Lageberichte Der Deutschen Volkspolizei Im Herbst 1989 ------Eine Chronik Der Wende Im Bezirk Neubrandenburg
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1 Die Lageberichte der Deutschen Volkspolizei im Herbst 1989 ----------------------------------------------- Eine Chronik der Wende im Bezirk Neubrandenburg Mit einem Anhang: Studie über das Verhältnis von Volkspolizei und Ministerium für Staatssicherheit, dargestellt am Beispiel des Kampfes gegen die mecklenburgische Landeskirche 1945 - 1989 2 Die Lageberichte der Deutschen Volkspolizei im Herbst 1989. Eine Chronik der Wende im Bezirk Neubrandenburg. Mit einem Anhang: Studie über das Verhältnis von Volkspolizei und Ministerium für Staatssicherheit, dargestellt am Beispiel des Kampfes gegen die mecklenburgische Landeskirche. Herausgeber: Die Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Jägerweg 2, 19053 Schwerin Bearbeiter: Georg Herbstritt Druck der ersten Auflage (1998): Druckhaus Kersten Koepcke & Co., Güstrow 2., durchgesehene Auflage, Schwerin 2009 (nur online als pdf-Datei verfügbar) ISBN der gedruckten Auflage (1998): 3-933255-07-4 3 Inhaltsverzeichnis Seite Einführung ................................................................................................. 5 Dokumententeil: Die Lageberichte der Deutschen Volkspolizei im Herbst 1989 ................... 13 Anhang: Studie über das Verhältnis von Volkspolizei und Ministerium für Staatssicherheit, dargestellt am Beispiel des Kampfes gegen die mecklenburgische Landeskirche ......................................................... 235 Das politisch-operative Zusammenwirken - eine Übersicht ................ 280 Quellen- und Literaturverzeichnis ............................................................. 282 Abkürzungen ............................................................................................ 286 Ortsregister ............................................................................................... 292 4 5 Einführung Der Herbst 1989 ist als Epochenwechsel in die Geschichte eingegangen. Innerhalb weniger Monate hatte sich mehr verändert als in den Jahrzehnten zuvor. Der vorliegende Band dokumentiert diesen Umbruch für die Zeit vom 2. Oktober bis 9. Dezember 1989. Er beschränkt sich dabei auf den damaligen Bezirk Neubrandenburg, und er tut dies aus dem Blickwinkel einer Institution, der man bisher kaum Beachtung schenkte: der Deutschen Volkspolizei. Die Volkspolizei im Bezirk Neubrandenburg stellte seit vielen Jahren je- den Tag, wie das auch in den anderen Bezirken der DDR üblich war, einen Lagebericht zusammen. Darin wurden alle Ereignisse und Vorkommnisse des jeweiligen Tages festgehalten, die aus polizeilicher Sicht von Bedeu- tung waren. Das betraf ganz allgemein den Bereich der sogenannten öf- fentlichen Ordnung und Sicherheit. Vermerkt wurden Straftaten aller Art, Verkehrsunfälle, Brände und anderes mehr sowie die jeweiligen Aktionen oder Reaktionen seitens der Polizei. Die Lageberichte dienten jedoch nicht nur polizeiinternen Zwecken. Ein Exemplar ging beispielsweise regelmä- ßig auch an die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, ein weiteres an die Bezirksleitung der SED. Eine gekürzte Fassung schickte man täglich als Fernschreiben an das Ministerium des Innern nach Berlin. Wenn man diese Lageberichte heute liest, so wirken sie zunächst nicht be- sonders aufregend, ihr Stil ist trocken, sachlich, monoton. Das geht so weit, daß auch im Herbst 1989 ausnahmslos jeder Lagebericht mit der Feststellung beginnt: „Die öffentliche Ordnung und Sicherheit war im Be- richtszeitraum durchgehend gewährleistet.“ Vielleicht ist dies aber schon eine ganz wesentliche Charakterisierung des Herbstes 1989: ein Umbruch in sehr geordneten Bahnen. Dennoch - die Ereignisse, die die Polizei im Herbst 1989 protokollieren mußte, machen die Lageberichte für diesen Zeitraum insgesamt zu einer spannenden Lektüre. In den ersten der hier wiedergegebenen Berichte spiegelt sich noch der so- zialistische Alltag wider, der einem neuen Höhepunkt zustrebt: dem vier- zigsten Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik. Doch schon gibt es einige Anzeichen für eine veränderte Stimmungslage. Nicht alle Festveranstaltungen im Bezirk verlaufen störungsfrei, es gibt vereinzelt Widersprüche, Kranzniederlegungen fallen aus. Einige Eltern aus dem Kreis Malchin weigern sich, ihre Kinder zum FDJ-Fackelzug nach Berlin zu schicken. Sie haben Angst vor gewaltsamen Ausschreitungen. Die Poli- 6 zei ist noch in der Lage, jede abgerissene Staatsflagge und jede staatsfeind- liche Losung zu protokollieren. Es scheint sich um Einzelfälle zu handeln, von einer richtigen Oppositionsbewegung ist nicht die Rede. Ungewöhnlich ist in diesen Oktobertagen allenfalls das Geschehen an der Grenze zu Polen. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hatte die Volks- polizei im Bezirk Neubrandenburg jeden Monat durchschnittlich einen so- genannten Grenzverletzer registriert, der von der DDR nach Polen wollte und etwa zwei in umgekehrter Richtung. Nun steigen diese Zahlen, zumin- dest aus der DDR in Richtung Polen, rapide an. Keineswegs ungewöhnlich, aber doch aufschlußreich sind die Ereignisse mit sowjetischen Soldaten: Verkehrsunfälle, Einbrüche, Wilderei und Flaggendiebstähle waren für die Volkspolizei schon vor 1989 Routinevor- fälle. Erst Mitte Oktober protokolliert die Volkspolizei öffentlich wirksame Ak- tivitäten des Neuen Forums und berichtet über ein Friedensgebet in der Johanniskirche in Neubrandenburg. In dieser Phase der Entwicklung orien- tiert man sich in der Volkspolizei auch auf die „verstärkte Einbeziehung von Stützpunkten (Waffen) der GST und anderer gesellschaftlicher Orga- nisationen“, was bedeutet, dass derartige Waffenstützpunkte vermehrt in die Kontrolltätigkeit der Volkspolizei einbezogen werden sollten. 1 Das Wehrbezirkskommando Neubrandenburg der Nationalen Volksarmee si- chert der Volkspolizei wenig später zu, erforderlichenfalls mit Waffenge- walt gegen innere Unruhen vorzugehen. 2 Die Lage eskaliert, und der La- gebericht vom 19. Oktober nennt die Kontrolle und Überwachung nament- lich kirchlicher Veranstaltungen erstmals ausdrücklich als eine „Hauptan- strengung“ polizeilicher Arbeit. Doch zu diesem Zeitpunkt läßt sich die Bürgerbewegung bereits nicht mehr aufhalten. In immer mehr Städten und Gemeinden finden jetzt Versammlungen, Friedensgebete, Kundgebungen und Gesprächsrunden statt. Unter den Volkspolizisten löst das zunehmend Verunsicherung aus. Anfang November scheint sich die Lage dann etwas zu entspannen. An- stelle brisanter politischer Forderungen treten nun Alltagssorgen in den 1 Vgl. unten, S. 61. 2 Nationale Volksarmee, Wehrbezirkskommando Neubrandenburg, Der Chef [General- major Heiland], 20.10.1989, an den Chef der BDVP Neubrandenburg, Generalmajor Kahmann: Standpunktäußerung, vorh. in: MLHA, BDVP Nbg. 1975-1990, Z 79/90, Bündel Nr. 181. 7 Vordergrund öffentlicher Diskussionen, beispielsweise schlechte Wohn- verhältnisse oder hartes Brot in den Konsum-Läden. 3 Damit scheint eine Taktik der Staatssicherheit aufgegangen zu sein, die planmäßig darauf hin- arbeitete, daß sich die Bürger mit kleinen Forderungen beschäftigten, um so von den großen Themen abzulenken. 4 Nach der Öffnung der Grenze am 9. November setzt sich die Entpolitisierung zunächst fort, läßt sich aber nicht durchhalten. Vielmehr rückt jetzt die Staatssicherheit selbst immer mehr in den Vordergrund der Bürgerproteste. Bislang hatte die Volkspoli- zei nur vereinzelt Bürgerproteste gegen das Ministerium für Staatssicher- heit (MfS) registriert, erstmals in ihrem Lagebericht vom 21. Oktober über eine Demonstration in Anklam. Doch den ersten größeren Protestmarsch zu einem Dienstsitz des MfS im Bezirk Neubrandenburg meldet die Volkspolizei erst am 11. November aus Teterow, wo am Vortag etwa drei- hundert Bürger gezielt vor der MfS-Kreisdienststelle gegen die Staatssi- cherheit demonstrierten. Am gleichen Tag berichtet die Volkspolizei da- von, daß sie von Bürgern mit Lob bedacht wird: Bürger äußern sich aner- kennend über die reibungslose Abfertigung ihrer Reiseanträge, und ein Pastor dankt bei der Dialogveranstaltung in Torgelow den anwesenden Volkspolizisten für ihren schutzpolizeilichen Streifendienst. Die demonst- rierenden Bürger sowie die Kirchen taugen für die Volkspolizei somit im- mer weniger als Feindbild. Letztmalig werden Bürger im VP-Lagebericht vom 8. November als „negativ“ und „feindlich“ eingestuft. Die Volkspoli- zei erfährt ihrerseits zunehmend Wohlwollen, während die Staatssicherheit nun das Ziel der Proteste wird. Damit beginnt eine bedeutende Entwicklung. Je mehr die Staatssicherheit unter Druck gerät, desto mehr Akzeptanz findet andererseits die Volkspo- lizei in der Bevölkerung. Den Lageberichten kann man entnehmen, wie sich die Volkspolizei jetzt von den Kollegen des MfS distanziert. Ab dem 19. November fehlt in den Lageberichten plötzlich der tägliche Hinweis auf die stabile Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Und während die Volkspolizei sich einerseits an der Auflösung des MfS beteiligt, beginnt sie andererseits, möglichst rasch und gründlich alle Spu- ren zu verwischen, die die enge Verbindung zum MfS und zur SED offen- legen könnten. Einzelne VP-Kreisämter, die nicht gründlich genug arbei- 3 Vgl. unten, S. 169. 4 Andreas Niemann und Walter Süß: „Gegen das Volk kann nichts mehr entschieden werden“. MfS und SED im Bezirk Neubrandenburg (= BStU (Hg.): BF informiert Nr. 12), Berlin 1996, S. 36. Diese Studie wurde in einer mehrmonatigen Fortsetzungsserie auch abgedruckt in der Wochenendbeilage des Nordkurier , im Wochenendkurier , je- weils auf S. 6, beginnend