchten".24 Mit dem Beginn der Befreiungskriege hielt es den Erbprinzen nicht mehr in Berlin. Die Preu­ ßen lehnten es ab, ihn wieder in ihre Dienste zu nehmen, und so reiste der niederländische Fürst nach Stockholm und nach London ab. Nach dem Aufstand in den Niederlanden und dem Abzug der Franzosen kehrte Wilhelm am 30. November 1813 in die Niederlande zurück. Die Familie folgte ihm wenig später (8. Januar 1814) aus Berlin nach.

176 Letzte Jahre im Niederländischen Palais

Nach der Vereinigung von Belgien und Lüttich mit den Niederlanden wurde der Erbprinz 1815 zum König der Vereinigten Niederlande gekrönt. Wilhelm I. war der erste niederländische König in der Geschichte, womit die Periode der Statthalterschaft beendet wurde. Seine Regie­ rungszeit zwischen 1815 und 1840 soll hier nicht näher behandelt werden. Zum preußischen Hof wurden die engen Kontakte aufrechterhalten und durch zahlreiche Aufenthalte im Nieder­ ländischen Palais in Berlin unterstrichen. Eine noch engere Verbindung beider Königshöfe kam durch zwei prächtige Hochzeiten zustande. Am 21. Mai 1825 erfolgte die Vermählung von Wilhelms zweitem Sohn, dem Prinzen Wilhelm Friedrich Karl, mit der preußischen Prinzessin Luise Auguste Wilhelmine Amalie, der dritten Tochter König Friedrich Wilhelms III. Wenige Jahre später (1830) heiratete die jüngste Tochter des niederländischen Königs, die Prinzessin Marianne, den vierten Sohn des preußischen Monarchen, Prinz Albrecht. In das gleiche Jahr fiel der Anfang vom Ende der Regentschaft Wilhelms I. Nach inneren Unru­ hen spaltete sich Belgien vom Vereinigten Königreich der Niederlande ab und bildete fortan eine unabhängige Monarchie. Wilhelm, der diesen Schritt nie akzeptierte, war international und im eigenen Land bald isoliert. Hinzu kam der Tod seiner Frau Wilhelmina am 12. Oktober 1837. Des Alleinseins bald überdrüssig, gab der König zwei Jahre später öffentlich seine Absicht bekannt, ein zweites Mal zu heiraten. Die Auserwählte war die Gräfin d'Oultremont, die ehemalige Hofdame Wilhelminas.25 Die Nachricht versetzte die Niederlande in größte Aufregung, da Wilhelm eine morganatische Ehe mit der Gräfin schließen wollte. Während die­ ser Vertrauenskrise trat die niederländische Verfassungsreform in eine neue Phase, doch schie­ nen die Regelungen für Wilhelm unannehmbar zu sein. Sein Widerstand gegen jede Verände­ rung im Äußeren und im Inneren, gepaart mit der Affäre um seine Wiederverheiratung, führ­ ten letztlich am 7. Oktober 1840 zu seiner Abdankung.26 Nach längerem Zögern beschloß er, seinen „Wanderstab" zu nehmen und nach Berlin zurückzukehren.27 Nur wenige betrauerten ehrlich seine Abdankung und seine Abreise. Spottblätter und Spottbilder ergingen sich gegen­ über dem abreisenden Fürsten in gehässigen Giftigkeiten. Bissige Seitenhiebe persönlicher Art gab es von allen Seiten über die Millionen, die er angesammelt hatte, und über die Heiratspläne mit „Jetje Dondermond"28, wie die Gräfin d'Oultremont vom Volk bezeichnet wurde. Eine Karikatur zeigte im Herbst 1840, wie die Gräfin den abgedankten Monarchen am Mantel über die Grenze zieht: Wilhelm winkt noch einmal mit dem Hut, und auf der Schulter trägt er einen prallen Geldsack.29

Letzte Jahre in Berlin

Tatsächlich nahm Wilhelm 20 Millionen Gulden mit nach Berlin und bezog dauerhaft sein Palais in der Straße Unter den Linden. Kurz nach seiner Ankunft im Dezember 1840 verzeich­ net eine zeitgenössische Quelle eine gemeinsame Tafel mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV, mit der der abgedankte Fürst willkommen geheißen wurde.30 In Berlin nannte Wilhelm sich fortan „König Wilhelm Friedrich, Graf von Nassau" (niederländisch: Koning Willem Frederik, graaf van Nassau). Der nur noch nominelle Königstitel wurde ihm niemals streitig gemacht. Für den bevorstehenden Einzug der Gräfin d'Oultremont erfolgten bereits Anfang 1841 umfangreiche Einrichtungsarbeiten in der unteren Etage des Niederländischen Palais. Diese zwangen Wilhelm im Januar 1841 zu einem kurzen Umzug in das Palais des Prinzen Albrecht,

177 also in das Wohnhaus seiner Tochter Marianne und seines Schwiegersohnes.31 Seinen Kindern wie auch der gesamten königlich-preußischen Familie schien die baldige Ankunft der Gelieb­ ten des alten Königs sichtbares Unbehagen zu bereiten. Davon ist folgendes überliefert: „Frau v. d. Goltz, die Hofdame der verstorbenen Königin von Holland, erzählte uns, daß Prinzeß Albrecht zu ihr kam, um ihr zu sagen, daß Gräfin d'Oultremont erwartet werde. Da ihr Vater in dieser Verbindung sein Glück sähe, könne sie nichts dagegen tun, sondern werde der Trauung in ihrem Palais beiwohnen." Auch dem abgedankten Fürsten schien die Angelegenheit pein­ lich zu sein: „König und Königin erzählten, wie ihnen der alte Bräutigam sehr verlegen die Sache mitgeteilt habe. Für die königliche Familie ist es ein unangenehmes Ereignis."32 Doch Wilhelm blieb bei seinen Plänen. Am 14. Juni 1841 traf die Gräfin mit ihrem Bruder in Berlin ein, wo sie im Hotel Petersbourg abstieg. Noch am gleichen Tag ging der alte König zu ihr. Am Tag darauf traf sie mit Prinz Wilhelm33 und Marianne zusammen.34 Die Trauung erfolgte am 16. Juni 1841 im Palais des Prinzen Albrecht und war in einem privaten Rahmen gehalten. Folgende Schilderung ist überliefert: „Den Morgen bekam sie (die Gräfin d'Oultre­ mont, B. B.) den schönsten Schmuck von Perlen und Brillanten, dann fuhr sie allein nach dem Albrechtschen Palais, in schweren weißen Atlas gekleidet; Spitzenschleier, Brillanten und Orangenblüten machten ihren Kopfputz aus. Im Palais angekommen, stand sie einen Augen­ blick auf dem Vorflur still, nicht wissend, wohin sie ihre Schritte lenken sollte, als sich eine kleine Seitentür öffnete und den alten König eintreten ließ, der ihr den Arm bot, sie in die unte­ ren Zimmer zu führen. Hier fanden sich Prinz und Prinzeß Albrecht ein, Graf d'Oultremont (der Bruder der Braut, B. B.), Fürst Wilhelm Radziwill35, Graf Zielen36, Fürst Wittgenstein und die holländischen Herren aus der Begleitung des Königs, um die Trauzeugen des Königs abzugeben. Die Trauung ward nach katholischem Ritus vom Propst Brinckmann37, nach prote­ stantischem vom Prediger Moliere vollzogen. Nach beendeter Zeremonie hat sich die Gesell­ schaft getrennt; erst bei der Tafel haben die Umgebungen der Prinzeß die junge Vermählte gesehen. Wie sonst ist der alte König zuerst eingetreten und hat sich gleich an den holländi­ schen Gesandten Grafen Perponcher gewendet. Dann folgten Prinzeß Albrecht und die Gräfin von Nassau (d. h. die Neuvermählte, B. B.), die, gleich die Damen der Prinzeß anredend, sie gebeten hat, sie so freundlich wie im Haag zu behandeln. Zum Tee blieb das junge Paar bei Prinzeß Albrecht und fuhr abends nach seinem Palais. Prinzeß Albrecht zeigte große Überwin­ dung ; Augenzeugen versichern, wie ihr während der Trauung die Tränen aus den Augen stürz­ ten."38 Das Ehepaar blieb fortan in Berlin wohnen. In den Niederlanden verbesserte sich das Bild Wil­ helms durch großzügige Schenkungen für wohltätige Zwecke. So übersandte er aus seinem enormen Kapital den Angehörigen von verunglückten Scheveninger Fischern 300 Gulden,39 dem evangelischen Armenhaus in Amsterdam 200 Gulden40 und der Gemeinde Dieren sogar 6000 Gulden zum Bau einer Kirche.41 Ansonsten kümmerte sich der alte König wenig um die Politik seines Landes, in das er noch dreimal reiste.42 Sein Tod traf alle überraschend. Am 12. Dezember 1843 starb der erste niederländische König im seinem Palais an einem Schlaganfall. Die „Berlinischen Nachrichten" widmeten ihm einen Nachruf im Stil der Zeit: „Es hat der Vorsehung gefallen, heut Morgen nach 9 Uhr, S. M. den König Wilhelm Friedrich, Grafen von Nassau, aus dieser Zeitlichkeit sanft und schmerzlos abzurufen. Höchstderselbe hatte noch in den Frühstunden den Thee eingenommen, als urplötzlich ein Schlagfluß seinem an großen Ereignissen reichen, vielbewegten Leben, im Bey- sein des vielgeliebten Sohnes, des Prinzen Friedrich der Niederlande k. H. ein Ende machte. Nicht uns geziemt es, das Lob des dahingeschiedenen Monarchen, der als Gast unter uns weilte, zu verkünden. Seine hohe Leutseligkeit, seine überall bewährte Huld und Herablas-

178

i Abb. 3: Wilhelm I., König der Niederlande — nach einem Gemälde von C. H. Hodges, ca. 1816 (Foto aus: Winkler Prins, Geschiedenis der Nederlanden, Teil 3, Amster­ dam/Brüssel 1976, S. 42)

sung, sein ausgezeichneter Wohlthätigkeitssinn - denn kein Hilfsbedürftiger ging von Ihm ungetröstet — machte Ihn auch uns — ganz abgesehen von den vielfachen verwandtschaftlichen Verhältnissen, in welchen der Hochselige zu unserem Königshaus stand — werth und theuer. Daher auch die allgemeine Theilnahme, welche sein plötzliches Ableben erregte, daher auch die tiefe Betrübnis bei allen Denen, welche die Ehre genossen, dem Hochseligen nahe gestan­ den zu haben. So ruht nun der edle Dahingeschiedene aus von seiner Arbeit!"43 Das preußische Königshaus legte zwei Tage nach dem Tod Wilhelms eine vierwöchige Trauer an. Das Niederländische Palais wurde versiegelt und verschlossen und seine Räume für den Trauergottesdienst am 22. Dezember 1843 dekoriert. Alle Gemächer verhängte man mit schwarzen Tüchern. An dem um sieben Uhr abends stattfindenden Trauergottesdienst nah­ men König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, die Königin, die Prinzen und Prinzessinnen und Wilhelms zweiter Sohn, Prinz Wilhelm Friedrich Karl, mit seiner Ehefrau sowie die Gesandten von verschiedenen verwandtschaftlichen Höfen teil. Die Leichenrede hielt der Oberhof- und Domprediger Dr. Ehrenberg. Nach dem Gottesdienst wurde der Sarg zur Ein­ schiffung gebracht, die die „Berlinischen Nachrichten" wie folgt beschrieben: „Abends nach 10 Uhr wurde der Sarg, unter den Militär-Honneurs, von 24 Unteroffizieren auf den achtspän-

179 nigen k. (königlichen; B B.) Leichenwagen gehoben, worauf sich der Conduct, unter dem Geläute der Glocken, die Linden entlang, nach dem Einschiffungsorte, unter Vortritt von k. Stallmeistern, welche Fackeln trugen und der Escorte von Cavallerie-Detachements, in Bewe­ gung setzte. Dort angelangt, wurde der Sarg auf das schon in Bereitschaft gesetzte k. Dampf­ boot getragen, welches unter der Bedeckung zweier k. niederländ. Generalmajore alsbald nach Hamburg abging."44 Dem Zuge folgten König Friedrich Wilhelm IV. und die Prinzen. Der Leichnam wurde per Schiff über Hamburg nach Rotterdam gebracht und am 28. Dezember 1843 in Delft beigesetzt.

Ein Palais „im Zauberschlaf"

Das Niederländische Palais erbte Wilhelms zweiter Sohn Prinz Wilhelm Friedrich Karl (1797—1881), der 1825 seine Nichte, die preußische Prinzessin Luise, geheiratet hatte. Die Gräfin von Nassau hingegen erhielt ein großzügiges Jahrgeld und verließ Berlin.4'' Das nieder­ ländische Prinzenpaar benutzte das Palais fortan bei seinen regelmäßigen Verwandtenbesu­ chen in Berlin. Vor allem mit seinem Schwager Prinz Wilhelm, dem späteren deutschen Kaiser, unterhielt Friedrich herzliche Beziehungen. Beide hatten sich in ihrer Jugendzeit gut kennen- und schätzen gelernt.46 1870 starb Luise. Mit ihrem Tod kam das Niederländische Palais durch Erbgang in den Besitz des preußischen Königshauses.47 Offenbar war dem niederländischen Prinzen Friedrich ein lebenslanges Nutzungsrecht zugestanden worden, denn er bewohnte es weiterhin bei seinen regelmäßigen Besuchen in Berlin. 1873 ließ er das Gebäude sogar in großem Umfang renovie­ ren. Wohl aus Gefälligkeit stellte er das Haus der Tochter des Kaisers regelmäßig zur Verfü­ gung, die es bei ihren Berliner Aufenthalten zusammen mit ihrem Gatten, dem Großherzog von Baden, bewohnte.48 Kaiser Wilhelm schätzte das Haus sehr, weil es unmittelbar neben seinem eigenen Palais lag. Trotzdem scheint es die meiste Zeit leergestanden zu haben. Ein Zeitgenosse berichtet, daß „jedesmal, wenn der Prinz der Niederlande oder die Großherzoglich Badenschen Herrschaf­ ten ihren Aufenthalt in dem Palais genommen haben, (...) das sonst so verschlossene und stille Palais wie aus einem Zauberschlafe (erwacht)". Und weiter wird ausgeführt: „Gleich dem Zauberschlosse in dem Märchen von Dornröschen wird das Palais von der Einwohnerschaft Berlins betrachtet, es ist das einzige Gebäude Unter den Linden, welches in dem steten Geräusch der schönsten Straße Berlins eine fürstliche Ruhe bewahrt."49 Mit dem Tod des Prinzen Friedrich der Niederlande am 8. September 1881 endet — strengge­ nommen — die Geschichte des Niederländischen Palais. Von diesem Zeitpunkt an hatte das Haus Oranien keine Ansprüche mehr auf das Gebäude. Nach mehr als 78 Jahren ging damit ein Kapitel der Geschichte der deutsch-niederländischen Beziehungen zu Ende. Gleichwohl blieb der Name des Palias bis zu seiner Zerstörung erhalten.

Funktionsverlust und Zerstörung

Am 23. April 1883 wurde das Niederländische Palais von der Königlichen Bibliothek („Kom­ mode") erworben, die schon seit längerem unter akuter Raumnot gelitten hatte. Jedoch ging das Gebäude nicht vollständig in den Besitz der Bibliothek über, denn schon am 27. September desselben Jahres tauschte Kaiser Wilhelm I. an der Behrenstraße liegende Grundstücke, die in

180 Abb. 4: Speisesaal im Nieder­ ländischen Palais von C. G. Langhans, um 1779 (Foto aus: Friedrich F. A. Kuntze, Das Alte Berlin, Berlin/Leipzig 1939, S. 92)

seinem Besitz waren, gegen den vorderen Teil des Hauses ein. Damit wurde das Palais zweige­ teilt: Die hinteren Gebäude verblieben bei der Bibliothek, die vorderen bestimmte der Kaiser zum Gästehaus des Hofes. Diese wurden mit dem zur Linken liegenden Wilhelmspalais (Haus­ nummer 37) durch eine aus Glas und Eisen hergestellte Galerie verbunden. Von diesem Zeit­ punkt an war der vordere Teil des Niederländischen Palais praktisch ein Nebenbau des Wil­ helmspalais.50 Weitere Umbauten wurden 1883/84 und 1887 vorgenommen, nach deren Abschluß das Gebäude als Quartier für kaiserliche Gäste sowie als Unterkunft für Hofdamen und Bedienstete genutzt wurde.51 Die hinteren Bauten wurden der Bibliothek am 7. Oktober 1883 übergeben und bekamen die Hausnummer 40—42 in der Behrenstraße. Dorthinein verlegte die Königliche Bibliothek die Karten- und Musikabteilung und das Journalzimmer. Am 15. Oktober 1884 wurde der Lese­ saal eröffnet, obgleich der Ausbau des Hauses noch den ganzen Winter 1884/85 andauerte.52 In dem zur rechten liegenden Gebäude mit der Nummer 35 befand sich 1878 das „Hotel du Nord".53 Bereits 1889 mußte es einem Neubau der Disconto-Gesellschaft weichen, der inner­ halb von zwei Jahren als Erweiterung der Bankgebäude in der Behrenstraße errichtet wurde. Die Disconto-Gesellschaft kaufte 1908 auch einige Hintergebäude des Niederländischen

181 Palais und ließ die Gebäude, die 1787 bis 1794 im Auftrag König Friedrich Wilhelms II. für seine Geliebte errichtet worden waren, abreißen. Bei den Abbrucharbeiten fanden die Bauar­ beiter eine Zinkplatte aus dem Jahre 1794, die den Einbau des Schauspiel-Hauses belegte.54 Durch die Neubebauung des Grundstücks Nr. 35 verschwand 1925 auch die Lindengasse, ein kleiner Zwischenraum zum Niederländischen Palais. Obwohl das Palais durch die mehrfachen Umbauten am Ende des 19. Jahrhunderts stark ver­ ändert worden war, blieb es bis zum Zweiten Weltkrieg in seiner künstlerischen Substanz erhal­ ten. 1908 beschrieb ein Zeitgenosse das Innere des Niederländischen Palais mit folgenden Worten: „Unter den wenigen Gebäuden der alten Zeit, welche noch heute Unter den Linden stehen, ist dies eins der künstlerisch hervorragendsten. Es fällt besonders durch die schöne Säu­ lenhalle ins Auge, die der Fassade ihren vornehmen Charakter gibt. Diese Vorhalle ist bei einem Umbau des Gebäudes schon früher im Jahre 1777 ausgeführt. Die ganze Front ist im Charakter eines maßvollen Barockstils gehalten. Im Innern dagegen sind einzelne Teile im Rokokostil ausgeführt. Erhalten ist die Treppe mit ihrem kunstvollen Geländer aus Schmie­ deeisen. Ferner in einzelnen Räumen die alten Holzvertäfelungen der Wände, die Dekoratio­ nen der Decken und einige der alten Möbel. Das große Prunkstück des Innern ist der hohe, durch zwei Geschosse reichende Speisesaal, der künstlerisch besonders reizvoll durch seine ovale Grundform und durch die imposanten Säulenstellungen ist. Die Decke zeigt ein großes allegorisches Gemälde von der Hand des einst hoch gefeierten Berliner Malers Rode."55 Im Zweiten Weltkrieg wurde das Niederländische Palais zerstört. Seine Reste dienten in den fünfziger Jahren teilweise als Büros. Mit dem Bebauungsplan der „Hauptstadt der DDR" von 1961 wurde sein Schicksal besiegelt. Der Aufbau der Straße Unter den Linden wurde als kul­ turpolitische Aufgabe betrachtet, „die vor der Geschichte bestehen" mußte. Die wiederaufge­ baute Straße — so sahen es die Ostberliner Planer — sollte „Teil des sozialistischen Stadtkerns der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik sein und mit davon künden, daß in unserer Republik das Gesicht der Zukunft ganz Deutschlands geformt wird".56 Mit der noch vorhandenen historischen Bausubstanz verfuhr man rigoros. Die Reste des Niederländischen Palais wurden vollständig beseitigt. An seiner Stelle errichtete man direkt neben dem Wil­ helmspalais ein Duplikat des gut erhaltenen Gouverneurshauses in Stahlbeton-Skelettbau­ weise. Das Original in der Rathausstraße wurde wenig später der Verbreiterung der Fahrbahn geopfert. 1963/64 fügte man die barocke Sandsteinkartusche vom Portalrisalit des Gouver­ neurshauses in den Neubau Unter den Linden ein. Auf diese Weise erhielt das neue Gebäude ein reichverziertes Portal mit einem Balkon, einer Wappenkartusche und einem Adler mit Spruchband. Lediglich die Freitreppe stammt vom Niederländischen Palais, womit sie der ein­ zige erhaltene bauliche Zeuge des ursprünglichen Hauses ist. Ein weiterer Bezugspunkt beider Häuser ist der Zeitpunkt der Entstehung im 18. Jahrhundert und der gemeinsame Baumeister, Friedrich Wilhelm Dietrichs.57 Sowohl das Neue Gouverneurshaus als auch das Wilhelmspa­ lais dienen bis heute der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Universität. Im Gouverneurs­ haus befinden sich neben normalen Arbeits-, Seminar- und sonstigen Nebenräumen eine Reihe laborartiger Einrichtungen, z. B. im ersten Obergeschoß das Didaktische Labor für Phy­ sik- und Chemieunterricht und ein phonetisches Labor. Auch im zweiten Obergeschoß gibt es Arbeits- und Laborräume für Institute der Fakultät. An die adligen niederländischen Bewoh­ ner des früheren Hauses erinnert nichts mehr. Anschrift des Verfassers: Dr. Bert Becker Düsterhauptstraße 2 13469 Berlin

182 Anmerkungen:

1 „Auf den Spuren der Niederländer zwischen Thüringer Wald und Ostsee" wandelte 1991 eine Reihe von Geschichtsforschern aus Deutschland und den Niederlanden. Das gleichnamige Sym­ posium der Deutsch-Niederländischen Gesellschaft e.V. fand am 11./12. Oktober 1991 in der Humboldt-Universität statt; die Referate wurden in einer Broschüre publiziert. Die Ausländerbe­ auftragte des Berliner Senats stellte 1992 in einer großformatigen Broschüre die „vielfältigen und wechselvollen Beziehungen vor, die Berlin mit dem weltoffenen Land an der Rheinmündung ver­ binden. Vgl. Oudeslui js, Diedericke M.: Holländer an der Havel, hg. von der Ausländerbeauf­ tragten des Senats von Berlin, Berlin 1992. 2 Vgl. Bekmann, Johann Christoph: Historische Beschreibung der Chur und Mark Brandenburg, 1. Theil, Berlin 1751, S. 170. 3 Vgl. Strauch, Rudi/Großkopff, Rudolf: Die Deutschen an Hollands Thron. Die Geschichte des Hauses Oranien-Nassau, Oldenburg/Hamburg 1966. 4 Vgl. Schmelz, Ulrich: Das Holländische Viertel in Potsdam, Potsdam 1992. 5 So z. B. im „Baedeker" von Berlin (8. Aufl. 1992), S. 248. 6 Saul, B.: Das Niederländische Palais Unter den Linden Nr. 36, in: Der Bär, Nr. 4/1878, S. 33. 7 Hans Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699—1753). Maler, Gartengestalter, Architekt, Innendekorateur. 1729 erste Kontakte zum Kronprinzen Friedrich; autodidaktische Bildung auf der Berliner Akademie bei Malern und Landbaumeistern. Vgl. Berliner Biographisches Lexikon, Berlin 1993, S. 225 (im folgenden BBL genannt). 8 Vgl. Löschburg, Winfried: Unter den Linden. Gesichter und Geschichten einer berühmten Straße, Berlin/Ost 1972, S. 47 f. 9 Vgl. Saul, S. 35. 10 Carl Gotthard Langhans d. Ä. (1732—1808), Architekt. Er verkörperte die Übergangszeit vom Spätbarock zum Frühklassizimus und erbaute u. a. das Brandenburger Tor. Vgl. BBL, S. 243-244. 11 Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin. Bearb. v. Richard Borrmann, Berlin 1893, S. 321. 12 Christian Bernhard Rode, Mitglied der Kgl. Akademie der Wissenschaften, und Johann Chri­ stoph Frisch. Vgl. Saul, S. 34. 13 Um die Gestalt der Wilhelmine Rietz ranken sich zahlreiche Skandalgeschichten, die hier nicht näher aufgeführt werden sollen. Sie war die Tochter eines Trompeters aus der Spandauer Straße. Der damalige Prinz und spätere König Friedrich Wilhelm II. lernte sie als 14jährige bei ihrer Schwester, einer Figurantin des Kgl. Theaters, kennen. Empört über die schlechte Behandlung durch die Schwester brachte der Prinz sie nach Potsdam und ließ sie ausbilden. Von seinem Regie­ rungsantritt bis zu seinem Tod war Madame Rietz, wie sie im Volksmund hieß, die Geliebte des Königs. Vgl. Saul, S. 45. 14 Michael Philipp Daniel Boumann d. J. (1747-1803); 1778 Berufung zum Geheimen Oberhof­ baurat und Baudirektor, 1794 zum Oberfinanzrat; 1799 Mitbegründer der Bauakademie; Ver­ treter des Frühklassizismus. Vgl. BB1, S. 59. 15 Die „verderbten Verhältnisse am Hofe" und die Rolle des Palais, welches „in der chronique scan- daleuse der preußischen Geschichte einen beachtlichen Platz (einnimmt)", schildert ausführlich Winfried Löschburg in seinen beiden informativen Büchern „Unter den Linden" (a.a. O., S. 78) und „Spreegöttin mit Berliner Bär. Historische Miniaturen" (Berlin/Ost 1987, S. 50—54). 16 Saul, S. 46. 17 Vgl. Borrmann, S. 320. 18 Während Wilhelm V. als ein schwacher Mann ohne Format beschrieben wird, gilt Wilhelmine als eine Frau mit großen Qualitäten und von hellem Verstand. Algemene Geschiedenis der Neder- landen, Bd. IX, Antwerpen u. a. 1961, S. 257; Strauch/Großkopff, S. 65 ff. 19 Es waren (mit niederländischen Namen): 1. Willem Frederik George Lodewijk, 2. Willem Frede­ rik Karel, 3. Pauline und 4. Marianne. Vgl. Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, Bd.I, Leiden 1911, Sp.1539.

183 20 Der Friede von Basel wurde am 5. April 1795 zwischen Frankreich und Preußen geschlossen. Frankreich blieb im Besitz des linken Rheinufers; Preußen zog seine Truppen aus dem Revolu­ tionskrieg zurück. 21 Vgl. Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, Bd. I, Sp. 1562 f. 22 Vom Leben am preußischen Hofe 1815—1852. Aufzeichnungen von Caroline v. Rochow und Maria de la Motte-Fouque, bearb. von Luise v. d. Marwitz, Berlin 1908, S. 38 f. 23 August Wilhelm Anton Neidhardt von Gneisenau (1760—1831), preußischer General und Hee­ resreformer. Im Feldzug von 1815 war er Generalstabschef Blüchers und hatte großen Anteil an den Erfolgen der Befreiungskriege. Vgl. BBL, S. 143 f. 24 Vom Leben am preußischen Hof, S. 38 f. 25 Gräfin Adrienne Louise Flore Henriette d'Oultremont Wegimont (geb. 1792), Tochter eines Lüt- ticher Vaters und einer Amsterdamer Mutter. Sie war 1830 zwar dem Haus Oranien treu geblie­ ben, galt aber in der Öffentlichkeit als eine Belgierin und war zudem katholisch. Vgl. Strauch/ Großkopff, S. 93f. 26 Vgl. G. J. Hooykaas: De politieke ontwikkeling in Nederland 1830—1840, in: Algemene Geschiedenis der Nederlanden, Bd. 11, Bussum 1983, S. 312. 27 Vgl. Hooykaas, S. 313 f. 28 Wörtlich übersetzt: „Donnermund". 29 Vgl. P. J. Blök: Geschiedenis van het Nederlandsche Volk, Bd. 4, Leiden o. J. (1926), S. 357. 30 Vom Leben am preußischen Hof, S. 378 31 Das Palais befand sich in der Wilhelmstraße 102 gegenüber der Kochstraße. 1832 wurde es nach Entwürfen des Baumeisters Schinkel für das Prinzenpaar im Innern prächtig eingerichtet. Vgl. Friedrich Morin: Berlin und Potsdam im Jahre 1860 (Reprint Braunschweig 1980), S. 155 f. 32 Vom Leben am preußischen Hof, S. 384. 33 Bruder von König Friedrich Wilhelm IV, der spätere deutsche Kaiser Wilhelm I. (1797—1888). Vgl. Heinz Börner: Kaiser Wilhelm I. 1797—1888. Deutscher Kaiser und König von Preußen, Köln 1984. 34 Vom Leben am preußischen Hof, S. 384. 35 Sohn des Fürsten Anton (1797—1870), preußischer Generalmajor. Diese und die beiden folgen­ den biographischen Anmerkungen aus: Vom Leben am preußischen Hof, S. 384. 36 Hans Graf v. Zieten (1770—1848), General-Feldmarschall. Seine Mutter war mit der Gräfin d'Oultremont verwandt. 37 Fürstbischöflicher Delegat in Berlin, Propst an der St.-Hedwigs-Kirche. 38 Vom Leben am preußischen Hof, S. 384. 39 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen. In der Haude und Spenerschen Zei­ tungs-Expedition, Nr. 27, 2. Februar 1841. 40 Berlinische Nachrichten, Nr. 80, 5. April 1841. 41 Berlinische Nachrichten, Nr. 184, 9. August 1843. 42 Vgl. Blök, S. 366. 43 Berlinische Nachrichten, Nr. 292, 12. Dezember 1843. 44 Berlinische Nachrichten, Nr. 302, 23. Dezember 1843. 45 Das Testament des verstorbenen Königs schloß seine hinterlassene Gemahlin von der Erbfolge aus. Die Gräfin begab sich nach einer Trauerzeit zu ihren Verwandten und lebte noch mehr als 20 Jahre, zuletzt auf Schloß Rahe bei Aachen. Vgl. Strauch/Großkopff, S. 95. 46 Prinz Friedrich, der 1797 in Berlin geboren wurde, verlebte seine Jugend bis zur Rückkehr der Oranier in die Niederlande (1815) in Berlin. In dieser Zeit entstanden Jugendfreundschaften mit dem späteren König Friedrich Wilhelm IV. und Prinz Wilhelm I. Vgl. Nieuw Nederlandsch Bio­ grafisch Woordenboek, Bd. I, Sp. 896 ff. 47 Vgl. Klünner, Hans-Werner: Das Panorama der Straße Unter den Linden vom Jahre 1820,2. Teil, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Nr. 2/1965, S. 23. 48 Luise (1838—1923), seit 1856 verheiratet mit Friedrich I., Großherzog von Baden. Vgl. Börner (Beilage). 49 Saul, S. 46.

184 50 Vgl. Schulz, Wolfgang: Stadtführer durch das historische Berlin, 2., verb. Aufl., Berlin 1981, S.49. 51 Vgl. Borrmann, S. 320. 52 Vgl. Paunel, Eugen: Die Staatsbibliothek zu Berlin. Ihre Geschichte und Organisation während der ersten zwei Jahrhunderte seit ihrer Eröffnung (1661—1871), Berlin 1965, S. 352—356. 53 Vgl. Saul, S. 33. 54 Vgl. Löschburg, Unter den Linden, S. 78. 55 Voß, Georg: Die Straße Unter den Linden um das Jahr 1822. Bilderreihe in der Privatsammlung des Hofkunsthändlers Louis Meder, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Nr. 4/1908, S. 77 f. 56 HansGericke: Aufbau der Straße Unter den Linden, in: Deutsche Architektur 11/1962, S. 636. 57 Das Gouverneurshaus wurde 1721 von M. H. Böhme und Friedrich Wilhelm Dietrichs erbaut. Vgl. Schulz, S.49.

185 Studienfohrt zur ßergboustodt Freiberg vom 10. bis 12. September 1993 Die gute Hoffnung, in diesem Heft der „Mitteilungen" fristgerecht das vollständige Programm der Exkursion nach Freiberg in Sachsen veröffentlichen zu können, trog trotz der Unterstüt­ zung, die uns Dr. Ulrich Thiel, Direktor des Stadt- und Bergbaumuseums Freiberg, und Dr­ ing. Heinz-Michael Eßlinger, Vorstand der Freiberger Brauhaus AG, haben zuteil werden lassen. Zwar wurde uns von der Freiberg-Information die nötige Zahl an (Einzel-)Zimmern zugesagt, bislang konnten wir aber weder die Hotels, noch die Übernachtungspreise in Erfah­ rung bringen. Hier steht deswegen nur das in groben Zügen abgesprochene Programm, noch nicht der exakte Ablauf der Studienfahrt und auch noch nicht der Teilnehmerbeitrag nebst Angabe der Kosten für die Unterkunft. Wer Lust verspürt, sich der Reisegruppe anzuschließen, wird gebeten, dies dem Schriftführer formlos und ohne Verbindlichkeit mitzuteilen. Allen Interessenten wird dann das endgültige Programm mit allen erforderlichen Angaben zusammen mit einem Antwortbogen zugehen, dessen Rücksendung dann die Entscheidung für die Teilnahme bedeutet.

Vorläufiges Programm Freitag, 10. September 1993 Abfahrt von der TU Berlin, Straße des 17. Juni Eintreffen in den Hotels, Mittagessen Besichtigung der Übertageanlage der „Alten Elisabeth"/alternativ des Freiberger Brauhauses Besichtigung des Stadt- und Bergbaumuseums mit Einführungsvortrag Kaffeepause Dombesichtigung Ausklang des Tages in der historischen Gaststätte „Brauhof"

Sonnabend, 11. September 1993 Stadtführung Besichtigung der Petrikirche Führung durch das Rathaus Gemeinsames Mittagessen Bergbauhistorische Exkursion über die Silberstraße mit Kaffeepause Gemeinsamer Theaterbesuch

Sonntag, 12. September 1993 Fortsetzung der Bergbauhistorischen Exkursion Gemeinsames Mittagessen Heimreise über Kloster Nossen, Kaffeepause unterwegs

Auf Zuschriften, die Interesse an dieser ersten Studienreise des Vereins nach Sachsen bekun­ den, freut sich Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Seestraße 13, 13353 Berlin, Telefon 4 50 92 64 oder 4 0142 40 möglichst bis zum 1. August (wie gesagt unverbindlich), was die Teilnahme nicht ausschließt, wenn die Anmeldung erst später eingeht, sofern denn die Ex­ kursion zustande kommt! Bitte drücken Sie die Daumen! SchB.

186 Im I. und IL Quartal 1993 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:

Hans-Joachim v. Albert, Bundesrichter i. R. Wolfgang Leren, Kunsthistoriker Alemannenstraße 4 Hohenschönhauser Straße 10 7500 Karlsruhe 0-1156 Berlin Tel. (07 21) 8178 65 (Wolf-D. Scherbius) Tel. 9 725213 Anneliese Grajek, Dr. Manfred Rosenbach, Seminarleiter Kardinal-Schulte-Straße 25 Oertzenweg 28 c 5060 Bergisch-Gladbach 1000 Berlin 37 Fritz Peter Hoppe, Offizier der Bundeswehr Tel. 8 028614 (Schröter) Sophie-Charlotte-Straße 32 a Eva Träder, Musiklehrerin i. R. 1000 Berlin 37 (Grave) Königstraße 4 a 14109 Berlin Tel. 805 5563 (Dr. Knop)

Empfehlung der Redaktion:

Im Heft 2/1993 war das Inhaltsverzeichnis der Jahrgänge 84—87 den Mitteilungen beigefügt worden. Wie immer liegt ein Angebot des Buchbinders der Bibliothek vor. Bei genügender Beteiligung ergibt das Binden mit Rückentitel (einschl. MwSt) 35 DM. Wir bitten den Hefte­ satz mit Inhaltsverzeichnis bis spätestens 25. August in der Bibliothek des Vereins (Berlin- Wilmersdorf, Berliner Straße 40) abzugeben. Für eine einmalige zügige Abrechnung bitten wir den vorgenannten Betrag vertrauensvoll mit den gesammelten Heften und dem Inhalts­ verzeichnis in der Bibliothek zu hinterlegen. Die Bibliothek ist geöffnet jeden Mittwoch, 16 bis 19.30 Uhr.

Den Tauschpartnern die neue Anschrift zur Kenntnis:

Verein für die Geschichte Berlins Bibliothek Berliner Straße 40 10715 Berlin

187 Veranstaltungen im III. Quartal 1993

1. Freitag, den 30. Juli 1993,17.00 Uhr: Sommerausflug des Vereins für die Geschichte Ber­ lins, gegr. 1865. Besuch des „Feuerstättenmuseums" in Mahlsdorf, dem einzigen Feuer­ stättenmuseum in Deutschland (Melanchthonstraße 63, Ecke Albrecht-Dürer-Straße). Eintritt 1 DM pro Person. Anschließender gemütlicher Imbiß (Grill) mit Getränken im Garten oder in den Räumen des Museums, mit Kostenbeteiligung. Führung durch die Museumsleute. Fahrverbindungen: S-Bahn bis Bhf. Mahlsdorf. Von dort (Haltestelle vor dem Lampengeschäft) mit den Bussen 154, 198 oder 295 drei Stationen bis Rosenhaag. Für Autofahrer: B 1 bis Mahlsdorf. Ampelkreuzung Hönower Straße, dort links ab. Anmeldungen bis zum 27. Juli unter 8 54 58 16 ab 19.00 Uhr. Im Monat August Sommerpause. 2. Donnerstag, den 9. September 1993,16.30 Uhr: Besuch der Ausstellung „Berlin, 17. Juni 1953". Führung: Herr Andreas Mahal. Landesarchiv, Kalckreuthstraße 1—2. 3. Freitag, den 10. September 1993, bis Sonntag, den 12. September 1993: Studienfahrt zur Bergbaustadt Freiberg. Leitung Herr Dr. Hans Günter Schultze-Berndt. 4. Sonnabend, den 18. September 1993, 10.00 Uhr: Besuch des Friedhofes I der Georgen- Parochial-Gemeinde, Greifswalder Straße 229/234. Führung durch die Damen Kerstin Hentschel und Martina Jesse. Treffpunkt am Friedhofsportal. Fahrverbindungen: Ab U-Bahnhof Rosa-Luxemburg-Platz drei Stationen mit der Straßenbahn: Linien 2, 3 und 4. Für Spaziergänger zu Fuß ab Alexanderplatz.

Bibliothek: Berliner Straße 40, 10715 Berlin, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 13597 Berlin, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 12209 Berlin, Telefon 772 34 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 13353 Berlin, Telefon 45 09-264. Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin, Telefon 7 5342 78. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2,10825 Berlin; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

188 A 1015 F MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

89. Jahrgang Heft 4 Oktober 1993 -fc- Podictt. ' o i n e k

Porträt des Berliner Pharmazeuten und Chemikers Martin Heinrich Klaproth. Ölgemälde, nicht vor 1811. Martin Heinrich Klaproth (1743-1817) Zum 250. Geburtstag des bedeutenden Berliner Pharmazeuten und Chemikers

Von Günter Hoppe

In der großen Reihe der berühmten Naturwissenschaftler, die in Berlin gewirkt haben, nimmt Martin Heinrich Klaproth einen ehrenvollen Platz ein. Sein Wirken beginnt noch in der Zeit der letzten von der Alchimie beeinflußten Goldmacher und Wunderheiler und war bestimmt vom beharrlichen Bestreben, den Beruf des Apothekers auf eine exakte wissenschaftliche Basis zu stellen sowie die verbreiteten Geheim- und Schwindelrezepte durch analytische Aufklärung zu bekämpfen. Hierauf fußt das erste preußische Arzneibuch (Pharmacopoea Borussica), das er mit anderen im Jahre 1799 herausgab1 und dem eine große Vorbildwirkung innewohnte, die weit über Preußen hinausging. Klaproths Hauptarbeitsmethode war die experimentelle Aufklärung der chemischen Zusam­ mensetzung von Stoffen durch chemische Analyse. Es gelang ihm, dieses Verfahren zu hoher Vollkommenheit zu entwickeln, und er wandte es zunehmend auch auf Naturkörper an, die keine direkten Beziehungen zur Pharmazie besaßen, auf Minerale und Gesteine. Dabei arbei­ tete er Verfahren aus, sog. Aufschlußverfahren, mit denen es gelang, auch solche Stoffe, wie z. B. Edelsteine, der Analyse zugänglich zu machen, bei denen dies bis dahin nicht gelungen war. Als Ausgangsstoffe für die Analysen legte er sich eine umfangreiche Sammlung von Mine­ ralen an und arbeitete mit dem jungen Berliner Mineralogen Dietrich Ludwig Gustav Karsten (1768—1810) zusammen, der ihn u. a. bei der mineralogischen Identifizierung der Minerale unterstützte. Die sehr zahlreichen chemischen Mineralanalysen, die Klaproth mit einer bis dahin unbekann­ ten Genauigkeit ausführte, machten ihn zu dem führenden Vertreter der Mineralchemie seiner Zeit.2 Er besaß einen ungewöhnlich scharf ausgeprägten Sinn für die Unterscheidung der che­ mischen Reaktionen, und so gelang es ihm mehrfach — man könnte fast sagen als Nebenergeb­ nis —, noch unbekannte chemische Elemente in den untersuchten Mineralen zu entdecken. Dies begann im Jahre 1789 mit den Entdeckungen der Elemente Zirkonium und Uran.3 Dann folgten die Elemente Strontium, Titan und Tellur sowie nach der Jahrhundertwende das Ele­ ment Cer. Diese wurden auch noch von anderen Chemikern entdeckt, nahezu zeitgleich, aber unabhängig von Klaproth. Außer Cer erhielten die Elemente ihre Namen von ihm. Mit den Elemententdeckungen krönte Klaproth seine unermüdlichen, in den sechs Bänden seiner „Beiträge zur chemischen Kenntnis der Mineralkörper"4 zusammengefaßten und für die Mineralogie unschätzbaren Untersuchungen, die er mit besonderer Liebe ausgeführt hat. Im Gegensatz zu dieser experimentellen Tätigkeit besaß Klaproth jedoch zeit seines Lebens eine tiefe Abneigung gegen Hypothesen und Theorienbildung. Eine Ausnahme bildete seine Abkehr von der herrschenden Phlogistonlehre und Anerkennung der Sauerstofftheorie des französischen Chemikers Antoine Laurent Lavoisier (1743—1794), die er aufgrund eigener Experimente im Jahre 1793 vollzog. Es ist ferner darauf hinzuweisen, daß Klaproth seine ersten großen chemischen Erfolge erst sehr spät erreicht hat, die ersten Elemententdeckungen mit 46 Jahren. Dies steht mit seinem Werdegang in engem Zusammenhang. Geboren wurde Klaproth am 1. Dezember 1743 in Wernigerode am Harz als Sohn eines durch den Stadtbrand von 1751 verarmten Schneidermeisters, und so war ihm der Besuch der höhe­ ren Schule nur durch Gelderwerb beim Kurrendesingen möglich. Ein Jahr vorzeitig verließ er die Schule und trat 1758 als Lehrjunge in die Ratsapotheke in Quedlinburg ein. Der damalige

190 Apothekenbetrieb war noch ganz handwerksmäßig. Klaproth sagte darüber: „Eines von mei­ nem Lehrherrn genossenen Unterrichts kann ich mich nicht rühmen, sondern ich mußte mich nach damaliger Sitte mit demjenigen begnügen, was ich von dem handwerksmäßigen Verfah­ ren meiner älteren Mitgenossen absah und durch sparsames Lesen eines oder des anderen ver­ alteten Apothekerbuches, wozu aber überhaupt wenig Muße vergönnt war, mir zu eigen machen Gelegenheit fand."5 Die Gesellenjahre, die er in Quedlinburg, Hannover, Berlin6 und Danzig zubrachte, boten auch nur geringe Möglichkeiten der Weiterbildung, die er jedoch mit der ihm eigenen Initiative konsequent nutzte. Nach halbjähriger Tätigkeit in Danzig wurde Klaproth im Jahre 1771 von dem schwerkranken Berliner Apotheker Valentin Rose d. Ä. (1736—1771) in dessen Apotheke zum weißen Schwan gerufen. Für Klaproth war es ein besonderer Glücksfall, kam er doch dadurch in Ver­ hältnisse, die für seine Weiterbildungsbestrebungen ungewöhnlich günstig waren. Von Rose, der wissenschaftliche Ambitionen hatte, stammt das noch heute bekannte „Rosesche Metall", auch war er ein Schüler des berühmten Chemikers der Berliner Akademie der Wissenschaften und früheren Apothekers Andreas Sigismund Marggraf (1709—1782) und hatte eine Nichte Marggrafs geheiratet. Rose verstarb vier Wochen nach Klaproths Eintritt und setzte ihn noch auf dem Sterbebett als Verwalter seiner Apotheke und als Vormund seiner Kinder ein. Neun Jahre lang hat Klaproth die Schwan-Apotheke, die in der Spandauer Straße gegenüber der Heilig-Geist-Kapelle lag, als Provisor verwaltet. Der älteste Sohn Roses, Valentin Rose d.J. (1762—1807), ging in dieser Zeit als Apothekerlehrling nach Frankfurt am Main und übernahm später die väterliche Apotheke, 1785 als Provisor und 1790 als Besitzer. Er wurde ein enger Vertrauter Klaproths und z.T. auch Mitarbeiter bei dessen mineralchemischen Arbeiten.7 Im Jahre 1780 konnte Klaproth mit 37 Jahren den entscheidenden Schritt seines Lebens tun. Er heiratete Christiane Sophie Lehmann, und nun war es ihm, dem von Haus aus völlig Mittel­ losen, möglich, eine Apotheke zu kaufen, offensichtlich mit Geldern der Familie seiner Frau, ebenfalls einer Nichte Marggrafs. Es war die in früherer Zeit im Besitz der Familie Marggraf gewesene Bären-Apotheke, die sich auch in der Spandauer Straße, aber nahe der Nikolaikirche an der Ecke Probststraße befand. Durch großen Fleiß hat Klaproth diese Apotheke mit bald drei Gesellen, dazu noch Lehrlingen, zu einer der bedeutendsten Apotheken Berlins machen können, wozu die von ihm betriebene vorbildliche Ausbildung seines Personals viel beitrug. Jetzt konnte er sich auch ein kleines besonderes Laboratorium einrichten und seinen speziellen wissenschaftlichen Neigungen ohne Vernachlässigung beruflicher Pflichten nachgehen. Hier, im Laboratorium seiner privaten Apotheke, hat Klaproth den größten Teil der chemischen Entdeckungen gemacht, die seinen Weltruhm begründeten. Aber Klaproth vergrub sich trotz seiner großen Liebe zum experimentellen Arbeiten nicht in seinem Laboratorium. Er begann schon bald, dem Vorbild zahlreicher Gelehrter in Berlin zu folgen und privaten Unterricht in Form von Vorlesungen abzuhalten. Er las regelmäßig über Chemie, was bei einem breiten Publikum großen Anklang fand. Dies hatte die Folge, daß er als Lehrer der Chemie von mehreren Berliner Institutionen herangezogen wurde, vom Collegium chirurgicum, von der Bergakademie und von Artillerie-Schule bzw. -Akademie sowie als Prü­ fer vom Ober-Collegium medicum. Klaproth muß ein beliebter Lehrer gewesen sein. Sein Vor­ trag wird als „einfach und ungeschmückt, aber klar, bestimmt und gedrängt" beschrieben.8 Aber nicht nur als Lehrer war Klaproth beliebt, auch im lebhaften Gesellschaftsleben Berlins muß er ähnlich gewirkt haben. Die Liste seiner aktiven Mitarbeit ist lang und beginnt mit der Zugehörigkeit zu den Freimaurern. Bereits 1776 wurde er in die Loge zur Eintracht aufgenom­ men und stieg, nachdem er 1793 Meister vom Stuhl geworden war, schließlich bis zum zugeord-

191 neten National-Großmeister im Altschottischen Direktorium auf. Er bildete einen Gegenpol zu der gegen die Aufklärung gerichteten mystisch-alchimistischen Haltung Johann Christoph v. Wöllners (1732—1800), womit dieser den König Friedrich Wilhelm II. beherrschte. Die Gesellschaft naturforschender Freunde Berlins nahm Klaproth 1786 auf und wählte ihn bereits 1791 zum ordentlichen Mitglied, was die turnusmäßige Abwechselung des Direktoram­ tes mit den übrigen elf ordentlichen Mitgliedern bedeutete. Diese Vereinigung war eine private Gründung von 1773 und traf sich regelmäßig wöchentlich zu Vorträgen und Aussprachen über Themen der Naturkunde aller drei Naturreiche. Klaproth nahm, wie die ausführlichen Tagebü­ cher der Gesellschaft9 belegen, ohne Unterbrechungen am Leben der Gesellschaft teil und berichtete oft über die Ergebnisse seiner Mineralanalysen. Eine ökonomische, modern anmutende Zielsetzung verfolgte die Holzsparende Gesellschaft von 1788, die aber nach dem Brand des Friedrichswerderschen Rathauses (1795), wo sie ihren Sitz hatte, bald wieder einging. Klaproths Beteiligung an ihren Bestrebungen geht aus einem Vortrag hervor, den er später vor der Märkisch-ökonomischen Gesellschaft in Potsdam gehal­ ten hat.10 Er behandelte darin die möglichst vollständige Ausnutzung der Brennstoffe, speziell Holz, die dadurch erreicht werden kann, daß die Verbrennung der entstehenden Gase und der Holzkohle im Ofen räumlich getrennt wird. In der von ihm vorgeschlagenen Form setzte sich sein Gedanke nicht durch. Erst viel später wurde ähnliches in der Koks- und Gaserzeugung verwirklicht. Diese Betätigungen genügten Klaproth offensichtlich nicht. Nachdem es ihm im Sommer des Jahres 1800 gelungen war, einige Zusammenkünfte von interessierten Wissenschaftlern über Experimentalchemie und über Elektrizität zustande zu bringen, entwickelte sich daraus noch im gleichen Jahr die Philomathische Gesellschaft unter Klaproth als Direktor. Philomathie sollte die Liebe zu Kenntnissen überhaupt und zu allem Wissenswerten bedeuten. Von den Mitgliedern wurden reihumgehend Vorträge aus allen Wissenschaftsgebieten gehalten.11 Im Jahre 1806 bestand die Gesellschaft noch. Danach ging das Interesse an ihr zurück. Schließlich sind noch zwei im Jahre 1810 gegründete Gesellschaften zu nennen, an denen Klaproth beteiligt war. Eine davon war die von dem bekannten Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762—1836) gegründete Medizinisch-chirurgische Gesellschaft in Berlin12, in der Klaproth von 1812 an mehrfach Vorträge über die Ausübung des tierischen Magnetismus in Paris und über pharmazeutisch-chemische Themen hielt. Im Jahre 1814 wurde er zu einem der sieben Vorsteher dieser Gesellschaft und ihrer Sparten gewählt. Die andere Vereinigung ist die Gesellschaft für Natur- und Heilkunde13, die sich der Zusammenhänge zwischen Medizin und Naturwissenschaft annahm und die Beziehungen zur Philosophie eifrig diskutierte. Klaproth, der hier Gründungsmitglied war, hat sich auch für diese Probleme lebhaft interessiert. Die Aufnahme Klaproths in die Akademie der Wissenschaften in Berlin als Mitglied, die im Jahre 1788 erfolgte, hatte vor allem den Charakter der offiziellen Anerkennung. Allerdings stand die Akademie damals, u. a. bedingt durch die veralteten Statuten und das Auswahlver­ fahren, nicht in besonderer Blüte14, auch erhielt Klaproth zunächst keine Besoldung, die sonst bei ordentlichen Mitgliedern üblich war. Dennoch bestand für Klaproth die Aussicht, eventuell einmal ordentlicher Chemiker der Akademie und damit ein Nachfolger des großen Marggrafs zu werden. Diese verlockende Aussicht trat tatsächlich ein, aber erst nach zwölf Jahren, als der damalige Chemiker der Akademie, Franz Carl Achard (1753—1821), seine im großen Stil angestellten Versuche zur technischen Verwertung der Marggrafschen Zuckerentdeckung in Runkelrüben erfolgreich beendete und das Laboratorium sowie die Chemikerstelle freigab. So wurde Klaproth im Jahre 1800 ordentlicher Chemiker der Akademie. Er gab sogleich seine private Apotheke auf, da ihm das Laboratorium nebst einer kleinen Dienstwohnung im glei-

192 chen Haus zur Verfügung gestellt wurde. Beides lag in der Dorotheenstraße (Clara-Zetkin- Straße), nahe der Akademie, die im Obergeschoß des königlichen Marstalls Unter den Linden untergebracht war. Allerdings mußte Klaproth erst noch einen Neubau des Laborgebäudes nebst Hörsaal abwarten, da dieses, wie Klaproth schrieb, durch die „wohllöbliche Runkel- Rüben-Roh-Zucker-Fabrikations-Kommission", der er übrigens auch selbst angehört hatte, vollkommen verdorben und unbenutzbar geworden war.15 Darüber gingen drei Jahre hin. Danach hat Klaproth wieder experimentell gearbeitet und knüpfte an frühere Erfolge an (Ent­ deckung des Cers 1804), obwohl er den Höhepunkt seiner analytischen Leistungen schon zuvor erreicht hatte. Die private und institutionelle Vorlesungstätigkeit führte er wie zuvor weiter, da die Akademie nur ein sehr bescheidenes Gehalt zahlte. Im Jahre 1806 veränderte sich unter dem Ansturm Napoleons die Situation in Preußen vehe­ ment. Es kam zum Zusammenbruch des Heeres und zum Verlust der westlichen Landesteile einschließlich der Universität Halle. So war die Gründung der Berliner Universität ein Akt hoher nationaler Bedeutung. Er wurde möglich durch die Zusammenfassung aller bereits in Berlin vorhandener Lehr- und Ausbildungspotentiale. Für Klaproth brachte die Neugründung die Berufung als Professor der Chemie, für den bereits 67 Jahre alten Autodidakten eine noch­ malige Anerkennung. Das Laborgebäude der Akademie wurde nun zugleich auch für die Uni­ versität genutzt. Wie die Vorlesungsverzeichnisse ausweisen, hat Klaproth in jedem Semester über experimentelle und analytische Chemie gelesen und chemische Versuche vorgeführt. Aber bereits nach vier Jahren ging dies zu Ende, da seine Gesundheit durch Schlaganfälle immer mehr beeinträchtigt wurde. Er verstarb am 1. Januar 1817 im 74. Lebensjahr. Klaproths Wertschätzung reichte zu seinen Lebzeiten weit über Berlin hinaus. Sie zeigt sich auch in den zahlreichen Porträts, die von ihm bekannt sind. Sein Biograph E. Dann verzeichnet insgesamt 16 Porträts in Form von Stichen, Lithographien, Büsten, Reliefs und einem Ölge­ mälde.16 Die Entwicklung der chemischen Wissenschaft blieb natürlich nach Klaproth nicht stehen, sie ist im Gegenteil durch ihn noch beschleunigt worden. Bereits in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts stellte der Berliner mathematisch interessierte Chemiker Jeremias Benja­ min Richter (1762—1807) anhand von Analysen mit Genauigkeiten, wie sie Klaproth erreicht hatte, dar, daß die Elemente in Verbindungen mit bestimmten Verhältnisgewichten auftreten. Dies setzte der berühmte schwedische Chemiker Jons Jakob Berzelius (1779—1848) durch Berücksichtigung der elektrochemischen Eigenschaften der Elemente fort, wodurch er zur Aufstellung chemischer Formeln gelangte. Damit wurden die chemischen Verhältnisse aller aus mehreren Elementen zusammengesetzten Verbindungen leicht übersehbar. Diese und weitere Fortschritte ließen Klaproths Leistungen vorübergehend geringer erscheinen, zumal er sich auf theoretischem Gebiet nicht betätigt hatte. Der berühmte Berliner organische Chemiker August Wilhelm Hofmann (1818—1892) war der erste, der Klaproths Bedeutung für die Entwicklung der Chemie wieder klar erkannte und her­ ausstellte.17 Sein Urteil über Klaproth ist sehr treffend. Neben den wissenschaftlichen Leistun­ gen würdigt Hof mann auch das Verhalten Klaproths Fachkollegen gegenüber. Hierzu soll Hof­ mann zu Wort kommen:18 „Die scharfe Beobachtungsgabe Klaproths und die nüchterne Erklärung des Beobachteten, durch welche er zu so zahlreichen und großartigen Entdeckungen geführt worden war, haben ihn oft genug die Fehler seiner Vorgänger erkennen lassen. Bezeichnend für den Mann, der so viele Entdeckungen darzulegen, so viele Irrtümer zu berichtigen hatte, ist der Geist, in wel­ chem er sich der einen wie der anderen Aufgabe entledigt hat. Von einer Bescheidenheit, der jede Überhebung fern liegt, voll Anerkennung für die Verdienste Anderer, rücksichtsvoll für fremde Schwäche, aber von unerbittlicher Strenge in der Beurteilung der eigenen Arbeit, hat

193 uns Klaproth für alle Zeiten das Vorbild eines echten Naturforschers gegeben." Hofmann stiftete im Jahre 1881 zusammen mit 16 Persönlichkeiten aus Wissenschaft und che­ misch-pharmazeutischer Industrie eine Marmorbüste Klaproths für die Aula der Universität. Sie befindet sich heute in der Ausstellung des Museums für Naturkunde der Humboldt-Uni­ versität.19 Klaproth fand seine Grabstätte auf dem Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrichs- werderschen Gemeinden. Eine Nachricht über sein Grab aus dem Jahre 1869 lautet :20 „Wenn wir den Hauptgang verfolgen, tritt uns an seinem Endpunkte ein mächtiges altes Monument entgegen. Ein großes eisernes Kreuz, auf drei Stufen sich erhebend, ragt — fast das älteste Grabmal auf diesem Kirchhofe — hart am Oranienburger Tor über die Kirchhofsmauer hervor. (...) Ein merkwürdiges Denkmal! Das erste Grabkreuze, das aus der Königlichen Eisengieße­ rei hierselbst hervorgegangen, ein Werk, das in dankbarer Anerkennung der Verdienste des großen Chemikers, Akademie und Eisengießerei vereint seinem Andenken geweiht haben."21

Abb. 1: Situationsskizze des südlichen Teils des Friedhofes der Dorotheenstädtischen und Friedrichs- werderschen Gemeinden im Zustand des Jahres 1866 mit eingetragener Baufluchtlinie (gestrichelt), nach der der Friedhof im Jahre 1889 zur Anlage der Hannoverschen Straße verkleinert wurde. Grabstellen: 1 M. H. Klaproth, 2 C. W. Hufeland, 3 J. G. Schadow, 4 G. W. F. Hegel, 5 J. G. Fichte.

Leider sind das Grab und das Grabmal nicht erhalten geblieben. Im Zuge der Entfernung der Stadtmauer wurden die Wege, die an deren Innenseite verliefen, auf das heutige Maß verbrei­ tert. So entstand anstelle einer schmalen „Communication" zwischen dem Oranienburger und dem Neuen Tor die Hannoversche Straße von 30 m Breite (8 Ruthen). Der Platz dafür konnte wegen der Artillerie-Kaserne nicht stadteinwärts gewonnen werden. Deshalb wurde das Fried­ hofsgelände, das von außen bis an die Stadtmauer reichte, entsprechend einer Baufluchtlinie, die durch „Allerhöchsten Erlaß" vom 20. Juni 1865 genehmigt war, um fast 21 m Breite ver­ kleinert. Ein Plan aus dem Jahre 1866, nach dem 1889 im wesentlichen verfahren wurde, infor­ miert hierüber. Betroffen waren etwa 200 Gräber, von denen fast 90 noch namentlich gekenn­ zeichnet waren. Diese lagen im dicht ausgenutzten westlichen Teil. Der östliche Teil hatte ältere Gräber und, fast allein noch mit Grabmal versehen, das Grab Klaproths. Einige Gräber bedeu­ tender Persönlichkeiten wurden umgelegt, u.a. von Johann Gottlieb Fichte (1762—1814),

194 Abb. 2: Gußeisernes Grabmal für Martin Heinrich Klaproth. Hergestellt in der Königlichen Eisengießerei in Berlin.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) und Johann Gottfried Schadow (1764—1850). Klaproths Grab wurde eingeebnet, es geriet unter den Fußweg vor dem später erbauten Haus Nr. 131 der Chausseestraße. Das Grabkreuz ist verschollen.

Anmerkungen

Der Autor dankt für Hinweise und Hilfen mehreren Kolleginnen und Kollegen des Institutes für Mineralogie und der Handschriftensammlung im Museum für Naturkunde der Humboldt-Universi­ tät zu Berlin, des Landesarchives Berlin sowie Herrn Professor Dr. E. Vaubel. 1 Die erste Auflage der Pharmacopoea Borussica gab Klaproth zusammen mit J. L. Formey, S. F. Hermbstaedt und V. Rose d. J. heraus. 2 Hoppe, G.: Martin Heinrich Klaproth als Mineralchemiker und Mineralsammler. In: Der Auf­ schluß, Heidelberg, Jg. 40, 1989, S. 201-214.

195 3 Die spätere Bedeutung des Urans, die über Wohl und Wehe der Menschheit entscheiden kann, war von Klaproth unmöglich voraussehbar. — Die Eigenschaft der Radioaktivität wurde 1896 von H: Becquerel und die der Kernspaltung 1938 von O. Hahn und F. Straßmann entdeckt. 4 Klaproth, M. H.: Beiträge zur chemischen Kenntnis der Mineralkörper. Bd. 1,1795, Bd. 2,1797, Bd. 3,1802, Bd. 4,1807, Posen, Berlin; Bd. 5,1810, Berlin, Leipzig; Bd. 6,1815, Berlin, Stettin. 5 Dann, G. E.: Martin Heinrich Klaproth (1743—1817). Ein deutscher Apotheker und Chemiker. Sein Weg und seine Leistung. Berlin, 1958, X + 171 S. (S. 15). 6 Klaproth war von 1768 bis 1770 in der Berliner Apotheke zum Engel, an der Ecke Mohren- und Mauerstraße, tätig. 7 Nach dem frühen Tod Valentin Roses d. J. nahm sich Klaproth dessen drei Söhnen an: Wilhelm (1792-1867) wurde Apotheker, Heinrich (1795-1864) Chemiker und Gustav (1798-1873) Mineraloge, die beiden letzten Professoren an der Universität Berlin. 8 Siehe Anm. 5, S. 67. 9 Vorhanden im Bestand GFN der Handschriftensammlung des Museums für Naturkunde der Humboldt-Universität Berlin. 10 Klaproth, M. H.: Über die möglichst vollständigste Benutzung der Brennmaterialien bei Heizung der Öfen. In: Allgem. Journal der Chemie, Hrsg. A. N. Scherer, Bd. 9, 1802, S. 227-284. 11 Über die Philomathische Gesellschaft in Berlin erschien eine Nachricht in der Neuen Berlinischen Monatsschrift, Hrsg. J. E. Biester, Jg. 11, 1804, S. 231-235. 12 Anonym: Geschichtliche Darstellung der Hufelandischen Gesellschaft zu Berlin. Berlin, 1833. 13 Harndt, E.: Das Wirken der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde im 19. Jahrhundert. Festvor­ trag auf dem 164. Stiftungsfest am 3. Februar 1974. 14 A. v. Humboldt hatte dafür drastische Worte, als er die Akademie mit einem „Siechenhaus" ver­ glich, „in dem die Kranken besser schlafen als die Gesunden". 15 Siehe Anm. 5, S. 41. 16 Siehe Anm. 5, S. 105-108 und Tafeln I, X-XXHI. 17 Hofmann, A. W.: Chemische Erinnerungen aus der Berliner Vergangenheit. Berlin, 1882, S. 23-26. 18 Siehe Anm. 17, S. 25. 19 Hoppe, G., Damaschun, F., und Wappler, G.: Eine Würdigung Martin Heinrich Klaproths als Mineralchemiker. Pharmazie, Jg. 42, 1987, S. 266—267. 20 Kleri, U. (Pseudonym für Ulrike Laar): Berliner Friedhöfe. Berlin, 1869, S. 22. 21 Gestiftet wurde das Grabkreuz von den Kindern Klaproths. Der Entwurf wird nach E. Schmidt (Der preußische Eisenkunstguß. Berlin, 1981, S. 142) K. F. Schinkel zugeschrieben, soll aber, einer Notiz bei S. Einholz (In: Der Bär von Berlin. Bd. 38/39,1989/90, S. 121) zufolge auf J. G. Schadow zurückgehen.

Bemerkungen zu den Abbildungen

Titelbild: Das Ölgemälde befindet sich (seit 1934) im Besitz des Deutschen Museums in München; Foto und freundliche Erlaubnis zur Reproduktion von diesem Museum. Einer der Vorbesitzer des unsignierten Gemäldes hatte es dem Berliner Maler K. F. J. H. Schumann (1767—1837) zugeschrie­ ben, was aber nicht gesichert ist, siehe Anm. 5, S. 106. — Klaproth ist auf dem Gemälde mit dem Roten-Adler-Orden, 3. Klasse, geschmückt, der ihm am 18. Januar 1811 verliehen wurde. Der Namenszug „Martin Heinrich Klaproth, Ober-Medicinalrath und Professor ord." ist eine Reproduk­ tion der Unterschrift des Testamentes Klaproths vom 26. Februar 1813, deponiert im Staatsarchiv Potsdam.

196 Zu 1: Abb. aus Schmidt, E.: Der preußische Eisenkunstguß. Berlin, 1981, S. 143 (nach „Magazin der Abbildungen von Gußwaaren der Kgl. Eisengießerei", Heft 3,1819). Das Grabkreuz ist auch auf der Neujahrsplakette der Königl. Eisengießerei zu Berlin von 1818 abgebildet. Zu 2: Nach einer Zeichnung in der Akte der Straßenbau-Polizei-Verwaltung zu Berlin, betr. Commu- nication vom Oranienburger bis zum Neuen Thor, 1866 bis 1904, Blatt 45, deponiert im Landesarchiv Berlin, Rep. 10-02, Nr. 6764.

Anschrift des Verfassers: Professor Dr. Günter Hoppe Wilhelm-Wolff-Straße 65 13156 Berlin

Einige Dokumente aus der Frühgeschichte des Zoologischen Gartens Von Harro Strehlow

Die der Eröffnung des Zoologischen Gartens bei Berlin am 1. August 1844 vorausgehenden Jahre sind bisher nur wenig bekannt. Schon Beringuier (1877) verweist darauf, daß Akten aus dieser für die Entstehung des Zoologischen Gartens wichtigen Zeit verschwunden seien. So geben die wichtigen Veröffentlichungen zur Geschichte des Zoologischen Gartens (Beringuier 1877; Heilborn 1929; Klös 1969) nur einen kleinen Einblick in die vielschichtigen Probleme und den Ablauf der Ereignisse zwischen dem Wunsch Lichtensteins, einen Zoologi­ schen Garten zu errichten, und seiner Eröffnung. Vor allem die Übergabe des Fasaneriegelän­ des mit den darauf stehenden Gebäuden und die genauere Beschreibung dieser Bauten wies wegen unzureichender Quellen noch Lücken auf (Klös u. a. 1990). Den genauesten chronolo­ gischen Überblick über diese Zeit hat bisher Schlawe 1963 gegeben. Der Einblick in einige noch vorhandene Akten im Landesarchiv ermöglicht es, wenigstens einige Punkte genauer darzustellen. Nachdem König Friedrich Wilhelm IV. am 31. Januar 1841 seine Zustimmung zur Bildung einer Kommission zur Errichtung des Zoologischen Gar­ tens, der die Herren Lichtenstein, Lenne, von Ladenberg und von Humboldt angehören soll­ ten, gegeben hatte und diese seit dem 11. Mai 1841 die Bedingungen und Planungen für den Zoologischen Garten erarbeitete, erließ der König auf ihren Rat hin am 8. September 1841 die zweite Kabinettsorder über den Zoologischen Garten. In dieser bei Beringuier (1877) und Klös (1969) zitierten Kabinettsorder werden die Grenzen des Zoos, ein Darlehen von 15 000 Talern und die Schenkung von Bauten und Tieren von der Pfaueninsel festgelegt. Ein Problem, das sich heute aus diesem Dokument ergibt, ist das Fehlen des vom König zitier­ ten Planes. In der Order heißt es: „1. in dem auf dem zurückgehenden Plan mit A bis H näher bezeichneten Teile der Fasanerie ein Zoologischer Garten ... angelegt werde." Dieser bisher noch nicht aufgefundene Plan bildet eine von Passow 1838 gefertigte Karte der Fasanerie, in die dann 1841 die Grenzen des zukünftigen Zoologischen Gartens eingetragen wurden. Es handelt sich dabei nicht um den Plan, den Seiler (1979) mit Einzeichnungen Len- nes veröffentlicht hat.

197 Bei den folgenden beiden Dokumenten handelt es sich scheinbar um eine Nebensächlichkeit: Die Umzäunung der Fasanerie und des Zoologischen Gartens. Da der Vorgang aber ein Licht auf die Umstände und Schwierigkeiten wirft, die bei der Schaffung des Zoologischen Gartens die Gründer und die Ministerien beschäftigten, seien sie hier ausführlich zitiert:

„An den Königlichen Geheimen Regierungs-Rath Herrn von Massow Hochwohlgeboren Hier Mittels Allerhöchster Cabinets-Order vom 8ten September v. Js. haben des Königs Majestät zu genehmigen geruht, daß in einem Theile der jetzigen Fasanerie hierselbst ein zoologischer Gar­ ten angelegt und der zu dem Ende zusammentretenden Privatgesellschaft, außer anderen Ver­ günstigungen, auch der zur Einfriedung des Gartens erforderliche Plankenzaun auf die Dauer des Bestehens dieser Anstalt überwiesen werden soll. Die bisher bestehende Fasanerie soll nach Potsdam verlegt und zur Einfriedung derselben sollte, nach der früher ergangenen Bestimmung, derjenige Theil des die hiesige Fasanerie ein­ schließenden Plankenzaunes mit benutzt werden, welcher noch übrig bleiben würde. Zum Zweck der möglichst baldigen Beschaffung der zur neuen Fasanerie bei Potsdam drin­ gend nothwendigen Einfriedung hat das Königliche Hofjagdamt den Wunsch geäußert, nicht bloß den nach Einfriedung des Zoologischen Gartens noch disponibel bleibenden Theil des hiesigen Plankenzaunes von ungefähr 2400 Fuß, sondern auch den übrigen Theil dieses Zau­ nes, welcher die dem Zoologischen Garten abgeschlossen bleibenden Partien der hiesigen Fasanerie mit umgibt und nach der früheren allerhöchsten Bestimmung zum Verschluß des Zoologischen Gartens auf der nördlichen Seite reserviert bleiben und dem sich zu bildenden Vereine überwiesen werden sollte, von ungefähr gleicher Länge, zur Einzäunung der neuen Potsdamer Fasanerie verwenden zu dürfen, wogegen dann dem Zoologischen Garten-Vereine im laufenden Jahre, sobald die Zwecke desselben solches erfordern, eine andere Umzäunung überwiesen werden könne. Auf meine Bevorwortung haben des Königs Majestät mittels Allerhöchster Cabinets-Order vom ll10" v. Mts. die Verwendung dieser ganzen Zaunstrecke von ca. 4800 Fuß zur Befriedung der neuen Potsdamer Fasanerie zu genehmigen geruhet, und es wird nun mehr alsbald mit dem Abbruch der ganzen Zaunstrecke, welche sich vom unteren Eingangsthore der hiesigen Fasa­ nerie, in der Nähe der Fasanerie-Allee, nach dem Landwehrgraben, und von dort bis nach dem oberen Ausgangsthore der nach Charlottenburg führenden großen Lindenallee hinzieht, vor­ gegangen werden. Zum Zweck der demnächsten Beschaffung der zum Verschluß des zoologi­ schen Gartens erforderlichen Zaunstrecke veranlasse ich Euer Hochwohlgeboren, diesen neuen Zaun, welcher sich in gerader Linie von dem einen nach dem anderen Thore ziehen wird, nach dem Muster der alten Planken und Zäune veranschlagen zu lassen und diesen Anschlag baldigst einzureichen. Da durch den Abbruch des Zaunes das hiesige Fasanerie-Terrain dem Zutritt des Publikums geöffnet wird, so habe ich das Königliche Hof-Jagd-Amt ersucht, die dadurch notwendig werdende Bewachung der Holzbestände einstweilig bewirken zu lassen. — Durch die dem hiesigen Fasanerie-Terrain gegebene anderweitige Bestimmung fällt der auf der Südseite der von dem einen nach dem anderen Thore sich hinziehenden Linie belegene Theil dem Zoologischen Garten-Vereine, der nördliche, nach dem Landwehrgraben zu belegene Theil dagegen der Thiergartenverwaltung anheim. Es wird dieser letzte Theil dem Thiergarten

198 einverleibt, weshalb Euer Hochwohlgeboren die Aufsicht und Verwaltung in gleicher Weise wie über den übrigen Thiergarten zu übernehmen und mit dem dazu vorhandenen Personale zu bewachen hat. Berlin, den 5,en Januar 1852 Unterschrift"

Nachdem der nördliche Teil des Zaunes noch im Januar abgerissen worden war, wurde von Massow beauftragt, für die Neuerrichtung des Zaunes an der Zoogrenze einen Kostenvoran­ schlag anfertigen zu lassen. Dieser Aufforderung folgt er am 21. Januar und übergibt den Auf­ trag für den Kostenvoranschlag an H. Kramer, der ohne Datumsnennung schreibt: „Ew. Hoch- wohlgeboren verehrliche Verfügung vom 8Kn und 21ten d. M. zufolge habe ich mich, nach vor­ heriger Rücksprache mit dem Gartendirector Herrn Lenne, der nebenbemerkten Kostenver­ anschlagung unterzogen, und überreiche bei Rückgabe des hierzu mir hochgeneigt mitgetheil- ten Situations-Plans von dem anzulegenden Zoologischen Garten, den betreffenden, von mir angefertigten, die Summe von 2498 RThl. 19 SGr. 6 Pfg. betragenden Kosten-Anschlag, mit dem Bemerken, daß ich zur Stelle von der örtlichen Lage, sowohl der bestehenden noch ferner­ hin beizubehaltenden, als auch der neu aufzustellenden Umzäunung, mit Benutzung des vorer­ wähnten Situationsplans, von dem ich die verlangte Copie gehorsam überreiche, genaue Kenntnis genommen und ermittelt habe, daß die fernerhin beizubehaltende in vollständig gutem Zustand sich befindende Umzäunung, in den Begrenzungen BCDEFG aufgestellt ist, und die neue Umzäunung in die Begrenzungen GHAB noch aufzustellen sein würde. H. Kramer"

Obwohl der Vorgang um die Umzäunung geregelt ist, kann mit dem Bau des Zoologischen Gartens trotz der Königlichen Order und trotz des erfolgten Umzugs der Fasanerie immer noch nicht begonnen werden. Das Komitee mahnt deshalb am 7. März 1842 den Regierungsrath von Massow: „Euer Hochwohlgeboren haben die Unterzeichneten hiedurch ergebenst zu benachrichtigen, wie sie von des Herrn Staats-Ministers Eichhorn Excellenz beauftragt worden, die Ausführung der von Sr. Majestät befohlenen Anlage eines Zoologischen Gartens in gemeinsamer Berathung zu machen, und die geeigneten Schritte zur Besitznahme des Allerhöchsten Orts dazu theilweise bewilligten Terrains der bisherigen Fasanerie zu thun. In Folge dieses Auftrages erlauben sie sich, Ew. Hochwohlgeboren als Chef der Thiergartenverwaltung um die erforderliche Einleitung einer förmlichen Übergabe des fraglichen Terrains zu ersuchen und erklären, daß sie den hier mitun­ terzeichneten Gartendirektor Lenne beauftragt haben, in ihrem Namen nicht nur die erforder­ lichen auf die Ueberweisung allerhöchsten Befehle zu producieren, sondern auch den Ueber- gabe Act commissarisch zu vollziehen. Berlin am 7ten März 1842 Kortüm Crede Lenne Lichtenstein

Doch es vergehen noch mehr als zwei Monate, bis in die Angelegenheit Bewegung kommt:

199 „An den Königlichen Geheimen Regierungs- Rath u. Ritter Baron von Massow Hochwohlgeboren Berlin Er. Hochwohlgeboren sehr geneigte Zuschrift vom 16./18. c. gemäß werde ich mich zur Über­ nahme des von der ehemaligen Fasanerie zum zoologischen Garten bestimmten Theiles der­ selben, Sonnabend den 21. d. Mts. vormittags 10 Uhr an (unleserlich) Stelle einfinden. Sanssouci, d. 19. Mai 1842 Lenne"

Die Übergabe des Fasaneriegeländes fand wie geplant statt. Das Protokoll enthält nur die Übergabe des gesamten Geländes an die Tiergartenverwaltung. Dort heißt es: „Verhandelt in Gegenwart des Geheimen Regierungs Raths von Massow und des Herrn Gar­ ten Directors Lenne am 21sten May 1842 in der ehemaligen Fasanerie. Zufolge der Verfügung des Herrn Geheimen Staats Ministers von Ladenberg Excellenz vom 7ten v. Mts., soll das Terrain der am hiesigen Thiergarten belegenen Fasanerie, mit allen darauf stehenden Gebäuden und mit dem noch stehen gebliebenen Theile des Zauns, welcher das Fasanerie-Terrain umschloß, von Seiten des Herrn Ober Jäger Meisters, Fürst Carolath Beut- hen Durchlaucht an den Herrn Geheimen Regierungs Rath von Massow übergeben werden... Das Terrain, welches Gegenstand der heutigen Uebergabe resp. Uebernahme sein soll, ist auf der Passowschen Karte von der Königl. Fasanerie bei Berlin de 1838 genau verzeichnet und umfaßt: a) denjenigen Theil welcher schon vor dem Jahre 1832 zur Fasanerie gehörte b) denjenigen Theil des Thiergartens auf linkem Landwehr-Graben-Ufer welcher im Jahre 1832 zur Erweiterung der Fasanerie an das Königl. Hof-Jagd-Amt übergeben wurde. Oertlich ist dies Terrain theilweise durch einen noch vorhandenen Bretterzaun und anderen Theils durch die Spuren des daselbst gestandenen und in diesem Frühjahre abgebrochenen Zaunes bezeichnet, so daß es einer genauen Beschreibung der Grenzen nicht bedarf; nur im all­ gemeinen wird bemerkt, daß das Fasanerie Terrain rundum von einem breiten Weg umgeben ist, welcher an der Schlagbaum-Brücke bei der Fasanerie auf dem linken Landwehr-Graben- Ufer beginnt, sich längs der zum Albrechtshof gehörenden Äcker und Wiesen Stücke von Osten nach Süden fortzieht, gegen Mittag längs des Kittmarschen Grundpunkts bis gegen die Lützow und Wilmersdorfer Ackerseiten, an der westlichen Seite der Fasanerie fortgeht, sodann an der westlichen Seite die neu erworbenen Ländereien auf Charlottenburger Feld­ mark links liegen läßt und sodann auf der östlichen Seite längs des Landwehr-Grabens bis zu der erwähnten Schlagbaums Brücke fortführend, mit dem Anfangspunkte daselbst sich wieder vereinigt. Das Terrain mit den darauf stehenden in der Anlage näher bezeichneten Gebäuden, dem an der Süd und West Seite noch stehenden Zaune, ingleichen sämmtlichen Bäumen und Sträu­ chern pp übergeben ... Hiermit ist diese Verhandlung geschlossen und unterschrieben gez. Schröder Schinkel Hesse Krack gez. Krack"

Aus der Anlage ist ersichtlich, daß auf dem Gelände sieben Gebäude stehen. Dazu kommen noch vier Brunnen und die noch bestehenden Zäune. Interessant sind die Angaben über die

200 Bauten, die später als Bestandteil des Zoologischen Gartens z. T. noch lange eine Aufgabe erfüllen und deren Abmessungen und Einrichtungen bisher noch nicht bekannt waren:

„I. Das Wohnhaus des Fasanen-Meisters (im Zoo als Inspectionshaus bezeichnet) ist 52' lang 35 V2 Fuß tief, 2 Stockwerke hoch, massiv gebaut und hat ein flaches zweiseitiges Zink­ dach mit zwei Walmen. Es hat sowohl einen Eingang von der Straße als auch von dem Hofe mit Sandstein-Stufen. In der unteren Etage ist befindlich nach der Straße: ein Hur, zwei Stuben; nach dem Hofe: ein Treppenflur, eine Stube, eine Küche, eine Kammer; in der oberen Etage nach der Straße: ein Saal, eine Stube; nach dem Hofe: ein Treppen­ flur, zwei Stuben, eine Küche. II. Das Stallgebäude (im Zoo später als Winterhaus bezeichnet, d. Verf.) ist 39'9" lang und 32' tief, eine Etage hoch von Fach werk und hat ein zweiseitiges Dach doppelt, mit Ziegeln eingedeckt. Es enthält einen Kuhstall, einen Pferdestall mit Futterkammer, eine Gesinde­ stube, einen Entenstall, einen Hundestall. III. Der Holzstall mit Remisengebäude (im Zoo als Büffelhaus bezeichnet, d. Verf.) 36' lang 36' breit von Holz und Fachwerk mit einseitigem geraden Dach und Spließdach mit Ziegeln eingedeckt. Es enthält eine Wagenremise, einen Holzstall. IX. An Zäunen noch vorhanden von der Charlottenburger Allee bis zur Ecke des Lützower Salons ... zusammen 364° 8'. Zaun 8 Fuß hoch mit Deckbrettern." Während das Büffelhaus nur bis 1857 seinen Dienst tat, nutzte der Zoo das Winterhaus noch bis 1884/85 und das Inspectionshaus, das frühere Wohnhaus, noch bis 1898. Büffelhaus und Inspectionshaus sind schon auf der Karte der Fasanerie von 1795 eingezeichnet (Klös u. a. 1990), während das Winterhaus erst auf der Karte von 1833 zu finden ist.

Zusammenfassung: Einige Akten des Landesarchivs geben Aufschluß über Aspekte der Vorgeschichte der Eröff­ nung des Zoologischen Gartens am 1. August 1844. Die Übergabe des Fasaneriegeländes mit dem Bauzaun und einige der später im Zoo noch genutzten Bauten werden somit dokumen­ tiert.

Literatur:

Beringuier, R., 1877: Zur Geschichte der Fasanerie (des jetzigen Zoologischen Gartens) bei Berlin. Der Bär 3, 105-109, 117-120 Heilborn, A., 1929: Zoo Berlin 1841—1929. Actienverlag des zoologischen Gartens zu Berlin Klös, H.-G., 1969: Von der Menagerie zum Tierparadies. Haude & Spener. Berlin Klös, H.-G.; U. Klös; H. Strehlow; W. Synakiewicz, 1990: Der Berliner Zoo im Spiegel seiner Bauten 1841-1990. Heenemann. Berlin Schlawe, L., 1963: Unbekannter Zoologischer Garten bei Berlin. 1844-1869, AGT 1 Seiler, M., 1979: Peter Joseph Lennes erster Entwurf für den Berliner Zoo — ein nicht realisiertes Pro­ jekt, eine „Pfaueninsel" vor die Tore der Stadt zu holen. Bongo 3, 63—74 Anschrift des Verfassers: Dr. Harro Strehlow Meierotterstraße 5 10719 Berlin

201 Überlegungen zu einer Entwurfszeichnung von Karl Friedrich Schinkel für den mittleren Erdgeschoßsalon des Casinos in Glienicke Von Harry Nehls M.A. Für Herrn Alfred Gobert. Karl Friedrich Schinkels (1781—1841) früheste Schöpfung im Schloßpark von Glienicke ist das Casino am Ufer des lagunenartigen Jungfernsees. Die künsterisch wertvollste Innenraumaus­ gestaltung dieser italienisierenden Architektur erhielt der Mittelsalon im Erdgeschoß, für den der geniale Schinkel mehrere Entwurfszeichnungen geliefert hat. Die hier wiedergegebene Zeichnung (Abb. 1) für die östliche Wanddekoration entstammt dem Schinkelwerk „Samm­ lung architektonischer Entwürfe" (Berlin 1840).! Vor den marmorierten Wandfeldern sind deutlich zwei weibliche Statuen mit Theatermasken auf hohen Sockeln zu erkennen, die als Pendants konzipiert waren. Die charakteristische Haltung, d. h. das auf einen Felsen aufge­ stützte rechte bzw. linke Bein (vgl. Abb. 3), erweist den Statuentypus als Bild der tragischen Muse bzw. der Melpomene. Im besagten Mittelsalon des Casinos befanden sich zu Lebzeiten des Prinzen Carl von Preußen (1801—1883) zahlreiche Antiken, darunter auch die sogenannte Muse Vescovali.2 Hauptsäch­ lich durch die Vermittlung des in Rom lebenden Bildhauers Emil Wolff (1802—1879) konnte sie Prinz Carl aus der Sammlung des Antikenhändlers Luigi Vescovali, daher die Bezeichnung „Muse Vescovali", für seine eigene Glienicker Antikensammlung erwerben. Mehrere Notizen des Schinkel-Forschers Johannes Sievers (1880—1969)3, die im Geheimen Staatsarchiv in Ber­ lin-Dahlem aufbewahrt werden, bezeugen, daß Friedrich Wilhelm IV. seinen jüngeren Bruder Carl bei diesem Antikenankauf unterstützte: „Einer gnädigen Antwort wegen der Melpomene entgegensehend, verbleibe ich bis in den Tod Dein treuer Bruder Carl." Nicht erhalten ist leider ein Brief des preußischen Gesandten von Buch in Rom vom 13. Dezember 1844 an den Kabi­ nettsekretär Sasse, „wonach er (v. Buch) im Auftrag des Königs das Antiquitätenlager Vesco- valis angesehen und in Übereinstimmung mit dem Bildhauer Wolff 4 Statuen für den von Sei­ ner Majestät beabsichtigten Zweck empfähle: Omphale 200, Apollo 400, Melpomene 250 (und einen) kleinen Herkules (für) 50 Scudi". Anfang Januar 1845 erhielt dann der Architekt Ludwig Persius (1803—1845), Schinkels engster Mitarbeiter in Glienicke, vom König den Auf­ trag, „Vescovali in Rom zu besuchen, der seine Kunstsammlungen a tout pris verkaufen will" .4 Am 22. Mai 1845 war der Kauf perfekt, und bereits ein Jahr später, am 7. Januar 1846, meldete der Geheime Kabinett- und Rechnungsrat C. C. Müller (1773—1849) dem Hofmarschall G. W. L. von Meyerinck (1789—1860), „er habe heute Prinz Carl geschrieben, die Melpomene läge in der Kiste auf dem Potsdamer Bahnhofe für ihn bereit". Im Mai desselben Jahres fand die kostbare Marmorstatue aus hadrianisch-antoninischer Zeit ihre endgültige Aufstellung im Mittelsalon des Glienicker Casinos, vermutlich derart, wie Karl Friedrich Schinkel es durch seine Zeichnung vorgegeben hatte. Eine frühere Entwurfszeichnung Schinkels aus dem Jahre 18255 zeigt eine andere Figurenkon­ stellation: links den sogenannten Adoranten oder Betenden Knaben, rechts eine Kannephore, d. h. Krugträgerin. Bis heute ist der genaue Standort der 1826 in Glienicke aufgestellten Bron­ zekopie des Betenden Knaben6 nicht gesichert. Mit der Aufstellung der 1846 erworbenen Muse Vescovali im mittleren Erdgeschoßsalon des Glienicker Casinos ist Schinkels Entwurfs­ zeichnung in die Tat umgesetzt worden. Liegt nicht von daher die Vermutung nahe, daß auch der Betende Knabe dort einstmals stand?

202 Abb. 1: Entwurfszeichnung von K. F. Schinkel.

Anmerkungen

1 Vgl. J. Julier, Parkgebäude nach Entwürfen Schinkels. In: Ausstellungskat. Schloß Glienicke. Ber­ lin 1987, S. 33ff. besonders S. 34 mit Abb. 14, Kat. Nr. 78. 2 Vgl. H. Nehls, Italien in der Mark. Zur Geschichte der Glienicker Antikensammlung. Berlin 1987, S. 10, 15 und 60 mit Abb. 12. 3 Vgl. H. Nehls, In memoriam Professor Dr. Johannes Sievers 1880—1969. In: Mitteilungen des Ver­ eins für die Geschichte Berlins 4 (1990), S. 331«. 4 Vgl. Nehls a. O. (wie Anm. 2), S. 37 Anm. 67. 5 Abgebildet in: Schloß Glienicke (wie Anm. 1), S. 243 Abb. 145.

203 6 Dazu ausführlicher: H. Nehls, Glienicker Nachlese. Die Bronzekopie des sogenannten Betenden Knaben oder „Adoranten" vor dem Glienicker Casino. In: Jahrbuch für brandenburgische Lan­ desgeschichte 40 (1989), S. 140ff. Der Betende Knabe von Glienicke könnte genausogut zunächst (November 1826) im Casino gestanden haben und erst späterhin (um 1870?) in den sogenannten Pompejanischen Garten vor dem Casino verbracht worden sein.

Abbildungsnachweis Anschrift des Verfassers: Harry Nehls M.A. 1 Foto des Verfassers Schloßstraße 2 H 14059 Berlin

„beglaubigt: Schummel" Von Manfred Stürzbecher

Viele Schreiben des Polizeipräsidenten und später des Landesgesundheitsamtes Berlin, die sich auf das Apothekenwesen bezogen, trugen diese Schlußformel. Bei der Suche nach den Perso­ naldaten von Dr. med. Otto Kracht, als Arzt approbiert 1902, Regierungs- und Medizinalrat beim Polizeipräsidenten und später Dezernent im Landesgesundheitsamt für das Apotheken- und Arzneimittelwesen, stieß ich auf Unterlagen, aus denen Angaben über den beruflichen Lebensweg des Hauptsachbearbeiters für Apotheken, Arzneimittel, Drogerien und Gifthan­ del hervorgehen. Schummel war mehr als zwei Jahrzehnte die „Drehscheibe", über die die bürokratische Abwicklung der Vorgänge aus dem Apothekenwesen, ob Apothekenkonzessio­ nen oder Ergebnisse der Apothekenrevisionen, pharmazeutisches Vorexamen — zeitweise auch die Approbation für Apotheker — liefen. Weniger die Person als seine Funktion als Ver­ waltungsbeamter für das Apothekenwesen ist den älteren Apothekern aus Berlin noch in Erin­ nerung. Es erscheint daher nicht uninteressant, den beruflichen Lebensweg dieses mit der Pharmazie in Berlin in enger Verbindung stehenden Verwaltungsbeamten aufzuzeigen. Walter Ernst Schummel wurde am 24. Mai 1886 als Sohn eines Prinzlichen Domänenrates in Flatow/Westpreußen geboren. Er besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt bis zur Oberse­ kundareife und begann 1905 mit dem Vorbereitungsdienst zur gehobenen Verwaltungslauf­ bahn, zunächst beim Landratsamt in Flatow, dann beim Regierungspräsidenten in Marienwer­ der. Seit 28. Oktober 1907 Regierungssupernumerar, legte er 1910 in Danzig „die Staatsprü­ fung" ab. Am 1. Oktober 1912 wurde er Hofkammersupernumerar bei der Königlichen Hof­ kammer in Berlin-Charlottenburg. 1913 heiratete er Betty Fahrenkamp aus Kowall, Kreis Grimmen (geb. 19. Mai 1888). Aus der Ehe ging die Tochter Elisabeth (geb. 5. Februar 1920) hervor, die 1946 als gelernte Putzmacherin tätig war. Wehrdienst scheint Schummel weder im Frieden noch im Krieg geleistet zu haben, so daß angenommen werden muß, daß er aus gesundheitlichen Gründen wehruntauglich war.

204 Am 1. Januar 1915 wurde er zum Hofkammersekretär ernannt. Im Jahre 1918, das genaue Datum ist leider nicht überliefert, wechselte er als Polizeisekretär ins Polizeipräsidium. Ob die­ ser Wechsel mit dem Untergang der Monarchie nach der Abdankung des Kaisers am 9. November 1918 im direkten Zusammenhang stand, läßt sich nicht sagen. Wahrscheinlich hat der Laufbahnwechsel persönliche Gründe, denn die Hofkammerverwaltung mußte abgewik- kelt werden, und dies geschah sicher nicht innerhalb weniger Wochen. Seit 1913 war Schummel Freimaurer, offensichtlich ein sehr engagierter, denn bis 1926 erreichte er den 7. Grad, wie es in einer Notiz aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg heißt. 1923 wurde er zum Polizeiinspektor befördert. In dieser Zeit scheint er schon das Sachgebiet des Apothekenwesens beim Medizinaldezernenten im Polizeipräsidium bearbeitet zu haben. Wie später berichtet wurde, war sein Engagement als Freimaurer wenigstens seit 1933 seiner Beamtenkarriere nicht förderlich. Weitere Beförderungen blieben aus. 1944 erhält er die Funk­ tion eines „Teilvorstehers". Seit seinem Zuzug in den Berliner Raum war er auch ehrenamtlich in der kommunalen Verwal­ tung tätig, nach der Bildung der Einheitsgemeinde Berlin 1920 in der „Unterbürgermeisterei Schmargendorf" (Personalabteilung) bis zum Zusammenbruch 1945. Der konservative Beamte paßte offensichtlich nicht in das Weltbild der Nationalsozialisten, andererseits behielt er seine amtliche Funktion und sein Ehrenamt. Pflichtgetreu hat er seinen Dienst im Polizeipräsidium bis zu den Kampfhandlungen im April 1945 erfüllt, und bereits Ende Mai 1945 beteiligt er sich, nach Verlagerung der Medizinalaufsicht, zu der das Apothe­ kenwesen gehörte, vom Polizeipräsidenten auf den Magistrat (Landesgesundheitsamt), am Aufbau des Amtes im Gebäude der ehemaligen preußischen Bau- und Finanzdirektion in der Invalidenstraße 52 an der Sandkrugbrücke. Den täglichen Weg von Schmargendorf zum Lehr­ ter Bahnhof legte er offensichtlich, bis die öffentlichen Verkehrsmittel wieder funktionierten, mit dem Fahrrad zurück, wie aus den Akten zu erkennen ist. Vom 6. August 1946 ist eine Notiz erhalten, aus der hervorgeht, daß er Hauptsachbearbeiter im Dezernat Heilmittel und Gifte mit der Zuständigkeit „Apothekenwesen, Konzessionen und Verpachtungen, Drogerien, Gifthandel" war. Im März 1947 wird er u. a. wie folgt beurteilt: „Allgemeine Angelegenheiten des Dezernats, Verkehr mit Arznei- und Heilmitteln, Rausch­ gifte, Apothekenbetriebsordnung, Apothekervorprüfung, Neueinrichtung, Verlegung, Ver­ pachtung, Übertragung und Konzessionsverfahren von Apotheken, Pharmazeutische Bevoll­ mächtigte. Herr Schummel ist der Erledigung dieser Aufgaben stets in bester Weise gewachsen, da er langjährige Erfahrungen auf diesem Gebiet besitzt. Fleiss und Führung sind einwandfrei. Es empfiehlt sich nicht, Herrn Schummel aus diesem Arbeitsgebiet herauszunehmen, um ihn anderweitig zu beschäftigen." Die Befähigung und Eignung für den Verwaltungsdienst wird ihm in dieser vom Stadtrat Dr. Dr. Harms, dem Hauptdienststellen-Leiter und dem Betriebsrat unterschriebenen Dienstlei­ stungsbericht bescheinigt. Der Entwurf zu diesem Bericht war unter dem 15. Februar 1947 von seinem Dezernenten Dr. Otto Kracht gefertigt worden. Er hatte geschrieben: „Herr Schummel war und ist der Erledigung dieser Aufgaben stets in bester Weise gewachsen, wie ich in langjäh­ riger Zusammenarbeit mit ihm bezeugen kann." Er fügt dann hinzu: „Er wird aber bestens zu einer Beförderung in eine höhere Gehaltsgruppe (Gruppe III) empfohlen. Herr Schummel wurde im Polizeipräsidium trotz seiner guten Arbeit nicht mehr befördert, nachdem er 1935 hatte melden müssen, daß er Mitglied einer Freimaurerloge war." Die Empfehlung der Eingruppierung in die Gruppe III der Tarifordnung für Angestellte wurde nicht berücksichtigt. Seine Bruttogesamtvergütung betrug zu diesem Zeitpunkt 509,53 RM. Im Spätsommer 1949 erkrankte Schummel an einer Lungenentzündung und wurde für einige

205 Zeit dienstunfähig. Der behandelnde Arzt beantragte Krankenernährung mit der Lebensmit­ telkarte II und stellte fest, daß er nur noch halbtags Büroarbeit leisten könne. Trotz Brochiekta- sen konnte er bald wieder seinen vollen Dienst aufnehmen. Im Sommer 1950 machten eine Netzhautablösung und der graue Star eine Operation im Gertraudenkrankenhaus notwendig. Das Bruttogehalt betrug damals 528,87 DM. Am 31. Mai 1951 wurde er durch den leitenden Fachbeamten Lic. Dr. Dr. Piechowski aus dem Dienst verabschiedet. Im Alter von 69 Jahren ist er nach langem Leiden am 25. Januar 1956 in Berlin verstorben.

Anschrift des Verfassers: Dr. Dr. Manfred Stürzbecher Buggestraße 10 b Berlin

Anmerkung der Redaktion

Zu dem Aufsatz über den Situationsplan von Chr. Fr. Schmidt von 1643 von Frau Erika Schachinger in Heft 2, 1993, S. 12 ff. nimmt Herr Professor Dr. Goerd Peschken zum Bären- Zwinger Stellung: Die Situation ist klar durch den Bärenplatz und -kästen. Ein Hofjägermeister mochte sich zum Vergnügen Bären halten. Aber dieser Bärenplatz und -kästen ist schon da, ehe Hertefeld Haus und Grundstück bekommt. Die Bären sind also kurfürstlich. So eine Anlage schaffte man vor allem an, wo etwas stark gesichert werden sollte. Denn Bären sind viel gefährlicher als Hunde. Also handelt es sich um einen Zwinger. Man sieht auf dem Plan den Weg über die Hunde­ brücke schräg durch den Zwinger laufen. Tags waren die Bären in ihrem Kasten, nachts liefen sie frei auf dem Bärenplatz, und niemand konnte passieren. Der Bärenzwinger sicherte den Zugang zum Schloß von der Landseite vor Gesindel usw., auf der Stadtseite wurden die Stadttore nachts verschlossen, da war so eine Sicherung weniger nötig. Hierzu erklärt Frau Erika Schachinger, daß sich die aufgeworfene Frage bisher nicht lösen ließ. Die Haltung von Bären als Kuriosität, ihre Verwendung bei der Jagd und als Wildbret auf der kurfürstlichen Tafel — galten doch Kopf und Tatzen als besondere Leckerbissen — sind weitere Deutungsmöglichkeiten für den Bären-Zwinger auf dem Plan von C. F. Schmidt aus dem Jahr 1643.

206 Aus dem Mitgliederkreis

Georg Holmsten achtzig Jahre

In ungebrochener geistiger und körperlicher Frische vollendete Georg Holmsten am 4. August sein 80. Lebensjahr. Wir kennen ihn von unseren Veranstaltungen, den bescheidenen, zurückhaltenden Balten, der im Alter von neun Jahren 1922 mit seinen Eltern nach Berlin gekommen war und hiergeblieben ist. Seine mehr als dreißig veröffentlichten Bücher weisen ihn als erfolgreichen Schriftsteller aus, auch wenn er sich selbst nur als „kleinen Sachbuchautor" bezeichnen möchte. Doch diese sich wenig geltend machende Selbsteinschätzung straft seine spritzig-flüssige Feder Lügen. Erinnert sei nur an seine „Berliner Miniaturen", die 1946 erschienen waren und eine Auflage von mehr als hunderttausend Exemplaren erreichten. Das Studium der Geschichte und Literatur an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin brach er nach der „Machtübernahme" durch die Nationalsozialisten aus politischen Gründen ab und wurde Journalist. Bei Kriegsausbruch Redakteur und Chef vom Dienst in der Auslandsredaktion des Deut­ schen Nachrichtenbüros, rief ihn nach der Einberufung Admiral Canaris Anfang 1943 in das Amt Ausland-Abwehr des OKW. Hier kam er mit den Offizieren der Opposition gegen Hitler in Berüh­ rung und sollte bei Gelingen des Staatsstreiches das Deutsche Nachrichtenbüro übernehmen. Er gehört zu den wenigen des Widerstandskreises, die den 20. Juli 1944 im Bendlerblock überlebten, weil ihm Freunde sofort ein Frontkommando ohne Rückmeldung verschafft hatten und ihn die „Gestapo" deshalb aus den Augen verlor. Seine Erlebnisse bei den Abwehrkämpfen auf den Seelower Höhen und um Berlin schlugen sich nach dem Krieg in seinen Büchern „Der Brückenkopf" und „Endstation Berlin" nieder. In den fünziger Jahren veröffentlichte er zehn historisch-biographische Romane, die eine Gesamtauflage von mehr als einer Million Exemplaren ergaben. Besonders hervorgehoben seien seine Rowohlt-Monogra­ phien über bedeutende Preußen und Franzosen, denen in den siebziger Jahren zeitgeschichtliche Themen und die Schilderung Berlins und des Umlandes folgten. In diesen Bereich gehören auch die Baedeker-Führer durch die Bezirke Charlottenburg, Kreuzberg, Steglitz, Tempelhof, Wedding und Wilmersdorf. Seine 1984 vorgelegte „Berlin-Chronik" erlebte die Neuauflage 1990 und die Bände „Potsdam" die 5. Auflage im selben Jahr und „Brandenburg" die 2. 1991. Seit nunmehr 41 Jahren ist der Autor mit der baltischen Lyrikerin und Malerin Aldona Gustas verhei­ ratet, die den Kreis der „Berliner Malerpoeten" ins Leben gerufen hat. 1981 erhielt Georg Holmsten das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Der Verein für die Geschichte Ber­ lins wünscht dem Jubilar weiterhin Arbeitsfreude und Schaffenskraft! Günter Wollschlaeger

207 Nachrichten

Wieder in Berlin zu Hause

Seit dem 1. Juni 1993 hat der Verlag Mittler & Sohn wieder in Berlin seinen Sitz. Mit der Erteilung des Privilegs zur Gründung einer Buchdruckerei am 3. März 1789 begann die nun mehr als 200jährige Geschichte des Hauses Mittler & Sohn. Am 1. Juli 1816 folgte mit der Heraus­ gabe der ersten Nummer des „Militär-Wochenblattes" die Erweiterung zu einem erfolgreichen Ver­ lagsunternehmen, Grundstein zugleich zu einem der führenden Militär-Verlage in Deutschland. Aber auch auf vielen anderen Sachgebieten wie Theologie, Philosophie, Unterrichtswesen und insbeson­ dere der Geschichte betätigte sich der Verlag. So gedenken wir besonders dankbar der Betreuung unserer MITTEILUNGEN, zuerst in Commission und vom 40. Jg. bis 1923 als Verlag sowie auch seit Heft 15 der „Grünen" Schriften des Vereins bis zum bitteren Ende des Verlages in seinem Domizil Kochstraße 68—71, dem Untergang des Zeitungsviertels überhaupt gegen Ende des letzten Krieges. Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, wünscht dem Verlag „Mittler & Sohn" die Fort­ setzung seiner erfolgreichen Arbeit, möglichst wieder mit eigenem Etablissement, in unserer Haupt­ stadt Berlin. Karlheinz Grave

Die St.-Vitus-Kirche zu Döbbersen

Mit Brief vom 6. September 1993 hat die Projektabteilung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz trotz erheblicher Etatkürzungen dem Verein für die Geschichte Berlins die Überprüfung der Mög­ lichkeiten zugesagt, die St.-Vitus-Kirche zusätzlich in das 1994er Programm aufzunehmen. „Wir hoffen sehr, daß es uns gelingt, in Döbbersen zu helfen", schreibt uns Frau Monika Entschel­ meier. Inzwischen erstellte die Architektengemeinschaft Albrecht und Härtung, Schwerin, in Zusammenar­ beit mit der Bauabteilung des Oberkirchenrates Schwerin eine Schadensdokumentation, und Frau Pastorin Braun entwickelte mit dem zuständigen Bauausschuß und dem Gemeindekirchenrat ein im Bereich der Möglichkeiten liegendes Sanierungskonzept für die Erhaltung des Bauwerkes. Demnach sollen zunächst die Fundamente, der Sockelbereich und die Turmeindeckung saniert werden. Auf Wunsch interessierter Mitglieder veröffentlicht die Redaktion das Spendenkonto für die Restaurie­ rung der einzelnen Ausstattungsstücke (Taufengel, Altar, Totenschilde, Wappen, Bleiglasfenster und die Sicherung der Wandmalereien): Spar- und Kreditbank Nürnberg, Konto Kirchengemeinde Döbbersen, Konto-Nr. 53 11128, Bankleitzahl 760 605 61. Spendenquittungen werden ausgestellt, die Einzahlungsbelege sollten den zusätzlichen Vermerk „Verein für die Geschichte Berlins" tragen. Mit weiteren Auskünften steht die Redaktion gern zur Verfügung.

208 Buchbesprechungen

Julius II. Schoeps: „Bürgerliche Aufklärung und liberales Aufklärungsdenken. A. Bernstein in seiner Zeit." 319 Seiten, Personenregister, Werk-, Quellen- und Literaturverzeichnis im Anhang, Burg Verlag, Stuttgart und Bonn 1992. Im Handel nicht erhältlich, dem Verein gespendet von Herrn Johannes Lindner. Nachdenken über Preußen hat mehr und mehr die Ansicht zutage gefördert, daß bürgerlich-aufkläre­ risches Denken und demokratisch-nationales Handeln in den drei mittleren Jahrzehnten des 19. Jahr­ hunderts eine liberale Entwicklung vorbereitet haben, die erst durch die Reichsgründung in andere Bahnen gelenkt worden ist. Die vorliegende Studie macht diese Entwicklung an einer Gestalt fest, die mit ihrem politischen und publizistischen Wirken den Linksliberalen der Bismarckzeit wie den Sozial­ demokraten eine achtenswerte Größe war. Das von ihm als „Urwähler-Zeitung" gegründete, später „Volkszeitung" genannte Organ stand bis 1933 hoch im Ansehen; Aron Bernstein kam als Jude, zunächst nur mit talmudischem Wissen ausgestattet und von unbändigem Wissensdrang getrieben und von Berlins geistiger Ausstrahlungskraft angezogen, in die Stadt des Jungen Deutschland und machte sofort seine demokratischen Ideale zu den seinen. Die Titelformulierung des Buches „Bürger­ liche Aufklärung und liberales Aufklärungsdenken'" will auf das Phänomen aufmerksam machen, daß sich national-demokratisches Einigungsbestreben unter linksliberalem Vorzeichen in der Spät­ zeit der Aufklärung begab, ja als Aufklärungsgeschehen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts schon fast ein Anachronismus war und möglicherweise nur durch das Nachwirken Mendelssohnschen Gei­ stes in Berlin zu erklären ist. Daß jüdisches Emanzipationsstreben ein Teil der bürgerlichen Befreiung sein würde, hatte 1830 Heine vorausgesagt. Daher heißt das Kapitel, das A. Bernstein vorstellt, „Auf­ bruch aus dem Ghetto" (von Danzig). Es sollte ein Weg persönlicher Selbstverwirklichung und allge­ meiner Bewußtseinserhellung werden. — Bernstein war ein Vorkämpfer für die Aneignung deutscher Kultur durch die Juden in Preußen und wurde Journalist und Volksaufklärer als Verfasser populärwis­ senschaftlicher Sachbücher, vor allem auf naturwissenschaftlichem Gebiet. Im Berlin der Märztage wurde er politischer Mahner und stand zeit seines Lebens für die Revolution von 1848. — Er sei zwar keine Gestalt großen Formats gewesen, sagt Verf., aber doch voll interessanter Wirkung und prägend für das jüdische Berlin seit 1848. — Verf. stellt ihn auch dar als Novellenerzähler speziell jüdischer Schicksale aus dem Ghetto, in Wirkung und Sprache etwa den Auerbachschen „Dorfgeschichten" vergleichbar, und charakterisiert seine wissenschaftlichen Tätigkeiten um die Jahrhundertmitte als beste pädagogische Arbeit. — Verfassers Spurensuche und Berichterstattung muß sich mit zuweilen unsicherer Quellenlage abfinden; Formulierungen wie „ist nicht mit Sicherheit auszumachen" kehren oft wieder. Sein Nachlaß ist verschollen, seit Nachkommen aus Budapest nach Auschwitz transpor­ tiert wurden. Als Informanten dankt Verf. u. v. a. den Berlinern Dr. Cecile Lowenthal-Hensel und Johannes Lindner. Sein Wirken ist in die Auf bruchszeit zwischen 1830 und 1888 hineinzustellen, d. h. in die Epoche nationalen Erwachens, was die Probleme der Einigung unter freiheitlichem Vorzeichen aufwirft. Von den demokratischen Pressekämpfen der Jungdeutschen angeregt, macht Aron Bernstein Gesell­ schaftsfragen und die Deutung des Gesetzmäßigen innerhalb des Sichverändernden innerhalb des Geschichtsprozesses seiner Zeit zu seinem vordringlichen Anliegen. In willenstarkem Bildungsdrang anverwandelt er sich autodidaktisch alle geistigen Bereiche von öffentlichem Interesse. Er wird Zei­ tungsgründer eines echten Volksblattes, das u. a. auch Hegeische Ideen populär zu machen sucht. So sehr er auch nach Geschichtsdeutung strebt und in Hegels Philosophie Denkmodelle für die Vollen­ dung menschlichen Geistes sieht, steht ihm doch Gegenwärtiges mehr im Vordergrund. Für die Aneignung seiner Gestalt sind die Kapitel über die Barrikadenkämpfe von 1848 und seine Tätigkeit als Leitartikler der „Volkszeitung" der Schwerpunkt. Den Juden erschienen die Vorboten der demo­ kratischen Revolution als verheißungsvolle Signale, fast als messianische Hoffnungszeichen auf endli­ che Befreiung menschlichen Geistes. Tiefergreifender jedoch als Bernsteins aktive Teilnahme „auf den Barrikaden" sind seine späteren Reflektionen in seiner Schrift „Revolutions- und Reaktionsge­ schichte". Sie offenbart den Angelpunkt seines Denkens: die demokratische Gestaltung von Gesell­ schaft und Staat. Von hier aus ist seine Frontstellung gegen die Oktroyierte Verfassung von 1849 gege­ ben, die er bis zu seinem Tode 1884 beibehalten sollte. Die andere Variante seines Denkens ist die nationale Komponente. Mit allen Demokraten teilt er die Enttäuschung über die Ablehnung der Kai-

209 serkrone durch Friedrich Wilhelm IV., die alle Hoffnungen auf ein Volkskaisertum zunichte machte. Bernstein hat das politische Leben seither als eine Fehlentwicklung angesehen, weil ihm der in der Reaktion christlich begründete Staat als unliberal galt. So suchte er alle politischen Kräfte zu wecken, hier eine Korrektur anzubringen. — Ein weiterer Angelpunkt seiner publizistischen Tätigkeit war die Auseinandersetzung mit der Haltung des Königs. Er machte ihn wegen seines Unverständnisses für demokratische Ideale für das Scheitern der revolu­ tionären Bewegung seit 1848 persönlich verantwortlich. Bernstein war wohl sein politischer Gegner, aber er achtete ihn als König, sprach nobel und verhalten von ihm; sein Tod rief schmerzliche Betrof­ fenheit hervor. In seinem Nachruf bezeichnete er ihn als eine tragische Gestalt und bedauerte, er sei schon 1849 „aus dem Leben getreten", da sei er mit dem unzeitgemäßen Prinzip gefallen, für das er besten Willens gelebt habe. Seine eigentliche Profilierung erfuhr Bernstein durch seine eigene Zeitung, die er zum Sprachrohr für demokratische Gedanken machte. Hier hat er volkspädagogisch gewirkt durch seine persönlich gefärbten Artikel, die er bewußt in unakademischer und unliterarischer Sprache abfaßte. Mit seiner Idee eines Volksblattes stand er Duncker, dem Mitbegründer der Hirsch-Dunckerschen Gewerkver­ eine, nahe. Das bedeutete Eintreten für die Gewerkschaftsidee statt Klassenkampfideale. Er plä­ dierte für Gewerbefreiheit und eine möglichst staatsfreie Wirtschaft und lehrte aus Abneigung gegen Lassalle eher eine Harmonisierung von Arbeit und Kapital. Er hat, so Verf., mit Hilfe von Duncker und seinem Verleger Heymann die Volkszeitung für das liberale Bürgertum der 50er und 60er Jahre gestaltet. Sie wurde später ein antibismarckisches Blatt in der Zeit der Sozialistenverfolgung, fand sogar in den frühen 70er Jahren die Sympathie des Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Dem Kenner der Parteiengeschichte der 60er Jahre ist besonders das Kapitel über den „Preußischen Linksliberalismus" interessant. Die „Neue Ära" nach Antritt der Regentschaft Wilhelms 1. wurde noch einmal eine Zeit der demokratischen Hoffnungen und der Herausforderung für die Liberalen, der Sammlung und Organisation ihrer Partei. Aron Bernstein war — im Verein mit Duncker — maß­ geblich an der Gründung des Deutschen Nationalvereins beteiligt. Nahm er jedoch anfangs noch eine schwankende Haltung ein, um dem König Verfassungstreue zu signalisieren und ihn auf die Ebene der Verfassungsmäßigkeit herüberzuziehen, so steuerte er einen entschiedeneren Kurs seit den Ereignis­ sen um die Militärreform, die sich zum Verfassungskonflikt ausweiten sollten. Bernstein hat früh die Uneinigkeit zwischen den liberalen Flügeln angeprangert und sich schließlich auf die Seite der neuen Deutschen Fortschrittspartei geschlagen. Für sie stand er mit seiner „Volkszeitung" ein und wurde zu einer Integrationsfigur. Stark tritt in ihr die Antipathie gegen Lassalle und die Arbeiterbewegung hervor. Die Erörterung des Streites, ob die Liberalen durch ihre Hinwendung zum Handwerkerstand ihre Basis verengt hätten, erscheint zweitrangig gegenüber der dezidierten Haltung Bernsteins im Verfassungskonflikt. Diese Vorgänge werden vom Verf. ausführlich dargelegt. Aus dem Hin und Her der Liberalen in ihrem Ver­ hältnis für oder gegen Bismarck blieb allein Bernstein eindeutig sein Gegner. Er lehnte sein Indemni­ tätsverlangen ab, er bezeichnete jede nationale Einheit ohne Freiheit als Sklaverei, er favorisierte die großdeutsche Lösung, weil er eine Verpreußung Deutschlands fürchtete. Damit stand er unter seinen Freunden in der Fortschrittspartei allein da. Bei genauer Betrachtung dieser Vorgänge aus der Sicht der preußischen Linksliberalen scheint sich eine bisher marginale Beurteilung der Historiker zu bestä­ tigen: 1866 sei die eigentliche Wende in der Demokratisierung Preußens gewesen, sie nehme die nationalkonservative Strukturierung des Bismarckreiches vorweg, ja 1871 sei nur fixiert worden, was sich im Verfassungskonflikt vorbereitet habe. Darin liegt wohl die Kernfrage der Studie von Schoeps. Sie führt zur darüber hinausreichenden Frage, ob Bismarck den Krieg gegen Österreich bewußt her­ beigeführt habe, um Preußens Führungsanspruch in Deutschland zu sichern, oder ob er damit den Konflikt zwischen Krone und Parlament beenden wollte. Das Problem stellte sich Bernstein in dieser Zuspitzung noch nicht, wichtiger waren ihm zunächst die Folgen des Friedensschlusses von Nikols- burg. Wie sollte das spätere Reich der Deutschen verfaßt sein? Er plädierte, anders als Bismarck, für einen Bundesstaat Deutschland, und zwar aus Furcht vor der Etablierung eines absolutistischen Staa­ tes wie im Frankreich Napoleons III. Als das geeignete Mittel, um die Freiheit der Deutschen zu bewahren, sah er das Modell der Paulskirchenverfassung von 1849 an. An ihr pries er: „Sie ist die Ein­ heit, sie ist die Freiheit. In ihr kann Nord und Süd geeint werden, durch sie kann historisches Recht und Fortschritt der Zeit ausgesöhnt werden!" Dagegen nannte er die Bismarckverfassung ein „Fürsten­ bündnis mit unverantwortlicher Regierung".

210 Zum Verdienstvollen seines Wirkens gehört sein Engagement für ein Reformjudentum aus dem Gei­ ste der Aufklärung: hier erntete die Enkelgeneration die Früchte des Mendelssohnschen Wirkens. — Und er stellte sein Talent in den Dienst der Verbreitung naturwissenschaftlichen Forschens im Geiste der Humboldtschen Kosmos-Konzeption. Über beides ist viel zu lesen. Die Vertiefung und Verifizie­ rung des Dargestellten erfolgt in einem ausführlichen Anmerkungsapparat. Christiane Knop

Herbert Meschkowski: Jeder nach seiner lacon. Berliner Geistesleben 1700—1810. — München Zürich: Piper,, 1986. - 303 S., 38 Abb. - ISBN 3-492-02970-1 „Berliner Geistesleben", dieser Begriff ist sozialhistorisch in unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, im höfischen Leben der Residenzstadt, im Bürgertum, der Intelligenz einerseits, aber auch in den mittleren und unteren sozialen Schichten. Resultierend daraus sind auch die Merkmale dessen, was unter Geistesleben verstanden werden muß, schwer vergleichbar. Denn dazu gehörten im 18. Jh. in Berlin solche unterschiedlichen Zeugnisse wie die friderizianische Philosophie, die materialistische Schrift „L'homme machine" von J. de La Mettrie, die Postulate des Popularphilosophen Friedrich Nicolai und seiner Gesinnungsgenossen in der geheimen Mittwochsgesellschaft, die vielfältigen neo­ logischen Bestrebungen des Berliner Oberkonsistoriums, etwa von Spalding und Zöllner, bis hin zu Äußerungen von Handwerksgesellen, Manufakturarbeitern oder der vielzitierten Frau auf dem Müh­ lendamm, die ihren Zuhörern für einen Dreier das Neueste aus den Zeitungen vorlas. In der zu besprechenden Publikation von H. Meschkowski wird nun der Versuch unternommen, diese komplizierte Frage „in einem Stück", gemessen an der unübersehbaren Zahl von Veröffentlichungen zu Einzelaspekten eine Seltenheit, darzustellen. Der Autor stellt das Zeitalter Friedrichs des Großen, die Zeit nach 1740, in der Berlin zu einem geistigen Zentrum in Deutschland und darüber hinaus wurde, viele weltanschaulich auch unterschiedlich orientierte Gelehrte, Künstler, Schriftsteller nach Berlin kamen, sich eine außerordentlich freigeistige Atmosphäre entwickelte, in den Mittelpunkt sei­ ner Betrachtungen. Die Grundlagen für die enorme Vielfalt, durch die sich das Berliner Geistesleben im 18. Jh. auszeichnete, wurden aber bereits um 1700 mit der Gründung der preußischen Societät der Wissenschaften, deren Initiator und erster Präsident Gottfried Wilhelm Leibniz war, gelegt. Hier, eigentlich noch im 17. Jh., mit der brandenburgischen Kurfürstin Sophie Charlotte und den Bemü­ hungen des Kurators der französischen Kolonie, Ezechiel von Spanheim, um eine erste gelehrte Gesellschaft in Berlin, beginnt auch der weitgespannte Bogen seiner narrativen Geschichtsdarstel­ lung. Obwohl der Autor in seinen Ausführungen auch auf einige Geistesprodukte des „hellen Berliners", dieser Begriff ist bereits in zeitgenössischen Schriften zu finden, eingeht: „man findet hier beinahe in allen Köpfen Begriffe verbreitet, die sonst fast geheim und unzugänglich gehalten werden", so wird der „Bericht von einem Fremden" zitiert (S. 13; hinter dem sich allerdings der Berliner Aufklärer Friedrich Gedike verbirgt, wie mittlerweile nachgewiesen werden konnte), hat er sich jedoch mehr auf die Höhenflüge des Berliner Geistesleben konzentriert. Die Auswahl von historischen Ereignissen, Institutionen und Persönlichkeiten, die in zwölf Kapiteln jeweils gesondert dargestellt werden, ist so vorgenommen, daß sich der Leser einen guten Überblick über das, was an Ideen in dem langen Zeit­ raum von 1700 bis 1810, dem Gründungsjahr der Berliner Universität, angeboten wurde, worüber gestritten wurde, verschaffen kann. Neben bekannten Berlinern und Gelehrten, Aufklärern, die sich nur vorübergehend in der Stadt aufhielten, wie Lessing, Moses Mendelssohn, Nicolai, Voltaire, Mau- pertuis, Lambert, den Brüdern Humboldt, Büsching, Meierotto, Moritz bis hin zu Fichte und Schlei­ ermacher, die Wesentliches zum geistigen Klima Berlins beigesteuert haben, werden auch die Aktivi­ täten von Personen geschildert, die meist nur dem Fachmann geläufig sind, etwa die von Isaac Beau- söbre um die Schaffung eines Diskussionsklimas im Berlin im Zeitalter der Frühaufklärung, solcher „königlichen Narren" wie des ehemaligen Mönches und Feldpredigers Graben zum Stein aus Tirol und des durch wissenschaftliche Arbeiten ausgewiesenen Salomon Jacob Morgenstern oder die weit gefächerten Bestrebungen des aus der Schweiz stammenden Johann Georg Sulzer, der eine neue Ästhetik begründete, eine Zeitschrift herausgab, mit den kritischen Äußerungen von Lessing und Nicolai jedoch nicht immer übereinstimmte. Behandelt wird das Geistesleben am Hof, im Tabakskol­ legium, an der neuen, 1744 gegründeten Akademie, an den Berliner Gymnasien, im Mathematischen Kaffeehaus und in der Mittwochs-Gesellschaft.

211 Dieses Buch wirkt aber nicht nur vom Inhalt her, sondern wesentlich auch von der Diktion, dem äußerst lebendigen Stil des Autors. Seine längere intensive Beschäftigung mit der Thematik überträgt sich auch auf den Leser, der auch gefühlsmäßig angesprochen wird. Der Autor stützt sich auf eine umfangreiche Fachliteratur, zeitgenössische Schriften aus dem 18. Jh., auf Anekdoten und vieles mehr. Schön ist es, daß er im Gegensatz zu manchen „wissenschaftlichen" Sachbuchautoren auch seine Quellen genau bekanntgibt, wodurch der Leser in dieser oder jener Frage weiter in die Tiefe gehen kann. „Jeder nach seiner Fagon", dieses oft zitierte Leitmotiv des Berliner Geisteslebens, ist der rote Faden in den Ausführungen Meschkowskis. Für unsere Begriffe hätten aber dabei die Widersprüche zwi­ schen den freigeistigen Bestrebungen einerseits und den tief verwurzelten traditionellen Verhaltens­ normen in solchen großen Bereichen wie Religion. Sitte und Moral sowie Politik andererseits, die im gesamten untersuchten Zeitraum vorhanden waren und nach 1786 offen ausgebrochen sind, noch stärker herausgearbeitet werden müssen. Zu denken ist an solche Auseinandersetzungen wie Gesang­ buchstreit, der Streit um den Kalenderinhalt und um die Predigerkritiken, nicht zuletzt um das Reli- gions- und das Zensuredikt. Daß der Soldatenkönig „die Wissenschaft und ihre Repräsentanten" „verachtete" (S. 52), ist nicht ganz richtig; denn immerhin sind in seiner Regierungszeit, was nicht gering zu veranschlagen ist, die zwei ersten kameralistischen Lehrstühle in Deutschland überhaupt, in Halle und in Frankfurt an der Oder, ins Leben gerufen worden. Die leider immer wieder auftauchende Behauptung vom „flachen Wolff", „einen Versuch zu erkenntnistheoretischen Überlegungen gibt es bei ihm überhaupt noch nicht" (S. 73), ist durch die Hallenser Wolff-Forschung (H.-M. Gerlach, G. Schenk u. a.) schon lange widerlegt worden. Das Edikt zur Ausweisung Wolffs wurde nicht am 8. Januar 1723 (S.61), sondern am 8. November 1723 erlassen. Das Buch hat ein Literaturverzeichnis, aber leider kein Register. Diese kritischen Anmerkungen kön­ nen jedoch den sehr hohen Wert der Publikation in keiner Weise mindern. Insgesamt stehen die Aus­ führungen des Autors auf einem hohen Niveau, inhaltlich, sprachlich, darstellungsmäßig und auch in der Hinsicht, daß sie eine sehr gute Grundlage für Diskussionen der verschiedensten Art bilden. Das Buch ist sicherlich längere Zeit aktuell, steht aber leider nur noch in Bibliotheken zur Verfügung. Dieter Reichelt

Christian G. Seeber: Wasserwandern in und um Berlin. Elefanten Press Verlag GmbH, Berlin 1992. Broschiert, 190 Seiten. Den zehn Routen mit einer Dauer von wenigen Stunden bis zu mehreren Tagen sind Paddeltips voran­ gestellt. Ausgangspunkt und Endpunkt werden ebenso angegeben wie die Länge der Fahrt, deren Dauer, die einzelnen Ortspassagen und Haltepunkte bzw. Anlegestellen. An Landkarten wird die Fahrtstrecke verdeutlicht. Auf Kentergefahr bei hohem Wellengang sowie starken Sport- und Aus­ flugsverkehr wird gesondert hingewiesen. Der Interessent wird auf die Geologie und Geographie, besonders aber auch auf die Historie der Landschaften links und rechts (oder an Backbord und Steuerbord) des Weges aufmerksam gemacht. In einem Anhang werden Fachgeschäfte für Wasser­ sportler aufgeführt, die Dachverbände der Paddel-, Kajak- und Kanusportfreunde ebenso aufgelistet wie Wassersportclubs in Berlin und das Verzeichnis der Schleusen und Schleusenzeiten. Die Hand­ lichkeit des Büchleins kommt seinem Zweck entgegen. SchB.

Dietmar Schenk: „Anton von Werner, Akademiedirektor. Dokumente zur Tätigkeit des ersten Direktors der Königlichen akademischen Hochschule für die bildenden Künste zu Berlin, 1875-1915." Hochschule der Künste, Berlin. Edition des HdK-Archives, 1993. In einer sehr informativen Schrift, der ersten einer geplanten Reihe über die Bestände des Archives der Hochschule, gibt der Archivar der HdK. Dr. Dietmar Schenk, einen umfassenden Überblick über das vierzigjährige Wirken Anton von Werners als Direktor der damaligen „Königlichen akademi­ schen Hochschule für die bildenden Künste". Der Band ergänzt in idealer Weise die Ausstellung über Leben und Werk des Künstlers, die das Deutsche Historische Museum seit Mai dieses Jahres zu dessen 150. Geburtstag gezeigt hat.

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I Anton von Werner durchlief ein „Karriere-Muster" (Verf.), dessen Ursprung noch im ausgehenden 18. Jahrhundert verwurzelt zu sein scheint: Akademie-Besuch, Studienreisen nach Italien und Frank­ reich und schließlich die Berufung in ein öffentliches Amt. Befangen in der europäischen Historien­ malerei des 19. Jahrhunderts wurde er folgerichtig zum loyalen Repräsentanten der offiziellen Kunst des Kaiserreiches und stand dem Beginn der Moderne — Impressionismus, Jugendstil und schließlich Herwarth Waldens „Sturm"-Bewegung — nicht nur ablehnend, sondern verständnislos gegenüber. Der „Simplicissimus" konnte ihn daher als „streitbare Verkörperung königlich-preußischer Kunst" sehen. Anton von Werner, der im Alter von 32 Jahren das Amt des Direktors übernommen und anfänglich die Berliner Akademie der Künste aus ihrer Stagnation herausgeführt hatte, blieb bis zu seinem Tode am 4. Januar 1915 eine „Person der Gründerzeit" (Verf.), wenn er auch „eine relativ selbständige Künstlerschule unter dem Dach der Akademie" (Verf.) verwirklichte, die das Prinzip des Atelierunterrichtes betonen sollte. Triebfeder hierfür bildete die Berufungspolitik, die Anton von Werner weitgehend selbständig handhaben konnte. „Innerhalb des Studienplanes legte von Werner großen Wert auf die technischen, d. h. sowohl auf die eher handwerklichen wie die naturwissenschaft­ lichen Aspekte der Ausbildung. So richtete er ein chemisches Laboratorium ein, in dem Experimente mit Farben durchgeführt wurden." (Verf.) Trotzdem konnte im Jahre 1896 bereits der Direktor der Nationalgalerie, Wilhelm von Bode, in der Zeitschrift „Pan" die „Praxisferne der akademischen Kunsthochschule" kritisieren. Es war das Jahr des zweihundertjährigen Jubiläums der Akademie der Künste. Inzwischen war mit der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums, die seit 1907 ein Mann wie Bruno Paul leiten sollte, ein nicht unbedeutendes Konkurrenzunternehmen erwachsen, das die Wende einleiten sollte. Bruno Paul, der im Jahre 1924 die „Berliner Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst", in der beide Anstalten aufgegangen waren, übernehmen sollte, steht für den Beginn einer neuen Ära. Dieser Band will keine Geschichte der „Kgl. akademischen Hochschule für die bildenden Künste" vorlegen, gewährt aber eine interessante kritische Würdigung und Auseinandersetzung mit der Vor­ geschichte der jetzigen Hochschule der Künste. Günter Wollschlaeger

Hans von Godin: Strafjustiz in rechtloser Zeit. Mein Ringen um Menschenleben in Berlin 1943—45. Berlin 1990, 205 Seiten, 5 Abb., 21x14 cm, geb. mit Schutzumschlag 28 DM. ISBN 3-87061-364-5. Der Autor Hans Freiherr von Godin, heute unweit Münchens ansässig und als Anwalt auch in den neuen Bundesländern tätig, berichtet aus schwerer Zeit, von ihm als „rechtlos" gekennzeichnet, in der er seine Zulassung als Strafverteidiger nur in der Form eines Assessors als amtlich bestellter Vertreter der Rechtswanwälte Frey und Hardegen erlangt hatte. Als junger Assessor führte er in Kreisen seiner Anwaltskollegen den Beinamen „Der Löwe des Frauengefängnisses Moabit", weil sich dort die mei­ sten Frauen um eine Verteidigung durch ihn bemühten. Daß er einen guten Stern hatte, glaubt man ihm, wenn man der Schilderung der Verteidigung seines eigenen Vaters folgt. Diesem Bericht stellt er Überlegungen zum deutschen Rechtssystem und zur deutschen Strafjustiz besonders in der NS-Zeit voran, wobei er der deutschen Justiz zu ihrer Ehrenrettung attestiert, „daß es wahrscheinlich in den meisten Ländern nicht besser zugeht" (S. 69). Der Volksgerichtshof hatte am 6. Mai 1944 mit den Unterschriften seines Präsidenten Dr. Freisler und des Kammergerichtsrats Rehse den Vater des Autors Rechtsanwalt und Notar Reinhard Freiherr von Godin aus Berlin wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt. Reinhard von Godin hatte nach dem Todesurteil des Volksgerichtshofs für einen von ihm verteidigten „habsburgisch separatisti­ schen Volksfeind" laut Haftbefehl die Behauptung aufgestellt, „daß das Urteil nicht hätte gefällt wer­ den können, wenn das Gericht nicht trotz des schon im Voruntersuchungsverfahren zu seinen Gun­ sten lautenden Gutachtens des Psychiaters offenbar von oben her angewiesen wäre, ein Todesurteil zu fällen." Die Schilderung des Gnadenverfahrens ist sehr lebendig und bewegend, es führt dazu, daß der Reichsminister der Justiz Dr. Thierack am 15. Dezember 1944 „mit Ermächtigung des Führers" die Todesstrafe in acht Jahre Zuchthaus umwandelt.

213 Der Bericht, der an Margret Boveris „Tage des Überlebens" erinnert, bricht ab, eine Fortsetzung der Lebenserinnerungen des Autors wäre wünschenswert. Im Anhang (65 Seiten) sind die Dokumente in zumeist maschinenschriftlicher Form wiedergegeben, also nicht im Original. Eine kleine Korrektur ist angebracht, wenn der Verfasser schreibt, in der „Kristallnacht" seien alle Synagogen Berlins der Brandstiftung zum Opfer gefallen — „fast" alle waren es, und gerade die bedeutendste in der Oranien­ burger Straße wurde gelöscht. Der Lebensgrundsatz Hans von Godins, wie er sich in den Versen Theodor Storms ausdrückt, findet in diesem Buch beredten Niederschlag: Der eine fragt, was kommt danach? der andere fragt nur: Ist es Recht? und darin unterscheidet sich der Freie von dem Knecht. Hans Günter Schultze-Berndt

Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen. Herausgegeben von der Berlinischen Galerie, Museum für Moderne Kunst, Photographie und Architektur. Ein Forschungs­ und Ausstellungsprojekt der Berlinischen Galerie in Zusammenarbeit mit dem Verein der Berliner Künstlerinnen. Kupfergraben Verlagsgesellschaft mbH, Berlin 1992. Broschiert 619 Seiten. ISBN 3-89181-410-0. Unter einem Sechspfünder mag man sich je nach Herkunft und Geschlecht eher einen Begriff aus der Geburtshilfe oder aus der Artillerie vorstellen. Hier ist aber ein Buch anzuzeigen, das glatt seine sechs Pfund auf die Waage bringt (akkurat 2950 g). So abschreckend sonst aber derartige Dimensionen wir­ ken mögen, so erfreulich sind Inhalt und Lektüre des Ausstellungskatalogs, um den es sich im Grunde handelt. In einem richtig munteren Vorwort gehen Jörn Merken, Direktor der Berlinischen Galerie, und Karoline Müller, Erste Vorsitzende des Vereins der Berliner Künstlerinnen, auf die Intentionen des jubilierenden Vereins und der Ausstellungsmacher ein. Die Vorbereitungen für die Ausstellung zogen sich über gut zwei Jahre hin, insgesamt 47 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben recherchiert oder geschrieben, und die Vielzahl der Aufsätze dieses Buches zeugt vom Erfolg der Bemühungen. Es werden historische Entwicklungen beschrieben, Biographien von Künstlerinnen vermittelt, Rechtsfragen diskutiert, Statistik ebenso bemüht wie Politik und Psychologie. Natürlich wird auch die wechselvolle Vereinsgeschichte ausführlich dokumentiert, durchaus selbstkritisch übri­ gens. Von mehr als hundert Leihgebern zwischen St. Petersburg und London, Kopenhagen und Paris werden rund 250 Ausstellungsstücke vorgestellt und beschrieben. Mit Interesse erfährt man, daß das Archiv des Vereins der Berliner Künstlerinnen Material zur 125jährigen Geschichte des Vereins, mehrere hundert Dossiers zu Künstlerinnen, Kunstfreundinnen und Ehrenmitgliedern sowie ein Pho­ toarchiv mit rund 4000 Abbildungen enthält. Carola Muysers beschäftigt sich mit der Konzeption von Projekt, Ausstellung und Katalog. Aus den Recherchen zum 125jährigen Jubiläum des Vereins der Berliner Künstlerinnen ergab sich, daß in mehr als 50 Zeitschriften und Zeitungen über dessen Aktivität umfassend und regelmäßig berichtet worden ist. Je mehr Einzelheiten aus der Vereinschronik auftauchten, desto spannender erwies sich die Geschichte des Verbandes. Bis zur Zulassung von Frauen zur Kunstakademie 1919 galt die vereins­ eigene Zeichen- und Malschule als eine der renommiertesten Ausbildungsstätten für Künstlerinnen. In den 125 Jahren des Bestehens haben sich 1200 Malerinnen, Grafikerinnen und Bildhauerinnen dem Verein angeschlossen. Mehr als 4000 Grafiken, Plastiken und Gemälde aus der Hand von Frauen konnten lokalisiert werden. Zum Jubiläum wurden eine große Ausstellung, das umfangreiche Katalogbuch mit größerem Format als die Berliner Telefonbücher und ein Lexikon erarbeitet. Der Katalog geht weit über die Auswahl der in der Ausstellung vorgestellten Künstlerinnen hinaus. Er setzt drei Schwerpunkte: „Profession ohne Tradition. 125 Jahre bildende Kunst von Frauen", „Auf­ trag — Kunstmarkt — Eigensinn. Künstlerinnen im Kunstbetrieb" und „Konflikte — Strategien — Erfolge, 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen". 40 Autorinnen und Autoren haben aus der Sicht ihres Spezialgebiets, die die unterschiedlichsten Disziplinen verkörpern, jeweils einen bestimm­ ten Zeitabschnitt oder Aspekt betrachtet. Dabei wird nicht nur die Vereinsgeschichte in einer ausführ­ lichen Chronik rekonstruiert, sondern auch auf Ereignisse aus stadtgeschichtlicher, historischer und

214 kunsthistorischer Sicht eingegangen. Das die Grundlage des Vereins bildende Mäzenatentum, die Situation des Vereins im Dritten Reich und seine Rechtsgeschichte werden ausführlich dargestellt. Um ein aufschlußreiches „Hinterfragen" geht es in dem Beitrag Jörn Merkerts, der sehr frei nach Peter Weiss überschrieben ist: „Darum geht es. Geht es darum ? oder Die Entwicklung und Mißachtung der Kunst von Frauen erforscht und ausgestellt durch die Wissenschaftsgruppe des Vereins der Berliner Künstlerinnen unter Anleitung der Berlinischen Galerie." Der Direktor dieser Galerie schildert von den Bemühungen der Vereinsvorsitzenden Karoline Müller, „mit nicht einzudämmendem Eifer" auf einer Ausstellung zu bestehen, und er charakterisiert sein Gegenüber Karoline Müller als „eine von ihrer Idee besessene Person..., die von taktisch differenziert vorgetragenem Widerstand nur um so mehr angefeuert wurde". Kritisch geht J. Merken mit der jüngeren Generation ins Gericht, „die Mitte der sechziger Jahre ihr Studium begann und der sich nie dagewesene Möglichkeiten eröffneten". Und weiter: Es war also „die später so genannte 68er Generation, die — sich dessen weitgehend unbewußt — in den Genuß der Möglichkeiten kam, die Generationen von Frauen vor ihnen in zähen Auseinan­ dersetzungen erkämpft hatten. Dafür kein Bewußtsem zu haben, ist auch eine Form der Traditionslo- sigkeit." Es würde den Platz sprengen, wollte man auch nur annähernd auf den Inhalt dieses Standardwerks eingehen. Vielleicht verdient aber aus der Sicht des zwei Jahre älteren Vereins für die Geschichte Ber­ lins, gegr. 1865, der Aufsatz Karoline Müllers „Leftie Loser Lobbyist. Eine Textcollage der Kronprin­ zessin Victoria gewidmet" Aufmerksamkeit und Interesse. Während mit der Festigung der Europäi­ schen Gemeinschaft die alten Feindschaften des 19. Jahrhunderts schwächer werden, ist die Kron­ prinzessin immer noch eine historische Figur, die das Paradox verwirklicht, ebenso unbekannt wie verhaßt zu sein. So leitet die Vereinsvorsitzende ihren Beitrag ein. Sie fährt fort: Es ist einfach bemer­ kenswert, mit welcher Kontinuität in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen Bismarcks Verdikt über seine mächtigste politische Gegnerin Geltung behielt. Die englische Prinzessin hat sich wirklich um die Förderung der Kultur in Deutschland verdient gemacht — von der Körperhygiene bis zum Museumsbau. Ihre Kämpfe für Frauenemanzipation, freies Denken und die Förderung der Kün­ ste wurden durch Bismarck gekontert und scheiterten nach 1888 gänzlich. Nur in einer Verbindung von aufgeklärtem Bürgertum und einem liberalen Herrscherhaus wäre eine Entwicklung denkbar gewesen, die anders ausgesehen hätte als der „Wilhelminismus" und seine Folgen. Hier sei dem Rezensenten der Einwand erlaubt, daß der auch sonst in der Literatur anzutreffende Begriff „Wilhel­ minismus" falsch geprägt ist, da dessen Namensgeber Wilhelm (II.) hieß und nicht Wilhelmine. Daß Karoline Müller nun eine Ehrenrettung der Kronprinzessin Victoria betreibt, verdient Respekt und ist sicher in jeder Beziehung gerechtfertigt. Allerdings muß man gegenüber den einleitenden Bemerkun­ gen Opposition oder zumindest Reserven anmelden, wenn die Autorin schreibt: Die Kronprinzessin Victoria kam im Januar 1858 von England nach Preußen zu den Barbaren, den Ungebildeten, den Grausamen. Zu Bismarck mit seinen manipulierten Medien, seiner großen Armee und seiner Geheimpolizei, seinen Überwachungen, zu „Eisen und Blut" mit modernen Spitzelmethoden. — Hier scheint, mit Verlaub gesagt, die umgekehrte Voreingenommenheit zu herrschen, die Victoria in Preu­ ßen begegnete. Quod erit demonstrandum. Es ist amüsant zu lesen, wie Wilhelm von Bode und die „Kronprinzens" manchmal „kungelten", wenn es um Ankäufe, Vorlieben und Beeinflussungen bei den Königlichen Museen ging. Die Künstlerin Victoria wird auch mit ihren Werken vorgestellt. Das letzte Wort über die Kronprinzessin wird den 1921 erschienenen Lebenserinnerungen Helene Langes entnommen: „Der Weltgeschichte, die aus Fürstengalerien mit Schlachtenbildern im Hintergrund besteht, wird sie nichts bedeuten. In die Kul­ turgeschichte aber wird sie eingehen ... als die erste Fürstin, die ihren vollen Einfluß für die Frauen­ bewegung einsetzte zu einer Zeit, in der die Acht weiter Kreise noch schwer auf ihr lastete." Die schon erwähnte Chronik des Vereins der Berliner Künstlerinnen 1867—1982, der eigentliche Katalogteil und das Verzeichnis der ausgestellten Werke bilden den Abschluß dieses hervorragenden Bandes. Es mag thematisch bedingt sein, daß ein Gruppenbild von Mitgliedern der Berliner Neuen Gruppe von 1954 mit Renee Sintenes doppelt wiedergegeben wurde (Abb. 148 und 184). Unausrott­ bar scheint der Gebrauch des falschen Begriffs Exponat zu sein, selbst in einem solch wertvollen Werk. Im Lateinischen gibt es nämlich kein Verbum „exponare", sondern nur „exponere", folglich müßte es nicht Exponat heißen, sondern Exposit, wie man ja auch immer noch von einer Depositen­ kasse und nicht von einer Deponatenkasse spricht. Auch besuchen wir immer noch eine Exposition und nicht eine Exponation. Selbst wer die schöne Folge expono, exposui, expositum, exponere nicht

215 auf der Schule gelernt hat, sollte nicht falsche Ausdrücke gebrauchen (Fremdwörter sind Glückssa­ che), nur um die so passenden Begriffe Gegenstand, Ausstellungsstück oder Objekt zu vermeiden. Das letzte Wort sei dem mitverantwortlichen Jörn Merkert gegeben (und seine Aussage gilt nicht nur für den Verein der Berliner Künstlerinnen): „Einen Verein, der die Tiefen seiner Vergangenheit aus­ loten will, um sein Heute zu begreifen, nenne ich einen mutigen, einen klugen und unbequemen Ver­ ein." Diesem sei für die Zukunft Glück auf dem Wege gewünscht und für die Ausstellung und den Katalogband gedankt. SchB.

Dieter Hanauske: „Die Berliner Wohnungspolitik in den 50er und 90er Jahren. Aus der Geschichte lernen?" 188 Seiten, Literaturverzeichnis, reichlich viel Anmerkungen, Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1993. Ob man aus der Geschichte lernen kann, wird verschieden beantwortet. Aber eine politische Aufgabe unter ähnlichen Umständen mit erprobten Mitteln der Vergangenheit lösen zu wollen, kann erfolg­ reich sein und eine historische Phase nachhaltig bestimmen. Im vorliegenden Fall fragt Verf. — um die Diskussion zu versachlichen — aus der Kenntnis von Zahlenmaterial und theoretischem Rüstzeug der Senatsbauverwaltung nach der Möglichkeit, sich bei der Wohnungspolitik der 90er Jahre an der der 50er zu orientieren und zu erwägen, ob gleiche Grundsätze und Instrumentarien auch künftig geeig­ net seien. Als Vergleichsgrundlage wird der soziale Wohnungsbau im damaligen West-Berlin unter­ sucht; im Ostteil sind heute gleiche staatliche und wirtschaftliche Verhältnisse gegeben, die das Pro­ blem nun als gleichartig erscheinen lassen. — Die damalige Lage war gekennzeichnet durch eine Wirt­ schaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit, höchst schlechter Bausubstanz des verbliebenen Bestandes, extremem Kapitalmangel und sehr niedriger Mietzahlungsfähigkeit. Da nur geringe Renditen bei Neubauvorhaben erwartet werden konnten, war kaum Privatkapital in Anspruch zu nehmen, so daß die Finanzierung über sorgfältig geplanten Einsatz öffentlicher Mittel erfolgte. Der so erstellte soziale Wohnungsbau wurde in Ausstattung und Standard von der Bauverwaltung entsprechend beeinflußt; seine Architektur wird hier als eher nüchtern-funktionale Durchschnittsware — gemessen am Wohn- siedlungsbau der 20er Jahre — bezeichnet, als ein Stil „gemäßigten Modernismus'" anzusehen als Knappheitsarchitektur, wie sie die bescheidenen Mittel der Zeit hergaben. Aber er war so erfolgreich, daß die extreme Wohnungsnot verringert werden konnte und sich Berlin darin merklich von der Bun­ desrepublik abhob. Verf. schildert ihn als eine staatlich gelenkte Wohnraumbewirtschaftung, zu der es keine Alternativen gab, sofern man Verstaatlichung des Wohnungsbestandes ablehnte und anderer­ seits akzeptierte, daß eine freie Bewirtschaftung aus Kapitalmangel noch nicht möglich war. Noch in der Mitte der 80er Jahre schien der Wohnungsmarkt ausgeglichen, die Verschlechterung setzte erst ein, als zu diesem Zeitpunkt die Einkommen stiegen und die Bevölkerung Berlins zunahm. Verf. schildert die baupolitischen Maßnahmen jener Jahre, die ausgefüllt waren mit Verbesserung des Wohnumfeldes und behutsamer Stadterneuerung statt Kahlschlagsanierung. Mit dem Auseinander­ klaffen von Bestand und Bedarf war schon der rot-grüne Senat konfrontiert, nach der Wiedervereini­ gung ist es der Diepgen-Senat erst recht. Er hat nun eine erneute Forcierung des Wohnungsbaus bezahlbarer Wohnungen auf sein Programm gesetzt. Damit ist die Situation der der 50er Jahre ver­ gleichbar: das gleiche große Defizit an Wohnungen, die hohe Sanierungsbedürftigkeit bei Altbauten, riesiger Finanzierungsbedarf und Mietendilemma. Hinzu kommt ein eklatanter Flächenbedarf, der unter dem Motto „Verdichtung statt Zersiedlung" angegangen werden soll, was zu Schwierigkeiten und Protesten führt. Die Wohnungsbestandspolitik hat es dennoch leichter als in der ersten Nachkriegszeit, denn damals war es eine allgemeine Wohnungsnot, was sich heute als eine partielle darstellt, da es vor allem an bezahlbarem Wohnraum mangelt, wehalb die Schere zwischen oben und unten immer weiter ausein­ anderklafft. Denn die Wellen von Umwandlungen preiswerten Raumes in Eigentumswohnungen führten zu weiterem Verlust. Hinzu kommt ein hoher Anteil von sanierungsbedürftigem Raum in Plattenbauten des östlichen Teils. Wie denn überhaupt die Wohnungspolitik die Negativa im östlichen Teil anzugehen hat, die monotone Baukörpergestaltung und das Wohnen in Großraumsiedlungen mit reinem Schlafstadtcharakter. Bilanzierend findet man also eine Reihe von Problemen gleichartig mit denen der 50er Jahre, einige dagegen sind neu. Selbst wenn man also auf das damals angewandte

216 Instrumentarium zurückgreift, sind Erfolge schwieriger zu erreichen infolge der allgemeinen Kosten­ explosion auf dem Mietpreissektor. Das Problem wird also sich nur langfristig lösen lassen und noch die 90er Jahre bestimmen. Im Ausblick auf die Zukunft will Verf. nur einige grundlegende Hinweise geben. Ein ausschließliches und alleinverpflichtendes Leitbild einer Stadtplanung kann nicht gegeben werden und soll es auch nicht, dafür aber einen Negativkatalog; er schließt Kahlschlagsanierung und Großsiedlungsbauweise aus, weiß sich aber im Ringen um den Flächenbedarf am tiefsten verstrickt. Er hält größere Verdich­ tung für nur eine Teillösung und plädiert flankierend für bessere Ausschöpfung der vorhandenen Reserven, die er beschreibt. Denn der Drang nach Verdichtung wird durch die Notwendigkeit der zu schaffenden Infrastruktur begrenzt. Eher scheint ein Bebauen des Umlandes, etwa entlang der Bahn­ linien, erfolgversprechend. Eines der Zentralprobleme sind die Eigentümerfragen. — Als menschen­ freundlichste städtebauliche Form wird die mitteldimensionierte Wohnsiedlung in der Art der 20er und 50er Jahre bevorzugt, die auch Gewerbeansiedlungen einschließt. Besser als die Errichtung gro­ ßer neuer Stadtteile wird wahrscheinlich die Begrenzung in kleinere Quartiere sein, die von jeweils einem Bauträger erschlossen werden könnten. Es werden jeweils Vor- und Nachteile erörtert, und es wird die Frage aufgeworfen, wer denn planen solle, ob eine zentrale Bauverwaltung oder private bzw. halböffentliche Institutionen. In der Wohnungsbaupolitik, die ja auch Wohnungsbestandspolitik bedingt, wird das alte Instrumentarium aus der Zeit des sozialen Wohnungsbaues durchforstet; vieles ist brauchbar, da begrenzte Finanzierungsmöglichkeiten und begrenzte Baukapazitäten weiterhin die größte Schwierigkeit bilden. Eine Reihe von Förderungsmöglichkeiten bietet Verf. an. Christiane Knop

Birgit Gatermann und Sabine Paque: Kunstführer Berlin. Broschiert, 301 Seiten, Verlag Elefanten Press, Berlin 1991. Der Kunstführer Berlin gibt sich bunt, was nicht nur daran liegt, daß den einzelnen Galerien und Museen in beiden Teilen Berlins zumeist farbige Abbildungen zugeordnet sind, sondern auch auf die im vorderen Teil und am Schluß eingeschossenen Anzeigen der „Sponsoren" zurückzuführen ist, denen ausdrücklich für ihre Unterstützung gedankt wird. Zunächst wird den Ostberliner Galerien eine Betrachtung gewidmet, für die der Journalist Detlev Lücke und (für die alternative Ausstellungs­ szene) der Kunstwissenschaftler Heinz Havemeister gewonnen wurden. Die Standorte der Galerien auch des Westens werden auf Übersichtskarten festgehalten. Einer für die jeweilige Galerie repräsen­ tativen Abbildung steht dann auf der rechten Seite eine Charakterisierung mit Angabe der Anschrift, Telefonnummer und Öffnungszeiten sowie der Verbindungen mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln gegenüber. Außerdem werden die von den Galerien vertretenen Künstler aufgeführt. Bei den Museen sind die einzelnen Sammelgebiete berücksichtigt, es wird auch der Direktor genannt. Größe­ ren Museen werden dann drei Seiten Text eingeräumt. Auf 30 Seiten werden freie Ausstellungsorte (nichtkommerzielle Initiativen) vorgestellt und beschrieben. Eine Zusammenfassung in englischer Sprache beschließt den offiziellen Teil. Ganz am Ende (dort hört dann aber die Paginierung schon lange auf) werden die Künstler alphabetisch aufgelistet, dazwischen liegt ein mit „Adressenregister" überschriebener Annoncenteil. SchB.

Bernard von Brentano: „Wo in Europa ist Berlin? Bilder aus den zwanziger Jahren", 222 Seiten, 9 Abbildungen, Insel Verlag, 1981. „In Buchform erscheint, was damals hervorragender Tagesjournalismus war, heute Kulturgeschichte ist, nun zum erstenmal", sagt der Klappentext. Zur Kulturgeschichte kann es erhoben werden, da der Autor damals das scheinbar schnell Vergängliche gültig und einmalig festzuhalten strebte. Er suchte als Berlin-Korrespondent der Frankfurter Zeitung das verborgene Berlin zu erspähen. Die Feuille-

217 tons der einzelnen Monate des Jahres 1926 stellte er zu einem Buch zusammen, dessen Titel heute provozierend aktuell klingt. Von kulturgeschichtlichem Wert sind die Echos auf Filmpremieren jener Zeit, z. B. Chaplins „Gold­ rausch" oder „Faust" oder „Metropolis" und die russischen Filme wie die Darstellung des Weltkrieges in einem Ufa-Film. Schon damals vermißte er Vergangenheitsbewältigung und nahm kritisch Stellung zu einem Hetzfilm, aber auch der allzu breit angelegten Wirkung sowjetischer Filme, die ihre Zeit so überaus beeindruckten. — Wir betrachten beim Lesen Augenblicksbilder berlinischer Örtlichkeiten wie der Waisenbrücke, der Kirchstraße in Moabit, vieler Wohnhäuser auf dem Wedding und reizvoller Augenblicke am Wittenbergplatz, besuchen mit ihm eine Zwangsversteigerung. — „Berlin — von Süd­ deutschland her gesehen", schildert das Tempo der Stadt, schildert in bündigen Aussagen die Mode jener Jahre, wie sie den Kurfürstendamm „republikanisch" machte. Er setzte die junge Generation dort in Beziehung zum neuen Erscheinungsbild, erspürte ihr Sich-Anpassen wie ihre Lebensfreude. Der Berlinbericht, der der Sammlung den Titel gab, handelt von der verfehlten Landung der Flieger Chamberlain und Levine in Cottbus statt in Tempelhof, wo sie die Presse vergeblich erwartete. In gro­ teskem Gegensatz zum weltverändernden Ereignis steht das menschenleere Berlin, weil die Polizei die Zuschauer von den Straßen getrieben hatte; die Ankunft auf der Wiese von Cottbus war banal. Während das offizielle Berlin sich zum Empfang bereithielt, ist der Niederschlag des Großartigen und Kühnen in die Unscheinbarkeit verlagert. „Dieser Kampf (mit dem Element) ist ein Wurf in den Him­ mel." (108) Von präzisester, feinster, fast expressionistischer Prosa ist ein Kurzbericht von der Funkausstellung 1926 unter dem Funkturm. „Zu beobachten, wie die Stadt langsam im Spiel der Natur verschwindet, ausgelöscht wird aus der Welt der aufziehenden Nacht und ihr zum Trotz in sich selber erwacht. Ihre Lichter ansteckt, ihre Straßen verdoppelt anfüllt mit Menschen, Autos, Wagen, Geschrei, Bewegung und Musik, um sich dann erst zu beruhigen, wenn der Wächter auf diesem Turm längst schon den blauen Morgen aufziehen sieht." (127) Hellsichtig und unbeeindruckt von der Tagespropaganda beleuchtet er die deutsch-französische Ver­ ständigung und stuft Paul Valerys Versuch als hilflos ein, solange die historischen Ursachen nicht erfaßt sind: „Die Fragen unserer Zeit sind gegeben. Sie heißen nicht nur Deutschland und Frankreich, sie heißen auch Europa, Rußland, Amerika, Krieg und Friede, Sozialismus, Faschismus, und reihen­ weise könnte man hier Worte hinschütten, von denen noch jedes einzelne ein Problem ist. Dazu eine Anwort zu formulieren, wird eine Aufgabe der Schriftsteller sein, wie sie es immer gewesen ist." — So hat Verf. dem kritischen Anspruch aus europäischer Sicht durchaus entsprochen. Noch waren es ja die „guten Jahre" der Weimarer Republik. Christiane Knop

Eckart Kleßmann: „E. T. A. Hoff mann oder die Tiefe zwischen Stern und Erde. Eine Biographie", 592 Seiten, zahlreiche Abbildungen, meist von Hoffmann selbst, auch zeitgenössische Stiche und Zeichnungen, Anhang mit Register, Anmerkungen und ausführlicher Bibliographie, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1988. Wer das stoffreiche Buch durchgearbeitet hat, meint zu Recht, eine gründliche und für die Hoffmann­ forschung relevante Studie vor sich zu haben; der Autor legt sie nach jahrelanger Beschäftigung mit der Gestalt des Dichters vor. Er will vom Klischee des bloßen Gespenstersehers, Exaltierten und von der bloß lokalpatriotischen Assoziation des Mannes vom Gendarmenmarkt und bei Lutter und Wegener loskommen. Der Untertitel „Tiefe zwischen Stern und Erde", einem Wort Jakob Böhmes entnommen, zielt auf den Romantiker Hoffmann in seiner Gespaltenheit zwischen Selbstgewißheit und Weltfremdheit und begleitet ihn in gründlich durchgeführten Interpretationen seiner Dichtung und Musik auf dem Weg seiner Schönheitssuche und seinem Ringen um geistige Transzendenz. Am Ende erkennt man seine Erzählkunst als Glieder einer Kette, darin er den Ausweg aus seinem Leiden am gedemütigten und verletzlichen Ich und der Ahnung dämonischer Schicksalstiefen sucht. Dies haben, so scheint es, seine Zeitgenossen und einige spätere Biographen verkannt. Über sie hinausge­ hend macht Verf. den anspruchsvollen Versuch, in des Dichters Lebenslauf und in seiner schreckli­ chen Todeskrankheit die Spur eines tapferen Schicksals zu finden, die das Außergewöhnliche selbst

218 formte. Neuartig ist es, das Künstlerische bei Hoffmann von seiner Musik und seiner Dichtung her zugleich zu erschließen. — Der Berliner ist leicht geneigt, den Erzähler Hoffmann vom „Eckfenster" am Gendarmenmarkt höher zu werten als den Bamberger Theaterleiter und Komponisten, weil er ihn so besser kennt; der Jurist am Kammergericht steht dahinter ganz und gar zurück. Hier wird nun der historisch Interessierte hineingenommen in Hoffmanns Hin- und Hergeworfenwerden zwischen sei­ nen verschiedenen Lebensstationen seit seiner unglücklichen Kindheit. Es geht von der Residenzstadt Berlin um 1800 in die öde Provinz, nach Bamberg und Warschau, und wieder zurück ins Berlin der beginnenden zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Die dichterische und künstlerische Vollendung bringt diese späte Berliner Zeit. Die Kehrseite seines Beamtendaseins am Kammergericht freilich ist bei Hoffmanns häufiger Krankheit und Geldnot das „Hungern in Berlin", wie ein Kapitel überschrie­ ben ist. Hoff manns biographische Landschaft ist von verschiedenen Profillinien geprägt: von seiner musikali­ schen Laufbahn als Theaterleiter in Bamberg, vom Wandel des gesellschaftskritischen Erzählers seit dem „Kreisler" bis zum „Meister Floh". Es ist dies ein Reifen von bizarrer Wunschwirklichkeit zu gei­ stiger und künstlerischer Realität, die sich gültiger in seiner Erzählkunst als in seiner Musik nieder­ schlägt, obschon hier Hoffmann als einer der frühen romantischen Komponisten geistlicher Musik gewürdigt wird. Er schuf sich in Erzählung, Märchen und Roman eine eigne Kosmologie, ein Geister­ reich aus zaubrischen Gestalten, luziden Bildern, betörenden Klängen und tröstlichen Träumen; über allen steht die Verheißung: „Durch das elfenbeinerne Tor kommt man ins Reich der Träume". Verf. verfolgt dieses Reifen, indem er es festmacht an den klassisch-germanistischen Interpretationen vom „Ritter Gluck", „Die Elixiere des Teufels", „Kater Murr", „Der Goldene Topf, „Klein-Zaches", „Die Abenteuer der Silvesternacht" bis hin zu „Meister Floh". Er verfolgt die sinngebenden Leitmotive von Menschmaschine, Eingeschlossensein des Menschen in die Erdtiefe („Bergwerk von Falun") und die Motive von Spiegelbild und Schatten als Sinnbildern für das Ringen um Identität, wie das für viele Erzählungen der Romantiker wesentlich ist. Das ganze Geflecht seiner Verwobenheit in die Wirksamkeit seiner Zeitgenossen in Berlin wird dar­ gelegt, es sind dies die Kreise der Romantiker, die Freundschaft mit Devrient wird ausgelotet und seine Tätigkeit in der Kommission zur Behandlung „hochverräterischer Umtriebe" beschrieben, die den Fall Friedrich Ludwig Jahn betraf, mit dem Hoffmann befaßt war. Der eigentlich unpolitische Dichter wird durch seine aufrechte Haltung als juristischer Beamter hineingezogen in das politische Getriebe der Reaktionszeit. (Nur seine Krankheit zum Tode hat ihn vor der Strafversetzung in die Provinz bewahrt.) So erlangte der preußische Dichter Hoffmann in seiner Berliner Zeit europäischen Rang. Der ausführliche Anhang verweist auf die Fülle der verarbeiteten Sekundärliteratur und Quellen, auch der musikalischen. Christiane Knop

219 Veranstaltungen im IV. Quartal 1993.

1. Freitag, den 22. Oktober 1993, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Professor Dr. Pierre-Paul Sagave, Universität Paris: „Paris — Berlin, Stadtentwicklung einst und jetzt". Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg. (Bitte beachten Sie Wochentag und Veran­ staltungsraum). 2. Mittwoch, den 10. November 1993,16.00 Uhr: Auf allgemeinen Wunsch Wiederholung des Besuches der Ausstellung „Berlin, 17. Juni 1953". Führung Herr Andreas Mahal, Landesarchiv, Kalckreuthstraße 1/2. 3. Montag, den 15. November 1993, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag der Damen Kerstin Hentschel und Martina Jesse: „Die Friedhöfe der Evgl. Georgen-Parochial-Gemeinde". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Sonnabend, den 11. Dezember 1993,17.00 Uhr: Geselliges Beisammensein im Advent in den Historischen Weinstuben im Knoblauch-Haus neben der Nikolaikirche, Berlin-Mitte, Poststraße 23. Menü: Berliner Erbsensuppe mit kleinem Würstchen — Sauerbraten in Rosinensauce mit Apfelrotkohl und Kartoffelkl. — Schokoladenspeise mit Weinbrand verfeinert und Sahne garniert. 34 DM. Auf Wunsch Hühnerfrikassee. Telefonische Anmeldungen unter 8 54 58 16 ab 19.00 Uhr bis zum 6. Dezember.

Bibliothek: Berliner Straße 40, 10715 Berlin, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 13597 Berlin, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31,12209 Berlin, Telefon 77234 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 13353 Berlin, Telefon 45 09-264. Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin, Telefon 7 53 42 78. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 100 10010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801 200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2,10825 Berlin; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

220 racncüieinj..ij o-i «« A 1015 F MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

90. Jahrgang Heft 1 Januar 1994

Heraldische Reliefs an der Westfront des Reichstagsgebäudes Heraldische Ungereimtheiten am Berliner Reichtagsgebäude Alte Sünden und neue Nutzung durch den Deutschen Bundestag Von Eckart Henning

Der Umbau des Reichstagsgebäudes zum Sitz des Deutschen Bundestages im Berliner Bezirk Tiergarten kann frühestens von 1995 an erfolgen, da für 1994 „noch keine Mittel in den Haus­ halt des Bauministeriums eingestellt" worden seien.1 Daher kommen wohl diese Erinnerungen an die einst emotional geführte Debatte2 und den „heraldischen Schmuck des Reichstagshau­ ses" der Jahre 1895—99 nicht zu spät, um beim Umbau noch Berücksichtigung zu finden. Als Paul Wallot in den Jahren 1884—94 „den Millionenbau" (Abb. 1) errichtete und es um die Gestaltung und Gliederung der gewaltigen Fassadenflächen ging, versäumte er leider, heraldi­ schen Rat bei Fachleuten einzuholen: „Wollte er vor dem nicht mehr unbedeutenden Häuflein der Wissenden sich keine Blöße geben, so mußte er sich mit der Heraldik näher bekannt machen; es standen ihm nicht allein eine gute Anzahl von Lehrbüchern zur Verfügung, sondern es hätte nur eines Wunsches bedurft, um zahlreiche Kenner der heraldischen Kunst zu bewegen, sich ihm dienstbar zu machen".3 Aus diesen Sätzen von Heinrich Ahrens (1845—1904) spricht nicht nur die gekränkte Eitelkeit des verschmähten Spezialisten4, der sich über „eine fast wegwerfende Nichtachtung" durch den Architekten beklagt und sich nun dafür rächt, indem er alle die „argen, so unglaublichen heraldischen Fehler" aufzählt, die sich die Steinmetzen am Reichstag haben zuschulden kommen lassen, sondern auch ein Patriot, der die heraldische Effekthascherei an einem so wichtigen Bau wie dem Reichstag tadelt bzw. dem „widerwärtigen Protzen- und Gigerlthume unserer Zeit" zuschreiben zu können meinte.'' Nun ist der heraldische Schmuck des Reichstagsgebäudes im Innern durch den Reichstags­ brand (1933) und außen durch die Beschädigungen des Zweiten Weltkrieges (1944/45) bzw. beim Wiederauf- und -ausbau (1957—73) inzwischen weitestgehend verloren gegangen, so daß dadurch das heraldische Sündenregister Wallots bzw. seiner Bildhauer erheblich kürzer geworden ist.6 Die noch verbliebenen Mängel am „Leichenwagen erster Klasse", wie Stadtbau­ rat Ludwig Hoffmann den Reichstagsbau einst bezeichnete7, beschränken sich im wesentlichen auf die dem früheren Königsplatz bzw. Platz der Republik zugewandte Westfront (Abb. 2). Sieht man vom Giebelfeld Fritz Schapers (1841—1919) einmal ab, der „bei seinen klassizisti­ schen Anschauungen den rein germanischen Geist, der dem Wallof sehen Werk aufgeprägt ist, nicht verstanden" habe, wie sein Apologet Maximilian Rapsilber fand8, so sind doch unterhalb davon — links und rechts des Portikus I — zwei restaurierte heraldische Wandreliefs stehen­ geblieben, die jedem Betrachter ins Auge fallen, der die fast vierzig Stufen zu der von sechs Säulen getragenen Vorhalle heraufsteigt. Rapsilber nannte diese bis zur Architravhöhe rei­ chenden Wappenreliefs, die der Bildhauer Otto Lessing (1846—1912) 1893/94 „nach den Zeichnungen Wallot's modelliert" habe1*, „umso erfreulicher". Er vergaß allerdings hinzuzufü­ gen, daß Lessing die Ausführung zweimal wiederholen mußte, bis Wallot damit zufrieden war, was sich dieser nur leisten konnte, „weil es direkt von Künstlern und deshalb sehr billig zu machen gewesen sei".10 Die linke Fläche zeigt eine Eiche, die rechte eine Fichte, an denen die kronentragenden Wap­ penschilde der deutschen Bundesstaaten aufgehängt sind. Es handelt sich — vgl. unser Schema (Abb. 3) — um die Schilde von vier Königreichen (1—4), sechs Großherzogtümern (5—10), drei Herzogtümern (11—13), fünf Fürstentümern (14—18), drei Freien Reichsstädten (19) und zwei Reichslanden (20). Gegen den heraldischen „Regieeinfall", die Schilde an diese „deut-

222 Abb. 1: Grundriß des Reichstagsgebäudes sehen" Bäume zu hängen, wäre wenig einzuwenden, wenn es sich nur um Schilde handeln würde, doch ihre Kronen passen schon deswegen nicht ins Bild, weil sie von den Bäumen fallen würden, auch sind es keine Rangkronen, die in der Heraldik an die Stelle des Oberwappens (Helm, Helmzier und -decken) treten könnten - sondern reine Phantasieprodukte. Die Schilde selbst stellen eine bunte Mischung verschiedenster Formen dar; so gibt es gotische Schilde aus dem 14., unten abgerundete aus dem 15. und geschweifte aus dem 17./18. Jahr­ hundert zu sehen, also wirklich „gemischten Historismus" in Reinkultur. Ärgerlicher ist jedoch, daß an den Wandflächen die Wappen von zwei der damaligen Bundesstaaten ganz und gar fehlen, nämlich die der Herzogtümer Sachsen-Coburg-Gotha und Sachsen-Altenburg. Ferner fehlen die beiden Fürstentümer Schwarzburg-Sondershausen und Reuß jüngere Linie, bei denen man allerdings geltend machen könnte, daß sich die Wappen von Schwarzburg-Son­ dershausen und Schwarzburg-Rudolstadt nahezu11, und Reuß ältere und Reuß jüngere Linie vollständig gleichen, doch auch die Wappen der beiden Großherzogtümer Mecklenburg- Schwerin und Mecklenburg-Strelitz entsprechen sich weitestgehend12, wurden aber inkonse-

223 quenterweise doppelt wiedergegeben. Die Wappenschilde der drei freien Hansestädte sind in einem geteilten, in der oberen Hälfte gespaltenen Schild vereint dargestellt worden, obwohl natürlich jeder Stadtstaat einen eigenen Schild zu beanspruchen gehabt hätte (Lübeck weist außerdem eine rote Farbschraffur auf, die bei den beiden anderen Städten gar nicht erst vorge­ sehen war). Auch Lothringen und das Elsaß mußten sich einen gemeinsamen Schild teilen. Ganz durcheinander geht die Wappengröße bzw. -qualität an den beiden Bäumen und dies sicherlich nicht nur aus künstlerischen Gründen: Bekanntlich stehen den Bundesstaaten je nach Anlaß ein großes, ein mittleres oder ein kleines Landeswappen zu Gebote (wie den mei­ sten Bundesländern auch heute): bei den größeren Staaten fanden am Reichstag aber unmoti­ viert nur die kleinen Wappen Verwendung (so erscheint Preußen mit dem Adler-, Bayern mit dem Rauten- und Sachsen mit dem Balkenschild), bei einigen kleineren Staaten aber die gro­ ßen Wappen (so treten Sachsen-Weimar und beide Mecklenburg sechsfeldrig mit aufgelegtem Mittelschild in Erscheinung). Merkwürdigerweise bildete man ausgerechnet die kleinen Wap­ pen der vier Königreiche aus Gründen politischer Symbolik optisch vergrößert ab (was allen­ falls ihren großen bzw. „vermehrten" Schilden gut bekommen wäre), nicht aber die großen einiger sonstiger Bundesstaaten des Deutschen Reiches, die dafür kleiner gerieten — eine aus­ gleichende heraldische Gerechtigkeit? Beide Bäume am Reichstag, Eiche und Fichte, fungieren als Stammbäume13, doch sollten dann — dem Prinzip des Wachsens entsprechend — die Schilde der ältesten deutschen Staaten unten und die der jüngeren weiter oben angebracht worden sein, was leider nicht durchgängig der Fall ist. Auch die „Bewohner" der Zweige, Knaben und Männer als Schildhalter, die die Bäume in den verschiedensten Körperhaltungen (nämlich breitbeinig, sitzend oder hervorwachsend) „bevölkern", sind durchaus überflüssig, da doch aufgehängte Schilde gar keine Schildhalter benötigen (notabene hatte z.B. Preußen „wilde Männer", während in anderen deutschen Staa­ ten noch heute Löwen, Bären, Greifen, Adler, Hirsche usw. als Schildhalter vorkommen). Hin­ zugefügt sei noch, daß die beiden heraldischen Stammbäume in der Literatur auch als „Flußre­ liefs"14 bezeichnet werden, wohl weil sich am Fuße der Eiche ein guterhaltener Greis ausruht, der den „Vater Rhein" versinnbildlicht, während sich am Fichtenfuß eine füllige Schönheit lagert, die die Weichsel verkörpern soll. Von Lessing, der „wohl der am meisten beschäftigte Künstler am Bau des Reichstags" gewesen ist15, stammt übrigens auch das Denkmal des Dichters Gotthold Ephraim Lessing in Berlin an der ehem. Lennestraße im Tiergarten, dessen Urgroßneffe er war, ferner schuf er einen Teil der Terrakottareliefs am Martin-Gropius-Bau und den Zierschild im Giebel des ehem. Reichsmili­ tärgerichtes in der Witzlebenstraße; in Leipzig hat Lessing am Bau des Reichsgerichts mit­ gewirkt. Doch wie reagierte der Reichstag nun selber auf die Kritik an seinem Gebäude, das selbst Kai­ ser Wilhelm II. als „den Gipfel der Geschmacklosigkeit" (1893)16 empfand ? Das zeigt sich am besten in der Verhandlung vom 1. März 1899 und noch deutlicher in der Etatdebatte vom 20. März 1899, die nicht nur an einem Entwurf von Franz v. Stuck und an den Wahlurnen Adolf v. Hildebrands Anstoß nahm, sondern auch unversehens zu einer Abrechnung mit den heraldischen Fehlern geriet, in deren Folge Geheimrat Wallot dann zum 1. April vom Vorsitz der „Ausschmückungskommission" zurücktrat. Darin bemerkte der Führer des Zentrums, Ernst Maria Lieber, unter Hinweis auf die erwähnte Schrift von Ahrens: „Aber, meine Herren, wenn man an einem monumentalen Bau deutscher Reichstagsgesetzgebung deutsche Staats­ und Stadtwappen anbringt, dann dürfte doch die Forderung voll berechtigt sein, diese Wappen historisch und heraldisch richtig darzustellen. Hier ist kein Platz für Phantasiewappen, und hier ist auch kein Platz für Phantasiekronen".17

224 Abb. 2: Aufriß der Westfront

Mit meinen Bemerkungen greife ich nur einen kleinen Teil der Kritik auf, die sich auf den noch vorhandenen heraldischen „Schmuck" der historischen Westfront des Reichstags bezieht, die nicht nochmals restauriert, sondern sachkundig korrigiert werden sollte, während an der Ost­ front des Gebäudes die heutigen Wappen der Länder der Bundesrepublik Deutschland ange­ bracht bzw. in Stein gehauen werden könnten. Da sich sowohl die Jury des Wettbewerbs als auch die Bau- und Konzeptkommission des Bun­ destages für den Umbauentwurf des britischen Architekten Sir Norman Forster entschied, der den Reichstag leider nicht mit einer Kuppel (wie es der 2. Sieger Calatrava vorschlug), sondern mit einem flachen, in das Gebäude integrierte Glasdach versehen wird, bleibt zu hof­ fen, daß er neuen symbolischen Schmuck, wie ihn die Hoheitszeichen der Länder darstellen, nur unter der Aufsicht eines wappenkundigen Beraters anbringen läßt. Dafür ist es allerdings erforderlich, daß sich die Bundesbaudirektion — anders als Wallot — mit Heraldikern verbün­ det, die sie berät.18 Der Bundestag selbst hat sich noch nicht entschieden. Anschrift des Verfassers: Professor Dr. Eckart Henning M.A., Hüninger Straße 52 H, Telefon (0 30) 8 3170 52 14195 Berlin-Dahlem

225 Anmerkungen

1 Nach einer Meldung des Berliner Tagesspiegels Nr. 14621 vom 21. Juli 1993, Seite 8. 2 Vgl. Titelnachweise bei Eckart Henning/Gabriele Jochums: Bibliographie zur Heraldik, Köln/ Wien 1984, S. 123,128,136,140. — Die wichtigste Literatur zur Baugeschichte des Reichstags, s. Verena Haas/Stephan Waetzoldt: Bibliographie zur Architekturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Nendeln 1977 (222 Gebäude-, 152 Wallot-Titel). 3 Heinrich Ahrens: Das deutsche Reichstagshaus in seinem heraldischen Schmucke und seine Inschriften, in: Vierteljahrsschrift Herold 23 (1895), S. 419-461, hier S. 419 (auch als Sonderdr., Hannover 1896). Vgl. von dems.: Der heraldische Schmuck des Reichstagshauses, in: Heraldi­ sche Mitteilungen 10 (1899), S. 51-54. 4 Jürgen Arndt: Biographisches Lexikon der Heraldiker, hrsg. vom Herold, Neustadt/A. 1992, S. 2 (= J. Siebmachers Großes Wappenbuch, Band H). 5 Ahrens (wie Anm. 3), S. 420. 6 Vgl. allgemein Michael Steven Cullen: Der Reichstag. Geschichte eines Monuments, Berlin 1983, und Heinz Raack: Das Reichstagsgebäude in Berün, Berlin 1978, ferner Jürgen Schmä- deke: Der Deutsche Reichstag, 2. Aufl. Berlin 1976. 7 Nach Cullen (wie Anm. 6), S. 32. 8 Maximilian Rapsilber: Das Reichstagshaus in Berlin. Eine Darstellung der Baugeschichte und der künstlerischen Ausgestaltung des Hauses, Berlin 1894, S. 73. Vgl. dazu noch allgem. Heraldische Mitteilungen 8 (1895), S. 5, und zum Giebelfeld ib. 10 (1899), S. 74-76. 9 Rapsilber (wie Anm. 8), S. 73. Nach Cullen (wie Anm. 6), S. 29 soll die Westfront von Wallot erst 1891 detailliert festgelegt worden sein. 10 Cullen (wie Anm. 6), S. 30. 11 Beim ersten ist lediglich das Regalienfeld golden, beim letzten silbern. 12 Der hier unberücksichtigt gebliebene Unterschied zwischen den beiden Wappen Mecklenburgs zeigt sich im 5. Feld, in dem sich die Herrschaft Stargard darstellt: der aus der oberen linken Ecke des Feldes hervorkommende, mit einem Puffärmel am Oberarm und zwei fliegenden Bändern am Unterarm bekleidete menschliche Arm ist Mecklenburg-Schwerin vorbehalten, während derje­ nige bei Mecklenburg-Strelitz aus einer Wolke kommt und am Puffärmel eine fliegende Schleife aufweist. 13 Vgl. die Auffassung der Deutschen Bauzeitung 28 (1894), S. 579, und Richard Streiter: Zur Baugeschichte des Reichstagshauses. Schluß-T, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 14 (1894), S. 497—500, hier S. 498. — Warum übrigens Raack (wie Anm. 6), S. 108, die Fichte erstmals als „Kiefer" bezeichnet, ist nicht ersichtlich. 14 Cullen (wie Anm. 6), S. 30. 15 Cullen (wie Anm. 6), S. 180. 16 Äußerung auf einer Italienreise des Kaisers, die er anläßlich der Silberhochzeit König Umbertos unternahm, vgl. Berliner Tageblatt v. 29. April 1893. Die noch prägnantere Formulierung Wil­ helms II., der den Reichtstag bekanntlich als „Reichsaffenhaus" bezeichnete, dürfte politische, keine ästhetischen Gründe haben; sie findet sich im Brief an Eulenburg v. 9. Dezember 1894 (vgl. Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, hrsg. von John CG. Röhl, Bd. 2:1892—95, Bop- pard/Rh. 1978, S. 1424). 17 Vgl. die Stenographischen Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 10. Legislaturperiode 1898/1900, Bd. 2, Berlin 1899, S. 1632 und insbesondere Heraldische Mit­ teilungen 10 (1899), S. 29-32 mit ausführlichen Zitaten aus der Etatdebatte (oben, S. 31). 18 Sachkundigen Rat erteilt in Deutschland u. a. der älteste überregional ausgerichtete Verein „Herold" für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften (gegr. Berlin 1869). Sein damaliger Vorsitzender Stephan Kekule v. Stradonitz äußerte in der Vereinssitzung vom 31. März 1899 übrigens, daß er „glatt und ohne Gewissensskrupel den Stab über die Heraldik des Reichs­ tagsbaus breche. Der Architekt operiert mit Formen, die er nicht kennt und die kennenzulernen er mit künstlerischer Überlegenheit verschmäht; er verwendet diese Formen in einer Weise, die sinnlos und darum anstößig ist" (vgl. Heraldische Mitteilungen 10, 1899, S. 51—54, hier S. 52).

226 Eichen- bzw. Rheinrelief

19 Freie Städte Lübeck/Bremen /Hamburg Hzgt. Hzgt. 11 13 Braunschweig Anhalt 1 Kgr. Preußen

9 7 5 Ghzgt. Ghzgt. Ghzgt. Mecklenbg. Baden Sachsen -Schwerin -Weimar

3 Kgr. 16 18 Fst. Sachsen Fst. Waldeck Schaumburg -Lippe

Fichten- bzw. Weichselrelief

20 Reichslande Elsaß u. Lothringen

Hzgt. Fst. 12 14 Sachsen- Schwarzburg Meiningen -Rudolstadt

2 Kgr. Bayern

10 8 6 Ghzgt. Ghzgt. Ghzgt. Mecklenbg. Hessen Oldenburg -Strelitz

4 Kgr. Fst. 15 17 Fst. Württemberg Reuß ä.L. Lippe-Detmold

Abb. 3: Schema der heraldischen Reliefs an der Westfront des Reichstagsgebäudes (nach H. Ahrens, ergänzt von E. Henning)

227 Wilhelm Raabes „Im alten Eisen" — ein berlinischer Roman? Von Christiane Knop

Für viele Leser ist Raabe vor allem der Dichter der „Chronik der Sperlingsgasse". Und da er darin eine bis zu ihrer Kriegszerstörung real nachzuvollziehende Berliner Örtlichkeit schil­ derte, lag es nahe, den Autor hauptsächlich als Schilderer Berliner Lebens und seiner kleinbür­ gerlichen Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anzusehen. Die literaturwissen­ schaftliche Forschung hat diesen Sachverhalt längst differenzierter dargestellt. In der Wertung des gesellschaftlichen und zeitkritischen Gehalts seiner Dichtung ist Raabe in Fontanes Nähe gerückt worden, dessen geistiges Schwergewicht, Tiefe und Komplexität aber evidenter sind. Und dies erscheint so, je mehr Fontanes Alterskunst in den Mittelpunkt aller Betrachtungen tritt. Gemessen an seiner anspruchsvollen Erzählweise erscheint das geschilderte Leben in der „Sperlingsgasse" eine liebenswerte Spitzweg-Idylle. Allerdings stört ihre behaglich breite Aus­ malung und die Aufschwellung mit romantischen Einschüben die leichte Lesbarkeit. Hat man sich aber „eingelesen", stößt man auf einen weitaus komplizierteren und tiefgründigen Erzäh­ ler, als es anfangs scheint. Raabe ist ein Erzähler, dessen Gesamtwerk von tief pessimistischer Lebenserfahrung durchzogen ist. Man hat darauf verwiesen, daß er diese Erfahrung von Scho­ penhauers philosophischem System ins Licht gehoben fand; einige Romane können so gedeu­ tet werden; später rückte er von diesen Aussagen wieder ein wenig ab. Was den dichterischen Wert anbelangt, so stehen seine Dingsymbole über der philosophischen Deutung; vor allen sei hier das des „Schüdderump" genannt, des Karrens für die Pestleichen, der unbekümmert um menschliches Glücksstreben und menschliches Leid über alle hinwegrollt. Er ist der unbarm­ herzige und grausam-gleichgültige Schicksalswagen. Ein gleichartiges Dingsymbol meint das „alte Eisen" als Leitbild für den „Kehrricht des Lebens". Es heißt also, über die scheinbare kleinbürgerliche Behäbigkeit und Verklärung von Leben und Gestalten in Raabes Dichtung vorzudringen bis auf die Tragödie des Weltlaufes überhaupt. — Schon in seinen literarischen Anfängen in der „Sperlingsgasse" ist das Dachstuben-Idyll nur ein scheinbares Glück. „Es ist eigentlich eine böse Zeit!" ist seine Grundstimmung. Die Traumbilder des vergangenen Jugendglücks werden bewußt und in therapeutischer Absicht gegen die dunkle Folie des Altersleidens gesetzt. Es ist ferner darauf verwiesen worden1, daß, wenn Raabe Menschenschicksale beschreibt, seine lebengestaltende und ins Große greifenden Lebenskräfte verzehrt werden von einer persönli­ chen organischen Schwäche, die ihn vom Handeln abzieht. Als deren Prototyp habe er selbst auf die Figur des „Stopfkuchens" verwiesen, des unheldischen Helden, der „immer schwach auf den Füßen" war. Seine faultierhafte Schwäche hat Stopfkuche n in die Einsamkeit gebracht, wo er sich vorm Leben buchstäblich verschanzt und in sich selbst vergraben hat. Aber die phleg­ matische Schwäche ist ihm zur Stärke geraten; in äußerlicher Ruhe vorm Lebenszugriff hat er die innere Kraft zur Aufklärung von Menschenschicksalen entfaltet; er wurde ein Weltweiser, der im Leiden am Leben standhält. Die meisten Raabeschen Romane haben einen solchen Weisen zum „Helden". Es gibt vom Menschen Raabe keine weltbewegenden Lebensdaten zu berichten; er lebt in sei­ nem Werk verborgen und muß dort aufgesucht werden. — Geboren 1825, also im Vormärz, seine Jugend in der Kleinstadtenge von Holzminden und Wolfenbüttel verbringend, schließ­ lich „lesend und grübelnd in Magdeburg", wie er selbst sagt, so tritt er sein bewußt gestaltendes Leben erst in Berlin an. Er kam 1854 nach Berlin und hat 1856 die „Chronik der Sperlings­ gasse" veröffentlicht, die ihn bekannt machte. Später führte er ein normales Bürgerdasein in

228 Braunschweig (1870 bis 1910) und Stuttgart und starb 1910. — Das Unbürgerliche seiner Exi­ stenz liegt in dem Wagnis, ein Schriftstellerdasein bei so eingezogenem Leben führen zu wollen, und zwar ein reiches. Er hat in sechs Jahrzehnten seines Wirkens 68 Romane und Erzählungen voll hintergründiger Tiefe geschrieben! — Die „Chronik der Sperlingsgasse" ist einer seiner beliebtesten Romane, nicht aber sein wertvollster. Hinter der darin vorgebundenen Maske des Biedermeierlichen bildete er die Kraft zur Bewältigung des Tragischen erst aus, gelingen sollte sie ihm im Alter. Da ersetzte er das Weitausgreifende des Lebens durch die Entfaltung des See­ lischen; er brauchte, wie Fontane, Zeit. Nicht nur die in den meisten Erzählungen vorzufin­ dende Erzählerhaltung ist die eines alten Mannes, sondern er mußte selbst ein Alter werden, ehe er seine anspruchsvolle Aussagekraft ausbildete — wie viele Dichter des Realismus. — „Im alten Eisen" gehört zu den Spätwerken; als der Roman 1886 erschien, war sein Autor 61 Jahre alt. In der Lebensphase zwischen 1862 und 1870, seiner mittleren Schaffenszeit, die er in Stutt­ gart verbrachte, hatte er sich die erzählerische Meisterschaft erschrieben und die Gesetze romanhafter Gestaltung beherrschen gelernt. Die letzte, die späte Phase von 1870 bis zum Tod gilt in den Biographien als die Epoche seiner Meisterschaft. Ihre Vergleichbarkeit mit Fontane ist oft angedeutet, aber selten näher beleuchtet worden. — Die vorliegende Betrachtung soll ein Beitrag dazu sein und soll in dieser Richtung verstanden werden. Stolte2 sagt: „Daß Wilhelm Raabe, neben Fontane, ein geradezu geistiges Heimatrecht in Berlin beanspruchen kann, ist wenig bekannt." Der Holsten-Verlag hat 1965 drei seiner Erzählungen unter dem Titel „Berliner Trilogie" her­ ausgebracht; es sind „Deutscher Adel" (1877), „Villa Schönow" (1883) und „Im alten Eisen" (1886).3 Sie gehören nicht ursprünglich zusammen und wurden vom Herausgeber nur ihres Schauplatzes wegen zu einer Trilogie zusammengebracht. Sie spielen im Berlin der Gründer­ jahre und haben die sich rasant entwickelnde Mietskasernenstadt als Handlungsraum. — So wie die Aufarbeitung einiger evangelischer Gemeindegeschichten — etwa die der Zionsgemeinde erkennt, daß sich in den damaligen Vorstädten Berlins, verborgen hinter konventionellen äußeren Formen, eine Sozialrevolutionäre Entwicklung auszubilden begann, so läßt sich mögli­ cherweise bei einigen scheinbar unpolitischen Erzählern des Realismus der 80er Jahre ähnli­ ches feststellen. Will man Raabe als berlintypischen Erzähler, vergleichbar Fontane, verstehen, so müßte die Betrachtung über die konkrete Gesellschaftskritik hinaus seine Daseinsanklage ins Auge fassen. Sie sollte von gleicher Überzeugungskraft sein, wie sie in den Bildern der Käthe Kollwitz zu finden ist. Es bleibt zunächst zu berichten, was Raabe hier erzählt. Die Handlung begibt sich in einer der Arbeitervorstädte Berlins. Hier ist auf dem Dachboden einer Mietskaserne die Witwe Erdwine Wermuth, geborene Hegewisch, gestorben und hat ihre beiden Kinder, einen 12jährigen Jungen und seine kleine Schwester, hilflos und in größter Armut zurückgelassen. Die Kinder verbringen allein gelassen die nächsten drei Tage bei der Leiche, nachdem der Junge alles, was zum Leichenbegängnis gehört, nämlich den Weg zum Armenarzt, Armenvorsteher und Tischler, erledigt hat. Dann hält er mit seiner Schwester bei der Toten Wache und will sich später mit dem Degen seines Großvaters „in der Welt durch­ hauen". — Gleichzeitig hält in einem reichen Bürger- und Geschäftshaus der Gründerjahre der bei Damen hochgeschätzte Privatgelehrte, der Hofrat Dr. Albin Brokenkorb, einen seiner fein­ geistigen literarischen Vorträge. Aber Brokenkorb, der sonst an die geschmäcklerische Gesell­ schaft so Angepaßte, fühlt sich auf unerklärliche Weise innerlich angegriffen. Er ahnt, daß ihn etwas aus seiner Gewohnheit reißen wird. Tatsächlich hat in seiner Abwesenheit ein Unbe­ kannter den Hofrat sprechen wollen; als er ihn nicht antraf, hat er bei seinem Diener statt seiner Visitenkarte einen Wanderstock aus Weißdornholz abgegeben, in der sicheren Erwartung, daß

229 Brokenkorb ihn wiedererkennen und die darin enthaltene Anspielung verstehen werde. — Die­ ser Besucher war Peter Uhusen, ein Jugendfreund aus Lübeck, der nach langer Zeit des Umhergetriebenseins mit Brokenkorb eine alte Rechnung zu begleichen hat. Als Uhusen am nächsten Morgen wiederkommen will, trifft er auf dem Weg dahin die „Mutter Cruse", seine alte Theaterprinzipalin. Sie hat in Lübeck eine Wanderbühne geführt; aus dieser gemeinsamen Jugendzeit kennen sich Uhusen, Brokenkorb, die Cruse und Erdwine Hege­ wisch. Uhusen ist dann längere Zeit bei ihrer Truppe gewesen und mit ihr nach Amerika gegan­ gen, dann aber eine Zeitlang bei den Soldaten im Sklavenkrieg geblieben. Die Cruse hat nach dem Tod ihres Mannes in Berlin einen Handel mit Lumpen und Altwaren angefangen und führt nun im Arbeiterviertel einen Keller, den sie das alte Eisen nennt. Er scheint der tiefste soziale Abstieg zu sein. — Bei diesem unerwarteten Zusammentreffen erfährt Peter von ihr, daß Wolfgang Wermuth den Degen seines Großvaters Hegewisch, seinen kostbarsten und letzten Besitz, im alten Eisen für eine Tüte Sargnägel versetzt hat, die der Tischler braucht, den Sarg der Mutter zu schließen. Peter und die Cruse erkennen den Degen und seine Bedeutung wieder und ahnen, daß diese Fügung sie herausfordern wird. So tritt Peter bei Brokenkorb sehr bestimmt auf und bringt ihn dahin, sich mit ihm und der Cruse gemeinsam auf die Suche nach den Kindern zu machen. In der Mietskaserne haben sich die Nachbarn aus Furcht vor Ansteckung zurückgezogen und es den Kindern allein überlassen, die Tote einzusargen und mit dem Totenwagen zum Friedhof zu fahren. Es hat sich nur ein befreundetes Straßenmädchen, genannt Rotkäppchen, um sie gekümmert, etwas Essen gebracht und sich selbst dann wieder unter dem Dachboden ver­ steckt, weil es die Polizei fürchten muß. So finden die Freunde die Wohnung leer und fahren auf Rotkäppchens Weisung zum Friedhof in der Vorstadt, kommen aber auch hier zu spät, denn in der frühen Dunkelheit und Winterkälte wegen hat der Totengräber den Sarg in der Grube abgestellt und will die Beisetzung erst am nächsten Morgen vornehmen. Die Kinder sind fort; niemand weiß, wo sie geblieben sind; der Totengräber berichtet nur, daß er sie mit Gewalt davon abbringen mußte, nachts allein auf dem Friedhof bei der Toten Wache zu halten. In der Nacht erhellt sich in den Gesprächen zwischen der Cruse, Peter und Albin Brokenkorb die nach der gemeinsam verbrachten Jugend erlebte Vergangenheit. Brokenkorb ist der von allen Schicksalsschlägen Ausgenommene, der ein bequemes bürgerliches Dasein gewann. Er hat Erdwine, die ihm anvertraut worden war, verlassen; sie heiratete den lebensuntüchtigen Hegewisch, der früh starb, nun ist sie ebenfalls früh verstorben. Die beiden anderen sind vom Lebenskampf zerzaust und bis auf den tiefsten Punkt ihrer Existenz heruntergekommen; die Cruse haust im Lumpenkeller und handelt mit „dem letzten Abgang des Leben", Peter schlug sich nach seinen Schauspielerjahren im Sklavenkrieg durch, wurde in Wien Feuerwerker und heiratete. Aus seinem scheinbar endlich beruhigten Leben riß ihn eine Pulverexplosion; die eine Gesichtshälfte wurde ihm zerstört, das rechte Auge ist blind geworden, die Hand verstüm­ melt. Vor kurzem ist seine Frau gestorben, nun ist er wieder ohne bestimmtes Ziel unterwegs, jetzt spricht er sich bei der Mutter Cruse frei und findet in ihr eine Verstehende. Beim Begräbnis am nächsten Tag erweisen die Freunde der Erdwine Wermuth die letzte Ehre, ihre Kinder treffen sie aber wieder nicht an, sie sind fortgelaufen in die Dachstube, wohin ihnen die Freunde folgen. Am Ende bleibt es Rotkäppchen überlassen, dem Jungen, wie verspro­ chen, seines Großvaters Degen zu bringen. Dann wählen die Kinder sich Peter Uhusen zum Ziehvater, Wendeline Cruse wird sie alle nach Wien zurückbegleiten, Brokenkorb kehrt in sein altes Leben zurück. Diese Handlungsübersicht zeigt, wie ungeheuerlich die Romanidee ist. Eine Weltdüsternis, die an Schopenhauers Pessimismus erinnert, bestimmt den Ablauf. Es wiederholt sich hier, wie

230 oben erwähnt, der Gestaltungszug aus anderen Romanen Raabes: die Grausamkeit der Men­ schenschicksale und die Kraft, sie anzugehen, knüpft sich an die organischen Schwächen, und dies geschieht hier im wortwörtlichsten Sinne: Peter Uhusen hat eine verstümmelte Hand und ein halbes Gesicht. Der gute Ausgang der Erzählung mindert ihren tragischen Bodensatz nicht; die Kinder sind allein gelassen bei einer Toten, „Trost und menschliche Hilfe der Welt" bleiben aus. Ehe etwas über den Gehalt ausgesagt werden kann, ist zu fragen: Wie ist die Handlung gefügt, und welche Funktion hat der Erzähler darin? — Der Erzähler stellt mit der Wirform des Verbs und mit der oft verwendeten Anrede eine Gemeinsamkeit zwischen sich, dem Leser/Hörer und den Handelnden her; er betont, er sei im rechten Augenblick zur Stelle, und greift — mit einem Wanderstock — die handelnden Personen im wahrsten Sinne an, er treibt sie absichtlich zueinander. Leser und Autor erfüllen gemeinsam eine Aufgabe, sie schaffen durch ihr Gegen­ wärtigsein die Voraussetzungen für alles Geschehen: daß nämlich die Kraft entfaltet werde, die Kinder ins Leben zurückzuführen, damit sie sich „durchhauen" können. Gemeinsam erheben sie zur Wirklichkeit, was das Schicksal als Möglichkeit vorgezeichnet hat, nämlich die Men­ schen auf „einen Haufen zu kehren, wenn es ihm an der Zeit scheint" (382), und dies geschieht am Ort des alten Eisens. Vom Erzähler und Zuhörer in ihrer Gemeinsamkeit wird ferner verlangt, daß sie ihrer Verant­ wortung entsprechen, die ihnen das Schicksal auferlegt hat, das da verlautbart werden soll. „Wir müssen noch hier hindurch ... Wer uns den Griffel in die Hand gedrückt hat, trägt die Verantwortung" (479). — Das Objekt der handelnden Personen ist, mitzuwirken an der zunächst unsichtbaren Aufgabe, ein altes Jugendversäumnis aufzuarbeiten, „den sauer gewor­ denen süßen Kinderbrei jetzt zu fressen". — Ist das Schicksal und seine Absicht geklärt, können Hörer und Erzähler „frei aufatmen in eigner Sache". — Das Unheil der Welt hat sich des Peter Uhusen bemächtigt und wird ihn als Werkzeug benutzen, weil er von Tod und Teufel frei ist, und ihn „mit der Nase auf der Menschen mögliche Schicksale stoßen" (372). Der Handlungs­ ablauf bis zu diesem Ziel wird gesehen als eine Tragikomödie unter „unseres Herrgotts Direk­ tion". — Unter diesem Aspekt bekommen die handelnden Personen, die Cruse, das Rotkäpp­ chen und Peter, das besondere Ansehen einer ausersehenen Gemeinschaft mit übergeordne­ tem Bezug, ähnlich der Gesellschaft vom Turm in der Pädagogischen Provinz; der Leser kann durch sie „von diesem Keller aus (altes Eisen) die Erde endlich einmal im vollen Lichte liegen sehen" (386). Wer ihr angehört, muß sich im Lebenskampf ausgezeichnet haben. „Der letzte Altwarenhändler sortiert da auch und rechnet nicht jeden, jede und jedes nobel zum alten Eisen" (387). Die Bildkraft und beziehungsreiche Symbolik weisen auf die Nähe zum Sinnbild der Schusterkugel im „Hungerpastor". Die Handlung beraubt Albin Brokenkorb der falschen Sicherheit und bürgerlichen Behaglich­ keit und führt ihn in die „Abrechnung". Die greifbaren Instrumente einer solchen Abrechnung sind der Stock und der Degen, die vom Ding zum Dingsymbol werden. Der „Salonvorträgler", wie Brokenkorb genannt wird, der Mann ohne festen Lebensbezug, wird aus der oberflächli­ chen Gesellschaft herausgezogen. Ein unerklärliches Unbehagen läßt ihn sich absondern; er wird durch eine bloße Verstimmung in seiner Existenz beeinträchtigt, so daß er, die nächste Zukunft unbewußt vorwegnehmend, feststellt: „Ich habe mein Teil" (353). Mit einem Wan­ derstock, aus einer „grünen Hecke" herausgerissen und mit einer Bocksfratze versehen, steigt eine lebensvolle Vergangenheit auf, die nun verschüttet ist. Sie faßt ihn wieder „mit eisernem Griff". Der Knüppel ist grob, er muß es aushalten, daß Brokenkorb sich mit ihm durch das „Dickicht seiner Lebenspfade arbeiten" muß. Doch wird der Stock schließlich ein Führerstab in die Wahrheit, nämlich zur Erkenntnis seiner Schuld des verantwortungslosen Egoismus. Er

231 zerbricht, als man die Kinder aus ihrer Not befreit hat. — Mit dem Degen, dem entsprechenden Dingsymbol, wird der junge Held Wolf Wermuth zum Ritter geschlagen. Der Degen ist die ererbte Waffe seines Großvaters; auf ihm sind die Schlachten verzeichnet, aus denen er als Besiegter hervorging. Doch Wolf beschützt mit ihm die kleine Schwester und will sich mit ihm durch die „Feigheit des Gesindels" — gemeint ist das Proletariat der Mietskaserne — durch­ hauen. — Zwar gerät auch er zeitweise unter das alte Eisen im Lumpenkeller, in den „letzten Abgang", und wird somit Abbild für die Menschen, die im Lebenskampf „zerhauen und zer­ fetzt am Leibe und kummervoll in der Seele und einsam auf dem Wege" sind (391). Das alte Eisen wandelt sich von der Bezeichnung für den Degen unter Altwaren zum Wort für den Ort, an dem sich alle Beteiligten zusammenfinden und einander gleich werden. „Und so spielt das ewige Schicksal mit uns, pökelt uns hier zusammen wie arme Heringe" (446). Als sie dies als ihr Lebensgesetz akzeptiert haben, wird das Gewölbe des alten Eisens zur „Märchen- und Wun­ derhöhle", wie es heißt, und hier tritt der Degen in seine ritterliche Funktion. Immer wieder schwanken die Sinnreden hin und her zwischen der Allegorie des alten Eisens in seiner Bedeutung als Degen und der des Lumpenkellers. Am Ende, als Wolf seinen Degen wie­ derbekommen hat und die Kinder im alten Eisen erschöpft schlafen, heißt es, das Schicksal habe dem Jungen (zuvor) zwar die letzte Waffe aus der Hand geschlagen und sie zum alten Eisen geworfen, um ihn von da zu seinen Freunden zu bringen und ihm zum Leben zu verhel­ fen. Sein ritterliches Dasein, das er erträumte, soll darin bestehen, ein Mann „für diese eisernen Zeiten" zu werden. Dazu soll der geschundene Peter ihn führen. — Hier leuchtet eine weitere Seite des Symbols vom alten Eisen auf: Mutter Cruse hat eine Weile darin verharrt und abge­ wartet, daß das Schicksal sie zu einer neuen Aufgabe herausholen soll. Es hat sich ihrer als Theaterprinzipalin bedient; als solche hat die Cruse wiederum ihrem Peter Uhusen eine Rolle zugedacht und sich des Verlaufenen bedient. In ihrer „gottergebenen Tapferkeit und Unbefan­ genheit, Schlauheit und Weisheit" hat sie recht damit getan. Ihr Lebensvertrauen ist im Plan der Handlung vorgesehen, damit die Freunde erfahren, daß aus „unbekannten Winkeln, seltsamen Wegen und Umwegen uns die Waffen, die Kräfte und der Mut zurückgegeben werden kön­ nen". Raabe setzt sich in diesem Zusammenhang mit der poetologischen Frage nach der höchsten dichterischen Überzeugungskraft auseinander und bekennt, den Pindar und die alten Grie­ chen könne man wohl nachahmend erreichen, hinter die „künstlerischen Geheimnisse der Tra­ gödie in diesem ungeheuren Gedicht" sei er noch nicht gekommen. „Vom Tage zur Nacht und von Nacht zu Tage wurden die Wendungen in diesem Buche unbegreiflicher. Je mehr Siegel aufsprangen, desto fragmentarischer wurde das Ganze" (490). Es ist aber nicht fragmentarisch oder nur auf den ersten Blick. Hat man die Fügung der Handlung und die Rolle des Erzählers erkannt, wird deutlich, daß die Dialoge nicht als konkrete Reden geführt werden, sondern Sinn-Reden sind, die die Sinnbezüge der Handlung und der Gestalten Stück für Stück entfal­ ten, wie dies aus der Deutung der Symbole von Stock, Degen und altem Eisen ersichtlich wird. So wird auch erkennbar, daß die reale Handlung überstiegen wird von einer zweiten, einer irrealen Handlung voller Bedeutsamkeiten. Dasselbe Gestaltungsmittel, der Transit von konkreter zu bedeutungsvoller zweiter Realität gilt auch für die Lebensgestalt der beiden Haupthandelnden, für Peter Uhusen und die Mutter Wendeline Cruse. — Wie auch in anderen Romanen, v. a. im „Abu Telfan" — ist der Held ein Heimkehrender und damit ein Ungewöhnlicher, für den alle Maßstäbe wertlos geworden sind. Er arbeitet sich über die Bodenlosigkeit seines Lebensleidens zu Trost und Erkenntnis hinweg. Allegorische Bezeichnungen wie „Hetzjagd" und „Katzbalgerei" umschreiben diese Befind­ lichkeit. (Wir finden dieses Sinnbild des Gejagtseins in gleicher Kraßheit bei Hauptmann in der

232 „Rose Bernd".) — Das ihm am häufigsten beigefügte Epitheton ist der „Schmied von Jüter­ bog", der Name einer Gestalt aus dem Sagenkreis um Barbarossa. Furchtlos hat er den Teufel in einen Birnbaum gebannt und den Tod in den Sack, und weil er Tod und Teufel nicht fürchtet, lebt er frei zwischen Himmel und Hölle. Peter Uhusen, wegen seines Umhergetriebenseins auch der „Verlaufene" genannt, war in seiner Jugend ein romantischer Träumer der Ritterlich­ keit, die sich nicht erfüllte; in den Höhen und Tiefen seines Schauspielerdaseins suchte er die Gerechtigkeit sich zu verwirklichen sehen, aber er hat nur des Lebens Niederträchtigkeiten erfahren. Solange er sich auf romantische Weise verwirklichen will, wird er der „von jeglichem Phantasiewind umhergetriebene Narr und Land- und Seehanswurst" genannt (409). Der „Verlaufene" ist der Sucher nach Selbstverwirklichung. Komplizierter und widersprüchlicher als der Hungerpastor, ist er ein anderer Hans Unwirrsch. Seine eingeborene Wesensart ist das Unruhestiften. Zu seinem letzten Wegstück bricht dieser „Lebensveteran und tapfere Mann" auf, als ihm am Morgen der Handlung vor dem alten Eisen das alte Eisen, der Degen des Leut- mants, in die Hände gespielt wird. Er erkennt sofort, daß es ihm „heute etwas will und bedeu­ tet". — Die tiefste Verzweiflung trug ihm außer der Pulververletzung, die ihm Hand und Auge Versehrte, der Tod seiner Frau ein. Er nennt dies Elend größer als Dantes Inferno. Keine Beat­ rice führt ihn durch die Abgründe, sondern er bahnt sich seinen Weg selbst hinaus mit seinem Wanderstock aus der lübischen Heimat. Statt des Dante wählt er sich Till Eulenspiegel aus Mölln zum Lebensberater, und der rät zu Gegenwarts- statt zu Vergangenheitsbetrachtung, weil weder Jugendträume noch Lebensverdienste etwas einbringen. Er fühlt sich „am Fuße der Leiter", zwischen den Theaterkulissen stehend und besser als die Zuschauer um das böse Ende wissend. — Am besten verstehen sich beide, Peter und die Cruse, in dem Sinnbild vom Theater­ karren des Lebens. Shakespearesche Tragödienluft weht um diese Akteure einer einstigen Wanderbühne. Sie meinen die Schmiere mit ihrer täglichen Ausgesetztheit ins Nichts, nicht die Hof bühne. Die Heimatlosigkeit dieser Theaterwelt und unversehrte Jugendheimat an der lübi­ schen Bucht vor Travemünde stehen in scheinbar unüberwindlichem Gegensatz zueinander. „Hergotts-Tragikomödie" nennen sie beide in bärbeißiger Wut ihr Leben; man lernt „das Welttheater zu beherrschen und hält sich kühl in des Daseins Hitze und des Lebens Frösten" (377), sagt die Cruse. Alle auf der Bühne gespielten Rollen waren Vorgeprägtheiten ihres eig­ nen Schicksals bis auf die letzte Lebenssituation im alten Eisen. „Wie gut er seine Rolle begreift", lobt die Cruse ihren Ziehsohn Peter. Das bedeutet: hier gibt es kein Ausweichen, hier muß alle vordergründige menschliche Geltung abgelegt werden, hier muß sich die tiefe Einheit von Lebensernst und Theaterernst herstellen. Die wahre Lebenssituation bezeichnet das Ste­ hen in der Kulisse in dem Augenblick, da man um seine Identität ringt. Diese Vollendung hat ihnen die Bühne bisher nicht gebracht, sondern sie vollzieht sich nun im alten Eisen, wo der „letzte Altwarenhändler" die Probe abnimmt. Und so bleibt während der Wiederbegegnung in Berlin die Cruse Peters Theaterprinzipalin und Theatermutter: sie strahlt in ihrer unbedingten Wahrheitssuche die tiefste Güte aus; ihr Lebensverständnis hat ihr unverwüstliche Lebenskraft gegeben. Sie zeigt sich dem „Lebenskomödiantengesindel" gewachsen. Der Preis dieses kind­ lich-ernsten Theaterspiels ist freilich scheinbare Narrheit und Armut, ist die völlige soziale Ver­ achtung im alten Eisen. Aber hier sieht man die Welt in ihrem wahren Licht und schämt sich ihres schäbigen Scheins nicht. Mit dem Heimfinden ins alte Eisen hat der zweite, der übergeordnete Erzählvorgang seinen Höhepunkt erreicht: in dem abseitigen gesellschaftlichen Ort ist die Lebensgestaltung erfüllt. Der Erzähler hat befördert, was das Schicksal ihm vorgezeichnet hat, er hat im richtigen Augenblick die „Menschen auf einen Haufen gekehrt". Der schicksalhafte Augenblick hat Peter Uhusen mit seiner verstümmelten Hand und dem halben Gesicht und die abgetretene

233 Theatermutter zum Elternpaar der verlassenen Kinder gemacht. In ihrer Obhut dürfen sie, die sie Todesgrauen und menschliche Erbarmungslosigkeit durchgestanden haben, vergessen und daraus neuen Lebensmut gewinnen. Was bedeutet Berlin für den Sinngehalt? Der einzige konkrete Hinweis auf den Schauplatz ist der „Kreuzberg" als Ort des Friedhofes; aber das ist sowenig faßbar wie die Adresse „Schulzenstraße 8" für die Mietskaserne. Beide Lokalitäten kann man sich genauso gut in einer der nördlichen Vorstädte der 70er oder 80er Jahre vorstellen; es sind nur verfremdete Hinweise. Raabes Lokalangaben sind nicht wie bei Fontane Orte der „richtigen Adresse" für die jeweilige soziale Schicht, und die Wege, die die Handlungen durch die Stadt nehmen, sind nicht Spiegelungen der inneren Vorgänge. Es ist nicht wichtig, wo sich das Geschehen begibt. Stolte verweist, das Berlinische umschreibend, auf die geistige Luft der bedingungslosen Wahrheitssuche und auf das tapfere Durchstehen der Unzulänglichkeit des Daseins. Fragen wir besser, in welcher Weise Raabe soziale Kritik übt! Während das Handeln Peter Uhusens und der Cruse in finsterer Diktion erzählt wird, wird die Welt des gebildeten und reichen Bürgertums ironisch eingeführt. Im Zusammenhang mit Albin Brokenkorb erscheint das Schöngeistige als das Gewollte und Verstiegene. Albin Brokenkorb wird von Anfang an zwar bewundert und angeschwärmt, er ist aber ein lächelnd arrogant geduldeter Außenseiter, der schnell zur komischen Figur wird. Der Erzähler weist ihm die Außenseiterposition zu, weil das Schicksal ihn aus Bosheit ausgespart hat, wie er ausdrücklich bemerkt; er gehört nicht zu den Auserwählten wie Peter und die Cruse; dazu dürfte er erst zäh­ len, wenn er eine Läuterung erfahren hat. Sie deutet sich wohl an, als er sich vom Stock ange­ griffen fühlt, und zwar in seiner Selbsterkenntnis, daß seine Vorträge eigentlich Redensarten seien. „Was zählst du als deinen wirklichen, wahrhaftigen Menschengewinn in dieser Nacht mit diesem Stock in der Hand für dich zusammen?" Statt der Mittelmäßigkeit bedarf es der „Wahr­ heit aus reinem Herzen"; er hat in seinen Reden „nie das geringste von der Menschen Wesen auf Erden" hineingetragen. Nun soll er es im Hause Schulzenstraße 8 in seinem ganzen Aus­ maß erfahren und soll seine Gelehrtenlaufbahn als Hofrat eines Duodezfürsten als „Tageslie­ bedienerei" abtun. Brokenkorbs Wohnung befindet sich in einem reichen Geschäftshaus, und die Hörer seiner Reden, hervorgebracht aus „sorgender Eitelkeit", sind die oberflächlichen Reichen, von denen sich der Erzähler Raabe ironisch distanziert. Seine herzliche Anteilnahme — und dies ist als seine soziale Kritik anzusehen — gehört den Menschen, die in den „Gassen" leben und woh­ nen. Die oft zitierte Maxime „Sieh auf zu den Sternen, hab acht auf die Gassen!" ist hier zu interpretieren als Inbegriff des sozialen Lebenskampfes in der modernen Großstadt. Unter den Bewohnern der Gassen sind viele im Lebenskampf Besiegte. Daß sie unterlagen, ist nicht ihre Schuld, sondern gehört zur Niedertracht des Schicksals. Wie Leutnant Hegewisch und sein Enkel Wolf Wermuth sind sie Besiegte „nicht bloß in jenen winzigen Schlachten, sondern in einem grimmigen Kampfe, dem um des Menschen Dasein auf Erden überhaupt" (400). — So ist soziales Verhalten Suche nach rechter Daseinsbewältigung. Vom Sternenlicht ist im alten Eisen kaum die Rede. Aber in einem zornigen Gespräch mit Albin Brokenkorb weist Peter auf den Christus der Evangelienberichte und schält den armen Mann in Galiläa heraus. Er bekennt, er begegne ihm in den Winternächten der Städte, in Sturm und Kälte und Regen, die man in den Dachstuben erträgt und „unter der Lumpengenossenschaft ... Man trifft vor­ nehme Leute an dergleichen Tafeln!" Eine dieser Vornehmen ist die Theatermutter Cruse im Lumpenkeller des alten Eisens. Peter Uhusen bezeichnet sie als „eine der ersten Damen der Erde". Sie hat die Aufgabe, Brokenkorb die Augen zu öffnen, als das Schicksal ihn anficht; sie

234 tritt wieder in ihre Rolle als Prinzipalin und erzieht sich ihren tragischen Komödianten zu ech­ tem Spiel. Als er den verlassenen Kindern auf dem Dachboden gegenübersteht, war ihm, als sei „der soziale feste Grund und Boden augenblicklich völlig unter den Füßen abhanden gekommen". Nicht Schmutz, Armut, Öde und Häßlichkeit bringen ihn aus der Fassung. „Er wußte mit sei­ ner Sinnesschärfe und geistigen Feinfühligkeit nirgends hin. Das war . . . durchaus nicht zu ertragen bis an die Grenzen der Nervenanspannung dieses entsetzlichen Tages mit seinen Zudringlichkeiten und Rücksichtslosigkeiten." Er nimmt seine neue Erkenntnis selbst als eine „Katharsis dieser Tragödie" wahr, was Peter Uhusen mit grimmiger Befriedigung aufnimmt. „Laß dich verbrauchen, wie die Welt dich gewollt hat!" — Und er nennt es Humor, daß der geschmäcklerische Bürger Brokenkorb einmal eine solche Anwandlung hat; ihrer Dauerhaf­ tigkeit und verändernden Kraft jedoch traut er nicht. Als sich am Ende der Geschichte die Freunde und die Kinder zu neuer Lebensgemeinschaft zusammentun, stößt Peter Uhusen den Jugendfreund zurück, weist ihn wieder auf seinen alten Weg und wünscht ihm ironisch: „Der Herr erhalte dich noch recht lange zur Bildung und Verschönerung seiner Schöpfung" (475). Und zieht das Fazit: „ Den Honigseim des Tages hat er vollgesogen und trägt ihn eben zu Stock. Geben Sie acht, sie adeln ihn uns für das Kapital, was er aus unserem heutigen Jammer heraus­ schlägt" (477). Statt seine Gelehrsamkeit zu kultivieren, sollte er lieber beim Straßenmädchen Rotkäppchen in die Schule gehen, dessen „Herz so groß ist wie die weite Welt — vor verschluck­ ten Tränen"; „Doktor, geht um Menschengefühle und Menschenkenntnis bei dem Kinde in die Schule!" Aus allem Geschilderten läßt sich wohl ablesen, es handle sich bei Raabes sozialer Kritik um eine der Kollwitz vergleichbare Tiefe und Unbedingtheit des Leidens. Und um eine dem alten Fontane vergleichbare Altersnachsicht. Es läßt sich an der Fügung der Handlung ablesen, wie Raabe die äußeren Erscheinungen der Struktur des Sinnfälligen unterworfen hat. Zu dieser Kunstabsicht hat er selbst geäußert, er wollte das Bleibende aus der dunklen Tiefe hervorholen und es über die tägliche Realität heben. Dies ist das gemeinsame Kennzeichen aller Erzähler des dichterischen Realismus. Es aber fugenlos verwirklicht zu haben, macht den Wert der Raabeschen Erzählkunst aus. Dar­ über hinaus hat der leidvolle Gehalt und der Lebensmut der Gestalten durchaus viel Berlini­ sches und bringt Raabe in Fontanes Nähe, vor allem, wenn man bedenkt, daß der Weg von der „Chronik der Sperlingsgasse" zum „Alten Eisen" der Weg von der Weltflucht zu bejahender Selbstfindung ist.

Anschrift der Verfasserin: Dr. Christiane Knop Rüdesheimer Straße 14 13465 Berlin-Frohnau

Anmerkungen

1 s. Anm. 3, S. 13 2 s. Anm. 3, S. 31 3 Europ. Buchklub, Stuttgart — Zürich — Salzburg o. J. „Im alten Eisen" wird nach dieser Ausgabe zitiert. Herausgeber ist Professor Heinz Stolte; er hat die Trilogie mit einer Einleitung versehen, die sie ins Gesamtwerk einordnet.

235 Um das Wiederbeleben alter Ortsnamen

Der Schwäbische Heimatbund, mit dem der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, im Deut­ schen Heimatbund zusammengeschlossen ist, hat an seine Mitglieder und die Öffentlichkeit einen Aufruf gerichtet, im Zusammenhang mit der Einführung der neuen Postleitzahlen die bei der Kom­ munalreform und auch postalisch verschwundenen Namen von Gemeinden und Dörfern wieder auf­ leben zu lassen. Der Bitte, diesen Aufruf auch in unseren „Mitteilungen" zu publizieren, wird hier im Auszug gern nachgekommen. Die neuen Postleitzahlen bieten die einmalige Chance, die althergebrachten Ortsnamen wieder in die Adressen voll aufzunehmen, denn die Bundespost liest bei der Zustellung künftig nur noch die fünf­ stellige Postleitzahl.

So können Sie also mit Fug und Recht hinter der neuen fünfstelligen Postleitzahl schreiben: Weinstadt-Großheppach anstatt bisher Weinstadt 3 Nagold-Hochdorf anstatt bisher Nagold 7 Göppingen-Hohenstaufen anstatt bisher Göppingen 11 Rottenburg-Bad Niedernau anstatt bisher Rottenburg 12

Sie stärken damit das Selbstbewußtsein von Gemeinwesen, die ihr politisches Eigenleben verloren haben, und erweisen auch der Heimatgeschichte einen Dienst, wenn Sie die Orte postalisch weiterle­ ben lassen. Sie werden auch besser erreichbar, denn mit den neuen Postleitzahlen kann man nämlich nicht mehr auf Anhieb sagen, in welchem Stadtteil nun die eine oder andere Straße liegt. Es ist vorgesehen, oft mehrere Stadtteile und sogar Teile der Kernstadt einer einzigen Postleitzahl zuzuordnen. Wie sollen Verwandte, Freunde, Kunden und Lieferanten Sie finden? Die Teilorte und Vororte sind ja ausge­ schildert, aber nach der Postleitzahl kann man sein Ziel nicht suchen. Deshalb rufen wir alle Bürger dieses Landes auf, aus dem eigenen Nutzen eine Tugend zu machen. Verwenden Sie bei Ihrer Adresse, beim Druck Ihrer neuen Briefbögen, privat oder dienstlich, auch künftig den Namen der Ortschaft, in der Sie wohnen oder Ihr Geschäft haben, nämlich angefügt mit einem Bindestrich hinter der postalisch vorgegebenen Bezeichnung. Sie tragen damit bei, das facettenreiche Bild der Besiedlung unseres Landes zu erhalten. In diesem Zusammenhang hat sich der Schriftführer in eine Diskussion eingeschaltet, die im Organ der Industrie- und Handelskammer zu Berlin „Die Berliner Wirtschaft" ausgetragen worden ist. Sein am 14. Mai 1993 im „Leser-Forum" veröffentlicher Brief „Betr. Neue Postleitzahlen" sei hier nach­ stehend im Wortlaut wiedergegeben: Als die Post zu erkennen gab, daß nun fünfstellige Postleitzahlen eingeführt werden, die ebenso logisch wie „Verteiler- und zustellfreundlich" seien, haben Mitglieder unseres Vereins gefordert, nun sollten doch die alten historischen Ortsbezeichnungen wieder aufleben (dürfen), die Namen also der Berliner Bezirke, Stadtteile oder Vororte. Sie erhielten die Auskunft, das System der fünfstelligen Postleitzahlen sei so verständlich und sicher, daß es gar nicht darauf ankomme, ob jemand nun 13465 Berlin schreibe oder 13465 Berlin-Frohnau, Berlin (Frohnau) oder nach alten Brauch Berlin 28. Jetzt erfahren wir aus dem Leserbrief Hansgeorg Bottkes, Autohaus Hellmuth Butenuth KG, vom 2. April 1993, ihm habe ein Herr Heyduk vom Postdienst Berlin mitgeteilt, eine derartige Schreibweise mache eine manuelle Nachbearbeitung erforderlich, die eine Verzögerung der Zustellung nicht ausschließe. Jetzt fragt man sich, ob bei der Post die Linke nicht weiß, was die Rechte sagt oder empfiehlt, oder ob auch das grandiose System der neuen Postleitzahlen zu nichts anderem dient, als das eherne Gesetz der Post zu bekräftigen: das Produkt aus Gebühren und Leistung ist konstant. Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Verein für die Geschichte Berlins, gegründet 1865

236 Aus dem Mitgliederkreis

Mitgliederversammlung am 5. Mai 1993

Wiederum an traditionsreicher Stätte, im Roten Rathaus Berlin, fand die satzungsgemäße ordentliche Mitgliederversammlung 1993 statt. Sie wurde vom Vorsitzenden, Bürgermeister von Berlin und Senator a. D. H. Oxfort, zügig geleitet, der die erforderlichen Regularien abwickelte und die Toten­ ehrung vornahm. Der Tätigkeitsbericht des Schriftführers lag in vervielfältigter Form vor, er wird im Jahrbuch 1993 abgedruckt werden. Kassenbericht und Voranschlag 1993 der Schatzmeisterin Ruth Koepke wurden ebenso wie der Bibliotheksbericht des Vorstandsmitglieds Karlheinz Grave und der Bericht der Kassenprüfer Hans-Dieter Degenhardt und Karl-Heinz Kretschmer entgegengenom­ men. Die Vereinsbibliothek konnte durch Eingang von 295 Bänden ihren Gesamtbestand auf 14 338 Titel erhöhen. Die gründliche Betreuung der Benutzer der Bibliothek und die korrekte Arbeit der Bibliothekare kam aus dem Bericht der Bibliotheksprüfer zum Ausdruck, der von Manfred Funke erstattet wurde. In der Aussprache dankte der Vorsitzende allen ehrenamtlichen Mitarbeitern und verwies darauf, daß die Bibliotheksräume in der Berliner Straße in Wilmersdorf nur vorübergehend zur Verfügung stehen, da im Neubau des jetzt im Bau begriffenen Jüdischen Museums neben dem Berlin-Museum neue Räume für den Verein entstehen. Wünschenswert bleiben weiter stärkere Akti­ vitäten in der Mitte Berlins. Der Vorstand wurde einmütig entlastet. Vor der Neuwahl dankte der Vorsitzende Rechtsanwalt und Notar H. Oxfort den ausscheidenden Vorstandsmitgliedern Ruth Koepke und Dr. Gerhard Kutzsch warmherzig und mit Nachdruck, wobei er der Hoffnung Ausdruck gab, Frau Koepke und Dr. Kutzsch möchten auch künftig dem Verein mit Rat und Tat zur Seite stehen. Der Kandidat für das Amt des Schatzmeisters, Karl-Heinz Kretschmer, stellte sich mit seinem Lebenslauf ebenso vor wie der als Bei­ sitzer kandidierende Dr. Manfred Uhlitz, Sohn des langjährigen Vereinsmitglieds Staatssekretär Dr. 0. Uhlitz. Auf Beschluß der Mitgliederversammlung wurde die Wahl gemäß der vorliegenden Vorschlagsliste en bloc und einstimmig vorgenommen. Der Vorstand setzt sich wie folgt zusammen:

Geschäftsführender Vorstand: Vorsitzender: Rechtsanwalt und Notar Hermann Oxfort 1. stellvertretender Vorsitzender: Hans-Werner Klünner 2. stellvertretender Vorsitzender: Günter Wollschlaeger Schriftführer: Dr. Hans Günter Schultze-Berndt stellvertretender Schriftführer: Dr. Jürgen Wetzel Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer stellvertretender Schatzmeister: Dr. Sibylle Einholz

Beisitzer: Professor Dr. Helmut Engel Karlheinz Grave Birgit Jochens Dr. Christiane Knop Dr. Winfried Löschburg Ingeborg Schröter Hans-Wolfgang Treppe Dr. Manfred Uhlitz

237 Hermann Oxfort dankte für das mit der Wahl ausgesprochene Vertrauen und sicherte den Mitglie­ dern zu, der Vorstand werde sein Amt im Interesse des Vereins und der Stadt Berlin ausüben. Jeweils einmütig war die Wahl der beiden Kassenprüfer Hans-Dieter Degenhardt und Frau Siddikah Eggert sowie der Bibliotheksprüfer Manfred Funke und Frau Erika Schachinger. Der Schriftführer verwies auf ein von Dr. Helmut Schönfeld geleitetes Projekt „Berliner Umgangs­ sprache" der Humboldt-Universität zu Berlin und der KAI e.V., bei dem ein Fragebogen auszufüllen ist und sich vornehmlich ältere Gesprächspartner für Tonbandgespräche zur Verfügung stellen sollen. Im Anschluß hielt der stellvertretende Vorsitzende Hans-Werner Klünner einen Vortrag „Berlins Weg zur staatlichen Selbständigkeit". Über das Thema des Zusammenschlusses Berlins und Bran­ denburgs herrscht auch im Vorstand geteilte Meinung. Diese kam auch in der Diskussion zum Aus­ druck, in der die Anregung geäußert wurde, zum Thema des gemeinsamen Bundeslandes Berlin- Brandenburg einen Vortrag in das Programm aufzunehmen. SchB.

Studienfahrt vom 10. bis 12. September 1993 nach Freiberg (Sachsen)

„Wer Sachsen kennenlernen will, muß Freiberg gesehen haben!" sagt ein Sprichwort. Dies mag den Veranstalter der diesjährigen Exkursion beflügelt haben, die Anstrengungen auf die alte Bergstadt Freiberg zu richten und allerlei Verzögerungen und Schwierigkeiten zum Trotz an diesem Vorhaben festzuhalten. Gut vierzig Mitglieder dankten es ihm durch Interesse, aufgeschlossenes Mitgehen und wachsende Begeisterung über die Welt, die sich vor ihnen auftat. Pünktlich um 11.00 Uhr, wie im Programm vorgesehen, trafen die Reisenden vor dem Freiberger Dom ein, wo sie von Dr. Ulrich Thiel, dem Leiter des Stadt- und Bergbaumuseums, begrüßt und zur Besichtigung des Domes geleitet wurden. Domführerin Schneider wußte die Gäste kenntnisreich und charmant auf die vielen Schätze dieses Gotteshauses mit der leider verhüllten Tulpenkanzel und der Goldenen Pforte als Höhepunkten hinzuweisen. Ein kleines Konzert auf der berühmten Silbermann- Orgel war eine akustische Bereicherung dieses erfreulichen Auftakts. Nach dem Mittagessen im stimmungsvollen „Schloßkeller" des Schlosses Freudenstein teilte sich die Gruppe. Die unermüdlichen Brauereifreunde ließen sich von Dr.-Ing. Heinz-Michael Eßlinger, Alleinvorstand der Freiberger Brauhaus AG, zu einem Rundgang durch diese Braustätte an die Hand nehmen, die bald durch einen Neubau auf der grünen Wiese ersetzt werden wird. Dr. U. Thiel führte die zweite Gruppe beim Besuch der Übertageanlage der „Alten Elisabeth" in die Geschichte und Technik des Freiberger Erzbergbaus ein. Im Stadt- und Bergbaumuseum, dessen Direktor Dr. Ulrich Thiel auch Vorsitzender des Freiberger Altertumsverein e.V., gegründet 1860, ist, hatte dieser zunächst Probleme, dem Kaufinteresse der Besucher zu begegnen, ohne den Zeitplan zu gefährden, wußte dann aber die Berliner Gäste für die reichen Bestände der gut gegliederten Abteilungen seines Museums zu begeistern und vermittelte ihnen anhand eines Stadtmodells einen Überblick über das Entstehen und Werden dieses Gemeinwesens. Im erst vor wenigen Wochen wiedereröffneten histori­ schen Brauhof klang der Tag aus, wobei dem Freiberger Brauhaus und Dr.-Ing. H.-M. Eßlinger manch Lob gezollt und mancher Zutrank gewidmet wurden, folgten die Teilnehmer doch einer groß­ zügigen Einladung der so erfolgreich wirkenden örtlichen Brauerei. Am Sonnabend, 11. September 1993, war den Gästen wieder das Glück freundlichen Sonnenscheins hold, als sie in der Oberstadt von einem weiteren Mitglied des Freiberger Altertumsvereins, Herrn Reuß, zu Füßen des Markgrafen Otto des Reichen und beim Plätschern seines Brunnens mit der Stadthistorie vertraut gemacht und dann von Stadtarchivarin Dr. Ines Buschbeck im Rathaus empfan­ gen und in das beeindruckende Stadtarchiv geführt wurden. Auch in der Petri-Kirche, deren moderne Innengestaltung nicht unumstritten blieb, machten die Besucher mit dem Klang einer anderen Silber­ mann-Orgel Bekanntschaft.

238 Nach dem Mittagessen im „Letzten Dreier" übernahm Knut Neumann die Führung zu der angekün­ digten bergbauhistorischen Exkursion über Teile der Silberstraße, beginnend bei den über Tage lie­ genden Teilen des vor zwei Jahrzehnten stillgelegten ältesten unterirdischen Kavernenkraftwerks der Welt. Etwas von dem Enthusiasmus Gernot Scheuermanns, das System der bergmännischen Wasser­ versorgung im Freiberger Revier mit ihren kilometerlangen Kunstgräben eines Tages wieder zur Energieerzeugung zu nutzen, sprang auf die Besucher der Maschinenhalle auf dem Dreibrüder­ schacht in dem unweit Freibergs gelegenen Ort Zug über. Nur mit gewissen Bedenken hatte der Reiseleiter von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, zur Pre­ miere von Johann Strauß' „Eine Nacht in Venedig" am Abend im Stadttheater Freiberg für die in Kunstdingen verwöhnten Berliner Karten zu besorgen, obwohl das wohl älteste städtische Theater Deutschlands mit seiner 200jährigen Tradition, erst 1991 nach Umgestaltung wiedereröffnet, den Besuch verdient hätte. Für die zwanzig zur Verfügung stehenden Eintrittskarten bewarben sich aber alle Reiseteilnehmer, und es bedurfte salomonischen Geschicks, um hier Gerechtigkeit walten zu las­ sen. Die muntere Aufführung, die so gar nichts von Provinzbühnen-Enge verspüren ließ, ließ dann aber die Herzen der Berliner höher schlagen. Und wieder lockte der „Brauhof' zu einem fröhlichen Abtrank. Am Sonntagvormittag, 12. September 1993, verging die Zeit wie im Fluge, als die Gruppe, wieder zweigeteilt, sich von Museumsleiterin M. Sauter durch das Bergbau- und Heimatmuseum der Kreis­ stadt Brand-Erbisdorf im Huthaus an die Gegenstände der Bergleute heranführen ließ, während im Wechsel Knut Neumann auf der Reußenhalde Erläuterungen zum Erzbergbau gab. Der Theorie folgte dann in Oberschöna die Praxis, als alle Teilnehmer, mit Schutzhelmen bewaffnet, den Erzberg­ bau vor Ort kennenlernten, insbesondere die Ratsstube. Im „Erbgericht" Oberschöna stärkten sich die Reisenden bei einem gemeinsamen Mittagessen, lernten dann die Anlage des Zisterzienserklo­ sters Altzella, des Mutterklosters Neuzelles, bei Nossen kennen und traten die Heimreise an, die nur durch eine späte Kaffeetafel im Schloßhotel Teupitz am Teupitzsee unterbrochen wurde. Wenn die Rückkehr nicht um 20.00 Uhr, sondern genau eine Stunde später erfolgte, so war dies die Dauer des auf dieser Strecke wohl üblichen Staus. Der Teilnehmerzahl wegen in zwei Hotels untergebracht, eines davon ein umgebauter Bauernhof an der Peripherie Freibergs, wurden die Reiseteilnehmer doch mit derlei kleinen Unbequemlichkeiten gut fertig und erwiesen sich bei dieser ersten Studienfahrt nach Sachsen als ebenso dankbar wie begei­ stert. Hans G. Schultze-Berndt

Gesprächskreis „Postfuhramt"

Unser Mitglied Dipl.-Ing. Karl-Heinz Laubner, Am Steinberg 122 a, 13086 Berlin, hat an den Vor­ stand die Anregung herangetragen, zu Themen der Berliner Stadtgeschichte von allgemeinerem und vor allem aktuellem Interesse Gesprächskreise zu bilden, etwa für das Schloß oder den geplanten Bau von Hochhäusern in der Innenstadt. Ein Problem, dem sich K.-H. Laubner schon seit Jahren widmet und das ihm besonders am Herzen liegt, ist das Postfuhramt in der Oranienburger Straße, das wohl älteste Postamt Berlins in seinem ursprünglichen Gebäude. Hier geht es nicht nur um die Erhaltung, sondern auch um die künftige zweckmäßige Nutzung. Wer Interesse verspürt, in einem solchen Gesprächskreis mitzuwirken, wird gebeten, sich unmittelbar mit Herrn Laubner in Verbindung zu setzen (Telefon 4 23 0111, bei Neumann). SchB.

239 Dr. Ursula Besser, Stadtälteste von Berlin und Trägerin des Großen Bundesverdienstkreuzes sowie der Fidicin-Medaille des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Ehrensenatorin der Techni­ schen Universität Berlin und langjährige Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses des Abgeordne­ tenhauses von Berlin, ist im Rahmen eines Festaktes der Chambre de Commerce et d'Industrie de Paris die höchste Auszeichnung der Industrie- und Handelskammer Paris, der Jeton d'Or, die Gol­ dene Ehrenmedaille, verliehen worden. Damit sollen die Verdienste Dr. Ursula Bessers um die Euro­ päische Wirtschaftshochschule EAP gewürdigt werden, deren Gründung vor rund einem Jahrzehnt sie mit Nachdruck unterstützt hat und deren Europäischem Beirat sie angehört. SchB.

Nachrichten

90-Jahr-Feier des Deutschen Heimatbundes in Dresden

Der Deutsche Heimatbund, dem der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, als Vertreter des Landes Berlin angehört, feiert vom Freitag, 22. April 1994, bis Sonntag, 24. April 1994, in Dresden sein neunzigjähriges Bestehen. Es ist die Möglichkeit vorgesehen, daß Mitglieder am Festakt und am Rahmenprogramm teilnehmen. Der Festakt soll am Sonnabend, 23. April 1994,11 Uhr, auf Schloß Albrechtsburg mit Kanzleramtsminister Friedrich Bohl (für den verhinderten Bundeskanzler) und Ministerpräsident Professor Dr. Kurt Biedenkopf stattfinden. Für den Nachmittag ist eine Führung durch die Stadt mit Besuch des Zwingers (Gemäldegalerie, Gobelinsaal) und sonstiger Sehenswür­ digkeiten unter Leitung des Vorsitzenden des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, Matthias Griebel, geplant. Es wird auch angeboten, mit dem Schiff oder Bus nach Pillnitz oder Königstein zu fahren. Das Abendprogramm „Kulturelles Dresden" bleibt der Privatinitiative überlassen, am Sonn­ tag ließen sich weitere Besichtigungen einplanen. Der Vorstand bittet alle Interessenten an einer gemeinsamen oder individuellen Fahrt nach Dresden, bis zum 31. Januar 1994 unverbindlich Wünsche beim Schriftführer anzumelden, damit dann mit dem Deutschen Heimatbund abgestimmt werden kann, ob und wie welche Zahl von Mitgliedern in das Programm integriert werden kann (Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Artuswall 48,13465 Berlin- Frohnau, Telefon 4 Ol 42 40). SchB.

240 Buchbesprechungen

„Schule in Berlin — gestern und heute", hrsg. von Benno Schmoldt unter Mitarbeit von Hagen Gretzmacher. Mit Beiträgen verschiedener Mitarbeiter, 207 Seiten, bibliographische Hinweise in den Anmerkungen, Colloquium Verlag, Berlin 1989. Vor der Wende konzipiert, finden sich in dem vielschichtigen Band Vorträge einer 1987 abgehaltenen Ringvorlesung. Die Veranstaltung war angesiedelt bei der 750-Jahr-Feier Berlins und bemühte sich um eine Standortbestimmung der Berliner Schulbildung zwischen Tradition und Moderne; Träger war das Zentralinstitut für Unterrichtswissenschaften und Curriculumentwicklung an der Freien Uni­ versität Berlin unter Professor Benno Schmoldt. — Als Kernpunkt ist die Entfaltung demokratischer Bildung nach 1945 abgehandelt (Wolfg. Wittwer, Das Berliner Schulsystem im Rahmen des preuß. Schulsystems 1918—1933). Dieses aber stützt sich im wesentlichen auf die sozialdemokratische Reformpädagogik der Weimarer Republik, was ohne die preußische Tradition seit dem 18. Jahrhun­ dert aber auch nicht denkbar ist. — Verschiedenartig wie die Vff. sind ihre Methoden; sie reichen von der oral history bis zur sozialgeschichtlichen Analyse. Unter anderem ist ferner das Votum einiger US-Bildungsoffiziere nach 1945 von Belang, speziell für den Anteil der Amerikaner an der Grün­ dung der Freien Universität. — Der Herausgeber bemüht sich um eine Zukunftsanalyse gemäß der Aufgabe der Buchreihe des Colloquium Verlages „Wissenschaft und Stadt". Gewiß wäre nach der Wende manches Ergänzenswerte hinzugekommen, v. a. über die Einheitsschule im Ostteil der Stadt. Die im einzelnen behandelten Themen werden als Gelenkstellen in der Berliner Schulgeschichte angesehen, das Kontinuum ihrer Entwicklung hat der Leser anhand der beigegebe­ nen Literatur selbst herzustellen. Dabei zeigt es sich, daß eine Reihe von Entwicklungsschritten noch kein Ganzes ergibt. Wie sehr manche Phasen noch lückenhaft beleuchtet sind, zeigt der literarische Reflex der wilhelminischen Gymnasien im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die dichterischen Erin­ nerungen ; sie sind häufig verzerrt und einseitig dargestellt, was um 1900 Mode war; als Beispiele wer­ den Thomas Mann und Döblin angeführt. Am eingängigsten liest sich die Schulgeschichte seit der Jahrhundertwende, weil hier der Stoff von den Reformern im Deutschen Lehrerverein schon aufbereitet worden ist. Seit sich der Lehrerstand unter seiner Führung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein fundiertes Berufsbild unter national- und sozialliberalem Vorzeichen gegeben hat und in fortschreitendem Freiheitsstreben den Bildungsan­ sprüchen von Bürgertum und — später — Arbeiterschaft entsprochen hat, sind seine schulpädagogi­ schen, stofflichen und gesellschaftlichen GrundsäGe Allgemeingut geworden, wie dies hier aufgezeigt wird. Gerade von Berlin gingen wesentliche Anstöße aus, v. a. von der preußischen Schule der Wei­ marer Republik („Berliner Reformpädagogik in der Weimarer Republik"). — Für alles dies ist die Quellenlage ziemlich eindeutig. Wer das Berlinische betont sehen will, hält sich zweckmäßigerweise an die Darstellung von Robert Lawson („Das Berliner Schulwesen als Laborsituation 1945 bis 1965"), die beschreibt, wie aus diver­ gierenden und teilweise noch unklaren Bildungsabsichten der Alliierten als ein Kompromiß von tra­ dierter Schulform und sowjetischen Bildungsvorstellungen in Berlin (West) die „Berliner Schule" von 1952 hervorging. Sie war eine stark modifizierte Einheitsschule und trug den Reformabsichten aus der Weimarer Zeit großenteils Rechung. — Der Mangel an verläßlichen und umfassenden Quellen zeigt sich, je näher an die Gegenwart heran, desto mehr. Die Ausführungen über die Schule der NS- Zeit (Wippermann) und das Überwinden der geistigen Isolierung durch jugendpolitische Bestrebun­ gen der amerikanischen Kulturoffiziere (Strang, „Deutsche Jugend zwischen Gestern und Morgen. Berlin 1945—49"; Johnston, „Meine Rolle bei der Gründung der Freien Universität Berlin"), die auch an der Gründung der Freien Universität mitwirkten, erscheinen ein wenig farblos und allgemein. Das abgegebene Bild ist aus der Sicht der 70er Jahre überformt und leicht verstellt. Wie denn über­ haupt Fragen des organisatorischen Aufbaus und der gesellschaftlichen Struktur im Vordergrund ste­ hen, Inhalte, Werte und Methoden darüber zu kurz kommen. Das gilt v. a. für die Erwägung, inwieweit die Frauenbewegung nach der Jahrhundertwende auf ihrem ureigensten Gebiet der Lehrerinnenbildung und -tätigkeit, überhaupt der Berufsausbildung von Mädchen kulturschaffend war (Marion Klewitz, „Lehrerinnen in Berlin"). Es wird als Vorreiterin Helene Lange genannt, aber auch der Frauenvertreterinnen in Reichstag und preußischem Parlament und in den Ämtern des Magistrats gedacht. Daß dies arbeitsmarktpolitische Probleme schuf, indem

241 schlechter bezahlte weibliche Lehrkräfte eine „Reservearmee" bildeten, die im Ersten Weltkrieg in die Bresche springen mußten, von den zurückkehrenden Kollegen dann aber gebremst wurden, ist eine neuartig beleuchtete und nur von den wenigen Betroffenen gewußte Tatsache. Vfn. stellt fest, daß vor allem die Volksschullehrerinnen auch im Dritten Reich ihre Position zu wahren gewußt haben und entscheidend dazu beitrugen, den Lehrberuf zu einem überwiegenden Frauenberuf zu machen. Ob allerdings die Behauptung aufgestellt werden darf, das Gros der akademisch gebildeten Frauen habe eine Generation später in den 50er Jahren ihre frauenkämpferische Beweglichkeit und Reformfreu­ digkeit eingebüßt, ist Rezensentin fraglich. Es wird dabei übersehen, daß die NS-Zeit durch die Kriegsbelastungen die heute oft berufene Gleichstellung in praxi hergestellt hatte, so daß ihr Einfor­ dern das Einrennen offener Türen bedeutet hätte. Das 6. und 7. Jahrzehnt war eher eine Zeit der Kon­ solidierung; dies muß nicht Restauration bedeuten, ist vielfach das Reifen von Früchten. — Neu ist auch ein Streiflicht auf das Friedrichs-Werdersche Gymnasium und seine Funktion in der Spätaufklä­ rung (H. Scholz). Hier wurden, abweichend vom Bildungsauftrag des Grauen Klosters und des Fran­ zösischen Gymnasiums für die adlige Beamtenschaft, ein kulturpädagogisches Konzept für das Bil­ dungsbürgertum entworfen und durchgeführt. — Ein besonderes Kapitel wird der ursprünglich sozia­ listisch konzipierten Fritz-Karsen-Schule gewidmet (G. Radde), deren Besonderheit in der Gesamt­ schule aufgegangen ist. Verdienstvoll ist es, sich ins Gedächtnis zu rufen (Herbert Bath, Kulturpolitik der Länder), wie sehr die „Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland" (KMK) das Vakuum ausfüllte, das durch den Wegfall der Gleichschaltung der Länder entstanden war. Sie hat die Position Berlins als Bundesland und seine zentrale Rolle gefördert, jedoch das Föderale immer behauptet. Angesichts der aktuellen Hauptstadtdebatte ist es sicher gut zu wis­ sen, „andererseits wurde in der KMK in der Zeit aufgeregter Bildungsreform mit sich überschlagen­ den Grundsatzerklärungen und Generalkonzepten auch der Ort der Besinnung, was von dem ganzen Ideenreichtum geeignet war, in Realität umgesetzt zu werden". Ins Spektrum der Berliner Bildungs­ geschichte gehört auch das Jüdische. Shimon Sachs erinnert sich an seine Zeit an der Theodor-Herzl- Schule und betont das Paradoxon, daß ihr Aufblühen erst begann, als sich der Untergang des Juden­ tums abzeichnete. Sie war eine Insel liberalen und humanen Menschentums im Meer des Antisemitis­ mus. Am Ende bilanziert der Herausgeber, wie vage schulgeschichtliche Analysen z. Z. noch sind, was seine Ursache darin haben mag, daß beim Neuanfang von 1945 Lehrinhalte großenteils hinter organi­ satorischen Aufgaben zurücktraten. Auch was der Einschnitt von 1968 gebracht hat, ist noch offen. Christiane Knop

Daniel Libeskind, Erweiterung des Berlin Museums mit Abteilung Jüdisches Museum. Ernst und Sohn, Verlag für Architektur u. techn. Wissenschaften, Berlin 1992, 148 S. Vier Autoren, dazu der Architekt Libeskind selbst, bemühen sich, dem Interessierten Gehalt und Gestalt des provokanten Entwurfs des jüdischen Museums nahezubringen, das künftig Teil vom Gan­ zen des Berlin Museums sein soll. Eine Ausdeutung des Bauvorhabens ist in der Tat wünschenswert schon für uns Gegenwärtige — ob aber in unseren Enkeln ein Besuch des Hauses jene Erkenntnisse, Gefühle und Stimmungen freisetzen wird, die derzeit die Architekten und Museumsleute motivieren und für die Zukunft hoffen lassen, muß als Frage offenbleiben. Es geht nicht nur um Architektur als „Bedeutungsträger von Geschichte" (R. Bothe), von „Geschehenem", sondern auch um bleibende Gültigkeit und künftige Wirksamkeit der Gedanken von heute. Allein die äußere Form des Erweite­ rungsbau-Entwurfs stellt sich ihren Betrachtern dar als „mehrfach gebrochener langgestreckter Bau", als „zickzackförmiger Flügel", als „Riß oder Blitz, dessen Einschlag die Umrißlinien der Stadt erhe­ ben läßt", als (so Libeskind) „irrationale Matrix in Form eines Systems von rechtwinkligen Dreiecken, die einige Ähnlichkeit mit dem Emblem eines komprimierten und verzerrten Sterns erkennen lassen — eine Ähnlichkeit mit dem gelben Stern, der an dieser Stelle so häufig getragen worden ist". Jede Wand, jeder Winkel des Hauses wird zu einer Chiffre, zu einem Symbol vergangener Ereignisse oder erwarteter Entwicklung eines Verbundes nichtjüdischen und jüdischen Bürgerlebens in der Stadt, deutscher Kultur und jüdischer Tradition. Gerhard Kutzsch

242 Bodo Kollka/Klaus Dieter Wille: „Das Berliner Stadtschloß. Geschichte und Zerstörung." 112 Sei­ ten, viele Abbildungen, Quellenteil. — Mit einem Nachwort von Wolf Jobst Siedler. 2., erweiterte Auflage, Haude & Spener, Berlin 1993. Anzuzeigen ist ein weiterer Beitrag, der zur Urteilsbildung in der gegenwärtigen Debatte um einen evtl. Wiederaufbau des Schlosses hilfreich sein kann. Es ist die zweite, erweiterte Auflage des Schloß­ buches aus dem Haude & Spener Verlag, das 1987 in 1. Auflage erschien und in unseren „Mitteilun­ gen" gewürdigt worden ist. Kapitel- und Bilderfolge sind identisch, das Vorwort der Verff. ist aktuali­ siert um den Hinweis, daß der Streit um das Vergangene heute nicht mehr ideologisch geführt wird, sondern sich in die Vertreter von Traditionalismus und Modernismus in Stadtplanung und Architek­ tur polarisiert. — Vor allem höchst lesenswert ist die Neuauflage wegen des Nachwortes von Wolf Jobst Siedler. Er bringt die Auseinandersetzung auf den entscheidenden Punkt, daß der Schlüterbau die (innere) Stadtmitte war („ . . . das Schloß früher da war als die Stadt"). Klärend erscheint das Argument, es komme darauf an, ob man einer modernen Architektur zutrauen könne, die zerstörten Städte stimmig zu reparieren. Seine angeführten Beispiele aus Moskau, Warschau, Venedig und Lis­ sabon sprechen eher dagegen. Beachtenswert auch seine Erörterungen über Modernität innerhalb des Historismus in der Architek­ tur des 19. Jahrhunderts. Die Tatsache, daß die Verff. ihre 1987 vorgebrachten Statements einer Dis­ kussion um Erhaltung oder Abriß fast unverändert übernommen haben, spricht für Überzeugungs­ kraft ihrer historischen Argumente. Christiane Knop

„Villen und Landhäuser in Berlin. Fotografiert von Jürgen Spohn mit Texten von Julius Posener", 130 Seiten mit 68 farbigen Fotos, Liste der Architekten und Baumeister, Literaturübersicht, Nicolai­ sche Verlagsbuchhandlung Beuermann GmbH, Berlin 1989. Der „Texter" Julius Posener bekennt sich im Vorwort zur Freude an seiner Aufgabe der Kommentie­ rung so schöner Bilder, zu der ihn offenbar der Fotograf Spohn leise überlistet hat. Nachdem wohl der Generationsunterschied beider „Autoren" in der gemeinsamen Lust am Liebenswürdigen des Land­ hausstils in Berlin überwunden ist, zeigt sich hier das Ergebnis einer schönen Zusammenarbeit. Die Fotos wirken gut gesetzt, klar und zugleich poetisch und folgen den Hinweisen des Texters auf die wichtige Funktion des Lichtes für die Villenarchitektur. Daß es, wie beabsichtigt, ein Bilderbuch statt ein Sachbuch geworden ist, macht seinen Reiz aus. Auf dem Spaziergang durch die Bezirke Charlottenburg mit Westend und Zehlendorf mit Schlachten­ see und Nikolassee, durch Wilmersdorf mit Grunewald oder durch Lichterfelde, teilweise auch Tier­ garten, Spandau und Reinickendorf zeigt sich die Entwicklung von der späten Schinkel-Schule, die, um die Jahrhundertwende aufs Äußerste getrieben, unruhig wird, zu Messet. Danach kehrt wieder Ruhe und Geschlossenheit ein; unter Muthesius' Einwirken geht sie in die Landhausarchitektur ein. — Die Architekturbeschreibungen sind knapp und prägnant und weisen auf die Lebenshaltungseiner Bewohner hin — anfangs kommen die „Treibeis" zu Wort; sie streifen das Historische ihrer Bauherren nur kurz, aber das allgemeine Sozialgeschichtliche tritt vor das Auge des Betrachters in der Sprache der Fenster, der Durchgliederung der Geschosse und Bauteile, auf die die kundige Hand unaufdring­ lich weist. Er preist mit liebenswürdiger Ironie das gänzlich Unmoderne, gibt sich der Lust an der Erinnerung hin und vermeidet dabei die Vokabel „Nostalgie", die auch unangemessen wäre, weil es um mehr geht. Posener meditiert über ein (Land-)Haus, das unserem heutigen Lebensstil angemessen wäre, und sagt uns, wie anspruchsvoll schwer dies ist. „Niemand wird uns die Suche nach unseren Häusern abnehmen, welche unserer Art zu sein und zu fühlen entsprechen ... Aber befreien lassen dürfen wir uns von dem Buch: Es hilft uns, Vorurteile abzutun, die unserm Genuß an diesen Häusern so lange im Wege gestanden haben." Man kann mit Recht Freude daran haben und selbst weitere Beispiele suchen, auch im bisher ver­ schlossen gewesenen Umland — etwa in der Nauener und Berliner Vorstadt Potsdams, in Treptow und Karlshorst oder Grünau. Diese Vororte „sind einzig in der Welt", sagt der Autor. Christiane Knop

243 Administrativ-Statistischer Atlas vom Preußischen Staate 1828. Neudruck mit einem Erläuterungs­ band. Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin. Kartenwerk zur Preußischen Geschichte. Lieferung 3. Kiepert Verlag, Berlin 1990. In der Publikationsreihe der Historischen Kommission zu Berlin „Kartenwerk zur Preußischen Geschichte" ist ein Neudruck des ersten umfassenden thematischen Kartenwerks über die preußische Monarchie erschienen. Im Vorwort des Erläuterungsbandes schreibt der Herausgeber Wolfgang Scharfe, daß das 1978 in einer Berliner Sammlung aufgetauchte Exemplar des offenbar als verloren geglaubten Atlasses unter Historikern und Kartographiehistorikern für großes Aufsehen gesorgt habe. Es sei sogleich der Gedanke auf getaucht, dieses Werk der Öffentlichkeit zu erschließen; denn es sei unverkennbar gewe­ sen, daß es sich um ein bedeutendes Werk, um einen „Nationalatlas", ja um ein historisches Doku­ ment über das Selbstverständnis des preußischen Staates handelt. Selbst wenn man gegenüber dieser euphorischen Einschätzung etwas zurückhaltender ist, beeindruckt das Werk in der Tat durch seine thematische Vielfalt. In der für die damalige Zeit ungewöhnlichen Präzision werden auf 22 Karten Informationen über fast alle öffentlichen Bereiche des preußischen Staates geboten. Im einzelnen ent­ hält der Atlas Übersichten über folgende Themenkomplexe: Territoriale Erwerbungen unter dem Haus Hohenzollern, administrative Einteilung des Staates, militärische Anlagen und Bezirkseintei­ lung, Anlagen und Anstalten zur Beförderung des Verkehrs, Justiz-, Zoll-, Steuer-, Bergwerks-, Hüt­ ten- und Salinen-Verwaltung, Evangelische und Katholische Kirchenverfassung, Bevölkerungs­ dichte, Verhältnis der Bevölkerung zur Sprache, Religion und Konfession, Unterrichts-, Bildungs-, Wohltätigkeits- und Strafanstalten, Königliche Schlösser, Mühlen, Banken, Fabriken, Manufakturen, Mineralgruben, Gestüte und am Schluß schließlich eine allgemeine Übersicht der Fruchtbarkeit des Bodens. Diese zeitgenössischen Karten enthalten Informationen für fast alle wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit den Verhältnissen im preußischen Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäf­ tigen. Der Erläuterungsband gibt zunächst eine Einführung in die Vorgeschichte des Administrativ-statisti­ schen Atlasses. Elf Wissenschaftler bieten zu jeder Karte ausführliche Erklärungen mit den entspre­ chenden Literaturhinweisen. Dem Projektleiter und Herausgeber sowie dem Kiepert Verlag gebührt großer Dank, diese einzigar­ tige Quelle der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit erschlossen zu haben. Jürgen Wetze!

Wolfgang Wirth/Gerda Gränzig: Max und Moritz auf berlinisch, herausgegeben und kommentiert von Eckhard Schulz. Schriftenreihe: VIB — Veranstaltungen in Berlin e.V., Bismarckstraße 107,1000 Berlin 12, Band 3. Berlin 1990. Broschiert, 122 Seiten. Über Wilhelm Busch äußert sich Hugo Werner: „Seine Leiderfahrung jedoch läutert sich zur Leid­ überwindung, und aus ihr wächst sein Humor, der die Bereitschaft zur Freude und die Lust am Freu­ demachen einschließt." In seiner Einleitung führt Eckhard Schulz an, diese Sätze über Wilhelm Busch könnten auch als (fragwürdiges) Charakteristikum der Berliner verstanden werden. Bei der tatsächli­ chen Bindung zwischen dem Künstler und der Stadt sei es um so erstaunlicher, daß unter der großen Zahl deutscher Dialektfassungen bisher kein „Max und Moritz uff berlinisch" existierte. Dies mag daran liegen, daß rd. 70 % aller Berliner ihren Dialekt lieben (sofern sie ihn überhaupt beherrschen), weit mehr als 80 % aber der Meinung sind, das Hochdeutsche klinge besser als das Berlinische. Zwei Persönlichkeiten war es eine Herausforderung, den klassischen Text ins heimische Idiom zu übertra­ gen. Recht unterschiedliche Textfassungen haben Wolfgang Wirth, Vorsitzender der in Berlin ansässi­ gen Max-und-Moritz-Gesellschaft zur Förderung satirischer Kunst e.V., und Gerda Gränzig, Berliner Mundart-Schriftstellerin und Mitglied der Arbeitsgruppe Kinder- und Jugend-Buch-Autoren in der Neuen Gesellschaft für Literatur e. V, vorgelegt. E. Schulz bezeichnet die Version des Kreuzbergers Wirth als kräftiger, deftiger und erwachsenenbezogener, diejenige der Nordberlinerin Gränzig hinge­ gen als gemäßigter, volkstümlicher und kindgerechter.

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i Eine kurze Analyse von Werk, Wertung und Wirkung von Max-und Moritz-Streichen und ein Abriß über Geschichte und Bedeutung des Berlinischen, „eine Mischung aus Zufall und Regel, Jargon und Dialekt" leiten den Band ein. Ein abschließender Essay „Busch und Berlin" schlägt eine Brücke. Ein Beitrag über die Bedeutung des Wilhelm-Busch-Museums in Hannover, eine Auswahl-Bibliographie und ein Kurzporträt der Mitarbeiter an diesem Band bilden den Abschluß des Buches. Von Max und Moritz gibt es heute annähernd 200 Übertragungen in verschiedene Sprachen in Millio­ nenauflagen und Dialekten, allein auf dem deutschsprachigen Buchmarkt finden sich rd. 50 Fassun­ gen. Daneben gibt es eine Fülle künstlerischer Umsetzungen des Stoffs in andere Medien, etwa Büh­ nenwerke, Kompositionen, Filme, Schallplatten und Fernsehfassungen. In Berlin wird der Max-und- Moritz-Preis von der gleichnamigen Gesellschaft verliehen, auch Gaststätten halten die Erinnerung an Wilhelm Busch und seine Geschöpfe wach. Die Betrachtungen über das Berlinische, Geschichte, Grammatik und Lokalisierung einschließlich der Frage, ob es sich um einen Dialekt oder einen Jargon handelt, sind lesenswert. Eine Standortkarte unterrichtet über die anderen deutschen Dialektübertragungen, etwa aus den Dialektgebieten Bit­ burg, Eupen, Luxemburg, aus dem mennonitischen Plattdeutsch, dem Pensylvania Dutch und dem Siebenbürger Sächsisch, auch aus dem Zimbrischen. Zum Vergleich der beiden Berliner Fassungen sei der Schluß der Bubenstreiche hier wiedergegeben, zunächst im Kreuzberger Dialekt W. Wirths, sodann in der modernistischeren Version G. Gränzigs. „Selbst der jute Onkel Fritze Saacht: ,Det kommt von doofe Witze!' Und der olle Müllersmann Dachte: Watt jeht mir det an! Kurz: In janz Berlin herum Jing een freudijet Jebrumm: Jott sei Dank, nu is vorbei Mit die Übeltäterei!" „Selbst der jute Onkel Fritze, sprach: ,Dit kommt von dumme Witze!' Doch der kleene Bauersmann, dachte: ,Wat jeht mir dit an!' Kurz, im janzen Ort herum, jing ein freudijet Jebrumm: ,Jott sei Dank! Nun isset aus!' Der Onkel holt' den Konjak raus!" Die Frage, ob Wilhelm Busch überhaupt den Berliner Dialekt beherrschte, wird mit einem eindeuti­ gen Ja beantwortet. In seinem Briefwechsel zum Thema Berlin gebraucht er ihn allerdings nicht. Freunde des Berlinischen werden an der „Schöpfungsgeschichte von einem orthodoxen Berliner" ihre Freude haben, die kleine Autobiographie „Von mir über mich" ruft das Leben Wilhelm Buschs in Erinnerung zurück. Mit Interesse erfährt man, daß die in der Luisenstadt ansässige Max-und-Moritz-Gesellschaft zur Förderung satirischer Kunst e.V. ganz im Sinne multikultureller Bestrebungen die Streiche der beiden Lausbuben demnächst in Serbisch, Türkisch, Griechisch und in einer ägyptischen Version der arabi­ schen Sprache vorlegen will. Als Muster eines knappen Nachrufs stehe hier, was Gerhart Hauptmann geschrieben hat: Wilhelm Busch ist der Klassiker deutschen Humors, und das will in gewissem Sinne auch sagen, des deutschen Ernstes. So verehre ich ihn als eine der köstlichsten Emanationen deutschen Wesens. Er säte welt­ überwindendes Lachen über groß und klein: Dank ihm! Wie viele Tränen hat er getrocknet! Und er ist ein Weiser. SchB.

245 Dieter H. Schubert: Berliner Köpfe. Wer lebt(e) wo? Ein touristisches Adreßbuch. Elefanten Press Verlag GmbH, Berlin 1992. Broschiert 185 Seiten. Daß man über Berlins Ruf streiten kann, wie der Autor in seiner Einleitung schreibt, ist nicht zu bezweifeln, trifft aber auch auf seine Aussage zu, daß der Ruf der Berliner immer besser war als der ihrer Stadt. Genau 50 Berliner, gebürtige wie gelernte, werden mit ihren Berliner Adressen und einer kurzen Beschreibung ihres Erdenwandels vorgestellt. Die sehr kurze Charakterisierung der „Berliner Köpfe" im Inhaltsverzeichnis wird dann aber in den Text nicht übernommen. Heißt es über den alpha­ betisch ersten Kopf, Arnim, Bettina von, „Die literarische Anwältin der Armen aus der Lindenallee", so lautet der entsprechende Untertitel der eigentlichen Lebensbeschreibung. „Die Dichterin, die dem preußischen König trotzte — verstorben am 20. Januar 1859 in Berlin". Bismarck, Fürst Otto von kann sich gegen seine Kurzcharakterisierung: Deutschlands „Eiserner Kanzler" und „ Depeschen ver- dreher" nicht wehren. Bemerkenswert sind die Darstellungen auf Seite 16(nicht 17) „Nikolai Bersarin. Der erste sowjetische Stadtkommandant in Berlin — schreibt sich in sieben Wochen in die Berliner Stadtchronik ein" — im Inhaltsverzeichnis kürzer gekennzeichnet als „sowjetischer Kommandant mit Herz für Berlins Bevöl­ kerung". Nicht jedem Berliner dürfte geläufig sein, daß Generaloberst Bersarin am 16. Juli 1945 an der Kreuzung Alt-Friedrichsfelde/Schloßstraße tödlich verunglückte, als die Bremsen seines Motor­ rades versagen und er gegen einen Militärlastwagen seiner Armee geschleudert wird. Als Pendant kann dann Lucius D. Clay nicht fehlen, „Der Initiator und Mitorganisator der Luftbrücke — wird 1962 zum Ehrenbürger Berlins ernannt" treffender vielleicht im Inhaltsverzeichnis: Der „Luftbrücken­ mann" aus Georgia/USA. Wer nach der Länge der einzelnen Beiträge urteilt, könnte den Verdacht hegen, die Gewichte seien ungleich verteilt (beispielsweise je vier Seiten für Karl Liebknecht und Rudi Dutschke, drei Seiten für Fontane und je zwei Seiten für Else Lasker-Schüler und Moses Mendelssohn), doch ist eine solche Zählweise nicht bezeichnend für den Inhalt des Büchleins. Daß auch dort von Faschismus gesprochen wird, wo der Nationalsozialismus gemeint ist, stört sicher nicht nur den Historiker, dem die gravieren­ den Unterschiede zwischen den Inhalten dieser beiden Begriffe geläufig sind, hätte aber sicher auch dem Lektor auffallen müssen.

246 Im IV. Quartal 1993 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet.

Drope, Margot, Pahlitzsch, Werner, Rechtswanwalt Halenseestraße 1 c Leonorenstraße 34 10711 Berlin 12247 Berlin Tel.: 8 9286 32 Tel.: 7 710182 (H.-W. Treppe) Finkeinburg, Prof. Dr. Klaus, Jurist Richter, Alfred, Rentner Kurfürstendamm 24 Haberlandweg 2 10719 Berlin 13591 Berlin Tel.: 88 2971 (Dr. Uhlitz) Tel.: 3 66 33 80 (Fr. Schelling) Liers, Dr.-Ing., Dagobert, Lehrer Statzkowski, Andreas, Stadtrat Rupprechtstraße 15 c Spessartstraße 15 10317 Berlin 14197 Berlin Tel.: 5 29 5196 Tel.: 8215944 (Dr. Uhlitz) Neitzke-Senger, Christel, Kunsthistorikerin Witt, Marianne, Verwaltungswirtin Seesener Straße 18 Hohenzollerndamm 194 10711 Berlin 10717 Berlin Tel.: 8 911264 Tel.: 25 32-36 29 (K.-H. Kretschmer)

247 Veranstaltungen im I. Quartal 1994.

Auf Vorstandsbeschluß sind die Vortragsveranstaltungen generell von 19.30 Uhr auf 19 Uhr vorverlegt worden, um den Hörern eine frühere Heimkehr zu ermöglichen. Beachten Sie bitte die veränderten Anfangszeiten! 1. Sonnabend, den 5. Februar 1994,17 Uhr: Geselliges „Eisbein-Essen", auf Wunsch auch Rinder-Roulade, in den Historischen Weinstuben im Knoblauch-Haus neben der Nikolai­ kirche, Berlin-Mitte, Poststraße 23. 20 DM pro Gericht. Telefonische Anmeldungen bis zum 31. Januar 1994 unter 8 54 58 16, ab 19 Uhr. Bitte, halten Sie, wenn möglich, die Anmeldefristen ein, um unvorhergesehene Platzprobleme zu vermeiden! 2. Sonnabend, den 19. Februar 1994,11 Uhr: Geführter Besuch der Ausstellung „Porzellan, Kunst und Design 1889 bis 1939". Ein Überblick über die Porzellangeschichte, die für die Entwicklung moderner Gestaltung wichtig ist. Bröhan-Museum, Charlottenburg, Schloß­ straße 1 a. Gruppenpreis-Eintritt 3 DM, der von den Mitgliedern und Gästen zu entrich­ ten ist. 3. Montag, den 7. März 1994,19 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Das Berliner Stadtschloß und seine Baumeister". Bürgersaal des Rathauses Charlotten­ burg. 4. Montag, den 21. März 1994, 19 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Hans-Werner Klün- ner: „Die Umgebung des Stadtschlosses einstund heute". Bürgersaal des Rathauses Char­ lottenburg. Termin der Jahreshauptversammlung 1994 ist der 27. April 1994, 19 Uhr. Einladung mit Tagesordnung und Vortragsthema finden Sie rechtzeitig im Heft 2/94.

Bibliothek: Berliner Straße 40, 10715 Berlin, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 13597 Berlin, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 12209 Berlin, Telefon 772 34 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 13353 Berlin, Telefon 45 09-264. Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin, Telefon 7 534278. Konten des Vereins: Postbank NL Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, Berlin; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,10825 Berlin; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

248 Fethabteilung der Berliner StadtLißlio&Ä MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

90.Jahrgang Heft 2 April 1994

Leuchterengel (Detail), St.-Pauli-Kirche, Soest Altarkreuze und Leuchter aus Königlich Preußischem Eisenguß in einem westfälischen Landkreis Von Paul Habermann

Da heutzutage Altarschmuck aus Königlich Preußischem Eisenguß wenig bekannt ist, möch­ ten wir im folgendem auf einige auch noch heute in Soest und der umgebenden Soester Börde in Westfalen in sakraler Verwendung stehende Altarkreuze und Altarleuchter aufmerksam machen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in diese Kirchen gekommen sind, wobei sich der Anlaß und das genaue Aufstellungsdatum nur in einem Fall durch auffindbare Dokumente sichern ließ. Für die Wirtschaft des preußischen Königreiches spielten die Erzeugnisse der Königüchen Eisengießereien eine bedeutende Rolle. Seit 1754 gab es die Gießerei Malapane bei Oppeln in Oberschlesien, die bis zum Siebenjährigen Krieg vorwiegend Kanonenrohre und Kugeln für die preußische Armee gegossen hatte und später durch den Guß von Brückenteilen besonders bekannt wurde (12,15). Danach entstand 1794 die Eisengießerei in Gleiwitz. In Berlin erfolgte 1804 die Eröffnung der Königlichen Eisengießerei vor dem Oranienburger Tor. Nach dem Wiener Kongreß kam 1815 auch die zuvor nassauisch gewesene Gießerei in Sayn bei Koblenz in preußischen Besitz (8, 179). Neben dem Guß großer Eisenteile wie Brücken, Kandelabern, Geländern, großen Grabkreu­ zen entwickelte sich als ein besonderer Zweig der Gießereitechnik der Guß kleinerer Teile, der dann bald eine besondere Bedeutung erlangte. So stellte die Gleiwitzer Hütte in großer Zahl Medaillen her (7, 98). Sie zeigten Köpfe von Feldherren, Philosophen, Dichtern der Antike, ebenso auch viele bedeutende Personen der eigenen Zeit. Es sind Mitglieder der preußischen Herrscherfamilie, ihre Verwandten und Freunde, Generale der Befreiungskriege. Vor allem der Kopf des Königs Friedrich Wilhelm III. findet sich in zahlreichen Variationen dargestellt. Aber auch der Guß rundplastischer Denkmäler wurde technisch bewältigt. Das Denkmal der Befreiungskriege, das später dem Berliner Stadtbezirk „Kreuzberg" seinen Namen gab, ist ein Beispiel des Eisenkunstgusses dieser Zeit. Es entstanden auch verkleinerte Nachbildungen großer Denkmäler als Zimmerschmuck, Schreibtischgeräte und anderer häuslicher Zierrat. Es ist kein Zufall, daß der preußische Orden, der erstmals in gleicher Weise an Mannschaften wie an Offiziere verliehen wurde, das „Eiserne Kreuz", aus diesen Eisengießereien hervorging. Auskunft über die schwierige Technik des Gusses geben genaue Schilderungen zeitgenössi­ scher Fachleute, die bei E. Hintze (7, 41) und in dem neueren, sehr ausführlichem Buch von E. Schmidt (12, 12) angeführt werden. Die gegossenen Stücke mußten mit einem rostschützenden und verschönernden Lack überzo­ gen werden. Wir entnehmen einem Bericht von damals: „Der auf der Eisengießerei bei Glei­ witz zu gebrauchende Lack ist eine Composition von 1 Quart rohem Leinöhle, % Pfund Bur­ gunder Quarz, 6 Loth Bleiglätte und % Pfund Weihrauch. Dieses alles muß in einem reinen zugedeckten Topfe vier bis fünf Stunden lang gekocht werden, bis die Mischung eine klare braune Flüssigkeit wird, welche, wenn sie noch lange Zeit steht, dunkelbrauner und fester wird" (7,44). Es waren dann noch weitere umständliche Maßnahmen nötig, bis der volle Nut­ zen und die beste Wirkung erzielt waren. Die Sayner Hütte hielt die Zusammensetzung der Anstreichlösung geheim (15, 189).

250 Abb.l: . Kruzifix, St. Pauli-Kirche, Soest

Eine Spezialität, die sehr hohe Anforderungen an die Gußtechnik stellte, waren Schmuck­ stücke. Wie schon bei den größeren Gußstücken, zum Beispiel den Grabkreuzen, lieferten die bedeutendsten Künstlers Preußens wie Schadow, Schinkel, Rauch, um einige Namen zu nen­ nen, die Entwürfe. Diademe, Halsketten, Ohrgehänge, Armbänder, Gürtelschnallen, Broschen waren oft Arbei­ ten von feinster filigraner Zierlichkeit. Die Einzelteile wurden gegossen und dann mit dünnen Eisendrähten verlötet. Man ist überrascht über dessen Leichtigkeit, wenn man ein solches guß­ eisernes Schmuckstück in der Hand hält. Da in den Befreiungskriegen viele Pretiosen aus edleren Metallen zur Deckung der Kriegsko­ sten von der Bevölkerung in Preußen geopfert worden waren, bestand trotz des geringen Wer­ tes des Materials ein besonders großer Bedarf für diesen zeitgemäßen und durch die hohe Kunst seiner Herstellung kostbaren Schmuck. So war es nicht verwunderlich, daß in Berlin zusätzlich leistungsfähige Privatbetriebe für Eisenkunstguß entstanden, die ebenfalls kleinere Ziergeräte und Schmuck herstellten. „Berli­ ner Eisen", „fer de Berlin", wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Begriff in ganz Europa (10, 21).

251 Zu dem Umfange und den Leistungen der Königlichen Eisengießereien in Berlin heißt es in dem Wegweiser durch die wichtigsten technischen Werkstätten in der Residenz von 1820: „Die Eisengießerei stellt uns das Mächtige, Colossale, Unzerstörbare in gewaltiger Masse und in der festesten Zusammenfügung, zugleich mit dem Niedlichsten, Feinsten, Gefälligsten in der zar­ testen Form und Gestaltung, auf; wobei uns der Contrast der verschiedenartigen Erzeugnisse aus demselben rohen, harten, aber der Macht des Feuers unterliegenden, und dadurch jeder Bildung sich fügenden Stoff, in Erstaunen und Bewunderung setzen muß. Die Productionen in Eisenguß gehören zu jenen Aufstellungen des menschlichen Kunstfleißes unseres Zeitalters, wodurch sich dessen überwiegende Fortschritte vor jedem anderen bewähren" (16, 3). Während der gefällige Schmuck und die Kleinkunst aus den Königlichen Gießereien heutzu­ tage wieder mehr Aufmerksamkeit gefunden haben und bei Auktionen hohe Preise erzielen, ist das Interesse an den anderen Produkten weit geringer. Bei der Auflassung der Friedhöfe gin­ gen die ursprünglich zahlreichen Grabdenkmäler meist verloren. Fanden sich zum Beispiel auf dem Alten Garnisonfriedhof in Berlin am RosenthalerTor 1977 noch 489 Grabstellen, so sind es heute nur noch 180 (4,24), und damit ist eine beträchtliche Zahl von Grabkreuzen mit ihren eisernen Umzäunungen vernichtet. Dagegen sind andere kleine Kunstwerke des Eisengusses aber noch heute an verschiedenen Orten im Gebrauch. Es handelt sich um Altarkreuze und Altarleuchter, deren Herstellung gleichsam ein wichtiger Zweig der Eisenkunstgußproduktion war. So konnte 1824 allein die Gleiwitzer Gießerei 1181 Kruzifixe mit Postamenten und 1489 Leuchter verkaufen (7,98). Die Gießereien in Gleiwitz, Berlin und Sayn tauschten teilweise ihre Gußmodelle aus, die dann mit größeren oder geringeren Abwandlungen an den verschiedenen Orten zum Guß benutzt wur­ den. Es ist daher oft schwer, nachträglich festzustellen, welche Gießerei das Altarkreuz oder den Altarleuchter jeweils geliefert hat. Der vor etwa 170 Jahren übliche Gebrauch solcher gußeisernen Altargeräte wird in einem Bericht Fontanes deutlich. Er schildert, wie der Feldmarschall v. d. Knesebeck als Patronats- herr des kleinen Dorfes Karwe südlich von Neuruppin in Begleitung des Königs Friedrich Wil­ helm III. von Preußen und des Kaisers Alexander I. von Rußland sich 1818 in den Ausstel­ lungsräumen der Berliner Gießerei am Oranienburger Tor für seine Kirche Kreuz und Leuch­ ter aussuchte. „Sagte der König zum Kaiser: Wir wollen es der Karwer Kirche gemeinschaftlich schenken! Und so geschah's" (3,59). Gar so teuer war dieser Altarschmuck nicht. Wir wissen aus dem bei Hintze (7, 57) veröffentlichten Gleiwitzer Preis-Courant, daß ein großes Kruzifix mit Posta­ ment sechs Reichstaler und fünfzehn Silbergroschen kostete. Nicht nur im märkischen Karwe sind Kruzifix und Leuchter erhalten geblieben(3,625). Auch im kirchenreichen Soest in St. Pauli wie in vier Kirchen der Soester Börde zieren sie noch heute die Altäre. Den alten historischen Verbindungen zwischen Brandenburg-Preußen und Soest ist es zu ver­ danken, daß der seinerzeit begehrte Altarschmuck den Weg in das von den preußischen Eisen­ gießereien weit entfernte Westfalen fand. Nach dem Aussterben des klevischen Herzoghauses im Jahre 1609 und nach langen Erbstrei­ tigkeiten mit dem Pfalzgrafen von Pfalz-Neuburg wurde auch die alte westfälische Hansestadt mit ihrem Umland brandenburgisch. Der Kurfürst Johann Sigismund (1572—1620) war 1613 calvinistisch geworden, wie es die Hohenzollern auch weiterhin blieben, ohne aber von ihren überwiegend lutherischen Untertanen den Übertritt zum Calvinismus zu verlangen. In der Gegenreformation wurde die Stadt Soest zwar wieder katholisch, doch seit 1570 ist sie wieder evangelisch (9, 17).

252

I Abb. 2: Saynerhütte Preis-Courant (Ausschnitt) (aus Hintze S. 122)

Im Jahre 1669 huldigten die Soester Bürger dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wil­ helm, dem Großen Kurfürsten (1620—1688). Damit gehörte Soest nun endgültig zu Branden­ burg und blieb es im Lauf der Geschichte, die aus dem brandenburgischen Kurfürstentum das Königreich Preußen werden ließ (9, 20). Zuerst soll ein Alltarkreuz gezeigt werden, das wir in Soest in der Sakristei der in der Mitte des 14. Jahrhunderts erbauten Paulikirche finden. Bei einer gesamten Höhe von 75 cm hat es einen verhältnismäßig hohen und schmucklosen Sockel. Der Korpus ist goldbronziert, wie auch bei fast allen anderen nachfolgend beschriebenen Kruzifixen (Abb. 1). Die Sayner Hütte gab in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen illustrierten Katalog heraus. Darin finden wir dieses Kreuz als das größte einer zum Verkauf angebotenen Auswahl (Abb. 2). Weiterhin ist in der Sakristei neben dem Kreuz ein aufwendig gestalteter Leuchterengel zu sehen. Die sentimentale Darstellung des Engels mit geschlossenen Augen und mit betend aneinander gelegten Fingerspitzen hebt sich merklich von anderen weit schlichteren Leuchter­ formen ab (Titel), so daß seine Entstehungszeit an das Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts zu setzen sein wird. In dem Preis-Courant der Gleiwitzer Hütte von 1847 finden wir die­ sen Leuchterengel abgebildet (Abb. 3), und der Preis wird mit sechs Reichstalern angegeben. Etwa sieben Kilometer nordwestlich von Soest, an der Straße nach der seit 1624 brandenburgi-

253 sehen Garnisonstadt Hamm, liegt das Dorf Borgein. Die ältesten Teile seiner Kirche, die keinen Schutzpatron hat, stammen aus dem 12. Jahrhundert. Hier finden wir Altarkreuz und Altar­ leuchter noch in regelmäßigem sakralem Gebrauch. Die Typ des Kreuzes ähnelt dem in der Soester St.-Pauli-Kirche beschriebenen. Seine Höhe beträgt 115 cm. Das Postament ist gegenüber dem vierstufigen Fuß mit einer vergoldeten Schmuckleiste abgesetzt; oben trägt es an der Schauseite vier goldene Sterne. Auch das untere Ende des Kreuzstammes zeigt eine Schmuckleiste, über der sich noch ein sechszackiger Stern in einem ovalen Kranz, beides auch vergoldet, befindet. Der Korpus ist hier aus schwarzlackier­ tem Eisen. Lendenschurz und Dornenkrone heben es durch ihre Vergoldung besonders hervor. Prunkvoll sind die beiden Altarleuchter (Abb. 4). Zwischen den vier geschwungenen Füßen hängt jeweils eine vergoldete Muschel der St.-Jakobs-Pilger, ein Schmuck, der für die Entste­ hung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und für den Gebrauch in einer protestantischen Kirche ungewöhnlich ist. Der spiralig gewundene Leuchterschaft entwickelt sich aus einem Blumenkelch und endet in einem Kapitell, auf dem vasenartig ein Korb mit dem Teller für den Dorn der Kerze sitzt. Ein ähnlicher, wenn zwar in Einzelheiten abweichender Leuchter ist im Sayner Preis-Courant abgebildet (s. Abb. 2). In der Dorfkirche des weitere sieben Kilometer an der Straße nach Hamm gelegenen Ortes Dinker stehen auf dem Altar Kreuz und Leuchter aus preußischem Eisen. König Friedrich Wil­ helm III. von Preußen hatte nach einer längeren Reise auf der Rückfahrt nach Potsdam am 12. Juli 1821 im Pfarrhaus zu Dinker Rast gehalten. Zum Dank für die freundliche Aufnahme stiftete er das Altarkreuz und die Altarleuchter für die Kirche (5, 90). Doch mußte die Gemeinde noch sieben Jahre auf das königliche Geschenk warten. Denn erst im Februar 1828 traf es aus der Königlichen Eisengießerei Saynerhütte bei Ehrenbreitstein in Dinker ein (13,5) und hat seitdem seinen Platz in St. Othmar. Das 77 cm hohe Kreuz wirkt schlicht. Auch der Sockel ist nicht besonders verziert (Abb. 5). Das düstere Schwarz des Eisens scheint der Gemeinde nicht gefallen zu haben, so daß das Kreuz und die beiden Leuchter goldbronziert wurden. Bei den Leuchtern erhebt sich aus dem rechteckigen Fuß der vierkantige Leuchterschaft, des­ sen Seiten mit Blattornamenten reich versehen sind. Der Schaft verbreitert sich nach oben und geht in einen vasenförmigen Kerzenhalter über, der als beliebtes Motiv der Zeit mit zwei um den Vasenkörper drapierten Schärpen dekoriert ist. Sowohl der Sayner als auch der Gleiwitzer Verkaufskatalog zeigen Muster dieses Leuchter­ typs, woraus zu schließen wäre, daß dieser Leuchter sich bei den Käufern besonderer Beliebt­ heit erfreute. Auch die Schloßkapelle in Charlottenburg in Berlin besitzt solche Leuchter (2, 171), die man auf Ausstellungen in den letzten Jahren sehen konnte (1, Abb. 429; 2, Abb. 359). In Ostönnen, etwa sieben Kilometer ostwärts von Soest an der ehemaligen alten Reichsstraße Königsberg—Aachen gelegen, gibt es ein weiteres Kreuz aus preußischem Eisenkunstguß. Es steht nicht mehr auf dem Altar der Dorfkirche St. Andreas; es wird im Pfarrhaus aufbewahrt. Aber bei besonderen kirchlichen Anlässen findet es auch heute noch Verwendung. Dieses Altarkreuz ist 77 cm hoch. Die zweistufige Grundplatte ist mit eierstabähnlichen ver­ goldeten Schmuckleisten versehen. Die Frontseite des Sockels verzieren zwei ebenfalls vergol­ dete Kränze. Im Katalog „Eisen statt Gold" sehen wir ein ähnliches Kreuz abgebildet, der Her­ kunftsort Sayn ist aber mit einem Fragezeichen versehen (2, Abb. 245). Schließlich gibt es auf dem Altar der Kirche St. Urbanus des sieben Kilometer nordöstlich von Soest gelegenen Dorfes Weslarn ebenfalls ein Kreuz aus Eisenkunstguß, das bei einer Höhe

254 Abb. 3: Gleiwitzer Preis-Courant von 1847 (Ausschnitt) ^/

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von 88 cm reicher geschmückt ist als die bisher vorgestellten. Der Sockel steht auf einer zwei­ stufigen Basis. Die zweite Stufe und der Sockel sind mit einer vergoldeten Zierleiste abgesetzt. Ein großer ovaler, vergoldeter Kranz füllt die Schauseite des Sockels aus. Vor dem Fuß des Kreuzes sehen wir einen Totenschädel, der ebenso wie eine sich um den Kreuzfuß und den Schädel windende Schlange vergoldet ist. Auch der Korpus und die I. N. R. I.-lnitialien leuch­ ten golden. Das vieldeutige Symbol der Schlange wird hier als ein Zeichen des den Tod über­ windenden Christus nach 4. Mose 21,9 und Johannes 3,14 zu erklären sein (6, 256).

255 Im Gleiwitzer Preis-Courant von 1847 ist ein sehr ähnliches Kreuz wiedergegeben, das aber an der Frontseite des Postaments zwei größere ovale Kränze trägt, auch die Schmuckleisten an den Stufen fehlen. In den Illustrationen der Gleiwitzer und der Sayner Kataloge wird deutlich, daß in ihnen gleiche Modelle wiederkehren, die in verschiedenen Einzelheiten aber von einander abweichen. Vielleicht vermag unser Bericht über Altargeräte aus preußischem Eisenkunstguß, die in Soest in der St.-Pauli-Kirche und in den umliegenden Dorfkirchen der Soester Börde in Borgein, Dinker, Ostönnen und Weslarn noch heute vorhanden sind, die Anregung dazu geben, weite­ ren noch sich im sakralen Gebrauch befindenden Altarkreuzen und Altarleuchtern aus den Königlich Preußischen Eisengießereien nachzuspüren.

Abb. 4: Leuchter, Kirche in Borgel

256 Abb. 5: Kruzifix, Kirche in Dinker

Literatur

1 Berlin und die Antike, Katalog, hrsg. v. W. Arenhövel; Berlin 1979 2 Eisen statt Gold, Katalog, hrsg. v.W. Arenhövel; Berlin 1982 3 Fontane, Th.: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Dörfer und Flecken im Lande Rup- pin, hrsg. v. G. u. Th. Erler; Berlin u. Weimar 1992 4 Gottschalk, W.: Der Garnisonfriedhof und der Invalidenfriedhof zu Berlin; Berlin 1991 5 Habermann, P.: Erfrischungen ohne Festessen, Heimatkalender des Kreises Soest 1993 6 Heinz-Mohr, G.: Lexikon der Symbole; Köln 1983 7 Hintze, E.: Gleiwitzer Eisenkunstguß; Breslau 1928 8 Knaff, W.: Die Saynerhütte und ihre Gießhalle, Kruppsche Monatshefte; Essen 1922 9 Köhn, G.: Soest in der Geschichte. Ein Kalender von 5000 v. Chr. bis 1992; Soest 1992 10 Pniower, O.: Berliner Eisen, Mitteilgn. d. Vereins f. d. Geschichte Berlins; Berlin 1924

257 11 Sayner Eisenkunstguß: Sayner Eisenkunstguß. In: Kruppsche Monatshefte; Essen 1927 12 Schmidt, E.: Der Preußische Eisenkunstguß; Technik, Geschichte, Werke, Künstler; Berlin 1981 13 Smiezchala, A.: Der Altarschmuck von St. Othmar in Dinker, Dinker 1982 14 Stamm, B.: Blicke auf Berliner Eisen. Aus d. Berliner Schlössern; kl. Schriften; Berlin 1979 15 Thiele, A.: Der Kunstguß auf Saynerhütte, Kruppsche Monatshefte; Esssen 1927 16 Weber, H.: Wegweiser durch die wichtigsten technischen Werkstätten der Residenz Berlin, II. Teil; Berlin und Leipzig 1820, Reprint Berlin 1987 17 Widerra, R.: Berliner Eisenkunstguß, Mark. Museum (Ost-)Berlin o. J.

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Anschrift des Verfassers: Dr. med. habil. Paul Habermann, Franz-Nölken-Weg 9, 59494 Soest

Aus dem Mitgliederkreis

Professor Dr. Margarete Kühn 90 Jahre

Jetzt kann man wohl mit Fug und Recht von der „großen alten Dame" der Berliner Kunstgeschichte und ebenso einer Kunstgeschichte in Berlin sprechen: Professor Dr. Margarete Kühn vollendete am 4. Februar 1994 ihr 90. Lebensjahr. Welch unerhörter Glücksfall für Berlin ist diese den Fachkollegen des In- und Auslandes und erst recht den Berlinern wohlbekannte Kunsthistorikerin, die ihr Lebens­ werk der Stadt, ihren bedeutendsten Gebäuden und Künstlern, wie Carl Friedrich Schinkel, widmete. Ihre Verdienste um die Kultur Berlins, seiner Kunstgeschichtsforschung und damit zusammenhän­ gend seiner Denkmalpflege galten einem speziellen Bereich, der heute neue, bedeutende Aktualität gewonnen hat. Als „ungekrönte Herrscherin" des Schlosses Charlottenburg, dessen Wiederaufbau sie beharrlich betrieb und durchsetzte, ist sie in die Annalen eingegangen. Regieren war zu allen Zei­ ten schwer und Finanzieren noch viel mehr — das galt für sie damals wie für uns heute. Die gebürtige Westfalin (Dortmund-Lütgendortmund) und Tochter eines Architekten studierte zunächst in München Naturwissenschaften, bevor sie zur Kunstgeschichte überwechselte. 1928 pro­ movierte sie über ein Thema der italienischen Architektur des 16. Jahrhunderts. Ihr berufliches Leben hat Margarete Kühn — eine im besten Sinne „gewordene" Berlinerin — der preußischen und Berliner Schlösserverwaltung gewidmet. Schon 1929 trat sie in diese damals noch junge Institution ein und hat sie eigentlich bis zu ihrer Pensionierung 40 Jahre später nicht mehr verlassen. Über die Stationen einer Volontärin und „Wissenschaftlichen Hilfsarbeiterin" erwarb sie sich beste Sachkenntnis und sicher auch ihre Liebe zu diesen gerade zu Museen ernannten Gesamtkunstwerken aus Architektur, Plastik, Innenausstattung und Gärten. Konnte sie damals ahnen, daß dieses Engagement einst mit einer eige­ nen „Schlösserherrschaft" belohnt werden würde ? Doch welch schwerer Weg führte dorthin! Großes Engagement forderte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges zunächst der Wiederaufbau der Berliner Schlösserverwaltung; der Kampf gegen den Abriß des Berliner und des Potsdamer Schlosses blieb, wie wir wissen, erfolglos. Das Schloß Charlottenburg — nach 1948 Sitz der Berliner Schlösser- verwaltüng — wurde von M. Kühn in seinem Wiederaufbau einer „geschichtsmüden Nachkriegsgene­ ration", deren Blick weit mehr auf die allgemein herrschende Not, den Geld- und Wohnungsmangel gerichtet war, abgerungen. Die Auseinandersetzung um den Wiederaufbau des Charlottenburger

258 Schlosses geriet zu einem Lehrbeispiel, das Maßstäbe setzte. Die alte Lehrmeinung, daß die Denk­ malpflege nur konservieren, nicht restaurieren dürfe, hatte nach 1945 — in einigen frühzeitig kriegs­ zerstörten deutschen Städten schon eher — in vielen Fällen zu völligem Verlust historischer Bauten geführt, u. a. zugunsten einer „zeitgemäßen Verkehrsführung" in Altstädten. Margarete Kühn setzte sich auf beispielhafte Weise durch: Wo exakte Rekonstruktion nicht möglich war, entschloß sie sich zu moderner Ergänzung. Es sollte keine „Alte-Fritz-Kulisse" vorgegaukelt werden. Viele ihrer Ent­ scheidungen haben sich als richtig, mehr noch als richtungweisend für die Denkmalpflege erwiesen. Gilt es nicht heute, sich an diesem herausragenden Beispiel zu orientieren? Margarete Kühn trat 1969 in den so verdienten Ruhestand. — Wirklich ? Nein! Ganz falsch! Sie trat in den „kunsthistorischen Unruhestand"! Sie wurde gewissermaßen zur „keinesfalls Patina ansetzen­ den" Vertreterin der Berliner Kunstgeschichtsforschung, bekannt als Erscheinung, der man in allen Bibliotheken, Archiven, Vorträgen, Ausstellungen begegnete. Fachkollegen erzählten von ihrer freundlichen und spontanen Bereitschaft zu helfen, konstatierten gleichzeitig die große Bescheiden­ heit im Gespräch, das auch dem Anfänger nicht das Gefühl gab, ein unnützer Gesprächspartner zu sein. Auf bemerkenswerte Weise war dieses Verhalten fördernd, ermutigend und befreiend für all das, was uns als junge Kunstgeschichtsstudenten bewegte! Wir wußten — und fanden nun bestätigt —, wie notwendig die Forschumg zum 19. Jahrhundert gerade hier in Berlin war. Es war nicht zuletzt Marga­ rete Kühn, die uns den Blick schärfte. Daß sie in der Nachfolge Paul Ortwin Raves die Herausgeberin des großen Schinkel-Werkes war, imponierte den weiblichen Studenten, sahen sie doch darin eine „rein männliche Kunstgeschichtsforschung" abgelöst. Margarete Kühn widmete und widmet sich der Berliner Kunstgeschichte; sie prägte damit das Bild einer Kunstgeschichtsforschung in Berlin und setzte schon in den Jahren nach dem letzten Krieg Maß­ stäbe, deren wir heute in einer neuen, doch ähnlichen Situation wieder bitter bedürfen. Sie ist als Wis­ senschaftlerin immer aktuell geblieben, beharrlich fördernd, wo es not tat. Margarete Kühn hat es immer abgelehnt, als Heldin gefeiert zu werden. Dem Verein für die Geschichte Berlins geruht es zur Ehre, sie als einzige gleich zweimal mit der Fidicin-Medaille geehrt zu haben: für die Verdienste im Verein, der langjährigen Mitarbeit im Vorstand und der Redaktion der Berlin-Bibliographie im Jahr­ buch (1974) und erneut (1991) für ihren beruflichen Einsatz und ihre Forschungen zur Berliner Kunstgeschichte, um die sie sich in hohem Maße verdient gemacht hat. Sibylle Einholz

Aus dem Vereinsleben

Studienfahrt nach Jena?

Das Fragezeichen hinter der Überschrift deutet an, daß „unser Mann in Jena" zwar schon gefunden worden ist und auch sehr gut klingende Vorschläge unterbreitet hat (etwa Besuch der Dormburger Schlösser), das Programm aber noch nicht hieb- und stichfest und schon gar nicht veröffentlichungs­ reif ist. Dies soll dann in der Juli-Nummer der „Mitteilungen" mit den üblichen Angaben abgedruckt werden. Wer sich unverbindlich schon anmelden will oder grundsätzlich für diese Exkursion interessiert ist, erhält das vollständige Programm vorab zugeschickt, wenn er seinen Wunsch an den Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, Artuswall 48,13465 Berlin-Frohnau, richtet. SchB.

259 Nachrichten

Dr. Karl Voss t

Er hatte sich eine ganz spezielle Methode, Literaturgeschichte zu schreiben, zu eigen gemacht: seine „Spaziergänge" (oder Fahrten) führen den Leser zu den Stätten, wo ein Mann oder eine Frau der Feder gelebt und gewirkt hat, und von da aus baut er seine Kurzbiographien und Würdigungen des jeweiligen Schaffens auf. Karl Voss' „Reiseführer für Literaturfreunde Berlin/Vom Alex bis zum Ku'damm" verkaufte sich bestens; der vielgereiste und polyglotte Autor stellte ihm unermüdlich ein halbes Dutzend Pendants zur Seite (Frankreich, Paris, London, Schottland, England, zu guter Letzt noch Potsdam [ 1993]). Studien über England und Frankreich und namentlich die „Redensarten" der französischen, englischen und italienischen Umgangssprache gingen zeitlich den Reiseführern vor­ aus. Fünf europäische Länder haben Voss' Anteilnahme an ihrer Sprache und Kultur mit hohen Aus­ zeichnungen gewürdigt. Nach dem Studium der Anglistik und Romanistik hatte er als Lehrer an höheren Schulen und in der Erwachsenenbildung gearbeitet, war in den 50er Jahren am Berliner Französischen Gymnasium tätig gewesen, um 1960 als Direktor der Europäischen Schule nach Luxemburg zu gehen, wo er 1971 die Einrichtung und Leitung der Thomas-Mann-Bibliothek, dem späteren Goethe-Institut, übernahm. Karl Voss hat das Seine zur Wiederherstellung des deutschen Ansehens nach dem großen Krieg in Westeuropa beigetragen. In einem Interview mit dem „Luxem­ burger Wort" anläßlich seines 80. Geburtstages sagte er: „Für meine Person möchte ich nicht das große Wort der inneren Emigration in Anspruch nehmen. Ich war auch kein Widerstandskämpfer ... Doch die Schuld, die Nazi-Deutschland auf sich geladen hat, soll nicht vergessen werden. Ich bin bereit, meinen Teil an Verantwortung für diese Untaten zu tragen. Meine literarische Arbeit, ja mein Interesse für Autoren, die unter dem Nazijoch Verfolgung und Unterdrückung erleiden mußten, ist auch ein immer erneuertes Bitten um Vergebung . .. mit dem Hinweis darauf, daß es in jener Zeit auch andere Deutsche gab." Karl Voss, der in seinen letzten Jahren auch ein paar kleinere Beiträge für das Jahrbuch „Der Bär von Berlin" lieferte, starb im 87. Lebensjahr im Februar 1994 in seiner Wahl­ heimat Luxemburg. Gerhard Kutzsch

Spektakulärer Fund im Kunstbesitz der Humboldt-Universität

Es begann im Jahre 1989 auf einem West-Berliner Friedhof: Im Mausoleum des Chemikers Eilhard Mitscherlich (gest. 1863) auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg wurde mit der Porträt­ büste Mitscherlichs ein lange verschollen geglaubtes Werk der deutsch-amerikanischen Bildhauerin Elisabet Ney (1833 Münster — 1907 Austin/Texas) wiedergefunden. Ney hatte das Bildnis des Che­ mikers 1860 erstmals in einer Gipsfassung auf der Akademie-Ausstellung in Berlin ausgestellt. Bekannt war allerdings, daß der aus dem Erbe ihres Lehrers Christian Daniel Rauch (gest. 1857) an die Künstlerin gefallene Auftrag eine Marmorausführung zur Aufstellung in der Berliner Universität, deren Rektor Mitscherlich vorübergehend gewesen war, einschloß. Existierte möglicherweise noch eine Marmorfassung, vielleicht in der heutigen Humboldt-Universität? Die Unterlagen zum Kunst­ besitz verneinten diese Frage: Kriegsverlust. Weitere Recherchen verdichteten aber mehr und mehr die Annahme, daß eine „vermutlich Schadow" zugeschriebene Mitscherlich-Büste in der Landwirt­ schaftlichen Fakultät möglicherweise identisch mit dem gesuchten Porträt sein könnte. Schon der erste Augenschein bestätigte dieses. Auf hoch angebrachter Konsole im Hörsaal I erschien das gesuchte Objekt zunächst unerreichbar. Mit einer Leiter und der Hilfe eines Taschenspiegels konnte die Signatur an der eng an die Wand gerückten und unbeweglichen Büste entziffert werden: ELIS. NEY 1865 (3?). Schon die Entdeckung der verschollen geglaubten Gipsbüste von 1859 war eine kleine Sensation, die sich nun, vier Jahre später, durch den Fund der Marmorbüste komplettierte. Warum? Elisabet Ney ist die bedeutendste deutsche Bildhauerin des 19. Jahrhunderts. Als letzte

260 Rauch-Schülerin ist sie der Berliner Bildhauerschule zuzuordnen, die im letzten Jahrhundert Welt­ rang besaß. So wundert es nicht, daß die Künstlerin, nachdem sie in die USA übergesiedelt war, dort bedeutende öffentliche Aufträge erhielt, bis hin zu Denkmals-Entwürfen, die sie eigenhändig in Mar­ mor umsetzte. Bei den in Deutschland entstandenen Werken sind die namhaftesten sicher das Stand­ bild Ludwigs II. von Bayern und die Schopenhauer-Büste. Der Wiederentdeckung der von der Kunst­ geschichtsschreibung fast völlig vergessenen Bildhauerin kommt eine besondere Bedeutung zu. Elisa- bet Ney ist nicht nur die bedeutendste deutsche Bildhauerin des 19. Jahrhunderts. Sie bewies, daß Bildhauerei keine männliche Domäne ist. Bei den in Deutschland herrschenden Verhältnissen wäre ihre Karriere allerdings unmöglich gewesen. Amerika bot ihr nicht nur öffentliche Aufträge, sondern ehrt sie bis heute durch ein Personalmuseum in Austin, Texas. Während das Museum für ihren großen Berliner Lehrer Rauch in Berliner Depots dahinsiecht, geben Neys Werke an fernem Ort Auskunft über die Einflüsse einer großen Zeit Berliner Bildhauerei. S. Einholz

EG fördert Instandhaltung der Karl-Marx-Allee

Im Jahre 1993 ist die Restaurierung historischer Parke und Gärten in den zwölf Mitgliedstaaten von der EG-Kommission mit insgesamt 3,165 Mio ECU (1 ECU = 1,96 DM) gefördert worden. Insge­ samt waren 600 Anträge eingegangen, von denen ein Gremium von Sachverständigen aus den Gebie­ ten Architektur, Archäologie und Restaurierung 58 Projekte auswählte. Von diesen Förderprojekten liegen sieben historische Park- und Gartenanlagen in Deutschland. Aus den neuen Bundesländern wurden der Park an der Um in Weimar, der Georgegarten — Georgium in Dessau und die Karl-Marx-Allee in Berlin finanziell gefördert. Die im Rahmen des Wiederaufbaus der Stadt nach dem Krieg angelegte Karl-Marx-Allee ist 2,3 km lang und gilt als das Herzstück des Ostteils Berhns. Diese breite „Prachtstraße", von Bäumen sowie Blumenbeeten und Parkmobiliar gesäumt, wurde nur unzureichend unterhalten und befindet sich daher in einem schlechten Zustand. Im Zuge der Instandsetzungsarbeiten ist vorgesehen, unter ande­ rem Parkmobiliar und beschädigte Laubengänge zu erneuern, den Pflasterbelag einzuebnen, neue Blumen zu pflanzen sowie Arbeiten an der Kanalisation und Wasserzuleitung in Angriff zu nehmen. Die Karl-Marx-Allee soll sich dann wie eine grüne Achse durch Berlin ziehen. SchB.

Buchbesprechungen

Thomas Stamm-Kahlmann: „König in großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. der Melancholiker auf dem Thron". 781 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Quellen- und Literaturverzeichnis, Namensregi­ ster, ausführlicher Anmerkungsteil. Siedler Verlag, Berlin 1992. Seit Friedrich Meineckes Werk ist der Jahrhundertbeginn um 1800 als „Zeitalter der Erhebung" ein fester Bestandteil der historischen Wertung Preußens, die Wertung der Persönlichkeit Friedrich Wil­ helms III. dagegen war verschiedenen Schwankungen ausgesetzt. Beim Titel, den Verf. hier seiner Biographie gibt, ist diese Beurteilung als „große Zeit" übriggeblieben, doch inzwischen hatte die Geschichtsschreibung diese Einschätzung kritischer gesehen, hier wird nun in einem umfangreichen Werk eine Neueinschätzung der Rolle des Königs versucht, ohne jedoch das Alte umzustoßen, aber der Zugang wird durch eine differenziertere Persönlichkeitsbetrachtung gebahnt. Verf. setzt sich ab von dem, was er „Geheimratshistorie" nennt, worunter er das Ausmalen von Biographien (der Refor­ mer) im Zeitalter bürgerlicher Geschichtsschreibung versteht. — Das Buch ist zu lesen von der ernsten und anspruchsvollen Einleitung her, in der Verf. sein abweichendes Vorgehen vor der historischen Wissenschaft rechtfertigt. Ihm fällt auf, daß das allgemeine geistige Bild des Reformzeitalters von

261 einem Kreis bürgerlich-liberal erforschter Einzelpersönlichkeiten der Reformer bestimmt ist, sozusa­ gen einem Gruppenbild der Nebenpersonen, daß aber die königliche Mitte gleichsam verschleiert erscheint. Verf. schildert, wie die verschiedenen historischen Schulen seit Ranke jede dem Bild eine bestimmte Dimension hinzugefügt haben. Nach so viel sozialgeschichtlicher, ökonomischer und psy­ chologischer Forschung sei es an der Zeit, nach der Person des Königs Friedrich Wilhelm, seinen Mängeln und Schwächen im Zusammenwirken mit „tiefen Zeitströmungen" zu fragen, d. h., wieweit sie kompensiert oder befördert wurden, indem der König bei seiner Machtausübung seinen persönli­ chen Eigenarten unterlag. Dies bezeichnet Verf. als den mentalitätsgeschichtlichen Ansatz. — Er gründet sein breites Gemälde auf die These: Bei genauer Beobachtung des Regierungsapparates und der Entscheidungsvorgänge in den diplomatischen Krisen der Jahre von 1807 bis 1830 haben die per­ sönliche Schwäche eines an entscheidender Stelle stehenden Regenten weltgeschichtliche Bedeutung gewonnen, in diesem Fall: „Hätte Friedrich Wilhelm III. mehr Vertrauen zu seinem Staatskanzler Hardenberg gehabt statt zu Metternich ..., dann hätte sich eine Konstitutionalisierung Preußens durchsetzen lassen, ohne daß 1848 eine verspätete Revolution dazu erforderlich gewesen wäre" (S. 10). Ausgangspunkt vieler Überlegungen ist die Beobachtung, der Trend zu Staatsreformen habe schon der spätfriderizianischen Beamtenschaft innegewohnt, als sich zeigte, daß der altgewordene, angestrengt arbeitende König nicht mehr „alle Dinge selber tun" konnte, wie er es noch seinem Nach­ folger anempfohlen hatte. Das innovative Beamtentum seiner Verwaltung konnte sich erst entwik- keln, als der absolute König schwach geworden war und nicht mehr alle Stränge der komplizierter gewordenen Staatsmaschinerie überblickte. Verf. hat sich damit die Aufgabe gestellt, diesen Regie­ rungsapparat in seiner Funktion zu verfolgen. Er beobachtet ihn vom Regierungsantritt des jungen Königs bis tief in die Restauration hinein. — Um es vorwegzunehmen: Hier klingen die tieferen Töne auf, die geeignet sind, unsere Anteilnahme zu wecken, die wir schmerzliche Erfahrung mit der Dämo­ nie der Macht haben. Ein heldischer Staatsmann kann nicht mehr unser Wunsch sein, und den Prinzi­ pien einer eisernen Zeit braucht unsere Geschichtsschreibung nicht mehr zu folgen. „Dann wird unsere Sympathie für den ahnungsvollen Pessimismus Friedrich Wilhelms III. neu geweckt. Wir Heu­ tigen können seinen Irrtum, gegenüber dem auf die Permanenz des Sieges und der Eroberung ange­ wiesenen Glücksritter Napoleon Buonaparte neutral bleiben und eine Insel der Seligen erhalten zu wollen, wieder als tragisch empfinden. Wir können es bedauern, daß das Humanitätszeitalter nach kaum einer Generation im Jahre 1806 geendet hat" (S. 12). Der „ahnungsvolle Pessimismus" bezieht sich auf des Königs Grundangst vor der Revolution als dem ganz Anderen, der Abgrundtiefe und Bedrohlichkeit revolutionärer Machtausübung und sozialer Strukturen. Friedrich Wilhelm konnte sich der grundsätzlich bejahenden, sich selbst verpflichteten Zukunftshoffnung der Neuhumanisten und Idealisten eines Humboldt, Schleiermacher, Arndt, Fichte und Kant nicht öffnen. Verf. wirft ihm vor, aus mangelnder, halbherziger Durchsetzungskraft Metternich und der politischen Polizei Wittgensteins das Feld überlassen zu haben und sich die Früchte der Reformen nehmen zu lassen. Aber der König glaubte, unter den Gebildeten der patrioti­ schen Beamtenschaft und in Teilen des Heeres den Geist der Zügellosigkeit, den verderblichen Zeit­ geist der Revolution vertreten zu sehen, dem er die „vernünftige Freiheit" entgegensetzte, worunter bescheidene Unterordnung zu verstehen war. Hierin sei die Spannung zwischen Freiheit und Gehor­ sam nicht durchgehalten und auf Selbstbescheidung reduziert. Insofern bedauert Verf., daß unter Friedrich Wilhelm III. der Neuhumanismus nur bis 1806 gedauert habe. Der König habe seinem ängstlichen, friedfertigen Naturell gemäß wenig Anteil an den Reformen gehabt und sie nicht ins Werk gesetzt. Der neuen religiösen Sinnstiftung durch die Romantiker habe er ferngestanden und den Geist der Freiheit durch die Pestalozzische Pädagogik weder in die Schule noch das Kantische Pathos in die Berliner Universität dringen lassen wollen. Zweifellos erweckt Friedrich Wilhelms Beharrungsvermögen, seine Kraft, im Leiden durchzuhalten, unsere Achtung, daneben tritt dann wieder die halbe Entscheidungskraft, die mangelnde Durchset­ zungsfähigkeit, der Drang, sich dem Ideenwettstreit und der politischen Kontroverse zu entziehen und in der Stille für sich allein zu entscheiden. Diese Widersprüche zu lösen findet Verf. im klinischen Bild der Melancholie und Hypochondrie ein erklärendes Phänomen, wovon er sagt, diese Begriffe des 18. Jahrhunderts seien durchaus noch im 20. faßbar und durchführbar. In der Haltung des Psychiaters beobachtet er eine Reihe von Situationen, in denen sich „kontingente" Persönlichkeitsmerkmale wie ein Wiederholungsmuster darstellen. Solche kritischen Augenblicke sind seine Zeit als „Herrscher im Wartestand", seine erste Regierungszeit, die Krisen von 1805 und 1807, der Wiener Kongreß gewe-

262 sen. Hier wird sehr ausführlich recherchiert und geschildert. Gewiß schließt man sich dem Vorwurf der unzureichenden Entschiedenheit an und bedauert die aus religiöser Selbsterforschung stam­ mende tiefe Scheu vor jeder Änderung der Machtbalance, das mangelnde Selbstvertrauen und die Furcht vor der Konfliktbereitschaft. Man wird aber betroffen, daß dafür die Friedensbereitschaft und Sehnsucht nach Ordnung stand, weswegen er an der Neutralität festhielt—gegen jede außenpolitische Vernunft und gegen die Bündnistreue Napoleon gegenüber. Es ist dies die „Wunschvorstellung eines jungen Mannes gewesen, der den Staat regieren wollte, ohne schuldig zu werden. Nichts anderes ist der tiefere Sinn der Absicht, sich aus den Händeln der Welt herauszuhalten, die so gut zur mangelnden Bereitschaft paßt, Erfahrungen zu machen. Wer sich mit der Welt einläßt, wird schuldig, und Friedrich Wilhelm wollte dann eben lieber nicht sich mit der Welt einlassen" (S. 120). Dies habe ihm bei allem Schwankenden letztlich die Beharrlichkeit gegeben, und darin war er „unüberwindlich". — Diese Darlegung ist der Sicht des Politischen verpflichtet, wie wir sie von Max Weber kennen. — Geht aber nicht von der konsequenten Scheu, die Abgründe von Krieg und Machtmißbrauch zu entfesseln, weil sie dann nicht mehr beherrschbar sein könnten, unsere tragische Anteilnahme aus, für die uns die Sen­ sibilität neu geweckt worden ist? Der so verstandene „ahnungsvolle Pessimismus" bildet das Wiederholungsmuster in allen kritischen Phasen von Friedrich Wilhelms III. Königsherrschaft. Der Leser hat dies in der höchst stoffreichen Darstellung zu verfolgen und damit die Grundlinien nachzuvollziehen. Im übrigen folgt der Leser den Ausführungen, wie die frühen, in der Jugend — darunter die von seinem Rechtslehrer Svarez — über­ nommenen Staatsrechtsvorstellungen von der gerechten Freiheit, vom monarchischen Rechtsstaat und der persönlichen Rechtlichkeit des Königs vorherrschend wurden und später an die Stelle des Neuhumanismus traten. Persönliche Bescheidenheit, Gewissenhaftigkeit, nüchterner Realismus und Realitätssinn passen, so Verf., durchaus in das Bild des Melancholikers. So gewichtet Verf. des Königs Anteil an den Reformen als gering. Je älter er wurde und je stärker der restaurative Einfluß der Heiligen Allianz, desto ausschlaggebender wurde seine zähe Unbeirrbarkeit. Sie begründete schließlich — und das erweist das politische Testament, das den Sohn entscheidend band — das Beharren auf der ungeteilten Königsmacht. — So gesehen erweist sich der Zusatz „der Melancholiker auf dem Thron" als wesentlicher und tiefergreifend als das Epitheton „Romantiker auf dem Thron" für Friedrich Wilhelm IV. Es ist dem Anspruch zuzustimmen, daß sich das Buch durch den „patriotischen Schutt von 1914" wie­ der zu tieferer, das heißt menschlicher Sicht des Königtums Friedrich Wilhelms III. durchgearbeitet hat. „Es ist damit auch die Reflexion verbunden, was das Königtum, diese für uns abgeschlossene und nur noch als Thema der Wissenschaft präsente Regierungsform, überhaupt hat leisten können und lei­ sten sollen" (S. 362). Es klingt wohl allenthalben ein Bedauern über Nichtgeleistetes hindurch, tiefer und tragischer jedoch ist die emotionale Einstellung, die ihn zum tragischen Helden Grillparzers zählt: „Ich bin ein schwacher, ungegabter Mann, der Dinge tiefster Kern ist mir verschlossen. Doch ward mir Reiß und noch ein andres: Ehrfurcht für das, daß andre mächtig und ich nicht." Christiane Knop

Gesellschaft für die Geschichte und Bibliographie des Brauwesens E.V.: Jahrbuch 1993 Gesell­ schaft für die Geschichte und Bibliographie des Brauwesens E.V. Redaktion: H. G. Schultze- Berndt, Seestrasse 13, D-13353 Berlin, broschiert 308 Seiten, ISSN 0072-422 X. Die Gesellschaft für die Geschichte und Bibliographie des Brauwesens E.V. (GGB) wurde 1913 in Berlin gegründet und hat seitdem in dieser Stadt ihren Sitz. Von 1928 bis 1941 und dann nach der Unterbrechung durch den Krieg wieder seit 1952 erscheinen ihre Jahrbücher, die auch in der Biblio­ thek des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, ihren Standort haben. Das jüngst erschienene Jahrbuch dieser Reihe hier anzuzeigen besteht Anlaß, weil immer wieder auf Geschehnisse aus der Berliner Stadtgeschichte im Zusammenhang mit dem Brauwesen eingegangen wird. Übrigens hat eine Reihe namhafter Mitstreiter der GGB wie Richard Knoblauch, Karl Bullemer und Erich Borken­ hagen sich auch im Verein für die Geschichte Berlins hervorgetan. Hasso Spode behandelt in einer Art Nachruf das Thema „Der Kreuzberg und das Bier. Geschichte und Vorgeschichte der Schultheiss-Brauerei Abt. II". Hans Günter Schultze-Berndt steuert einen

263 Rückblick auf die Hundertjahrfeier des Kriegsjahres 1943 der Schultheiss-Brauerei AG anläßlich deren 150jährigen Bestehens bei. Vom selben Autor stammt ein Beitrag über Julius Bötzow, „Hof- Lieferant Sr. Majestät des Königs von Preußen". Herbert Schmidt, Geschäftsführer der Berliner Bür­ gerbräu GmbH, veröffentlicht „Rückblicke durch fünfzig Brauerjahre". Auch im vorangegangenen Jahrbuch 1991/92 hatte die Berliner Brauhistorie Berücksichtigung gefunden. Ein längerer Aufsatz „So fingen wir 1945 an", der die ersten vier Jahre nach dem Krieg umfaßt, ist den Lebenserinnerungen Heinz Pritzkows entnommen. Rosemarie Köhler erweist „Preu­ ßens Hopfenkönig Joseph Flatau" Reverenz. Auf sprachliches Gebiet begibt sich die Miszelle von Molle und Pfiff. SchB.

Hedwig Wegmann: „Antonie Zerwer. Ein Leben für Kinder. 75 Jahre Kinderkrankenpflege.'4 211 Seiten, viele Abbildungen und Faksimiles, Personen- und Literaturverzeichnis, Edition Hentrich, Berlin 1992 Im Zusammenhang mit der Besinnung auf Wert und Bedeutung von 75 Jahren Pädiatirie an der Kin­ derklinik der Freien Universität Berlin, dem einstigen Kaiserin Auguste Victoria Haus, ist das anrüh­ rende Bild einer der führenden Kräfte dieses Hauses entworfen worden; es handelt sich um die Oberin Antonie Zerwer; die Verfasserin ist ihre Berichterstatterin gewesen. Über die von ihr ausgebildete vorbildliche Sozialpädagogik und ihre sozialmedizinischen Verdienste hinaus, oder ihnen voraus, steht das Bild ihrer feinen, durchseelten Menschlichkeit, das alle ihre Tätigkeitsbereiche durchstrahlt. Beides, das Bedeutsame wie das Liebenswerte, hat dieser Lebensbericht erfaßt, so wie es die heutige Leitende Kinderkrankenschwester im Vorwort formuliert: Das Buch verhilft dazu, aus verblaßten Quellen die brachliegende Geschichte eines Berufsstandes zu rekonstruieren, solange noch menschli­ cher Nachhall vernehmbar ist. Daraus ist auch Charlottenburger und Berliner Eigenart erkennbar. Eingehend wird der soziale Hintergrund der Säuglingssterblichkeit in der Großstadt Berlin um die Jahrhundertwende geschildert. Aber nicht nur menschliche Anteilnahme hat den Ausschlag zur Insti­ tutionalisierung eines heute noch eminent wichtigen medizinischen Bereiches gegeben, sondern der Anstoß zur Gründung einer Klinik für Kinder- und Säuglingspflege kam vom militärischen Medizi­ nalwesen, da ihm an der richtigen Ernährung und Entwicklung der jungen Generation gelegen sein mußte. Gegen seine anfängliche Skepsis gewann die Kaiserin Auguste Victoria den damaligen Ordi­ narius für Kinderheilkunde, Professor Dr. Heubner, zur Gründung des Kaiserin Auguste Victoria Hauses in Charlottenburg am heutigen Heubnerweg. Die neue Klinik als Reichsanstalt sollte in der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit ihren Schwerpunkt haben. „Es war mit Abstand die teuerste Kinderklinik." Das zeigte sich auch darin, daß beste medizinische Kräfte als leitende Ärzte gewonnen wurden. Die Anstalt war ständeübergreifend und wahrhaft sozial konzipiert und hatte von Anbeginn ein sozialpädagogisches Programm nach neuesten Erkenntnissen und war aufs vielfältigste durchor­ ganisiert. Ihre Erbauer waren die Architekten Ludwig Hoffmann und Alfred Messel. Vfn. berichtet von der wertvollen Dienstkleidung der Schwestern, die man beim Kaufhaus Rudolf Hertzog bestellte, von der Wäsche, die das Haus Grünfeld lieferte, und von den Schwesternbroschen, die der Hofjuwe­ lier Unter den Linden herstellte. Ausführlich wird das Bild der Antonie Zerwer gezeichnet, ihr Aufstieg über die damals übliche Berufsausbildung als Kinder- und Hausmädchen ohne besonderes Wissen über Krankenpflege. Kon­ stituierend waren ihr Lerneifer und Wissensdrang, ihre Gewissenhaftigkeit und persönliche Hingabe. Der eigentliche Berufs weg begann mit dem Eintritt in den Zehlendorfer Diakonie verein, es folgte der typische Weg einer Diakonieschwester, dann der wichtige Schritt der Berufung ins Kaiserin Auguste Victoria Haus, ihre außerordentlich geschickte Menschenführung und Organisation des Hauses bei strengsten Dienstvorschriften. Aufs Allgemeine übertragen war dies bereits Frucht der ersten Mädchen- und Frauenbildung in Preu­ ßen, soweit sie mit den Namen Louise Otto-Peters, Helene Lange und dem Lette-Verein verbunden ist. Es ist erstaunlich, wie sogleich mit der ersten beruflichen Wegfindung das Ausgreifen der Antonie Zerwer in immer weitere Bereiche erfolgte. Alles begann mit der Abfassung einer „Säuglingspflegefi­ bel", gerichtet an junge Mädchen, die zu jener Zeit der Berufstätigkeit ihrer Mütter als Arbeiterinnen ihre kleinen Geschwister versorgen mußten, ohne dazu angeleitet worden zu sein. Das Buch machte sie weltweit bekannt, denn es wurde mehrfach in fremde Sprachen übersetzt und bis 1933 in zehn Auf-

264 lagen in zwei Millionen Exemplaren verkauft. Abdruckausschnitte zeigen, wie reichhaltig und prak­ tisch es angelegt war, nicht nur für Arme, sondern auch für den bürgerlichen Haushalt brauchbar. Damit verband Antonie Zerwer Mütterschulungsabende im Hause, sorgte für weitere Schulung durch hygienische, pädagogische und ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse bei Vorträgen bei Frauenverbänden wie etwa dem Vaterländischen Frauenverein, organisierte die öffentliche Säug­ lingsfürsorge, griff in den Unterricht der Mädchenfortbildungsschulen und der Volksschulen ein und initiierte dort Gesundheitslehre und Säuglingspflege als Lehrfächer, verhalf zu wirtschaftlicher Haus­ haltsführung und ermunterte Eltern, als wichtigstes Zeit für ihre Kleinkinder zu haben, nannte Erzie­ hung zur Mütterlichkeit als Hauptanliegen, wozu auch Männer fähig seien. Sie betrat das Feld der Volkswirtschaftslehre, verbesserte die öffentliche Fürsorge und organisierte, heutigen Selbsthilfe­ gruppen vergleichbar, Mütterabende mit gegenseitiger Beratung und Aussprache und Information über soziale Ansprüche. Sie eroberte höchst modern das Feld der Medien und Öffentlichkeitsarbeit, arbeitete an Unterrichtsbriefen, Filmen und Theaterstücken mit. Ein weiteres Feld, das sich ergab, ist überschrieben mit „Professionalisierung von Säuglings- und Kleinkinderpflege". Diese Phase begann mit ihrer Ernennung zur Oberin des Kaiserin Auguste Vic­ toria Hauses. Die Liste ihrer Publikationen zwischen 1914 und 1933 ist erstaunlich umfangreich. Der letzte Schritt war die (Mit-)Gründung des „Reichsverbandes der Säuglings- und Kleinkinderschwe­ stern". — So hat sie das ganze Feld abgesteckt, und alle modernen Institutionen können sich auf sie berufen. Echte, feine Menschlichkeit hat ihr den kritischen Sinn verliehen, sich von den Bestrebungen der NS- Schwesternschaft abzusetzen. „Als der Reichsverband aufgelöst wurde und man das Haus in ein Mut­ terhaus der NSV-Schwestern umwandelte, zog sie sich innerlich und äußerlich zurück" (162). Die berufspolitischen Aktivitäten von Antonie Zerwer waren somit beendet. „Stets kaisertreu und als feinfühliger Mensch kam sie mit dem groben Naturell der neuen Machthaber nicht zurecht." Nach ihrem Ruhestand und der Rückkehr von der Flucht 1945 blieb sie noch tätig und gab den guten Geist des Hauses an die Nachfolger weiter. So steckt dieses warmherzige Buch voll berlinhistorischer Merkwürdigkeiten. Christiane Knop

Karl Voss: „Potsdam-Führer für Literaturfreunde. Auf den Spuren von Männern und Frauen der Feder in der Havelstadt." 24 Abbildungen, 201 Seiten, arani Verlag, Berlin 1993. Verf. setzt hier die Reihe seiner immer wieder befragten Literaturführer mit einem Band über das tau­ sendjährige Potsdam fort und spannt den räumlichen Rahmen von der Altstadt bis zum Schwielowsee und nach Bornstedt. Und da vor der Wende, als das Buch konzipiert wurde, niemand wußte, ob sich die Offiziellen, die ihre Stadt feiern wollten, auf das alte Klischee vom bösen „Geist von Potsdam" ver­ steifen oder welches Bild sie zeichnen würden, hat Karl Voss sich von vornherein bemüht, in den Vor­ rat vielfältiger und differenzierter Ansichten zu greifen, zumal es an Menschen und Gestalten und Geistern in der Vergangenheit der Stadt reich bestellt ist, wie sich zeigt. Er hat nicht den Geist von Potsdam beschworen, den es kaum gibt, sondern viele Geister zu Wort kommen lassen. Den Landschaftsraum der Havelstadt hat Scheffel als vertrauenerweckender erachtet, als es Georg Hermann tat, und etwas vom märkischen Arkadien ins Bild gehoben; Hermann erahnte hinter der bildschönen Aufgeräumtheit Zwiespältiges. Diese beiden Autoren heben sich ab von unzähligen andern Besuchern als Protagonisten gegensätzlicher Ansichten. Verf. macht überall den Versuch, Ort und Landschaft in Zusammenklang zu bringen. Die Spaziergänge, in die er den Stoff aufteilt, sind topographisch angeordnet; wer die Spuren von „Männern und Frauen der Feder" aufsucht, legt in seinem Geist um die Plätze wie den Alten Markt, den Bassinplatz oder das Holländische Viertel Jah­ resringe durch die Geistesgeschichte der Jahrhunderte. Das wird ihm helfen, daß ihm das durch Zer­ störung und durch Vernachlässigung der letzten drei Jahrzehnte fremd gewordene Potsdam wieder vertraut wird; auch mag dies eine Wechselwirkung haben, Potsdam wird sich selber finden. „Potsdam hat es immer noch schwer. Die Suche nach der Identität dieser Stadt wird täglich aufs neue nötig sein. Dazu mag dieses Buch einen kleinen Beitrag leisten. Machen wir es wie Georg Hermann. Lassen wir unsere Vorurteile fahren, erfreuen wir uns an der Schönheit von Stadt und Landschaft und suchen den Geist dort, wo er sich am klarsten artikuliert — im Gedanken, im Wort" (S. 15).

265 Ein reicher, überaus vielfältiger Chor vergangener Stimmen wird in Verf.s Zitaten hörbar. Am Alten Markt und am Platz des Stadtschlosses begegnet man nicht nur König Friedrich IL, sondern auch sei­ nem „Grenadier Wordelmann" Hermanns, ferner dem Geist des Marquis D Argent und de la Mettries und Voltaires, sondern auch Bach und dem Schotten Boswell oder Alexander von Humboldt oder dem friderizianischen Oberbaurat Meyer, überhaupt der Hofgesellschaft des 18. und 19. Jahrhun­ derts. Wir verfolgen Schillers Besuch, sehen Goethe mit seinem Herzog im Plögerschen Gasthof absteigen. Mozart kommt ins Bild, die Verleger Stichnote, Suhrkamp und Fischer. Es passieren die Humboldt-Brüder und Gabriele von Bülow, die Yorcks von Wartenburg, Winckelmann und Justi, die Physiker Helmholtz und Haeckel, die Karschin und Reinhold Schneider, Kleist und Karl Philipp Moritz, Härtung und Kellermann, Schultze-Delitzsch und die Kaschnitz. Kurz es ist — sorgfältig und überaus arbeitssam recherchiert — ein so buntes Kaleidoskop, das dem Anspruch Potsdams auf Gel­ tung als Weltkulturerbe Genüge tut. So bleibt von dem zeitlosen Literaturführer mehr als der dünne Erfolg der Jahrtausendfeier. Christiane Knop

Wegweiser zu den Friedhöfen an der Chaussee- und der Liesenstraße von Alfred Etzold, mit Fotos von Wolfgang Türk: Der Dorotheenstädtische Friedhof. Die Begräbnisstätten an der Berliner Chausseestraße (In der Reihe „Berliner Blicke", hrsg. von Heinz Knobloch), Ch. Links Verlag, 1993, 227 S., 34 DM. Abgesehen von zahlreichen Publikationen zu den Berliner Begräbnisstätten, die vor 1945 entstanden, sind in den letzten zwei Jahrzehnten viele — qualitativ sehr unterschiedliche — „Wegweiser" und wis­ senschaftliche Abhandlungen zu diesem Bereich veröffentlicht worden. Willy Wohlberedts Grabstät­ tenverzeichnis, 1932 bis 1953 in vier Bänden herausgegeben, und die seit 1976 unter der wissen­ schaftlichen Leitung von Peter Bloch mit Studenten der FU erstellten kunsthistorischen Friedhofs- Inventare, die zwischen 1976 und 1985 als Hefte der Reihe „Berliner Forum" publiziert wurden, haben durch ihre Fülle an wichtigen Informationen und wissenschaftlichen Ergebnissen einen Quali­ tätsmaßstab gesetzt, an dem sich jüngere Veröffentlichungen zu Berliner Friedhöfen messen lassen müssen. Alfred Etzold, als Mitautor des Buches zu den jüdischen Friedhöfen Berlins (1987) nicht unbekannt, hat mit dem neuen Buch zu den Begräbnisplätzen an der Chaussee- und Liesenstraße ein unterhaltsa­ mes, textdurchgängiges Lesebuch verfaßt, das bedingt auch als „Wegweiser" zu den behandelten Friedhöfen dienen kann. Ergänzt um die „Berühmtheiten" der jüngeren Geschichte, setzt Etzold vor­ dringlich die „Wegweiser"-Tradition Wohlberedts, Curt Horns und Bernhardt Hoefts fort. Bekanntes biographisches Material zu bekannten und unbekannten Persönlichkeiten ist zumeist auf ein lesbares Maß gekürzt und sporadisch ergänzt worden. Lagepläne zu den einzelnen Friedhöfen und ein Namensregister helfen dem Besucher, einzelne Grabstätten leichter zu finden. Der sozialkommuni­ kative Charakter der Friedhöfe wird durch einige der Fotografien von Wolfgang Türk zu Recht her­ vorgehoben, andere Aufnahmen geraten allerdings unangemessen in das leidige Fahrwasser soge­ nannter „Stimmungsbilder". Sieht man von einigen unklaren Formulierungen (z. B. S. 118), falschen Bildunterschriften (so S. 74 u. S. 182) und Namen (S. 72: H. Kaehler, S. 110: H. Sontag!), historisch verfälschenden Adjektiven (so die „anglo-amerikanischen Bombenangriffe") und Stilblüten (so zum Tode Heinrich Manns vor seiner Abreise aus den USA) ab, ist das Buch für den Friedhofsgänger mit Vorliebe für historisch interessante Verstorbene jedoch recht brauchbar. Leider bleibt der Text bei der Berücksichtigung des hier bei einem kulturhistorischen Thema unab­ dingbar notwendigen kunsthistorischen Aspektes — trotz einzelner lobenswerter Objektbeschreibun­ gen — entschieden zu schwachbrüstig. Selten erfährt der interessierte Leser mehr über die schaffenden Künstler als ihre bloßen Namen. Die zum Verständnis wichtige Grabmalsikonographie bleibt zumeist auf der Strecke. Viele kunsthistorisch bedeutende Grabmäler bleiben, da ohne „spannende Anek­ dote", unberücksichtigt. Terminologisch falsche Zuordnungen und falsche Benennungen bedingen Fehlinformationen des fachfremden Lesers. So handelt es sich z. B. bei der offenen Grabarchitektur für die Familie Dr. M. S. Borchardt (JNKIV) nicht um ein Mausoleum, da die geschlossene Kapelle fehlt. Die Reliefs am Grabmal der Familie J. C. Freund (Dor.FW.) — übrigens nach den Vorbildern am von A. Canova geschaffenen Grabmal der Stuarts im Petersdom in Rom gearbeitet — zeigen nicht

266 den „doppelten" Totengott Thanatos, sondern zwei Totengenien. Ebensowenig ist der „Trauernde" des ehem. Grabmals Peppmöller (neuer Dor.Frdh.) eine Darstellung des Thanatos. Obgleich im Text betont wird, daß auch der denkmalpflegerische Aspekt berücksichtigt werden soll, ist es bei vielen kunsthistorisch interessanten Grabmälern unterlassen worden, auf ihre Bedeutung hinzuweisen. So wäre es zumindest geboten gewesen, dem Leser das wegen Baufälligkeit (!, S, 26) abgebrochene Grabmal für J. F. Ravene (alter Franz. Frdh.), eine der bedeutendsten Grabarchitekturen mit lebens­ großem Sitzbild des Verstorbenen, durch ein Foto bekannt zu machen. Auch wird bei dem in seinem Bestand stark gefährdeten Grabmal für E. Löffler (neuer Dor. Frdh.), das 1990 als eines der sepulkra- len Hauptwerke von F. Klimsch in der Ausstellung „Ethos und Pathos. Die Berliner Bildhauerschule 1786—1914" im „Hamburger Bahnhof gezeigt wurde, auch nicht im Literaturverzeichnis auf die umfänglich vorhandene wissenschaftliche Literatur hierzu verwiesen. Überhaupt vermißt der kunst­ historisch interessierte Leser im Literaturverzeichnis die Erwähnung des für das aktuelle Wissen über die plastische Kunst des 19. Jahrhunderts grundlegenden Kataloges und des Beitragsbandes zu „Ethos und Pathos". Dies bleibt um so unverständlicher, als dort, illustriert mit vielen historischen Aufnahmen heute beschädigter oder zerstörter Grabmäler, die maßgeblichen, mit größter Sach­ kenntnis verfaßten Aufsätze „Was der Nachwelt bleibt — Einblicke in die Berliner Sepulkralplastik" von Sibylle Einholz und „Bemerkungen zur Ikonographie religiöser Plastik im Berlin des 19. Jahr­ hunderts" von Sibylle Badstübner-Gröger publiziert sind. Ebenso unverständlich ist die unterlassene Aufnahme des in den Jahrbüchern des Vereins für die Geschichte Berlins 1989 veröffentlichten Bei­ trages „Vom irdischen Ruhm und seiner Haltbarkeit. Die Begräbnisplätze in der Chausseestraße", verfaßt von Sibylle Einholz, der mit einer Fülle von wissenschaftlichen Informationen die Bedeutung der dortigen Friedhöfe heraus- und in den zum Verständnis der Kunstwerke nötigen Zusammenhang mit der Berliner Bildhauerschule hineinstellt. Es fällt weiter auf, daß einzelne Ergebnisse dieser For­ schungsbeiträge — z. B. die hier zum erstenmal versuchte Zuschreibung der Bronzegruppe am Grab­ mal für A. und L. Borsig an den Bildhauer Kullrich — bei gleichzeitigem Verschweigen der Quelle ver­ wertet worden sind. Für einen Mangel an notwendiger Recherche spricht auch die Nichtberücksichti­ gung des Buches „Die Buschens — 100 Jahre Zirkus Busch — Bilder einer Zirkusdynastie" von Martin Schaaff (1984) mit vielen Informationen zum Erbbegräbnis der Familie Paul und Constanze Busch, sowie des biographischen Werkes zu A. Borsig von Ulla Galm (1987). Für den kunsthistorisch inter­ essierten Leser wäre auch der Hinweis auf das 1902 bis 1910 herausgebrachte vierbändige Tafelwerk „Grabmalskunst" von Richard Henker zu wünschen gewesen, in dem viele der heute nicht mehr vor­ handenen, aber damals gefeierten Grabmalswerke auch auf den von Etzold behandelten Friedhöfen abgebildet sind. Vielleicht hätten Verlag und Autor sich vom Leittitel ihre Buches „Der Dorotheenstädtische Fried­ hof" leiten lassen und aus dem einen — unvollkommenen — Band zu allen Begräbnisplätzen an Chaus­ see- und Liesenstraße zwei — auch kunsthistorisch befriedigende — Bände machen sollen. Es ist schade, feststellen zu müssen, daß der beachtenswerten Leistung Etzolds im Bereich des „Personen­ kultes" keine ebenso kulturgeschichtlich wichtige und in vieler Hinsicht notwendige kunsthistorisch- wissenschaftliche Leistung beigegeben worden ist. Jörg A. Kuhn, M. A.

Wolfgang Haus: Geschichte der Stadt Berlin. BI-Taschenbuch-Verlag, 1992 (Meyers Forum; Bd. 6), 128 S. Unter dem Titel „Meyers Forum" hat nun auch das Bibliographische Institut seine Taschenbuchreihe bekommen. Wolfgang Haus, langjähriger Leiter des Deutschen Instituts für Urbanistik, steuert ihr sein kleines Buch über Berlins Werdegang von den Anfängen bis heute bei. In kurz gehaltenen Kapi­ teln und Unterabschnitten berichtet der Autor knapp und sachlich vom Geschehen, das er oft genug verständnisfördernd vor den Hintergrund umfassenderer Ereignisse in den Ländern und im Reich stellt: ein gut zu lesender und verläßlicher historischer „Report". GerhardKutzsch

267 Harold Hurwitz: Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln. Band 1: Die politische Kultur der Bevölkerung und der Neubeginn konservativer Politik; 395 S. Band 2: Autoritäre Tradierung und Demokratiepotential in der sozialdemokratischen Arbeiterbewe­ gung; 324 S. Band 3: Die Eintracht der Siegermächte und die Orientierungsnot der Deutschen 1945—1946; 295 S. Band 4: Die Anfänge des Widerstandes: Teil 1, Führungsanspruch und Isolation der Sozialdemokra­ ten; 658 S. Teil 2, Zwischen Selbsttäuschung und Zivilcourage: Der Fusionskampf; 830 S. Angehörige des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Freien Universität untersuchten unter Feder­ führung des seit langem in Berlin ansässigen Amerikaners Harold Hurwitz die Situation der hiesigen Bevölkerung in den Jahren 1945—1948. Neuen Autoritäten aus Ost und West — dann Ost oder West — ausgeliefert, regierte bei Männern und Frauen Unsicherheit die Stunde, sahen sich Resignation und Skepsis in Gemengelage mit Hoffnung und Bereitschaft zum Neubeginn. Mit den modernen soziolo­ gischen Methoden analysieren die Autoren so umfangreich wie tiefgreifend das Geschehen der Zeit und das Wechselspiel ihrer vielfältigen und gegensätzlichen Kräfte. Es geht um Kollektivprozesse. Verhalten und Einstellung aller Beteiligten (Amerikaner, Briten, Sowjets, Deutsche) ändern sich ständig. Den verbreiteten Ohne-uns-Standpunkt aufgebend, zeichnen sich Möglichkeiten deutscher Partizipation am Umgang mit den Alliierten ab, politisch schon interessierte Minderheiten leben Zivilcourage vor, langsam entwickeln sich die deutschen politischen Parteien. Psychologische Sperren bauen sich ab, ein Einstellungswandel der West-Berliner vollzieht sich mit der Vorgabe demokrati­ scher Leitideen. Im Ostsektor der Stadt setzen andere Verhältnisse die Maßstäbe: hier herrschen Zwänge vor, der Druck der Besatzungsmacht und deutscher Kommunisten lastet auf den Menschen. Die Verfasser vorliegender Studie können dieses Bild nur aus westlicher Sicht beurteilen, sowjetische Quellen der Erkenntnis waren ihnen nicht zugänglich. Die Lage im Osten und der Freiheitskampf der SPD in der Gesamtstadt stärkten die antikommunistische Abwehrhaltung und die Zusammenarbeit der West-Berliner mit den Westmächten. Hier wird sich der Demokratisierungsprozeß auf kollektive Erfahrungen und Lernabläufe gründen. Die Bevölkerung wird nicht nur als Objekt des historischen Geschehens, sondern als ein das historische Geschehen mittragendes Subjekt erfaßt. Die soziologi­ sche Analyse der Gesellschaft fordert und bietet angesichts dergestalter Aufgabenstellung Daten, „die Historiker und Politologen allzu voreilig für irrelevant halten". Die Berlin-Studie bemüht sich überzeugend, allen Problemen der Materie mit ihren Methoden und Möglichkeiten gerecht zu wer­ den. Gerhard Kutzsch

„Mendelssohn-Studien. Beiträge zur neueren deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 8, Festschrift für Cecile Lowenthal-Hensel zum 3. Oktober 1993", Hrsg. für die Mendelssohn-Gesell­ schaft von Rudolf Elvers und Hans-Günter Klein, 276 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Faksimi­ les, Personen- und Firmenregister, Duncker und Humblot, Berlin 1993. Insidern ist die ganze Reihe der Mendelssohn-Studien bekannt, der Band 8 nun ist eine Festschrift zum Geburtstag ihrer Initiatorin, die, in der Familientradition stehend, dieses Publikationsorgan für die Erforschungen der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts grün• dete, soweit sie sich um die von Moses Mendelssohn angebahnte deutsch-jüdische Synthese grup­ piert. Darüber hinaus war sie als Nachfahrin der Fanny Hensel lange über das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz auch der preußisch-berlinischen Geschichte verbunden. — Der vorliegende Band ist ein Forum, auf dem auch neue Funde aus Briefsammlungen, Familienandenken und Archi­ ven und zufällige Entdeckungen vorgestellt werden; einige davon wenden sich im Sinne reiner Bestandsaufnahme an den Spezialisten, andere gehen weiter. Dazu zählt die Rezensentin den Beitrag über die „Unwirklichkeit des Negativen im 18. Jahrhundert", der zeigt, wie Moses Mendelssohn das Gebiet der reinen Mathematik betreten hat (H. Lausch), oder das Musikalienverzeichnis von Fanny Hensel und Felix Mendelssohn Bartholdy, den Beitrag über Felix' Klavierkonzert a-Moll (W. Ding- linger), über den Eindruck, den er auf einen Reisenden machte, und die Quellen zu Fannys Werken in der Musikabteilung der Staatsbibliothek. Die Interpretation (durch K. Feilchenfeldt) des Brentano- Gedichtes „Ich bin durch die Wüste gezogen" und ein Brief des Paul Mendelssohn Bartholdy kurz

268 nach dem Tod seines Bruders Felix beleuchten die tieferen menschlichen Belange. Auch von dem letz­ ten erhalten gebliebenen Freundschaftsring auf Moses Mendelssohn wird erzählt. Auf der Grenze zwischen spezifischer Vorstellung und weiter ausgreifender Betrachtung ist z. B. ein Blick in Fannys Gedichtalbum, aus dem der Geist der Romantiker scheint. — Dem etwas ferner ste­ henden Leser treten als das Eindringlichste die Gestalten des Geschwisterpaares Felix und Fanny und die des tragischen Carl Mendelssohn Bartholdy vor die Aufmerksamkeit. Für ihn am leichtesten zugänglich und angenehm lesbar ist das Lebensbild von Carl (später nennt er sich Karl) Mendelssohn Bartholdy, das Gisela Gantzel-Kress zeichnet. („Karl Mendelssohn Bar­ tholdy 1838—1897".) Er ist das älteste Kind von Felix und Cecile. In einem einfühlsamen Psycho- gramm wird in treffender Diktion und behutsamer Erzählweise in die Kunst der Geschichtsschrei­ bung hineingeleuchtet. Den Sinn seines Daseins hat Karl Mendelssohn Bartholdy selbst in die schmerzliche Erkenntnis gefaßt, daß dem Leben — gemeint ist persönliches wie historisches — oft ein dunkles Geheimnis bleibe; es ins Licht zu wenden sei die historische Kunst. Die Ambivalenz von frei­ sinniger Lebenshaltung und tapferem Sichstellen unter die Tragik der Macht und des dunklen Schick­ sals macht den Leser betroffen; ist doch hier eine feinsinnige Nuance des sonst oft negativ gesehenen Historismus gegeben. Geschichtsschreibung kann auch ganze Lebensleistung sein. Der in dieser Kunst erreichte Tiefsinn hat von Karl Mendelssohn Bartholdy einen hohen Preis gefordert, wie uns erzählt wird. — Sein Bild wird aufgerollt von seiner Todeskrankheit her, vermutlich Schizophrenie; sie ist die dunkle Seite seiner angespannten Konfliktbewältigung. Seine eigentliche Lebenslast war die Spannung zwischen den beiden Familiengruppen, den väterlichen Mendelssohns in Berlin und den Jeanrenauds der Mutter in Frankfurt. Der Kontrast beider „Clans" wird auf die Formel vom Erkämpften hier und dem Gelösten und Ausgewogenen dort gebracht. Es wird von der Mendels- sohnschen Reizbarkeit als Tribut an die ständige Überforderung durch Leistung gesprochen. Ferner stand das Reichsstädtische Frankfurts gegen das Preußische in Berlin. Die Trennung der Geschwister nach dem Tod der Eltern wird als verhängnisvolle, nicht wiedergutzumachende Entscheidung genannt. Der junge Carl erleidet die Berliner Familie des Onkels Paul Mendelssohn Bartholdy als quälende Entfremdung; er erlebt sie als gefühlsarm und verkampft; der seelische Grund für sein Rebellentum scheint hier gelegt worden zu sein. Doch zieht sich auch schon zu so früher Zeit sein Zukunftsbild vom Gelehrtendasein als Historiker wie ein roter Faden durch sein Ringen um Selbstfin- dung. Über den Umweg als Jurist in Berlin und Heidelberg kommt er in Heidelberg zur Geschichte. Zunächst fasziniert ihn „kämpferisches Burschenschaftsengagement"; er schlägt sich buchstäblich gegen die eigne seelische Zartheit; man mag es auch als Ventil aufgestauter Aggressionen interpretie­ ren. Es wird sein Aufstieg erzählt, der unter den Leitsternen seiner akademischen Lehrer Waitz, Ger- vinus und Treitschke steht und der etwas Genialisches an sich hat, doch wird er jäh gestört von Ausein­ andersetzungen mit dem Onkel um die Edition der Briefe seines Vaters Felix. Karl Mendelssohn Bartholdy machte sich, von Gervinus darauf gebracht, einen eignen Namen durch die Erforschung der neueren Geschichte Griechenlands, die er auf vielen Reisen buchstäblich selbst erfuhr. Geschildert wird das Sichherausschälen der befreienden Bewegung des Philhellenismus, anknüpfend an die Studien zur Gestalt des Grafen Kapodistrias, dem die erste Arbeit gegolten hatte. Mendelssohn verband als Gelehrter historische Tatsachenforschung mit Sozial- und Gesellschaftsge­ schichte; dahinter stand die eigne Überzeugung von revolutionärer und demokratischer Erneue­ rungsbedürftigkeit der deutschen Zustände. So zog er auch die Geschichte der Französischen Revolu­ tion an biographischen Studien freiheitlicher Revolutionshelden auf, in denen sich die gesellschaftli­ chen Widersprüche persönlich kristallisierten. Am anrührendsten erscheint seine Studie über den in sich gespaltenen Mirabeau, in der er vorahnend die eigne Krankheit zum Tode vorwegnahm. — Seine persönliche Lebenstragik, nachdem ihm zweimal das Glück von Ehe und Vaterschaft durch Tod ver­ sagt war, wird erzählt. — Beim Lesen der Darstellung bietet sich fast zwangsläufig die Assoziation an den von Thomas Mann oft erzählten Konflikt von Geist und Seele an; über Anteilnahme hinaus erweckt sie Ehrfurcht. Diese Ehrfurcht klingt noch hinein in Karl Mendelssohn Bartholdys geistiges Erleben des Philhelle­ nismus, dem sich Winfried Löschburg widmet (Der Philhellenismus — „die Religion der Jugend und des Alters" — Karl Mendelssohn Bartholdys Geschichte Griechenlands und sein Briefwechsel mit Heinrich von Treitschke). Verf. spürt auch hier das Hochgestimmte und Noble in der Haltung des Gelehrten. Philhellenismus als liberale Gesinnung und Bewegung schied damals die Geister und galt als „Religion" der Oppositionellen. Verf. löst diese Gesinnung aus dem Briefwechsel mit Treitschke

269 ab, dem andersdenkenden Vertreter der nationalen Bewegung im Bismarckreich. Allerdings, so Verf., ist er mehr geeignet, die Tiefe und Bekenntnishaftigkeit der Mendelssohnschen Darstellungs­ kraft und die Situation der Wissenschaften im 19. Jahrhundert zu beleuchten, als neue Erkenntnisse zu vermitteln. Daß Philhellenismus als „Religion" die Geister so stark zu bewegen vermochte, war Mendelssohns Verdienst. Er befruchtete zugleich die Methode der Historiographie. — Ins Blickfeld der Wissenschaft und Politik trat er durch die neugriechische Geschichte mit dem Kapodistrias-Buch. Er bereitete das geistige Feld durch seine Mischung aus Akribie und Lebendigkeit und Abgewogen- heit so auf, daß es die Geneigtheit auch politisch Andersdenkender, wie Treitschke einer war, evo­ zierte. Sie brachte beide Männer in Freundschaft zueinander. Ähnlich lebensvoll ist auch die Spurensuche von Jürgen Wetzel („Sozialismus ohne Faszination " — Drei Briefe Alfred Döblins im Landesarchiv Berlin), die zunächst scheinbar nichts mit dem Mendels­ sohn-Thema zu tun hat (außer der Tatsache, daß Khngelhöfers politische Tätigkeit im Berlin der Nachkriegsjahre auf dem Gebiet des Wirtschaftlichen lag), bei ernsthafter Betrachtung jedoch sich auch hier der Kunst der Geschichtsschreibung nähert, von der die Rede ist. Aus dem Briefwechsel zweier engagierter Sozialisten bzw. seiner Erschließung durch den Verf. klingt das quälende, unab­ dingbare Suchen nach Erneuerung gesellschaftlicher Zustände in geschichtlich bedeutsamer Zeit hin­ durch. Döblin und Klingelhöfer, letzterer nur noch Älteren in seiner politischen Funktion in Berlin in Erinnerung, kamen aus leidvoll-armer Jugenderfahrung zum kompromißlosen Ideal der Erneuerung aus dem Geiste des Sozialismus und des Pazifismus. Verf. erzählt ihr Leben — so verschieden in ihrer Ausprägung, so gemeinsam im starken Wollen vom Ideal her — in seinen Verästelungen; er schildert das Hin und Her zwischen beiden Räterepubliken und der Konterrevolution in München 1918/19, in das beide verflochten waren. Am Ende steht bei beiden die Desillusion, ist ihr Einstehen als „Sozialis­ mus ohne Faszination" (Döblin) das bittere Eingeständnis, nachdem beide sich um philosophische und historische und ökonomische Klärung der Wahrheit, um Aufschluß über die Stellung des Ichs bemüht haben, und dies nur auf sich selbst gestellt taten, was beide mit Moses Mendelssohn verbinden mag. Christiane Knop

Berichtigungen Im Jahrbuch 1993 bitten wir, in dem Simplicissimus-Aufsatz S. 77, 6. Zeile von unten ein „hier" vor den Bindestrich zu setzen; im Heft 1/1994 der „Mitteilungen"/Buchbesprechun­ gen muß es auf S. 242, 7. Zeile von unten richtig heißen: erbeben (nicht: erheben).

Tagesordnung der Ordentlichen Mitgliederversammlung: Verleihung der Fidicin-Medaille an Herrn Professor Dr. Peter Bloch. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und des Biblio­ theksberichtes. Bericht der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer. Aussprache. Entlastung des Vorstandes. Verschiedenes. Anträge sind bis zum 13. April der Geschäftsstelle zuzuleiten. Der Schatzmeister bittet herzlich um die Überweisung der Mitgliedsbeiträge.

270 Es haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet

Fehlberg, Hauke, Dipl.-Ing. Bernstrasse 38 A, CH-4562 Biberist Tel. (004165) 32 2126 (G. Wollschlaeger) Fußangel, Ingrid, Vorschullehrerin Barnetstraße 71, 12305 Berlin Tel. 7 46 19 48 (K.-H. Kretschmer) Fußangel, Klaus, Pensionär Barnetstraße 71, 12305 Berlin Tel. 7 46 19 48 (K.-H. Kretschmer) Götzelt, Klaus Th., Konrektor a. D. Lichterfelder Ring 92, 12279 Berlin Tel. 71169 60 Kuckartz, Helga, Bibl.-Angest. Prierosser Straße 23 b, 12357 Berlin-Rudow Tel. 6 618135 Rheinländer, Achim, Geschäftsführer Hauptstraße 137, 10827 Berlin Tel 7 82 7810 (A. Gleitze) Rheinländer, Lieselotte, Ruheständlerin Hauptstraße 137, 10827 Berlin Tel. 7 82 7810 (A. Gleitze) Schlempp, Christian, Dipl.-Ing. Architekt Meisenstraße 4, 63263 Neu-Isenburg Tel.(06102)5 3135 Schlempp, Julia, Bankkauffrau Scharnweberstraße 126, 13405 Berlin Tel. 41234 79 Wehr, Dr. Gregor, Dipl.-Chemiker Sprungschanzenweg 80 c, 14169 Berlin Tel. 81316 63 Welz, Dr. Joachim, Vizepräsident des Bundesgesundheitsamtes Ulmenallee 15, 14050 Berlin Tel. 3 02 44 73 (Dr. M. Uhlitz)

271 Veranstaltungen im II. Quartal 1994

1. Mittwoch, 27. April 1994,19 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im Berliner Rat­ haus, Ferdinand-Friedensburg-Saal, Raum 338, 3. Geschoß. Haupteingang Rathaus­ straße. Tagesordnung siehe Seite 270 Anschließend ein Lichtbildervortrag von Herrn Pro­ fessor Dr. Peter Bloch: „Denkmäler und ihr Sinneswandel. Vom Brandenburger Tor zur Schloßfreiheit". 2. Donnerstag, 5. Mai 1994, 16.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung des Landesarchivs „Begrenzung und Wachstum Berliner Stadtentwicklung im Spiegel von Karten". Leitung: Herr Andreas Matschenz. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuth- straße 1/2. 3. Donnerstag, 19. Mai 1994,17 Uhr: Führung durch den Berliner Dom. Anschließend um 18 Uhr Andacht. Führungsgebühr pro Person 4 DM, Senioren 2 DM. Die Teilnahme an der Andacht ist nicht Teil der Veranstaltung. Treffpunkt am Haupteinang Lustgartenseite. 4. Sonntag, 19. Juni 1994,10 Uhr: Führung zu den Überresten der Garnisonstadt Potsdam. Leitung: Herr Hans-Werner Klünner. Treffpunkt vor dem Haupteingang der Nikolaikir­ che am Alten Markt in Potsdam. 5. Freitag, 24. Juni 1994, 14 Uhr: „Vom Spandauer Tor zum Postfuhramt". Führungslei­ tung: Herr Dipl.-Ing. Karl-Heinz Laubner. Treffpunkt: S-Bahnhof Hackescher Markt, Ausgang Straße „Am Zwirngraben".

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Bibliothek: Berliner Straße 40, 10715 Berlin, Telefon 87 2612. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 13597 Berlin, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 12209 Berlin, Telefon 772 34 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 13353 Berlin, Telefon 45 09-264. Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin, Telefon 7 534278. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 100 100 10), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801 200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,10825 Berlin; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin; Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

272 Berliner *^""~£lm Pflichtexemplar A 1015 F MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 u 91. Jahrgang • \-ct ck April 1995

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Wappen der „Königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin" von 1709 Berlin-Brandenburg Beitrag des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Eberhard Diepgen, für den Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865

Europa ist unsere Zukunft, Deutschland unser Vaterland und Berlin-Brandenburg unsere Hei­ mat. Ohne ein starkes gemeinsames Bundesland werden wir in Europa der Regionen keine Zukunft haben. Nur mit vereinter Kraft wird es gelingen, für die Berliner und Brandenburger das notwendige Wirtschaftswachstum und zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten. Viele Gründe sprechen für die Fusion. Sie sind so überzeugend, daß sich in seltener Eintracht Gewerkschafter und Unternehmer, zahlreiche Vereine und Verbände bereits zusammenge­ schlossen haben und auch eine schnelle Fusion der beiden Bundesländer fordern. Der Staat hinkt wieder einmal einer Entwicklung hinterher, die private Institutionen längst vollzogen haben. Trotzdem lohnt es sich, die guten Argumente für einen Zusammenschluß der beiden Länder noch einmal zusammenzufassen: 1. Zwei kleine Länder, die zusammen nur die Einwohnerzahl von Hessen erreichen, machen sich unnötige Konkurrenz. Ein Land schafft Wachstumsimpulse für die Wirtschaft, verhin­ dert ein kostenträchtiges Abwerben von Unternehmen und sichert eine vernünftige Entsor­ gung und Versorgung. 2. In einem gemeinsamen Land ist es ungleich leichter, durch solch eine flächendeckende Ver­ kehrs- und Regionalplanung allen Regionen zu ihrem Recht zu verhelfen, dem peripheren Bereich, dem sogenannten Speckgürtel, und Berlin selbst. Der notwendige Interessenaus­ gleich zwischen diesen drei Bereichen ist in einem gemeinsamen Bundesland ungleich leich­ ter. Vor kurzem ist der Versuch gescheitert, eine gemeinsame Landesplanung durch Staats­ verträge zu regeln. Viele Fusionsgegner haben immer wieder behauptet, durch Staatsver­ träge ließen sich alle notwendigen, beide Seiten interessierenden Fragen genausogut oder besser beantworten. Das Scheitern der Landesplanungsverträge hat uns hier klüger gemacht. 3. Manche behaupten, daß nach der deutschen Wiedervereinigung und insbesondere nach dem Fall der Mauer in Berlin und dem Aufbau einer gemeinsamen Stadtverwaltung die Menschen der Region „vereinigungsmüde" seien und einen dritten Zusammenschluß jetzt nicht auch noch verkraften könnten. Aber alle drei Dinge gehören zusammen: das dritte ergibt sich aus dem zweiten und das zweite aus dem ersten. Wenn wir nicht umgehend fusio­ nieren, sind viele Mißstände, die wir durch eine Fusion meiden wollen, längst eingetreten, beispielsweise bei der Raumordnung oder durch die Verfestigung der Bürokratie. Wer die Verwaltung kennt, der weiß: nur weiche Strukturen lassen sich noch verändern. 4. Und natürlich wollen wir durch ein gemeinsames Land auch Kosten sparen. Es ist zwar nicht das einzige, aber ein wichtiger Grund für die Verwaltungsreform. Brandenburg hat seine Kreisgebietsreform bereits durchgeführt, in Berlin steht die Bezirksgebietsreform noch aus, aber die Verwaltungsreform, die mehr Effizienz, Eigenverantwortung und Bürgernähe bringen soll, hat bereits begonnen. Wir wollen den Zusammenschluß unserer beiden Län­ der nutzen, um überlebte Strukturen aufzubrechen und durch effizientere, kostengünstigere zu ersetzen. Durch einen Zusammenschluß unserer Länder ersparen wir keineswegs nur Landtagsabgeordnete und Minister, sondern für viele Investoren und einfache Bürger dop­ pelte Wege und Kosten.

370 Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister von Berlin, Mitglied des Vereins für die Geschichte Berüns — gegr. 1865.

5. Abschließend möchte ich noch auf zwei Bereiche eingehen, die immer wieder strittig disku­ tiert werden und die sich tatsächlich in den zur Zeit laufenden abschließenden Verhandlun­ gen zwischen dem Berliner Senat und der brandenburgischen Landesregierung als beson­ ders schwierig erwiesen haben. Das ist zum einen die Frage des Personals. Beide Seiten sind sich einig, daß es keine fusionsbedingten Kündigungen geben darf und wird. Vielmehr sind beide Seiten überzeugt, daß durch die wirtschaftlichen Impulse neue und zusätzliche Arbeitsplätze entstehen werden. Richtig ist freilich auch, daß bei einem gemeinsamen Bun­ desland die Verwaltung kräftig abgespeckt werden kann, aber sozialverträglich. Viele Auf­ gaben werden dann nicht mehr bei der Hauptverwaltung, sondern bei den Bezirken und Gemeinden oder bei privaten Dienstleistern zu finden sein. Dort werden dann neue Arbeitsplätze entstehen. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, wenn die Frage einer starren Obergrenze für Landesbedienstete zwischen Berlin und Brandenburg noch nach wie vor strittig ist. Wir können die Mehrheit der Menschen nur in die Fusion mitneh­ men, wenn sie keine Angst davor haben, insbesondere keine Angst um ihren Arbeitsplatz. 6. Schwierig ist auch die Finanzfrage. Zur Zeit genießt Berlin wie Hamburg oder Bremen auch noch das sogenannte Stadtstaatenprivileg, einen Sonderstatus im Länderfinanzenaus- gleich. Dieser entfällt zwar in einem gemeinsamen Bundesland, doch haben Berlin und Brandenburg in zähen, erfolgreichen Verhandlungen erreicht, daß dieses Stadtstaatenprivi­ leg bis 2013, also 15 Jahre nach dem geplanten Fusionstermin, erhalten bleibt. Zwar muß danach dann das gemeinsame Bundesland ohne dieses Geld auskommen, aber ob dann das

371 Stadtstaatenprivileg überhaupt noch in der heutigen Form existiert, darf bezweifelt werden. Diese Fragen, die weit in das nächste Jahrhundert hineinreichen, lassen sich nicht mit hun­ dertprozentiger Sicherheit berechnen. Wir dürfen nie vergessen, daß ein Zusammenschluß unserer Länder nicht nur eine Sache des Verstandes und der Vernunft, sondern auch des Herzens ist. Seit der Zeit der Kurfürsten, Könige und Kaiser sind Berlin und Brandenburg eine Einheit, das Kernland Preußens, mit glei­ cher Geschichte und Kultur, eine ideale gegenseitige Ergänzung. Die Landesgrenze zwischen Berlin und Brandenburg ist lediglich eine Folge des Krieges und der Teilung. Berlin und Bran­ denburg gehören einfach zusammen. ß-^fa

Vom „Raketenflugplatz Berlin" zur Zukunft im All Von Jesco v. Puttkamer

Am späten Nachmittag des 20. Juli vergangenen Jahres haben viele Menschen in den USA, aber auch rund um die kleingewordene Welt, einen Moment pausiert und sich überlegt, wo sie 25 Jahre zuvor waren und was sie gerade taten, als vom fernen Mond die Worte kamen: „Hou­ ston, Tranquility Base here, the Eagle has landed!" Ich hatte das Glück, an der Realisierung dieser Landung des „Adlers" unmittelbar beteiligt zu sein (die ursprünglich von Wernher von Braun im April 1961 dem Weißen Haus vorgeschlagen wurde), und die kaum beschreibbare Erleichterung, Befriedigung und Freude über eine glück­ lich vollbrachte Aufgabe zu erleben, die die Worte von Apollo 11 für uns bedeuteten. Neil Armstrong und Buzz Aldrin waren als erste Menschen auf dem Mond gelandet, während Mike Collins ihn im Mutterschiff Columbia in einer Parkbahn umkreiste und wie wir um ihre ebenso glückliche Rückkehr bangte. Viel von unseren damaligen Gefühlen drückt der berühmte Ausspruch Goethes nach der Kanonade von Valmy aus: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte an, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen!" Der Historiker Arthur Schlesinger schrieb später über jene Ereignisse: „Das 20. Jahrhundert wird, wenn alles andere vergessen worden ist, als das Jahrhundert fortleben, in dem der Mensch seine irdischen Fesseln sprengte." Wer seine Augen nicht verschließt, erkennt mit Schlesinger den deutlichen Trend der Raum­ fahrt seit Apollo: Trotz seiner Erdgebundenheit ist der Mensch auf dem Weg ins All. Die Rus­ sen haben bereits die siebte bemannte Station im All, Mir, und bei der NASA haben wir zusam­ men mit Rußland und 15 anderen Nationen den Bau der großen internationalen Raumstation Alpha begonnen. Wenn sich die Zahl der Astronauten und Kosmonauten in jenem Juli 1969 gerade mal auf 55 belief, so sind mittlerweile (bis Ende März 1995) weltweit auf 181 Missionen 635 Menschen ins All geflogen, davon 454 allein bei der NASA. Mit dem Space Shuttle don­ nerten inzwischen 337 Männer und 47 Frauen in den Erdorbit (Mehrfacheinsätze mitgerech­ net). Die für Juni geplante Mission STS—71, bei der die Raumfähre Atlantis an Mir andockt, wird der 69. Flug des Raumtransporters und der 100. der bemannten US-Raumfahrt sein.

372 RÄKETENFLUG Aufruf!

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Flugblatt 1930/31. Archiv des Verfassers.

373 Ich möchte dieses Silberjubiläum zum Anlaß nehmen, um dreier Männer aus Deutschland zu gedenken, deren Visionsstärke, Schöpfergeist und Schaffenskraft die Verwirklichung des ural­ ten Menschheitstraums vom Flug zum Mond zutiefst beeinflußt haben — dreier Männer, die auch die Anstöße gaben für unsere weiteren Schritte im All seit jenen Tagen, in denen wir „die irdischen Fesseln sprengten". Diese Männer sind Hermann Oberth, Rudolf Nebel und Wern- her von Braun. Oberth und Nebel wären letztes Jahr beide 100 Jahre alt geworden — Nebel im März, Oberth im Juni. Weraher von Braun war 18 Jahre jünger (er wäre diesen März 83 gewor­ den), und er durfte als Amerikas „Mr. Space" das vollenden, was die beiden anderen begonnen hatten. Zunächst zu Hermann Oberth, dem „Vater der Weltraumfahrt". Geboren wurde er am 25. Juni 1894 in Hermannstadt in Siebenbürgen. Er war gerade 12 Jahre alt, als ihm der Zukunftsroman „Von der Erde zum Mond" von Jules Verne in die Hand geriet, und damit war's schon geschehen. Er las ihn in einem Zug, und die Idee vom Mondflug ließ ihn von da an sein Leben lang nicht wieder los. Die ständige Grübelei, wie das denn technisch mög­ lich sein könnte — denn daß es per Kanonenschuß ä la Verne nicht geht, konnte er sehr schnell beweisen —, führte 1923 zur Entstehung einer Schrift namens „Die Rakete zu den Planetenräu­ men", die der 28jährige dem Verlag Oldenbourg in München anbot. Es handelte sich um seine Doktorarbeit, die allerdings aus Mangel eines fachlich qualifizierten „Doktorvaters" abgelehnt worden war, und er lieferte darin einen unumstößlichen Beweis für die Möglichkeit der Welt­ raumfahrt mittels Raketen. Nur ein anderer hatte bisher an diese Lösung gedacht: Konstantin Ziolkowsky in Rußland. Das Buch erschien in mehreren Auflagen, wurde von Oberth erweitert und hieß schließlich „Wege zur Raumschiffahrt". Bis in die heutige Zeit gilt es als die „Bibel der Raketenleute". Man kann in aller Nüchternheit sagen, daß Oberth damit eine neue Epoche angebahnt hat. Er entwickelte nämlich das gesamte theoretische Fundament der Raketentechnik, des Fluges im Weltraum und der Landung und Fortbewegung auf anderen Himmelskörpern. Er unter­ suchte Konzepte wie Satelliten, Raumstationen (der Terminus „Station" erscheint in seinem Buch zum ersten Mal), Sonnenspiegel im All, Raumanzüge, Lebenserhaltungssysteme, die Verwendung von Flüssigsauerstoff und Flüssigwasserstoff als Raketentreibstoffe, wie es im Space Shuttle realisiert ist, und vieles andere mehr. Seine Ideen waren grundlegend bei der Entwicklung der Inertialsteuerung, die dann vor allem durch das v.-Braun-Team in Huntsville perfektioniert wurde und heute nicht nur das Space Shuttle navigiert, sondern auch die großen Jumbo-Jets der Luftlinien. Mit seinen vordenkerischen Arbeiten rückte er vormals Phantasti­ sches in den Bereich des Möglich-Erscheinenden und befruchtete damit unzählige junge Leute, die es später in der Raumfahrt selbst zu Rang und Namen brachten. Seine Stärke war die Theorie — so sehr, daß jemand mal im Scherz von ihm sagte: „Wenn Oberth ein Loch bohren will, erfindet er zuerst die Bohrmaschine." 1929 veranlaßte sein Buch die Ufa-Filmstudios, ihn als wissenschaftlichen Berater bei der Ver­ filmung eines Buches der Schriftstellerin Thea von Harbou einzustellen. Der Regisseur war ihr Ehemann Fritz Lang, berühmt geworden durch „Metropolis", und der Film hieß „Frau im Mond". Wir werden gleich noch einmal auf Oberths Gastspiel in Neubabelsberg zurückkom­ men, das sich für die Raumfahrt als so schicksalhaft erweisen sollte. (Doch sei schon hier die Marginalie gestattet, daß der Konnex zwischen Filmemachern und Raumfahrttechnikern ein öfter wiederkehrendes Phänomen war und ist. In den 50er Jahren wirkte Wernher von Braun als wissenschaftlicher Berater bei Walt Disney in Hollywood und ich selbst Ende der 70er Jahre bei Paramount in Hollywood an „Star Trek" bzw. „Raumschiff Enterprise".)

374 Ende der 50er Jahre arbeitete Hermann Oberth bei Wernher von Braun in der Army Ballistic Missile Agency (ABMA) in Huntsvüle, . Foto: NASA

Dank Oberth hatte die Welt, hatte das Denken der Menschen eine Erweiterung erfahren, deren Grenzen unabsehbar erscheinen. Einen solchen Einfluß nahm er auch auf Rudolf Nebel, den zweiten in dieser schicksalhaften Troika. Nebel war typisch für die Raketenleute jener Jahre, die entweder krasse Theoretiker waren oder leidenschaftliche Enthusiasten und Bastler oder nüchterne Feuerwerker, die recht gut mit Pulverraketen umgehen konnten. Geboren wurde Nebel am 21. März 1894 in Weißenburg in Bayern. Schon als kleiner Junge am Riegen begeistert, baute er als 18jähriger eine „Libelle", einen Eindecker, mit dem er sich sein Pilotenzeugnis erflog. Zwei Jahre später zog er in den Ersten Weltkrieg und verbrachte ihn als Jagdflieger in einem Fokker-Eindecker. 1919 erwarb er das Ingenieur-Diplom, arbeitete vier Jahre bei Siemens und war einige Zeit Teilhaber einer Feuerwerksfabrik in Sachsen. Seine eigentliche Beschäftigung mit der Raumfahrt begann, als ihn Hermann Oberth als Mitarbeiter bei dem bereits erwähnten Filmprojekt „Frau im Mond" anheuerte. Ein enthusiastischer Publizist des 1927 in Breslau von einer Fan-Gruppe gegründeten „Ver­ eins für Raumschiffahrt" (VfR), der damals 22jährige Willy Ley, hatte der Ufa vorgeschlagen, sie solle zur Reklame des Films eine richtige Rakete für flüssige Treibstoffe bauen lassen. Als sich Fritz Lang bereit erklärte, die Hälfte der Kosten zu übernehmen, gab die Firma das 'Go-ahead'. Oberth, der Wissenschaftsberater, krempelte die Ärmel auf und begann; an Geldern hatte er nun 35 000 RM. Mit einer kleinen Anzeige suchte er nach Mitarbeitern, und als ersten gewann der 34jährige den gleichaltrigen Diplom-Ingenieur Rudolf Nebel.

375 Bei diesen Arbeiten erfand Oberth mit Nebels Hilfe einen kleinen Raketenmotor für Benzin und Flüssigsauerstoff, den er „Kegeldüse" nannte. Als erster von zahlreichen Vorgängern überstand das Motörchen alle Versuche ohne Explosion. Die Aufgabe, eine flugfertige Rakete zu bauen, die man bei der Filmpremiere mit gewaltigem Trara starten konnte, wurde zum Wett­ lauf mit der Zeit, und die Zeit gewann ihn haushoch. Die Uraufführung am 15. Oktober 1929 mußte ohne Raketenstart stattfinden, und die Ufa-Werbeleitung erklärte den peinlichen Flop damit, die Jahreszeit sei zu weit fortgeschritten. Um die Entwicklungsarbeiten trotzdem fortzuführen, suchten Oberth und Nebel bei Instituten und Vereinen um Stiftungen nach. Der „Verein für Raumschiffahrt" unterstützte sie. Am 23. Juli 1930 führten sie die Kegeldüse in der Chemisch-Technischen Reichsanstalt in Plötzen­ see vor. Der Versuch war erfolgreich, und Nebel konnte den Direktor der Anstalt, einen Dr. Ritter, dazu bringen, der Flüssigkeitsrakete ein positives Gutachten auszustellen. Das war natürlich für die Rakete die wissenschaftliche Rehabilitation in Deutschland, wo sie in früheren Zeiten nur negative Gutachten eingeheimst hatte, ein wichtiges Verdienst, das den späteren Entwicklungen großen Vorschub leistete. Oberth kehrte 1930 nach Mediasch in Siebenbürgen zurück und blieb dort fast zehn Jahre lang. Nebel experimentierte auf einem Bauernhof im sächsischen Bernstadt zäh weiter; sein Plan war, zuerst einmal kleine, handliche Raketentriebwerke herzustellen, an denen sich lernen ließ. So entstand die sogenannte „Minimumrakete", abgekürzt „Mirak", bei deren Konstruktion er sich an das Vorbild alter Congrevescher Schwarzpulverraketen hielt: Neben der Kegeldüse hatte sie einen Richtstab, der gleichzeitig Benzintank war, und der Sauerstoffbehälter saß vorn im Kopf des 30 cm langen Geräts. Durch seine Bastelei mit einem Kollegen namens Klaus Riedel entwickelte er sich zum Self- made-Raketenfachmann. Als die Mirak wie die meisten jener Frühentwicklungen bei einem Versuch in Fetzen flog, kehrten die beiden nach Berlin zurück, wieder um ein Quentchen klü­ ger geworden. Nebel suchte nach einem geeigneten Platz, um die Arbeit fortzusetzen. Im Nordwesten der Stadt, in Reinickendorf östlich von Tegel, fand er einen unbenutzten alten Schießplatz, der der Stadt gehörte. Er bekam ihn für eine symbolische Jahresmiete von zehn Reichsmark, und am 27. September 1930 empfing er von dem zuständigen Beamten den Schlüssel. Nebel, der zu einem äußerst betriebsamen und geschäftstüchtigen Trommler gewor­ den war, prägte dafür den Namen „Raketenflugplatz", und zwar in einem Telegramm an den amerikanischen Autokönig Henry Ford anläßlich dessen Deutschlandbesuchs. Darin stand: „Anbiete erste Flüssigkeitsrakete für Fordmuseum Stop Einlade zur Besichtigung des ersten Raketenflugplatzes in Berlin-Reinickendorf." Ford hat nie darauf geantwortet. Er wollte die Oberth-Rakete gar nicht haben, aber er veran- laßte eine bekannte Journalistin, Lady Drummont-Hay, nach Berlin zu fahren und sich den gottverlassenen Platz in Reinickendorf anzuschauen. Aufs äußerste beeindruckt und erschreckt von einem erfolgreichen Prüfstandtest, schrieb sie später unter anderem: „Als ich diesen Raketenflugplatz Berlin wieder verließ, da wußte ich, daß diesejungen Enthusiasten die Waffen vorbereiten, mit denen sie uns in Amerika eines Tages über den Atlantik hinweg treffen werden." Das war Ende 1930, und ihre Prophezeiung war gar nicht so abwegig, denn 14 Jahre später gab es in Peenemünde Pläne für die zweistufige A10, die sogenannte „Amerika- Rakete". Rudolf Nebel gelang es immer wieder, freundliche Spenden und bescheidene Geschenke auf­ zutreiben. Und die Zahl der jungen Helfer in Reinickendorf vermehrte sich. Einer der neuen Fans war ein 18jähriger Student namens Wernher von Braun, der sich in Berlin nach einem Praktikum bei Borsig an der Technischen Hochschule eingeschrieben hatte. Ihre Raketenstarts

376 Wernher von Braun, ca. 1959, bei der Army Ballistic Missile Agency (ABMA), dann Direktor des NASA Marshall- Raumflugzeugzentrums in Huntsville, Alabama. Foto: NASA erregten Aufmerksamkeit beim Berliner Publikum, so sehr, daß die Ufa im September 1931 einen ihrer Probeflüge für die Wochenschau filmte und den Streifen betitelte „Die Narren von Tegel"; 41 Jahre später (1972) — drei Jahre nach Apollo 11 — wählte Nebel diese Bezeichnung als Titel für seine Memoiren. Auf der Suche nach stärkeren Antrieben begannen sich Nebel und Riedel für Alkohol anstatt Benzin zu interessieren. Bei seiner Verbrennung mit flüssigem Sauerstoff entstanden allerdings Temperaturen, bei denen die Brennkammern wegschmolzen. Mischte man dem Alkohol aber Wasser bei, so wirkte dieses kühlend ... doch wieviel davon konnte man ihm beigeben, ohne seine Entflammung zu verhindern? Der Vater von Willy Ley, der ein Likörfabrikant in Ost­ preußen war, sagte es ihnen: „Die Mindestmenge Alkohol in einem Likör, der brennen soll, ist 40 Prozent. Bereits bei 38 Prozent brennt er nicht mehr." Man versuchte hin und her und fand, daß die Brennkammern bei 60 bis 70 Prozent gerade noch intakt blieben. Daran hielt man dann fest. So entdeckten die Himmelsstürmer von Reinickendorf den Brennstoff der späteren V2! Eine zweite wichtige Neuerung Nebels war die sogenannte regenerative Mantelkühlung, bei der das Alkohol-Wasser-Gemisch vor der Einspritzung durch die doppelte Wandung des Raketenofens geschickt wird. Auf diesem Prinzip beruhen heute alle Flüssigkeitsraketentrieb­ werke, auch die des Space Shuttles. Bei dem mächtigen 25-Tonnen-Motor der V2 kam übri­ gens neben der Mantelkühlung auch Oberths Idee der sogenannten Schleierkühlung zur Anwendung. Bis 1932 ging soweit alles ganz gut, doch 1933 wurde das schwärzeste Jahr für die privaten Raketenbastler in Deutschland. Willy Ley etwa mußte nach Amerika emigrieren — ein Glück,

377 denn er entwickelte sich dort zum führenden Publizisten und Chronisten der Raumfahrt. Die Rakete sollte in Deutschland von nun an den „Interessen der Landesverteidigung" dienen. Das Heereswaffenamt suchte seit langem nach Waffenentwicklungen, die nicht berührt wurden vom Versailler Vertrag, der der Artillerie-Entwicklung in puncto Herstellung und Kaliber starke Beschränkungen auferlegte. Diese trafen auf die neue Flüssigkeitsrakete nicht zu. Der führende Kopf für ihre militärische Entwicklung war Dipl.-Ing. Walter Dornberger unter Oberst (später General) Becker. Im Sommer 1932 gelang es Rudolf Nebel und seinen Helfern, diesen Militärs auf ihrem Schieß­ platz in Kummersdorf eine Flüssigkeitsrakete im Flug vorzuführen. Dornberger war vor allem von dem jungen Wernher von Braun beeindruckt und lud ihn ein, in seine Kummersdorfer Ver­ suchsgruppe zu kommen, also als Zivilist in den Militärdienst zu treten. Braun und andere Mit­ arbeiter des Raketenflugplatzes nahmen das Angebot an, weil es ihnen sonnenklar war, daß es mit der privaten Raketenforschung für friedliche Zwecke nun Schluß sein würde. Rudolf Nebel hing ihr freilich weiterhin an. Er wollte auch die mühsam errichteten Verbindungen zu interna­ tionalen Raketengruppen im Ausland aufrechterhalten; ja, auf Anregung von Albert Einstein gründete er sogar mit anderen Persönlichkeiten eine internationale Forschungsgruppe namens „Panterra", die sofort als „jüdisch" verdächtigt wurde. So kam Nebel ins Abseits, blieb aber auf freiem Fuß. Wernher von Braun setzte sich später für ihn ein, und 1937 wurde er für seine Patente mit 75 000 RM abgefunden. Nach dem Krieg engagierte sich Rudolf Nebel passioniert für die Popularisierung des Raum­ fahrtgedankens unter der Devise „Weltraumfahrt ist eine nationale Lebensfrage". In zahlrei­ chen Vorträgen warb er für sie, ferner für die friedliche Verwendung der Atomenergie, für Robotik und Automation, Kraftwerke für alternative Energiequellen und andere Projekte, die heute noch an Aktualität gewonnen haben. Er starb am 18. September 1978 im Alter von 84 Jahren. Oberth überlebte ihn um mehr als zehn Jahre; er verschied 1989 im Alter von 95 Jahren. Weni­ gen Menschen ist es je vergönnt, wie er schon so frühzeitig im Leben eine Saat höchster Keim­ kraft zu säen und dann 60 Jahre lang zu erleben, wie die Keimlinge Wurzeln schlagen, wie sie wachsen, blühen und Früchte bringen in einem Ausmaß, das die ursprünglichen Träume weit übertrifft. Was ich immer so an ihm bewundert habe, waren sein kühner Glaube an die Welt­ raumfahrt, die Klarheit seiner Beweisführung, die zwingende Logik und Überzeugungskraft seiner Argumente und seine geschickte Zurückweisung unzähliger armseliger Kritiker und Ewig-besserwisser ohne den geringsten Schimmer, die es auch heute noch in Hülle und Fülle gibt. Und nun noch ein paar Sätze zu Freiherrn von Braun, dem Dritten im Bund. Geboren wurde er am 23. März 1912 in Wirsitz in der damaligen Provinz Posen. Wie er später sagte, überzeugte ihn im Alter von 14 Jahren Oberths wegweisendes Buch davon, daß die Reise von Menschen zum Mond und manchen Planeten mittels Raketen möglich ist und daß er vielleicht selbst zu diesen Unternehmen beitragen könnte, wenn er nur hart genug arbeitete und genügend Wil­ lenskraft aufbrachte. Die Schule besuchte er im Landeserziehungsheim Ettersburg bei Weimar, dann im Internat der Hermann-Lietz-Schule auf der Insel Spiekeroog. Nachdem er in der Untertertia wegen ungenügender Leistungen in Mathematik sitzengeblieben war, riß er sich gewaltig am Riemen, und zwar so sehr, daß er das Abitur später bereits als Unterprimaner machte, bevor er nach Berlin zog. Wie es weiterging, ist bekannt. Unter seiner technischen Leitung entstand in Peenemünde auf Usedom die Großrakete A4 (Aggregat 4), von Goebbels später in V2 (Vergeltungswaffe 2) umgetauft. In den USA wurde sie nach Kriegsende die Stammutter der Familie der Saturn-

378 Trägerraketen, mit denen wir bei der NASA in Huntsville unter Wernhers Leitung seinen bzw. unseren Jugendtraum der friedlichen bemannten Weltraumfahrt realisieren konnten. Nach dem Wechsel vom Heer zur zivilen NASA startete sein Raketenentwicklungsteam insgesamt zehn Saturn-I-Träger, neun Maschinen des verstärkten Typs Saturn-IB und 13 Stück der Mondrakete Saturn-V. Bereits die dritte Saturn-V trug Apollo 8 zur zehnfachen Mondumkrei­ sung an Weihnacht 1968, und mit der sechsten erfüllte sich der lange, mühsame Werdegang: An jenem 16. Juli vor fast 26 Jahren donnerte in Cape Kennedy Apollo 11 von der Startrampe, und auf der Ehrentribüne am Startplatz saßen Hermann Oberth und Rudolf Nebel, beide 75jährig. Welch schicksalhafter Weg lag hinter ihnen! Und welcher heutige Traum, von wel­ chen heute lebenden „unpraktischen Träumern" geträumt, wird dereinst ebensolche Wirklich­ keit werden? Meine eigene Mitgliedschaft in dem Team, das ihren Traum verwirklichte, verdanke ich u. a. Oberths überzeugenden Schriften und dann natürlich von Braun, meinem späteren Chef. Vor bald 35 Jahren elektrisierte er mich mit einem Telegramm, in dem stand: „Komm nach Ame­ rika — wir gehen zum Mond!" Die Raumfahrt wurde für uns zum Schicksal. Wernhers innerer Motor war die auf höchstes Konzentrat gebrachte Quintessenz all dessen, was seine hellwache Auffassungsgabe von seinen Lehrmeistern Oberth und Nebel und anderen mitbekommen hatte. Diese Triebkraft, verbunden mit seinem technischen Können, passionierten Optimismus und umfassenden Erfahrungsschatz, seinem Organisationsgeschick und nicht zuletzt seiner starken persönlichen Ausstrahlung, wurde zum größten menschlichen Element hinter den Erfolgen der US-Raketentechnik jener Jahre, in denen Amerika ihn als „Mr. Space" bezeich­ nete. Als er am 16. Juni 1977 im Alter von 65 Jahren in Alexandria, Virginia, starb, hatte er Millionen inspiriert.

Anschrift des Verfassers: Professor Dipl.-Ing. Jesco Frhr. v. Puttkamer, 1108 Westmoreland Road, Alexandria, Virginia 22308, USA

Der Autor ist Raumfahrtwissenschaftler und Programm-Manager in der Abteilung Raumfahrt (Office of Space Flight) der US-Raumfahrtbehörde NASA in Washington, D.C.

Das Columbia-Haus — aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn Von Kurt Schilde

In Berlin befand sich von 1933 bis nach den Olympischen Spielen 1936 auf dem Tempelhofer Feld ein berüchtigtes Gefängnis und Konzentrationslager. Bis heute ist nur wenigen Menschen bekannt, was damals hinter den Mauern des Columbia-Hauses passierte.1 Mit diesem Beitrag zur Geschichte Berlins in der Zeit des Nationalsozialismus soll an das einzige in Berlin bestehende und vom Erdboden verschwundene Konzentrationslager erinnert werden. Die Ausführungen basieren auf dem vom Verfasser gemeinsam mit Johannes Tuchel erarbeiteten Buch über das Columbia-Haus2, dem weiterführende Quellennachweise entnommen werden können.

379 Das Gefängnis auf dem Tempelhofer Feld

Die Geschichte des Konzentrationslagers „Columbia" oder — wie es offiziell und inoffiziell oft genannt wurde — „Columbia-Hauses" beginnt vor der Jahrhundertwende mit der überfüllten Militärarrestanstalt in der Lindenstraße, für die zwei Ersatzgebäude erforderlich geworden waren. Um 1896 war die auf dem Tempelhofer Feld angesiedelte südliche Militärarrestanstalt fertiggestellt.3 Sie bestand aus einem Arrestgebäude mit 156 Zellen, einem Gerichtsgebäude — das mit jenem durch einen gedeckten Gang verbunden war — und einem Beamtenwohnge- bäude sowie einigen Nebenanlagen. Die noch heute auf der gegenüberliegenden Seite der damaligen Prinz-August-von-Württemberg-Straße — heute Columbiadamm — befindlichen Kasernen wurden gleichzeitig in ähnlicher äußerlicher Gestaltung errichtet. Bis 1918 soll die Anlage als Militärarrestanstalt fungiert haben, danach wurde sie als „Gefängnis der Gerichts­ inspektion I" unter der Bezeichnung „Gefängnis Tempelhofer Feld" genutzt. Am Ende der zwanziger Jahre gehörte dieses als „Tempelhofer Feld-Gefängnis" zum Strafvollzugsamt Ber­ lin. Eine spätere Bezeichnung war „Strafgefängnis Tempelhofer Feld".

Das Gestapo-Gefängnis 1933/34

Über die konkrete Nutzung des Gefängnisses in den ersten Monaten des Jahres 1933 liegen keinerlei Informationen vor, es ist nach allen vorhandenen Hinweisen erst seit Juli 1933 als Haftort für politische Häftlinge genutzt worden. Die Belegung der ehemaligen Militärarrestan­ stalt an der Columbiastraße im Sommer 1933 mit politischen Häftlingen durch die Gestapo lag zum einen an der Tatsache, daß der Haftraum im Hausgefängnis des seit Mai 1933 in der Prinz- Albrecht-Straße 8 etablierten Geheimen Staatspolizeiamtes4 unzureichend und ständig über­ füllt war, zum anderen darin, daß die „Schutzhäftlinge" im Gefängnis Spandau, wo viele bis zum Sommer 1933 untergebracht waren, aus der Sicht der Gestapo zu gut behandelt wurden: Der Häftling Kurt Hiller bezeichnete Spandau sogar als das „Paradies der Schutzhäftlinge". Dabei waren in Spandau und Plötzensee die Unterbringung und Verpflegung genauso schlecht und unzureichend wie in der Prinz-Albrecht-Straße oder dem Columbia-Haus, aber es gab einen entscheidenden Unterschied: In Spandau und Plötzensee gab es noch Aufseher, die sich an der preußischen Gefängnisordnung und nicht am nationalsozialistischen „Volksempfin­ den" orientierten. Die ersten Häftlinge kamen vermutlich Ende Juni/Anfang Juli 1933. In dem ersten bis heute vorliegenden Häftlingsbericht aus dem Columbia-Haus hat Kurt Hiller beschrieben, wie er am 14. Juli 1933 von der Prinz-Albrecht-Straße zum Columbia-Haus gebracht und hier mit der Gefangenennummer 231 in der Zelle 78 inhaftiert wurde. Ein weiterer Häftling, Paul W. Mas­ sing, wurde am 17. Juli 1933 festgenommen, in der Prinz-Albrecht-Straße verhört und danach in das Columbia-Haus gebracht und dort ebenso von der SS geprügelt und gequält wie Kurt Hiller. In seinem 1935 in Paris unter dem Pseudonym Karl Billinger erschienenen Roman „Schutzhäftling 880" berichtete Massing über einen Gefangenen, der bereits seit Mitte April 1933 im Columbia-Haus inhaftiert gewesen sein soll. Für diese Darstellung, die möglicher­ weise auf einem Fehler in der mündlichen Überlieferung beruht, haben sich jedoch keinerlei andere Hinweise finden lassen.5 Die Zahl der Häftlinge wuchs rasch. Aus 80 Häftlingen im Juli 1933 wurden — so Hiller — bereits im September 400; ein Luftschutzbericht vom 28. Februar 1934 nennt „durchschnittlich 450 Gefangene". Damit waren die 156 Einzelzellen des Colum­ bia-Hauses ständig überfüllt. Die Lebensbedingungen für die Häftlinge wurden immer uner-

380 316, Berlin. Kaserne d. Garde -Kürassier -Regte. Militär-Arest-Geb.

Kaserne des Garde-Kürassier-Regiments mit der Militär-Arrest-Anstalt (rechts). Postkarte von 1905. Archiv von Hans-Ulrich Schulz. träglicher. Im Columbia-Haus wurden die Häftlinge von der SS bei der Einlieferung gequält, erniedrigt, gefoltert. Niemand bot der Tortur Einhalt. Im Sommer und Herbst 1933 war es ein Ort völliger Rechtlosigkeit — dies aber geduldet und gewollt von einer sich rechtsstaatlich gebenden Geheimen Staatspolizei. Im Januar 1934 hieß es im zweiten Geschäftsverteilungsplan des Geheimen Staatspolizeiamtes über das Personal: „SS-Kommando Gestapa: SS-Brigadeführer Henze; Kommandohaus: Berlin SW 29, Columbiastr. 1/3." Über dieses SS-Kommando besitzen wir lediglich bruch­ stückhafte Informationen, da die Geschichte der Berliner SS bisher nur sehr unzureichend auf­ gearbeitet worden ist. Kurt Hiller beschrieb die SS-Männer, denen er im Herbst 1933 im Columbia-Haus ausgesetzt war: „Meine Statistik am Material von sechzig bis siebzig SS-Män­ nern aller hier vertretenen Chargen hat ergeben, daß etwa fünfzehn Prozent dieser Leute anständige Menschen waren, etwa fünfundfünfzig Prozent sittlich gesinnungsloser Durch­ schnitt, der sich anpaßt und mitmacht, etwa dreißig Prozent ausgemachte Sadisten ... Unter den einfachen, unbesternten SS-Männern, die über mich zu verfügen hatten, benahm sich am anständigsten einer, der, wie er mir verriet, erwerbsloser Straßenfeger war". Wie viele der jeweils zwischen 300 und 400 Häftlinge im Herbst und Winter 1933/34 im Columbia-Haus ermordet wurden oder dort so gefoltert wurden, daß sie an den Folgen star­ ben, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Drei Fälle aus dem November 1933 stehen daher ver­ mutlich für viele andere: Am 20. November 1933 mordete die SS im Columbia-Haus Michael Kirzmierczik aus Leipzig und versuchte seinen Tod als Selbstmord zu tarnen. Die Witwe mußte im Berliner Leichenschauhaus den verstümmelten Leichnam identifizieren und dann die per­ sönlichen Dinge des Ermordeten im Columbia-Haus abholen. Am 24. November 1933 wurde Erich Thornseifer von der SS mit Rohrstock und Reitpeitsche so gefoltert, daß er noch am glei-

381 chen Tag ins Staatskrankenhaus gebracht wurde, wo er am 26. November 1933 starb. Am 27. November 1933 ermordete die SS den Monteur Karl Vesper aus Mahlsdorf, der am 8. November 1933 verhaftet worden war. Im Winter 1933/34 waren auch die vier kommunistischen Spitzenfunktionäre John Schehr, Rudolf Schwarz, Erich Steinfurth und Eugen Schönhaar im Columbia-Haus inhaftiert. Sie wurden mehrfach tagsüber zu Vernehmungen und Folterungen in die Prinz-Albrecht-Straße 8 gebracht. Am Abend des 1. Februar 1934 wurden sie während eines Transports, der sie angeb­ lich von der Prinz-Albrecht-Straße in das Columbia-Haus bringen sollte, am Kilometerberg in Berlin-Wannsee ermordet. Für die zu dieser Zeit rund 400 Häftlinge im Columbia-Haus hatte sich auch nach einem Wech­ sel der Wachmannschaften wenig geändert. Ihre Lebenssituation blieb in den Sommermonaten 1934 weiterhin von Hunger und Quälereien bestimmt. Dies führte schließlich dazu, daß im September 1934 „Schikanen" und „Quälereien" im Columbia-Haus ausdrücklich verboten wurden — ein in der Geschichte der Konzentrationslager wohl einzigartiger Vorgang. Offen­ sichtlich sollte die Berliner Bevölkerung in dieser Konsolidierungsphase des Nationalsozialis­ mus nicht unnötig durch Gerüchte beunruhigt werden. Der Leiter der Abteilung III (Abwehr­ polizei) des Geheimen Staatspolizeiamtes, Dr. Günter Patschowsky, schrieb am 5. September 1934: „Auf Befehl des Reichsführers SS mache ich sämtliche Beamte und Angestellte des Geheimen Staatspolizeiamtes darauf aufmerksam, daß es eines Angehörigen des Geheimen Staatspolizeiamtes unwürdig ist, Schutzhäftlinge zu beschimpfen oder unnötig grob zu behan­ deln. Den Schutzhaftgefangenen ist, falls es erforderlich ist, mit der nötigen Strenge, aber nie­ mals mit Schikanen und unnötigen Quälereien zu begegnen. Verstöße gegen diesen Befehl werde ich unnachsichtlich (!) mit den schärfsten Mitteln verfolgen." Ob die „schärfsten Mittel" jemals zur Anwendung kamen, muß Vermutung bleiben. Sicher ist, daß die unmittelbare Unterstellung des Columbia-Hauses unter das Geheime Staatspolizeiamt im Dezember 1934 endete.

Das KZ Columbia im System der Konzentrationslager

Die Einbeziehung des Columbia-Hauses in die Verantwortung der „Inspektion der Konzen­ trationslager"6 im Dezember 1934 war eine Folge des Versuchs, alle Haftstätten und Konzen­ trationslager nach dem gleichen — dem Dachauer — Muster zu führen. Am 27. Dezember 1934 taucht die Bezeichnung „Konzentrationslager Columbia" das erste Mal in einem Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamtes auf. Die Tatsache der Umbenennung von „Polizeigefängnis in der Columbiastraße" in „Konzentrationslager Columbia" war aber mehr als ein Namenswech­ sel. Sie markierte den Übergang vom schrankenlosen und brutalen Terror, der in den Händen der Gestapo und der Berliner SS gelegen hatte, in ein System der Gewalt, das bis ins kleinste festgelegt werden sollte. Das Konzentrationslager Columbia unterschied sich im Frühjahr 1935 in einem Punkt grundlegend von allen anderen Lagern: In Dachau, Esterwegen, Sachsenburg und Lichtenburg waren vor allem Häftlinge inhaftiert, die längere Zeit in „Schutzhaft" bleiben sollten und deren Haftzeit „automatisch" vom Geheimen Staatspolizeiamt alle drei Monate verlängert wurde. Das KZ Columbia aber nutzte das Geheime Staatspolizeiamt vor allem für Häftlinge, deren Verhöre noch nicht abgeschlossen waren und die daher noch nicht in andere Lager überführt werden sollten. Es war also eine Art Nebenstelle des „Hausgefängnisses" des Geheimen Staatspolizeiamtes in der Prinz-Albrecht-Straße 8. Schon bald richtete das Gestapa einen regelmäßigen Transportverkehr zwischen diesem Ort und dem KZ Columbia ein. In der

382 Aufnahme vom Neubau des Flughafens Tempelhof mit dem noch stehenden Columbia-Haus im Hintergrund (Mitte), 1938. Archiv der Berliner Flughafengesellschaft.

Prinz-Albrecht-Straße mußten die Häftlinge dann ihre Vernehmung in einem Teil des im Kel­ ler gelegenen „Hausgefängnisses" abwarten oder wurden abends wieder in das Columbia- Haus zurückgebracht. Zusätzlich nutzte die Gestapo das KZ Columbia aber auch für die Unterbringung der Häft­ linge, die bei einer der Razzien im Frühjahr 1935 in Berlin festgenommen wurden. Dabei han­ delte es sich nicht nur um politische Häftlinge, sondern gerade zu dieser Zeit oftmals um Homosexuelle, die nach der „Entdeckung" der Homosexualität in Kreisen der SA-Führung jetzt besonders scharf verfolgt wurden. Dies gehört auch in den Kontext der Verschärfung des § 175 des Strafgesetzbuches, die 1935 erfolgte. Im Frühjahr 1935 erschossen SS-Leute zwei Häftlinge, nach deren Tod die Berliner Justiz Ermittlungen einleitete. Die Einlieferung in das KZ Columbia sollte der am 14. März 1935 ver­ haftete Heinz Hoppe nur um wenige Tage überleben. Weil er angeblich die Wachmannschaften beschimpfte, die Scheiben seiner Zelle zerschlug und das Zelleninventar beschädigte, wurde er ständig gefesselt, so auch am Tag vor seinem Tod. Den weiteren Ablauf kann man so zusam­ menfassen: Ein gefesselter Häftling stürzt sich angeblich auf den stellvertretenden Komman­ danten, dieser verletzt ihn „lebensgefährlich, aber nicht absolut tödlich". Der so Verwundete stellt sich angeblich vier Stunden später gegen einen SS-Sanitäter, der ihn mit einem gezielten Herzschuß tötet. Diese derartig unglaubwürdige Darstellung löste dann auch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft aus. Nicht zuletzt, weil wenige Tage später, am 6. April 1935, Kurt Wirtz im KZ Columbia ermordet wurde, der hier auch als angeblicher Homosexueller inhaftiert war. Die Darstellung der Umstände seines Todes sind genauso unglaubwürdig wie bei Heinz Hoppe. Danach soll Kurt Wirtz mit einem Schemel die Füllung der Zellentür herausgeschlagen

383 haben und anschließend in eine Dunkelzelle verlegt worden sein. Hier soll er nach einem „Bericht" auf den SS-Mann losgegangen sein, „der ihn zur Ruhe mahnen" wollte: „Es hat den Anschein, als wolle er ihm [dem SS-Mann, d. V.] an den Hals springen. SS-Mann schießt zwei­ mal auf ihn. Nach 1. Schuß torkelt W., 2. Schuß tödlich." Es gab Ermittlungsverfahren, die allerdings in beiden Mordfällen eingestellt wurden.

Die Auflösung des KZ Columbia

Das Konzentrationslager Columbia war ein Ort, auf den Gestapo und SS ein besonderes Augenmerk hatten. Wer sich hier im nationalsozialistischen Sinne „bewährte", konnte einer Karriere in der perversen Welt der Konzentrationslager sicher sein. Karl Koch, Arthur Liebe- henschel, Max Koegel, Albert Sauer, Richard Baer — für sie alle war das KZ Columbia eine wichtige Zwischenstation ihrer terroristischen Karriere. Hier waren sie Vertreter jener Ideolo­ gien, deren menschen verachtendes Denken sich weit vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zeigt. Die menschliche Würde galt nichts mehr. Dies wird nicht nur an den Morden des Früh­ jahrs 1935 sichtbar, sondern auch in der scheinbaren Beruhigung der Verhältnisse im Lager in der Zeit danach. Stärker als das Bedürfnis der Gestapo, in Berlin ein großes zentrales Gefängnis für die Gefan­ genen des Geheimen Staatspolizeiamtes zu haben, war der Wille der nationalsozialistischen Führung, Großprojekte zu errichten, die nicht nur die angebliche Stärke des neuen Deutsch­ lands demonstrieren sollten, sondern die zugleich der Vorbereitung des Angriffskrieges dienen konnten. Zu diesen Großprojekten gehört auch der Ausbau des Flughafens Tempelhof. So ver­ wundert es nicht, daß der Inspekteur der Konzentrationslager, Theodor Eicke, in einem Brief an das Preußische Forstamt Sachsenhausen am 18. Juni 1936 über den Geländebedarf für das neue KZ Sachsenhausen als Begründung mitteilte: ,,c) Das Konzentrationslager ,Columbia', Berlin, wird am 1. Oktober 1936 gleichfalls aufgelöst. Die Baulichkeiten gehen zu diesem Zeitpunkt an das Reichsluftfahrtministerium über. Die Insassen des K.L. Columbia werden zum genannten Zeitpunkt ebenfalls im neuen KL Sach­ senhausen untergebracht. d) Die Militärbehörde ist mit dem Ersuchen an mich herangetreten, im A-Falle [Kriegsbeginn durch einen deutschen Angriff, d.V] einige Hundert staatsgefährliche Elemente in einem Kon­ zentrationslager in der Nähe Berlins unterzubringen. Ich habe hierfür das neue Konzentra­ tionslager Sachsenhausen vorgesehen." Die Baupläne für das KZ Sachsenhausen wurden nach einem Bericht von Werner Peuke im Häftlingsbüro des KZ Columbia projektiert; von hier aus wurden die Häftlinge nach Sachsen­ hausen gebracht, um dort unter „Bächen von Schweiß und Strömen von Blut" — so Werner Peuke — zusammen mit Häftlingen aus dem KZ Esterwegen das Lager Sachsenhausen aus dem Nichts zu errichten. Zu den letzten Häftlingen des KZ Columbia kann der Absender einer Postkarte gelten: Wer­ ner Pischke hatte die laufende Nummer 7806. Es ist ein weiterer Brief dieses Häftlings erhalten geblieben, der kurz darauf aus dem KZ Sachsenhausen geschrieben wurde. Werner Pischke hatte die niedrige Zugangsnummer 739. Damit wird auch dokumentiert, daß Sachsenhausen eine direkte Nachfolgeeinrichtung des KZ Columbia war.7 Am 16. November 1936 setzte ein Fernschreiben des Geheimen Staatspolizeiamtes den Schlußpunkt unter die Geschichte des KZ Columbia. Lapidar hieß es dort: „Das Konzentra­ tionslager Columbia in Berlin-Tempelhof ist mit 5. November 1936 aufgelöst worden."

384 Nach dem 1936 erfolgten „ersten Spatenstich" fand das Richtfest auf dem Berliner Zentral­ flughafen Tempelhof am 4. Dezember 1937 statt. Wie eine offensichtlich im Zusammenhang mit dem Weiterbau entstandene Foto-Dokumentation8 zeigt, bestand der Gebäudekomplex zumindest bis zum 3. März 1938. Auf derein halbes Jahr später am 15. August 1938 gemachten Aufnahme ist das Columbia-Haus nicht mehr zu sehen. In der Zwischenzeit ist der Abriß der Gebäude des KZ Columbia erfolgt, in denen in vier Jahren vermutlich zehntausend Häftlinge inhaftiert, gefoltert und gequält wurden sowie der Willkür ihrer Bewacher ausgesetzt waren.

Häftlinge

Es kann angenommen werden, daß im Columbia-Haus insgesamt etwa 8000 bis 10 000 Häft­ linge gefangen gehalten worden sind, von denen bis 1989 für die gemeinsam mit Johannes Tuchel verfaßte Publikation mehr als 450 Namen ermittelt werden konnten. Nach der Wieder­ vereinigung sind durch die nunmehr zugänglich gewordenen Archive viele weitere Namen bekannt geworden, so daß derzeit fast 700 Häftlinge namentlich erfaßt sind. Informationen über einige Häftlinge gab es schon sehr früh, z. B. durch die Publikation von Berthold Jacob („Warum schweigt die Welt"), Karl Billinger („Schutzhäftling 231") oder Wer­ ner Hirsch („Hinter Stacheldraht und Gitter"). Nicht zu vergessen sind die Sopade-Berichte.^ Weitere Hinweise auf einzelne Häftlinge fanden sich in Archiven wie Schriftstücken der Poli­ zei- und Justizverwaltung usw. Dazu gehört z. B. die Häftlingskladde der Prinz-Albrecht- Straße 8, die jetzt als Kopie in der Ausstellung „Topographie des Terrors" eingesehen werden kann. Die Liste der namentlich identifizierten Häftlinge umfaßt viele, von denen wenig mehr als der Name bekannt ist, aber auch eine Reihe prominenter Häftlinge. Zu ihnen gehören neben den bereits genannten: Leo Baeck, Theodor Duesterberg, Hermann Duncker, Werner Finck, Wal­ ter Gross, Theodor Haubach, Ernst Heilmann, , Robert M. W Kempner, Franz Neumann, Werner Seelenbinder und Ernst Engelberg.

Geschichte eines Denkmals

Im Rahmen der vom Bezirksamt Tempelhof veranlaßten Forschungsarbeiten für das „Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus aus dem Bezirk Tempelhof" • ist mit der seit 1987 im Heimatmuseum Tempelhof gezeigten Dauerausstellung wieder die Erinnerung an das „Columbia-Haus" geweckt worden. Um an das historische Geschehen zu erinnern, hat am 15. Juni 1988 die Tempelhofer Bezirksverordnetenversammlung dem Antrag der SPD-Frak­ tion zugestimmt, an der Stelle des früheren Columbia-Hauses eine Gedenktafel bzw. ein Mahnmal für die Verfolgten der nationalsozialistischen Diktatur zu errichten. Nach einer begrenzten Ausschreibung des Bezirksamtes Tempelhof fand die Idee von Georg Seibert die Zustimmung der Jury, ein „Haus" aufzustellen. Bedingt durch die Beschaffenheit des Ortes, hatte er ein Mahnmal konzipiert, das zur Straßenseite hin abgeschirmt ist und sich zur beruhig­ ten Seite hin öffnet. Mit plastischen Zitaten für Teilstücke eines Hauses — Außenwand, Trenn­ wände, Giebelwand und Dach — wird assoziativ auf ein nicht mehr vorhandenes Haus hinge­ wiesen. Enggestellte Trennwände verweisen auf Zellen des Gefängnisses und damit auf „Gewaltstrukturen in diesem Haus". Durch eine Inschrift in der inneren Giebelwand wird auf die Geschichte des Columbia-Hauses hingewiesen.11 Nach einer Ortsbegehung mit den zu

385 beteiligenden Behörden wurde aber aufgrund der geäußerten „verkehrstechnischen" Beden­ ken die Aufstellung des Denkmals hinausgeschoben. Schließlich wurde es auf der gegenüber­ liegenden Seite des Columbiadamms - Ecke Golßener Straße - aufgestellt und am 3. Dezem­ ber 1994 enthüllt. Anschrift des Verfassers: Dr. Kurt Schilde, Karlsgartenstraße 16, 12049 Berlin Anmerkungen

1 Vgl. Kurt Schilde, Vom Columbia-Haus zum Schulenburgring. Dokumentation mit Lebensge­ schichten von Opfern des Widerstandes und der Verfolgung von 1933 bis 1945 aus dem Bezirk Tempelhof. Mit einem Geleitwort von Klaus Wowereit. Herausgegeben vom Bezirksamt Tempel­ hof von Berlin. Berlin 1987; ders.: „Fragen Sie nach dem Columbia-Haus!", in: Die Mahnung Nr. 5/1988. (Nachdruck unter dem Titel „Das Columbia-Haus in Berlin war ein gefürchtetes KZ", in: Aufbau vom 17. Juni 1988, S. 24). 2 Kurt Schilde und Johannes Tuchel, Columbia-Haus. Berliner Konzentrationslager 1933—1936. Mit einem Geleitwort von Klaus Wowereit. Herausgegeben vom Bezirksamt Tempelhof von Ber­ lin. Berlin 1990. 3 Architekten-Verein zu Berlin und Vereinigung Berliner Architekten (Hrsg.): Berlin und seine Bauten. Band II und III (Der Hochbau). Berlin 1896, S. 388 und 400. 4 Vgl. Johannes Tuchel und Reinold Schattenfroh, Zentrale des Terrors. Prinz-Albrecht-Straße 8. Das Hauptquartier der Gestapo. Berlin 1987. 5 Karl Billinger (d. i. Paul W. Massing), Schutzhäftling Nr. 880. Aus einem deutschen Konzentra­ tionslager. Roman. München 1978. 6 Vgl. Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspek­ tion der Konzentrationslager 1934-1938". Boppard 1990. 7 Vgl. Schilde, Vom Columbia-Haus zum Schulenburgring. Berlin 1987, S. 65 f. 8 Archiv der Berliner Flughafengesellschaft. 9 Berthold Jacob, Warum schweigt die Welt? Paris 1936; Karl Billinger (d. i. Paul W. Massing), Schutzhäftling Nr. 880. Aus einem Konzentrationslager. Roman. München 1978. Werner Hirsen, Hinter Stacheldraht und Gitter. Erlebnisse und Erfahrungen in den Konzentrationslagern und Gefängnissen Hitlerdeutschlands. Zürich, Paris 1934. 10 Kurt Schilde, Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus aus dem Bezirk Tempelhof. Herausgegeben vom Bezirksamt Tempelhof von Berlin. Berlin 1987 (1. Auflage), 1988 (1. Ergänzung), 1989 (2. Ergänzung). 11 Kurt Schilde: „Ausschreibung Columbia-Haus. Begrenzte Ausschreibung für die Errichtung eines Mahnmals am früheren Standort des wiederentdeckten Konzentrationslagers Coloumbia", in: Kunst am Bau. Informationsdienst des BBK Berlins Nr. 32 (Mai) 1990, S. 10-14.

Deutsch-russisches „Museum Berlin-Karlshorst" Von Gabriele Camphausen

In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 wurde in dem ehemaligen Offizierskasino in Berlin- Karlshorst die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht unterzeichnet. Am 8. Mai 1995, zum 50. Jahrestag der Kapitulation, wird in eben diesem Gebäude das Museum Berlin-Karlshorst neu eröffnet. Thema des Museums ist die Geschichte der deutsch-sowjeti­ schen Beziehungen, die in entscheidendem Maße von dem Krieg 1941 bis 1945 geprägt ist.

386 Außenansicht des ehemaligen Offizierskasinos der Festungspionierschule, nunmehr Hauptquartier der 5. sowjetischen Stoßarmee am 8. Mai 1945, vor der Unterzeichnung der Kapitulation. Foto: Melnik, Privatbesitz.

Bereits von November 1967 bis Mai 1994 beherbergte das Gebäude ein Museum. Es handelte sich um eine Einrichtung der sowjetischen Streitkräfte, nämlich um das „Museum der bedin­ gungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands im Krieg 1941 bis 1945". Dieses Museum richtete sich an die Soldaten der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, darüber hinaus aber auch an Besucher aus der DDR, an Touristen aus dem Ausland und nicht zuletzt an die Angehörigen der westalliierten Truppen. Im Mittelpunkt der musealen Darstellung stand der Kampf der sowjetischen Armee gegen das nationalsozialistische Deutschland bis zur Eroberung der damaligen Reichshauptstadt Berlin. Ziel der Präsentation war es, ein festgefüg­ tes Bild vom heldenhaften Kampf und glorreichen Sieg der Sowjetunion zu vermitteln, hinter das alle Verluste zurücktraten. Die politischen Umwälzungen des Jahres 1990 — der Abschluß des 2+4-Vertrages und des Vertrages über den Abzug der sowjetischen Truppen — zeitigten auch für das bisherige Militär­ museum in Berlin-Karlshorst notwendige Veränderungen. Verhandlungen zwischen der deut­ schen und der sowjetischen Seite, das Museum in Karlshorst auf der Grundlage einer neuen Konzeption in eine deutsch-sowjetische Gemeinschaftsinstitution umzuwandeln, führten zu einem positiven Ergebnis. Eine paritätisch besetzte Expertenkommission entwickelte bis Ende 1991 eine neue Rahmenkonzeption, ein daraufhin eingesetzter Arbeitsstab realisierte die kon­ krete Detailarbeit, und im Mai 1994 schließlich wurde als Träger des künftigen Museums der (nach dem Ende der UdSSR nunmehr) deutsch-russische Verein „Museum Berlin-Karlshorst e.V." gegründet. Neben dem Betrieb des Museums hat der Verein die Aufgabe, Wechselaus­ stellungen, Seminare und andere Veranstaltungen zu organisieren.

387 Die Vertreter der Alliierten (Tedder, Shukow, Spaatz, Lattre de Tassigny) im sog. Kapitulationssaal am Abend der Unterzeichnung. Foto: Melnik, Privatbesitz

Der Versuch, mit der Gründung eines gemeinsamen deutsch-russischen Museums neue Wege zu beschreiten, traf keineswegs nur auf positive Reaktionen — die Neukonzipierung des Karls- horster Museums rief vielmehr auch Bedenken und Kritik hervor. So wurde die Befürchtung laut, hier werde eine nachträgliche Geschichtsbereinigung vorgenommen, und man forderte statt dessen, das frühere sowjetische Militärmuseum als Zeitzeugnis, gleichsam als ,Museum eines Museums', zu bewahren. Die Erarbeitung einer neuen Konzeption für das Museum Ber­ lin-Karlshorst, die von der deutschen wie von der sowjetischen bzw. russischen Seite für unab­ dingbar erachtet wurde, beruhte hingegen auf den folgenden Überlegungen. Zum einen erkannte man die Gefahr, daß künftige Besucher die Form und den Inhalt eines konservierten sowjetischen Museums nicht mehr einzuordnen wüßten und lediglich als unzugängliches Exo- tikum wahrnähmen. Des weiteren aber sah man die einzigartige Chance, mit diesem neuen Museum der Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen und insbesondere der Ausein­ andersetzungen mit dem Krieg, seinen Ursachen und weitreichenden Folgen einen eigenen Ort widmen zu können. Das künftige Museum Berlin-Karlshorst wird Bisheriges und Neues miteinander zu verbinden suchen. So werden Objekte und Passagen aus der früheren Ausstellung gezeigt und der histori­ sche Kapitulationssaal, das Büro von Shukow und das Diorama „Sturm auf den Reichstag" bewahrt. Eine Erneuerung wird stattfinden durch die Erweiterung des thematischen Rahmens und die Hinzunahme wichtiger Aspekte, die bislang dem Diktat der klassischen militär- und siegzentrierten Perspektive zum Opfer gefallen waren. Außerdem wird die neue Ausstellung in bewußt nüchtern-distanziertem Ton gehalten, um den Besuchern eine selbständige Verarbei­ tung und Urteilsfindung zu ermöglichen.

388 Zu den erwähnten wichtigen, bislang jedoch vernachlässigten Themen zählen beispielsweise die ideologischen Voraussetzungen und Ziele der deutschen Kriegspolitik gegenüber der Sowjetunion. Das Konglomerat aus rassistischen, antikommunistischen, kolonialen und öko­ nomischen Motiven vermochte die unterschiedlichsten Gruppierungen in Deutschland anzu­ sprechen und somit einen weitreichenden Konsens über die Rechtmäßigkeit des Krieges gegen die UdSSR herbeizuführen. Besondere Aufmerksamkeit in der künftigen Ausstellung gebührt jedoch den Betroffenen und Opfern der deutschen Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik: der jüdischen und nichtjüdischen sowjetischen Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten, den sowjetischen Kriegsgefangenen und den Zwangsarbeitern. Eine eigens für das neue Museum zusammengestellte EDV-Installation wird zum ersten Mal einen Überblick über die Internierungs- und Arbeitslager sowie die Orte der Vernichtung in den von den Deutschen besetzten Gebieten der UdSSR vermitteln und die Dimensionen der damals praktizierten Selektions- und Dezimierungspolitik erkennbar machen. Als ein Fallbeispiel deutscher Krieg­ führung gegenüber den sowjetischen Siedlungszentren wird die Belagerung Leningrads aufge­ zeigt. Weitere Themen, die nunmehr einbezogen werden, sind der Kriegsalltag der Soldaten beider Seiten jenseits jeglicher heroischer Stilisierung, das Leben der sowjetischen Zivilbevöl­ kerung im sogenannten Hinterland, die Frage der Kollaboration sowjetischer Bürger mit der deutschen Besatzungsmacht und nicht zuletzt das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung angesichts der Exzesse am Ende des Krieges. Neu ist auch die Berücksichtigung der Vorge­ schichte und der Konsequenzen des Krieges, d. h. die Darstellung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in den Jahren 1917 bis 1941 sowie der Nachkriegsbeziehungen zwischen der DDR und der UdSSR einerseits und der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR ande­ rerseits. Große Bedeutung besitzt hierbei der Faktor Wirtschaft. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen weisen eine äußerst wechselvolle Geschichtsbilanz auf, mit historisch-politischen Belastungen und Schulden, deren Verarbeitung sich bis in unsere Gegenwart hineinzieht. Die Schaffung eines gemeinsamen Museums zur Auseinandersetzung mit gerade dieser Vergangenheit vermag im Sinne einer positiven Normalisierung der beider­ seitigen Beziehungen ein wichtiges Signal zu setzen.

Anschrift der Verfasserin: Dr. Gabriele Camphausen, Museum Berlin-Karlshorst, z. Hd. Deutsches Historisches Museum, Windscheidstraße 18, 10627 Berlin

Rezensionen

Wolfram Adolphi, Profile aus dem Norden Berlins — Bürger unserer Zeit — Zwischen Tegel und Oranienburg, Bd. I., Berlin 1994, 402 Seiten. Das Buch ist als Kontaktmöglichkeit für Geschäftsleute in den früher getrennten Bereichen von Berlin (West) und dem brandenburgischen Umland in der einstigen DDR gedacht und unternimmt etwas Neues: die Reihe will das persönliche und kulturelle Gesicht einer Region widerspiegeln, wie der Ver­ fasser im Vorwort angibt. In 200 Kurzporträts werden Mitbürger vorgestellt, denen ein allgemeines Engagement nachgesagt wird und die durch ihr Tun die nachgezogenen Profillinien vertiefen. Der geographische Viertelkreis der Oberhavellandschaft zwischen Tegeler See und dem Rhinluch eignet sich zu einem solchen Brückenschlag zwischen Ost und West. Hier wird geschildert, wie die Porträtier-

389 ten zu dem wurden, was sie jetzt sind. Daraus entsteht ein Bild einstiger und gegenwärtiger Zustände aus Kultur und Wirtschaft, Handel und Handwerk und kommunaler bzw. sozialer Tätigkeit. Dieser Bogenschlag erfolgte vom Osten her. Der Porträtist geht unvoreingenommen und unkompliziert auf Menschen und Dinge zu, man merkt ihm die Freude an seinen Neuentdeckungen an. Jeder Mensch bietet ihm das ganze Leben in seiner Vielfalt. So wie alte Handwerkerstrukturen noch immer sichtbar sind, werden auch die alten Industrieorte Hennigsdorf, Veiten, Oranienburg und Tegel/Borsigwalde als alte Zentren bewußt. — Bürger aus dem einstigen Osten sind in der Überzahl, ihre alten Handwerksbetriebe — die DDR-Wirtschaft über­ lebend — sind am stärksten vertreten. Vielfach lassen sich die Übergänge von den LPGs und PGHs zu Privatbetrieben nachvollziehen, und hinter den Biographien ihrer Inhaber treten ganze Familienge­ schichten über zwei bis drei Generationen ins Bild. Sichtbar wird auch die andere Art der Berufsfin­ dung und -ausübung, wie sie in der alten DDR üblich war. Ferner tritt das Sichdurchschlagen im All­ tag hervor. Die Bürgermeister von Reinickendorf, von Veiten und Hennigsdorf, von Marwitz und Bir­ kenwerder, der Landrat von Oranienburg wurden befragt. Lehrer und Pfarrer und Gemeindekräfte spielen eine bedeutende Rolle mit neuen pädagogischen und sozialen Konzepten; überall ist der Wunsch spürbar, viel Altes ins Neue einzubringen. In die Lebenswege hinein spielen die großen Ereignisse wie die Zerstörung Oranienburgs durch Bomben, das Kriegsende und die Wende. Der Verfasser hat jeden der Dargestellten intensiv befragt und in der Kürze das Persönliche und Wesentliche formuliert. So ist hier das Zusammenwachsen von Ost und West beispielhaft dargestellt: Berlin und sein Hinterland sind wieder eine Region geworden. Das Handwerk ist mit zumeist mittel­ ständischen Betrieben vertreten: Kraftfahr- und Transportwesen, Autotechnik und -reparatur, Land­ maschinen und neue Schweiß- und Gußtechnik, Schmiedemeister und die Kunstgewerbe der Kera­ mik. Ein Marktmeister kommt zu Wort, ferner ein Buchantiquar, ein Holzrestaurator, der Bäckerei­ betrieb für Spezialbrot und der Chef einer Nobelgastronomie. Eine Neuentdeckung für Berliner ist, wie stark das alte Gewerbe der Kachel- und Ofenherstellung in Veiten wiederbelebbar ist. Alte Struk­ turen sind noch vorhanden, sei es in der Herstellung wie im Transport auf der Ruppiner Chaussee, wo es in Schulzendorf noch den alten Ausspann für den Pferdewechsel der Kachelwagen gibt. Jedem hat der Verfasser höchst Interessantes abgewonnen. Manche haben ihr Anliegen nach langer Zeit darstellen können — wie der Lehrer, der in Bergfelde im Todesstreifen wohnte und zu einem seiner Geburtstage seine Schüler auf der Straße empfangen mußte, da sie ihn dort nicht besuchen durften. So ist das Buch voller Anregungen für die Heimatgeschichte. Da es im Handel nicht erhältlich ist, hat der Autor Dr. Adolphi dem Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, ein Exemplar übereignet, wofür ihm Dank gesagt sei. Christiane Knop

Heike Naumann, Der Friedrichshain — Geschichte einer Berliner Parkanlage, Berlin: Heimatmu­ seum Friedrichshain 1994, 47 Seiten, 8 DM. Das Büchlein der rührigen Leiterin des Friedrichshainer Heimatmuseums informiert ausführlich über die Geschichte und das Schicksal dieses Berliner Volksparks. Wir lernen, daß er mehr als nur eine grüne Oase für seine Anwohner ist: Einhundertfünfzig Jahre Stadtgeschichte spiegeln sich in ihm wider und sind beim Spaziergang erlebbar. Lennes 1840 vorgelegter Plan für „Schmuck- und Grenz­ züge von Berlin mit nächster Umgegend" sah vor, die Stadt mit einem grünen Gürtel zu umgeben. 1848 konnte die von dessen Schüler und Mitarbeiter Gustav Meyer einem englischen Landschafts­ park nachempfundene, zu Ehren Friedrichs des Großen so benannte Parkanlage als ein Teil dieses Konzeptes fertiggestellt werden. Der Friedrichshain war das östliche Gegenstück zum Tiergarten. War er ursprünglich als Ort vornehmen Spazierengehens gedacht, zeigte sich bald, daß — entspre­ chend der sich in den Gründerjahren verändernden Zusammensetzung der Stadtbevölkerung — auch andere Bedürfnisse zu befriedigen waren: Die Parkbesucher wollten Sport treiben, mit ihren Kindern spielen, auf dem Rasen liegen, in Gaststätten sitzen, durch musikalische sowie künstlerische Darbie­ tungen unterhalten werden und sich in Pflanzengärten botanisch fortbilden. Diese unterschiedlich­ sten Bedürfnisse führten schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Umgestaltungen durch den nunmehr als Berliner Gartendirektor wirkenden Schöpfer der Anlage. Die bedeutendste Ausschmückung des Parks ist der von Baustadtrat Ludwig Hoffmann entworfene Märchenbrunnen (1913). Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß sich der Kaiser höchstpersönlich um diesen Brunnen kümmerte. Er sorgte durch seinen fürsorglichen Einspruch dafür, daß die Märchenfiguren

390 im Gegensatz zur ursprünglichen Planung in kindlicher Reichweite aufgestellt wurden! Wir werden weiterhin ausführlich über das Krankenhaus Friedrichshain, den sehenswerten Friedhof der Märzge­ fallenen von 1848 und den Bau und die Funktion der beiden großen Bunker während des Zweiten Weltkriegs informiert, deren überwachsene Trümmer diesen Park heute als citynahes Wintersportge­ biet erscheinen lassen. Das alles — einschließlich einiger aufdringlicher Denkmäler aus der DDR-Zeit — gehört zur Geschichte dieses Volksparks im echten Sinne des Wortes. Die Gartendenkmalpflege wird das bei eventuellen Bemühungen um ein ,Facelifting' zu berücksichtigen haben. Die Autorin wird uns am 8. April sachkundig durch den Park führen (vgl. Veranstaltungsprogramm). Manfred Uhlitz

Aus den Berliner Museen

Abgußsammlung antiker Plastik (FU): „Standorte". Diese von Studenten des Seminars für Klassi­ sche Archäologie der Freien Universität unter der Leitung des Kustos der Abgußsammlung, Klaus Stemmer, gestaltete Schau beschäftigt sich mit der Frage, wo und wozu Statuen in der Antike aufge­ stellt wurden. Man wandelt durch einen unübersichtlichen Skulpturenwald, wie er an manchen Orten der Antike vorhanden gewesen sein mag. Öffentliche Plätze, Nekropolen oder Heiligtümer waren die beliebtesten Aufstellungsorte für plastische Werke. Schloßstraße 69 b (Charlottenburg). Noch bis 28. April. Do-So 14-17 Uhr.

Altes Museum: „Munch und Deutschland". Mit dieser Ausstellung stellt die Nationalgalerie eines der faszinierendsten Kapitel der Kunstgeschichte im Wilhelminischen Kaiserreich vor. Der Ort der Ausstellung — das Alte Museum — liegt zudem in unmittelbarer Nähe des ursprünglichen Ortes des Geschehens, wenn wir den skandalumwitterten Aufstieg der Munch-Malerei aus historischer Sicht nachvollziehen. Noch bis zum 24. April 1995. Edvard Munchs Malerei war zuerst als französisch und undeutsch verschrien, dann war es die unprä­ tentiöse und unmittelbare Darstellung seiner Themata, die zu Anfeindungen führte. Diese Bilder zu Liebe, Leidenschaft, Angst, Eifersucht und Tod, die gleichsam kahl, ohne jede allegorische Verklei­ dung daherkamen, wurden als formlos, brutal, roh und gemein beschrieben. Als „Lebensfries" von Munch selber immer wieder anders und neu zusammengeordnet, bilden sie, heute so aktuell wie je, das Zentrum seines malerischen CEuvres und den ersten großen Höhepunkt dieser Ausstellung. Es folgen, nun bereits als Fries konzipiert, die Gemälde zur Ausschmückung der Kammerspiele Max Reinhardts und die ursprünglich für das Kinderzimmer im Hause des Lübecker Augenarztes Dr. Max Linde in Auftrag gegebenen Bilder. Ein weiterer Akzent dieser Ausstellung liegt in den Bildnissen, die Munch von seinen Freunden und Förderern gemalt hat. Neben dem bereits erwähnten Dr. Max Linde und seinen Kindern sind hier August Strindberg, Julius Meier-Graefe und der Pole Stanislaw Przyby- szewski, die sich gern im Weinhaus „Zum Schwarzen Ferkel" trafen, sowie die monumentalen Por­ träts von Harry Graf Kessler und Walter Rathenau zu nennen. Zudem zeigt die Ausstellung Stadtan­ sichten und Landschaftsbilder aus Thüringen, Berlin und Warnemünde. Die Ausstellung wäre allerdings unvollständig, stellte sie nicht auch das künstlerische Umfeld dar, in dem Munch gearbeitet hat. Am Anfang können wir die für Munch entscheidenden Werke des deut­ schen Symbolismus, Bilder und Graphiken von Max Klinger, Arnold Böcklin, Hans von Marees, Ludwig von Hofmann und Walter Leistikow, am Ende hingegen die Kunst des Expressionismus, Bil­ der und Graphiken von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff sehen. Anne Lemke-Junker

Am gleichen Ort, im Obergeschoß, ist noch bis 25. Juni 1995 die Ausstellung „Kleinplastiken des 19. Jahrhunderts aus der Nationalgalerie" zu sehen. Die hier gezeigten Kleinplastiken sind im 19. Jahrhundert und in den ersten beiden Jahrzehnten unse­ res Jahrhunderts entstanden. Die Ausstellung gewährt einen Einblick in einen im allgemeinen nicht ausgestellten Sammlungsbestand der Nationalgalerie. Gezeigt werden mehr als siebzig Werke, die zumeist in Bronze ausgeführt sind. Sie vermitteln einen Überblick über die Entwicklung der Skulptur von etwa 1790 bis zur Zeit des Ersten Weltkrieges.

391 Am Beginn der chronologisch aufgebauten Ausstellung stehen kleine Werkkomplexe des deutschen Klassizismus, insbesondere Werke von Johann Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch. Durch diese zwei Meister, die mit ihrem reichen Schaffen als maßgebliche Bildhauer des Klassizismus über Deutschlands Grenzen hinweg ausstrahlten, gewann die deutsche Skulptur europäischen Rang. Der Bogen spannt sich von hier über die realistische Plastik der Jahrhundertmitte bis hin zu den Künstlern des Neubarocks, wie etwa zu dem Berliner Reinhold Begas. Die realistische Kunst ist durch den französischen Hauptmeister der Tierplastik, Antoine-Louis Barye, vertreten. Ihm folgten in Deutschland Künstler wie Wilhelm Wolff und Theodor Kaüde mit bewegten Kompositionen und neuartigen, mitunter dramatischeren Sujets, während ihre Zeitgenossen — etwa die Brüder Carl und Gustav Blaeser — in der Tradition des Klassizismus qualitativ hochwertige Bildnisse modellierten. Ihnen allen eignet eine geradezu perfekte technische Ausbildung, die sich an den hier gezeigten Stük- ken gut erkennen läßt. Gleiches läßt sich an den grandiosen Schöpfungen und Entwürfen der neubarocken Bildhauer (Rein­ hold Begas, Gustav Eberlein) erkennen; und noch die sezessionistischen Künstler der Jahrhundert­ wende wie August Kraus und August Gaul zehren von dieser Tradition. Die Ausstellung zeigt neben einigen konventionellen Bildhauern, wie Stephan Sinding, vor allem die bis heute anregenden internationalen Wurzeln der Moderne, die mit Künstlern wie Constantin Meu- nier, George Minne, Aristide Maillol, mit Bildwerken der impressionistischen Maler Edgar Degas und Auguste Renoir gut dokumentiert sind. Neben diesen berühmten Namen finden sich einige Wiederentdeckungen. So waren Jules Dalou, Alexandre Falguiere, Stephan Sinding und Hermann Ernst Freund einst weithin bekannte Bildhauer. Manche ihrer in der Nationalgalerie bewahrten Werke gelangen mit dieser Ausstellung nach Jahr­ zehnten wieder oder gar überhaupt erstmals an die Öffentlichkeit. In der Ausstellung sind die wichtigsten Bereiche der Kleinplastik vertreten: Porträt, Statuette, Denk­ malreduktion, Tierplastik. Das Spektrum reicht von der Sammlerbronze bis zu Nachgüssen von Wachsmodellen. An diesen Arbeiten läßt sich die Vielfalt künstlerischer Aufgaben und bildhaueri­ scher Handschriften erkennen. Die Intimität des kleinen Formates bietet auch dem Laien einen leich­ ten Zugang zur Skulptur jenes Jahrhunderts, das die kunstgeschichtlichen Entwicklungen der Moderne vorbereitete. Die Ausstellung wurde bereits an verschiedenen Orten in Deutschland gezeigt. Doch gegenüber allen vorangegangenen Stationen unterscheidet sich die Berliner Präsentation insofern, als hier erstmals auch einige Gemälde hinzugefügt wurden, die das Wechselverhältnis zwischen Skulptur und Malerei exemplarisch belegen können. Zudem wurden, abweichend vom Katalog, auch Arbeiten in Gips ein­ bezogen, die insofern als ganz besonders authentisch gelten dürfen, als sie den Arbeitsprozeß des Künstlers, der im Atelier mit solchen Gipsmodellen Alternativen ausprobierte, genau dokumentie­ ren. Anne Lemke-Junker Am Lustgarten in Berlin-Mitte.

Noch bis zum 5. Juni 1995 zeigen das Alte Museum und das Kunstforum in der Grundkreditbank eine sehr sehenswerte Schau von Museumsgegenständen, die seit 1975 aus Mitteln der Stiftung Deut­ sche Klassenlotterie erworben wurden.

Bauhausmuseum: Vor vier Jahren zeigte das Deutsche Architektur-Museum Frankfurt am Main die geistigen Höhenflüge von siebzehn Architektenbüros zur Gestaltung der Berliner Mitte. In den ver­ gangenen Jahren vollzog sich der Wandel zur konkreten Ausführung der Pläne in vertrauten Baufor­ men und innerhalb gewohnter Straßenführungen. Eine neuerliche Ausstellung des gleichen Museums beschäftigte sich mit dem Thema, wie der ursprüngliche Ideen-Sprudel innerhalb eines Gerüstes von Rahmenbedingungen zu greifbarem Bauen wurde. Diese Schau ist nun in das Berliner Bauhaus gelangt. 28. April bis 30. Juli 1995. Mi-Mo 10-17 Uhr.

Berliner Dorfmuseum: „Von Holzwürmern, Zimmerochsen und anderen Gewerken", traditionelle Holzberufe stellen sich vor. Von Ende Mai 1995 bis Frühjahr 1996. Alt Marzahn 31. Di-So 10-18 Uhr. Zur Zeit befinden sich in diesem Museumsgebäude auch das Friseurmuseum und das Hand­ werksmuseum mit Sonderausstellungen.

392 Berlin Museum: Schloß Friedrichsfelde: „Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts", Bestände des Berlin Museums für das künftige Stadtmuseum Berlin. Etwa 200 Möbel, Fayencen und Porzellane, Gläser und Silberschmie­ dewerke sowie Gemälde und Skulpturen. Verlängert bis 31. Dezember 1995. Am Tierpark 125. Di-So, Uhrzeit: Anfrage 5 13 8141. Ephraim-Palais: „Berliner Malerei von Blechen bis Hofer", 130 Gemälde des künftigen Stadtmu­ seums. Verlängert bis 31. Dezember 1995. „Vom Hacksilber zur DM", Münzentwicklung im brandenburgisch-berlinischen Raum — von den Anfängen bis zum gemeinsamen Prägebuchstaben ,A'. Bis Mitte Mai Poststraße 16. Di—So 10—18 Uhr. Jüdisches Museum, z. Z. im Martin-Gropius-Bau: „Jacob Steinhardt — der Prophet", Gemälde, Druckgraphik, Zeichnungen. Noch bis 30. April 1995. Stresemannstraße 110. Di—So 10—20 Uhr. Erweiterungsbau des Berliner Museums in der Lindenstraße: „Überleben in Sarajevo — Wie eine Jüdi­ sche Gemeinde ihrer Stadt half, Fotografien von Edward Serotta. 2. Mai bis 4. Juni 1995. Di—So 10-18 Uhr. Museum Berliner Arbeiterleben: „Manöver Schneeflocke", Brigadetagebücher 1960 bis 1990. Huse- mannstraße 12. Di-So 10-18 Uhr. Knoblauchhaus: „Möbel und Gemälde der Biedermeierzeit", aus den Sammlungen des Berlin Mu­ seums und des Märkischen Museums. Verlängert bis August 1995. Poststraße 23. Di—So 10—18 Uhr. Bezirkschronik Hellersdorf: Aus Anlaß des 650-Jahr-Jubiläums von Mahlsdorf (s. Beitrag „650 Jahre Mahlsdorf" im nächsten Heft) hat der dortige Heimatverein einen hübschen kleinen Postkar­ tenkalender zum Preis von DM 7,50 herausgebracht (Bestellung: Herr Schmidt, Neue Grottkauer Straße Nr. 16, 12619 Berlin, Telefon 5 6172 25). 8. April 1995, 16 Uhr: Eröffnung der Ausstellung „Ich habe keinen Frühling so genossen ...", im Heimatmuseum Hellersdorf, Hellersdorfer Straße 173. Voraussichtlich am 25. August 1995, 17 Uhr: Eröffnung der Ausstellung „650 Jahre Mahlsdorf" im Heimatmuseum Hellersdorf, Hellersdorfer Straße 173, Telefon 99 20-4170. Deutsches Historisches Museum: „Bilder und Zeugnisse der Deutschen Geschichte". Seit der Grün­ dung 1987 hat das DHM weltweit nach wertvollen, seltenen und originellen Zeugnissen unserer Geschichte gefahndet und diese systematisch erworben. Aus einem Fundus von etwa zehntausend Objekten ist die genannte Leistungsschau siebenjähriger Aufbauarbeit geschöpft. Mit 2200 Ausstel­ lungsstücken aus sechs Jahrhunderten handelt es sich um die bisher größte Schau des DHM. Die Aus­ stellung läuft noch bis zum Ende des Jahres. Zeughaus. Täglich außer Mi 10—18 Uhr. Gipsformerei: Die Gipsformerei veranstaltet an jedem ersten Mittwoch im Monat um jeweils 10 Uhr kostenlose Führungen. Gezeigt werden die Werkstätten der Former und Maler, die Modell­ halle und das Formenlager in dem hundertjährigen Gebäude der 175 Jahre alten Gipsformerei. Die nächsten Termine sind: 5. April, 3. Mai, 7. Juni. Heimatmuseum Charlottenburg: „Eier, Hasen, Eierbecher. Eine OsteraussteUung". Noch bis 23. April 1995. „Charlottenburg: Ein Ort für Frauen. Zu Leben und Werk von Hedwig Heyl, Adele Schreiber-Krie­ ger, Else Ury und Jeanne Mammen." Noch bis 30. April 1995. „Sophie Charlotte zugeeignet. Eine Kunstinstallation anläßlich des 300jährigen Jubiläums vom Schloß Charlottenburg von Niklas Trüstedt." 12. Mai bis 30. Juni 1995. Schloßstraße 69. Di-Fr 10-17 Uhr, So 11-17 Uhr. Heimatmuseum Friedrichshain: „Ausgangspunkt Chaos — Friedrichshains Neubeginn". Ausstel­ lungseröffnung am 7. Mai 1995. Anläßlich des 50. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges zeigt auch das Heimatmu­ seum Friedrichshain 1995 eine Ausstellung, die an die schweren Bedingungen erinnert, unter denen neu begonnen wurde. Friedrichshain gehörte zu den am stärksten von den Zerstörungen betroffenen Berliner Bezirken. Anhand von Dokumenten wird diese schwere Zeit des Neubeginns veranschau­ licht. Sie geben wieder, wie versucht wurde, das Leben zu normalisieren, es in Gang zu setzen. Die

393 Weisungen der sowjetischen Kommandantur sowie die darauf aufbauenden Anordnungen der sich bildenden Stadtbezirksverwaltung Friedrichshain lassen darüber hinaus generelle Rückschlüsse auf die sowjetische Berlin-Politik in den ersten Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation vom 8. Mai 1945 zu. Diese Dokumente sprechen für sich. Sie sind nach Sachgebieten gruppiert und werden durch einen Einleitungstext mit verallgemeinernden Angaben begleitet. Ergänzt wird dieses Material durch Aussagen von Zeitzeugen, die ihre persönliche Situation beschreiben. Heike Naumann Soeben erschienen: „Historische Ansichten aus Friedrichshain — Bildpostkarten von 1840 bis 1940", im Heimatmuseum zum Preis von 20 DM erhältlich. Lichtenberger Straße 41. Öffnungszeiten erfra­ gen: Telefon 2 79 68 75. Heimatmuseum Neukölln: „Inventur — Neuköllner Nachkriegsgeschichte: 1945—1995". Noch bis Mai 1995. Ganghoferstraße 3-5. Mi 12-20 Uhr, Do-So 11-17 Uhr. Heimatmuseum Reinickendorf: „Ludwig Lesser (1869—1957)". Erster freischaffender Garten­ architekt in Berlin und seine Werke im Bezirk Reinickendorf. 10. Mai bis 13. August 1995. Alt- Hermsdorf 35. Mi-So 10-18 Uhr. Heimatmuseum Tiergarten: Dr. Kurt Schilde, der den Beitrag über das Columbia-Haus in diesem Heft schrieb, ist Mitautor eines kommentierten Straßenplanes des Bezirks mit dem Titel: „Dem Nazi­ terror in Tiergarten entkommen". Dieser Plan ist für einen geringen Betrag im Heimatmuseum, Zwinglistraße 2, erhältlich. Heimatmuseum Zehlendorf: „Planquadrat Gustav-Gustav. Zehlendorf im April 1945", Ausstel­ lung. Eröffnung 24. April 1995, 16 Uhr. Clayallee 355. Mo, Do 16-19 Uhr. 27. April 1995, 14 Uhr: Führung durch Zehlendorfer Privatgärten. Leitung Gartendenkmalpfleger Dipl.-Ing. Klaus von Krosigk. Anmeldung: Heimatverein Zehlendorf, Telefon 8 02 2441. Käthe-Kollwitz-Museum: „Schmerz und Schuld. Eine motivgeschichtliche Betrachtung", Ausstel­ lung vom 23. April bis zum 6. Juni 1995. Das Jahr 1995 wartet mit zwei bedeutsamen Anlässen auf, die dem Käthe-Kollwitz-Museum Berlin ein doppelter Beweggrund waren, ihrer mit einer Ausstellung zu gedenken — zumal sie zeitüch nicht nur nahe beieinander liegen, sondern sich auch, wenn man so will, inhaltlich aufeinander beziehen las­ sen: Der 50. Todestag von Käthe Kollwitz am 22. April 1995 zum einen und zum anderen die 50. Wiederkehr des Endes des Zweiten Weltkrieges, das die alte Künstlerin herbeigesehnt, aber nicht mehr erlebt hat. Thematisch bewegt sich die Ausstellung auf den Spuren von (Bild-)Motiven, die Schmerz und Schuld zum Ausdruck bringen. Damit sind aber Aussichten nur sehr ungenau beschrie­ ben, die sich demjenigen bieten, der sich mit auf diese Fährte begibt. Denn was auf dem Wege einer motivgeschichtlichen Betrachtung versucht werden soll, ist eine Entdeckungsreise zu Orten, an denen sich das Panorama kunsthistorischer Knotenpunkte entfaltet, d. h., es werden Plätze aufgesucht, wo die zwischen den Werken stattfindende Kommunikation von Künstlern untereinander — lebenden wie toten, gegenwärtigen und abwesenden — vermittelt durch die auf uns gekommenen Arbeiten ins Werk gesetzt wird. Ausgangspunkt dieser Expedition ist der künstlerische Ausdruck von Verlusterfahrungen bei Käthe Kollwitz. Die Formulierungen, zu denen die Künstlerin dabei fand, tauchen in ihrem (Euvre mit erstaunlicher Kontinuität immer wieder auf, unterliegen Abwandlungen, um schließlich nicht selten an gänzlich unvermuteter Stelle erneut zutage zu treten. Schon das Verfolgen dieser werkinternen Entwicklungslinien offenbart eine überraschende Bandbreite von Bedeutungen, die sich unter Umständen in einer einzigen Gebärde konzentrieren. Weiterführend wurde dann die Frage gestellt, an welchen Punkten jene Motive mit der kunstgeschichtlichen Umwelt der Künstlerin zusammenhän­ gen könnten. Der Leitgedanke war, daß die Kunst von Käthe Kollwitz, wie jede gute Kunst, Vielfälti­ ges in sich aufgenommen und verdichtet hat, so daß sie in ihrem Ringen um formale Fassung sowohl dem künstlerischen Ausdruck ihrer Zeit als auch dem der Zeiten davor in der neuen Gestaltung ein lebendiges Gedächtnis bewahrt. Für Käthe Kollwitz war, wie für jeden visuell Bildenden, Gesehenes besonders wichtig, wobei sie natürlich nur das „auflesen" konnte, was ihr selbst nahelag. Einen Teil dieser „Lektüre" zu rekonstru­ ieren ist eines der Anliegen dieser Unternehmung, ein anderes besteht darin, die Art und Weise unter

394 die Lupe zu nehmen, in der die Künstlerin sie sich zu eigen machte, d. h., wie sie die ihr ureigne Form­ bildung vorantrieb und ihrerseits zum künstlerischen Austausch beitrug. Als (verkürztes) Beispiel für die Prozesse von Inspiration und charakteristischer Umbildung und -deutung, die diese Ausstellung darzustellen versucht, kann die abgebildete Pietä von Franz von Stuck betrachtet werden, die 1893/ 94 auf der Großen Berliner Kunstausstellung gezeigt worden war, und die Zeichnung „Aus vielen Wunden blutest Du o Volk" von Käthe Kollwitz, die 1896 entstanden ist. Die mutwillige Stucksche Anordnung der Figuren in Kreuzform (wobei der liegende .Christus' seinerseits von Holbeins Baseler Tafel Der Leichnam Christi im Grabe angeregt wurde) kehrt auf dem Blatt von Käthe Kollwitz wieder — allerdings mit bezeichnenden Änderungen. Der die Auferstehung und das (ewige) Leben bedeu­ tende vertikale „Kreuzesbalken", der bei Stuck in der Gestalt der .Maria' verkörpert wird, wird bei der Künstlerin von einer Figur eingenommen, die hinter den Leichnam getreten ist, womit zunächst auch die Augenfälligkeit der Kreuz-Komposition zurücktritt. Erneut aufgerufen wird dieser Bildgedanke bei Käthe Kollwitz mit dem senkrecht aufgestellten Schwert, das eine plausible Erklärung gewinnt vor dem Hintergrund, daß es sich bei dem abgebildeten Blatt um eine zeichnerische Vorarbeit zu einem geplanten (aber nach seiner Ausführung als gleichnamige Radierung wieder verworfenen) Schluß­ blatt für ihren bekannten ersten grafischen Zyklus Ein Weberaufstand (1893—98) handelt. Der mit den Passionsmalen Christi gezeichnete Liegende geht unter diesem Blickwinkel eine Verbindung ein mit Leiden und Tod der Weber, die der staatlichen Reaktion auf ihre Revolte zum ,Opfer' gefallen sind. Die Weber erscheinen in direkter Nachfolge Christi, indem sie stellvertretend für das ganze (in der Inschrift genannte) Volk ihr Kreuz auf sich genommen, um das Heil der Menschheit zu erstreiten. Die Künstlerin „korrigiert" die Pietä-Fassung von Stuck aber auch noch in anderer Hinsicht. Bei ihr nimmt die in ihrer Identität schwer zu bestimmende Figur hinter dem christusähnlichen Leichnam tastenden Kontakt zu dem Versehrten auf. Sie ist ihm (im doppelten Wortsinn) zugeneigt und fühlt seine Wunde nach. Das im Raum zur Elipse deformierte Rund eines Heiligenscheins schwebt über ihrem Scheitel (er verschwindet dann in der radierten Version des gleichen Jahres) — wer ist dieses Wesen, das auf der Zeichnung von Käthe Kollwitz die Heilperspektive vor Augen führt: Rächer oder Gerechtigkeit? Diese Frage wird von der Ausstellung Schmerz und Schuld ebenso offengelassen und den weiteren Überlegungen der Besucher anheimgegeben wie noch manche andere. Nicht Antworten sind das Ziel dieser Unternehmungen, sondern Fragen, die aus dem vermeintlich Selbstverständlichen ins Freie führen sollen, wo die Aktivität eines jeden Betrachters aufs neue gefordert ist. Eine Entdeckungsfahrt, die solche Aussichten erstrebt, muß natürlich auch in der Wahl der Objekte über die Grenzen des Werks von Käthe Kollwitz hinausgehen und sich in der großen weiten Kunstge­ schichte umtun. Dabei sind Künstler mit allseits bekannten Namen aufgesucht worden und auch sol­ che, deren Ruf nicht jeden erreicht hat. Altehrwürdige Meister waren darunter, deren Werke für den Besucher der Ausstellung — auch aus Respekt vor ihrem (Altertums-)Wert — nur aus gehörigem Abstand in Abbildungen zu betrachten sind. Im Original kommen in der Ausstellung vor allem Werke von Zeitgenossen der Künstlerin ins Spiel und zu Wort oder vielmehr zu Bild. Darunter sind geachtete Kollegen und bewunderte Vorgänger, wie Ernst Barlach, Max Klinger, Georg Kolbe, Wilhelm Lehm- bruck, Auguste Rodin und Franz von Stuck. Fasanenstraße 24. Mi—Mo 11—18 Uhr. Martin Fritsch, Museumsleiter Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, wird die Ausstellung am 28. April 1995 besichtigen (vgl. Veranstaltungspogramm).

Kreuzberg-Museum: „3. Februar 1945 — Die Zerstörung Kreuzbergs aus der Luft", eine Werkstatt­ ausstellung. Ein sonniger Wintermonat vor 50 Jahren: Kurz nach elf Uhr werfen 937 Bomber der 8. USA-Airforce 2264 Tonnen Sprengkörper über Berlin ab. Eine Stunde später herrscht stockfin­ stere Nacht: Das Exportviertel Ritterstraße brennt und liegt in Trümmern, 2600 Menschen sind tot, Zehntausende obdachlos. Das Kreuzberg-Museum zeigt Dokumente der Zerstörung: Luftbilder und Landkarten der Alliierten, Fotos der ausgebrannten Straßenzüge, eine Zusammenstellung interna­ tionaler Presseberichte. Zeitzeugen schildern ihre erschütternden Erlebnisse. Die Ausstellung liefert Aufschluß, warum gerade das nördliche Kreuzberg zur Zielscheibe der alliierten Luftangriffe wurde. Adalbertstraße 95/96. Noch bis zum 30. April. Mi-So 14-18 Uhr. 27. April, 18 Uhr: „Die letzten Kriegstage in Kreuzberg", kommentierte Lesung eines Zeitzeugen­ berichts, Vortrag Lothar Uebel.

395 Landesbildstelle Berlin: „Berlin im Film", eine Filmreihe. Seit dem 28. Februar werden im Kinosaal des Neubaus der Landesbildstelle, Wikingerufer 7,10555 Berlin, an jedem Dienstag von 18 bis etwa 20 Uhr insgesamt fast 200 dokumentarische Berlin-Filme aus dem Archiv der Landesbildstelle gezeigt. Das Programm reicht bis zum 6. Februar 1996! Dies ist der Beitrag dieser Institution zum in aller Welt in diesem Jahr gefeierten hundertjährigen Film-/Kino-Jubiläum. Das Programm kann hier nicht im einzelnen wiedergegeben werden, zumal an den meisten Abenden mehrere Filme hinterein­ ander gezeigt werden. Es ist bei der Landesbildstelle erhältlich. Bis zur Sommerpause werden jeweils mehrere Abende zu folgenden Themen veranstaltet: „Bühnen in Berlin", „Maler in Berlin", „Bau und Fall der Mauer", „Berliner Bauwerke und ihre Geschichte(n), I". Telefonische Informationen erhält man unter der Nummer: 3 90 92-2 20/1.

Märkisches Museum: „Archäologischer Fundplatz Berlin-Köpenick — Bodenfunde aus der Samm­ lung des Märkischen Museums". Das Märkische Museum stellt in einer Situation des inneren Umbaus und der äußeren Neugestaltung in einer notgedrungen kleinen Sonderausstellung neue archäologische Funde aus der Altstadt Köpe­ nicks, der östlichsten der vier mittelalterlichen Städte auf heutigem Berliner Gebiet, vor. Es handelt sich dabei um Funde, die das tüchtige Archäologenteam des Märkischen Museums in den vergange­ nen beiden Jahren ausgegraben hat. In die Ausstellung wurden aber auch einige bemerkenswerte Alt­ funde einbezogen, die zeigen, daß Köpenick und seine Umgebung seit mehr als 10 000 Jahren die Menschen reizte, sich in dieser mit Wald und Wasser bis heute übrigens überaus reich ausgestatteten Gegend niederzulassen. Ob an Spree oder Dahme, am Müggelsee oder Seddinsee, überall hat der ur- und frühgeschichtliche Mensch seine Spuren hinterlassen. Teilweise reihen sich die Fundstellen an den Uferterrassen wie Perlen an einer Schnur auf. Bislang konnten im Bezirk mehr als 100 Fundorte registriert werden. Bekanntlich sind derartige Bodenfunde die einzige Quelle, die über diese Jahrtau­ sende zurückliegenden Epochen der Berliner Geschichte Auskunft geben und zu uns sprechen kön­ nen. Selbst für die Anfänge der im Mittelalter entstehenden Orte sind die Bodenaltertümer unver­ zichtbar, weil die Schriftquellen allein für die Darstellung der Historie nicht ausreichen, über das täg­ liche Leben sogar fast nichts auszusagen vermögen. Archäologie, Bodendenkmäler im Märkischen Museum? Schon seit dessen Gründung im Jahre 1874 durch Stadtrat Ernst Friedel und den noch bekannteren Berliner Stadtverordneten, Pathologen und Anthropologen Professor Rudolf Virchow werden hier archäologische Funde gesammelt, ausgestellt und der Forschung zugänglich gemacht. Bestimmten zunächst Schenkungen und Käufe Art und Umfang der Sammlung, so trat mit der Berufung des ausgebildeten Archäologen Albert Kiekebusch im Jahre 1907 eine deutliche Änderung ein. Von nun an begann nämlich die vorgeschichtliche Abtei­ lung systematisch mit archäologischer Feldforschung, nach dem Ersten Weltkrieg erlangte sie auch amtlich die Zuständigkeit für die Bodendenkmalpflege in Berlin. Ergrabene große geschlossene Fundkomplexe bereicherten nicht nur die wissenschaftliche Forschung, sondern ließen die Bestände der Sammlung auch wesentlich wachsen. Anerkennung erwarb sich das Märkische Museum in ganz Deutschland vor allem in der Siedlungsforschung. Bis zum heutigen Tag wurde die Tradition der planmäßigen Ausgrabung auf Wohnplätzen beibehal­ ten, wobei in den letzten drei Jahrzehnten der Schwerpunkt bei germanischen Siedlungen lag. Dane­ ben galt die unverminderte Aufmerksamkeit der Untersuchung auf Gräberfeldern der ur- und früh­ geschichtlichen Zeit. Dank der Ausgrabungen auf dem bronzezeitlichen Urnenfeld bei Rahnsdorf, gleichfalls im Bezirk Köpenick, bei denen mehr als 230 Bestattungen freigelegt werden konnten, gelangte sogar ein recht umfangreicher Fundkomplex in die Sammlung. Ein Teil davon ist in der Son­ derausstellung zu sehen, ein interessanter Ausschnitt des Urnenfeldes kann aber auch in der Dauer­ ausstellung besichtigt werden. Diese Untersuchung bei Rahnsdorf ist insofern ein Markstein in der Geschichte des Märkischen Museums, als es sich um die erste große Ausgrabung handelt, nachdem 1965 dem Museum wieder die alleinige Verantwortung für die Bodendenkmalpflege in den Stadtbe­ zirken der „Hauptstadt der DDR" übertragen worden war. Die neuen Ausgrabungen in der Altstadt und im Kiez von Köpenick bescherten der archäologischen Sammlung nicht nur eine Reihe bemerkenswerter Ausstellungsstücke, sondern werfen auch ein neues Licht auf die Anfänge des Ortes Köpenick. Als dieser im Jahre 1209 erstmals urkundlich erwähnt wurde, geschah dies in einer Urkunde, die Konrad IL, Markgraf von Meißen, hier ausstellte. Die Archäologen stießen nun auf eine Siedlungsgeschichte, die dendochronologisch auf 1181 + 10 festge-

396 legt wurde, das erlaubt den Schluß, daß die Wettiner bald nach 1180 im Spreegau Fuß fassen und die­ sen in ihren Machtbereich einbeziehen konnten. Eine hier angeschnittene mittelalterliche Fund­ schicht besagt, daß der Kiez bereits um 1200 angelegt worden ist und nicht erst 1245, als die askani- schen Markgrafen die neuen Herren der Burg Köpenick und des ganzen Landes geworden waren. Bereits die wettinischen Markgrafen müssen also mit der Umsetzung der slawischen Bewohner von der Burg auf der Schloßinsel zum Kiez begonnen haben. Bislang galt die Anlage der Kieze in der Mark Brandenburg als alleinige Leistung der Askanier. Wer weiß, wie schwer es ist, Bodenfunde zu machen und zu deuten, darf die Ergebnisse der Köpenik- ker Grabungen als eine kleine Sensation bezeichnen. Noch bis Ende April 1995. Am Köllnischen Park 5. Di-So 10-18 Uhr. Hans GünterSchultze-Berndt Weitere Ausstellungen im Haupthaus im 2. Quartal 1995: „Berliner Malerei und Plastik vom Mittelalter bis zum Klassizismus", voraussichtlich von Ende Juni an. „Uhren, Zunftpokale und Pretiosen — Eröffnung eines wiederhergestellten Rundgangs", von Ende Juni 1995 an. „ . . . und neues Leben blüht aus den Ruinen ...", aus dem Berliner Alltagsleben der ersten Nach­ kriegsjahre. 22. April bis Juni 1995.

Museum für Verkehr und Technik: „Ich diente der Technik". Acht Karrieren zwischen 1940 und 1950. Seit 5. April 1995. „Typen für Dich und mich. Ausstellung zur Geschichte und Wirkung unserer Schrift". Noch bis zum 30. April 1995. Di-Fr 9-17.30 Uhr, Sa, So 10-18 Uhr. 6. April 1995, 17 Uhr: „Die pädagogische Bedeutung des Schreibens", Vortrag Professor Jürgen Liepe. 27. April 1995,17 Uhr: Podiumsdiskussion zur Bedeutung unserer Schrift mit Fachleuten aus Kultur, Wissenschaft und Technik. 29. April 1995, 13—17.30 Uhr: 5. Dampfmaschinenparty. Dampfmaschinen-Modellbauer und Freunde alter Technik treffen sich und präsentieren ihre teilweise funktionsfähigen Schätze.

Museum im Wasserwerk: „Ingenieurkunst, Architektur und Landschaft", Bilder vom Bau des Was­ serwerks Müggelsee und des Zwischenpumpwerks Lichtenberg, fotografiert von Rückwardt und Schwartz 1890—1906/1910. Ständige Ausstellung: „Berlin und sein Trinkwasser", Querschnitt durch die Geschichte der Berliner Wasserversorgung und Stadtentwässeung (1856—1950). Eröff­ nung beider Ausstellungen voraussichtlich im Mai 1995. Derzeit ist das Museum wegen umfangrei­ cher Bauarbeiten geschlossen. Das Gebäude wird annähernd in den ursprünglichen Zustand von 1893 wieder zurückversetzt. Mitteilung erfolgt über die Tagespresse. Müggelseedamm 307. Das Wasserwerk Müggelsee (später Friedrichshagen) wurde 1893 in Betrieb genommen. Es war von seinen Erbauern Henry Gill und Eduard Beer und dem Berliner Stadtbaumeister Richard Schultze geschickt in das Umfeld am Großen Müggelsee und die märkische Kiefernwaldlandschaft eingeord­ net worden. Unter Nutzung des alten Baumbestandes und durch Neupflanzungen, Anlage von Wegen, eines Rondells und großer Zierrasenflächen erhielt das Werksgelände besonders an der Ufer­ seite des Müggelsees einen attraktiven Charakter. Das Wasserwerk wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt. Es kam nur zu einer kurzzeitigen Unterbrechung der Trinkwasserversorgung. Bereits am 2. Mai 1945 wurde wieder Trinkwasser ins Rohrnetz gefördert. Nach 1976 erfolgte eine Rekonstruk­ tion und Erweiterung des Wasserwerks Friedrichshagen. Die alten Anlagen auf der Schöpfmaschi­ nenseite sind 1979 stillgelegt und die Gebäude unter Denkmalschutz gestellt worden. In einem Schöpfmaschinenhaus am Müggelsee wurde das Museum im Wasserwerk eingerichtet und 1987 eröffnet. Es zeigt dem Besucher die Entwicklung der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung Berlins. Fotos, Zeichnungen und andere Dokumente informieren über die Errichtung der Berliner Wasserwerke Stralauer Tor, Tegel, Müggelsee und Wuhlheide. Sie geben Auskunft über die Entwick­ lung der Charlottenburger Wasser- und Industriewerke AG und stellen Wasserwerke der Vorortge­ meinden Berlins vor der Gründung der neuen Stadtgemeinde Berlin im Jahre 1920 vor. Eine Beson­ derheit stellen drei Dampfkolbenpumpen der Finnen Schwartzkopff und Borsig aus dem Jahre 1893 dar, von denen eine vorgeführt werden kann. Die Errichtung der Kanalisation in Berlin wird ebenso gezeigt wie die Einrichtung von Rieselfeldern und der Bau von Klärwerken. Im Freigelände können nicht nur ein im ursprünglichen Zustand restauriertes Schöpfmaschinenhaus aus dem Jahre 1898 und

397 ein Sammelbrunnen aus dem Jahre 1904 besichtigt werden, sondern auch Pumpen, Maschinen, Rohrleitungen und Armaturen aus der Zeit vor und nach der Jahrhundertwende. Monika Kayser Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, wird sich zu einem gegebenen Zeitpunkt um eine Gruppenführung bemühen. Musikinstrumenten-Museum: Das Musikinstrumenten-Museum lädt zu folgenden Konzerten ein: Sonntag, 9. April 1995, 11 Uhr: Italienische Kammermusik, Eintritt 12 DM; Sonntag, 7. Mai 1995,11 Uhr: Barockmusik im italienischen Stil, Eintritt 12 DM. Im Anschluß an das Konzert findet ein Gespräch mit den Musikern und dem zuständigen Restaurator des Musikinstru- menten-Museums statt. Im Mittelpunkt stehen dabei diverse Blockflöten aus dem Bestand des Museums, die präsentiert werden. Sonntag, 14. Mai 1995, 11 Uhr: Das Clavichord. Werke von Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Daniel Gottlob Türk und Johann Wilhelm Hässler. Neue Nationalgalerie: „George Grosz: Berlin—New York". Die Nationalgalerie Berlin und das Kupferstichkabinett Berlin zeigen in Verbindung mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste die bisher größte Retrospektive zum Werk von George Grosz. Erstmals wird der ,ganze Grosz', die Meisterwerke der Berliner Jahre und das Spätwerk — seine Arbeiten im amerikanischen Exil von 1933 bis 1958 — ausgestellt. Die Ausstellung umfaßt fünfhundert Werke von Grosz (Gemälde, Aqua­ relle, Zeichnungen, Collagen, Graphik, Skizzenbücher) und sechzig Werke aus dem künstlerischen Umfeld von Grosz in Berlin und New York (u. a. Werke von Beckmann, Hopper, Boccioni, Delauny, Dix, Kirchner, Stuart Davis, Ben Shan, John Stella, Schlichter, Schad und Meidner). Noch bis 17. April 1995. Potsdamer Straße 50. Di-Fr 9-17 Uhr, Sa, So 10-17 Uhr. Anne Lemke-Junker Panke-Museum (Heimatmuseum Pankow): 24. April 1995,14.30 Uhr und 25. April, 19 Uhr: „Der Bezirk Pankow und seine Parkanlagen", Vor­ trag von Dietrich Vigaß. 18. Mai 1995,14.30 Uhr und 30. Mai, 19 Uhr: „Bald 100 Jahre Krankenanstalt Buch", Vortrag von Arwed Steinhausen. 20. Juni 1995, 15—18 Uhr: Sommerfest im Panke-Museum unter dem Motto: „100 Jahre Kino in Pankow". Heynstraße 8. Werkbund-Archiv im Martin-Gropius-Bau: „Moderne Baukunst 1900 bis 1914. Die Photosamm­ lung des Deutschen Museums für Kunst in Handel und Gewerbe." Noch bis 23. April 1995. Strese- mannstraße 110. Di-So 10-20 Uhr.

Mitgliederversammlung am 27. April 1994 Es hat sich eingebürgert und als vorteilhaft erwiesen, die Mitgliederversammlung im Roten Rathaus Berlin abzuhalten. Der Vorsitzende Rechtsanwalt und Notar H. Oxfort, Bürgermeister von Berlin und Senator a. D., hatte die Tagesordnung gut im Griff, konnte die Regularien straff erledigen und stellte die Totenehrung an den Anfang der Versammlung. Der Tätigkeitsbericht des Schriftführers lag wieder in vervielfältigter Form vor, er wurde auch im Jahrbuch 1994 abgedruckt. Der Schriftführer verlas einen Brief des Ehrenvorsitzenden Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm aus Freiburg (Breisgau) und ließ eine Unterschriftenliste umgehen, auf der für die Rückbenennung der Clara-Zet- kin-Straße in den verpflichtenden Namen Dorotheenstraße plädiert wird. Frau Dr. Sybille Einholz verlas in ihrer Eigenschaft als stellvertretende Schatzmeisterin den Bericht des wegen einer Auslands­ reise abwesenden Schatzmeisters Karl-Heinz Kretschmer, dessen Kassenbericht ebenso wie der Vor­ anschlag 1994 den Mitgliedern zur Verfügung stand. Aus dem Bibliotheksbericht des Vorstandsmit­ glieds Karlheinz Grave ging hervor, daß sich der Gesamtbestand der Vereinsbibliothek um 259 Bände auf 14 597 Titel erhöhte. Herzlichen Dank galt den Bibliotheksbetreuern, den Damen Hentschel und Meyer-Luiken und den Herren Doege und Mende sowie dem Vereinsarchivar Siewert. Kassenprüfer Hans-Dieter Degenhardt erstattete den Bericht zugleich für Frau Siddikah Eggert. Manfred Funke als Bibliotheksprüfer teilte zugleich für Frau Dr. Erika Schachinger mit, daß im Januar 1994 eine

398 Gesamtrevision des Buchbestandes in Angriff genommen worden ist. In der Aussprache dankte der Vorsitzende allen ehrenamtlich tätigen Mitgliedern. Auf Antrag von Ff.-D. Degenhardt wurde der Vorstand einmütig entlastet. Ebenso einstimmig war die Bestätigung der beiden Kassenprüfer Hans- Dieter Degenhardt und Frau Siddikah Eggen sowie der Bibliotheksprüfer Manfred Funke und Frau Dr. Erika Schachinger in ihrem Amt. Zum Punkt „Verschiedenes" nahm der Schriftführer zu einigen Fragen Stellung, sonst wurde das Wort nicht weiter gewünscht, Anträge waren nicht gestellt worden. Anschließend wurde Professor Dr. Peter Bloch die Fidicin-Medaille verliehen. Die Urkunde des Ver­ eins für die Geschichte Berlins, gegründet 1865, über die Verleihung der Fidicin-Medaille an Herrn Professor Dr. Peter Bloch hat den folgenden Wortlaut: „Der Verein für die Geschichte Berlins, gegründet 1865, würdigt das Wirken des Kunsthistorikers, Hochschullehrers und langjährigen Direktors der Skulpturengalerie der Staatlichen Museen Preußi­ scher Kulturbesitz, der sich hartnäckig für die Erforschung und Neubewertung eines Bereiches der Berliner Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Hiermit ist ein Engagement für die Werke der Berliner Bildhauerschule gemeint, nicht nur für den Sammlungsbereich des von ihm geleiteten Museums, sondern sein gezieltes Eintreten für die Werke in Außenaufstellung, an den Straßen, auf den Plätzen und insbesondere auf den historischen Friedhöfen unserer Stadt. Sein steter Hinweis auf deren außerordentliche kunsthistorische Bedeutung für Berlin und über die Grenzen Berlins hinaus hat ein Umdenken bewirkt. Damit hat sich Professor Dr. Peter Bloch im Sinne unserer Vereinsziele um die Erforschung der Berliner Geschichte und den Erhalt der historischen Zeugnisse in besonderer und fruchtbarer Weise verdient gemacht. Berlin, am 27. April 1994 Vorsitzender Schriftführer (Hermann Oxfort) (Dr. H. G. Schultze-Berndt)

Mit bewegten Worten dankte Professor Bloch für die ihm erwiesene Ehre. In seiner Tätigkeit sah er sich in der glücklichen Doppelrolle, seine Funktion als Museumsdirektor mit den Möglichkeiten eines Hochschullehrers am Kunsthistorischen Institut verbinden zu können. Sein anschließender Vortrag „Denkmäler und ihr Sinneswandel" wurde mit herzlichem Applaus aufgenommen. SchB.

Dr. Gerhard Zimmermann t

Unser langjähriges Vereins- und zeitweiliges Vorstandsmitglied, Archivdirektor Dr. Gerhard Zimmermann, verstarb im Dezember vorigen Jahres im 87. Lebensjahr. Er entstammte einer alteingesessenen schlesischen Familie, empfing eine humanistische Schulausbildung in Neisse und bezog die Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität zum Studium der Geschichte und Germanistik. Schon damals wurden die Weichen gestellt, die seine Lebensbahn in die Richtung der Archivarbeit wiesen: Unter der Ägide seines Lehrers, des bekannten Mediävisten Leo San- tifaller, der die Arbeit an den primären Quellen historischer Erkenntnis, den Urkundenbü- chera, zu der seinen gemacht hatte, wurde auch Gerhard Zimmermann mit Forschungen auf diesem Terrain betraut. Er wirkte mit am Schlesischen Urkundenbuch und reichte 1935/36 seine Dissertation über „Das Breslauer Domkapitel im Zeitalter der Reformation und Gegen­ reformation (1500—1600)" ein. Im Auftrag der Schlesischen Historischen Kommission wur­ den mehrmonatige Reisen zu mährischen und polnischen Archiven unternommen, um deutschsprachige Materialien aufzuspüren. Die strengen preußischen Ausbildungsvorschrif­ ten für Archivare verlangten vor dem zweijährigen Fachausbildungskurs die Staatsprüfung für das Lehramt an höheren Schulen, und erst jetzt mit den vielen erforderlichen Weihen wohl ver­ sehen, konnte sich der junge Berufseinsteige r seiner ersten Anstellung im Staatsarchiv Stettin erfreuen (19*39/40). Der Krieg griff dann erbarmungslos in aller Deutschen Leben ein: Ger­ hard Zimmermann kämpfte im Ostheer, schwer verwundet, gehörte er zu den Letzten, die aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen wurden.

399 Im ehemaligen Preußischen Geheimen Staatsarchiv begann schon im Juli 1945 der Neuaufbau, wenngleich die Rückführung der verlagerten — so wertvollen wie umfangreichen — Bestände aus Merseburg (DDR) noch nahezu ein halbes Jahrhundert auf sich warten lassen sollte. Pio­ nierarbeit wurde aber in Dahlem geleistet, um die teilzerstörten Magazinräume wieder aufzu­ richten und die ausgedünnten Bestände an Akten, Urkunden und Büchern wieder der For­ schung dienstbar zu machen. Gerhard Zimmermann wurde 1954 Direktor des Instituts, dessen Benutzer von Jahr zu Jahr mehr wurden. Sie und viele Freunde werden sich des liebenswürdi­ gen und verbindlichen, stets hilfsbereiten Wesens des Chefs freundlich erinnern. Gerhard Kutzsch

Aus dem Mitgliederkreis

Dr. Richard von Weizsäcker, unserem einzigen Ehrenmitglied, ist am 5. März 1995 in Würdigung sei­ nes Eintretens für den Dialog zwischen Christen und Juden die Buber-Rosenzweig-Medaille verlie­ hen worden. SchB.

Unser jetzt im 70. Lebensjahr stehendes Mitglied Heinz Knobloch, Schriftsteller und Journalist, ist mit dem Berliner Moses-Mendelssohn-Preis zur Förderung der Toleranz ausgezeichnet worden. Damit wird eine Brücke geschlagen zu dem 1977 im Buchverlag Der Morgen erschienenen Buch „Herr Moses in Berlin. Auf den Spuren eines Menschenfreundes". Wir freuen uns über diese Würdi­ gung und gratulieren herzlich! SchB.

Am 1. November 1994 ist unser Vorstandsmitglied Dr. Jürgen Wetzel, der bereits seit 1991 das Lan­ desarchiv kommissarisch geleitet hatte, zum Leitenden Archivdirektor der Institution und damit zum ersten Direktor des Gesamtberliner Landesarchivs ernannt worden. Wir freuen uns darüber und wün­ schen dem neuen Herrn der Dokumente eine glückliche Hand! U.

Mitteilungen

Unser Ehrenmitglied Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker übermittelte dem Verein anläß­ lich seines 130. Gründungsjubiläums die herzlichsten Grüße und Glückwünsche. Wegen der tags zuvor erfolgten Rückkehr aus dem Winterurlaub konnte es Herr von Weizsäcker terminlich nicht ein­ richten, an unserer Festveranstaltung vom 12. Januar 1995 teilzunehmen. Er ließ den Schriftleiter der MITTEILUNGEN jedoch wissen, daß er die Arbeit des ältesten und traditionsreichsten Berliner Geschichtsvereins mit außerordentlichem Interesse verfolge, und beauftragte ihn, die Mitglieder des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, auf das allerherzlichste zu grüßen! U.

Unser in Meerbusch wohnendes Mitglied Martin Scholz hat die in den langen Jahren seiner Mitglied­ schaft gesammelten Jahrbücher unseres Vereins sowie die „Mitteilungen" aus Altersgründen einem jungen Mitglied zur Verfügung gestellt. Unserer Bibliothek stiftete Herr Scholz einige willkommene Berlin-Bücher. Für diese liebenswürdige Spende wurde Herrn Scholz der Dank des Vorstandes aus­ gesprochen. U.

Auf der ersten diesjährigen Vorstandssitzung am 11. Januar 1995 wurde angeregt, die Öffentlichkeits­ arbeit unseres Vereins zu intensivieren. Mitglieder, die hierbei mitarbeiten oder Anregungen und Vorschläge machen möchten, werden gebeten, dies dem Vorstand mitzuteilen. U.

Der Schatzmeister bittet alle Mitglieder, die versehentlich noch nicht den Jahresmitgliedsbeitrag überwiesen haben, um gelegentliche Erledigung (Mindestbeitrag 60 DM; Konten auf der Rückseite dieses Heftes).

400 Studienfahrt nach Görlitz

Nach alter Tradition wird die Jahresexkursion des Vereins auf das zweite Wochenende im September gelegt. In diesem Jahr führt die Studienreise vom 8. bis 10. September nach Görlitz. Im Programm sind Rundgänge durch die niederschlesische Stadt Görlitz selbst und Fahrten in das Umland vorgese­ hen, zum Auftakt ein Besuch der Waggonbau Görlitz GmbH mit einem Abtrank in der Landskron- Brauerei. Der Heimweg soll im Naturschutzzentrum Schloß Niederspree in Quolsdorf unterbrochen werden. Das genaue Programm erscheint im Heft 3/1995. Die Teilnehmerzahl ist auf 49 begrenzt. Die Unterbringung aller Teilnehmer im Hotel „Zum Grafen Zeppelin" ist fest gebucht, die Unter­ kunft kostet für das Einzelzimmer 108 DM und für das Doppelzimmer 68 DM/Person je Nacht. Der Teilnehmerbeitrag, der die Busfahrt, alle Eintrittsgelder, Führungen, Honorare usw. einschließt, dürfte etwa in Vorjahreshöhe liegen (DM 146). Unverbindliche Voranmeldungen können jetzt schon gerichtet werden an den Schriftführer Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Artuswall 48,13465 Berlin- Frohnau. Diese Interessenten erhalten dann das Programm vorab, wenn es endgültig abgestimmt worden ist. SchB.

Wir begrüßen folgende neue Vereinsmitglieder:

Bayer, Gertrad, Kauffrau Keller, Reiner O., Rechtsanwalt Gluckweg 4, 12247 Berlin Fürstenwalder Damm 426, 12587 Berlin Tel. 7 7136 74 (Frau Rita Schelling) Kühn, Werner, kfm. Angestellter Behrend, Martina, Dipl.-Historikerin Marmaraweg 25, 12109 Berlin Wilhelmstraße 47, 10117 Berlin Tel. 703 6319 Tel. 2294415 von Lübtow, Heidemargret, Senatsangestellte Biegel, Gerd, Ltd. Museumsdirektor Kilstetter Straße 55, 14167 Berlin Löwenwall 8, 38100 Braunschweig Tel. 8111914 Tel.(05 31)4 96 29 Müller, Reinhard, Dipl.-Ing. Architekt Böttger, Wolfgang, Kaufmann Buhrowstraße 19, 12167 Berlin Paulsborner Straße 2, 10709 Berlin, Tel. 7 96 5001 (Dipl.-Ing. Jürgen Rieger) Tel. 8900 3115 Paulssen, Winfried, Kaufm./Pensionär Cronenberg, Barbara Oldesweg 14, 22393 Hamburg Romanshorner Weg 73, 13407 Berlin, Tel.(040)60143 57 Tel. 495 3268 Thoran, Dr. Barbara Doerr, Fritz, Chemiekaufmann Prausestraße 20, 12203 Berlin Heydenstraße 10, 14198 Berlin Tel. 8 33 69 70 Tel. 8 23 6151 (Dr. M. Uhlitz) Uhlitz, Roswitha, Lehrerin Fleckenstein, Dietrich, Dipl.-Bauingenieur Brixplatz 4, 14052 Berlin Maximilianstraße 42, 13187 Berlin Tel. 3 05 96 00 (Dr. M. Uhlitz) Tel. 47235 40 Waetzoldt, Professor Dr. Stephan, Godefroid, Annette, Historikerin Kunsthistoriker, Von-Luck-Straße 8, 14129 Berlin Generaldirektor a. D. Tel. 8 03 76 25 (Dr. Wetzel) Wasgenstraße 37, 14129 Berlin Holtz, Wolfgang, Lehrer Tel. 8 0186 59 (Dr. M. Uhlitz) Spindelmühler Weg 5, 12205 Berlin Weiss, Anna, Unternehmerin Tel. 8 12 23 38 (Dr. M. Uhlitz) Hermannstraße 5, 14163 Berlin Horowski, Dr. Reinhard, Tel. 813 38 38 (Frau Lipp) Wissenschaftler Wernicke, Dr. Ingolf, Museumsleiter Sigismundkorso 52, 13465 Berlin Dernburgstraße 37, 14057 Berlin Tel. 40170 70 (Dr. S. Einholz) Tel. 3 228107 Jaehnert, Roger, Architekt Will, Rositta, Pensionärin Ringstraße 34, 12205 Berlin Kommandantenstraße 9, 12205 Berlin Tel. 8 33 4481 (Dr. M. Uhlitz) Tel. 81108 39 (Frau Münchmeier)

401 Berlin vor 50 Jahren Tauentzienstraße mit der Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche; aus: Krammer, Berlin, 1956.

Ordentliche Mitgliederversammlung am Mittwoch, 10. Mai 1995, 18.30 Uhr im Berliner Rathaus, Ferdinand-Friedensburg-Saal, Raum 338, 3. Geschoß. Haupteingang Rathausstraße

Tagesordnung 1. Entgegennahme a) des Tätigkeitsberichts b) des Kassenberichts c) des Bibliotheksberichts 2. Bericht a) der Kassenprüfer b) der Bibliotheksprüfer 3. Aussprache 4. Entlastung des Vorstands 5. Wahl des Vorstands 6. Verschiedenes Anschließend Lichtbildervortrag Anträge sind der Geschäftsstelle bis spätestens 30. April 1995 einzureichen.

402 Veranstaltungen im II. Quartal 1995

1. Sonnabend, 8. April 1995, 10 Uhr: „Der Friedrichshain", Park-Führung durch Heike Naumann, Leiterin des Heimatmuseums Friedrichshain und Verfasserin eines informa­ tiven Büchleins über die Parkanlage, das während der Führung für 8 DM erhältlich sein wird (vgl. die Rezension in diesem Heft). Treffpunkt: Haupteingang Märchenbrunnen am Königstor. U2, 5, 8 und S-Bahn Alexanderplatz und Bus 100; 142, 157, 257; Tram: 2, 3, 4. 2. Donnerstag, 20. April 1995,19 Uhr: „Auf den Spuren der Königin Luise, Teil I", kurz­ weiliger Lichtbildervortrag des Heimatforschers Erhard Mayer. Ort: Rathaus Charlot­ tenburg, Saal 3 (1. Etage links, rechts von der Gedenkstätte durch die Glastür). U7 (Richard-Wagner-Platz), Bus: X9, 145. (Wir bemühen uns bei unseren Veranstaltun­ gen um eine entspannte Atmosphäre, bringen Sie sich ruhig ein Gläschen Wein mit!) 3. Sonntag, 23. April 1995, 9 Uhr: ..Frühjahrs« anderuns; des Vereins für die Geschichte Berlins" unter der sachkundigen Leitung unseres Mitgliedes Wolfgang Stapp. Treff­ punkt: Glienicker Brücke, Potsdam-Seite. Route: Neuer Garten — Marmorpalais — Gotische Bibliothek — Orangerie — Cecilienhof — Pumpwerk — Pfingstberg — Alexan- drowka — ehem. Kasernen — Ruinenberg — Sanssouci — Mühle — Belvedere — Drachen­ haus — ,Kinderburg' — Neues Palais — Communes — Hippodrom — Charlottenhof — Chinesisches Haus — Knobelsdorff-Haus — Marlygarten. Streckenlänge: ca. 12 km (Wanderschuhe erforderlich). Während der Mittagspause besteht die Möglichkeit zur Einkehr. Ende: ca. 16 Uhr an der Friedenskirche. Von dort fährt die Straßenbahn 93 zurück zum Ausgangspunkt. Bus 116 vom S-Bhf. Wannsee. 4. Donnerstag, 27. April 1995, 19 Uhr: „Auf den Spuren der Königin Luise, Teil II", sonst wie 20. April 1995. 5. Freitag, 28. April 1995, 15.30 Uhr: „Schmerz und Schuld", Führung durch die vor wenigen Tagen neueröffnete Ausstellung des Käthe-Kollwitz-Museums, Fasanenstraße Nr. 24, von Regina Caspers, Museumspädagogin des Kollwitz-Museums. Vgl. den Bei­ trag von Museumsleiter Fritsch unter der Rubrik „Aus den Berliner Museen" in diesem Heft. U9, 15 (Kurfürstendamm), Bus 109, 119, 129, S-Bahn Zoo. 6. Sonnabend, 6. Mai 1995,14 bis 18 Uhr: „Die Wiederherstellung bedeutender Garten­ denkmale im Zentrum Berlins", Busrundfahrt mit unserem Mitglied Dipl.-Ing. Klaus von Krosigk, Berüner Gartendenkmalpfleger und stellv. Landeskonservator. Teilnahme kostenlos. Beginn und Ende der Fahrt: Eingang Zoologischer Garten, Hardenbergplatz. Anmeldung: schriftlich beim SchrLt. Bitte adressierten und frankierten Briefumschlag für die Antwort beilegen. 7. Mittwoch, 10. Mai 1995,18.30 bis 19.30 Uhr: Jahreshauptversammlung. Ort: Berliner Rathaus, Ferdinand-Friedensburg-Saal/Raum 338. Tagesordnung nebenstehend Anschließend um 19.30 Uhr: „Berliner Landseen — Entstehung und Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart", naturwissenschaftlich-historischer Lichtbildervortrag unseres Mitglieds Klaus-Dieter Wille, in dem gleichzeitig auf aktuelle Themen (Umweltschutz, Renaturalisierungsmaßnahmen u. a.) eingegangen wird. 8. Sonnabend, 13. Mai 1995, 11 Uhr: „Altstadt-Führung durch Köpenick", von Claus- Dieter Sprink, Leiter des Heimatmuseums Köpenick. Herr Sprink, dem wir einem Bei­ trag über das Rathaus Köpenick im vergangenen Heft unserer MITTEILUNGEN ver­ danken, führt uns ca. zwei Stunden durch eines der faszinierendsten Berliner Sanierungs­ gebiete. (Bis Ende April ist im Märkischen Museum eine interessante Ausstellung über archäologische Bodenfunde in Köpenick zu sehen; vgl. den Beitrag unseres Schriftfüh­ rers in der Rubrik „Aus den Berliner Museen" in diesem Heft.) Treffpunkt: Dampferan­ legestelle Luisenhain vor dem Rathaus Köpenick. Ende am Schloß, so daß man nach der Führung dort einen Rundgang anschließen kann.

403 9. Mittwoch, 31. Mai 1995, 17 Uhr: „Bibliothek des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865", (Ein-)Führung durch unser Vorstandsmitglied Karlheinz Grave in Anwe­ senheit zahlreicher Vorstandsmitglieder. Verschaffen Sie sich einen Überblick über die Bestände unserer Bibliothek und die in den vergangenen 130 Jahren gesammelten Schätze. Wir würden uns freuen, wenn insbesondere die neueren Mitglieder von dieser Möglichkeit des gegenseitigen Kennenlernens Gebrauch machen würden! Ort: Biblio­ thek des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Anschrift siehe Fußnote. 10. Sonntag, 25. Juni 1995, 20 Uhr: „Sommernachtsbowle auf dem Glockenturm mit dem Berliner Philharmonischen Orchester", erleben Sie einen unvergeßlichen Abend auf diesem nur für uns reservierten einzigartigen Aussichtsturm über den Dächern Berlins, und lauschen Sie den aus der Waldbühne emporsteigenden Klängen eines der besten Orchester der Welt! Eintritt: 1 Rasche Lutter & Wegener—für die Bowle. Da die Veran­ staltung im Freien und in luftiger Höhe stattfindet, wird empfohlen, an wärmere Beklei­ dung zu denken. Ort: Glockenturm am Olympia-Stadion, Berlin-Charlottenburg. U2 (Olympia-Stadion) mit Sonderbus zur Waldbühne; Bus 149 mit 700 m Fußweg. Achtung Autofahrer: Im weiteren Umkreis stehen an diesem Abend kaum Parkplätze zur Verfü­ gung; Schwerbeschädigte sollten versuchen, durch alle Absperrungen zum Platz Am Glockenturm zu gelangen. Da vermutlich nicht ausreichend Sitzplätze zur Verfügung ste­ hen, wird das Mitbringen eines Klappstuhles empfohlen. 11. Erste Veranstaltung nach der Sommerpause: Sonnabend, 19. August 1995, 7.30 Uhr: Busfahrt in einem bequemen Luxusbus nach Jerichow, Klein- und Großwulkow, Melkow, Wust und Tangermünde mit umfangrei­ chem Besichtigungsprogramm. Nach einem erlebnisreichen Tag kehren wir — müde — um 21 Uhr nach Berlin zurück. Kosten: ca. 50 DM pro Person. Anmeldung: schriftlich beim SchrLt. Bitte adressierten und frankierten Briefumschlag für die Antwort beilegen. Treffpunkt: Haupteingang Zoo, Bhf. Zoo, Hardenbergplatz. Familienmitglieder und weitere Gäste sind bei unseren Veranstaltungen stets willkommen! Bitte informieren Sie Ihre Freunde und Bekannten jedoch über die Möglichkeit, unserem Verein beizutreten. Für Familienmitglieder bietet sich die preiswerte Möglichkeit, unserem Verein zum halben Jahresbeitrag anzugehören — ohne Bezug des Jahrbuchs.

Bibliothek: Berliner Straße 40,10715 Berlin-Wilmersdorf, Telefon (0 30)8 73 26 12. Geöffnet: mitt­ wochs 16.00 bis 19.30 Uhr. U 7 (Blissestraße), Bus 101, 104, 204, 249.

Vorsitzender: Senator und Bürgermeister von Berlin a. D. Hermann Oxfort, Breite Straße 21,13597 Berlin-Spandau, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 12209 Berlin-Lichterfelde/Ost, Telefon 7 72 34 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Artuswall 48,13353 Berlin-Frohnau,Telefon 45 09-2 64. Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin-Tempelhof, Telefon 7 53 42 78. Konten des Vereins: Postbank Berlin (BLZ 100 10010), Kto.-Nr. 433 80-102,10559 Berlin; Berli­ ner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Die MITTEILUNGEN erscheinen vierteljährlich zum Quartalsanfang. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung und Veranstaltungsorganisation: Dr. Manfred Uhlitz, Brixplatz 4, 14052 Berlin-Charlottenburg, Telefon 3 05 96 00 und 01715 2012 Ol, Fax 3 05 38 88; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin-Frohnau, Telefon 4 0143 07; Beiträge bitte an die Schriftleiter senden. Redaktionsschluß: 1. März, 1. Juni, 1. September, 15. November. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 24 DM jährlich. Neumitglieder sind herzlich willkommen! Jahresmitgliedsbeitrag z. Zt. DM 60,— inkl. Bezug der MITTEILUNGEN und des Jahrbuchs. Beitrittserklärungen bitte formlos an die Geschäftsstelle. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

404 A 1U15 t Ratsbibliothek MITTEIttFN6ENk DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

91.Jahrgang Heft 3 Juli 1995

i»i ,.„>,., Gottfried Schadow und sein Sohn Wilhelm Von Helmut Börsch-Supan

Das Verhältnis Gottfried Schadows zu seinem Sohn Wilhelm, seit 1826 Direktor der Düssel­ dorfer Akademie, würde man sich gern so unkompliziert vorstellen, wie es Theodor Fontane in einer Anekdote seines Schadow-Kapitels der „Wanderungen" beleuchtet. „Als die Friedens­ klasse des pour le merite gestiftet wurde, war es selbstverständlich, daß Schadow den Orden erhielt. Der König selbst begab sich in die Wohnung des Alten in der jetzigen Schadow-Straße. ,Lieber Schadow, ich bring Ihnen hier den pour le merite.' ,Ach Majestät, was soll ich alter Mann mit'n Orden?' ,Aber lieber Schadow ...' ,Jut, jut, ich nehm ihn. Aber eine Bedingung, Majestät: wenn ich dod bin, muß ihn mein Wilhelm kriegen.'" Wilhelm bekam ihn nicht, aber dafür wurde er drei Jahre später, 1845, von Friedrich Wilhelm IV. in den Adelsstand erhoben und hieß seitdem Wilhelm von Godenhaus, eine in Preußen sel­ tene Auszeichnung eines Malers, die zu dem alten Schadow nicht gepaßt hätte. Vater und Sohn vertraten nicht nur zwei Kunstepochen, sie waren auch im Wesen sehr verschie­ den. Es war für Wilhelm nicht leicht, sich aus dem Schatten des Vaters zur Selbständigkeit her­ auszuarbeiten, eine Aufgabe, mit der auch andere Nazarener konfrontiert waren. Philipp Veit war der Sohn von Dorothea Veit. Sein Stiefvater war Friedrich Schlegel, und Moses Mendels­ sohn war sein Großvater. Friedrich Overbecks Vater, Christian Adolf Overbeck, war ein ange­ sehener Lübecker Dichter, einst Mitglied des Göttinger Hainbundes, und auch als Senator und Bürgermeister der Hansestadt geehrt. Die Väter von Franz Pforr und Julius Schnorr von Carolsfeld hatten als Maler einen Namen. Die Jungen traten als Neuerer auf, die das verachtete achtzehnte Jahrhundert überwinden wollten, aber durch ihre Eltern blieben sie ihm verpflich­ tet. Der Pionier der klassizistischen Bildhauerkunst in Berlin war der alte Schadow. Er, der Sohn eines Schneiders, besaß den Schwung eines Aufsteigers, der allein durch sein Genie, seine Tüchtigkeit und seine Vitalität nach oben getragen wurde, freilich in einem geistigen Klima und in einer Zeit, die offen für eine Überwindung gesellschaftlicher Konventionen war. Die Fran­ zösische Revolution lockerte auch in Preußen manches. Als nach dem Ende der Freiheitskriege die Restauration einsetzte, war die frische, Vernünftig­ keit und Empfindung verbindende Menschlichkeit Gottfried Schadows nicht mehr opportun. Die Standesunterschiede wurden wieder stärker betont, und wer als Künstler Erfolg haben wollte, tat gut daran, sein Verhalten dem anzupassen. Christian Daniel Rauch, der Kammerla­ kai der Königin Luise gewesen war, ehe er sich 1804 ganz der Bildhauerei zuwandte, hatte gelernt, seine einfache Abkunft zu verbergen und die höfischen Konventionen zu beachten. Das kam seiner Karriere zugute, aber es beengte seine Entfaltung als Mensch und Künstler. Weder als Zeichner, noch als souveräner Meister des Wortes vermag er so zu beeindrucken wie Gottfried Schadow, bei dem alle Äußerungen naturhaft und ungefiltert, gleichwohl diszipli­ niert aus dem Inneren kommen. Was bei ihm als Einheit von Kunst und Menschlichkeit erfah­ ren wird, ist bei den Jüngeren, bei Wilhelm Schadow wie bei Rauch, gebrochen. Ihnen fehlt daher auch der Humor als Mittel einer Versöhnung. Wie der alte Schadow hat auch der Sohn geschrieben, theoretisch die Kunstgeschichte reflek­ tierend und autobiographisch. Auch hier treten die Unterschiede deutlich zutage. „Kunst- Werke und Kunst-Ansichten" hat Gottfried Schadow seine Chronik der Berliner Kunst seiner Zeit genannt. Sie ist 1849 erschienen. Es ist ein nobles Buch, frei von Selbstheroisierung und Bitterkeit, zu der er Ursache gehabt hätte, sachlich und doch ganz persönlich. Überall spürt man Entschiedenheit des Urteils, manchmal begegnet auch ein kurzer, beinahe vernichtender

406 Hieb, aber dominierend bleibt der verständnisvolle Blick für den Wandel der Kunstanschauun­ gen und die Sympathie für die Jüngeren. Eine väterliche Güte und Toleranz durchzieht das Werk. Darum bemüht sich auch Wilhelm Schadow in dem nur vier Jahre später erschienenen „Modernen Vasari", in dem er, novellistisch eingekleidet, die Entwicklung der neueren Kunst seit Anton Raffael Mengs Revue passieren läßt. Wie der Vater war der Sohn im Alter durch ein Augenleiden in seiner künstlerischen Tätigkeit behindert. Während jener es souverän verar­ beitet, ist es bei diesem zwischen den Zeilen als der Klageton der Düsseldorfer Schule zu ver­ nehmen. Das verleiht dieser Darstellung eines künstlerischen Aufbruches die widersprüchliche Gedämpftheit einer resignierenden Spätzeit. Der Autor vergleicht sich mit Vasari und sieht sich so schon als historische Persönlichkeit. Solche Stilisierung wäre bei Gottfried Schadow undenkbar gewesen. Dieser erwähnt in seinen Memoiren nicht ohne Stolz die Leistungen seines Sohnes, aber nicht ausführlicher als die der anderen Künstler. Man spürt bei der Erwähnung des Weggangs von Wilhelm Schadow nach Düsseldorf und der damit verbundenen Gründung der Düsseldorfer Malerschule die betonte Zurückhaltung: „Die Übersiedlung des Malers Wilhelm Schadow nach Düsseldorf kann man heute als nicht unbedeutend ansehen." Er ist um Gerechtigkeit bemüht und meldet an einer Stelle auch vorsichtig Kritik an. Bei der Besprechung einer auf der Berliner Ausstellung von 1844 gezeigten „Himmelfahrt der Maria" bemerkt er: „Von demsel­ ben Künstler war ein nach unserer Meinung verdienstvolleres Bild, ein Kniestück, St. Hedwig, Schutz-Patronin von Schlesien vorstellend, zu sehen." Umgekehrt erhält Gottfried Schadow im „Modernen Vasari" einen ihm gebührenden Platz nach Anton Raffael Mengs, Asmus Jakob Carstens, John Flaxman und Antonio Canova. Der Sohn weiß, was er dem Vater verdankt, nämlich die Erziehung zu gewissenhaftem Naturstu­ dium einschließlich exakter Messung der Körper, auch die frühzeitige Einführung in die Gesellschaft gebildeter Menschen, die im Hause des alten Schadow verkehrten. Als Wilhelm 1819 nach Berlin zurückgerufen wurde, um Schinkel bei der Ausstattung des Schauspielhauses zu unterstützen, war es der Vater, der ihm den Weg für eine Anerkennung in den höchsten Kreisen ebnete. Aber was nach Wilhelms Überzeugung den Kern seines Künstlertums aus­ macht, die christliche Gesinnung und missionarische Motivation, stammt nicht aus dieser Quelle. Das Porträt des Vaters bleibt skizzenhaft, oberflächlich und unpersönlich. Deutlicher noch wird der nur überbrückte, aber nicht zugeschüttete Graben zwischen den Generationen in den postum 1891 in der Kölnischen Zeitung erschienenen „Jugend-Erinne­ rungen" des Malers, die aus seiner spätesten Lebenszeit stammen müssen, denn das Gedächt­ nis hat ihn an vielen Stellen im Stich gelassen. Hier schildert er die Berliner Kultur des ausge­ henden 18. Jahrhunderts als dekadent und liederlich. Der Haß der katholisch gefärbten Romantik auf die Aufklärung kommt ungezügelt zum Ausbruch, und hier muß nun der Schrei­ ber die Gestalt des Vaters aus diesem Ambiente als die Erscheinung eines Reformators heraus­ lösen. Er negiert dessen Zusammenhang mit der Berliner Aufklärung. Als Maler hat Wilhelm dem Vater gegenüber seine Dankbarkeit in einem Porträt zum Aus­ druck gebracht, das noch in Privatbesitz, allerdings in schlechtem Zustand, vorhanden ist. Gottfried Schadow hat es 1849 als Reproduktionsstich einem Tafelband mit seinen Hauptwer­ ken und einigen seines Sohnes Ridolfo vorangestellt (s. Titelabbildung). Das Bildnis charakte­ risiert den Sechsundfünfzigjährigen als den klar denkenden, treffsicher gestaltenden und nüch­ tern in die Zukunft blickenden Geist. Im knappen Ausschnitt ist viel vom Wesen des Künstlers erfaßt, aber man hätte vom Sohn auch Wärme in der Schilderung des Vaters erwarten können. Sie fehlt.

407 Als Wilhelm Schadow Ende 1810 Berlin als durchaus schon anerkannter Maler verließ, um seine Ausbildung in Italien fortzusetzen, geriet er in eine Lebenskrise, die auch seine Gesund­ heit angriff. Er rettete sich durch den Anschluß an die Lukas-Brüder, vor allem an Overbeck, und schließlich 1814 durch den Übertritt zum Katholizismus. Erst danach wurde Schadow pro­ duktiv. Ein Brief von Henriette Herz an die Malerin Louise Seidler aus Rom vom Februar 1818 deutet den Bruch an: „Den jüngsten Schadow sah ich beim Abschiede von Berlin als einen zier­ lichen jungen Weltmann und eleganten Porträtmaler, der durch einige ähnliche Porträts vor­ nehmer Personen schon eine Art von Ruf hatte, der ihn über die Gebühr eitel machte.. . Scha­ dow war ein Porträtmaler geworden, der jedes Porträt zum Tableau erhöhte, so wie in seinen Kompositionen sich stilles frommes Gemüt ausspricht, und zwar auf die lieblichste Weise durch Form und Farbe." Das war der Schadow am Ende seines italienischen Aufenthaltes. Bis auf ein Bild sind alle uns bekannten Gemälde der römischen Zeit einschließlich der beiden Fresken in der Casa Bartholdy „Jakob empfängt den blutigen Rock Josephs" und „Joseph als Traumdeuter im Gefängnis" nach 1815 gemalt. Zwischen 1810 und diesem Datum scheint den Maler eine Lähmung befallen zu haben. Das einzige erhaltene Bild aus dieser Periode, eine frü­ here Fassung des „Joseph als Traumdeuter", heute in den Bayerischen Staatsgemäldesamm­ lungen in München, scheint auf diese Lebenskrise anzuspielen und somit auch einen Bezug auf den Vater zu enthalten. Es ist 1812 entstanden und war 1814 auf der Berliner Akademieaus­ stellung zu sehen (Nr. 99) als vereinzelter Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit des Malers in Rom. Die Vermutung liegt nahe, Wilhelm Schadow habe sich mit Joseph identifiziert und dessen Läuterung in Ägypten mit seiner eigenen in Italien verglichen. Joseph wird infolge sei­ ner Überheblichkeit von seinem Vaterhaus entfernt, aber seine Tugend ist es, durch die er ins Gefängnis gerät. Entscheidend bei der Stilisierung Wilhelm Schadows als Joseph ist jedoch die missionarische, ja heilsgeschichtliche Aufgabe, die er sich als Künstler stellt. Das war ganz im Sinne der Lukas-Brüder gedacht. Da diese Komposition später für die Fresken der Casa Bartholdy verwendet wurde, könnte es Wilhelm Schadow gewesen sein, der Jakob Salomon Bartholdy, seit 1815 preußischer General­ konsul in Italien, das Thema der Josephsgeschichte für seinen Auftrag an die Lukas-Brüder vorgeschlagen hat. Bartholdy und Schadow waren beide Berliner und konnten, Philipp Veit ausgenommen, der auch Berliner war, ein engeres Verhältnis zueinander haben als Bartholdy zu dem Rheinländer Peter Cornelius und dem Lübecker Friedrich Overbeck. Gottfried Schadow sah damals, wie aus einem Brief an Goethe hervorgeht, das Treiben der Lukas-Brüder wie überhaupt der Romantiker mit Mißbehagen. Er spricht von der „gotischen Bande", zu der auch sein Sohn gehöre. Dieser stellt sich in Rom angesichts des Gegensatzes von Canova und Thorwaldsen demonstrativ an die Seite des letzteren, während der Vater seinem Freund Canova die Treue hält. In „Kunst-Werke und Kunst-Ansichten" erinnert sich der alte Schadow nur ungenau der Ausstellung von 1814: „Gegen Ende der Ausstellung kamen aus Rom zwei gemalte Skizzen zu zwei Fresko-Gemälden aus der Villa Bartholdy daselbst, näm­ lich: „Josephs Traum", von Wilhelm Schadow, und die zweite Skizze von Veit." 1814 waren die Fresken noch nicht projektiert, und von „Herr Veit, in Rom" war laut Katalog nur „Der heilige Michael, nach Pietro Perugino" ausgestellt. „Herr Veit" ist aber nicht Philipp Veit, sondern sein Bruder Johannes. Die Anerkennung, die Wilhelm Schadow nach seiner Rückkehr aus Italien zuteil wurde, hat des Vaters Skepsis beruhigt, und es hat ihn offenbar mit Genugtuung erfüllt, daß sein Sohn zu einem der einflußreichsten deutschen Maler aufstieg, während er selber als Bildhauer immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. Anschrift des Verfassers: Professor Dr. Helmut Börsch-Supan, Lindenallee 7, 14050 Berlin-Charlottenburg

408

I Dr. Manfred Stolpe Ministerpräsident des Landes Brandenburg

Vereinigungsängste, roter Faden unserer Regionalgeschichte? Beitrag des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dr. Manfred Stolpe, für den Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865

„Vor vierhundert und auch noch vor zweihundert Jahren war Berlin eine märkische Stadt und stand unter dem Einfluß märkischen Lebens, jetzt ist das Berlinertum eine selbständige, von dem ursprünglichen Märkischen durchaus losgelöste Macht geworden, die nun ihrerseits auf dem Punkte steht, zu vielem anderem auch die nur hier und da noch Widerstand leistende Mark zu erobern und die Märker nolens volens früher oder später zu Berlinern zu machen." Wer jetzt allerdings meint, dieses Zitat sei der jetzigen Diskussion um die Gründung des Bun­ deslandes Berlin-Brandenburg entnommen, der irrt. Das schrieb Theodor Fontane 1889.' Der Regierende Bürgermeister hat in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift Diskussionsstand und Perspektive des gemeinsamen Bundeslandes Berlin-Brandenburg dargestellt. Ich möchte ergänzend dazu einen Blick in die Vergangenheit tun. Es war ein Zufall, daß der Neugliederungsstaatsvertrag zwischen den Ländern Berlin und Brandenburg am 27. April unterschrieben wurde, also jenem Tag, an dem vor 75 Jahren die verfassunggebende Preußische Landesversammlung das Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin verabschiedete. Die Struktur der Stadt, ihre Einbeziehung und Integra­ tion in ihr Umland war bis zu diesem Tag in ständiger Diskussion.

409 Es verging kein Jahrzehnt, in dem nicht neu nachgedacht und umorganisiert worden wäre. So zeigt uns ein Spaziergang durch die Geschichte überall am Wege, daß die Themen und Pro­ bleme, die wir heute haben, gar nicht so neu sind, wie wir immer vorgeben. Da ging es um Finanzen, um Aufgabenverteilung, um Regierungssitz, um Majorisierungsängste. Wir planen nicht die erste Vereinigung in dieser Region, Vereinigungsängste sind so etwas wie der rote Faden unserer Regionalgeschichte. Wir sind schließlich auch nicht die ersten, die etwas Neues gründen wollen: Im 13. Jahrhundert entwickelten sich bei der nahen Nachbarschaft der Städte Berlin und Colin mannigfache Beziehungen, zunächst zwischen den Kaufleuten, die schon früh, vielleicht von Anfang an, eine gemeinschaftliche Kaufmannsgilde bildeten.2 Wie heute ging wohl damals die Wirtschaft der Politik einen Schritt voraus. 1307 vereinigten sich dann Colin und Berlin. Sie errichteten als äußerlich sichtbares Zeichen — zu den bereits vor­ handenen — ein gemeinsames Rathaus auf der langen Brücke über der Spree. Der erste Neubau als Symbol der gemeinsamen Zukunft, so wie Potsdam ein Parlament für das gemeinsame Land bauen wird? Die Vereinbarungen sahen damals die Selbständigkeit von Berlin und Colin vor, soweit sie nützlich sei, daß aber in den Fällen, wo einheitliches Vorgehen ratsam erscheint, gemeinsam aufgetreten werden solle. Noch verfügte auch künftig jede Stadt über einen eigenen Haushalt und eigenes Vermögen. Sie hätten „sich oft genug feindlich gegenüber gestanden und die gegenseitige Eifersucht machte die Vereinigung nicht leicht", so sagt die Geschichtsschreibung, „sie wäre auch nicht so bald zustande gekommen, hätte nicht der äußere Drang, die Nothwendigkeit gegen die von dem räuberischen Adel drohenden Gefahren fest zusammenzustehen, sie endlich erzwungen. Die Vereinigung der Schwesterstädte zu einer gemeinschaftlichen Verwaltung trug sofort ihre deutungsreichen Früchte."3 Schon damals gab es Majorisierungsängste und komplizierte ver­ tragliche Vereinbarungen, die dem entgegen wirken sollten. Doch letztlich wußte „der Rath von Berlin und Colin jeden Regierungswechsel, jede Verlegenheit des Fürsten klug zur Erwei­ terung der Stadtrechte auszubeuten, hierdurch bildeten sich dann nach und nach die Schwe­ sterstädte zu kleinen Republiken, welche zwar noch bestimmte Abgaben an den Landesherren zu entrichten hatten, in ihrer Selbstregierung aber völlig unabhängig waren ... Solche Rechte, solche Macht erzeugte in den Bürgern jener Zeit ein Vollbewußtsein ihrer Kraft, welches sie oft genug zu Überschreitungen ihrer Rechte hinriß, die sie mitunter schwer büßen mußten. Die Berliner waren stets ein leicht aufgeregtes Völkchen, schnell mit dem Worte da, wie heute noch, aber damals auch schnell mit der That bei der Hand, wie heute wohl nicht mehr." 4 Ein Trost für die Brandenburger von heute? 1432 wurden dann Berlin und Colin richtig zu einer Stadt vereinigt. Das Vermögen beider Städte, alle Einrichtungen, das Gericht und die gesamte Verwaltung sollten gemeinsam sein. Nur die Innungen blieben getrennt, offenbar deshalb, weil die regierenden Herren glaubten, auf diese Weise die Handwerker besser im Zaume halten zu können.5 Doch die Residenz wuchs. 1707 befahl König Friedrich I. dem Geheimen Rat von Ilgen Ver­ handlungen mit den Räthen der fünf Städte aufzunehmen, in die die Residenz jetzt aufgeteilt war. „Wie sehr es auch in die Augen springen mußte, daß die Durchführung des Königlichen Plans zum Vorteil der Stadt gereichen würde, so fand derselbe doch bei den einzelnen Magi­ straten vielfachen Widerstand; freilich nur bei den Magistraten nicht bei dem Volk, denn die Bürgerschaft wünschte selbst eine Vereinigung, die Magistratsmitglieder aber widerstreben derselben, weil ihr persönlicher Vortheil und ihr persönliches Ansehen in den einzelnen Städ­ ten schwinden mußte, wenn eine allgemeine Behörde eingesetzt wurde."6 Im Januar 1709 hatte der König das Hin und Her satt und vereinigte durch ein Dekret dann kurzentschlossen die fünf Städte zu einer Stadt. Der König regierte heftig weiter hinein: Im Februar 1747 erließ

410 König Friedrich II. ein neues rathäusliches Reglement. Er begründet den Zweck der Verände­ rung, daß „fortan der Zustand der Stadt in einer der Wohlfahrt des Publikums und dem Inter­ esse des Königs entsprechenden Weise geordnet werde."7 Den nächsten großen Einschnitt brachten die Stein-Hardenbergschen Reformen mit der Tren­ nung von staatlichen und städtischen Behörden und der neuen Städteordnung von 1808.1809 wurde die königliche Regierung nach Potsdam verlegt. Streit um den Sitz der Regierung gab es schon damals. Der gebürtige Westfale Ludwig von Vincke lehnte als Präsident auch persönlich Berlin als Sitz seiner Regionalverwaltung ab: „Die ganze Lebensweise wirkt dort dahin, die Beamten von den Geschäften abzuführen, sie träge schlaff, selbstsüchtig zu machen; bei so mancherlei Anlaß zu Zerstreuungen wird die Arbeit sehr leicht Nebensache."8 Eine Argumen­ tation, die allerdings schon einmal so ähnlich gegen die Errichtung einer Universität in Berlin vorgebracht worden war.9 Die städtische Selbstverwaltung für Berlin löste eine Diskussion über Finanzierung, Schuldentilgung, Aufgabenaufteilung zwischen Stadt und Land und Kom­ petenzen innerhalb der Stadt aus, Themen, die mir aus den Verhandlungen über den Neuglie­ derungsvertrag mehr als geläufig sind. Für 1810 schreibt Streckfuß: „... als die Stellung der Stadtbehörde gerade damals durchaus keine leichte war. Durch den Krieg, die Contributionen, die herrschende Armuth befanden sich die Stadtkassen in dem traurigsten Zustande. Berlin war mit Schulden überbürdet, und das Geld diese zu bezahlen oder auch nur die drängendsten Bedürfnisse des Stadthaushaltes zu befriedigen, fehlte. Schon bald nach ihrer Wahl, am 17. Juni 1809, mußten sich die Stadtverord­ neten an die bemittelten Einwohner wenden, um von diesen Vorschüsse für die Stadtkasse zu erbitten, damit nur die notwendigsten Zahlungen geleistet werden konnten."in Die Schuld betrug am 1. Januar 1817 noch rund 4 243 000 Taler." Auch die Personalkosten waren schon damals nicht ohne Bedeutung: 1819 hatten sich die Ausgaben für die Beamten durch deren Vermehrung so sehr erhöht, daß die Kämmerei eines Zuschusses aus der Stadtkasse von 32 500 Talern bedurfte.12 Für die Tilgung der Stadtschulden wurde erst 1828 mit der Kabinetts­ order vom 24. Juni ein systematischer Tilgungsplan genehmigt. Bis 1861 sollte die Tilgung beendet sein und die Regierung in Potsdam die Einhaltung der Bestimmungen überwachen, eine Maßregel, die man von 1838 an fallen ließ.a 1838 war es nämlich nach 30 (!) Jahren gelun­ gen, Aufgaben und Ausgaben auf der Basis der Arbeit einer „Ausgleichskommission" zwi­ schen Stadt und Land eindeutig zu regeln. Für den dann „durch die Kabinettsorder vom 31. Dezember geschaffenen Ausgleich sprachen Magistrat und Stadtverordnete in einer Adresse dem König ihren Dank aus".14 Worum es damals ging: z. B. um die Anlegung, Pflaste­ rung und Beleuchtung der Straßen und ihre Reinhaltung, um Kosten der Wohlfahrt, um die Unterhaltung der Stadtvogtei und der Gerichts- und Polizeigefangenen. Die Besoldung der Polizeibeamten war nach dem Gesetz vom 30. Mai 1820 der Stadt abgenommen, ebenso die der Richter und Justizbeamten. Seit 1881 erhielt Berlin wieder eine Sonderstellung als eigner Verwaltungsbezirk im Verhältnis zur Provinz Brandenburg. Damit war aber der Plan des Berliner Oberbürgermeisters Arthur Hobrecht zur Bildung einer Provinz Berlin gescheitert. Er wollte Berlin und Charlottenburg als Stadtkreise mit den umliegenden Gemeinden als Landkreis zu einer Provinz vereinigen, um überörtliche Aufgaben wie Verkehrspolitik, Wasser- und Gasversorgung, Kanalisation ein­ heitlich regeln zu können. Das scheiterte auch am Widerstand des Landrates des Kreises Teltow, der steuerstarke Gemeinden wie Schöneberg und Tempelhof nicht an eine Provinz Berlin verlieren wollte.15 Der Kreis Niederbarnim wollte sich bei Umstrukturierungen am liebsten gleich solcher finanzschwacher Arbeitergemeinden wie Boxhagen und Rummelsburg entledigen.16

411 Das Stoßgebet eines Spandauers bei der Grundsteinlegung zum Rathaus 1910 „Mög' schützen uns des Kaisers Hand vor Groß-Berlin und Zweckverband" wurde nicht erhört: Am 1. April 1911 wurde der Zweckverband Groß-Berlin gegründet, der von den Geschichtsschreibern als unglückseliges Unterfangen bezeichnet wird, das schon von seiner Konstruktion her zum Scheitern verurteilt war. Es war der verzweifelte Versuch, die notwendige Zusammenarbeit durch ein Vertragswerk statt mit einer Vereinigung zu erreichen. Allen Apologeten der Staats­ vertragslehren empfehle ich, diesen Irrweg sorgfältig zu studieren. Am 20. April 1920 setzten dann mit nur 16 Stimmen Mehrheit USPD und SPD — dank der Enthaltung des Zentrums — gegen den Widerstand der meisten Abgeordneten der übrigen bürgerlichen Parteien das Berlin-Gesetz durch. Welche Ängste waren damals vorhanden? Die Furcht vor dem roten Berlin einte Potsdamer und Zehlendorfer. Kommunalpolitiker witterten die Gefahr, die finanziellen Mittel würden jetzt hauptsächlich in die Arbeiterbezirke des Ostens fließen. Komplizierte Konfliktregulierungsmechanismen waren der Kern des Gesetzes. Dieses komplizierte Zusammenfügen so vieler verschiedener Strukturen schien die Konflikte zu pro­ grammieren. Wieder eine Parallele zu heute? Vielleicht in der Hoffnung, die wir damit verbinden, denn wir erlebten nach 1920 einen Aufschwung für Berlin und Brandenburg, dem erst der Nationalso­ zialismus ein Ende setzte. Wir wollen ein neues Land gründen mit langer Geschichte zum Vorteile aller, eine neue Ebene schaffen, eine neue Qualität der Zusammenarbeit, die in der Regel keinen Schiedsrichter benö­ tigt. Es geht eben auch nicht nur um das Verhältnis einer großen Stadt zu ihrem Umland wie 1920. Wieder haben wir Ängste, wieder besteht die Gefahr, daß die Sorgen die Möglichkeiten verbauen könnten. Denn die Möglichkeiten eines gemeinsamen Landes sind wirklich keine Träume, sind keine Illusionen, sondern unbestreitbare Tatsachen. Ziehen wir die richtigen Lehren aus der Geschichte!

Anmerkungen

1 Theodor Fontane: Die Märker und die Berliner und wie sich das Berlinertum entwickelte, aus: Sämtliche Werke, Band XIX (Politik und Geschichte), München 1969, S. 755 2 Paul Goldschmidt: Berlin in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1910, S. 11 3 Adolf Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte, Berlin 1886, Band 1, S. 8 4 Streckfuß, a.a.O., S.9 5 Paul Goldschmidt, a. a. O, S. 21 6 Streckfuß, a.a.O., S. 274 7 Streckfuß, a.a.O., S.445 8 Paul Goldschmidt, a.a.O., S. 194 9 Streckfuß, a.a.O., S.656 10 Streckfuß, a. a. O., S. 629 11 Paul Claußwitz: Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin, Festschrift zur hundertjähri­ gen Gedenkfeier der Einführung der Städteordnung, Berlin 1908, S. 139 12 Claußwitz, a.a.O. 13 Claußwitz, a.a.O., S. 141 14 Claußwitz, a.a.O., S. 163 15 Hans Herzfeld: Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1968, S.253 12 Herzfeld, a.a.O., S. 256f.

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4 Abbl: Berlin-Mahlsdorf, Alte Pfarrkirche aus dem 13. Jh. Foto: Monika Uelze (1994)

650 Jahre Mahlsdorf Von Harald Kintscher und Dieter Winkler

Es mag gegen Ende des Jahres 1344 oder zu Beginn des Jahres 1345 gewesen sein, daß der Rit­ ter Thyle Ryteling den Ort Malterstorp auf dem Barnim an den Ritter Otto von Kethelitz ver­ kauft hat. Jedenfalls am 25. Januar 1345 bestätigte der damalige Markgraf Ludwig d. Ä. diesen Handel in einem Schriftstück und übertrug den Ort mit allen Rechten und Pflichten an Otto von Kethelitz. Dies ist der erste überlieferte urkundliche Nachweis von der Existenz unseres heutigen östlichsten Berliner Ortsteils Mahlsdorf. Gegründet wurde der Ort jedoch zumindest einhundert Jahre zuvor im Zuge der Eroberung und Besiedlung des Barnims durch die Aska- nier bzw. Wettiner, die im Jahre 1209 im nahen Köpenick nachgewiesen sind. Zeugnis von der früheren Ortsgründung gibt heute noch die alte Pfarrkirche in der jetzigen Hönower Straße, deren Kirchenschiff um die Mitte des 13. Jahrhunderts errichtet sein muß. In einem späteren Dokument, dem Landbuch Karls IV. aus dem Jahre 1375, wurden Otto und Rüdiger von Fal­ kenberg „seit Alters" als Herren von Malsterstorf, wie es hier bezeichnet wurde, genannt.

413 Mahlsdorf war damals ein Dorf mit 50 Hufen Land, von denen fünf zum Hof der Falkenbergs gehörten und vier dem Pfarrer. Außerdem wurden ein Krug und 19 Kossäten erwähnt. Von 20 Hufen gingen Pacht und Zins an den Gutsherrn von Dahlwitz, Johann Belitz, von den Falken­ bergs noch Gefälle an eine Berliner Bürgerin namens Katharina Frankfurts. Angelegt war Mahlsdorf, wie viele Dörfer in den neuen Ostgebieten, als Straßendorf. Der heu­ tige Straßenzug Hönower Straße—Hultschiner Damm, begrenzt im Norden von der Pestalozzi- und im Süden von der Elsenstraße, dürfte auf die ursprüngliche Dorfstraße zurückgehen. Gleichzeitig führte die alte Verbindungsstraße zwischen Berlin und Frankfurt/Oder über einen Teil der alten Dorfstraße. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatten sich im Ort zwei Gutswirtschaften herausgebildet, deren Eigentümer durch Kauf und Verkauf aber mehrfach wechselten. Nach der Vereinigung der beiden Gutswirtschaften unter der Familie Grieben (an Gertrud Grieben erinnert ein Grabstein aus dem Jahre 1579 in der alten Mahlsdorfer Kir­ che) erwarb 1573 zunächst „wiederverkäuflich", 1575 „erblich" und schließlich 1583 lehns- rechtlich verbrieft der kurbrandenburgische Kanzler Lampert Distelmeier (gelegentlich auch Distelmeyer geschrieben) das Gut. Aus der Zeit seines Sohnes und Nachfolgers als Gutsherr stammt noch ein Epitaph im Altarraum der alten Pfarrkirche in Mahlsdorf mit dem Familien­ wappen. Im Dreißigjährigen Krieg wurde Mahlsdorf, wie viele seiner Nachbarorte, mehrfach heimge­ sucht und verwüstet. Der für den ganzen Barnim und die Mark Brandenburg verzeichnete Bevölkerungsrückgang traf auch Mahlsdorf. Anstelle von 12 besetzten Bauern- und 14 Kossä­ tenstellen im Jahre 1624 fanden sich 1852 nur drei Bauern und drei Kossäten. Zwischenzeitlich soll Mahlsdorf sogar völlig wüst gewesen sein. In der Phase des Landesausbaus nach dem Drei­ ßigjährigen Krieg ging das Gut 1676 in kurfürstlichen Besitz über und wurde ein Vorwerk des Amtes Köpenick bzw. später des Amtes Mühlenhof. 1696 gab es in Mahlsdorf zehn Bauern und vier Kossäten. 1753 wurde unter Friedrich II. am Südostzipfel der Mahlsdorfer Feldmark die Kolonie Kieke­ mal gegründet. Einwanderer aus Württemberg siedelten sich dort an. Allerdings blieb diese Einwandererkolonie mit nie mehr als sechs Feuerstellen und 55 Einwohnern vergleichsweise klein. Bis 1911 gehörte sie zum Gut Dahlwitz und wurde erst im Zuge der Parzellierung und Besiedlung der südlichen Mahlsdorfer Feldmark nach Mahlsdorf eingemeindet. Im Ergebnis der preußischen Reformen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zur Verpachtung und 1821 zum Verkauf des königlichen Vorwerks an den Kaufmann und Fabri­ kanten Johann Friedrich Kaapke. Aus dem Vorwerk wurde ein selbständiges Rittergut. Nach­ dem im Jahre 1816 bereits die Separation der zum Vorwerk gehörenden Flächen durchgesetzt worden war, erfolgte reichlich zehn Jahre später die Separation des Grund und Bodens für die Mahlsdorfer Bauern. Mit der gleichzeitig vollzogenen Ablösung der Bauern von den Feudalla­ sten entstanden somit unabhängig voneinander wirtschaftende landwirtschaftliche Betriebe, was zugleich mit einer stärkeren sozialen Differenzierung im Dorf verbunden war. 1891 erfolgte schließlich die Wahl der ersten Gemeindevertretung. Das Gut nahm eine für viele ostelbische Rittergüter typische Entwicklung, vergrößerte seinen Landbesitz, betrieb bald mit zwanzig Tagelöhnerfamilien eine umfangreiche Pflanzenproduk­ tion, intensive Milchwirtschaft und ausgedehnte Schafhaltung, die allerdings im Jahre 1908 eingestellt wurde, sowie eine gutseigene Spiritusbrennerei. Unter den Rittergutsbesitzern zu nennen ist vor allem der jüdische Kaufmann Hermann Lachmann, der das Gut 1869 erwarb, das bereits um 1780 errichtete Gutshaus rekonstruieren und im Stil der Zeit modernisieren sowie einen Gutsgarten anlegen ließ. 1880 kaufte Hermann Schrobsdorff das Gut und ließ den Gutsgarten zu einem repräsentativen Park umgestalten. Die nach seinem Tod das Rittergut

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I Abb. 2: Mahldorfer Gutshaus, Aufnahme von 1908 Fotosammlung Landesarchiv Berlin weiterführende Witwe Renate Schrobsdorff, eine Nichte des Dichters Friedrich Rückert, för­ derte die Entwicklung des Ortes, stellte u. a. Land und finanzielle Zuschüsse für die Errichtung eines Haltepunktes an der Königlichen Ostbahn zur Verfügung, die seit 1867 die Mahlsdorfer Flur durchquerte, und setzte sich für die Schaffung einer Straßenbahnverbindung zwischen den Vorortbahnhöfen Köpenick und Mahlsdorf ein. Nach ihrem Tod im Jahre 1908 wurde 1912 der bisher selbständige Gutsbezirk in die Landgemeinde Mahlsdorf überführt. Seit Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts geriet Mahlsdorf immer stärker unter den Ein­ fluß der sich nach der Reichsgründung 1871 weit in das Umland ausdehnenden Reichshaupt­ stadt Berlin. Die 1895 erfolgte Eröffnung des Haltepunktes Mahlsdorf an der Ostbahn sowie die Einweihung der Straßenbahnlinie (1907) beförderten diesen Prozeß ungemein. Zwischen 1895 und 1900 stieg die Einwohnerzahl von 850 auf 1054, bis 1905 auf 2107 und bis 1910 auf 3891. Mit der Parzellierung vieler landwirtschaftlicher Flächen ging eine rege Bau- und Sied­ lungstätigkeit einher. Im Norden und Osten des alten Dorfkeras, insbesondere in der Bahn­ hof sgegend entstand ein neues vorstädtisches Wohn- und Geschäftsviertel und damit ein neues Ortszentrum. Die ersten Wohn- und Siedlungshäuser, ja auch einige Villen entstanden ebenso in den Weiten der Mahlsdorfer Feldmark, insbesondere an der Grenze zur Köpenicker Gemar­ kung. Vielfach neu entstehende Gaststätten orientierten sich zugleich auf Berliner Ausflügler. Mehr als 40 Gartenbaubetriebe versorgten den Berliner Osten mit Gemüse, Obst und Blumen. 1905 entstand auch eine Nutzgeflügelmastanstalt. Aus einem reinen Guts- und Bauerndorf entwickelte sich Mahlsdorf in historisch kurzer Zeit zu einem Wohn- und Siedlungsvorort Ber­ lins und bemerkenswerten Gewerbestandort, der allerdings noch längere Zeit, wenn auch mit abnehmender Tendenz, von der Landwirtschaft mitgeprägt wurde.

415 Seit dem 31. Juli 1907 war Mahlsdorf wieder eine eigenständige Kirchengemeinde. 1904/05 wurde für die rasant gewachsene Schülerzahl ein neues modernes Schulgebäude errichtet, das im Jahre 1909 bereits erweitert werden mußte, und 1910/11 erbaute sich die aufstrebende Ge­ meinde ein repräsentatives Rathaus, das leider im Zweiten Weltkrieg zerstört worden ist. Ver­ eine wie der 1898 gegründete Haus- und Grundbesitzerverein Mahlsdorf-Süd, der Sportverein „Eintracht", der Männerchor „Eintracht", beide bestehen heute noch, sowie der Theaterverein „Königstal" beförderten die Urbanisierung des ehemaligen Dorfes und formten das Bild regen gesellschaftlichen Lebens. 1905 folgte die Bildung eines sozialdemokratischen Wahlvereins und 1906 eines liberalen Bürgervereins als erste kommunalpolitische Organisationen. Bei der Schaffung von Groß-Berlin 1920 wurde Mahldorf — es hatte mittlerweile (1919) 6118 Einwohner — Teil des Verwaltungsbezirks 17, Berlin-Lichtenberg. Nach der Inflation nahm die Bau- und Siedlungstätigkeit einen neuen Aufschwung. Hier ist insbesondere die 1920 gegrün­ dete Siedlungsgenossenschaft „Lichtenberger Gartenheim" zu nennen, die auf dem 1919 von der Stadt Lichtenberg erworbenen Rittergut 720 Parzellen in Mahlsdorf-Nord und 190 Parzel­ len in Mahlsdorf-Mitte schuf. Unter maßgeblicher Betreuung durch den bekannten Architek­ ten Bruno Taut und den späteren Stadtbaurat von Berlin, Martin Wagner, entstand seit 1924 eine größere Anzahl von Doppel- und Einzelhäusern, die vorwiegend Arbeiter- und Kriegs­ teilnehmerfamilien ein eigenes Heim ermöglichten. Weitere Siedlungen — Eichenhof in Mahls­ dorf-Süd seit 1928/29 und Elsengrund seit 1933/34 — entstanden auf den vom Wasserwerk im Kaulsdorfer Busch trockengelegten ehemals feuchten Mahlsdorfer Wiesen südlich der Bar­ nimkante. Mit der Errichtung eines neuen Bahnhofsgebäudes (1929—1931) und der Auf­ nahme des elektrischen Stadtbahnverkehrs (1930) konnte die Anbindung an das Berliner Stadtzentrum sowie an die anderen Berliner Bezirke wesentlich verbessert werden. Auf Fotos aus der NS-Zeit drängen sich auch in diesem Teil des vormaligen „roten Ostens" von Berlin die Symbole und Erkennungszeichen des Regimes recht häufig ins Bild. In Vereinen und (nicht verbotenen) Organisationen wurden die Leitungsfunktionen zumeist durch NS-Aktivi- sten oder durch Mitläufer besetzt. Gleichzeitig gab es aber auch in Mahlsdorf zumindest bis Mitte der 30er Jahre einen nicht unbeträchtlichen Widerstand, insbesondere von Seiten der Kommunisten. Aber auch noch später wurden Dokumente versteckt, Verfolgte verborgen. Gleichzeitig wuchs die Wohnbevölkerung in Mahlsdorf auf 16 613 im Jahre 1933 und 19 744 im Jahre 1938. Das erforderte u. a. die Errichtung zweier Schulen, einer im nördlichen (1935—1937) und einer im südlichen Siedlungsgebiet (1937), der zwei Kirchenbauten, die Kreuzkirche 1936 in Mahlsdorf-Nord und das Theodor-Fliedner-Heim 1937 in Mahlsdorf- Süd, folgten. Nach zahlreichen Zerstörungen durch den Bombenkrieg besetzte am 22. April 1945 die Sowjetarmee den Ort kampflos. In den Jahren der DDR niemals ein „Zentrum des sozialisti­ schen Aufbaus", blieb Mahlsdorf in den Jahren 1949 bis 1989 peripheres Wohn- und Sied­ lungsgebiet, und es fanden nur geringfügige strukturelle Verbesserungen statt: Neubau einer Schule, Ergänzungsbau einer weiteren, Errichtung einer Kinder- und Säuglingsstätte, zweier Kaufhallen, die jedoch die Auswirkungen langjähriger Mangel- und Kommandowirtschaft, der Behinderung privatwirtschaftlicher Initiativen kaum ausgleichen konnten. Fehlende Baumate­ rialien hemmten dazu notwendige Erhaltungsmaßnahmen an Wohn- und Geschäftshäusern sowie ebenfalls an öffentlichen Gebäuden. Der Initiative und dem über Jahrzehnte nicht erlah­ menden Einsatz von Lothar Berfelde bzw. Charlotte von Mahlsdorf ist es jedoch zu verdanken, daß das Mahlsdorfer Gutshaus bewahrt und in diesem Gebäude eine mittlerweile international bekannte Gründerzeitsammlung errichtet wurde. Die Einwohnerzahl Mahlsdorfs hatte sich seit Kriegsende wieder vermindert und belief sich im August 1990 auf 13 450.

416 Abb. 3: Mahldorfer Schule, Aufnahme um 1911 Heimatmuseum Hellersdorf

Nach der Wende im Herbst 1989 und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland 1990 wurde Mahlsdorf—seit 1986 Ortsteil des Bezirks Hellersdorf—in den Prozeß der Verän­ derungen einbezogen. Ein Teil der Umstrukturierungen trägt allerdings einen ambivalenten Charakter. Einerseits gingen bestehende Betriebe wie BAU OST in den Konkurs, andererseits entsteht an der B15 ein 13 Hektar großer Gewerbepark, in dem einmal 1200 bis 1500 Men­ schen Arbeit finden sollen. Auf 12 Hektar errichtet die Firma Holz-Possüng einen Groß- und Einzelhandelsmarkt. Kleinere private Geschäfte, die in der DDR unter einer gegenüber den Staatshandelsläden schlechteren Warenbelieferung zu leiden hatten, sind derzeit infolge man­ gelhafter Kapitalausstattung und Arbeitsproduktivität gegenüber großen, aus den alten Bun­ desländern stammenden Handelsketten kaum mehr konkurrenzfähig. Infolge der beträchtlich gestiegenen Immobilienpreise hat erneut eine rege Bautätigkeit einge­ setzt, die aber nicht nur eine weitere Verdichtung der Bausubstanz und ein spürbares zusätzli­ ches Bevölkerungswachstum mit sich bringt, sondern auch — gelegentlich entstellende — Ver­ änderungen an historischen Gebäuden und einen beginnenden Bevölkerungsaustausch zur Folge hat. So sollte das Mahlsdorfer Jubiläum u. E. nicht nur Jubelfest sein, sondern auch Anlaß zu einer alle gesellschaftlichen Felder erfassenden Bestandsaufnahme. Die neu errun­ gene Demokratie und der danach eingeführte Rechtsstaat machen das möglich.

Anschrift der Autoren: Harald Kintscher, Mirower Straße 125, 12623 Berlin-Mahlsdorf/Süd Dieter Winkler, Leiter des Heimatmuseums Hellersdorf, Jenaer Straße 11, 12627 Berlin-Hellersdorf

417 „Widersprüchliches Ensemble von harmonischer Vielfalt" — die Berliner Museumsinsel Von Wolfgang Branoner

Auf der deutschen Auswahlliste für das Weltkulturerbe steht die Museumsinsel mit an oberster Stelle. Im Dezember 1995 wird die Weltkulturerbe-Kommission deshalb in der deutschen Hauptstadt tagen und dabei auch das einzigartige Denkmalensemble der Museumsbauten auf der Spreeinsel aus eigener Anschauung kennenlernen. Nichts könnte den herausragenden kul­ turhistorischen Rang dieser Berliner Museen und Sammlungen besser illustrieren als ihre Auf­ nahme in das Schutzgut der weltweit bedeutendsten Monumente der Menschheit. Die Erhaltung und Stärkung der Museumsinsel bildet für Berlin und die Bundesrepublik Deutschland eine besondere Verpflichtung. Dies gilt sicher im besonderen Maße für die Berli­ ner Denkmalpflege, liegt aber nicht zuletzt auch in der Verantwortung der Hauptstadtplanung und der Kulturförderung durch Land und Bund. „Die Einmaligkeit der Berliner Museumsin­ sel", so schrieb einmal ein bekannter Berliner Kunsthistoriker, „liegt in der Qualität ihrer Kunstwerke und in ihrem widersprüchlichen Ensemble von harmonischer Vielfalt." Dabei soll es auch bleiben.

„Kulturforum" des 19. Jahrhunderts

Vor anderen Museumskomplexen in Europa zeichnet sich die Berliner Museumsinsel zunächst durch ihre unvergleichliche Lage aus. Auf der nördlichen Inselspitze zwischen Spree und Kup­ fergraben gelegen und mitten in der Stadt im unmittelbaren topographischen Kontext des gesprengten Schlosses entstanden und entwickelt, ist die Museumsinsel durch eine unverwech­ selbare naturräumliche und stadträumliche Einbindung geprägt. Insbesondere das antikisie­ rende Alte Museum mit seiner kolossalen Säulenhalle und dem vorgelagerten Lustgarten reflektiert — zusammen mit dem barocken Zeughaus und dem neubarocken Berliner Dom — noch das durch den Palast der Republik unvollkommen ersetzte Berliner Stadtschloß. Vor allem aber repräsentieren die zwischen 1824 und 1930 entstandenen fünf historischen Museumsbauten und ihre Sammlungen ein Jahrhundert europäischer Museums- und Archi­ tekturgeschichte. Von dem klassizistischen Alten Museum (1824—28) Karl-Friedrich Schin- kels bis zum neoklassizistischen Pergamonmuseum (1909—30) Alfred Messeis und Ludwig Hoffmanns stehen die Solitärbauten der Insel für Hauptvarianten des Historismus in der Museumsarchitektur des 19. Jahrhunderts. Der räumliche Zusammenhang, die gemeinsame Insellage, einige Verknüpfungen durch Brük- kenbauwerke und die teilerhaltenen Einfassungen durch umlaufende Kolonnaden erinnern an den Friedrich August Stülers gemeinsam mit König Friedrich Wilhelm IV. entworfenen „Masterplan" für den Ausbau der Insel zur „Freistätte für Kunst und Wissenschaft" (1841), der eine Art Berliner „Kulturforum" des 19. Jahrhunderts entstehen ließ. Der Bau des Neuen Museums (1843—55) und der denkmalhaft auf hohem Sockel mit Freitreppe erhabenen Natio­ nalgalerie (1866—76) zeigen beide noch die Handschrift Friedrich August Stülers und des königlichen Idealplans. Die Überquerung des Kupfergrabens und der Spree durch die Stadt­ bahn (1883) kreuzte auch die Museumsinsel und rückte das wilhelminische Kaiser-Friedrich- Museum (1897—1904, Ernst von Ihne) auf der Nordspitze etwas aus dem engeren Museums­ verbund. Die monumentale Dreiflügelanlage des Pergamonmuseums schloß in unserem Jahr-

418 Die Berliner Museumsinsel heute. Archiv des Verfassers. hundert die verbliebene „Baulücke" auf der Museumsinsel und orientierte sich mit ihrem riesi­ gen Ehrenhof auf eine unrealisiert gebliebene Durchbruchachse in Richtung Universität. Den im Lauf von rund 100 Jahren gewandelten städtebaulichen und architektonischen Leitbildern verleihen die Solitärbauten der Museumsinsel sinnfällig Ausdruck. Zugleich aber wahren sie in Gestaltung und Funktion den Zusammenhang der schon Generationen früher entworfenen „Freistätte" auf der Museumsinsel.

„Italienischer Rationalismus und preußischer Klassizismus" — der Entwurf zum Neuen Museum

Zum sichtbaren Zeichen, ja zum Wahrzeichen der nach dem Fall der Mauer aufgenommenen Anstrengungen zur denkmalgerechten Erhaltung und Entwicklung des Museumskomplexes sollten der geplante Wiederaufbau und der Erweiterungsbau des seit dem Krieg teilzerstörten Neuen Museums von August Stüler werden. Zugleich stehen Programm und Ergebnis der Wettbewerbsausschreibung aber auch für das denkmalpflegerische Anliegen, unserer Zukunft eine Vergangenheit zu sichern. Ging es doch mit dem Entwurf zur Arrondierung des Denkmal­ ensembles durch einen sechsten Museumsneubau immer auch um die ergänzende Schließung der letzten Kriegsruine auf der Museumsinsel, also um ein richtigverstandene s Wiederaufbau­ konzept für das seit zwei Generationen fragmentierte Neue Museum.

419 Das Wettbewerbsergebnis kann sich sehen lassen. Das eindeutige Votum für den ersten Preis­ träger, Giorgio Grassi aus Mailand, ist ein Gewinn, für die Denkmalpflege ebenso wie für die Staatlichen Museen. Aber auch aus städtebaulicher Sicht zeigt der siegreiche Entwurf richtige Entwicklungsperspektiven für die Berliner Mitte auf. „Italienischer Rationalismus und preußi­ scher Klassizismus", so der Juryvorsitzende, Professor Max Bäcker aus Darmstadt, „vertragen sich nicht schlecht an diesem Ort und ergänzen einander gut. Die disziplinierte Haltung in Grassis Projekt wird verstanden. Gerade sie hatte einmal eine gute Tradition in Berlin. Der zurückhaltend spröde Entwurf birgt aber weit mehr, als es auf Anhieb erkennen läßt. Es geht nicht um die äußere Form, sondern um eine Geisteshaltung." Die intelligent und sensibel vom Denkmalbestand abgesetzte Reparatur des Neuen Museums und sein vorgelagerter Erweite­ rungsbau am Kupfergraben wahren die Tradition der Museumsinsel und schreiben sie mit Mit­ teln einer zeitgenössischen Architektur in das kommende Jahrhundert fort.

Anschrift des Verfassers: Staatssekretär Wolfgang Branoner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz Lindenstraße 20, 10969 Berlin-Kreuzberg

Gartenarchitekt Ludwig Lesser (1869-1957) Von Ingolf Wernicke

Ludwig Lesser war der erste freischaffende, ausschließlich planerisch tätige Gartenarchitekt in Deutschland. Zu seinen größten städtebaulichen Projekten in Berlin und Umgebung gehörten die Gestaltung der Plätze und Grünanlagen der Villenkolonien „Gartenstadt Frohnau", Zeh­ lendorf-Grunewald, Zehlendorf-West, der Landhaussiedlung Saarow-Pieskow, der Garten­ städte Staaken und Falkenberg, der Weißen Stadt in Reinickendorf sowie der Bahnhofvor- plätze von Hermsdorf und Wittenau. Er entwarf zahlreiche Heilstättenparks in der Mark Bran­ denburg, in Thüringen, Pommern, im Harz und im Riesengebirge, ferner Sportplätze, Fried­ höfe und Familiengrabstätten, Ausstellungsanlagen sowie Hotel- und Restaurationsgärten. Bis 1933 gestaltete Ludwig Lesser ca. 700 Privatgärten im Inland und im Ausland. Am eindrucks­ vollsten lassen sich die Spuren seiner Arbeit heute noch in Berlin-Frohnau verfolgen.

Das Grünsystem Frohnaus

Im Jahre 1907 kaufte Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck von Baron Werner von Veitheim-Schönfließ 3000 Morgen Wald der Stolper Heide und überließ den Grundbesitz der ihm unterstehenden Berliner Terrain-Centrale GmbH in der Absicht, eine Gartenstadt zu errichten. Nach der Ausschreibung eines Wettbewerbs zur städtebaulichen Planung im Jahre 1908 wurde die Anlage der Gartenstadt Frohnau (= „Frohe Aue") von den Gewinnern, den Charlottenburger Architekten Joseph Brix und Felix Genzmer, verwirklicht. Das gesamte Grünsystem, die gartenarchitektonische Anlage der Plätze und die Bepflanzung der Straßen und Alleen, wurde von Ludwig Lesser konzipiert, der 1908 zum Gartendirektor der Berliner Terrain-Centrale GmbH ernannt worden war.

420 Porträt Ludwig Lesser (um 1930). Archiv Heimatmuseum Reinickendorf

Das Zentrum der Gartenstadt wird durch den Ludolfingerplatz und Zeltinger Platz (ehemals Bahnhofs- und Cecilienplatz) gebildet. Über die bis zur Einweihung der Gartenstadt im Jahre 1910 fertiggestellten Anlagen schrieb Ludwig Lesser: „Beide Plätze fügen sich nach außen hin in das zukünftige Stadtbild und in das Straßennetz organisch ein. Sie bieten fernerhin dem eili­ gen vom Bahnhof kommenden Fußgänger einen möglichst direkten Weg in die Kolonie hinein. Andererseits soll ihre innere Aufteilung, trotz dieser unbedingt notwendigen Zugeständnisse an den Verkehr, möglichst zusammenhängende, ruhige Flächen bilden. Aus diesem Grunde wurde auch der Fuhrwerksverkehr für beide Plätze außen herumgelegt." (Ludwig Lesser, Die Platzanlagen in Frohnau. In: Die Bauwelt 1910, Nr. 28, S. 13) Weitere Arbeiten Lessers in Frohnau sind der in seiner Grundform architektonisch gestaltete Rosenanger, der Poloplatz, der als Teil eines großen Sport- und Erholungsparks konzipiert war und von einer vierreihigen Roßkastanienallee umsäumt wird, sowie der Waldfriedhof in der Hainbuchenstraße. Als repräsentative Grünanlage am Eingang der Villenkolonie schuf Lud­ wig Lesser den Edelhofdamm (damals Kaiserpark). Ein bis heute erhaltener mit Ziegeln gedeckter Unterstand, Blumenrabatten und Kübel mit geschnittenen Eiben empfingen die Besucher, die vom Oraniendamm her nach Frohnau hineinfuhren, und vermittelten bereits am Eingang der Siedlung den Eindruck einer „Stadt im Grünen".

421 Gartenstadt Frohnau Die Grünanlagen des Ludolfingerplatzes (ehemals Bahnhofsplatz) Archiv Heimatmuseum Reinickendorf

Die Alleen der Gartenstadt, die sich von Anfang an zu einer Villenkolonie für Bessergestellte entwickelte, bepflanzte Ludwig Lesser zwischen 1908 und 1910 mit 10 000 aus Holland impor­ tierten Bäumen, jede Straße mit einer anderen Art. Dadurch ergaben sich unterschiedliche Stimmungsbilder, die bis heute den Charakter Frohnaus ausmachen.

Biographie und Hauptschaffensperiode Ludwig Lessers

Ludwig Lesser wurde 1869 in der Nähe des Potsdamer Platzes geboren und wuchs im Herzen der sich entwickelnden Metropole Berlin auf. Sein gleichnamiger Großvater war ein bekannter Theaterkritiker, Hymnendichter und Poet der Berliner Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahr­ hunderts Er unterzeichnete mit 30 weiteren Personen 1845 einen Aufruf, der zur Gründung der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin führte. Als junger Mann sammelte Ludwig Lesser von 1883 bis 1893 bei zahlreichen Gärtnereien, Samenhandlungen, Hoflieferanten und Blumenversandbetrieben im Inland und Ausland seine beruflichen Erfahrungen. 1890/91 absolvierte er seine Militärausbildung beim Garde­ schützenbataillon Lichterfelde. Nach seiner Tätigkeit als Landschaftsgärtner in einer eigenen Gärtnerei in Freiburg im Breisgau von 1893 bis 1902 kehrte er wieder nach Berlin zurück. Seit 1908 arbeitete Ludwig Lesser nur noch als entwerfender Gartenarchitekt und unterhielt ein eigenes Planungsbüro in seinem Haus in der Humboldtstr. 8 (heute Seierweg) in Berlin- Steglitz. Seine Hauptschaffensperiode erstreckte sich von 1902 bis 1933.

422 Gartenstadt Frohnau Zeltinger Platz (ehemals Cecilienplatz) mit Pergola Archiv Heimatmuseum Reinickendorf

„Gebt Gärten" lautete der programmatische Titel eines von Ludwig Lesser 1920 verfaßten Gedichtes, das sein soziales Engagement widerspiegelt, das er noch deutlicher in seinem Werk „Volksparke heute und morgen" (1927) zum Ausdruck bringt. Aus seiner Jugendzeit in Berlin kannte Ludwig Lesser die Lebensverhältnisse in den Hinterhöfen der Mietskasernen. Er wollte zur Verbesserung der Situation der Menschen beitragen und propagierte öffentlich die Volks­ parkidee. Während die Stadtparks und Plätze der wilhelminischen Zeit auf dekorativen Wir­ kungen bedacht und zum „Spazierengehen" eingerichtet waren, forderte Ludwig Lesser 1910 auf dem 33. Brandenburgischen Städtetag in Landsberg a. W. die Anlage öffentlicher Volks­ parks für jede Stadt und jede Gemeinde. Sie sollten als öffentliche Parkanlagen mit schattigen Alleen, sonnigen Spielwiesen, Wasserflächen, Trinkbrunnen, Unterkunftshallen, Abortanla­ gen, einem Musiktempel, Turnplätzen, Tiergehegen u. a. ausgestattet sein. Während der Weimarer Republik arbeitete er als Dozent bei verschiedenen Institutionen wie z. B. einige Jahre lang am Deutschen Archiv für Siedlungswesen. Von 1925 bis 1933 leitete Ludwig Lesser die Abteilung Landwirtschaft und Gartenbau bei der Funkstunde A.G. Berlin. Er erhielt zahlreiche Ehrenpreise und Auszeichnungen und gehörte verschiedenen Gesell­ schaften und Fach verbänden, zum Teil auch als Ehrenmitglied, an. Von 1923 bis 1933 war er Präsident der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft, die 1822 als Verein zur Beförderung des

423 Gartenbaus im Preußischen Staat gegründet und 1909 in DGG umbenannt wurde und in deren Mitgliederlisten man Namen wie Alexander und Wilhelm von Humboldt, Dr. Carl Bolle, Peter Joseph Lenne, die Familien Borsig, von Siemens, von Hardenberg u. a. wiederfindet.

Verfolgung, Emigration, Exil

Die Machtübernahme Hitlers 1933 beendete schlagartig die berufliche Karriere Ludwig Les- sers. Da seine Großeltern Juden waren, wurde er seiner Ämter und beruflichen Tätigkeiten enthoben und mußte sein Planungsbüro auflösen. Er mußte 1933 als Präsident der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft zurücktreten und wurde aufgrund der Bestimmungen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 31. Mai 1933 als langjähriger Dozent der Humboldt-Hochschule (Freie Volkshochschule in der Königin-Augusta-Straße 15 in Berlin W 9) entlassen. Als Verfolgter des NS-Regimes wurde er von einem Tag zum anderen aus dem beruflichen und öffentlichen Leben ausgeschlossen, was für ihn auch den Wegfall jedweder finanzieller Einnah­ men bedeutete. Nach den NS-Rassegesetzen galt der christlich getaufte und konfirmierte Lud­ wig Lesser als „Volljude" und mußte 1939 den zusätzlichen Namen „Israel" annehmen. Mit Hilfe seines Sohnes Rudolf konnte er im gleichen Jahr nach Schweden emigrieren, was ihn vor weiteren Verfolgungen in Deutschland bewahrte. Am 25. November 1941 wurde ihm die deut­ sche Staatsbürgerschaft aberkannt. In Schweden erhielten er und seine Frau Anna 1948 die schwedische Mitbürgerschaft, wodurch ihnen automatisch eine kleine Staatsrente gewährt wurde, die ihren Lebensunterhalt sicherte. Ludwig Lesser widmete sich noch im hohen Alter gartenbautechnischen und garten­ wissenschaftlichen Studien. Er publizierte Aufsätze in skandinavischen, aber auch in deut­ schen Fachzeitschriften wie der „Neuen Berliner Gärtnerbörse". Er wurde 1949 Ehrenmit­ glied der „Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftspflege" und 1955 der „Stockholmer Gärtnergesellschaft". Bis zu seinem Tod im Jahre 1957 lebte er auf einem Bau­ ernhof bei Vallentuna, 30 km nördlich von Stockholm, ohne daß er Deutschland jemals wieder besuchte. Ein bis zuletzt gehegter Wunsch Ludwig Lessers, als langjähriger Präsident der Deut­ schen Gartenbau-Gesellschaft Ehrenmitglied der sich 1955 neu konstituierenden Gesellschaft zu werden, erfüllte sich nicht mehr. 1958 wurde in Frohnau anläßlich seines 1. Todestages der Sport- und Erholungpark in „Lud- wig-Lesser-Park" umbenannt.

Das Heimatmuseum Reinickendorf würdigt in einer Ausstellung, die bis zum 13. August 1995 gezeigt wird und in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz produziert wurde, das Leben und Werk Ludwig Lessers. Unter dem Titel „ Lud­ wig Lesser (1869—1957). Erster freischaffender Gartenarchitekt und seine Werke in Berlin- Reinickendorf" ist eine Publikation erschienen, die als Projekt des Referats Gartendenkmal­ pflege dieser Senatsverwaltung gefördert und finanziert wurde. Die von der Urenkelin Ludwig Lessers, Frau Katrin Lesser-Sayrac, verfaßte Broschüre enthält ein umfassendes Werk- und Publikationsverzeichnis mit einer Auflistung aller entworfenen Gartenanlagen Ludwig Les­ sers.

Anschrift des Verfassers: Dr. Ingolf Wernicke, Leiter des Heimatmuseums Reinickendorf, Alt-Hermsdorf 35, 13467 Berlin-Hermsdorf

424 Abb. 1: Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Luftaufnahme um 1940 mit dem 1. (unten links) und dem 2. (oben rechts) Romanischen Haus. Postkarte. Heimatarchiv Charlottenburg

Ein vergessener Brunnen an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Von Gisela Scholtze

Fast alle Berliner und die meisten Berlinbesucher kennen den offiziell „Weltkugelbrunnen" heißenden, vom Volkswitz „Wasserklops" genannten Brunnen vor dem Europa-Center. Sehr viel weniger Menschen können sich noch aus eigener Anschauung daran erinnern, wie es rund um die Kirche vor dem Zweiten Weltkrieg aussah, als der Platz noch nach der Kaiserin Auguste Viktoria benannt war und dort, wo heute das Europa-Center die Kirchturmruine überragt, das zweite Romanische Haus mit seinem berühmten Cafe stand und genau gegenüber sein Pendant mit dem „Gloria-Palast" und dem Cafe Trumpf. Aber kaum jemand weiß heute noch, daß es genau dort, also vor dem ersten Romanischen Haus, zwischen Kurfürstendamm und Kant­ straße auch einmal einen Brunnen gegeben hat. Das ist allerdings schon sehr lange her. Was war das für ein Brunnen? Wer hatte ihn geschaffen? Wo ist er geblieben? Seine Geschichte ist so eng verknüpft mit der des ersten Romanischen Hauses und mit der Gestaltung des Platzes, der 1947 nach Rudolf Breitscheid benannt wurde, daß dies alles mit einbezogen werden muß. Franz Schwechten (1841 bis 1924), der Erbauer der 1895 feierlich im Beisein des Kaiserpaares eingeweihten Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche (dem Andenken Kaiser Wilhelms 1. gewidmet), berichtet in seiner Lebensbeschreibung, er habe, um der Kirche eine geeignete Umgebung zu verschaffen, auf Anregung des Kaisers zunächst 1893 bis 1896

425 Abb. 2:1. Romanisches Haus mit Rolandsbrunnen um 1900. Foto: Heimatarchiv Charlottenburg gegenüber dem Hauptportal der Kirche das erste Romanische Haus erbaut, dem später auf der gegenüberliegenden Seite das zweite gefolgt sei. Das Schicksal dieser Gebäude ist hinlänglich bekannt. Beide hatten über die Stadtgrenzen hinaus Berühmtheit erlangt, das eine durch das „Romanische Cafe", das andere durch das Filmtheater „Gloria-Palast". Beide wurden wie die Kirche im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, ihre Ruinen nach Kriegsende abgetragen. Bei der Errichtung des ersten Romanischen Hauses hatte Schwechten, um die Kirche ausrei­ chend zur Geltung zu bringen, sehr viel Platz „verschenkt", indem er zirka sieben Meter hinter der zulässigen Baufluchtlinie zurückblieb. Dies und die sehr aufwendig gestaltete Fassade machten das Gebäude zu einem sehr teuren Objekt. Die Baukosten beliefen sich auf die für damalige Zeiten immense Summe von annähernd 1600 000 Mark. Entsprechend hoch waren die Mieten der sehr großen Wohnungen. Eine Quelle berichtet von Jahresmieten um 25 000 Mark, eine andere von Monatsmieten um 7000 Mark. Eigentümer von Haus und Grundstück war seit 1894 der Landschaftsmaler Bodenstein, der schließlich in Finanzierungsnöte geriet und den Besitz 1910 an einen Interessenten verkaufte, der mit Schwechten auf dem Nachbar­ grundstück in der Kantstraße den Bau eines Romanischen Hotels plante. Bei dieser Gelegen­ heit wurde das Erdgeschoß des Romanischen Hauses zu einem Restaurant ausgebaut. Der sei­ nerzeit von Schwechten „verschenkte" Baugrund gehörte selbstverständlich als sogenannter Vorgarten zu dem Grundstück und war von einem schmiedeeisernen Zaun umschlossen. Innerhalb dieser Umfriedung hatte um 1900 ein Brunnen Aufstellung gefunden.

426 Abb. 3: Riesenburg (Westpr.), Markt mit Rolandsbrunnen. Aus: Erinnerungen an Riesenburg.

Abb 4- Der Rolandsbrunnen in Prabuty (Riesenburg) - heute seines Rolands beraubt. Postkarte. Privatbesitz

427 Abb. 5: 1. Romanisches Haus, 1942, mit Gloria-Palast und Cafe Trumpf. Auguste-Viktoria-Platz, Kurfürstendamm. Heimatarchiv Charlottenburg

Auf der Gewerbeausstellung 1896 hatte Schwechten seinen Entwurf zu diesem Brunnen vor­ gestellt: Inmitten einer großen Brunnenschale erhob sich ein von vier Löwen umgebenes Podest mit drei weiteren übereinander angeordneten Schalen jeweils kleineren Umfangs, von denen die oberste eine Rolandsfigur trug. Schwechten hatte offenbar eine große Vorliebe für Symbolik, darum also ein Roland, der im Mittelalter Sinnbild für den Königsfrieden, das Marktrecht und die Gerichtsbarkeit war. (Aus dem Mittelalter stammen ja die an manchen Orten erhalten gebliebenen Rolandsfiguren.) Schwechtens Rolandbrunnen war es also, der in dem von dem Eigentümer des Restaurants „Regina-Palast" genutzten Vorgarten stand. Die Gäste konnten in unmittelbarer Nähe des Brunnens ihre Mahlzeiten einnehmen. Doch nur rund 30 Jahre blieb der Brunnen dort. 1928 verschwand er wieder. Warum und wohin? Dazu muß man sich in Erinnerung rufen, daß die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ursprünglich auf einer Verkehrsinsel stand, um die herum sich der gesamte Straßenverkehr bewegte, Stra­ ßenbahnen inbegriffen. Schon 1894 wurden, wie aus einem in der Akte des Tiefbauamtes befindlichen Briefwechsel hervorgeht, Bedenken laut, ob die Straßen breit genug seien, den Verkehr aufzunehmen. Damals wurden diese Bedenken zerstreut. 1928 war das anders. Zwei­ fellos hatte sich in den verflossenen drei Jahrzehnten der Straßenverkehr deutlich vermehrt. Jedenfalls ging man nun daran, die die Kirche umgebenden Straßen zu verbreitern. In einem ebenfalls in der Akte des Tiefbauamtes befindlichem Schriftstück wird von einer Sitzung des Haushaltsausschusses berichtet, in der über die Kosten beraten wurde, die der Erwerb des Vor­ gartengeländes und die Beseitigung des Brunnens verursachen würden. Die Dringlichkeit der

428 Straßenverbreiterung werde zwar anerkannt, heißt es da, aber man wolle die benötigten Mittel erst bewilligen, wenn diese Fragen geklärt seien. Für den Verbleib des Brunnens hatte sich eine Lösung gefunden. Er wurde nämlich 1928 an die Stadt Riesenburg in Westpreußen verkauft. Auch im Romanischen Haus gab es in diesen Jahren mancherlei Veränderungen. 1930 eta­ blierte sich in den Räumen des 1. und 2. Obergeschosses, die bis dahin die Firma J. C. Pfaff innegehabt hatte, das Filmtheater „Gloria-Palast", das als Uraufführungskino bald von sich reden machte. Im Erdgeschoß nahm das Cafe Trumpf die Räume des Restaurants ein und baute auf dem Rest des alten Vorgartens eine Schankveranda. Nichts davon steht mehr. Und der Brunnen? Er hat als einziger die Zeiten überdauert. Er steht — zwar etwas ramponiert — noch immer an seinem Platz in der Stadt Riesenburg, die inzwischen ihren Namen geändert hat. Sie heißt heute Prabuty. Anschrift der Verfasserin: Gisela Scholtze, Leiterin des Heimatarchivs Charlottenburg Otto-Suhr-Allee 100, Zimmer 426 f, 10585 Berlin Rezensionen

Von Moskau nach Berlin. Bilder des russischen Fotografen Jewgeni Chaldej, hrsg. von Ernst Volland und Heinz Krimmer, Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 1994, 138 Seiten. Aus der Kriegs- wie Nachkriegsfotografie sind die Bilder des russischen Fotoreporters Jewgeni Chal­ dej nicht fortzudenken. Viele Menschen haben seine Bilder beeindruckt, allerdings ist bei der Veröf­ fentlichung nicht immer sein Name genannt worden. Die wohl am meisten bekannt gewordene Auf­ nahme des Militärberichterstatters stammt vom 2. Mai 1945, als er am frühen Morgen dieses Tages einen Rotarmisten mit einer roten Fahne auf dem Dach des Reichstages fotografierte. Chaldej hat dort einen ganzen Film verknipst und ist unmittelbar danach in Richtung Moskau geflogen, wo das berühmt gewordene Bild sofort veröffentlicht wurde. Es ging um die Welt und ist bis heute für viele das symbolische Bild für das Ende des Zweiten Weltkrieges und damit des nationalsozialistischen Regimes. Bereits in seiner Kindheit mußte der 1917 geborene Junge die Erfahrung machen, daß es Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Rußland gab. Seine jüdische Mutter wurde bei einem dieser Juden­ pogrome ermordet. Sie hatte ihn auf dem Arm, als sie von einer Kugel durchbohrt wurde, die ihn noch streifte. Sein Vater und drei Schwestern sind nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 umgebracht worden. Mit 13 Jahren bekam er seine erste Kamera, eine russische Leica. Seit 1936 war er Fotoreporter bei der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS, für die er den Zweiten Weltkrieg seit dem 22. Juni 1941, als das nationalsozialistische Deutschland sein Heimatland überfiel, dokumentierte. Er war als Soldat ein Teil der Truppe und mit der Kamera Zeuge vieler Schlachten, so auch der „Schlacht um Berlin". Das erste Bild mit einem Motiv aus Berlin stammt vom 30. April 1945 und zeigt sowjetische Panzer in der Kreuzberger Yorckstraße. Einen Tag darauf war er bei der Verhandlung über die Kapitulation der Berliner Garnison im Haus Schulenburgring 2 in Neu-Tempelhof dabei. Zwei Bilder zeigen den Generalstabschef Krebs vor dem Haus. Vermutlich ist er der einzige noch lebende Zeitzeuge dieses für das Kriegsende in Berlin wichtigen Ereignisses. Chaldej hat im Berlin des Jahres 1945 viele weitere Aufnahmen gemacht, so z. B. eines vor dem Flug­ hafen Tempelhof, auf dem zu sehen ist, wie ein totes Pferd „ausgeschlachtet" wird. Bereits im April 1945 entstand eine weitere Aufnahme, die direkt mit dem Flughafen zu tun hat: Der Fotograf hißte eine rote Fahne am Reichsadler, der damals noch die Eingangshalle des Flughafens „zierte". (Der heute auf dem Platz der Luftbrücke aufgestellte Adlerkopf ist ein Fragment dieser Skulptur.) Chaldej war auch Berichterstatter der Potsdamer Konferenz sowie des Nürnberger Prozesses. Der heute in Moskau lebende Mann arbeitete mit Unterbrechungen bis in die siebziger Jahre für die TASS und die „Prawda". Jewgeni Chaldej ist ein Künstler für den „zum Stillstand gebrachten Augenblick", der sich noch heute an die Entstehungsbedingungen seiner Bilder erinnern kann. Dr. Kurt Schilde

429 Regina Müller. Das Berliner Zeughaus. Die Baugeschichte. Hg. vom Deutschen Historischen Museum, Berlin: Brandenburgisches Verlagshaus 1994, 344 S., 292 Abb., 128 DM. Rechtzeitig, noch vor dem 300. Jahrestag des Baubeginns am Berliner Zeughaus (1695), liegt ein repräsentiver Band vor, der — wie der Untertitel aussagt — der Baugeschichte, der Darstellung der Architektur und der Bauplastik dieses für Norddeutschland einmaligen Barockbaus gewidmet ist. Zugleich hat die Autorin, eine ehemalige Mitarbeiterin des Museums für Deutsche Geschichte, paral­ lel dazu eine fast gleichwertige „Nutzungsgeschichte" gegeben, einen instruktiven Überblick über die wechselvolle Bestimmung dieses „Prachtgebäudes" (Heinrich Heine) in Berlins Mitte, von den Anfängen bis in die Gegenwart. Die Arbeit basiert auf einer gründlichen Auswertung der umfänglichen Literatur (Verzeichnis S. 317—327) und vor allem auch archivalischer Quellen (vgl. S. 328), die sich überwiegend im Zeug­ hausarchiv befinden. Dadurch gelingt es, der im allgemeinen wie im Detail bekannten Geschichte des Hauses weitere Erkenntnisse hinzuzufügen und für das 20. Jahrhundert auch völlig neue Kapitel zu formulieren. Der Inhalt ist übersichtlich in drei Hauptabschnitte gegliedert. Die Bau- und Nutzungsgeschichte für den Zeitraum von 1695 bis 1876 nimmt zu Recht etwa die Hälfte der Darstellungen ein. Ausgehend von der Idee zum Bau, die Kurfürst Friedrich Wilhelm bereits 1667 entwickelte (S. 17), werden die ersten Bauherren, Kurfürst (König) Friedrich und König Friedrich Wilhelm, sowie die ersten großen Baumeister, J. A. Nering, M. Grünberg, A. Schlüter, J. de Bodt, mit ihren jeweiligen Anteilen am Weiden des Baus und die Leistungen unter der Militärverwaltung gewürdigt. Architektur und insbe­ sondere die weltbekannte Bauplastik sind eingehend beschrieben und dokumentiert. Die „Nutzung" wandelte sich vom reinen Waffenarsenal des Soldatenkönigs (1732) über die Königliche Waffen- und Modellsammlung und dem Intervall Gewerbeausstellung (1844) zum Museum und Denkmalsbau (1876). Die wichtigsten äußeren Ereignisse, die Plünderungen von 1760 und 1806, der Zeughaussturm im Juni 1848 finden ebenso angemessen Berücksichtigung wie die Restaurierungsarbeiten nach 1815. Der zweite Abschnitt (1877—1945) behandelt die Ein- und Umbauten (G. F. Hitzig) mit der „Ruh­ meshalle der brandenburgisch-preußischen Armee", ihrer Bild- und Skulpturenausstattung, vor allem aber die spezifische Rolle des Königlichen, nach 1918 Staatlichen Zeughauses, schließlich des „Heeresmuseums der Wehrmacht" vor und während beider Weltkriege. Es konnte kaum überra­ schen, daß die Alliierte Kommandantur von Berlin am 18. Oktober 1945 beschloß, das „Kriegsmu­ seum, Zeughaus in Berlin, das ein Symbol des deutschen Militarismus und eine Sammlung von Kriegstrophäen, die durch Raub und Plünderung erworben wurden, darstellt, zu liquidieren" (S. 250). Wie das Gebäude dessenungeachtet und trotz des ruinösen Zustandes überlebte, wiederaufgebaut und 1952 bis 1990 einer neuerlichen, wie auch immer inhaltlich neu konzipierten Bestimmung als „Museum für Deutsche Geschichte" zugeführt wurde, erfährt der Leser im dritten Abschnitt. Hier werden das Wirken von Politikern wie F. Friedensburg und P. Wandel ebenso geschildert wie die Lei­ stungen der Architekten und Baumeister (W. Harting, O. Haesler, K. Völker, P. Neumayr u. a., R. Hörn für die Wiederherstellung der Bauplastik) und die beteiligten Betriebe: „eine denkmalpflegeri- sche Leistung unter den Bedingungen der Nachkriegszeit" (S. 285). Ebenso ausgewogen und treffend weiß die Verfasserin die Arbeit des Museums für Deutsche Geschichte zu bewerten (S. 288—291). So bleiben dem Rezensenten wenige kritische Anmerkungen: es ist nicht immer verständlich, warum zuweilen aus zweiter Hand zitiert wird. Das Wort „Zeitabschnitt" bei den Lebensdaten A. Meusels (S. 288) ist überflüssig. Da sonst kaum Druckfehler vorkommen: Ehrenmahl (S. 244) ist peinlich, und Lea Grundig ist geb. Langer (S. 315—340). Der gut lesbare, ansprechend formulierte Text wird in allen Abschnitten durch sorgfältig ausgewählte Abbildungen (Verzeichnis S. 329—337), die durchweg qualitätsvoll reproduziert und plaziert sind, ergänzt, so daß ein rundum anschauliches, dem Gegenstand angemessenes Bild des Jubiläumsbaus vor uns hegt. Dafür ist vor allem der Verfasserin zu danken, deren Erstling das Brandenburgische Ver­ lagshaus mit einer ansprechenden editorischen Leistung auf den Weg gebracht hat. Gleichzeitig erschien im Verlag der gleichgewichtige Band von Heinrich Müller: Vom Arsenal zum Museum. Professor Dr. Ingo Materna

430 Klaus-Dietrich Gandert, „Vom Prinzenpalais zur Humboldt-Universität. Die historische Entwick­ lung des Universitätsgebäudes in Berlin mit seinen Gartenanlagen und Denkmälern", 123 Abbil­ dungen, Skizzen und Bauzeichnungen, Anmerkungen, Personen- und Literaturverzeichnis, Über­ sicht über Denkmäler, Gedenktafeln und Gipsabgüsse, Berlin: Hentschelverlag/Kunst und Gesell­ schaft 1989, 200 Seiten. In zweiter Auflage ist die Geschichte der Berliner Universität erschienen, die 1985 erstmals publiziert wurde. In Inhalt und Abfolge ist sie bis auf geringfügige Abweichungen in der Formulierung gleichge­ blieben. — Beide Male wird die Wiederaufbauleistung — wie nicht anders zu erwarten — als eine außerordentliche im DDR-Staat bezeichnet: die Humboldt-Universität stehe auf der Höhe geistigen Lebens! — In der 2. Auflage fehlt die Abbildung der Glasfenster von Womacka in der Aula, auf der triptychonartig der Sieg der Wissenschaften, gestützt auf Partei, Arbeiter- und Bauernschaft, gefeiert wird; dafür stehen Büsten von Hegel, Einstein und Thaer und Brugsch. Auch der Senatssaal hat sich geringfügig verändert. Die Darstellung hat sich bewußt auf die Baugeschichte beschränkt, die Geschichte ihrer Gelehrten und Studenten bleibt bis auf wenige Namen außen vor. Gemäß der Titel­ formulierung ist es ein Sichauswachsen vom königlichen Palais, einst großartig konzipiert und doch dürftiger ausgeführt, zur Lehrstätte mit ihren Neu- und Anbauten, ihren Ergänzungsperioden. Sie stand lange — bis um die Jahrhundertwende — unter dem Gesetz der Dürftigkeit und des Sich-Behel- fen-Müssens. Diese Glanzzeit war nur kurz. Fotos vom zerstörten Gebäude zeigen dies erschütternd. Bisher weniger bekannt ist die Geschichte des Grundstücks und die der Einzelheiten, wie das Prinzen­ palais planerisch in das Ensemble des Friedrichsforums eingebettet wurde. Ausführlich werden die 60er Jahre gewürdigt; es blieb das Prinzip erhalten, die Fassadenarchitektur als ein Teil des Ganzen zu bewahren. Der Gartenhof wird in seiner wechselnden Gestalt und Nutzung beschrieben, desgleichen die Vorgärten mit ihren Denkmälern und der bauplastische Schmuck. Somit wird Vollständigkeit erreicht; der ideologische Bezug ist zurückhaltend. Christiane Knop

Aus den Berliner Museen

Akademie der Künste: „1945. Krieg — Zerstörung — Aufbau. Architektur und Stadtplanung 1940—1960". Die städtebauliche Ausstellung stellt in dem teilzerstörten Gebäude der ehemaligen Preußischen Akademie der Künste, nach 1937 Sitz der Generalbauinspektion Albert Speers, dessen Planungen für die „Zeit nach dem Kriege" sowie die wirklichen Nachkriegsplanungen im Westen und Osten gegenüber. Dabei werden im Zeitraum 1940—1960 Positionen und Konflikte deutlich, deren Auswirkungen bis heute reichen. Noch bis 13. August. Pariser Platz 4. Berlin-Mitte. Täglich 10 bis 19 (Mo ab 13) Uhr. Am 3. Juni stellte die Akademie der Künste den Künstlerhof Buch im Bezirk Pankow der Öffentlich­ keit vor. Der 270 Jahre alte Gutshof beherbergte von 1979 bis 1990 das „Büro für architekturbezo­ gene Kunst der DDR" und ist zwischenzeitlich vom Bund Bildender Künstler (BBK) genutzt worden. Seit Anfang 1995 befindet sich der Hof in der Trägerschaft der Akademie der Künste. Deren Ziel ist es, den Künstlerhof Buch in den kommenden Jahren als interdisziplinäres Arbeits- und Veranstal­ tungszentrum für Künstler der verschiedensten Sparten auszubauen. U.

Alte Nationalgalerie: „Johann Gottfried Schadow und die Kunst seiner Zeit". Bei der Besprechung des aus unserer Sicht bedeutendsten Ausstellungsereignisses dieses Jahres können wir uns kürzer fas­ sen, als es dem Anlaß angemessen wäre. Es zeigt sich hier nämlich ein weiteres Mal die hohe wissen­ schaftliche Qualität unserer MITTEILUNGEN: Wir blättern einfach zurück und rufen uns das an dieser Stelle über Schadow bereits Gesagte in die Erinnerung. Gleich im zweiten und dritten Heft der neuen Folge (1965) griff unser langjähriges Mitglied Professor Dr. Irmgard Wirth zur Feder, um ihre anläßlich eines am 23. Februar 1965 vor unserem Verein gehaltenen Vortrages geäußerten Erkennt­ nisse über diesen bedeutendsten Bildhauer des deutschen Klassizismus niederzuschreiben. Seinerzeit fand die letzte große Einzelausstellung über Schadow aus Anlaß der 200. Wiederkehr seines Geburts­ tags am selben Ort statt. Irmgard Wirth resümierte, daß Schadows Ruhm schon früh von einem Jünge­ ren, Christian Daniel Rauch, in den Schatten gestellt wurde. Die Vortragende bezeichnete Rauch, der ein Jahr lang Schadows Schüler gewesen war, in diesem Zusammenhang als „aufgehenden Stern am

431 Berliner Kunsthimmel", der in seiner idealistischen Kunstauffassung dem Architekten Schinkel und damit dem König im Grunde besser entsprochen habe als der realistischere Schadow, der als Wegge­ nosse Erdmannsdorffs und Langhans' vom spätbarocken Klassizismus ausgehend näher zur schlich­ ten Wiedergabe der Natur gefunden hatte. Gleichwohl müsse man Schadow nach Schlüter als stärk­ sten Eckpfeiler der berlinischen Bildhauerkunst bezeichnen. Schließlich habe er mit Langhans und Gilly entscheidend am Beginn des preußischen Klassizismus gestanden. Die damaligen Ausführun­ gen sind unverändert zutreffend. Viele der bis in die Gründerzeit arbeitenden Bildhauer gingen durch die strenge Schule Schadows, der 1788 nach Tassaerts Tod Leiter der Berliner Hofbildhauerwerkstatt, 1805 Rektor und 1815 Direktor der Akademie wurde. Auch wenn sich einige Schüler später von sei­ nem der Naturtreue verpflichteten Werk distanzierten, hatten sie doch das handwerkliche Rüstzeug und entscheidende Anregungen von ihm erhalten. Schadows Werk erscheint weniger zeitgebunden als das seines späteren Rivalen Rauch, der sich vollständig der Klassik hingab. Dabei hatte Schadow während eines fast dreijährigen Rom-Aufenthalts durchaus die Kunst Canovas schätzen gelernt. Sie blieb allerdings für ihn nur Maßstab, kein sklavisch nachzueiferndes Vorbild. In der westlichen Hälfte unseres einst geteilten Landes konnte das Werk Schadows meist nur anhand von Abbildungen studiert werden, da sich die bedeutendsten Arbeiten jenseits des von seiner Quad­ riga bekrönten Brandenburger Tores befanden. Der Wunsch nach einer neuerlichen, umfassenden Ausstellung über Schadow war nach der Wiedervereinigung schnell entstanden. Das Ergebnis ist diese von jungen Kunsthistorikern in der Kunsthalle Düsseldorf betreute, rund 180 Werke umfas­ sende Schau, die nach einem Zwischenstopp in Nürnberg nun endlich in Berlin angelangt ist. Ein über 300 Seiten langer Katalog (49 DM) versucht, ein Charakterbild dieses großen Künstlers zu vermit­ teln. Das 13 Seiten lange Literaturverzeichnis ist ausführlich, unterschlägt leider den genannten Auf­ satz von Irmgard Wirth, erwähnt allerdings die intensive Beschäftigung unseres Vereins mit dem Münzfries (vgl. die Aufsätze meines Vaters Dr. Otto Uhlitz in den Jahrbüchern 1978 und 1979), die schließlich zur Rettung dieses heute im Sockel des Kreuzberg-Denkmals untergebrachten bedeuten­ den Kunstwerks führte. Dem normalen Besucher ist allerdings mit derart seitenfüllenden Auflistun­ gen nicht geholfen. Eine kommentierende Wertung der Schadow-Literatur, die auch Rückschlüsse auf das Schadow-Bild früherer Generationen zuließe, wäre wünschenswert. Die der Nationalgalerie gehörende lebensgroße Marmorgruppe der Prinzessinnen Luise und Friede­ rike wurde naheliegenderweise nicht zu den beiden vorhergehenden Ausstellungsorten geschafft, so daß diese wichtigste Skulptur des preußischen Frühklassizimus dort nur in Repliken vertreten war. Frei von Pathos und Distanzformeln stehen uns die natürlichen und ungezwungenen Mädchen gegen­ über — eben eine Gruppe, kein Denkmal. Ein Bronzeguß von 1906 zeigt Schadows Entwurf für das Grabmal der Königin Luise als Schlummernde in natürlicher Beinhaltung. Man kann nachvollziehen, daß es die schmerzvollste Niederlage dieses in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten bereits als veraltet geltenden Künstlers gewesen sein muß, als Rauchs Entwurf vorgezogen wurde. Schadows individualistischer Stil war doch zu sehr dem Menschenbild des 18. Jahrhunderts verpflichtet, als daß man ihn in den Dienst des aufsteigenden Preußen mit seinem Verlangen nach repräsentativer staatli­ cher Plastik hätte stellen können. Schadow kommentierte diese Grabmalentscheidung mit seinem geistreichen, allseits bekannten Ausspruch, daß sein Ruhm nunmehr „in Rauch aufgegangen" sei. Auch das Grabmal des Grafen von der Mark, Schadows erster großer Auftrag, zeugte bereits von sei­ ner nüchternen, unaufdringlichen und natürlichen Gestaltungsweise. Er unterwarf sich nie einer Kunsttheorie, sondern fühlte sich dem Menschlich-Persönlichen verpflichtet. Man kann dies nicht besser als Fontane beschreiben, der ein Jahrzehnt nach dem Tod Schadows, über diesen in bescheide­ nen Verhältnissen aufgewachsenen Künstler niederschrieb: „Griechentum und Märkertum hielten sich das Gleichgewicht oder verbanden sich zu einem wunderbar humoristischen Gemisch." Die wirklichkeitsnahe Darstellungsweise ist anhand fast aller ausgestellten Büsten nachvollziehbar. Tat­ entschlossen, tatbereit, doch bedacht abwägend wurde Zieten — nach ursprünglichem Entwurf mit herrisch weggestrecktem Feldherrnstab — schließlich dargestellt: Ohne das einem Feldherrn zuste­ hende Pferd steht er nahezu grübelnd, in eine zeitgenössische Uniform gekleidet, mit übereinanderge- schlagenen Beinen und den Bück ins Leere gerichtet vor uns. Schadow stellte den Menschen, nicht den Feldherrn dar. Friedrich der Große, um ein weiteres Beispiel zu nennen, begegnet uns in der Form einer ohne Auftrag entstandenen Statuette beim fast privaten Spaziergang mit seinen Windspielen! Das hier in aller Kürze Erwähnte ist gerade auch anhand der ausgestellten Zeichnungen nachvollzieh­ bar. Sie bieten einen schönen Querschnitt aus einem Gesamtbestand von über zweitausend Blättern.

432 Das Grabmal des Grafen von der Mark zeichnete der junge Schadow 1788 so, wie es dann auch ohne größere Veränderungen ausgeführt wurde. Welchen schöneren und für jedermann verständlichen Beweis seines zeichnerischen Talents könnte es geben? Schadows Abneigung gegen alles „Gran­ diose" machte ihn zu einem bürgerlich-realistischen Demokraten, der keine Scheu vor seinen höfi­ schen Auftraggebern hatte und ihnen gleichberechtigt gegenübertrat. 14. Juli bis 24. September, Bodestraße 1—3, Berlin-Mitte. Öffnungszeiten bitte erfragen. U.

Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen und Berliner Forum für Geschichte und Gegenwart e.V.: „ ... und eben war noch Krieg". Über die Ausstellungen und Veranstaltungen der Berliner Heimat­ museen aus Anlaß des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges informiert eine übersichtli­ che, 26 Seiten umfassende Broschüre des ABR. Ansprechpartnerin ist unser Vorstandsmitglied Frau Birgit Jochens, Leiterin des Charlottenburger Heimatmuseums und Vorsitzende des ABR, Telefon 34 30 3202. Hier eine Übersicht: HM Charlottenburg: „Worüber kaum gesprochen wurde: Frauen und alliierte Soldaten" ,3. Septem­ ber bis 15. Oktober, Schloßstraße 69. Di bis Fr 10 bis 17, So 11 bis 17 Uhr. Vgl. auch unten. HM Friedrichshain: „Ausgangspunkt Chaos — Neubeginn in Friedrichshain", Lichtenberger Straße 41, Di, Do 11 bis 18, Sa 13 bis 18 Uhr. HM Hellersdorf: „Ich habe keinen Frühling so genossen ...", noch bis zum 30. September, Jenaer Straße 11, Mi bis So 14 bis 18 Uhr. HM Hohenschönhausen: „Als die Befreier kamen — Hohenschönhausen vor 50 Jahren", noch bis zum 31. Dezember, Lindenweg 7, Di, Do 9 bis 12, 14 bis 17, So 11 bis 16 Uhr. HM Köpenick: „Köpenick in der Stunde Null", noch bis zum 24. September, Alter Markt 1, tägl. 9 bis 18 Uhr. HM Kreuzberg: „Trecks nach Westen. Flucht und Vertreibung aus und nach Schlesien", 5. November bis 31. Dezember, Adalbertstraße 95, Mi bis So 11 bis 18 Uhr. HM Lichtenberg: „100 Jahre Karlshorst — von der Festungs-Pionierschule zum Kapitulationsmu­ seum", noch bis 30. September, Parkaue 4, Öffnungszeiten erfragen: Telefon 55 04 27 22. HM Marzahn: „Ende oder Anfang? — Die Jahre 1945 /46 in Marzahn und Biesdorf', 29. August bis 21. Dezember, Alt-Marzahn 23, Di, Do 10 bis 16, So 13 bis 17 Uhr. HM Mitte: „Kultur auf Ruinen", September bis Februar 1996, Sophienstraße 23, Mo bis Do 10 bis 12, 13 bis 17, So 13 bis 18 Uhr. HM Neukölln: „Inventur. Neuköllner Nachkriegszeiten", noch bis März 1996, Ganghoferstraße 3-5, Mi 12 bis 20, Do bis So 11 bis 17 Uhr. HM Prenzlauer Berg: „Jüdische Lebenswege in Prenzlauer Berg", ab Frühjahr 1996, Dimitroffstraße 101, Öffnungszeiten erfragen: Telefon 42401097. HM Reinickendorf: „Reinickendorf 1945/46 — Die erste Nachkriegszeit", 28. September bis November, Alt-Hermsdorf 35, Mi bis So 10 bis 18 Uhr. Vgl. auch unten. HM Schöneberg: „Das war meine schönste Zeit", September bis November, Hauptstraße 40—42, Öffnungszeiten erfragen: Telefon 7 83-2234/2177. HM Spandau: „Sperrgebiet Zitadelle", noch bis 30. September, Am Juliusturm, Di bis Fr 9 bis 17, Sa/So 10 bis 17 Uhr. HM Tiergarten: „Tiergarten Mai '45 — Zusammenbruch, Befreiung, Wiederaufbau", noch bis 29. Dezember, Turmstraße 75, So bis Fr 10 bis 17 Uhr. HM Treptow: „Mai 1945 — Kriegsende in Johannisthai", 11. August bis 28. Februar 1996, Stern­ damm 102, Do bis So 14 bis 18 Uhr. HM Wedding: „Kriegsende in Wedding: Der Bunker im Humboldthain", Oktober bis Sommer 1996, Pankstraße 47, Di, Do 12 bis 18, Mi 10 bis 16, So 11 bis 17 Uhr. HM Weissensee: „Vorbei der Feuerbrand. Weissensee 1945 — Kriegsende und Neubeginn", noch bis zum 31. August, Pistoriusstraße 8, Di, Do, So 14 bis 18 Uhr. U.

Brücke-Museum: „Aquarelle der Brücke". Die diesjährige Sonderausstellung des Brücke-Museums ist dem Thema „Aquarelle der Brücke" gewidmet. Ebenso wie der Holzschnitt von der „Brücke" revolutioniert wurde, ging man auch mit dem Aquarell innovativ um: verfließende Farben, heftige Pinselstriche sowie das Agieren mit ausgesparten Flächen sind Kennzeichen des neuen Stüs, der sich vom eher illustrativen Einsatz der Aquarellmalerei des 19. Jahrhunderts stark unterscheidet. Die

433 Ausstellung zeigt hauptsächlich Leihgaben aus privaten Sammlungen des Inlands und des Auslands, ergänzt um exemplarische Beispiele aus Museumsbesitz. 14. September 1995 bis 7. Januar 1996. Bus­ sardsteig 9, Berlin-Dahlem. Mi bis Mo 11 bis 17 Uhr. U. Deutsches Historisches Museum: „Ende und Anfang", Fotografen in Deutschland um 1945. Die Ausstellung zeigt das Kriegsende in Deutschland aus unterschiedlichen Perspektiven: Mit den Sie­ gern kamen Berufsfotografen nach Deutschland, um die Überreste der Naziherrschaft zu dokumen­ tieren. Auch auf der Seite der Besiegten hielten deutsche Fotografen ihre Eindrücke in den zerstörten Städten fest. Private Fotos und Schnappschüsse ergänzen diese Blickwinkel um die Sicht deutscher Amateurfotografen im Jahr 1945. So werden brennpunktartig Möglichkeiten und Grenzen des Medi­ ums Fotografie vor Augen geführt. Noch bis 29. August. Unter den Linden 2, Berlin-Mitte. U. Domäne Dahlem: „Bauern — Genossen — Ökonomen. Wendezeiten in der Landwirtschaft", Foto­ ausstellung von Studenten der HdK. Dem agrarhistorischen Museum Domäne Dahlem steht die Inte­ gration in die Stiftung „Stadtmuseum Berlin. Landesmuseum für Kultur und Geschichte Berlins" bevor. Die Aufarbeitung der Landwirtschaftsgeschichte und -politik in der alten Bundesrepublik sowie in der DDR ist der Domäne daher ein zentrales Anliegen. Aus reichem Dokumentationsbe­ stand wurden für die Ausstellung fast 200 Fotos ausgewählt. Noch bis 31. Juli. Königin-Luise-Straße 49. Mi bis Mo 10 bis 18 Uhr. U. Heimatmuseum Charlottenburg: Neben der o.g. Ausstellung über „Frauen und alliierte Soldaten" (siehe .Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen') zeigt das Heimatmuseum vom 8. September bis zum 15. Oktober eine Foto-Ausstellung mit dem Titel: „Leben mit Denkmälern. Berliner Denkmäler aus der Sicht der Bewohner dieser Stadt". Es handelt sich dabei um die Ergebnisse eines Wettbewerbs. Am 16. September lädt das Heimatmuseum von 14 bis 22 Uhr zu einem Museumsfest der Charlotten­ burger Museen in den Hof des Ägyptischen Museums ein. Theater- und Musikdarbietungen werden die Gäste unterhalten. Die Museen werden sich durch Informationsstände und Sonderveranstaltun­ gen darstellen. Die Mitglieder unseres Vereins sind durch unser Vorstandsmitglied Birgit Jochens, Leiterin des Charlottenburger Heimatmuseums, besonders herzlich eingeladen! U.

Heimatmuseum Reinickendorf: Ebenso herzlich lädt unser neues Mitglied Museumsleiter Dr. Ingolf Wernicke die Damen und Herren des Vereins für die Geschichte Berlins zur Eröffnung der Ausstel­ lung „Reinickendorf 1945/46 — Die erste Nachkriegszeit" für den 27. September um 19 Uhr in das Heimatmuseum, Alt-Hermsdorf 35, ein! U.

Museum für Verkehr und Technik: Am 23. August 1995, 11 Uhr, legt unser Mitglied Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister von Berlin, den Grundstein für einen großen Neubau. An der Ecke Trebbiner Straße/Tempelhofer Ufer entsteht für Luftfahrt und Schiffahrt, Archiv und Biblio­ thek einer der bedeutendsten, weitgehend nach ökologischen Gesichtspunkten orientierten Museumsbauten, der auch einen wichtigen städtebaulichen Akzent setzen wird. Besuchen Sie gelegentlich einmal den Museumspark des MVT und erleben Sie ein 6 ha großes Natur­ paradies im Stadtzentrum! Dort faszinieren historische Bahnanlagen, funktionsfähige Wind- und Wassermühlen und eine Hammerschmiede inmitten von Spontanvegetation mit Biotopen. U. Museumsdorf Düppel: Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, gratuliert dem Museums- dorf zum 20jährigen Jubiläum! Im Krieg, 1940, wurden auf dem Gelände des heutigen Museumsdor­ fes bereits Tonscherben gefunden, die auf eine Siedlung aus dem 13. Jahrhundert schließen ließen. 1967 wurde systematisch ausgegraben und die Idee geboren, die Funde in der Art eines Museums zu präsentieren. Pfingsten 1975 wurde der Verein „Museumsdorf Düppel" gegründet. Inzwischen ist ein in Europa einzigartiges Museum auf dem zwölf Hektar großen Gelände entstanden. Aber sehen Sie selbst... Sonntag, 23. Juli, 10 bis 16 Uhr: Honigschleudern im Museumsdorf. Sonntag, 27. August, 10 bis 16 Uhr: Tag der Holzteergewinnung. Sonntag, 17. September, 11 Uhr: Botanische Führung durch das Museumsdorf. Sonntag, 24. September und 1. Oktober, 10 bis 16 Uhr: Markt und Erntefest im Museumsdorf. Clau- ertstraße 11, Berlin-Zehlendorf. U.

434 „Wrangelschlößchen" — Gutshaus Steglitz: „Eröffnungsausstellung". Es werden Pläne und Ansich­ ten zur Geschichte des am 19. Juni 1995 eröffneten Hauses gezeigt sowie Tafeln zum denkmalpflege- rischen Konzept. Auf diese Weise soll das um 1800 nach einem Entwurf von David Gilly errichtete und wahrscheinlich 1803/04 von Heinrich Gentz umgebaute Gutshaus einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden. Nach vierjährigen Bemühungen wurde eines der letzten erhaltenen Bauzeugnisse des preußischen Frühklassizismus vor dem Verfall gerettet. Anläßlich der 750-Jahr-Feier Berlins 1987 wurde die denkmalpflegerische Wiederherstellung entschieden und nach umfangreichen Bau­ forschungen in den Jahren 1992 bis 1995 ausgeführt. Die Ergebnisse führten zu dem Konzept der Rekonstruktion des klassizistischen Ursprungsbaus in seiner räumlichen Disposition und der Restau­ rierung des ursprünglichen Zustands einschließlich der Raumfassungen in Teilbereichen des Gebäu­ des. Noch bis zum 6. August, Schloßstraße, Berlin-Steglitz. Di bis So 10 bis 14 und 15 bis 19 Uhr. U.

Stiftung Neue Synagoge Berlin — Centrum Judaicum: „Tuet auf die Pforten — Die Neue Synagoge 1866 bis 1995". Die neueröffnete ständige Ausstellung zeigt Geschichte und Architektur der 1866 eingeweihten Synagoge der jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße bis zu ihrer zwangswei­ sen Schließung im Jahre 1940 sowie die Entwicklung nach dem Ende des Krieges und den Wiederauf­ bau der erhalten gebliebenen Gebäudeteile. Oranienburger Straße 28—30, Berlin-Mitte, So bis Do 10 bis 18, Fr 10 bis 14 Uhr. U.

Zitadelle Spandau: „Hans Zank — Willi Gericke". Der 1889 in Berlin zur Welt gekommene Hans Zank und Willi Gericke, der am 9. Juni vor hundert Jahren in Spandau geboren wurde, waren ein unzertrennliches Künstlerduo, das als Malergemeinschaft Zank-Gericke bekannt wurde. Anfänglich ging jeder seinen eigenen Weg, aber bald hatten sie ein gemeinsames Atelier in Berlin-Spandau. Sie waren nicht nur begeisterte und vorzügliche Zeichner, Kupferstecher und Lithographen, sondern auch als Aquarellisten und Ölmaler haben sie ausdrucksstarke und hochqualifizierte Werke geschaf­ fen : Die Ostsee, die märkische Landschaft, Städte und Dörfer an der Havel und die besonderen Schönheiten von Spandau und seines Umfeldes, wie Picheisdorf, Gatow, Kladow und Groß-Glie- nicke waren ein Leben lang für die beiden Maler Anregung zu einem reichhaltigen Bilderschaffen. Eine lebhafte, wohlgesetzte und abgestimmte Farbigkeit und eine wohlproportionierte Komposition zeichnen die Gemälde aus und belegen, daß sie von der Natur gemalt sind. Die Ausstellung zeigt etwa 150 Gemälde der beiden spätimpressionistischen Künstler. Noch bis zum 30. Juli. Ausstellungssaal des Palas der Zitadelle Spandau. Di bis Fr 9 bis 17 Uhr, Sa/So 10 bis 17 Uhr. Unserem Mitglied Ilse Feddersen-Bollensdorf verdankt unsere Bibliothek die Spende einer umfassenden Abhandlung über die beiden Künstler aus dem Jahre 1986: „Hans Zank und Willi Gericke — Zwei bedeutsame Berliner Maler in einer bewegten Zeit der Welt- und Kunstgeschichte". U.

435 Es stellt sich vor: Die Schadow Gesellschaft

1993 gründeten Berliner Bürger aus Ost und West die Schadow Gesellschaft als gemeinnützi­ gen Verein, der in Mitverantwortung für Kultur und Kunst in der Stadt einen Beitrag leisten will „zur Pflege des Berlin-Brandenburgischen Kulturgutes unter besonderer Berücksichtigung der Bewahrung des hinterlassenen Werkes von Johann Gottfried Schadow". Ein nicht unbedeu­ tender Teil der Hinterlassenschaft des berühmten Berliner Bildhauers ist sein ehemaliges Wohn- und Atelierhaus in der Schadowstraße 10/11 in Berlin-Mitte, das 1805 fertiggestellt und 1851 erweitert wurde. Es ist das einzige in der Stadt verbliebene Künstlerhaus des deut­ schen und europäischen Klassizismus. Die Dokumentation und Chronik des Lebens und Wir­ kens im Schadow-Haus kann aus vielen Gründen als interessantes Beispiel der Berliner Kunst- und Kulturgeschichte dienen. Das Schicksal des Hauses war wechselhaft und hinterließ seine Spuren. Zuletzt diente das Gebäude und ein Teil seiner Wohnungen konspirativen Zwecken der Staatssicherheit und der Observierung der Amerikanischen Botschaft. Schon seit langem steht das Schadow-Haus unter Denkmalschutz. Restaurierungen und Instandsetzungen nach dem Zweiten Weltkrieg haben leider nicht zu einem dauerhaft guten Erhaltungszustand geführt. Verwahrlosung hat im Inneren um sich gegriffen. Die Fassade mit den für die Berliner Kunstgeschichte bemerkenswerten Supraportenreliefs bedarf einer drin­ genden Sicherung und Restaurierung. Die „verschwundenen" Reliefs des Hausflures sollten ersetzt werden, um den ursprünglichen Eindruck wieder herzustellen. Der alte Innenhof bewahrte viel von der Atmosphäre des ehemaligen Künstlerhauses, doch fehlt die kontinuierli­ che Pflege. Von besonderer Bedeutung ist ein Gemälde in der Wohnung der ersten Etage. Das Fresko im „Berliner Zimmer", eine Arbeit des Schwiegersohnes von Schadow, Eduard Bende- mann, zeigt auf einem typisch romantischen Gemälde von 1837 Mitglieder und Freunde der Familien Schadow und Bendemann, die als Personifikationen der Künste um „den Brunnen der Poesie" versammelt sind. Erste Erfolge erzielte die Schadow Gesellschaft durch die Instandsetzung einiger Räume im Schadow-Haus. Ein äußerer Anlaß bot die Möglichkeit, auf den schlechten Zustand der Fassadenreliefs aufmerksam zu machen. Deren Sicherung und Restaurierung steht nun unmittelbar bevor. Die Restaurierung des Freskos ist bereits durch die Denkmalpflege in die Wege geleitet. Es gilt — nach einer Sanierung der ersten Etage — dieses bedeutende Werk der Berliner romantischen Malerei ständig der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Mitglieder der Schadow Gesellschaft vereint gemeinsam praktizierter Bürgersinn. Bei der Bewahrung des kulturellen Erbes der Stadt ist die Gemeinschaft auf aktive Mithilfe und Identi­ fikation mit der „res publica" angewiesen, auf Bürgersinn und Bürgertugenden. Die Berliner und ihre Besucher wollen sich an den historischen Kunstzeugnissen der Stadt freuen; die in Berlin und seiner Umgebung hinterlassenen künstlerischen Werke Schadows zählen zu deren wertvollsten Beispielen. Die Schadow Gesellschaft, deren Ehrenmitglied der Ende 1994 verstorbene Berliner Kunsthi­ storiker Professor Dr. Peter Bloch war, hat ihren Sitz im Schadow-Haus. Der Vorstand wird durch ein Kuratorium ergänzt und fachlich beraten. Mittelfristige Ziele sind ständige und tem­ poräre Ausstellungen zu Johann Gottfried Schadow, sein Leben und Wirken im Schadow- Haus und die von ihm begründete Berliner Bildhauerschule sowie Aspekte der europäischen Kunst zu Schadows Zeiten. Über die zeitkritischen Arbeiten des Künstlers soll zudem eine Brücke zur aktuellen Kunst geschlagen werden. Langfristig möchte die Schadow Gesellschaft im Schadow-Haus ein Museum und eine Dokumentation zum Leben und Schaffen des

436 berühmten Berliner Bildhauers verwirklichen. Als kultureller Veranstaltungsort in unmittel­ barer Nähe zum Brandenburger Tor soll das Schadow-Haus dem Verständnis von Kunst und Künstlern in Ost und West dienen. Vorstand: Dr. Andor Koritz, Professor Johannes Grützke, Wolf-Rainer Hermel, Heidi Dürr, Karoline Müller; Schadowstraße 10/11, 10117 Berlin-Mitte. Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, besucht des Schadow-Haus am 25. August 1995 um 16 Uhr.

Studienfahrt nach Görlitz vom 8. bis 10. September 1995

In den „Mitteilungen" Nr. 2/1995 war die Vorankündigung für die diesjährige Exkursion in die nie- derschlesische Stadt Görlitz veröffentlicht worden. Daraufhin haben sich bislang 43 Mitglieder unverbindlich angemeldet, der Reisebus faßt 49 Personen. Hier folgt nun das Programm, das in seinen Grundzügen in dieser Form zum Tragen kommt. Einzelheiten — etwa über die Mahlzeiten — werden den Teilnehmern später mitgeteilt. Freitag, 8. September 1995 7.30 Uhr Abfahrt von der TU Berlin, Straße des 17. Juni Nach dem Beziehen der Zimmer im Hotel „Zum Grafen Zeppelin" 12.30 Uhr Mittagessen in der Kantine der Waggonbau Görlitz GmbH, Brunnenstraße 11, anschließend Betriebsrundgang, Führung: Georg Garbe 15.00 Uhr Abtrunk im „Bräustübl", der Traditionsgaststätte in der Landskron-Brauerei Görlitz GmbH, An der Landskronenbrauerei 116. Begrüßung: Dipl.-Br.-Ing. Edgar B. Scheller. Vortrag zur Geschichte der Stadt Görlitz von Dipl.-lng. Andreas Bednarek, Kunstwissenschaftler abends Besuch einer Aufführung der Europera, Musiktheater Görlitz (Intendant Professor Wolf-Dieter Ludwig) — angefragt. Fakultativ in Abhängigkeit vom Programm ggf. am folgenden Abend Sonnabend, 9. September 1995 9.00 Uhr Stadtrundgang, Leitung: Dipl.-lng. A. Bednarek 11.00 Uhr Kaffeepause im Cafe Waschow an der Peterstraße 13.00 Uhr Mittagessen in der Gaststätte „Vierradenmühle" am Neißewehr 14.00 Uhr Busrundfahrt durch die Viertel des 19. Jahrhunderts und anderer Stadtteile von Görlitz 15.30 Uhr Besuch des Heiligen Grabes 16.15 Uhr Fahrt zur Landskrone und Aufstieg (ca. 45 min bequemer Fußweg) 18.00 Uhr Abendessen auf der Landskrone und Ausklang 20.00 Uhr Rückkehr ins Hotel Sonntag, 10. September 1995 8.00 Uhr Abfahrt vom Hotel 8.30 Uhr Spaziergang zum polnischen Teil der Stadt Görlitz (heute Zgorzelec), Führung: Dipl.-lng. A. Bednarek 10.00 Uhr Abfahrt von Görlitz 10.45 Uhr Naturschutz-Zentrum Schloß Niederspree, Quolsdorf. Information über das Naturschutzseminar mit Besichtigung 11.00 Uhr Farblichtbildervortrag über die Naturräume der Oberlausitz aus historischer wie ökologischer Sicht von Dr. Hans-Dieter Engelmann, Geschäftsführer der Gesellschaft zur Förderung des Naturschutz-Zentrums Schloß Niederspree e.V. 12.00 Uhr Gemeinsames Mittagessen (15 DM) 13.00 Uhr (Verdauungs-)Spaziergang an die Teiche 13.30 Uhr Aufbruch, Kaffeepause unterwegs 20.00 Uhr Heimkehr (angestrebt) Änderungen vorbehalten.

437 Die Unterbringung aller Teilnehmer ist im Hotel „Zum Grafen Zeppelin", Jauernicker Straße 15/16, 02826 Görlitz, Telefon (0 28 26) 40 35 74, gesichert. Das Einzelzimmer kostet je Person und Nacht 108 DM, das Doppelzimmer 68 DM. Der Teilnehmerbeitrag beläuft sich auf 148 DM. Er schließt die Busfahrt sowie alle Führungen, Honorare, Eintrittsgelder usw. ein. Er sollte spätestens bis zum Antritt der Reise überwiesen werden auf das Konto des Schriftführers Dr. H. G. Schultze-Berndt bei der Postbank Berlin, Nr. 400 75-106 (BLZ 10010000). Die Interessenten werden mit einem Antwortbogen über ihre Anmeldung verständigt. Diese müßten zur Bestätigung bis zum 3. August 1995 an Dr. Hans Günter Schultze-Berndt, Artuswall 48,13465 Berlin-Frohnau, Telefon/Fax 4 0142 40, zurückgereicht werden. In gleicher Weise können weitere Anmeldungen an diese Anschrift gerichtet werden. Nicht weniger als 3500 Häuser aus allen Epochen deutscher Kulturgeschichte stehen in der vom Krieg weitgehend verschonten Stadt Görlitz unter Denkmalschutz. Daß diese östlichste Stadt Deutschlands dennoch kein Architekturmuseum, sondern ein höchst lebendiges Gemeinwesen ist, soll auf unserer Studienfahrt erkundet und bewiesen werden. SchB. Aus dem Mitgliederkreis

Unser Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Einholz, stellv. Schatzmeisterin und Mitherausgeberin des Jahr­ buchs, hat zum Sommersemester 1995 den Ruf auf eine Professur für Museumskunde an der Fach­ hochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW) Berlin, angenommen. Wir gratulieren und wünschen viel Erfolg bei der neuen verantwortungsvollen Tätigkeit! U.

Unserem Mitglied Alexander Langenheld wurde am 3. Mai 1995 das vom Bundespräsidenten verlie­ hene Bundesverdienstkreuz am Bande aus der Hand des Kreuzberger Bezirksbürgermeisters Peter Strieder überreicht. Die Ordensverleihung wurde an historisch bedeutsamer Stelle, im Sockel des Nationaldenkmals auf dem Kreuzberg, vorgenommen. Alexander Langenheld, langjähriger Bezirks­ verordneter und zeitweise Vorsteher der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung, hat sich besonders um die Erhaltung der historischen Kirchhöfe Berlins verdient gemacht. Wir gratulieren zu dieser Auszeichnung auf das herzlichste! U. Mitteilung der Redaktion

Unser Vorstandsmitglied Dr. Christiane Knop, Schriftleiterin der MITTEILUNGEN, hat sich auf­ grund des regnerischen und windigen Wetters während unseres Altstadt-Spaziergangs in Köpenick am 13. Mai 1995 eine so schwere Mittelohrentzündung zugezogen, daß eine stationäre Behandlung erforderlich wurde. Zu alledem soll sie — nach Aussage der Ärzte — einen bleibenden Hörschaden zurückbehalten. Sehr verehrte, liebe Frau Knop, die Mitglieder des Vereins für die Geschichte Ber­ lins, gegr. 1865, sind erschüttert und tief betroffen, daß Sie in Ausübung Ihrer Vorstandsfunktion für unseren Verein derartiges Ungemach erleiden müssen. Gleichzeitig nehmen wir es bewundernd zur Kenntnis, daß Sie sich wenige Stunden nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wieder an die Arbeit für unsere MITTEILUNGEN machten. Wir alle wünschen Ihnen von Herzen eine möglichst weitgehende Genesung! Manfred Uhlitz Mitteilung

Einige Damen und Herren, die ihren Jahresbeitrag im Einzugsverfahren von ihrem Konto abbuchen lassen, haben das im Januar-Heft beigelegte Überweisungsformular benutzt, um einen gleichen Betrag nochmals auf diesem Wege dem Verein zukommen zu lassen. Der Schatzmeister nimmt an, daß es sich in keinem Fall um ein Versehen handelt und dankt den hochherzigen Spendern im Namen des Vorstandes. Karl-Heinz Kretschmer

438 Wir begrüßen folgende neue Vereinsmitglieder (11/1995): Bekiers, Dr. Andreas, Kunsthistoriker Klingelbiel, Klaus, Studienrat Mindener Straße 25, Bahnhofstraße 43, 10589 Berlin-Charlottenburg 12207 Berlin-Lichterfelde (Ost) Tel. 3 44 38 92 (Dr. M. Uhlitz) Tel. 7 7248 57 (Dr. M. Uhlitz) Droysen-Reber, Professor Dr. Dagmar, Lambertsen-Gandolf, Irmtraud, Stadtführerin, Direktorin des Staatl. Instituts Stud. Kunstgeschichte und Geschichte f. Musikforschung i. R. Droysenstraße 5, Schinkelstraße 4, 10629 Berlin-Charlottenburg 14193 Berlin-Grunewald Tel. 3 23 54 84 (Dr. M. Uhütz) Tel. 8 9155 05 (Dr. M. Uhlitz) Müller-Tenckhoff, Markus, Fremdenführer Haase, Edith Anna, Dipl.-Ing., Torfstraße 19, 13353 Berlin-Wedding Dipl.-Slawistin Tel. 4 53 14 22 (Dr. M. Uhlitz) Viktoria-Luise-Platz 5, Rüttgers, Achim, Kaufmann 10777 Berlin-Schöneberg Maybachufer 39, 12047 Berlin-Neukölln Tel. 217 63 20 (Dr. M. Uhlitz) Tel. 6 23 98 57 (Dr. M. Uhlitz) Heinrich, Wolfgang, Rentner Schilde, Dr. Kurt, Historiker (Bau- u. Möbeltischler) Karlsgartenstraße 16, Angerburger Allee 59, 12049 Berlin-Neukölln 14055 Berlin-Charlottenburg Tel. 6 22 24 07 (Dr. M. Uhlitz) Tel. 3 04 88 48 (Dr. M. Uhlitz) Schulmuseum Berlin Holwede, Petra von, z. Hd. Herrn Dr. Rudi Schulz kfm. Angestellte Wallstraße 32, 10179 Berlin-Mitte Bornstraße 14, Tel. 2 75 03 83 (Dr. M. Uhlitz) 12163 Berlin-Friedenau Spillmann, Irene, Lehrerin/Stadtführerin Tel. 8 526157 (Dr. M. Uhlitz) Monumentenstraße 24, Jellici, Christian, 10965 Berlin-Schöneberg Künstler und Gästeführer Tel. 7 86 79 09 (Dr. M. Uhlitz) Courbierestraße 5, Schwanz, Thea, Rentnerin 10787 Berlin-Schöneberg Edelhofdamm 48 Tel. 213 4170 (Dr. M. Uhütz) 13465 Berlin-Frohnau Kieseritzky, Wolther von, Tel. 4 016103 (Dr. Chr. Knop) Historiker Tischendorf, Eva-Maria, Touristikfachkraft Pankstraße 55, Helene-Weigel-Platz 6, 13357 Berlin-Wedding 12681 Berlin-Marzahn Tel. 4 6217 29 (Dr. M. Uhlitz) Tel. 5 40 56 31 (Dr. M. Uhlitz)

Veranstaltungen im III, Quartal 1995 1. Sonnabend, 19. August 1995,7.30 Uhr: „Auf den Spuren Kaiser Karls vom Kloster Jeri- chow zur Hansestadt Tangermünde", Busfahrt in einem bequemen Luxusbus nach Jeri- chow, Klein- und Großwulkow (Mittagessen in der Familiengaststätte Gericke), Melkow, Wust und Tangermünde. Dort führt uns unser Mitglied Dipl.-Bibiiothekar Hans-Peter Freytag. Mit Konzertbesuch in der Stephanskirche! Es sind noch Plätze frei! Teilnehmer­ preis: 50 DM. Anmeldung: Tel. 305 9600. Treffpunkt: Haupteingang Zoo, Bhf. Zoo, Hardenbergplatz, Bus der Fa. ,Pivotti VIP Bus Service'. 2. Freitag, 25. August 1995, 16 Uhr: „Besuch bei Schadow", Führung unserer Mitglieder Dr. Erika Schachinger und Professor Dr. Sibylle Einholz, Vorstandsmitglied, durch Schadows Wohnhaus. Schadowstraße 10/11, Berlin-Mitte. Bus: 100, 147, 257, 348; S- und U-Bahnhof Friedrichstraße. 3. Sonnabend, 2. September 1995: „Sommer-Exkursion des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865", Wanderung von Groß Kreutz über Deetz und die Götzer Berge nach Götz mit unserem Mitglied Dieter Klatt. Wanderstrecke ca. 15 km. Begrenzte Teilneh­ merzahl. Auskünfte und Anmeldungen unter der Telefonnummer 3 05 35 15.

439 4. Freitag, 8. September 1995 (bis 10. September): .Jahres-Exkursion des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865", nach Görlitz mit unserem Schriftführer Dr. Hans Günter Schultze-Bemdt. Weitere Informationen S. 437 f. 5. Sonnabend, 16. September 1995,14 Uhr: Aufvielfachen Wunsch wiederholen und erwei­ tern wir unseren „Altstadt-Rundgang durch Köpenick" mit Claus-Dieter Sprink, Leiter des Heimatmuseums Köpenick. Sehen und erleben Sie die restauratorischen Fortschritte in dem z. Z. interessantesten und sehenswertesten Berliner Sanierungsgebiet! Treffpunkt: Dampferanlegestelle Luisenhain vor dem Rathaus Köpenick. Ende am Schloß, so daß man nach der Führung dort einen Rundgang anschließen kann. 6. Sonntag, 24. September 1995,10 Uhr: „Spaziergang durch die historische .Dorotheen- Stadf" mit unserem l.stellv. Vorsitzenden Hans-Werner Klünner. Treffpunkt: Fried­ richstraße/Ecke Georgenstraße am Stadtbahnbogen. S- und U-Bahn Friedrichstraße. (Achtung: Winterzeit!) 7. Sonntag, 1. Oktober 1995, 9.30 Uhr: „Herbst-Wanderung des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865" mit unserem Mitglied Wolfgang Stapp. Treffpunkt: Ein­ gang Jagdschloß Klein-Glienicke. Route: Glienicker Brücke — Park und Schloß Babels­ berg — Telegraphenberg — Einsteinturm — Potsdam — großer und kleiner Ravensberg — Saarmunder Endmoräne — Mühle Langerwisch — Wilhelmshorst. Von dort Rückkehr nach Wannsee um ca. 16 Uhr. Streckenlänge: 15 km (Wanderschuhe erforderlich). Ver­ pflegung bitte mitbringen. Keine Einkehr! 8. Sonnabend, 7. Oktober 1995,14 bis 18 Uhr: „Die Wiederherstellung bedeutender Gar­ tendenkmale im Zentrum Berlins", gartenhistorische Busrundfahrt mit unserem Mit­ glied Dipl.-Ing. Klaus von Krosigk, Leiter des Referats Gartendenkmalpflege und stellv. Landeskonservator. Teilnahme kostenlos. Die Rundfahrt sollte bereits am 6. Mai stattfin­ den, mußte dann leider wegen Erkrankung unseres Referenten kurzfristig abgesagt wer­ den. Die bisherigen Anmeldungen behalten Gültigkeit, sind aber bitte nochmals telefo­ nisch zu bestätigen. Es sind noch Plätze frei! Anmeldung bitte schriftlich mit Freiumschlag für die Zusendung der Teilnahmekarte(n): SchrLt Dr. Uhlitz, Brixplatz 4, 14052 Berlin, Tel. 3 05 96 00. Teilnahmekarten verpflichten zur Teilnahme, wenn sie nicht rechtzeitig zurückgegeben werden! Abfahrtsort: vor unserer Vereinsbibliothek, Berliner Straße 40, U 7 (Blissestraße).

Bibliothek: Berliner Straße 40,10715 Berlin-Wilmersdorf, Telefon (0 30) 8 73 26 12. Geöffnet: mitt­ wochs 16.00 bis 19.30 Uhr. U7 (Blissestraße), Bus 101, 104, 204, 249.

Vorsitzender: Senator und Bürgermeister von Berlin a. D. Hermann Oxfort, Breite Straße 21,13597 Berlin-Spandau, Telefon 3 33 24 08. Geschäftsstelle: Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 12209 Berlin-Lichterfelde/Ost, Telefon 7 7234 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Artuswall 48, 13465 Berlin-Frohnau, Telefon 4 0142 40. Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin-Tempelhof, Telefon 7 53 42 78. Konten des Vereins: Postbank Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,10559 Berlin; Berli­ ner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Die MITTEILUNGEN erscheinen vierteljährlich zum Quartalsanfang. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung und Veranstaltungsorganisation: Dr. Manfred Uhlitz, Brixplatz 4, 14052 Berlin-Charlottenburg, Telefon 3 05 96 00 und 01715 2012 01, Fax 3 05 38 88; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin-Frohnau, Telefon 4014307; Beiträge bitte an die Schriftleiter senden. Redaktionsschluß: l.März, l.Juni, 1. September, 15. November. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 24 DM jährlich. Neumitglieder sind herzlich willkommen! Jahresmitgliedsbeitrag z. Zt. 60 DM inkl. Bezug der MITTEILUNGEN und des Jahrbuchs. Beitrittserklärungen bitte formlos an die Geschäftsstelle. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

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91.Jahrgang Heft 4 Oktober 1995

Der Herkulesbrunnen am Lützowplatz von Otto Lessing. Architektur: Ludwig Hoffmann; aus: H. Müller-Bohn, Die Denkmäler Berlins, Berlin 1905 Der Herkulesbrunnen auf dem Lützowplatz in Berlin Von Jörg Kuhn

1903 wurde die vom Magistrat der Stadt Berlin betriebene Verschönerung des Lützowplatzes im Tiergarten durch die Realisierung eines gewaltigen Brunnenprojektes abgeschlossen. Der von Stadtbaurat Ludwig Hoffmann und dem Bildhauer Otto Lessing geschaffene Herkules­ brunnen gehörte bis zu seiner Beschädigung im Zweiten Weltkrieg und seiner Abräumung in der Nachkriegszeit zu den markantesten Kunstwerken Berlins im öffentlichen Raum. Die 1967 nach Plänen von Eberhard Fink ausgeführte Neugestaltung des Platzes und die 1988 vorläufig abgeschlossene Neubebaung der Platzränder hat jeden Hinweis auf den 1950 beseitigten Brun­ nen verwischt.1 Allein die Aufstellung eines Neugusses der 1899/1900 von Louis Tuaillon geschaffenen Bronzegruppe „Herkules bändigt den erymäischen Eber" erinnert noch an die Herkulesthematik des ursprünglichen Platzschmucks.2 Der folgende Beitrag soll dazu beitra­ gen, den alten Lützowplatz und den Herkulesbrunnen wieder in Erinnerung zu rufen.

Geschichte des Lützowplatzes nach 1870

Der Lützowplatz am südlichen Rand des Tiergartens, ein ca. 180 x 160 m großer Blockplatz, entwickelte sich seit den 1870er Jahren zu einem bevorzugten Wohnquartier des „Neuen Westens", um dessen Ausbau sich Architekten wie Richard Lucae (1832—1877)3, Adolf Hey- den (1838-1902)4 und die Ateliergemeinschaft von Hermann Ende (1829-1907) & Wilhelm Böckmann (1832—1902)5 bemühten. Villenartige Mietwohnhäuser im Stil des Spätklassizis­ mus entstanden zuerst an der östlichen Platzseite, die anderen Platzseiten wurden in der Folge bis in die 1890er Jahre bebaut.6 Das Centralblatt der Bauverwaltung konnte 1901 melden: „Der Lützowplatz ist seit 10 Jahren einer der vornehmsten und architektonisch mit den abwechslungsreichsten Gebäuden ausgestattete Platz."7 Durch die zunehmende Bebauung des „Neuen Westens" erhielt der Platz zudem eine zentrale Vermittlerfunktion zwischen Nord- und Südberlin und auch zwischen dem alten Villenviertel im Tiergarten und den neuen Schöne­ berger und Charlottenburger Quartieren entlang der Ringstraßen. 1889—91 erfolgte zur Auf­ wertung des Platzes gemäß seiner Funktion zunächst ein repräsentativer Neubau der alten Albrechtshofbrücke durch Otto Stahn (1859—1930). Die massive Sandsteinbrücke, nun Her­ kulesbrücke benannt, wurde nach ihrer Fertigstellung mit den beiden sandsteinernen Herku­ lesgruppen und den vier Sphingen geschmückt, die Johann Gottfried Schadow und Conrad Boy 1791 für die 1890 abgebrochene Herkulesbrücke über den Königsgraben geschaffen hat­ ten.8 Lessing bemühte sich vergeblich um den Auftrag zur Restaurierung der barocken Skulp­ turen.9

Das Brunnenprojekt

Im Lauf der Planungen des Gartenbaudirektors Hermann Mächtig (1837—1909), den vorher als Kohlen- und Holzlager10 genutzten Lützowplatz zu einem Schmuckplatz umzugestalten, wurde 1894 von den Stadtverordneten Wohlgemuth und Seile die Errichtung eines Brunnens angeregt.11 Daraufhin entstanden, ohne Auftrag, erste Entwürfe. So skizzierte der Bildhauer Ernst Heiler (1846—1917)12 einen Brunnen, der die großen deutschen Kulturepochen veran-

442 schaulichen sollte.13 Bestimmt durch die Nähe zur neuen Herkulesbrücke wurde jedoch vom Magistrat der Stadt Berlin ein Thema aus der Herkulessage gewünscht.14 Es kam jedoch erst unter dem 1896 eingesetzten Stadtbaurat Ludwig Hoffmann (1852—1932) zum Beschluß über einen Brunnen für den Lützowplatz. Ein Konkurrenzausschreiben fand nicht statt. Hoffmann, der sich zur gleichen Zeit mit dem geplanten „Märchenbrunnen" für den Friedrichshain beschäftigte, fertigte zunächst selbst die Skizze eines Brunnens, überließ im Sommer 1898 dann „aber die Gestaltung des Werkes Herrn Prof. Otto Lessing, der nun wieder eine eigene Komposition geschaffen hat."15 Der Bildhauer Otto Lessing (1846—1912)16 hatte 1872/73 ein Atelier für dekorative Bauplastik gegründet und konnte sich bald den Ruf als erfahrenster Bauplastiker Berlins erwerben.17 Hoffmann hatte den vielbeschäftigten Künstler bereits 1879 während seiner Bauführerzeit an der Berliner Bauakademie kennengelernt. In Lessings Atelier entstand von 1888 an der bauplastische Schmuck für das von Ludwig Hoff­ mann und Peter Dybwad entworfene Reichsgerichtgebäude in Leipzig und nach 1896/97 auch der Fassadenschmuck für viele von Hoffmanns Berliner Kommunalbauten. Für die Formulierung des Herkulesbrunnens griffen Hoffmann und Lessing, beides gute Ita­ lienkenner, auf das Vorbild des Neptunbrunnens von F. A. Giongo in Trient zurück, der Anfang des 17. Jahrhunderts auf der Piazza Cesare Battisti (Domplatz) errichtet worden war.ls Das bedeutende Werk Giongos wurde mit der — in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgten — Wiederentdeckung der italienischen Spätrenaissance zu einem der wichtigsten Vorbilder deutscher Bildhauer und Architekten.19 Offensichtlich fand dieser — am italieni­ schen Vorbild orientierte — Entwurf zum Herkulesbrunnen die Zustimmung der städtischen Ausschmückungskommission, denn die Realisierung der Modelle wurde sofort „von Prof. Otto Lessing in Angriff genommen".20 Da sich Hoffmann aber die Entscheidung über die Gestaltung im einzelnen vorbehalten hatte, war Lessing genötigt, seine Arbeit häufiger zu unterbrechen. Die Realisierung verzögerte sich durch Hoffmanns ständige Überlastung mit anderen Bauaufgaben, wie aus einem Brief Les­ sings an den Architekten vom 27. Juli 1898 hervorgeht: „Geehrter Baurath! Ich sende Ihnen diesen Verzweiflungsschrei: ich brauche Arbeit! Auch meine Leute stehen umher, da steht die schöne Arbeit des Brunnen vor einem, macht mir den Mund wässrig u. ich kann nicht 'ran. Können Sie morgen früh nicht vorbeikommen? 5 Minuten genügen ja. Ich habe schon die Pro­ file aufnehmen lassen die seitlichen 2 Längsschnitte u. die nöthigen Querschnitte."21 Neben Hoffmann kontrollierte auch die städtische Kunstdeputation durch Besuche in Lessings Gru­ newalder Atelier den Fortgang der Arbeiten.22 Bei einer dieser Visitationen fiel auch die Ent­ scheidung, den Brunnen nicht, wie ebenfalls erwogen, in Marmor, sondern in schlesischem Sandstein ausführen zu lassen.23 Die Modelle Lessings waren im Frühjahr 1899 vollendet. Im September 1900 erhielt Lessing für das fertiggestellte Hilfsmodell zur Ausführung 45 000 Mark.24 1901 wurden das Hauptmodell und verschiedene Detailmodelle innerhalb einer gro­ ßen Gesamtpräsentation von Werken, die Hoffmann für die Stadt Berlin entworfen hatte, auf der Großen Berliner Kunstausstellung am Lehrter Bahnhof gezeigt.25 In den Ausstellungsbe­ sprechungen erschienen darauf die ersten öffentlichen Kritiken zum Brunnen, die offensicht­ lich zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Künstlern führten. So schrieb der Börsen­ kurier am 23. Juli 1901: „Schwieriger" als mit den Bildhauern August Vogel, Heinrich Gie- secke, Ernst Westphal und Max Widemann ist für Hoffmann „schon der Verkehr mit Lessing. Sein für den Lützowplatz bestimmter Brunnen bedarf noch starker Umarbeitungen, ehe er in Linie und Figur annehmbar ist. Bei solchen Denkmälern zeigen sich die Unzulänglichkeiten unserer Bildhauer am deutlichsten." Als Replik daraufschrieb A. Lembach am 1. August 1901 in der Zeitschrift Highlife: „Prof. Lessing und noch eine Anzahl anderer Bildhauer haben sich

443 mit Glück und gutem Gelingen als vortreffliche Mitarbeiter an den Hoffmann'schen Werken erwiesen." Julius Norden empfand das Brunnenmodell „ganz und gar wie der porzellanene Fruchtaufsatz auf einer kleinbürgerlichen Hochzeitstafel"26. Allen Anfeindungen zum Trotz begann nach der Ausstellung die Ausführung. Nachdem die Architektur errichtet worden war, brachte man die vier Meter hohe Herkulesfigur am 27. Februar 1903 zum Lützowplatz. Im Lauf des Spätsommers folgten die Figurengruppen des unteren Beckens. Am 11. November 1903 wurde der fünfzehn Meter hohe Brunnen, dessen unterste Schale einen Durchmesser von vierzehn Meter hatte, ohne größere Zeremonie enthüllt. Die Gesamtkosten beliefen sich auf ca. 192 000 Mark und waren damit bedeutend niedriger als die Kosten für den 1891 enthüllten, von Reinhold Begas geschaffenen „Neptunbrunnen" auf dem Schloßplatz, der die Stadt 550 000 Mark gekostet hatte. Der vollendete Brunnen übertraf „in Größe und dekorativem Reichtum alle bestehenden Berliner Fontainen."27 Das direkte Umfeld des Brunnens wurde mit Steinpflaster mosaikartig belegt.

Beschreibung des Brunnens Über vier Treppenstufen erreichte man die untere Brunnenschale mit ihrem barock geschwun­ genem Rand. In ihr waren über naturalistisch gestalteten Felsblöcken vier jeweils aus einem Tritonen (Wasserkentauren mit Schwimmflossen) und Nereiden bestehende Figurengruppen angeordnet. Sie symbolisierten die Bedeutung und den Nutzen des Wassers für die Menschen. Die südwestliche Gruppe zeigte das Wasser als Träger von Lasten für Handel und Schiffahrt. Einem bärtigen Tritonen wurde von Nereiden mit Gurten ein Sack auf dem breiten Rücken festgezurrt. Die südöstliche der Gruppen stellte das Wasser als nahrungs- und auch als freuden­ spendendes Element dar. Diese auch mit „Tanz und Spiel" benannte Gruppe zeigte einen jun­ gen Tritonen mit Fischen in der Hand, der von drei Nereiden mit Muscheln und Wasserblumen bekränzt wurde. Verschiedene Attribute und Symbole wie eine Panflöte und das Kerykeion des Hermes lagen hier verstreut auf dem felsigen Grund. Die nordöstliche Gruppe symbolisierte die Bändigung des Wassers zum Gebrauch. Nereiden fesselten hier einen stämmigen Tritonen mit festen Stricken. Die nordwestliche der Gruppen illustrierte sinnbildlich die Geburt des Wassers aus der Quelle: Quellnymphen versuchen einen mit drei Nereiden davonschwimmen- den Tritonen festzuhalten. In der Mitte, zu Füßen der Brunnensäule, war auf einem Sockel ein kleineres, viergeteiltes Bek- ken. Die Säule war in ihrem oberen Teil als ein sich verjüngender, kannelurenartig geriffelter Pfeiler ausgebildet, der zwei weitere Becken trug, wobei das obere einem Blütenkelch nachge­ bildet war. Das untere dieser Becken hatte am Rand einen mehrteiligen Aufbau. Auf vier über Delphinköpfen hervorragenden Ecken ritten geflügelte kleine Wasserwesen auf großen Volu­ ten. Die auf allen vier Seiten eingezogenen Ränder des Aufbaus waren mit einem überlappen­ den Wasserornament verziert. Der Pfeilerschaft war auf dieser Höhe mit girlandenumrahmten Wappenkartuschen und darüber angeordneten Stadt-Kronen geschmückt. Der Brunnenpfei­ ler wurde unter dem obersten Becken mit einem aus vier durch Festons verbundenen Löwen­ köpfen gebildeten Fries abgeschlossen, der wie ein Kapitell ausgebildet war. Das oberste Brun­ nenbecken hatte in der Mitte einen Rundsockel, auf dem die Figur des Herkules stand. Durch die Herkules beigegebenen Attribute, Pfeil, Bogen und Löwenfell, läßt sich der zwischen den Füßen des nackten Heroen liegende erlegte Adler auf eine bestimmte Geschichte innerhalb der Herkulessage beziehen: Herkules hatte den aus Rache der Götter an den Kaukasus geschmie­ deten Prometheus von dem ihn peinigenden Adler befreit, indem er das Tier mit einem Pfeil tötete.

444 Abb. 2: Der Lützowplatz mit dem Herkulesbrunnen von der Friedrich-Wilhelm-Straße, 1904. Landesbildstelle Berlin

Der Brunnen in der zeitgenössischen Kritik Der Brunnen, dessen Architektur vor der offiziellen Einweihung „schon längst unverhüllt in die Luft (ragte) (...) forderte die Berliner zur Kritik heraus, die nicht gerade überwiegend wohlwollend ausfiel", schrieb Ludwig Pietsch (1825—1911) am Tag der Enthüllung in der Vos­ sischen Zeitung. Bereits nach Bekanntgabe der Pläne wurden die Stellung innerhalb des Plat­ zes und die Maßverhältnisse kritisiert, wobei der Brunnen insgesamt als zu mächtig, die Herku­ lesfigur jedoch als „viel zu klein und " bemängelt wurden.2" Da der Brunnen einerseits als aus der Nähe zu betrachtender Schmuckbrunnen auf einem Gartenplatz am Stadtrand wir­ ken, andererseits aber als Point de vue für die auf ihn zuführenden Straßen dienen sollte, ent­ stand für Lessing ein kaum lösbares künstlerisches Problem. Um die symbolischen Gruppen im Verhältnis zum hochaufragenden Mittelpfeiler gleichwertig zu gestalten, mußten diese kolos­ sal ausgebildet werden. Um aber gleichzeitig dem vor dem Brunnen stehenden Betrachter genügend optische Reize bieten zu können, wurden die vielfigurigen Gruppen im unteren Bek- ken mit kleinteiligem, narrativem Beiwerk versehen. Die üppige Ausstattung war dann auch Gegenstand vieler Kritiken. So wurde die in der symbolischen Verschlüsselung unklare Bedeu­ tung der Gruppen in der Zeitschrift „Ulk" aufgegriffen, die einen fingierten Vortrag eines Friedrich Wilhelm Zippel, Vorstandsmitglied des Vereins „Nach Neune", publizierte, der mit einer karikierenden Beschreibung des Brunnens beginnt: „Was Sie hier ins Auge springt, is ein Brunnen von Sandstein und Lessing, den man deshalb auch den Herkulessing nennt. Auch der Stadtbaurat Hoffmann is der Beihilfe dringend verdächtig." Fortfahrend findet Zippel „noch

445 ein kurzes Wort über die vier Fijuren unten am Bassäng. Ich sage mit Schiller: ich weiß nich, was soll es bedeuten. Es soll des Wasser in seine verschiedene Tätigkeiten sein. Möchlich! Oder is es die Kanalvorlage? In die Jruppe janz rechts wird ein Minister doch janz deutlich vor'n Bauch gestoßen. Oder auch der Kampf der Alten mit die Jungen bei die Socies. Hinjegen die Jruppe hier janz vorn, des scheint mir nu wieder die Seekrankheit darzustellen, indem der olle Herr sich überjiebt, weil er sich übernommen hat mit des massenhafte Wasser."29 Eine boshafte Karikatur illustriert „Die dreizehnte Tat des Herakles, verübt an dem neuen Brunnen auf dem Lützowplatz". Herkules schwingt seinen Köcher keulengleich über den oberen Beckenrand und schlägt die auf den Voluten sitzenden Putten des Beckens herunter.30 Ein Beitrag in der Volkszeitung kritisierte wiederum die gezwungene, überdimensionierte Größe der Anlage: Der Aufbau sei zwar kühn „und die ihn bekrönende Herkulesgestalt läßt an Freiheit der Hal­ tung und kräftiger Herausarbeitung des Muskelreliefs kaum etwas zu wünschen übrig. Doch ist dem Sohn des Zeus zu viel unter die Füße gerückt worden." Auch finden die Figuren des zwei­ ten Beckens keine Gnade: „Hier lugen von den Zacken Putten blöde in die Welt."31 Kritisiert wurde auch die Kolossalität der Gruppen, die das eigentlich durch sie symbolisierte „lebens­ sprühende und lebenspendende Element (Wasser)" mit ihrer Masse gewalttätig erdrückt habe. Weiter heißt es: „Das große Becken zu ebener Erde aber wird von vier Kolossalgruppen über­ ragt, zu denen vermutlich Böcklin's dem Bildhauer die Anregung gegeben hat. Was aber in Böcklin's farbensatten Gemälde sich wie ein heiter-neckisches Spiel ausnimmt, erscheint in den Bildwerken als Vergewaltigung. Vier Nickelmänner scheinen mit üppigen Frauengestalten zu ringen und ihre Gesichtszüge lassen nicht auf lautere Absichten schlie­ ßen."32 Doch wurde lobend erwähnt: „daß ein so hervorragender Künstler wie Otto Lessing die teils mit faunischem Lächeln, teils mit leidenschaftlich-erregten Mienen die nackten Schö­ nen umfassenden Wassermänner so formsicher gestaltet hat wie ihre widerstrebende Beute, bedarf wohl kaum der Versicherung"33. Entgegen der Behauptung Pietschs, daß der Brunnen bei „den Berlinern" kritisch bewertet werde, fand das Werk mit seiner scherzhaft „Her(r) Kules" getauften Sagenfigur gerade bei der Bevölkerung eine positive Aufnahme.34 Zustim­ mung finde der Herkules auch bei den jungen Damen, die zum ersten Mal mit eigenen Augen sehen könnten, „wie ein richtiger Mann auszusehen habe,"35 berichtete Lessings Neffe Hans Koberstein (1864—1945) ironisch. Der Architekt Albert Hofmann beschrieb die Anlage des Brunnens als „glückliche(s) Ergebnis" und hob die „prächtige Figur des Herkules" ebenso her­ vor wie die in der Komposition zu erkennende „sorgfältige Erwägung der Wirkungen des Was­ sers in seinen vielfältigen Erscheinungsformen". Aus der vielfältigen Reaktion auf den Brun­ nen schloß er „auf eine wärmere Anteilnahme der Künstlerkreise wie des Volkes. Und diese wärmere Anteilnahme verdient der Brunnen, denn mag man auch Einzellösungen gegenüber eine abweichende Kunstanschauung zur Geltung bringen, als Ganzes ist er ein Werk vorneh­ men und reifen Kunstgeschmacks, eine dekorative Komposition von reicher Wirkung."36 Auch er empfand, daß die aus dem „Zwiespalt seiner Bestimmung" heraus gewählten Größenver­ hältnisse problematisch seien, durch die der Brunnen als von der Nähe zu betrachtender Schmuckbrunnen wie auch als weithin sichtbares Gestaltungselement innerhalb des Straßen- gefüges zu wirken habe. Lobende Worte fand der Verfasser von Lessings Nachruf 1912 in der Bauwelt: „Eine seiner gelungensten und wirksamsten Schöpfungen ist der allmählich aufstre­ bende, in seinen Details malerisch-komponierte Herkulesbrunnen am Lützowplatz", und repräsentiert damit die Meinung der fachfernen Bevölkerung. Ludwig Pietsch, der in der Vos­ sischen Zeitung den Brunnen anläßlich der Enthüllung mit viel Lob bedachte, wies 1904 zwar auf die immensen Kosten des Wasserverbrauchs hin, die pro Sommer 40 500 Mark betrugen, stellte aber fest, „wo das Wasser die Brunnenteile und Figuren unmittelbar umspült, sind diese

446 durch Algen so vollständig vergrünt, daß sie patiniertem Kupfer gleichen, was übrigens gar nicht übel aussieht". Eine nachwirkende Kritik schrieb Berthold Daun in seinem 1909 veröffentlichten Buch über die Kunst des 19. Jahrhunderts: „Das Lessing-Denkmal in Berlin kann als tüchtigste Leistung Otto Lessings genannt werden, während sein Herkulesbrunnen auf dem Lützowplatze in Ber­ lin als bedenkliche Ausartung barocker Kunst bezeichnet werden muß."37 Insgesamt aber fand der im kleinen Modell überladen wirkende, daher stark kritisierte Brunnen nach seiner Reali­ sation eine günstigere Beurteilung. Auffällig ist, daß Hoffmann und Lessing sich bewußt von Begas' Neptunbrunnen absetzen wollten. Lessing öffnete sich in der Gestaltung seiner barock anmutenden Gruppen den Tendenzen des Jungendstils und reagierte so kongenial auf Hoff­ manns florale Brunnenarchitektur. Bedingt durch die lange Zeit zwischen Modellierung und Ausführung, war aber diese 1898 sicherlich „modernere" Stilauffassung bereits überholt. Der Brunnen, der auch ohne Wasserbetrieb als kunstvolles Denkmal wirken sollte, mußte — ent­ standen in der letzten Phase des Denkmalkultes — bald schon als unzeitgemäß erscheinen. Interessant ist hier der Vergleich mit der Planungsgeschichte des Märchenbrunnens im Fried­ richshain. Die ersten Entwürfe Hoffmanns von 1898 waren stilistisch ganz dem konventionel­ len, zierlich-spielerischen Neubarock verpflichtet und hatten mit dem erst 1907—13 ausgeführ­ ten Brunnen nichts gemein.38 Die Gestaltung des Herkulesbrunnen war gegenüber den ersten Entwürfen für den Märchenbrunnen von beachtlicher Modernität und Originalität. Der ersatzlose Abbruch des beschädigten Kunstwerks nach dem Zweiten Weltkrieg kann als späte Folge der bereits nach der Jahrhundertwende einsetzenden Ablehnung der wilhelmini­ schen Kunst gewertet werden. In seinem 1889 in Wien veröffentlichten Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen" schrieb Camillo Sitte über das zentrale Problem zeit­ genössischer Brunnen: „Wir können es nicht ändern, daß den öffentlichen Brunnen nur mehr dekorativer Wert zukommt, während die bunte belebte Volksmenge ihm fernbleibt, da die modernen Wasserleitungen viel bequemer das Wasser unmittelbar in Haus und Küche stel­ len."39 Wer den im Krieg stark beschädigten und um 1950 abgeräumten40 Herkulesbrunnen in seiner ganzen Schönheit eindrucksvoll dargestellt sehen möchte, sollte sich unbedingt Leo de Laforgues 1938/41 entstandenen Dokumentarfilm „Berlin, wie es war" ansehen, der den Brunnen durch einige malerisch inszenierte Kameraeinstellungen würdigt.

Anmerkungen

1 Berlin und seine Bauten, Teil X (Gartenwesen), Berlin 1972, S. 161 u. 286. 2 Gerd-Dieter Ulferts, Louis Tuaillon (1862-1919), Berlin 1993, S. 180. 3 Der Bruder Lucaes, der Ohrenarzt Professor August Lucae (1835—1911), wohnte im Haus Lüt- zowplatz 9. 4 Der Architekt und Kunstgewerbler Adolph (von) Heyden wohnte im Haus Lützowplatz 13 (bei­ gesetzt auf dem Luisengemeinde-Kirchhof III. in Charlottenburg). 5 Irmgard Wirth/Paul Ortwin Rave, Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Bd. 1, Berlin 1955, s.v. „Lützowplatz"; Berlin und seine Bauten, Berlin 1877, S.441 f. 6 Berlin Handbuch. Lexikon der Bundeshauptstadt Berlin, Hrsg. vom Presse- und Informations­ amt des Landes Berlin, Berlin 1992, S. 778 f. 7 Centralblatt der Bauverwaltung, 21, 1901, S. 269. 8 Berlin und seine Bauten, 1896, Bd. I., S. 166 f. 9 Frdl. Mitteilung von Frau Dr. Martina Weinland, Berlin (siehe auch: M. Weinland, Wasserbrük- ken in Berlin, Berlin 1994).

447 10 Unter anderem wurde Baumaterial für die am Platzrand neu entstehenden Häuser dort gelagert. 11 Bericht der städtischen Kunst-Deputation, Berlin am 15.1.1899 (Landesarchiv Berlin, Rep. 200 Acc. 3559, Nr. 3, S. 69). 12 Brigitte Hüfler, Ernst Herter 1846-1917. Werk und Porträt eines Berliner Bildhauers, Phil. Diss. FU Berlin 1978. 13 Die Kunst-Halle, 3, 1898, S. 155. 14 Deutsche Bauzeitung, 37, 1903, S. 557. 15 Die Kunst-Halle, 3, 1898, S. 155. 16 Jörg Kuhn, Otto Lessing (1846—1912). Bildhauer, Kunstgewerbler, Maler. Leben u. Werk eines Bildhauers des Späthistorismus unter besonderer Berücksichtigung seiner Tätigkeit als Bauplasti­ ker, Phil. Diss. FU Berlin 1994. 17 Wolfgang Schäche (Hg.), Ludwig Hoffmann, Stadtbaurat von Berlin 1896—1924, Lebenserinne­ rungen eines Architekten (Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Beiheft 10), Berlin 1983, S. 103. 18 Die bronzene Neptunfigur des Trienter Brunnens wurde 1942 durch eine Kopie ersetzt. Das Ori­ ginal befindet sich im Hof des Palazzo Municipio (vgl. Knaurs Kulturführer Italien, München/ Zürich 1978, S. 732 mit guter Abbildung des Brunnens). 19 So bezieht sich auch der 1901 in Elberfeld enthüllte Neptunbrunnen des Bildhauers Leo Müsch direkt auf das Trienter Vorbild (vgl. Die Kunst-Halle, 7, 1901/1902, S. 26). 20 Die Kunst für Alle, 13, 1897/98, S. 300. 21 Landesarchiv Berlin, Nachlaß Hoffmann, Rep. 200 Acc. 3559 (Brief Lessings vom 27.7.1898). 22 Die Kunst-Halle, 3, 1898, S. 155. 23 Lokal-Anzeiger, vom 21.6.1900. 24 Landesarchiv Berlin, Nachlaß Hoffmann, Rep. 200 Acc. 3559, Nr. 3 (Rechnungsaufstellung). 25 Katalog der Großen Berliner Kunstausstellung 1903, Nrn. 14—18. 26 Magdeburger Zeitung, vom 26.5.1901. 27 Die Kunst-Halle, 5 (Heft 24), 1899/1900, S. 376. 28 Vossische Zeitung, 1. Beilage Nr. 477, vom 11.10.1902. 29 Ulk. lUustrirtes Wochenblatt für Humor u. Satire (Beilage des Berliner Tageblatts), v. 23.10.1903 (Exemplar im Landesarchiv, Nachlaß Hoffmann). 30 Ulk, Nr. 44, vom 20.11.1903. 31 Volkszeitung, vom 10.9.1903 32 Ebenda. 33 Ebenda. 34 Hans-Werner Klünner (Hg.), Berliner Plätze, Berlin 1992, S.83. 35 Hans Koberstein, Mein Onkel Otto, Berlin 1944 o. S. (Handschriftl. Manuskript in Familienbe­ sitz Lessing, Neuss); Vgl. Jörg Kuhn, Eine Biographie des Bildhauers, Kunstgewerblers und Malers Otto Lessing, verfaßt von Hans Koberstein, Berlin 1944. In: Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, 1994, S. 105-124. 36 Alle Zitate aus: Deutsche Bauzeitung, 37, 1903, S. 556ff. 37 Berthold Daun, Die Kunst des XIX. Jahrhunderts und der Gegenwart, Berlin 1909. 38 Umfängliches Material zum Märchenbrunnen befindet sich im Nachlaß Hoffmanns im Landes­ archiv Berlin, Rep. 200 Acc. 3559. 39 Camillo Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889 (zitiert nach der 4. Auflage 1909, S. 117). 40 Ausstellungskatalog „Neptuns Reich an der Spree. Berliner Brunnen von Begas bis Bonk", Hg. von Elke Messer, Bernd Nicolai und Wolfgang Schuster (Kunstamt Neukölln), Berlin 1984, S. 55 f.

Anschrift des Verfassers: Dr. Jörg Kuhn, Fehmarner Straße 19, 13353 Berlin-Wedding

448 Abb.l: B. Eggers: Der Große Kurfürst. Marmorbüste um 1663 — seit 1945 verschollen

Jubiläumsbeitrag zum 375. Geburtsjahr des Großen Kurfürsten:

„Der Herr ist meine Stärke" Medizinhistorische Studie über den Großen Kurfürsten Von Hans-Joachim Neumann

Für Reinhold Schneider gab es „seit Karl V.... in Deutschland nur zwei Könige unter unzähli­ gen Kronenträgern: Friedrich Wilhelm I. und seinen Sohn. Ihnen ging der Kurfürst (Friedrich Wilhelm der Große Kurfürst — d. A.) voraus, der als Bahnbrecher und Gründer gleichfalls nicht seinesgleichen hat. Das Signum ihrer Größe ist, daß sie sich opfern mußten." Nicht nur der Staatsmann, Feldherr und Politiker steht im Mittelpunkt unserer Betrachtung, sondern vor allem der Mensch Friedrich Wilhelm, frei von allem schmückenden und glorifizierenden Bei­ werk. Daß dieser „Gewitterkopf' und Draufgänger zugleich ein sehr empfindsamer, ein depressiver und von vielen Krankheiten heimgesuchter Mann mit ausgeprägtem Familiensinn war, ist häufig viel zu kurz gekommen. In älteren Schriften wollte man diesen Kurfürsten

449 Abb. 2: Kurfürstin Luise Henriette. 1858 vom Magistrat der Stadt Oranienburg gestiftetes Denkmal

heroisch haben. Und da menschliche Schwächen zu einem Heldenleben nicht gehören, ließ man sie besser weg. Aber Friedrich Wilhelm war kein Held — Gott sei Dank nicht. Daß er mit gichtigen Händen und Füßen bei Eis und Schnee in den Nordosten aufbrach, um die Schweden aus Ostpreußen zu vertreiben, war dagegen ein Zeugnis für Mut und Tapferkeit und beispiel­ lose Selbstdisziplin. Zwanzig Jahre alt war Friedrich Wilhelm (1620—1688), als er Kurfüst von Brandenburg wurde, zu jung, wie viele Historiker meinten, besonders für ein so verantwortungsvolles Amt in der schweren Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Aber vier Jahre Studium und Anschauungsun­ terricht auf allen Gebieten der Staatskunst, der Wirtschaft, des Militärs und der internationalen Diplomatie in Holland standen zu Buche, und so war Friedrich Wilhelm eigentlich besser für sein Amt gerüstet als alle seine kurfürstlichen Vorgänger. Der junge Kurfürst war hochgewach­ sen, körperlich gestählt und bis auf längst ausgestandene, nicht mehr einzuordnende Krankhei­ ten gesund, dabei von markantem Aussehen mit einer betont scharf geschnittenen Höckernase. Allen weltlichen Genüssen stand er aufgeschlossen gegenüber: Er aß und trank mit Leiden-

450 schaft, und so war auch das Hofleben anfänglich in Königsberg und später in Berlin ausgespro­ chen üppig und paßte keineswegs in das vom Krieg heimgesuchte Land. Auffällig war lediglich, daß Friedrich Wilhelm schon als Kurprinz zu Depressionen neigte, die periodisch wiederkehr­ ten, sein Leben lang. Diesbezüglich mochte er erblich belastet sein, denn dem ewig kränkeln­ den Vater, Kurfürst Georg Wilhelm, sind solche Gemütsbewegungen von vielen Seiten nach­ gesagt worden, und seine häufige Flucht nach Königsberg entsprang auch seiner depressiven Haltung. Bis zu seinem 40. Lebensjahr erfreute sich der Kurfürst bester Gesundheit. Dann änderte sich das Bild, denn im Winter 1659/60 ereilte ihn während des Jütland-Feldzuges der erste Gicht­ anfall, der sich in immer kürzeren Abständen bis in sein letztes Lebensjahr hinein wiederholen sollte. Hinter dem Kurfürsten lagen 1660 zwanzig Regierungsjahre, und die Ernte, die er einge­ fahren hatte, konnte sich jetzt schon sehen lassen. Auf Drängen seines väterlichen Freundes Konrad von Burgsdorff gründete der Kurfürst 1644 ein stehendes Heer (miles pertuus) und begann damit, sich ganz allmählich in die Riege der Mächtigen seiner Zeit einzureihen. Burgs­ dorff wurde Oberkommandierender und darüber hinaus auch Oberkammerherr, so daß des­ sen Mitarbeit im Geheimen Rat zwangsläufig wurde, obwohl ihm eigentlich die politischen und juristischen Voraussetzungen dafür fehlten. Nach elf Jahren wurde Burgsdorff abrupt all seiner Ämter enthoben, wohl hauptsächlich auf Betreiben von Kurfürstin Luise Henriette, und der pommersche Adlige Otto von Schwerin wurde bald zum Vertrautesten der ganzen kurfürstli­ chen Familie. Friedrich Wilhelm ernannte ihn zum Oberpräsidenten des Geheimen Rates, ein Amt, das Schwerin bis zu seinem Tod 1679 innehatte (Abb. 1, 2 u. 3).

Abb. 3: Otto von Schwerin. Oberpräsident des Otto TV kl v.-ScWerifi Geheimen Rates. Leichenbegängnis der Kur­ fürstin Luise Henriette 1667 — Ausschnitt aus einer Kupferstichfolge von Gottfried Bartsch.

Abb. 4: Generalfeldmarschall Georg von Derfflinger. Unbekannter Stich

451 Daß Friedrich Wilhelm nach der Beendigung des Ersten Nordischen Krieges (1655—1660) die volle Souveränität in Preußen erlangte, war einer seiner größten politischen und militärischen Erfolge. Für die Entwicklung Brandenburg-Preußens war es ein fundamentales Ereignis. Als Friedrich Wilhelm am 18. Juni 1675 die elitären Schweden, die seit den Tagen Gustav Adolfs als die beste Streitmacht ihrer Tage galten, in der Schlacht von Fehrbellin besiegte, war er „der Große Kurfürst", und er erhielt so spontan vom Volk seinen Ehrennamen, den er bis heute trägt. Auf Flugblättern, in Balladen, Dramen, in Gedichten, Liedern und in Versen pries man den siegreichen Brandenburger, übrigens im „Ausland", im Elsaß nämlich, noch früher als zu Hause, wo man ein Vierteljahrhundert danach noch den Jahrestag von Fehrbellin mit Jubel­ feiern beging. Derfflingers Verdienste — neben Pappenheim war Generalfeldmarschall von Derfflinger der bekannteste Reitergeneral des 17. Jahrhunderts — um die gewonnene Schlacht von Fehrbellin schmälern nicht den persönlichen Anteil des Kurfürsten an diesem Sieg, der sich, von vielen Gichtanfällen gepeinigt und seit 1674 auch von Nierenkoliken heimgesucht, mutig in das Schlachtengetümmel warf. Die Reise des Kurfürsten vom Rhein, wo er an dem Reichskrieg gegen Ludwig XIV. teilnahm, bis an den Rhin war eine reine Qual gewesen. In Col- mar hatte Friedrich Wilhelm einen schweren Gichtanfall erlitten, der sich auf seiner Rückreise mit noch größerer Intensität wiederholte und ihn in Kleve zwei Monate lang ans Bett fesselte. Die Nächte konnte er nur im Wagen bei seinen Truppen zubringen. Der Kurfürst war so unbe­ weglich und so korpulent geworden, daß man ihn in den Sattel heben mußte (Abb. 4, 5 u. 6). Ganz schuldlos war Friedrich Wilhelm nicht an allen seinen Krankheiten, denn er war ein Fein­ schmecker, der dem Alkohol gern zusprach und auch üppige Speisen nicht verachtete. Ande­ rerseits machte er gern Gebrauch von Mitteln, die Heilung oder Besserung versprachen. Den Königsteiner Sauerbrunnen schien er besonders zu schätzen, wovon die folgende Bestellung, um „begehrte weine" erweitert, vom 15. Mai 1663 Zeugnis ablegt: „Friedrich Wilhelm Churfürst Lieber getrewer, was wir dir am 9. und 18. Marty, wegen einschickung einer guten Portion weine und Königsteiner Sauerbrunnens in gnaden anbefohlen, deßen wirstu dich unterhänigst erinnern. Weil wir aber biß dato von dir Keine nachricht erhalten, ob du demselben gehorsamst nachgekommen; alß befehlen wir dir hirmit gnädigst unß deßhalb ehrstens deinen unterhänig- sten bericht einzuschicken, und ferner die unverzügliche bestellung zu thun, damit solche begehrte weine, nebst dem Sauerbrunnen je eher desto besser anhero überbracht werden. Daran geschiehet unsere Willensmeinung. Königßberg den 15. May 1663." In seinen letzten Lebensjahren vervollständigten Koliken und Wassersucht, die ihn oft genug geschäftsunfähig machten, das Krankheitsbild. Daran änderte auch seine Brunnenkur, der er sich 1681 wegen seiner Gicht und seines Steinleidens am Rande eines Fürsten- und Familien­ kongresses in Pyrmont unterzog, nichts mehr. Als 1684 im brandenburgischen Freienwalde ein „mineralisches Wasser" entdeckt wurde, gehörte Friedrich Wilhelm mit seiner Gemahlin zu den ersten Gästen dieses „Wunderbrunnens". Der Kurfürst griff in seinem schwerstkranken Zustand nach jedem Rettungsanker, wobei der Wunderbrunnen in Freienwalde am Ende doch nicht halten konnte, was er zunächst versprach. Von 1687 an fand man den Kurfürsten über­ wiegend im Lehnstuhl und im Bett. Seine hochgradige Wassersucht infolge einer Rechtsherzin­ suffizienz machte alle körperlichen Anstrengungen zunichte. Die Atemnot war so hochgradig, daß er im Liegen zu ersticken drohte. Im Wechsel zwischen kurzzeitiger Erholung und immer länger werdenden Pflegezuständen bewegten sich seine letzten Wochen und Tage. Der Große Kurfürst ist „den 29. Aprilis, Sontags vormittag, bald nach 9 Uhr, sanfft und seeligst in dem Herrn entschlaffen" (1688 — d. A.), so heißt es in dem Obduktionsbericht vom 1. Mai,

452 Abb. 5: Aussichtsturm (Denkmal) in Abb. 6: „Hier legten die Brandenburger den Hakenberg mit der von Christian Daniel Rauch Grund zu Preussens Größe". Inschrift an einem entworfenen Siegesgöttin. Errichtet zum weiteren, ungleich bescheideneren Siegesdenk- 200. Jahrestag der Schlacht von Fehrbellin. mal in Hakenberg.

den sein Nachfolger, Kurfürst Friedrich III., angeordnet hatte. Nach meinen Studien hatte der Große Kurfürst eine genetisch bedingte oder mitbedingte Gicht, denn daß diese Stoffwechsel­ krankheit bei den Hohenzollern schon vor Friedrich Wilhelm familiär war, scheint ziemlich sicher zu sein. Als Folge bildeten sich im Lauf der Jahre Gichtnieren mit einer Parenchymatro- phie, wie es dem Obduktionsbericht unschwer zu entnehmen ist. Daraus entwickelten sich offensichtlich allmählich ein renaler Bluthochdruck mit der Folge einer Arteriosklerose und schließlich eine Linksherzhypertrophie. Eine über Jahre bestehende Überbelastung des linken Herzens bewirkt eine Blutstauung der Lunge mit einem chronischen Cor pulmonale („Herz­ asthma") und zieht schließlich auch das rechte Herz in Mitleidenschaft mit den Folgen einer Ödem- und Aszitesbildung, wie es vom Kurfürsten bekannt war. Der Kurfürst starb fraglos an Herzversagen. Eine Lungenentzündung, die gelegentlich genannt wird, lag nicht vor. Die für den Betroffenen keineswegs belanglosen weiteren Befunde in dem Bericht wie seine Steinbil­ dungsneigung (Nephrolithiasis und Cholezystolithiasis) hatten dem Kurfürsten erheblich zu schaffen gemacht und ihm oft genug qualvolle Stunden bereitet, ganz zu schweigen von seinen Gichtanfällen, die ihn 28 Jahre lang peinigten. Der Kurfürst litt, um es zusammenzufassen, seit seinem 40. Lebensjahr an Gicht. Hinzu kamen später Nieren- und Gallenkoliken, Bluthoch­ druck, Herzinsuffizienz mit Kurzatmigkeit und Flüssigkeitsansammlungen: alle Beschwerden, Symptome und Diagnosen fanden ihre Bestätigung in dem Obduktionsprotokoll. Die Organ­ veränderungen waren eine Widerspiegelung seiner vielen Krankheiten, wobei die Störungen im psychischen Bereich, seine bekannten Depressionen, morphologisch natürlich nicht faßbar sind — und dennoch hatten sie einen beträchtlichen Krankheitswert.

453 Nachdem wir lückenhaft und unvollständig die biographischen Eckdaten und die Krankheits­ geschichte des Großen Kurfürsten erfahren haben, sollen im folgenden seine Leistungen und Verdienste gewürdigt werden unter Herausstellung seines komplizierten, von Krankheiten nicht unwesentlich mitbestimmten Persönlichkeitsbildes. Als Friedrich Wilhelm im Jahre 1640 sein Amt antrat, waren die Hohenzollern schon 225 Jahre in der Mark Brandenburg zu Hause. Der erste Brandenburger Hohenzoller wurde 1417 in den Kurfürstenstand erhoben, und damit gehörte das Geschlecht zu jenem exklusiven „Klub", der auch den deutschen Kaiser wählte. Friedrich Wilhelms Vorfahren hatten also Sitz und Stimme, wenn es um das höchste Amt im Reich ging, und so gesehen waren sie durchaus bedeutungsvoll, zumindest in den Kaiserwahl­ jahren, denn im Heiligen Römischen Reich war dieses Amt nicht erblich, sondern eine Wahl­ funktion, wie wir es heute sagen würden. Ansonsten waren sie aber, wir wollen es freundlich formulieren, mehr als zurückhaltend und haben wenig Spuren hinterlassen. Das trifft beson­ ders auf Friedrich Wilhelms nachreformatorische Vorfahren zu. Die Kurfürsten nach Joachim II. waren Menschen ohne sonderliche Führungsqualitäten und Originalität. Johann Georg, Joachim Friedrich, Johann Sigismund und Friedrich Wilhelms Vater, Kurfürst Georg Wilhelm, waren schwach und unbedeutend, und genauso stand es um das Ansehen Brandenburgs im Reich. Wollte Friedrich Wilhelm die Malaisen ändern, so mußte er in erster Linie mit der saft- und kraftlosen Tradition, aus der er kam, brechen. Das war dem Zwanzigjährigen durchaus bewußt, so sehr er auch unter dem Zerwürfnis mit seinem Vater litt. Das aber war ein menschli­ ches und kein politisches Dilemma. Stellen wir in unserer Schlußbetrachtung Anfang und Ende der Regierungszeit des Kurfürsten gegenüber, wobei territorialer Besitz allein, denn auch den konnte er mehren, nicht gleichzusetzen mit Bedeutung ist. Im Jahre 1640 bestand Brandenburg aus seinem Kernland, zu dem das unter polnischer Lehnshoheit stehende Herzogtum Preußen und seine niederrheinischen Besitzungen gehörten. Preußen und die Rheinprovinzen waren, von langer Hand durch Erbverträge vorbereitet, dem trägen Johann Sigismund über Nacht in den Schoß gefallen. Zu Georg Wilhelms Zeiten war es so trist, so trostlos und gefährlich in Ber­ lin und Brandenburg, daß er nach Preußen floh und seinen Hof nach Königsberg verlegte. Daß Brandenburg im Dreißigjährigen Krieg zu einem internationalen Truppenübungsplatz und militärischen Aufmarschgebiet für alle sich bekämpfenden Parteien verkam, war Georg Wil­ helms Schuld. Wenn er schon nach langem Zögern ein Bündnis mit den Schweden schloß, hätte er dazu stehen müssen, auch dann noch, als die Kaiserlichen und Wallenstein im Vormarsch waren. Seine Hilflosigkeit und seine Ohnmacht machten das Bild des Grauens komplett. In diese ausweglose Situation hinein kam Kurfürst Friedrich Wilhelm, der nach seiner 48jähri- gen Regierungszeit, der längsten übrigens, die je ein Hohenzoller hatte, zwar keine „blühenden Landschaften", aber ein stattliches Erbe hinterließ. Aus Brandenburg war der Einheitsstaat Brandenburg-Preußen geworden — die Polen hatten auf ihre Lehnshoheit verzichtet. Und auch die niederrheinischen Provinzen fühlten sich allmählich als ein Glied des Einheitsstaates, wenn auch ihr Kurfürst in Berlin residierte. Dank Friedrich Wilhelms klugem Aufbau eines geregel­ ten Postverkehrs zwischen all seinen Provinzen waren Berlin und selbst das ferne Königsberg dem Rheinland merklich näher gerückt. Auch über ein eigenes Heer verfügte dieses Land inzwischen, das keinen symbolischen Charakter mehr hatte. Vor Fehrbellin und auch in Preu­ ßen hatte der Kurfürst gezeigt, daß er sich mit seiner Armee sehen lassen konnte. Wie gebannt hatte das Ausland auf Fehrbellin und auf das winterliche Preußen gestarrt. Aus der militäri­ schen Stärke heraus sowie aus seiner allmählich in Gang kommenden wirtschaftlichen Lage war Brandenburg-Preußen politisch merklich aufgewertet worden. Neben dem traditionsbela- denen, vielleicht auch schon -belasteten Kaiserhaus war Brandenburg zur zweitstärksten Macht im Heiligen Römischen Reich aufgestiegen. Der Dualismus Habsburg-Hohenzollern,

454 Abb. 7: König Friedrich L — Samuel Theodor Gericke zugeschrieben, nach 1701.

der künftig den Lauf der deutschen Geschichte bestimmen sollte, hatte begonnen. Den Mächti­ gen seiner Zeit war wohler, wenn sie den Brandenburger an ihrer als auf der gegnerischen Seite wußten. Dem französischen „Sonnenkönig" ging es hier nicht anders als den Schweden, und auch der Kaiser unterschied sich nicht von ihnen. Betrachtet man diese phänomenale Entwick­ lung Brandenburgs vom Status eines Hinterwäldlers bis in die Riege der Mächtigen, dann wird verständlich, daß dieses militärisch, politisch und wirtschaftlich erstarkte Land nach einem höheren Status strebte. Friedrich Wilhelm selbst wollte lieber ein großer Kurfürst als ein kleiner König sein — aber sein Sohn begnügte sich damit nicht. Er machte Preußen 1701 zum König­ reich (Abb. 7). Im Innern seines Landes hatte der Kurfürst viel geändert und bewegt. Seine Toleranzedikte, ob sie die Lutheraner, Kalvinisten, Juden oder Andersgläubige betrafen, bil­ deten ja tatsächlich einen krassen Gegensatz zu dem durchweg katholischen Frankreich, das durch seinen „Sonnenkönig" maßlos geknechtet und bis zum Gotterbarmen ausgebeutet wurde. Diese Intoleranz gab es jedoch nicht nur in Frankreich, auch in der katholischen Ein-

455 flußsphäre Habsburgs sah es nicht anders aus, und aus den weiter östlich gelegenen Ländern wie Polen oder Rußland kam ohnehin kein Licht. Aus dieser Situation heraus erscheint Fried­ rich Wilhelms Religionspolitik geradezu aufklärerisch und modern, und seine fortschrittlichen Edikte waren im Ausland natürlich suspekt und anstößig. Aber was das betraf, so handelte der Kurfürst völlig souverän und nahm längst keine Rücksicht auf das Ausland mehr (Abb. 8). Als Mensch war dieser Kurfürst eine in sich sehr zerrissene Persönlichkeit, nicht weil er oft lavierte und versuchte, aus den Rivalitäten anderer Kapital für sich zu schlagen. Das war nor­ mal und entsprach den diplomatischen Gepflogenheiten seiner Zeit. Nicht üblich war dagegen seine gewagte und kreuzgefährliche Bündnispolitik, die fraglos seinem Temperament und sei­ ner oft unrealistischen Einschätzung der politischen Verhältnisse entsprang. Wie oft bewegte sich Friedrich Wilhelm zwischen Euphorie und Depression, und diese Extreme verstellten ihm mehr als einmal den klaren Blick. Friedrich Wilhelm war ein typischer Barockfürst. Seine Bau­ leidenschaft und sein üppiger Hof verschlangen Unsummen und standen in keinem gesunden Verhältnis zu den mageren Erträgen, die sein Land abwarf. Er selbst war nicht allein vom Anblick her eine durch und durch barocke Erscheinung, er lebte auch wie ein Barockfürst und liebte prächtige Hoffeste und Gelage in prunkvollen Sälen seiner Schlösser. Und dennoch unterschied sich Friedrich Wilhelm merklich von anderen Barockfürsten, vom „Sonnenkö­ nig", vom Kaiser und auch von weiteren deutschen Fürsten. Die Ursache dafür lag wesentlich in Friedrich Wilhelms kalvinistischer Frömmigkeit, die von ihrem Verständnis her nicht mit der allgemeinen Sittenlosigkeit des Barockzeitalters in Einklang zu bringen war. Das „Ora et labora" war für ihn kein inhaltsleeres Wort. Er betete und arbeitete, weil es ihm Pflicht und Bedürfnis war. Sein Gebet bedurfte keiner öffentlichen Schaustellung vor einem Publikum in furchteinflößenden Kathedralen. Wie oft im Leben gab der Kurfürst selbst die Predigttexte vor, nicht allein, wenn er Gottes Beistand suchte wie etwa vor den Schlachten. Zwei Tage vor der Entscheidungsschlacht von Fehrbellin hatte der Kurfürst einen Feldgottesdienst angeordnet, den er unter das Psalmwort stellte: „Der Herr ist meine Stärke; er ist die Stärke, welche dem Gesalbten hilft." Als Kind schon hatte er sich ein Psalmwort für seinen Lebensweg gesucht — Gott sollte ihm den Weg kundtun, den er gehen mußte. Und so begriff er aus der Schrift, daß ein gottgefälliges Leben Mühe und Arbeit ist, und handelte danach, denn sein Leben war Mühe und Arbeit. Daß Gott ihn dafür belohnte, sah er an seinem Werk. Er war so diszipliniert, daß er seine Ratssitzungen nie versäumte, wenn seine Krankheiten ihn daran nicht hinderten. Selbst auf dem Sterbebett hatte er nach seiner Freitagsratssitzung verlangt. Noch in einem weiteren Punkt unterschied sich Friedrich Wilhelm von seinen barocken Zeitgenossen: in seiner Auffas­ sung von Sittlichkeit und Moral, die ebenfalls aus seinem Glauben kam. Er führte, was in seiner Zeit völlig ungewöhnlich und fast bieder war, ein harmonisches Familienleben. Mätressen, von denen es an anderen Höfen förmlich wimmelte, gab es für Friedrich Wilhelm nicht. Er hielt es mit der ehelichen Treue und führte mit Luise Henriette und später ebenso mit Dorothea ein ganz intaktes Eheleben — eher ein Privileg für Bürger.

Was Friedrich Wilhelms Krankheiten anbelangte, so war auch er ein typischer Hohenzoller, ein klassischer Vertreter ihrer Familienkrankheit, der Gicht. Weitere Krankheiten sind beschrie­ ben worden. Auffällig ist, daß Friedrich Wilhelm und andere exponierte Hohenzollern offen­ bar Störungen im psychischen Bereich hatten. Abnorme Verhaltensweisen, wenn auch unter­ schiedlichen Ausprägungsgrades, lassen sich bei Kurfürst Georg Wilhelm, bei seinem Sohn, dem Großen Kurfürsten, und bei dessen Enkel, dem Soldatenkönig, in geradezu klassischer Weise mit eindeutig definierbarer Diagnose nachweisen. Wenn nicht noch weitere Preußenkö­ nige, so war auf jeden Fall Friedrich Wilhelm IV., der „Romantiker auf dem Thron", in seinen späteren Jahren diesbezüglich auch verdächtig. Es wäre falsch zu sagen, daß Friedrich Wil-

456 Abb. 8: Der Große Kurfürst. „Des Hochseel. Churfürsten Contrefait". Von Romandon 1687/88.

heims viele und schwere Krankheiten politisch solche folgenschweren Konsequenzen hatten, daß sie nicht mehr reparabel waren. Gewiß führten sie zu manchen Fehlentscheidungen und Verwirrungen und beschworen oft genug gefährliche Situationen herauf. Aber andererseits war sein Pflichtgefühl so ausgeprägt, daß er trotz seiner Krankheiten nicht verzagte und Bei­ spiele für Mut und Tapferkeit an den Tag legte, die Aufsehen und Bewunderung erregten. Die Schlacht von Fehrbellin und auch sein Winterfeldzug in Preußen waren Paradebeispiele dafür, wie dieser Kurfürst, wenn alles auf dem Spiel stand, mit seinen Krankheiten umzugehen ver­ stand. Ich glaube weniger, daß Friedrich Wilhelms organische Erkrankungen seine Verhaltens­ weisen änderten. Ohne Frage machten sie ihn hinfälliger, widerstandsloser und willfähriger, aber seine auffälligen und oft bedenklichen Reaktionen entsprangen vielmehr seiner psychi­ schen Veranlagung. Depressionen traten ja nicht nur auf nach solchen Demütigungen wie nach St. Germain, als man dem Sieger Friedrich Wilhelm seine gesamte „Beute" (Vorpommern mit Stettin) wieder nahm. Sie stellten sich periodisch ein und hatten oft keinen Bezug zur Realität, denn Apathie und Resignation beschlichen ihn auch dann, wenn er vom Erfolg buchstäblich verwöhnt wurde. Sein politisches Wechselfieber, seine Unentschlossenheit und Unzuverlässig- keit in Bündnisfragen, die den üblichen Rahmen sprengten, waren nicht allein temperaments­ abhängig, sie waren psychisch auffällig und womöglich mit krankheitsbedingt. Zwar ging er als glänzender Sieger aus der Schlacht von Fehrbellin hervor, und seine Leistungen und Erfolge waren triumphal, aber wäre es überhaupt zu dem Schwedeneinfall in die Mark Brandenburg gekommen, wenn Friedrich Wilhelm nicht wortbrüchig geworden wäre? Einen Treubruch hat­ ten die Franzosen ihm nachgesehen, den zweiten aber verziehen sie ihm nicht. Jetzt antwortete Ludwig XIV. mit der Schwedeninvasion, nichts weiter als die Folge von Friedrich Wilhelms ris-

457 kanter Bündnispolitik. Der Denkzettel, den man ihm geben wollte, verkehrte sich zwar ins Gegenteil, wenn man ihm auch am Ende seine pommerschen Eroberungen wieder nahm. So gesehen hatten seine psychischen Störungen erhebliche Konsequenzen. Der Kurfürst hatte Glück, daß er den Schaden abwenden und den Schweden den Garaus machen konnte. Am Ende profitierte er sogar von diesem Ausgang, und seine internationale Reputation war spür­ bar aufgebessert worden. Es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn der Sieger von Fehrbellin Wrangel geheißen hätte, womit das Ausland allgemein gerechnet hatte. Es war ein spiegelglat­ tes Parkett, auf dem der Kurfürst sich bewegte. Auf seine Armee konnte er sich etwas zugute halten, denn sie erregte Aufsehen, als sie die elitären Schweden schlug. Das häufige Scheitern der diplomatischen Verhandlungen mit ihm, die oft genug nicht von der Stelle kamen, hatte nicht selten krankheitsbedingte Ursachen. Schon Rebenac hatte das klar erkannt und ausge­ sprochen. Auch von anderen Gesandten sind ähnliche Berichte überliefert worden. Eine weitere krankheitsbedingte Folge waren seine Testamentsänderungen in seinen letzten Lebensjahren. Er war bereit, den Einheitsstaat, den er in Jahrzehnten selbst geschaffen hatte, in vier Fürstentümer aufzuteilen, und nur die Außenpolitik und die Armee sollten Hoheitsrecht des Kurfürstentums bleiben. Damit stieß er am Ende sein gesamtes Lebenswerk um. Die Kur­ fürstin hatte leichtes Spiel, ihren schwerstkranken Mann in diese Richtung zu drängen. Zum Glück ignorierte sein Nachfolger das väterliche Testament und wahrte damit das Erbe seines Vaters. Immer wieder war zur rechten Zeit der richtige Mann zur Stelle, um jeden schweren Schaden abzuwenden, den Friedrich Wilhelm mit und ohne Krankheiten selbst verschuldete. Aber eine Leistungskanone, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, und eine Gründergestalt bleibt er trotz allem, auch wenn er seine Schöpfung am Lebensende selbst zerstören wollte. Sein lan­ ges und sehr bewegtes Regentenleben hatte aus einem unbedeutenden Land im Heiligen Römischen Reich einen militärisch gewappneten, wirtschaftlich gesundeten und politisch erheblich aufgewerteten Territorialstaat gemacht, der wenig später schon in den Rang eines Königreichs aufstieg und noch ein wenig später zu einer europäischen Großmacht. Am Ende seiner Tage zollte diesem Kurfürsten, der nach einem halben Jahrhundert schon eine Legende war, ganz Europa Respekt, Freund und Feind — ein Patriarch war er geworden, im Kreise seiner Familie, seines Geheimen Rates und auch der europäischen Fürsten. Zu dem Gesamtbild von Friedrich Wilhelm gehören aber nicht nur seine viel beachteten Lei­ stungen und unbestreitbaren Erfolge, sondern doch viel mehr, was einen Menschen mit aus­ macht. Daß er trotz seiner psychischen Malaisen und vielen Krankheiten seine Ziele nie aus den Augen verlor und immer wieder neu begann, so heftig die Rückschläge auch sein mochten, nötig uns heute noch Respekt und Achtung ab.

Anschrift des Verfassers: Professor Dr. Dr. Hans-Joachim Neumann, Wilhelmstraße 91, 10117 Berlin-Mitte

Literatur

Neumann, H.-J.: Friedrich Wilhelm der Große Kurfürst — Der Sieger von Fehrbellin. Berlin: edition q 1995

458 Eine Gelehrtenbibliothek im Berlin des 18. Jahrhunderts Die Büchersammlung Anton Friedrich Büschings Von Peter Hoffmann

Am Ende des 18. Jahrhunderts gab der Berliner Verleger, Schriftsteller und Aufklärer Chri­ stian Friedrich Nicolai in seiner „Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam" auch eine Information über die wichtigsten öffentlichen und privaten Bibliotheken in diesen Städten. Für Berlin nennt er 19 öffentliche Bibliotheken, an erster Stelle die König­ liche Bibliothek mit einem Bestand von 50000 Bänden und die Akademiebibliothek, die anderen Bibliotheken hatten demgegenüber nur untergeordnete Bedeutung — überwiegend waren es Bibliotheken bei Schulen oder Kirchengemeinden mit Beständen von teilweise weni­ ger als 1000 Bänden. Von den Regierungsbehörden hatten nur Obertribunal und Kammer­ gericht kleine Büchersammlungen.' Bezeichnenderweise besaß der Rat der Stadt nur einen „schönen Vorrat von juristischen und anderen curiösen und nützlichen Büchern"2, die aber nicht als Bibliothek aufgestellt, also auch nicht benutzbar waren und daher von Nicolai nicht erwähnt wurden. Breiten Raum widmet Nicolai den Privatbibliotheken in Berlin, von denen er 62 in alphabeti­ scher Reihenfolge der Namen ihrer Besitzer anführt. Er schreibt aber dazu einschränkend: „Von denselben können nur die hauptsächlichsten mir bekannt gewordenen und zwar nur ganz kurz angezeigt werden."3 Daß dieses Verzeichnis unvollständig ist, läßt sich leicht nachweisen — es fehlt schon Nicolais eigene bestimmt nicht kleine Büchersammlung, dann fehlt auch die im Berlin seiner Zeit bekannte Bibliothek des vielseitig gebildeten Generalleutnants Tempelhof, aus der im Jahre 1800 mehr als 2600 Titel versteigert wurden.4 Meist beschränkt sich Nicolai auf Namen und Adresse des Besitzers. Nur über die rund 4000 Bände umfassende Bibliothek Daums in der Breiten Straße teilt er weitere Einzelheiten mit. Nicolai nennt weder Titel noch Vornamen dieses Daum, wahrscheinlich handelt es sich um einen Vertreter der im 18. Jahrhun­ dert in Berlin einflußreichen Kaufmannsfamilie Daum, die am Bankhaus Splittgerber und Daum beteiligt war. Für diese Privatbibliothek nennt er die bevorzugten Sammelgebiete, über­ wiegend schöngeistige Literatur, und einige besonders wertvolle Titel. Bei vier weiteren Biblio­ theken gibt er ihm offensichtlich von den jeweiligen Eigentümern genannte Gesamtzahlen (2000 bzw. 4000, für die Bibliothek Oelrichs sogar 10 000 Bände). Die Angaben zu den ande­ ren Bibliotheken sind allgemein gehalten, sie ähneln weitgehend — selbst in der fast stereotyp wiederholten Wortwahl „ansehnlich" und „auserlesen" — der Charakteristik der Sammlungen Büschings: „Herr Oberkonsistorialrat Büsching (im Grauen Kloster) hat eine ansehnliche und auserlesene Bibliothek, besonders von historischen, geographischen und statistischen Büchern."5 Meines Wissens haben die Ausführungen Nicolais bisher keine weiteren Unter­ suchungen zu einer der von ihm genannten Privatbibliotheken veranlaßt. Diese Forschungslücke kann jetzt für Büschings Büchersammlung wenigstens teilweise ausge­ füllt werden. Als Quelle dienen uns Briefe, die Büsching einst an einen seiner vielen Briefpart­ ner—er nennt selbst in seinem Brief vom 18. November 17596 die Zahl von mehr als 400! —an den Historiker, Geographen, Sibirienforscher und Archivar Gerhard Friedrich Müller in Petersburg, seit 1765 in Moskau, gerichtet hat, die heute in der Petersburger Filiale des Archivs der Russischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt werden. Hier sollen unter dem spe­ ziellen Aspekt der eigenen Büchersammlung Büschings einige Angaben zusammengestellt werden. Dabei handelt es sich um Äußerungen in einem allgemeineren Kontext, die vielfach

459 erst entschlüsselt werden müssen; andrerseits sind die Aussagen dadurch um so beeindrucken­ der. Anton Friedrich Büsching (1724—1793) gehört zu den zentralen Gestalten in der Geschichte der Berliner Aufklärung.7 Er war erst Professor der Theologie und der Philosophie in Göttin­ gen, dann Pastor an der Peterskirche und Leiter der zu dieser Kirchengemeinde gehörenden Schule in St. Petersburg, seit 1766 schließlich Direktor des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster und Oberkonsistorialrat in Berlin. Seine Reform dieser Schulanstalt hat das deutsche Schulwesen nachhaltig beeinflußt. Neben dieser pädagogischen Tätigkeit hat Büsching ein umfangreiches literarisches Erbe hinterlassen, darunter 22 Bände des „Magazins für die neue Historie und Geographie" und 15 Jahrgänge seiner „Wöchentlichen Nachrichten von neuen Landkarten, geographischen, statistischen und historischen Büchern". Sein wissen­ schaftliches Hauptwerk war die heute weitgehend vergessene, in den späteren Auflagen zehn Bände umfassende „Neue Erdbeschreibung", die seit der ersten Veröffentlichung 1754 bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder neu aufgelegt, in viele Sprachen übersetzt und vielfach nachgeahmt worden ist; dieses Werk gilt als eine wesentliche Grundlage für die Herausbildung der Geographie zu einer selbständigen Wissenschaft. Büschings Leistung als Geograph ist nur zu würdigen, wenn man sie mit den Kenntnissen seiner Zeit vergleicht. 1757 hatte er geschrieben: „Vom dritten Teil meiner Erdbeschreibung, welcher das Deutsche Reich abhandelt, werden in der bevorstehenden Ostermesse die fertigen Alphabete aus- und der Rest zu Johannistag nachgegeben. Ew. Hochedelgeb. werden sich wundern, wie unbekannt uns Deutschen Deutschland bisher gewesen und zum Teil noch ist. Wir haben jetzt von Sibirien ver- gleichungsweise ebenso viele Nachricht als von Deutschland in den geographischen Büchern" (Brief 25, S. 87). Für die Berliner Region gibt Büsching noch fünfzehn Jahre später folgende Charakterisitk: „Im Druck ist auch ... eine vollständige Topographie von der Mark Brandenburg, die eigent­ lich aus einem Namensverzeichnis aller Örter bestehet, welches zeiget die Qualität eines jeden, die Provinz und den Kreis, darinnen er lieget, ob er imme- oder aber mediat sei? Zu welcher gräflichen] Inspektion er gehöre und wer Gerichtsobrigkeit und Kirchenpatron sei? Sie glau­ ben nicht, wie sehr man hier selbst in den Collegien im Finstern tappet" (18. Dez. 1773, Brief 261, S. 378). L. Geiger, der im vorigen Jahrhundert das geistige Leben Berlins für das 18. Jahrhundert ein­ gehend erforscht hat, betont diese Seite im Schaffen Büschings, fährt dann aber fort: „Daneben behandelte er in vielen anderen Schriften ... allerlei pädagogische Materien, schrieb Lehrbü­ cher auch zur Erlernung von Sprachen ..., beschäftigte sich eingehend mit ästhetischen Fra­ gen in einer Weise, die selbst gewisse praktische Kenntnisse in einzelnen Künsten, z. B. der Steinschneiderei, voraussetzt, veröffentlichte theologische Untersuchungen, die... philologi­ sche Feinfühligkeit mit eingehender theologischer kirchengeschichtlicher Kenntnis verbindet, und versenkte sich gerne in die Vergangenheit, sowohl die, welche er miterlebt hatte, als die Geschichte der Männer, die in der Entwicklung der Wissenschaften eine Rolle gespielt hatten." Zugleich werden in diesem Zusammenhang von L. Geiger die Grenzen von Büschings histori­ schem Verständnis charakterisiert: „Seine geschichtlichen Arbeiten sind fleißig, aber äußer­ lich; es sind Zusammenstellungen von Nachrichten, die mit Gründlichkeit aus den Quellen geschöpft sind, aber ohne den Versuch kunstmäßiger Verknüpfung oder philosophischer Dar­ legung. Geschichte ist ihm, wie den meisten seiner (Zeit-)Genossen, trockene annalistische Erzählung."8 Büschings Bibliothek hat — wenn man den unsicheren Überlieferungen glauben darf — sein jüngster Sohn Johann Gustav geerbt, der Professor in Breslau wurde. Dort verliert sich die Spur

460 Anton Friedrich Büsching, zeitgenössischer Kupferstich, Porträtsammlung der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz

des persönlichen Nachlasses und der Bibliothek A. F. Büschings schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Das ist das, was über diese von Nicolai mit angeführte Bibliothek bisher bekannt war. In seiner Selbstbiographie9 schreibt Büsching nichts über seine Interessen als Büchersammler. Erst jetzt bieten sich Möglichkeiten, über die allgemeinen Angaben Nicolais und anderer Zeitgenossen hinausgehende Informationen für diese in ihrer Art einmalige Berli­ ner Privatbibliothek vorzulegen. In der russischen Wissenschaftsgeschichte ist der Briefpartner Gerhard Friedrich Müller (1705—1783) ebenfalls gut bekannt.10 Als Adjunkt war er 1725 an die neu gegründete Peters­ burger Akademie der Wissenschaften gelangt, als Teilnehmer an der zweiten Bering-Expedi- tion, als Historiker, Geograph und Ethnograph, als Sibirienforscher und als Begründer des wis­ senschaftlichen Archivwesens in Rußland hat er Bleibendes geleistet. Jede Rußland einbezie­ hende wissenschaftsgeschichtliche Forschung zum 18. Jahrhundert muß sein Wirken zumin­ dest tangieren. Seine umfangreiche Spezialbibliothek wurde — ähnlich wie die heute in der

461 Ermitage in Petersburg aufgestellten Bibliotheken von Diderot und Voltaire — von Katha­ rina II. für das Moskauer Archiv des Kollegiums der auswärtigen Angelegenheiten 1782 für 20000 Rubel angekauft.11 Um diese Summe richtig würdigen zu können, sei hier nur ange­ merkt, daß das Jahresgehalt eines Professors an der Petersburger Akademie oder an der Mos­ kauer Universität zu jenen Zeiten 1000 bis 1500 Rubel betrug, ein Handwerker konnte mit 40 Rubel im Jahr seine Familie ernähren. In den Briefen gibt es unterschiedliche Mitteilungen, die auf Büschings eigene Sammeltätigkeit hinweisen, mit der er schon sehr früh begonnen hatte. Im vorliegenden Briefwechsel gehört die erste Information dieser Art in das Jahr 1756. Büsching war gerade Professor in Göttingen geworden. Bei einem ersten kurzen Besuch als Hauslehrer mit seinem Zögling in Petersburg hatte Büsching dort 1751 seinen entfernten Verwandten Müller kennengelernt und stand seit­ dem mit ihm im Briefwechsel. Offensichtlich hatte Müller ihn in einem nicht vorliegenden Brief um die Zusendung einiger Rußland betreffender Schriften gebeten. In seiner Antwort vom 12. Dezember 1756 (Brief 23, S. 82) teilt Büsching seinem Briefpartner mit, daß diese Schrif­ ten nicht zu erhalten seien: „Mit dem Disputationshandel sieht's hier noch schlecht aus. Man kann die einheimischen, wenn sie über 1 Jahr alt sind, kaum bekommen, geschweige denn von auswärtigen. Ich will künftig auf die Schriften und Bücher, so die russische Historie betreffen, bei vorfallenden Gelegenheiten achten." Offensichtlich meint Büsching hier besonders die Buchauktionen, denn er schreibt wenige Zeilen weiter unten: „Neulich kaufte ich in einer Auk­ tion ein entweder russisches oder slawonisches Buch in 4 mit Kupfern für ein geringes Geld, welches ein asketisches Buch zu sein scheint, nebst einigen russischen Manuskripten von gerin­ ger Erheblichkeit. Ich weiß nicht, wie sie hier in die Auktion gekommen sind." Nähere Anga­ ben lassen sich leider nicht anführen, und doch ist diese Nachricht in zweierlei Hinsicht beach­ tenswert : Erstens erfahren wir, daß Büsching regelmäßig Buchauktionen besucht hat, eine Tat­ sache, die auch in anderen Briefen mehrfach anklingt. So schreibt Büsching z. B. am 28. Mai 1760, daß die von Müller gewünschten Titel „auch in keinem Buchladen zu haben" sind, sie „müssen gelegentlich in Auktionen gekauft werden" (Brief 53, S. 137). Am 6. Februar 1768 berichtet er, daß er in Berlin „in einer Auktion des Adrianus Cruys Karte von dem Donstrom vollständig für 3 Rtl" gekauft habe (Brief 232, S. 335). Eine zweite Schlußfolgerung ist, daß Büsching als echter Sammler auch an „Exotica" interes­ siert war, denn Büsching hat — bei all seinem Interesse für Rußland — nie Russisch gelernt. Dazu schrieb er selber 1775 in den von ihm herausgegebenen „Wöchentlichen Nachrichten": „Ich weiß von der russischen Sprache sehr wenig, nur so viel als nötig ist, um mit Hilfe eines Wörterbuches den Titel eines historischen Buches, einer Landkarte und ähnliche Kleinigkeiten zu verstehen oder auch von einem geographischen Buch . . . eine trockene Anzeige zu machen."12 Als 1760 Müller im Manuskript den ersten Teil seiner Arbeit über „Landkarten, die das russi­ sche Reich betreffen" an seinen Briefpartner nach Göttingen sandte, äußerte sich Büsching in einem Brief vom 8. Oktober 1760 (Nr. 63, S. 149 f.) lobend über diese Schrift: „Die Nachricht von Landkarten, welche das russische] Reich betreffen, ist sehr vollständig und brauchbar." Er fügt dann die für unser Wissen um die eigenen Sammlungen Büschings zu jener Zeit bedeu­ tungsvolle Mitteilung hinzu: „Folgende Karten habe ich noch und sind mir bekannt" — und nennt dann sechs ergänzende Titel. Nach dem Erhalt der Fortsetzung schrieb Büsching am 12. November: „Ich wünsche, daß Ew. Hochedelgeb. diesen ganzen Aufsatz Dero Sammlung russischer Geschichte einverleiben mögen" (Brief 65, S. 153); eine Bitte, der Müller mit der Veröffentlichung dieser Arbeit im Band VI dieser Publikation (Petersburg 1761) entsprochen hat.

462 Nach dem Eintreffen der folgenden Lieferungen antwortete Büsching mit weiteren Ergänzun­ gen (Briefe vom 15. und 25. Februar 1761, Nr. 69 und 73, S. 162 f, 167 ff.). Am 18. März (Brief 78, S. 174) schreibt Büsching dann: „Eben habe ich von der Universitätsbibliothek den Band der Landkartensammlung, welcher Rußland betrifft, holen lassen und will nun sehen, ob ich Ew. Hochedelgeb. Verzeichnis daraus ergänzen könne." Da der Brief aber nicht sofort abge­ sandt wurde, folgen mit Postskriptum vom 22. März mehr als 40 Titel von fehlenden Karten oder von Nachstichen solcher Karten, die Müller bereits angezeigt hatte. Beachtenswert ist dabei, daß Müller viele dieser Ergänzungen wortwörtlich übernommen hat, manches aber auch — besonders Hinweise auf Karten, die als Beilage in verschiedenen Büchern veröffentlicht worden waren — ignorierte. Direkt über seine Büchersammlung berichtet Büsching das erste Mal in der vorliegenden Kor­ respondenz am 21. Oktober 1769. Er war inzwischen Direktor des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster und Oberkonsistorialrat in Berlin geworden. Büsching beschwert sich, daß seine Dienstwohnung für die wachsende Familie nicht benügend Platz biete, und fährt dann fort: „Ich bin vor einigen Wochen ... in eine Mietwohnung gezogen. Das ist eine beschwerliche Mühe, zumahl in Ansehung meiner Bücher, deren jetzt 4 bis 5000 sind, und der Landkarten, die wohl ebenso viele Stücke ausmachen" (Brief 238, S. 344). Der Anlaß dieser Mitteilung ist durchaus für eine Wissenschaftler-Bibliothek typisch: Die Unterbringung einer größeren privaten Büchersammlung führte unweigerlich zur Raumproblematik — darauf wurde in der Literatur bereits hingewiesen13 —, auch wenn bisher dieser Aspekt in den For­ schungen über bürgerliche Bibliotheken kaum Beachtung gefunden hat. Die nächste für unser Thema wichtige Mitteilung findet sich in Büschings Schreiben vom 27. Mai 1771 (Brief 245, S. 354), in dem er allgemein über seine materiellen Verhältnisse in Berlin berichtet. Als Schuldirektor erhielt er etwa 1000 Taler und als Oberkonsistorialrat wei­ tere 300 Taler jährlich; hinzu kamen, wie er schreibt, „jährlich noch 3 bis 400 Taler durch meine Bücherarbeit". Weiter berichtet er dann: „Zur Sammlung einer guten Bibliothek ist kaum ein bequemerer Ort als Berlin, weil hier alle Tage Bücherauktionen sind. Meine Bibliothek ist auch jetzt beträchtlich. Es fehlen mir von keinem Staat der Welt die besten und wichtigsten histori­ schen Bücher, und meine historische Bibliothek ist also eine systematische und auserlesene Sammlung. Meine Reisebeschrei[bungen] machen beinahe 1000 Bände aus. An Landkarten habe ich auch schon über 6000 Blätter und sammle unaufhörlich. Außerordentliche Zu­ schüsse, die ich laufend gottlob auch gehabt habe, haben es möglich gemacht, daß ich jährlich an Landkarten und Bücher 800 bis 1000 Taler habe verwenden können." Beachtenswert ist hier der erneute Hinweis auf Buchauktionen, was doch den Schluß zuläßt, daß Büsching gerade durch den Ankauf auf Auktionen seine beachtliche Büchersammlung aufgebaut hat. Acht Jahre später bietet das Gerücht, daß Müller seine Bibliothek der russischen Kaiserin Katharina zum Kaufangeboten habe, Büsching den Anlaß, erneut über seine eigenen Bücher­ sammlungen zu informieren. In diesem Sinne schrieb er am 26. Juni 1779 (Brief 321, S. 456) an seinen Briefpartner: „Meine Bibliothek und Landkartensammlung läßt sich nicht so an­ bringen. Das hiesige Kabinettsministerium sollte eine solche historische Bibliothek und Land­ kartensammlung haben, hat aber nichts, auch kein Geld dazu, sondern, wenn die Minister nicht selbst Bücher haben, so müssen sie dergleichen leihen." Im gleichen Brief verweist er darauf, daß ihm vom spanischen König „Cassini Bibliothecam orientalem, die man nicht kau­ fen, sondern nur zum Geschenk vom Könige bekommen kann", übergeben worden sei. Außerdem habe er „das Verzeichnis der griechischen und lateinischen M[anuskri]pte im Esco- rial" erhalten. Stolz fügt er hinzu: „Selbst wenige öffentlfiche] Bibliotheken haben diese Werke." (S. 457).

463 Als Müllers Bibliothek wirklich verkauft war, schrieb Büsching am 6. April 1782, und ein gewisser neidischer Unterton ist unverkennbar: „Obgleich meine historische Bibliothek gewiß größer ist als die Ihrige, so kann ich doch für dieselbige und für meine Landkarten, deren wenigstens 10 000 sind, hierzulande keine solche Summe erwarten. Das Ministerium der aus­ wärtigen Staatssachen, welches gar keine Bibliothek und Karten hat, und doch sehr gebraucht, sollte die meinige kaufen. Daran ist aber nicht zu gedenken" (Brief 341, S. 480). Kurze Zeit später, am 20. August 1782, teilt Büsching seinem Briefpartner mit, daß der preußische Kabi­ nettsminister Hertzberg ihn besucht und die Bibliothek besehen habe. Als Büsching im Gespräch — sicherlich mit einem Hinweis auf den Verkauf der Bibliothek Müllers, über die in den Zeitungen berichtet worden war14 — die Möglichkeit eines Verkaufs seiner Bibliothek andeutete, antwortete der Kabinettsminister ausweichend, wie Büsching ausdrücklich fest­ gehalten hat: „Bei uns wendet man in solchen Fällen so viel Geld nicht an als in Rußland" (Brief 343, S. 484). Am 12. April 1783 bietet Büsching seine Bibliothek in Rußland direkt zum Verkauf an. Er schreibt an Müller, wohl in der Hoffnung, daß dieser als Vermittler wirken könnte: „Wenn mir die Kaiserin meine historische, politische und geographische Bibliothek auf gleiche Conditio- nen wie Diderot und Ihnen die Ihrige abkaufen, so wollte ich den Catalogum davon übersen­ den. Es fehlt von keinem europäischen Staat ein zu seiner allgemeinen Geschichte und politi­ schen Verfassung gehöriges Hauptwerk. Darunter von jedem europäischen Staat sind die vor­ nehmsten historischen und politischen allgemeinen Werke vorhanden, z[um] E[xemplum] von Spanien Feraro französisch mit 3 der letzten Bände Fortsetzung, Mariona Geschichte spa­ nisch mit der Fortsetzung in 16 Oktavbänden, eben dasselbige lateinisch in 4. Mayans Anmer­ kungen dazu in Folio spanisch, des Curita Historia ä Espana in 9 Foliobänden, und viele andere historische und politische Werke in verschiedenen Werken. Von Portugal fehlt mir kein wichti­ ges Buch. Von Frankreich habe ich Expilly großes Dictionaire, die Geschichte des S. Daniel, Boulainvilliers Etat de la France, Meusels Gesch[ichte] von Frankreich und viele andere Werke. Von England den Hume, Rapin-Thoyas, beides deutsch, und viele andere. Von Deutschland überhaupt und von seinen einzelnen Provinzen und Städten habe ich eine ganze Bibliothek, die wohl 6 bis 800 Bände betragen mag. Von Polen, Ungarn fehlt fast nichts erheb­ liches, und so gehet es weiter. Meine Reisebeschreibungen in allen Sprachen sind an 1500 Bände, und meine Landkarten gewiß über 10 000. Von Rußland z[um] E[xemplum] habe ich weit mehrere, als in Ew. Hochwohlgeb. geschichtlichen Verzeichnis15 vorkommen. Allein die großen Thesauri von Graevius etc. fehlen mir. Zur allgemeinen Historie habe ich viel; daß ich auch die Scriptores historiae bycantinae besitze, wissen Sie. Zur Geschichte der schönen Kün­ ste habe ich auch viel, als das Museum Florentinum u[nd] afnderes] m[ehr]" (Brief 349, S. 493 f.). Das Fehlen des „Thesaurus antiquitates Romanorum" — so der volle Titel — von Johann Georg Graeve (1632—1703) wird verständlich, wenn man weiß, daß zu Beginn des 18. Jahr­ hunderts Shaftesbury, der eine der berühmtesten Privatbibliotheken seiner Zeit zusammenge­ tragen hatte, für diese Ausgabe 200 Gulden bezahlen mußte.16 Leider hat Müller, der wenige Monate später verstarb, dazu nicht mehr Stellung nehmen kön­ nen. So ist auch von Büschings Bibliothek kein Katalog überliefert. Aus den jetzt zugänglichen Angaben wird deutlich, daß Büschings Büchersammlung das normale Maß einer Professoren­ bibliothek erheblich überschritten hat. In Göttingen galt im 18. Jahrhundert jedenfalls ein Bestand von mehr als 4300 Bänden bereits als überdurchschnittlich groß.17 Im Kommentar der Briefedition sind für die hier in den Briefauszügen genannten und für viele andere im Briefwechsel erwähnte Titel aus dem Besitz Büschings die bibliographischen Anga­ ben — so weit eruiert — angegeben. Was hier vermittelt werden kann, ist ein allgemeiner Ein-

464 druck vom Buchhandel in Berlin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und vom Umfang sowie der Struktur dieser in ihrer Art einmaligen privaten Büchersammlung; schon die genannten Titel lassen die Spezifik der Büschingschen Interessengebiete deutlich hervortreten. Die Bedeutung dieser Bibliothek kann durch den Hinweis unterstrichen werden, daß viele der in der Korrespondenz von Büsching als sein Eigentum genannten Titel in der königlichen Bibliothek zu Berlin, der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz, nie­ mals vorhanden waren.

Anmerkungen

1 Chr. F. Nicolai, Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, 2. Aufl., 1799; zitiert nach dem Nachdruck: Bibliotheken im Berlin des Jahres 1799, in: Beiträge zur Berli­ ner Bibliotheksgeschichte 2, Berlin 1983, S.67ff. 2 Zitiert nach H. Harbig, Die Ratsbibliothek von 1945 bis zu ihrem Anschluß an die Berliner Stadt­ bibliothek, in: Beiträge zur Berliner Bibliotheksgeschichte 2, S. 23. 3 Nicolai, Nachdruck, S. 86. 4 Vgl. J. Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 3, Leipzig 1909, S. 306. 5 Nicolai, Nachdruck, S. 87. 6 Geographie, Geschichte und Bildungswesen in Rußland und Deutschland im 18. Jahrhundert. Briefwechsel Anton Friedrich Büsching — Gerhard Friedrich Müller 1751—1783, hrsg. von P. Hoffmann und V. I. Osipov, Berlin 1995, Brief Nr. 40, S. 117 (im weiteren werden die Verweise auf diese Edition in Klammern im Text gegeben). 7 Vgl. zur Biographie neben den Beiträgen in ADB und NDB auch: Slawistik in Deutschland. Ein biographisches Lexikon, Bautzen 1993, S. 79 f. (dort weitere Literaturangaben). 8 L.Geiger, Berlin 1688—1840. Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt, Ber­ lin 1893 (Reprint 1983), S. 540 f. 9 Vgl. A. F. Büsching, Eigene Lebensgeschichte („Beyträge zu der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen, insonderheit gelehrter Männer" 6), Halle 1789. 10 Vgl. zur Biographie und Literatur außer dem Beitrag in der ADB: Slawistik in Deutschland. S. 277 f.; P. Hoffmann, Gerhard Friedrich Müller, in: Wegbereiter der deutsch-slawischen Wech­ selseitigkeit, Berün 1983, S. 71 ff. 11 Zum Verkauf der Bibliothek Müllers vgl. N.VGolicyn, Portfeli G.F.Millera, Moskau 1899. S.4ff. 12 Büschings Wöchentliche Nachrichten von neuen Landkarten, geographischen, statistischen und historischen Büchern und Sachen, 1773, 46. Stück, 15. Nov., S. 372. 13 Vgl. G. Streich, Die Büchersammlungen Göttinger Professoren im 18. Jahrhundert, in: Öffentli­ che und private Bibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Raritätenkammern, Forschungsinstru­ mente oder Bildungsstätten (= Wolfenbüttler Forschungen 2), Bremen/Wolfenbüttel 1977, S. 263. 14 So in Büschings Wöchentliche Nachrichten, 1782, 14. Stück, S. 107. 15 Gemeint ist die 1761 in Band VI der von Müller in Petersburg herausgegebenen „Sammlung Rus­ sischer Geschichte" veröffentlichte „Nachricht von Land- und See-Carten, die das Russische Reich und die zunächst angrenzenden Länder betreffen". 16 H. Meyer, Ex libris Shaftesbury: Die Bibliothek eines europäischen Aufklärers, in: Öffentl. und private Bibliotheken, S. 81. 17 Vgl. Streich, Die Büchersammlungen, S. 254.

Anschrift des Verfassers: Dr. Peter Hoffmann, Drosselweg 3, 16515 Nassenheide

465 Rezensionen

Georg Holmsten, Als keiner wußte, ob er überlebt. Zwischen den Sommern 1994/45. Düsseldorf: Droste Verlag 1995, 183 Seiten mit 29 Abb. Nach dem Abklingen der unzähligen, oft schrillen Verlautbarungen zum 50. Jahrestag des 8. Mai 1945 ist dies eine stille Nachblüte, die in ihrer scheinbaren Absichtslosigkeit mehr aussagt als viele große Darstellungen, so wichtig diese auch sein mögen. Die hier berichteten Ereignisse sind einge­ spannt zwischen die Zeit vor dem Attentat des 20. Juli und den Beginn der Journalistentätigkeit des Verfassers in der ersten Nachkriegszeit. Der schöne ruhige Erzählfluß hebt sich wohltuend von vieler­ lei oberflächlicher und oftmals abstoßender Gedächtnisauskram ung ab, der wir ausgesetzt waren. Wir bleiben verschont von dem verbissenen Streit um falsche Fragestellungen. (Von der notwendigen Informationsvertiefung aus zeitlichem Abstand und aufgrund besserer Quellenlage soll hier nicht geredet werden.) Der Verfasser geriert sich nicht als Widerstandsheld, wohl aber als ein Aufrechter, der zwischen der tödlichen Bedrohung und den gefährlichen Konflikten im Kriegsministerium seinen Weg als „kleiner Mann" gehen durfte. Wenn er dem Kriegshandwerk schon nicht enthoben war, so brauchte er doch nicht schuldig zu werden, wenn er auch seiner Gewissenhaftigkeit manches Opfer bringen mußte. Seine militärische Bestimmung hat ihn gerade in jenem kritischen Kriegssommer 1944 als Beauftragter für militärische und politische Meldungen im Amt Ausland/Abwehr des OKW Innenansichten aus dem Apparat der „Verschwörung" vom 20. Juli gewinnen lassen, ohne daß Stauf- fenberg ihn zum Mittun aufgefordert hätte. Das hat ihm Leben und Freiheit gerettet, ihn dafür aber 1945 in die Hölle der Schlacht an der Oder und in den Kampf um Berlin geführt. Eine sprachliche und erzählerische Meisterleistung ist die Schilderung seines Tuns als Sanitäter in der „Hölle des Brücken­ kopfes an der Oder", des Chaos' und Infernos beim Rückzug auf Berlin. Die Beschreibung des Lei­ dens der Verwundeten und Sterbenden geht tief unter die Haut, legt dauerhaft gültig das Grauen jedes Krieges bloß. In der Angst einer infernalischen Hölle steht er allein — mit ein paar Verbandspäckchen in der Hand! Die ganze Verlorenheit des kleinen Menschen in der schrecklichen Maschine klingt exemplarisch auf und ist — auch nach so langer Zeit noch — gegenwärtig. Was die Worte — um Verhaltenheit bemüht — nicht aussagen, ergänzen die Bilder — v. a. die aus dem Feuersturm in der umkämpften Stadt Berlin und die der Flucht aus ihren Trümmern. Auch der ver- götzte „Führer" zeigt sich nach dem Attentat als ein Bündel verzerrter Angst! Hätte die Welt dies damals sehen können! Das Nicht-begreifen-Können, daß der Operationshelfer, Soldat und Leichen­ kutscher überlebt und die Leere im noch bedrohten Neuanfang — auch als Journalist in der zerstörten Stadt — bestand, durchzittert die disziplinierte, behutsam abgestufte Darstellung, in der auch viele bekannte Berüner Namen eine Rolle spielen. „Daß ich dieses Jahr 1944/45 mit seinen zahllosen Gefährdungen überlebt habe, empfinde ich heute noch, ich kann es nicht anders sagen, als eine Gnade, eine unverdiente Gnade — es sei mir gestattet, dieses alte, vielleicht etwas pathetisch klin­ gende Wort zu gebrauchen. Und als eine Gnade betrachte ich auch, daß ich seit 1945, gut einem hal­ ben Jahrhundert, Frieden und Freiheit in einem demokratischen Staat genießen darf, in dem man nicht die Listen, Lügen und Kompromisse anwenden muß, zu denen man in einer Diktatur gezwun­ gen wird" (183). Der Verfasser hat das Büchlein mit einer Widmung dem Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, dem er seit langem angehört, übereignet. Dafür sei ihm Dank gesagt. Christiane Knop

„Villen, Rost- und Silberlauben. Baugeschichtliche Spaziergänge über den Campus der Freien Universität". Hg. Presse- und Informationsstelle der Freien Universität Berlin, Berlin o. J. [ 1993], 85 Seiten, 18 Abb. (Autoren: Rotraud Ahrens. Ursula August, Bernd Gloze, Christine Walther). Das Heft ist als kleiner Führer über das Universitätsgelände angelegt. Es ist in mehrere Spaziergänge eingeteilt, auf denen sich verschiedene bauliche Komplexe anhand beigegebener Planausschnitte erkunden lassen. Auf diesen Gängen wird die Entstehungsgeschichte der einzelnen Dahlemer Uni­ versitätsbereiche im Lauf von fast 50 Jahren erläutert. Zunächst wird über die erste Behelfszeit an der Boltzmannstraße berichtet, wobei die Planer auf den (Althoff-)Plan eines deutschen Oxford mit sei­ nen Kaiser-Wilhelm-Instituten (heute Max-Planck-lnstituten) und die Museen an der Arnimallee zurückgriffen. Durch das sprunghafte Anwachsen der Studentenzahlen haben die Möglichkeiten nie

466 mit den Bedürfnissen Schritt halten können. Ein ständiges Neuplanen und Bauen wurde erforderlich, das von jeweils wechselnden Baugesinnungen bestimmt war und in immer weitere Dahlemer Villen­ bereiche eindrang. Ihr architektonischer Wert ist umstritten, Gelungenes steht neben Störendem. Auch über den Streit zwischen Staat und Bezirk über die Nutzung des Geländes der Domäne Dahlem wird berichtet. Christiane Knop

„Erlöserkirche Berlin-Lichtenberg 1892—1992. Der Weg einer Gemeinde von der kaiserlichen Tradition bis zum Zusammenbruch der stalinistischen Diktatur". Festschrift mit 15 Beiträgen ver­ schiedener Autoren, zusammengestellt von Wolfgang Triebler, Berlin 1992, 70 Seiten. Die Beiträge lenken die Aufmerksamkeit auf mehrere Bereiche von überörtlichem Interesse. Die Tat­ sache, daß es um die Erlöserkirche und ihre „Friedenswerkstätten", an denen sich gesellschaftlich­ politischer Widerspruch artikulierte, still geworden ist, macht nachdenklich; man bedauert, wieviel Potential an Öffentlichkeit und Engagement an den Rand gedrängt wurde. Der Beitrag über Anfänge und Voraussetzungen des Baus bringt eine bisher wenig beachtete Ansicht vom Charakter der christlich-sozialen Bewegung des Hofpredigers Stöcker. Es wird betont, wie sehr die soziale und „sittliche" Not unter den zahlreichen Zuwanderern, vor allem an der Oberspree, die Finanzkraft des Magistrats erschöpfte, so daß er seinen Patronatspflichten der Pfarrerbestallung und des Kirchenbaus nicht hinreichend nachkommen konnte. So bedenklich uns heute Stöckers politische Argumentation auch erscheint, er initiierte private Förderung, wo Staat und Kirche noch zögerten; Anstoß und Ziel zeigen selbst in dieser zeitlichen Gebundenheit, wie sehr die Kirche immer wieder von ihrer gesellschaftlichen Situation her gesehen werden muß. Steht man dem Kirchenbauprogramm der Kaiserin Auguste Viktoria mit ihrer politischen Motivation für König und Vaterland auch kritisch gegenüber, muß man doch zugeben, daß die großzügige Konzeption der Jahrhundertwende mit den anspruchsvollen Gebäuden der Neogotik und der räumlichen Freizügigkeit die Gemeinde für größere künftige Aufgaben rüstete: ein ebenso bewahrender wie kritischer Widerspruchsgeist vermochte in der Zeit der Bekennenden Kirche und im Sozialismus standzuhalten. Auf dem großen Freigelände der Erlöserkirche wurden in der Zeit der Hochrüstung in Ost und West „Friedenswerkstätten" errich­ tet, in welche die kirchliche Jugend strömte und die auch Randgruppen anzog. Ein weiterer Beitrag informiert über den inneren Zusammenhang des Kirchenbaus im Stil der Neogotik mit der Theologie eines erneuerten Luthertums seit etwa 1860. Sie führte — vom Verfasser als „radikaler Umbruch" bezeichnet — über den Rahmen von Thron und Altar hinaus und schuf neues geistiges Leben. Von besonderem Schwergewicht ist der Rückblick auf die Tätigkeit der schon erwähnten „Friedenswerk­ stätten", die der Verfasser „ein offenes Feld, ein[en] Hort der Zukunft" nennt. Es bleibt festzuhalten, daß die Machthaber der DDR diese Gruppen seit den 80er Jahren nicht mehr ignorieren konnten. Sie mußten erkennen, daß hier ein nicht mehr zu reglementierendes demokrati­ sches Verantwortungsfeld entstanden war. Die „Friedenswerkstätten" schafften eine politische Öffentlichkeit, wie sie sonst in der DDR nicht existierte. Ein anderer Beitrag ist geistig anspruchsvoll und aufschlußreich: „Die Versöhnung unseres Erlösers— jetzt schon!" Er bringt die Deutung des alttestamentarischen Erlösungsanliegens, bezogen auf die Paulus-Verkündigung vom kommenden Reich der Versöhnung, entnommen den Paulinischen Brie­ fen. Er ist trotz des hohen theologischen Niveaus gut verständlich und lesenswert. So ist das kleine Buch, wie unscheinbar äußerlich, auch für Außenstehende ein Gewinn. Christiane Knop

Zeugnisse der historischen Topographie auf dem Gelände der ehemaligen Reichskanzlei Berlin- Mitte. Dokumentation des Archäologischen Landesamtes Berlin im Auftrag des Abgeordnetenhau­ ses von Berlin. Verfasser Alfred Kernd'l, 1993. 32 Seiten mit 32, größtenteils farbigen Abbildungen und 5 Plänen. Das Gelände Wilhelmstraße 75-78/Ecke Voßstraße war ein bedeutender Ort preußischer und deut­ scher Geschichte: hier befanden sich am Rand der damaligen Stadtgrenze seit dem 18. Jahrhundert die Palais Wilhelmstr. 75 (Stoltze, später Auswärtiges Amt), Wilhelmstr. 76 (v. Pannewitz, später Radziwill, danach Auswärtiges Amt), Wilhelmstr. 77 (v. d. Schulenburg, später - seit 1875 - Reichs­ kanzlei), Wilhelmstr. 78 und Voßstr. 1/2 (Marschall, später v. Voß, Pleß, Borsig, danach Reichskanz-

467 lei) und ihre Gärten. Hier residierte Bismarck nach 1871, hier war der Ort des Berliner Kongresses 1878. Bereits 1913 bestanden Pläne zur Erweiterung der Reichskanzlei unter Einbeziehung der Gebäude in der Voßstraße, die aber infolge des Ersten Weltkrieges erst 1928—30 in veränderter Form zur Ausführung kamen. Hitler ließ die Reichskanzlei 1933—43 von seinem Architekten Speer erneut umgestalten: die Gärten Wilhelmstr. 75 und 76 wurden mit einbezogen, die Neue Reichskanzlei an der Voßstraße entstand und zugleich ein unterirdisches Bunkersystem für Hitler, die Regierung und angehöriges Personal. Nachdem oberirdisch alle Spuren der kriegszerstörten Gebäude nach 1949 beseitigt worden sind, wurden die Bunkeranlagen Ende der 1980er Jahre anläßlich der Errichtung der Wohnhäuser auf dem Gelände An der Kolonnade/Voßstraße/Otto-Grotewohl-Straße (= Wilhelmstraße) teilweise besei­ tigt. Noch verhanden ist jedoch ein Teil der Bunkeranlagen (Fahrerbunker für das Begleitkommando Hitlers, der Bunker unter dem ehemaligen Mitteltrakt der Neuen Reichskanzlei und der Boden eines Innenhofes der Neuen Reichskanzlei), nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß sich diese Anlagen im ehemaligen Grenzstreifen an der Mauer befanden. Nach dem Fall der Mauer waren diese Anlagen im Jahre 1990 nach zufälliger Freilegung der Eingänge für kurze Zeit zugänglich. Während dieser Zeit war dem Archäologischen Landesamt zunächst nur eine kurze Begehung möglich, der jedoch im Mai 1992 während einer Woche eingehendere Untersuchungen folgten, bei denen die Lage und der Zustand der noch vorhandenen Anlagen erfaßt, Aufnahmen der gut erhaltenen Wandbilder gemacht und noch vorhandenes Inventar gesichert werden konnten. Diese Untersuchungen bilden die Grund­ lage für die vorliegende Dokumentation. Diese beschreibt kurz die Geschichte des Geländes, doku­ mentiert den Zustand von 1992 mit einer Beschreibung und einer Serie von Fotos der Innenräume und der Wandbilder, die ein hervorragendes Zeitzeugnis darstellen. Der Verfasser der Dokumentation äußerte am 8. Februar 1995 im „Tagesspiegel": „ ... Das Abge­ ordnetenhaus wird sich in den nächsten Wochen mit dem Denkmalschutz auf dem ehemaligen Reichskanzleigelände auseinanderzusetzen haben. Die auf dem Areal geplante lockere Bebauung für Vertretungen der Länder beim Bund läßt sich gut mit dem Denkmalschutz übereinbringen. Gerade im Bereich des einstigen Machtzentrums von Kaiserreich, Weimarer Republik und nationalsozialisti­ scher Herrschaft darf Geschichte nicht verdrängt werden. Hier kann sinnliche Wahrnehmung von steingewordener mörderischer Banalität zur Chance werden, anstößige Geschichte zu befragen und ihr nicht auszuweichen. Es darf nicht dazu kommen, daß im Schatten des geplanten Mahnmals ein historisch entsorgtes Gelände mit schicken Landesvertretungen in gefälligen Gärten liegen wird. Ein derartiges Umfeld würde dem Holocaust-Mahnmal eine Alibifunktion förmlich aufzwingen. Das ver­ dienen weder der geschichtsträchtige Boden noch das Mahnmal." Alfred Kernd'l war bis zu seiner Pensionierung Wissenschaftlicher Direktor am Archäologischen Landesamt Berlin. Die im Handel nicht erhältliche Dokumentation ist in unserer Bibliothek vorhan­ den. Reinhardt Link

Hauptstadtplanung und Denkmalpflege, Die Standorte für Parlament und Regierung in Berlin, Heft 3 der Reihe „Beiträge zur Denkmalpflege in Berlin", hg. von der Senatsverwaltung für Stadt­ entwicklung und Umweltschutz, Berlin (Verlag Schelzky & Jeep), 1995, 142 S., mit zahlreichen Abbildungen und einer Karte der Standorte, 39,80 DM. Was sagt die Denkmalpflege zum Ausbau Berlins als Regierungssitz? Zu diesem Thema legen Berlins Denkmalschützer ein neues Buch vor. Unter dem Titel „Hauptstadtplanung und Denkmalpflege" werden die Denkmale im Bereich der 18 „Standorte für Parlament und Regierung in Berlin" präsen­ tiert. Die Autoren befassen sich nicht nur mit den Bau- und Gartendenkmalen, sondern auch mit den bereits ergrabenen bzw. vermuteten Bodendenkmalen in den relevanten Gebieten. Jedes Denkmal wird mit mindestens einem Foto, einem Lageplan, Steckbrief, Literaturangaben und Kurztext über­ sichtlich vorgestellt. Die Autoren beschränken sich keineswegs auf die quasi amtlichen Regierungs-Denkmale wie Schloß Bellevue oder Reichstag, der übrigens in einer dramatischen Aufnahme auf dem Umschlag prangt. Sie lassen vielmehr eine Fülle prominenter und auch weniger namhafter Anlagen in den Bezirken Mitte und Tiergarten Revue passieren. Dazu gehören z. B. die Spedition Hamacher, der Dienstsitz der Gauck-Behörde, das Invalidenhaus, die ehem. Geologische Landesanstalt, Wohn- und Geschäfts­ häuser, Markthallen, Brücken, Gartenanlagen, zerstörte Kirchen und Rathäuser und vieles mehr. Die

468 Fülle der Denkmalporträts macht wieder einmal deutlich, mit welchen Pfunden Berlin als Hauptstadt wuchern kann. Bleibt zu hoffen, daß auch die Verantwortlichen in Bonn und in Berlin ein Gespür dafür entwickeln. Daß es brisante Themen gibt, klingt an, wenn etwa der Palast der Republik oder der vom Abriß bedrohte Lehrter Stadtbahnhof als besonders wertvolle Bauwerke vorgestellt werden. Denkmalschutz ist eben nur ein Aspekt unter vielen, die bei der Entscheidung über die Gestaltung des künftigen Regierungsviertels eine Rolle spielen! Mit diesem Buch steht allen Denkmalfreunden in der Stadt ein nützliches Nachschlagewerk für die anstehenden Debatten über Erhaltung oder Zerstörung von Denkmalen zur Verfügung. Abschließend sei noch angemerkt, daß die Publikation, die wesentlich umfangreicher ausfällt als die beiden vorigen — hier bereits besprochenen — Hefte der Reihe „Beiträge", diesmal in einem richtigen Verlag erschienen und in allen Buchhandlungen erhältlich ist. U.

Aus den Berliner Museen

Bode-Jnbiläum: Anläßlich des 150. Geburtstags Wilhelm von Bodes erinnern die Staatlichen Museen an einen großen Museumsmann, der das Gesicht dieser Institution und die Gestaltung der Museumsinsel über mehrere Jahrzehnte wesentlich prägte. Die Sonderveranstaltungen am Tag des Geburtstags, am 10. Dezember 1995, bitte ich, der Presse zu entnehmen. Die Staatlichen Museen ehren Wilhelm von Bode darüber hinaus mit neun Ausstellungen, auf die hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann. Hier wenigstens eine Übersicht: „Architekturmodelle der Renaissance. Die Harmonie des Bauens von Alberti bis Michelangelo". 6. Oktober 1995 bis 7. Januar 1996. Altes Museum (Untergeschoß). Di bis So 10 bis 18 Uhr, Sa 10 bis 22 Uhr. „Wilhelm von Bode und die Berliner Teppichsammlung". 18. Oktober 1995 bis 18. Februar 1996. Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum. Di bis So 9 bis 17 Uhr. „Wilhelm von Bode — Museumsdirektor und Mäzen". 18. Oktober 1995 bis 14. Januar 1996. Skulp­ turensammlung, Bodemuseum auf der Berliner Museumsinsel. Di bis So 9 bis 17 Uhr „Von Pisano bis Selvi — Meisterwerke italienischer Medaillenkunst der Renaissance und des Barock". 18. Oktober 1995 bis 14. Januar 1996. Bodemuseum im Studiensaal des Münzkabinetts. Di bis Fr 9 bis 17 Uhr. „Meisterwerke mittelalterlicher Skulptur — die Berliner Gipsabgußsammlung". 18. Oktober 1995 bis 14. Januar 1996. Bodemuseum, Di bis So 9 bis 17 Uhr. „Wilhelm von Bode und das Kunstgewerbemuseum". 18. Oktober bis Dezember 1995. Kunstgewer­ bemuseum am Kulturforum Tiergarten, Matthäikirchstraße 10, Di bis Fr 9 bis 17 Uhr, Sa + So 10 bis 17 Uhr. „Die Frühe Renaissance in Italien. Zeichnungen des 14. und 15. Jhs. im Berliner Kupferstichkabi­ nett." 21. Oktober 1995 bis 21. Januar 1996. Kupferstichkabinett am Kulturforum Tiergarten, Matthäikirchplatz. Di bis Fr 9 bis 17 Uhr, Sa + So 10 bis 17 Uhr. „Von allen Seiten schön — Bronzen der Renaissance und des Barock". 30./31. Oktober 1995 bis 28. Januar 1996. Altes Museum am Lustgarten (Obergeschoß). Di bis So 10 bis 18 Uhr, Sa 10 bis 22 Uhr. „Wilhelm von Bode und die zeitgenössische Kunst". 9. Dezember 1995 bis 25. Februar 1996. Alte Nationalgalerie auf der Museuminsel. Di bis So 9 bis 17 Uhr. U.

Deutsches Historisches Museum: „Kinder nach dem Krieg. Photographien der Agentur ,Puck\ Berlin 1945—48". Die Ausstellung zeigt Photos aus der Bildstelle beim Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bis 21. November. Unter den Linden 2. U.

Käthe-Kollwitz-Museum: „Lesser Ury - Zauber des Lichts". Mehr als 100 ausgewählte Gemälde aus allen Schaffensperioden des Malers werden gezeigt. Seit der Gedenkausstellung der Nationalga­ lerie Berlin im Jahre 1931 hat es keine ähnlich repräsentative Schau mit Werken Lesser Urys mehr gegeben. Die Ausstellung war längst überfällig, nicht nur um den bedeutenden Maler, dessen frühe Berliner Straßenlandschaften längst zu den Inkunabeln des deutschen Impressionsmismus gehören,

469 wieder in gebührende Erinnerung zu bringen, sondern auch die Vielschichtigkeit seines weiteren künstlerischen Schaffens neu ins Bewußtsein zu rufen. Noch bis 3. Januar 1996. Mi bis Mo 11 bis 18 Uhr. Fasanenstraße 24. Wir besuchen die Ausstellung am 3. November um 17 Uhr (vgl. Veranstal- tungsprogram). U.

Museum für Verkehr und Technik: „Neues Oldtimerdepot des Technikmuseums im alten Anhalter Güterbahnhof". Vor wenigen Tagen wurde im Anhalter Güterbahnhof (Möckernstraße 26/Ecke Tempelhofer Ufer, unmittelbar hinter dem „Spectrum") ein großes Schaudepot als Beginn der Museumstraße für ca. 80 Oldtimer, die bisher unzugänglich in verschiedenen Depots lagerten, eröff­ net. Auf rd. 800 m2 sind sie übereinandergestapelt und repräsentieren 120 Jahre Fahrzeuggeschichte: die Nobelkarosse wie die Zugmaschine, das Dreirad wie der Leichenwagen, der Schwimmwagen wie das Sportcoupe. Zugleich wurde damit ein erster Abschnitt der ehemaligen Ladeschuppen und künftigen Ausstel­ lungshallen eröffnet. Der Anhalter Güterbahnhof als Museumstraße wird nach dem Jahr 2000 das Zentralgebäude des Technischen Kulturforums am Gleisdreieck sein. U.

Landesdenkmalamt Berlin eingerichtet

Das Land Berlin besitzt von sofort an ein eigenes Landesdenkmalamt. Es ressortiert als nachgeord­ nete Behörde bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz. Zum Landesdenk­ malamt Berlin gehören die ehemalige Fachabteilung Bau- und Gartendenkmalpflege sowie das frü­ here Archäologische Landesamt, das bisher bei der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten angesiedelt war. Grundlage für die von Senator Dr. Volker Hassemer unterzeichnete Organisationsverfügung ist das neue Denkmalschutzgesetz, das im Mai in Kraft getreten ist. „Es war höchste Zeit", sagte Hassemer, „die zersplitterten Kräfte der Berliner Denkmalpflege in einem Haus zusammenzufassen. Wir erfül­ len damit eine Forderung, die in Fachkreisen seit Jahren erhoben wurde." Gerade im Hinblick auf die Umgestaltung Berlins zum Regierungssitz sollten alle Denkmalpfleger Berlins auch organisatorisch und politisch an einem Strang ziehen: „So viele Aufgaben von höchster Priorität mußte eine Denk­ malbehörde noch nie gleichzeitig bewältigen", betonte Hassemer. An der Spitze des Landesdenkmal­ amtes steht der bisherige Leiter der Fachabteilung, Landeskonservator Dr. Jörg Haspel. Bis ein gemeinsamer Dienstsitz bezogen werden kann, ist das Landesdenkmalamt Berlin unter der Adresse Lindenstraße 20—25 in 10958 Berlin zu erreichen. U.

Exkursion „Auf den Spuren Kaiser Karls vom Kloster Jerichow zur Hansestadt Tangermünde" am 19. August 1995

Bei fabelhaftem Wetter startete unser vollbesetzter Bus pünktlich in Richtung Altmark. Der 2. stellv. Vorsitzende plauderte auf der Hinfahrt über eben jene Region unseres Landes sowie über Sehens­ und Beachtenswertes auf der Fahrstrecke. So verging die Zeit fast wie im Fluge, bis wir Jerichow, die erste Station unserer Studienfahrt, erreichten. In zwei Gruppen wurden wir durch das einstige Kloster geführt. Jerichow gehört zu den wenigen nahezu vollständig erhaltenen romanischen Klosteranlagen des deutschsprachigen Raums. Darüber hinaus kommt dem Bauwerk als einem der frühesten Zeugnisse der norddeutschen Backsteinarchi­ tektur eine besondere bau- und kunsthistorische Bedeutung zu. Nach 1144 begann der Prämonstra- tenserorden mit dem Bau eines Missionsstützpunkts im ostelbischen, slawisch besiedelten Gebiet am Rande des ehemaligen slawischen Dorfes. Da im weiten Umkreis kein Werkstein zur Verfügung stand, wurden die reichen Lehm- und Schlickvorkommen der Eibniederung zur Herstellung von Backsteinen genutzt. Die Mauern sind übrigens 110 cm dick! Die Glanzzeit des Stifts war die kurze Zeit als Kaiser Karl IV. in Tangermünde weilte. Pfingsten 1377 besuchte er mit großem Gefolge die Jerichower Stiftskirche. 1840 besah König Friedrich Wilhelm IV. die seit dem 16. Jahrhundert wirt-

470 schaftlich genutzte Klosteranlage. Daraufhin beauftragte er Ferdinand von Quast mit der stilgerech­ ten Restaurierung der Klosterkirche. Anschließend fuhren wir durch Kleinwulkow an der kleinsten romanischen Dorfkirche vorbei. Hier war der Ausgangspunkt der ostindischen Mission (Gossner). Einer der ersten Missionare war ein Wernicke aus Kleinwulkow. Er war es, der in Ostindien die Teeplantage mit dem berühmten Darjee- ling-Tee anlegte. Um 1740 befand sich in dem Dorf ein Gesundbrunnen. Friedrich II. orderte dies Wasser. Weiter ging die Fahrt nach Großwulkow, wo uns Pfarrer Karlheinz Stephan bereits vor seiner Kirche erwartete. Der rührige und engagierte Pfarrer Stephan, der einen „Geschichtskreis Wust-Wul- kow" ins Leben rief, zeigte uns die in letzter Minute vor dem Einsturz gerettete älteste romanische Backsteindorfkirche Norddeutschlands. Sie ist ein wichtiger Zeitzeuge mit einmaligen Kunstwerken. Ein Triumphkreuz (um 1150) bietet einen faszinierenden Einblick in die Welt der Romanik. Außer­ dem befindet sich in dieser Kirche eine Glocke, die vor 1200 gegossen wurde. Schon duftete von der gegenüberliegenden Familiengaststätte Gericke mit einem noch dörflich geprägten Saal unser Mit­ tagessen herüber. Weiter ging die Fahrt nach Melkow. Die dortige Kirche stellt noch eine Gottesburg dar und hat sich in den Jahrhunderten kaum verändert. Wir besichtigten in der nicht mehr für Gottes­ dienste genutzten Kirche die vom Geschichtskreis in Zusammenarbeit mit dem Kloster Jerichow erar­ beitete Dauerausstellung „Kirchen im Jerichow Land — Wiege norddeutscher Backsteinbaukunst". Danach fuhren wir ins benachbarte Wust. Die Kirche von Wust wurde zu DDR-Zeiten durch den bei­ spielhaften Einsatz Jugendlicher und der kleinen Kirchengemeinde vor dem Verfall gerettet. Als Dank wurde sie in die „Straße der Romanik" aufgenommen. Mit dem Namen Wust verbindet sich preußische Geschichte. Wust war alter Familienbesitz derer von Katte: Hans Hermann von Katte bezahlte seine Freundschaft mit dem Kronprinzen Friedrich mit seinem Leben (6. November 1730 in Küstrin hingerichtet). Seine Grablege befindet sich im Gruftbau der Kirche, den wir gleichfalls besich­ tigten. Nun wurde es Zeit, unsere Fahrt nach Tangermünde fortzusetzen, da die Fahrtleitung programmge­ mäß Karten für ein Konzert in der Stephanskirche (16.30 Uhr) besorgt hatte. Wir hörten ein wunder­ bares mehrchöriges Musikkonzert für Trompeten, Zinken, Posaunen und Orgel des Berliner „Barocktrompeten-Ensembles" auf historischen Instrumenten — von allen Teilnehmern als Höhe­ punkt des Tages gepriesen. So entgingen wir in der kühlen Kirche gleichzeitig der Hitze dieses schö­ nen Auggusttages und entspannten von dem bisherigen Besichtigungsprogramm. Aber wir hatten noch viel vor: Anschließend genossen wir einen Stadtrundgang durch die alte und außerordentlich sehenswerte Hansestadt unter der sachkundigen Führung unseres Mitglieds Hans-Peter Freytag. Als „königlicher Kaufmann" (mit Landbuch und Geldtasche) steht das Denkmal Karls IV. auf der Tan­ germünder Burganlage, die er zu seiner zweiten Residenz neben Prag machte. Wer die Meisterwerke der Backsteingotik in Tangermünde betrachtet, gewinnt eine Ahnung von dem wirtschaftlichen Auf­ schwung, der in jener kurzen Zeit begründet wurde. Die Nachmittagshitze hatte allerdings zur Folge, daß eine Mehrheit der Fahrtteilnehmer plötzlich hinter dem schönen Rathaus auf der schattigen Ter­ rasse eines Eiskaffees Platz nahm, um sich Stärkung zu verschaffen. Nachsichtsvoll gesellten sich H.-P. Freytag und die Fahrtleitung zu den „Rundgang-Verweigerern", die anschließende tätige Reue gelobten. Nach dieser Erfrischungspause setzten wir den Stadtrundgang willig fort. In angenehmer Erschöpfung erkletterten wir später unseren Reisebus — ein erlebnisreicher Tag ging zu Ende! Manfred Uhlitz Exkursion von Groß Kreutz über Deetz und die Götzer Berge nach Götz am 2. September 1995. Das Wetter war ideal zum Wandern! Die Exkursion begann an der Dorfkirche von Groß Kreutz, einem Feldsteinbau aus dem 13. Jahrhundert, erweitert im 18. Jahrhundert, mit einer im wesentlichen aus dieser Zeit stammenden Innenausstattung und zwei alten Glocken von 1409 und 1500. Ein Juwel unter den märkischen Guts- oder Herrenhäusern befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Dorfkirche: Es wurde 1765-67 von Friedrich Wilhelm Diterichs im Stil der Knobelsdorff-Nachfolge erbaut und läßt den Betrachter sogleich an Schloß Sanssouci denken. Der Zustand des zwischenzeit­ lich als Internat genutzten Hauses ist leider beklagenswert. Über den heute zu Unrecht kaum noch bekannten Baumeister, der u. a. das Prinzessinnenpalais, die Schloßkirche in Buch, die Böhmische Kirche in Berlin und das Palais Ephraim am Mühlendamm errichtete, ist 1950 eine Berliner Disserta-

471 tion von Renate Petras und kürzlich ein Buch in der Potsdamer Verlags-Buchhandlung erschienen. Man erfährt, welchen Einfluß Diterichs zusammen mit seinem Lehrer Martin Heinrich Böhme auf das Baugeschehen der damaligen Zeit in Berlin und Potsdam hatte. Das Gutshaus in Groß Kreutz war übrigens Vorbild für den Bau des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Zellphysiologie in Berlin- Dahlem, Harnack-, Gary- und Boltzmannstraße. Die Entstehungsgeschichte dieses Hauses be­ schreibt Professor Eckart Henning im Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte, 38. Band, Berlin 1987, S. 202-232. Von Groß Kreutz führte der Weg durch Felder und ehemalige Obstplantagen nach Deetz. Vom Müh­ lenberg erfreute uns ein schöner Blick auf das Havelland mit den Dörfern Weseram, Roskow, Guten­ paaren und Zachow. Die aus der Zeit um 1250 stammende Feldsteinkirche wurde 1728 erweitert und 1901 in historisierenden Randbogenformen vollständig umgebaut. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die in der Havelniederung zwischen Deetz und den Götzer Bergen befindlichen Tonlager intensiv abgebaut und zu Ziegeln verarbeitet, die überwiegend nach Berlin geliefert wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Ziegeleien stillgelegt; die Tongruben füllten sich mit Wasser, es siedelten sich Pflanzen und Tiere an, und es entstand ein reizvolles Erholungsgebiet. Durch dieses Gebiet führte die Route dann auf den 109 m hohen Götzer Berg. Von der bewaldeten Spitze konnten wir den Turm der St.-Jakobi-Kirche in Nauen, den dortigen Fernmeldeturm und einige Sendemasten erkennen. Von einer anderen Stelle blickten wir auf den Fernmeldeturm auf dem Schäferberg. Dann ging es hinunter nach Götz. Das ehemalige Lehnschulzen-Gutshaus, ein zweigeschossiger restaurier­ ter Fachwerkbau, der nun Hotel und Restaurant ist, lud uns zur Einkehr ein. Die Dorfkirche von Götz stammt aus der Zeit um 1250 mit einem Westturm aus Feldsteinen. Das Dach ist neu gedeckt, das Schiff von außen frisch gestrichen, insgesamt ein erfreulicher Anblick. Auf schon ein wenig müden Füßen ging es zum Bahnhof, der etwas außerhalb des Dorfes liegt. Von dort brachte uns die Regional­ bahn zurück zum Bahnhof Groß Kreutz, wo die Autos auf uns warteten. Dieter Klatt

Mitgliederversammlung am 10. Mai 1995 Der Amtssitz des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, unseres Mitglieds Eberhard Diepgen, war der Tradition gemäß wieder der Ort der Mitgliederversammlung. So konnte der Vorsitzende Rechts­ anwalt und Notar Hermann Oxfort, Bürgermeister von Berlin und Senator a. D., im Roten Rathaus, Ferdinand-Friedensburg-Saal, fünfzig Mitglieder (laut Anwesenheitsliste) begrüßen und sich nach der Ehrung der verstorbenen Mitglieder des Vereins der Tagesordnung zuwenden. Da der Tätigkeits­ bericht des Schriftführers 1994 in vervielfältigter Form vorlag (und auch wieder im Jahrbuch veröf­ fentlicht wird), wurde auf den mündlichen Vortrag verzichtet. Der Schatzmeister, der den Jahres­ abschluß 1994 ebenso wie den Voranschlag 1995 den Mitgliedern als Umdruck vorgelegt hatte, erstattete seinen Kassenbericht. Diesem Vortrag Karl-Heinz Kretschmers folgte der Bibliotheksbe­ richt des Vorstandsmitglieds Karlheinz Grave, dem zu entnehmen war, daß die Bibliothek von 118 Besuchern aufgesucht wurde und daß sich der Bestand durch Neuzugänge (Geschenk-, Rezensions­ und Austauschexemplare) um 298 Titel auf 14 895 Bände erhöht hat. Den Damen Hentschel und Meyer-Luyken wie den Herren Doege und Mende galt der Dank für ihr Wirken als Bibliotheksbe­ treuer ebenso wie dem Vereinsarchivar Siewert. Für die Kassenprüfer Hans-Dieter Degenhardt und Frau Siddikah Eggert bestätigte H.-D. Degen- hardt die ordnungsgemäße Führung aller Kassengeschäfte. Für die Bibliotheksprüfer Frau Dr. Erika Schachinger und Manfred Funke berichtete dieser, daß die Mitarbeiter in der Bibliothek mit großem Engagement tätig sind und die Leser intensiv betreut werden. Die hier genannten vier Prüfer wurden später von der Versammlung einmütig in ihren Ämtern bestätigt. Der Vorsitzende dankte allen ehren­ amtlich wirkenden Mitgliedern und schloß aus der Tatsache, daß das Wort zu den vorgetragenen Berichten nicht gewünscht wird, daß die Mitglieder der Arbeit des Vorstands damit ein Lob zollen. Auf Antrag wurde der Vorstand einstimmig entlastet. Ebenso einmütig war der Beschluß der Mitglie­ derversammlung, die Wahl gemäß Vorschlagliste en bloc und offen vorzunehmen, nachdem der Vor­ sitzende mitgeteilt hatte, erst am Tage der Versammlung habe Professor Dr. Helmut Engel wissen las­ sen, daß er wegen Überlastung von einer neuerlichen Kandidatur Abstand nehme. H. Oxfort drückte seine Freude darüber aus, daß Dr. Manfred Uhlitz für ein Amt im geschäftsführenden Vorstand gewonnen werden konnte. Bei einer Enthaltung wurde der Vorstand in der folgenden Zusammenset­ zung einstimmig gewählt:

472 Vorsitzender Rechtsanwalt und Notar Hermann Oxfort erster stellv. Vorsitzender Hans-Werner Klünner zweiter stellv. Vorsitzender Dr. Manfred Uhlitz Schriftführer Dr. Hans Günter Schultze-Bemdt stellv. Schriftführer Dr. Jürgen Wetzel Schatzmeister Karl-Heinz Kretschmer stellv. Schatzmeisterin Professor Dr. Sibylle Einholz Beisitzer: Karlheinz Grave Birgit Jochens Dr. Christiane Knop Dr. Winfried Löschburg Ingeborg Schröter Hans-Wolfgang Treppe Günter Wollschlaeger Mit Freude akzeptierten die Anwesenden die Spende Hans-Werner Klünners in Form einer Bro­ schüre über das Rote Rathaus. Da keine Anträge vorlagen und das Wort nicht weiter gewünscht wurde, konnte der Vorsitzende den offiziellen Teil der Versammlung schließen und Klaus-Dieter Wille um seinen Vortrag „Berliner Landseen — Entstehung und Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart" bitten, der mit viel Beifall bedacht wurde. Hans G. Schultze-Berndt

Wir begrüßen folgende neue Vereinsmitglieder (111/1995):

Baring, Professor Dr. Arnulf, Komander, Dr. Gerhild, Kunsthistorikerin o. Professor f. Zeitgesch. Gropiusstraße 6 u. intern. Beziehungen 13357 Berlin-Wedding Ahrenshooper Zeile 64 Tel. 4 62 94 27 (Dr. M. Uhlitz) 14129 Berlin-Zehlendorf Lüttke, Dr. Jürgen Tel. FU 8 38 3180 (Dr. M. Uhlitz) Schwarzburger Straße 7 Biasia, Edda, Reisebegleiterin 12687 Berlin-Marzahn Köpenicker Straße 9 A Morgenroth, Dr. Heinz, Physiker (Rentner) 10997 Berlin-Kreuzberg Orionstraße 21 Tel. 618 22 88 (Dr. M. Uhlitz) 12435 Berlin-Treptow Bunschek, Dr. Helmut, Rentner Tel. 2 72 48 26 Preußenallee 21 Plickert, Holger, Student d. Gesch. 14052 Berlin-Charlottenburg u. Publizistik Tel. 3 05 89 41 (W. Heinrich) Camphausenstraße 14 Franke, Marianne, Mathematikerin 14165 Berlin-Zehlendorf Mainzer Straße 11 Tel. 8 0170 00 10715 Berlin-Wilmersdorf Richter, Eva-Lisa, Tel. 8 54 86 74 (W. Stapp) Auguste-Viktoria-Straße 2 Freese, Ursula, Sekretärin 14193 Berlin-Grunewald Brandenburgische Straße 20 Tel. 8 25 9144 10707 Berlin-Wilmersdorf Rüß, Dr. Gisela, Beamtin Tel. 8 83 38 65 Lindenstraße 6 c Hanow, Gerhard, Rentner 14109 Berlin-Wannsee Gustav-Müller-Straße 5 Tel. 8 05 49 09 (Dr. M. Uhlitz) 10829 Berlin-Schöneberg Seyerlein, Dr. Helga, Internistin Tel. 7 8143 74 Württembergallee 26/27 (K. H. Kretschmer) 14052 Berlin-Charlottenburg Koehler, Peter, Touristikfachwirt/ Tel. 3 04 95 10 Reiseleiter Wittig, Robert, Dipl.-Kaufmann Frankfurter Allee 135 Bleibtreustraße 40 10365 Berlin-Lichtenberg 10623 Berlin-Charlottenburg Tel. 5 50 36 80 (Dr. M. Uhlitz) Tel. 8 85 4915 (Dr. M. Uhlitz)

473 Aus dem Mitgliederkreis

Unser Ehrenvorsitzender Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm und seine Gattin Dr. Irmtraut Hoffmann-Axthelm sind im Juni 1995 mit gemeinsamen 168 Jahren in ihr märkisches Haus am Marienplatz 1 in 19348 Perleberg zurückgekehrt — vom Freiburger Münster zum Perleberger Roland! 1979 hatten sie ihren Wohnsitz von Berlin in den Breisgau verlegt. Seinen Freunden ruft das Ehepaar Hoffmann-Axthelm zu „Kommt und seht!" Wir wünschen ihm ein gutes Einleben in der alten Heimat (Telefon [0 38 76] 78 8405)! SchB.

Unser Ehrenmitglied Dr. Richard von Weizsäcker, dessen Wiege im Neuen Schloß in Stuttgart stand, ist mit der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet worden. Bei der Ehrung erklärte Ministerpräsident Teufel: „Die Baden-Württemberger sind stolz auf ihren großen Lands­ mann", was auch dann sicher verständlich erscheinen mag, wenn sich der frühere Bundespräsident nicht als Schwabe fühlt und einem das Kompositum „Baden-Württemberger" ohnehin Bauchgrim­ men bereitet. SchB.

Der „Wilhelm-Foerster-Preis" des Urania-Vereins Potsdam wurde dem Architekturhistoriker Pro­ fessor Dr. Julius Posener verliehen, weil er es verstanden hat, sein Fachgebiet einem großen Publikum verständlich zu machen und Begeisterung dafür zu wecken. SchB.

Unser Mitglied Hans Wolff-Grohmann, der dem Verein seit 1977 die Treue hält, ist anläßlich der Vollendung seines 90. Lebensjahres am 4. April 1993 an dieser Stelle nicht gewürdigt worden. Er ver­ dient es aber, daß der aus der alten Berliner Künstlerfamilie Grohmann stammende bedeutende Architekt mit seinem Lebenswerk herausgestellt und geehrt wird. Seine Ausbildung hatte er bei Alfred Grenander und Bruno Paul erfahren und sich in diesem Metier vor allem mit dem Wohnungs­ bau beschäftigt. Dies gilt besonders für die Jahre seines Wirkens nach 1950 in seiner Heimatstadt Ber­ lin, wo unter vielem anderen die Wohnbebauung längs der Gitschiner Straße im Sanierungsgebiet Kreuzberg-Süd nach seinen Entwürfen entstanden ist. Die während des Krieges zerstörte Schinkel- sche St.-Pauls-Kirche hat er schon 1952 wieder aufgebaut, später am Kurt-Schumacher-Damm das jetzt ungenutzte Filmtheater „LAiglon" sowie ein Hotel für die französische Schutzmacht erbaut, auch eine Reihe von Gemeindezentren geschaffen. Man wird der Persönlichkeit Hans Wolff-Groh- manns aber nicht gerecht, wenn man nicht auch sein Wirken als Maler und Bühnenbildner erwähnt und seine Tätigkeit als Organist, die er in jungen Jahren sogar berufsmäßig ausübte. Nicht zuletzt aber ist der Sammler Hans Wolff-Grohmann zu erwähnen, Enkel des 1918 verstorbenen königlichen Bibliothekars, Kupferstechers und Menzelsammlers Wilhelm Grohmann, Neffe des Künstlers Rein­ hold Grohmann und auch mit dem vor einiger Zeit verstorbenen Professor Will Grohmann weitläufig verwandt. Auch den Nachlaß seiner Mutter Grete Wolff, geb. Grohmann, wie der seines Onkels für das Berlin-Museum bestimmt, hat er gepflegt. An der Geschichte Berlins, vor allem seiner Bauten, nimmt Hans Wollf-Grohmann unverändert regen Anteil, äußert sich auch zu Aufsätzen in den „Mit­ teilungen" unseres Vereins, so zu dem Aufsatz über farbige Wandflächengestaltung. Dieser verdienst­ vollen Persönlichkeit gilt unsere Verehrung, wir wünschen ihr weiter ein Leben in aufgeschlossener Anteilnahme und ein otium cum dignitate. SchB.

Mitteilung der Redaktion Die Ihnen vorliegende Ausgabe der MITTEILUNGEN hat in der Herstellung fast 9 DM gekostet. Wir bitten unsere Abonnenten daher um Verständnis, daß wir den Preis für das einzelne Heft von 1996 an auf 9 DM anheben müssen. Das Abonnement kostet künftig 36 DM jährlich. Sie erhalten die MITTEILUNGEN somit weiterhin zum Selbstkostenpreis. Unsere Mitglieder sind von dieser leider notwendigen Preiserhöhung nicht direkt betroffen, da der Bezug der MITTEILUNGEN im Jahresmitgliedsbeitrag eingeschlossen ist. Allerdings muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß es künftig nicht mehr möglich sein wird, das umfangreiche Angebot des Vereins zum bisherigen Beitrag zu bieten. Sie erhalten vier MITTEILUNGEN und ein

474 Jahrbuch, das im Buchhandel für 42 DM verkauft wird. Unser Veranstaltungsprogramm ist umfang­ reicher und damit kostspieliger geworden, und der Unterhalt unserer sich ständig vergrößernden Bibliothek verschlingt große Summen Geldes. Der Vorstand wird Ihnen daher bei der nächsten Jah­ reshauptversammlung vorschlagen, den Mindestmitgliedsbeitrag auf 80 DM (Ehepaare 120 DM) zu erhöhen. Sie würden unserer gemeinsamen Arbeit sehr helfen, wenn Sie diese erhöhten Beiträge schon bei Ihrer nächsten Beitragszahlung im Januar 1996 beachten könnten. U.

Veranstaltungen im IV Quartal 1995

1. Sonntag, 1. Oktober 1995, 9.30 Uhr: „Herbst-Wanderung des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865" mit unserem Mitglied Wolfgang Stapp. Treffpunkt: Eingang Jagdschloß Klein-Güenicke. Route: Glienicker Brücke — Park und Schloß Babelsberg — Telegraphenberg — Einsteinturm — Potsdam — großer und kleiner Ravens- berg — Saarmunder Endmoräne — Mühle Langerwisch — Wilhelmshorst. Von dort Rückkehr nach Wannsee um ca. 16 Uhr. Streckenlänge: 15 km (Wanderschuhe erforder­ lich), Verpflegung bitte mitbringen. Keine Einkehr! Bus 116 vom Bhf. Wannsee. 2. Sonnabend, 7. Oktober 1995, 14 bis 18 Uhr: „Die Wiederherstellung bedeutender Gartendenkmale im Zentrum Berlins", gartenhistorische Busrundfahrt mit unserem Mitglied Dipl.-Ing. Klaus von Krosigk, Leiter des Referats Gartendenkmalpflege und stellv. Landeskonservator. Die bisher versandten Teilnahmekarten verpflichten zur Teil­ nahme, wenn sie nicht zurückgegeben werden! Abfahrtsort: Vereinsbibliothek. 3. Sonnabend, 14. Oktober 1995, 14 bis ca. 16.30 Uhr: „E.T.A. Hoffmann in Berlin", Rundgang zu den Wohnstätten und den Schauplätzen seiner Erzählungen in Berlin. Es führt uns unser Mitglied Professor Hans-Dieter Holzhausen, 2. Vorsitzender der E.T A.-Hoffmann-Gesellschaft. Treffpunkt: Bhf. Friedrichstraße, vor dem Metropol­ theater. 4. Mittwoch, 18. Oktober 1995, 17 Uhr: „Führung durch die Staatsbibliothek Berlin, Haus 1 (Mitte)". Als „Königliche Bibliothek" 1903/04 nach Plänen E. von Ihnes erbaut; von 1918 an „Preußische Staatsbibliothek". Anschließend „Führung durch die Ausstellung Heinrich Kayser, Geh. Baurat in Berlin (1842—1917)". Wir werden geführt von Dr. Regina Mahlke, Referentin der Abteilung Historische Drucke. Treff­ punkt : Eingangshalle, Unter den Linden 8, Berlin-Mitte. S- und U-Bhf. Friedrichstraße, Bus 100, 157, 348. 5. Sonnabend, 21. Oktober 1995, 14 bis 16 Uhr: „Spaziergang durch Westend am Vor­ abend des 130. Gründungsjubiläums". Es führen uns unsere Mitglieder Dr. Ingolf Wer- nicke, Leiter des Heimatmuseums Reinickendorf, und Birgit Jüchens. Leiterin des Heimatmuseums Charlottenburg und Vorstandsmitglied unseres Vereins. Treffpunkt: S-Bhf. Westend. Ende am Steubenplatz mit anschließendem Kaffeeklatsch in der Wiener Konditorei. Bus HO, 145, 204, X 26. 6. Dienstag, 31. Oktober 1995,16 Uhr: „Führung im Gutshaus Steglitz und durch die dort gezeigte Ausstellung ,Sommerleben — Wohnkunst in preußischen Landhäusern vor 200 Jahren'" mit Dr. Hella Reelfs, die die Ausstellung konzipiert hat. Gezeigt werden erstklassige Objekte des Kunstgewerbes von Museumsqualität. Blumen in jeder Erschei­ nung geben dem Gutshaus auch in dieser Herbstzeit Farbe und Duft. U 9 und S-Bhf. Rat­ haus Steglitz. Zahlreiche Buslinien. 7. Freitag, 3. November 1995,17 Uhr: „Lesser Ury — Zauber des Lichts", Ausstellungs­ führung im Käthe-Kollwitz-Museum mit Regina Caspers, Museumspädagogin des Kollwitz-Museums (vgl. Rubrik „Aus den Berliner Museen" in diesem Heft). Fasanen­ straße 24. U 9,15 (Kurfürstendamm), S-Bhf. Zoo, Bus 109,119,129. Eintritt 8 DM pro Person.

475 8. Sonntag, 12. November 1995, 10 Uhr: „Spaziergang durch die historische ,Doro- thecnstadt'. Teil II" mit unserem 1. stellv. Vorsitzenden Hans-Werner Klünner. Treff­ punkt: Friedrichstraße/Ecke Georgenstraße am Stadtbahnbogen. S- und U-Bhf. Fried­ richstraße. 9. Freitag, 24. November 1995, 15 bis 17 Uhr: „Führung durch die Julius-Leber- Kaserne" mit militär- und bauhistorischen Anmerkungen unseres Mitglieds Oberst Fritz Peter Hoppe, Stellvertreter des Standortkommandanten von Berlin. Im Anschluß an den Rundgang sind wir zu einer Tasse Kaffee eingeladen und können Fragen stellen. Treffpunkt: Kaserneneingang Kurt-Schumacher-Damm 41, Berlin-Wedding (nahe Kurt-Schumacher-Platz). U 6 (Kurt-Schumacher-Platz); Bus: 121, 128, 221, 228. 10. Weihnachtsfeier des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865: Montag, 4. Dezember 1995, 18 Uhr: „Die Glocken von Berlin — Entstehung und Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart". In die Weihnachtszeit passender Vor­ trag unseres Mitglieds Klaus-Dieter Wille, Stadthistoriker und Buchautor. Ort: Remise des Ägyptischen Museum^kt Berlin-Charlottenburg. Eingang Spandauer Damm 7 (am Meilenstein). U 2 (Sophie-Charlotte-Platz), U 7 (Richard-Wagner-Platz), S-Bhf. Westend, Bus: 109, 110, 145, X 9, X 26. Gäste wülkommen! Anschließend um 19.30 Uhr gemeinsames Abendessen nebenan auf der für uns reser­ vierten Galerie des Restaurants Eosander, Spandauer Damm 3. Das festliche Weih­ nachtsmenü mit drei Gängen kostet ca. 38 DM pro Person (wahlweise mit einem Rinder­ filet oder einer halben Ente und passenden Beilagen). Anmeldung, Platzreservierung und Menüauswahl: SchLt Dr. M. Uhlitz, Telefon 3 05 9600. Apropos Weihnachten: Wenn Sie einen wirklich lieben Menschen zu Weihnachten beglük- ken möchten, schenken Sie ihm doch einfach eine Jahresmitgliedschaft in unserem Verein (80 DM)! Es gibt kein Geschenk von bleibenderem Wert., Als weiteres Geschenk bietet es sich an, den farbenprächtigen und repräsentativen Reprint des „Berliner Kalenders" unseres Vereins aus dem Jahr 1906 zu verschenken. Er erscheint in Kürze ebenso wie der Nachdruck des Kalenders von 1905 im. Georgenverlag, Friedrichstraße 95,10117 Berlin, Telefon und Fax 20 96 2189. Vereinsmitglieder erhalten ihn für 36,80 DM (statt 39,80 DM) portofrei zugeschickt. U.

Bibliothek: Berliner Straße 40,10715 Berlin-Wilmersdorf, Telefon (0 30) 8 73 26 12. Geöffnet: mitt­ wochs 16.00 bis 19.30 Uhr! U7 (Blissestraße), Bus 101, 104, 204, 249.

Vorsitzender: Senator und Bürgermeister von Berlin a. D. Hermann Oxfort, Breite Straße 21,13597 Berlin-Spandau, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Ingeborg Schröter, Brauerstraße 31, 12209 Berlin-Lichterfelde/Ost, Telefon 7 72 34 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Artuswall 48, 13465 Berlin-Frohnau, Telefon 4 0142 40. Schatzmeister: Karl-Heinz Kretschmer, Greveweg 6, 12103 Berlin-Tempelhof, Telefon 7 5342 78. Konten des Vereins: Postbank Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,10559 Berlin; Berli­ ner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Die MITTEILUNGEN erscheinen vierteljährlich zum Quartalsanfang. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, Schriftleitung und Veranstaltungsorganisation: Dr. Manfred Uhlitz, Brixplatz 4, 14052 Berlin-Charlottenburg, Telefon 3 05 96 00 und 01715 2012 01, Fax 3 05 38 88; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 13465 Berlin-Frohnau, Telefon 4 0143 07; Beiträge bitte an die Schriftleiter senden. Redaktionsschluß: 1. März, 1. Juni, 1. September, 15. November. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für NichtmitgHeder: 36 DM jährlich. Neumitglieder sind herzlich willkommen! Jahresmitgliedsbeitrag z. Zt. 60 DM (80 DM; Ehepaare 120 DM) inkl. Bezug der MITTEILUNGEN und des Jahrbuchs. Beitrittserklärungen bitte formlos an die Geschäftsstelle. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Ahrens KG Berlin/Bonn, 12309 Berlin. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

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