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Rezensionen Ende der DDR hat nicht mehr erlebt, aber er hat es kom- men sehen. Daran erinnert Rainer Ep- Katja Havemann/Joachim Widmann: pelmann in seinem Motto zu diesem Robert Havemann Wie die DDR Buch: „Robert Havemann sagte: ‚Es sich erledigte, Ullstein Verlag, Mün- wird nicht mehr lange dauern, dann wird chen 2003, 430 Seiten, geb., 24 Euro. das Politbüro weggejagt.’ Ich kann heu- Robert Havemanns Biographie – ob- te sagen: Die Jäger hat er gezüchtet. Mir wohl schon mehrfach geschrieben und fallen nicht so viele ein, die maßgebli- noch mehrfach in Vorbereitung – weist che Rollen dabei gespielt haben, die noch immer Leerstellen auf, „weiße Fle- nicht in irgendeiner Weise von Robert cken“ auf der Landkarte seines Lebens. geprägt waren. Für eine bestimmte Auf manche ist bisher nur der Schatten Gruppe von Menschen war Grünheide von Aktenbergen gefallen, die die wie Mekka.“ Ein nach dem 11. Septem- Staatssicherheit über ihn aufgehäuft hat ber etwas befremdlicher Vergleich – er (300 Bände). Aber für ein klares Bild paßt besser auf religiöse Fundamentalis- braucht es Licht und Schatten, in diesem ten –, aber vielleicht doch nicht so weit Fall: das Licht der Erinnerung. Katja von der Sache, die auch Havemann und Joachim Widmann ha- in einem Gespräch mit Jürgen Fuchs mit ben es für ein Buch gebündelt, das die einem religiösen Vergleich beschrieb: dramatischen Jahre nach dem Berufs- „Die Freundschaft von zweien wie uns verbot und Havemanns Rolle in der ent- war ein Gottesbeweis, und das spürten stehenden Bürgerbewegung der DDR die auch.“ Er meine „die“, die besser als beleuchtet. Neben Katja Havemanns ei- alle Christen zu wissen glaubten, wo genen Erinnerungen liegen dem Buch Gott wohnt: im Zentralkomitee. vierundzwanzig Zeitzeugengespräche Für ihr Buch haben die Autoren die aus den Jahren 2000 bis 2002 zugrunde, Form der Chronik gewählt, in der die unter anderem Gespräche mit Wolf eigenen Erinnerungen mit denen der Biermann, Bärbel Bohley, Rainer Ep- Zeitzeugen, mit Rückblenden und Ak- pelmann, Margret Frosch, Karin und tenfunden vermischt und verdichtet Manfred Wilke und Lilo Fuchs, die hier sind. Das wird die Leser des Ullstein nicht nur für sich spricht: Daß dieses Verlags mehr erfreuen als die Histori- Buch zu spät kam, um Jürgen Fuchs – ker, die gern jede einzelne Mitteilung den Meister des Gedächtnisprotokolls – ihrer Quelle zuordnen würden; aber das noch zu befragen, läßt eine letzte Leer- Buch hat dafür einen vernünftigen stelle, die nicht mehr zu schließen ist. Kompromiß mit sparsamen Fußnoten „Gedächtnisprotokolle“ hieß das in Jena und typographischer Heraushebung von und Grünheide entstandene Buch, das Dokumenten gefunden, mit dem Leser einige der befragten Zeitzeugen 1977 im und wissenschaftliche Nutzer einver- Westen herausbrachten, als Fuchs schon standen sein können. Das Verfahren aus Havemanns Auto heraus verhaftet zwingt Katja Havemann auch, von sich war – gewissermaßen stellvertretend für in der dritten Person zu berichten („Als Havemann selbst, an den sich die die Studentin Annedore Grafe, genannt Staatssicherheit so direkt nicht heran- Katja, 22jährig zum ersten Mal nach wagte. Grünheide kam, war ihr das ein Bedürf- Die dramatischen Stunden im November nis und zugleich eine kaum überwindba- 1976 eröffnen das Buch, und hier be- re Hürde“). Aber das gestattet ihr auch, ginnt tatsächlich, was sein Untertitel be- in die Rolle einer Zeitzeugin zurückzu- nennt: Wie sich die DDR erledigte. Das treten, statt die Memoiren einer Witwe

168 ZdF 14/2003 auszubreiten. Nur selten verteilt sie Sei- zugehen. Mit einem Kollegen machte tenhiebe (wie auf den in Havemanns ich mich auf den Weg, wir haben bei Fall wenig standhaften Stefan Heym), Havemann geklopft. Er bat uns rein […] und Manfred Krug verzeiht sie sogar, Deshalb war sein Haus so gastfreund- daß er Robert Havemann im Zorn über lich, weil der Atheist Havemann einen eine Autokarambolage drei Zähne aus- unwahrscheinlichen missionarischen Ei- schlug. Havemann selbst hat der Staats- fer hatte, genau wie ich. Darin trafen wir sicherheit nicht den Gefallen getan, ge- uns.“ So fing es an, und es endete mit gen Krug vor Gericht zu ziehen: „Es gab dem gemeinsam formulierten Berliner keine Anzeige, keine Schadensersatz- Appell von 1982, der letzten öffentlich klage. Der Feind meiner Feinde ist mein wirksamen Aktion Robert Havemanns. Freund.“ Auch diesmal wagten SED und Staatssi- Nach diesem Prinzip haben auch Wolf cherheit nicht, sich an Robert Havemann Biermann und er immer wieder zusam- zu vergreifen, sondern nahmen statt sei- mengefunden, auch nach schweren ner Eppelmann mit – samt dessen Meinungsverschiedenheiten, in denen Schreibmaschine, die einige Tage später sie nach dem Zeugnis Katja Havemanns zurückgegeben wurde. Pech für die Sta- Anfang der 70er Jahre „länger als ein si: Der Appell war auf Havemanns Jahr kein Wort wechselten.“ Biermann Schreibmaschine getippt worden. verübelte Havemann einen Vergleich Beide Weggefährten, Wolf Biermann der DDR mit der Nazi-Zeit, nach dem – und , sind sich am Originalton Biermann – „zwischen uns Krankenbett Robert Havemanns noch absolute Funkstille“ herrschte. Nur ihr begegnet. Über die damals sensationelle und seiner Tochter Sibylle habe Robert Einreise Biermanns teilt das Buch in Havemann „immer vorgejammert, wie nüchterner Chronik mit, was es – nach schrecklich das ist ohne Wolf.“ Erst im allem darüber Geschriebenen – noch zu Februar 1973 schrieb er ihm einen Brief, berichten gibt; auch die Anekdote Rai- „ach Wolf ist doch Scheiße, meinste ner Eppelmanns, der sich Robert Have- nicht“, den Biermann mit der Rückkehr manns Auto ausgeliehen hatte und von nach Grünheide beantwortete: „Es ent- der Staatssicherheit auf der Autobahn sprach ganz und gar meinen Interessen. verfolgt wurde, weil sie Wolf Biermann Es war uns klar bewußt: Wenn wir zu- darin vermuteten. „Wir bogen in Rich- sammen waren, waren wir das Vielfache tung Dresden ab und sahen, wie die von dem, was zwei Leute unseres Kali- Richtung Cottbus weiterfuhren. Als sie bers anrichten konnten im Streit mit den das merkten, begingen sie eines der Herrschenden. Und das sahen die auch schwersten Verbrechen, die die DDR so.“ kannte: Sie drehten auf der Autobahn So ähnlich wird es sich wohl verhalten über den Grünstreifen, um uns wieder haben bei Havemanns Freundschaft und zu kriegen.“ Da übertreibt Eppelmann: Bündnis mit Rainer Eppelmann in den Das schwerste Verbrechen hatten die 80er Jahren. Was hatten ein Pfarrer und drei – Havemann, Biermann und Ep- der bekennende Atheist Havemann ge- pelmann – selbst begangen, in Tatein- meinsam? Vor allem Feinde. Es war ei- heit mit Havemanns Ehefrau Katja: Die ne Diskussion unter Pfarrern zum The- Herrschaft der SED in Frage zu stellen. ma „Außenseiter“, die Eppelmann auf Wie das möglich war, dafür ist Robert den Gedanken brachte, „vielleicht auch Havemanns Biographie exemplarisch. mit einem zu reden, von dem behauptet wurde, daß er ein Außenseiter ist. Wir Hannes Schwenger brauchten ja nur ein paar Häuser weiter-

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Ernst von Waldenfels: Der Spion, der der Hölle erschien, war die Wirkung nur aus Deutschland kam. Das geheime noch marginal – vermutlich hatte der Leben des Seemanns Richard Krebs. Verlag Kiepenheuer & Witsch damals Aufbau Verlag, 2002, 382 S., auf Kürzungen bestanden, aber hinzu 22,50 Euro. kam der Einfluß von Personen wie Al- Ernst von Waldenfels hat in deutschen, bert Walter oder Ruth Fischer, die die amerikanischen und russischen Archi- Publikation einiger sie selbst betreffen- ven die Biographie eines Mannes er- der Passagen verhinderten. Die politi- forscht, der für eine internationale Un- schen Rezensenten hielten sich zurück, terwelt steht, die im Schatten der totali- unter ihnen auch die Exkommunisten: tären Diktaturen entstanden war: die Mit jener kommunistischen Bewegung, Welt der politischen Instrukteure der wie Krebs sie unter dem Pseudonym Jan Komintern, der Saboteure und Partei- Valtin beschrieben hatte, wollte man soldaten, der kommunistischen Apparate nichts zu tun haben. Als antikommunis- und der politischen Polizeien. Ihre Ak- tisches Manifest war das Buch nicht teure tauchen, wenn überhaupt, nur am tauglich, da die Geschichte, die es er- Rande der geläufigen Geschichtsbilder zählte, alle gewohnten politischen Kli- und Parteigeschichten auf, in denen schees sprengte. „Galionsfiguren“ wie Ernst Thälmann Richard Krebs, Jahrgang 1905, ist schon oder Georgi Dimitroff die Hauptrolle als Kind durch die Welt gekommen – spielen. Da Männer wie Richard Krebs sein Vater war Kapitän im Dienst des eine schlichte politische Biographie zur norddeutschen Lloyd. Nach dessen Tod Tarnung benutzten, konnte es gesche- tritt er, wie viele bürgerliche Zeitgenos- hen, daß er von vielen Zeitzeugen, wie sen, in die KPD ein und kommt als beispielsweise von Herbert Wehner, als Seemann mit den frühen Geheimappara- bedeutungslose Figur oder Phantast ab- ten der deutschen und sowjetischen Par- getan wurde. Andere, die seine eigentli- tei in Berührung. Seine Aufträge führen che Funktion ahnten oder kannten, ha- ihn rund um die Welt, eine Odyssee ben ihn publizistisch attackiert (wie (ohne Ithaka) durch den kommunisti- Ernst Bloch im Januar 1942) oder totge- schen Untergrund Europas und Ameri- schwiegen. Obwohl sein Buch Out of kas, die ihm 1926 eine Gefängnisstrafe the Night , das er Anfang der 40er Jahre in San Quentin einbringt, wo er Jack in den USA geschrieben hatte, nicht zu- London und Joseph Conrad liest und zu letzt durch einen Teilabdruck in Readers schreiben beginnt. Aber er stellt seinen Digest eine Millionenauflage erreichte Traum, Schriftsteller zu werden, zurück, und zu einem der großen Bestseller sei- um wieder in die Dienste der Komintern ner Zeit wurde – gelobt von Pearl S. zu treten. 1932 erreicht er als politischer Buck bis H.G.Wells – blieb es von der Instrukteur (Krebs spricht vom „reisen- Exilliteraturforschung ausgeklammert. den Offizierskorps der dritten Internati- Krebs wurde nicht wahrgenommen, weil onale“) den Gipfel seiner Laufbahn, er sich nicht in die gewohnten politi- verwickelt in Operationen des militäri- schen Bilder fügte und weil die Denun- schen Geheimdienstes der Sowjets ziation immer noch wirksam war („Out (GRU), beteiligt auch an Mordaktionen of the Sewer – Aus dem Abfluß“ – unter der Apparate gegen Nazis. Ernst Woll- diesem Titel war das Buch in der kom- weber (ein späterer -Chef der munistischen Zeitschrift New Masses DDR) sendet ihn im November 1933 zu rezensiert worden). Als 1957 die um einem Auftrag nach Deutschland, wo er viele brisante Passagen gekürzte deut- in die Fänge seiner Gegner gerät; er sche Ausgabe des Buches als Tagebuch wird gefoltert und läßt sich im Konzent-

170 ZdF 14/2003 rationslager im Auftrag der Komintern endet als die bedrückende Geschichte „umdrehen“. Er beginnt ein Doppel- von der Selbstzerstörung der Linken o- spiel, wie es zuvor auch Anton Saefkow der, wie Ernst von Waldenfels schreibt, und andere kommunistische Akteure als „ein zorniges Manifest gegen den gewagt hatten. Seine Frau bleibt als Zynismus der Funktionäre und die men- Geisel der Nazis in Deutschland zurück; schenverachtenden Praktiken der Kom- Krebs liefert von der Komintern-Zentra- intern“. Die Geschichte von Brechts le in Kopenhagen gefälschtes Material Lehrstück Die Maßnahme von der par- an die Deutschen. Als er aus Angst, sei- teiinternen Hinrichtung eines Genossen ne Frau zu gefährden, flieht, wird er von im chinesischen Bürgerkrieg kehrt hun- Gestapo und NKWD gejagt, auch noch dertfach wieder: als europäischer Partei- in den USA. Er kann dort seine Spuren alltag. verwischen und untertauchen. Dann Ernst von Waldenfels ist ein mehrfaches wählt er, unterstützt von alten Genossen, Wagnis eingegangen: Er schreibt über darunter dem deutschen Anarchisten einen Autor, dessen aufregender autobi- Robert Bek-Gran, ein Freund ographischer Roman alle Faszination B.Travens, einen für seine Zeit nicht un- auf sich zieht, und er schreibt gleich- typischen Ausweg: mit einer „Autobio- wohl über eine vergessene Gestalt. Er graphie“ wendet er sich an die amerika- hat sich ein Thema gewählt, das vor der nische Öffentlichkeit und bittet so um teilweisen Öffnung der sowjetischen politisches Asyl. Archive in den 90ern als Seemannsgarn, „Mit achtzehn war ich mir wie ein Riese als Greuelmärchen und Propaganda ab- vorgekommen. Mit einundzwanzig war getan wurde. Die Frage nach der Wahr- alles ganz einfach: ‚Eine Handgranate heit des Berichtes von Krebs-Valtin löst ins Gesicht der Gegenrevolution!’ Mit der Autor geschickt, indem er von dem zweiundzwanzig machten die Polizeibe- synthetischen Helden „Valtin“ spricht, hörden von einem halben Dutzend Nati- einer Kunstfigur, zusammengebaut aus onen auf mich Jagd, weil sie in mir den autobiographischen Elementen und von Hauptunruhestifter der Komintern an Geschichten, die Krebs nur vom Hören- den Küsten Europas sahen. Mit einund- sagen kannte. Out of the Night wird zum dreißig war ich beschäftigt, Hitlers Ge- Roman erklärt. Darin spiegelt sich das fängnisse in Schulen für den proletari- Dilemma, in dem Krebs gesteckt hat, als schen Internationalismus zu verwandeln. er im März 1938 illegal in den USA Und jetzt, mit dreiunddreißig, stand ich landete. Mit dem Buch, das zwischen vor der Frage: ‚War das alles Lüge ge- Geständnis und Verschweigen balan- wesen, ein elender Spuk?’ Niemand ciert, versuchte er sich den Eintritt in kann sich selbst die Haut abziehen“ – das Land zu erkaufen, dessen Justizbe- schreibt Krebs am Ende seines Buches, hörden ihm die Einreise untersagt hat- das wie wenige andere den Blick auf die ten. Er wollte den Vorwurf der KP wi- politische Geschichte der totalitären derlegen, Gestapo-Agent zu sein; er Systeme verändert, ein Thriller, dem wollte seine Angehörigen schützen und man einige Nächte opfert, in seinen bes- seine ehemaligen Genossen vor dem ten Passagen vergleichbar mit Romanen Zugriff von Gestapo und NKWD, aber von Joseph Conrad oder Eric Ambler, er wollte als Jan Valtin auch kein Mate- eine Saga der Komintern, die es mit rial gegen sich selbst liefern. Manès Sperbers Wie eine Träne im Oze- Der Autor nähert sich dem Thema und an nicht nur literarisch aufnehmen kann. dem Objekt seiner Biographie mit einer Was als ein Abenteuerroman beginnt, Mischung aus Vorsicht und nur leicht der von wilden Seeräubereien handelt, verborgener Sympathie (so spricht er

Rezensionen 171 von einem „raffinierten Schachzug“ o- Weltrevolution über sich ergehen lassen. der einem „genialen Manöver“ seines Im Sommer 1970 hielt er das nicht mehr Helden). Spätestens dann, wenn es um aus. Er kaufte sich eine Flugkarte nach die Frage des Doppelspiels geht, in das Beirut und begab sich, nachdem er dort Krebs-Valtin in den Nazi-Gefängnissen eingetroffen war, schnurstracks in das hineingezogen wurde, gewinnt die Bio- Redaktionsbüro von Al Hadaf („Das graphie eine Intensität, die Genauigkeit Ziel“). Diese Zeitung war das Zentralor- und Einfühlung verbindet. Nicht ohne gan der Volksfront für die Befreiung Pa- Faszination, aber mit analytischer lästinas (PFLP), einer militanten PLO- Schärfe untersucht er hier, wo die Ar- Fraktion, die seit 1968 durch mehrere chive schweigen (die Akten der Ham- spektakuläre Flugzeugentführungen von burger Gestapo verbrannten im Zweiten sich reden gemacht hatte. Für den Press- Weltkrieg), das Doppelspiel eines Ak- echef der PFLP, Bassam Abu Sharif, teurs, der, wie so viele andere, nicht zu war das Auftauchen des jungen Venezo- begreifen vermochte, daß er zum Bau- laners mit dem Babygesicht zunächst ernopfer geworden war im Fernduell ein Routinevorgang. Junge Männer aus zwischen den stalinistischen und nazisti- aller Welt, die sich als Freiwillige einer schen Apparaten. Von Waldenfels hat Kommandoeinheit der PFLP anschlie- ein packendes und mutiges Buch vorge- ßen wollten, gaben sich in der Beiruter legt, dem eine bessere Rezeption ge- PFLP-Anlaufstelle die Klinke in die bührt, als sie Krebs’ Tagebuch der Hölle Hand. Als Sánchez jedoch erklärte, er beschieden war. könne gegebenenfalls auch von London Michael Rohrwasser aus operieren, merkte Sharif auf. Er brauchte nämlich Leute, die sich in Oliver Schröm: Im Schatten des westlichen Ländern bewegen konnten, Schakals. Carlos und die Wegbereiter ohne wegen ihrer arabischen Herkunft des internationalen Terrorismus. Ch. dem besonderen Augenmerk der Sicher- Links Verlag, Berlin 2002, 334 S., heitsbehörden zu unterliegen. Sánchez 17,50 Euro. wurde rekrutiert und zur Grundausbil- dung in ein PFLP-Camp in die jordani- Das Studium an der Moskauer Lumum- sche Wüste geschickt. Vor seiner Abrei- ba-Universität konnte den Tatendrang se dorthin, verlieh ihm Sharif den des jungen Venezolaners Ilich Ramirez Kampfnahmen Carlos, unter dem es der Sánchez nicht befriedigen. Die Suche Venezolaner bald zu zweifelhaftem nach einer revolutionären Ausbildung Weltruhm bringen sollte. hatte Sánchez Ende der 60er Jahre in die Sowjetunion geführt. Doch dort war das Der erste Anschlag, den Carlos für die Feuer des „Roten Oktober“ längst erkal- PFLP ausführte, war ein Mordattentat. tet und langweilige Bürokraten predig- Im Dezember 1973 drang er völlig allein ten die Lehre jenes Mannes, den Vater in das Haus des Unternehmers Joseph Sánchez im Oktober 1949 zum Na- Sieff ein und schoß seinem Opfer mit menspatron seines Sohnes gemacht hat- einer Pistole in den Kopf. Sieff wurde te. Während in vielen Ländern der Drit- von der PFLP als Anschlagopfer ausge- ten Welt „nationale Befreiungsbewe- wählt, weil er Präsident der englischen gungen“ von sich reden machten, denen Zionistenvereinigung war. Sieff überleb- der bewaffnete Kampf als Credo ihrer te das Attentat schwer verletzt. Der revolutionären Ideologie galt, saß Ilich PFLP-Führer Wadi Haddad war jedoch Ramirez Sánchez im langweiligen Mos- von dem kaltschnäuzigen Vorgehen sei- kau fest und mußte in verstaubten nes Terrordebütanten derart beeindruckt, Hörsälen verstaubte Lehrsätze über die daß er ihn zum stellvertretenden Euro-

172 ZdF 14/2003 pachef seiner Organisation machte. Ge- aller OPEC-Staaten. Carlos führte die meinsam mit dem Libanesen Michel Gruppe an, der zwei Palästinenser und Moukarbel knüpfte Carlos fortan das drei Deutsche angehörten. Die beteilig- Kontaktnetz zu den bewaffneten Forma- ten Deutschen waren Gabriele Kröcher- tionen des europäischen Untergrundes, Tiedemann, Mitglied der Bewegung 2. nach Deutschland zur Roten Armee Juni, sowie die RZ-Mitglieder Wilfried Fraktion (RAF), zur Bewegung 2. Juni Böse und Hans-Joachim Klein. Bei dem und zu den Revolutionären Zellen (RZ). Überfall auf das Wiener Konferenzge- Darüber hinaus bereitete Carlos weitere bäude erschoß Kröcher-Tiedemann, die Anschläge vor. Am 14. September 1974 erste sechs Monate zuvor gegen den ent- warf er eine Handgranate in ein gut be- führten Berliner CDU-Vorsitzenden Pe- suchtes Pariser Café. Der Anschlag kos- ter Lorenz aus der Haft freigepreßt wor- tete zwei Menschenleben und 34 den war, kaltblütig zwei Sicherheitsbe- Schwerverletzte. Mit dem Attentat, das amte. Später stellte sich heraus, daß Car- Carlos wiederum völlig allein ausführte, los den Überfall und die anschließende sollte eine Aktion der Japanischen Ro- Geiselnahme mit der libyschen Geheim- ten Armee unterstützt werden, die einen polizei koordiniert hatte. Das Überfall- Tag zuvor die französische Botschaft in kommando ließ sich mit mehreren Öl- Den Haag besetzt hatte, um ihr in Paris ministern als Geiseln nach Algerien aus- inhaftiertes Mitglied Yutuka Euraya fliegen und verschwand von dort aus freizupressen. Carlos lieferte den japani- wieder im arabischen Untergrund. schen Terroristen dafür Handgranaten, Im März 1979 tauchte Carlos gemein- die aus einem RZ-Einbruch in ein ame- sam mit seiner deutschen Frau Magda- rikanisches Waffendepot stammten. lena Kopp und dem RZ-Mitglied Johan- Am 23. Juni 1975 nahm die französi- nes Weinrich in Ost-Berlin auf. Die drei sche Spionageabwehr DST den Euro- Terroristen waren mit Diplomatenpäs- pachef der PFLP Michel Moukarbel sen arabischer Staaten eingereist und lo- fest. Nachdem sie ihn vier Tage ver- gierten im Hotel Stadt Berlin am Ale- nommen hatten, fuhren drei DST- xanderplatz. Die für Terrorabwehr zu- Beamte Moukarbel zu einer Wohnung, ständige Hauptabteilung XXII des MfS in der sich der PFLP-Mann zuvor auf- beschattete die Gruppe rund um die Uhr. gehalten hatte. Dort öffnete ihnen Sán- Am 5. Mai 1979 schrieb Stasi-Major chez die Tür und bat die Gruppe, einzu- Helmut Voigt einen zusammenfassen- treten. Als sie ihn aufforderten, sich mit den Bericht über die Ermittlungsergeb- ihnen und Moukarbel ins Polizeirevier nisse seiner Überwachungstrupps. Je ein zu begeben, zog er eine Waffe und Exemplar davon erhielten Erich Mielke schoß die drei Beamten nieder. Danach und sein Stellvertreter Gerhard Neiber, trat er an Michel Moukarbel heran und ein weiteres HVA-Chef Markus Wolf. tötete ihn durch einen Kopfschuß. Am In dem Ermittlungsbericht hielt Voigt nächsten Tag landete Carlos mit ge- fest, daß palästinensische und westliche fälschten Papieren in Algier und machte Terrororganisationen Vorbereitungen sich nach einem kurzen Urlaub von dort trafen, um „das Territorium der DDR als aus auf den Weg zum PFLP-Stützpunkt logistischen Stützpunkt und als Aus- in Aden. Dort brütete er gemeinsam mit gangsbasis für die Durchführung von PFLP-Chef Wali Haddad einen spekta- Gewaltakten in Westeuropa nutzen“ zu kulären Anschlag aus. können. Voigt und seine Leute hatten Am 21. Dezember 1975 überfiel ein herausgefunden, daß sich Carlos, Kopp sechsköpfiges Terrorkommando die in und Weinrich in Ost-Berlin mit Abge- Wien tagende Konferenz der Ölminister sandten der Revolutionären Zellen, der

Rezensionen 173 italienischen Roten Brigaden und der Bundesrepublik übergeben. Er erhielt im ETA getroffen hatten und Carlos Kon- Januar 2000 wegen fünffachen Mord- takte zu Residenten mehrerer nahöstli- versuchs eine lebenslängliche Haftstra- cher Geheimdienste und der PLO unter- fe, gegen Carlos verhängte ein französi- hielt. Er traf nach Erkenntnissen des sches Gericht wegen dreifachen Mordes MfS auch mit Arafats Sicherheitschef das gleiche Urteil, Hans-Joachim Klein Abu Daud zusammen, der 1972 bei dem wurde im Januar 2001 vom Landgericht Massaker, das palästinensische Terroris- am Main zu vierzehn Jahren ten während der Olympischen Spiele in Gefängnis verurteilt. Magdalene Kopp München verübten, seine Finger im stellte sich 1995 in Venezuela und kehr- Spiel hatte. te mit ihrer Tochter nach Deutschland Wie Carlos und seine Gruppe in der fol- zurück. Sie lebt heute in Hannover. Ihre genden Zeit von Ost-Berlin und Buda- umfangreichen Aussagen hellten den pest aus unter den Augen diverser Erkenntnisstand der Berliner und Pariser „kommunistischer Bruderorgane“ Akti- Staatsanwaltschaften über die von Car- onen in Westeuropa vorbereiten und los geführte „Organisation Internationa- ausführen konnte, hat Oliver Schröm ler Revolutionäre“ weiter auf. Carlos, minutiös in seiner Carlos-Biographie re- der unterdessen die Scheidung von Frau konstruiert. Es hat lange gedauert, bis Kopp eingereicht hat, schrieb nach den das internationale Terrornetzwerk, für Terroranschlägen vom 11. September das Ilich Ramirez Sánchez mit Bomben 2001 in seiner Zelle eine Erklärung nie- und Pistolen gekämpft hatte, außer Ge- der, die mit dem Satz endete: „Der fecht gesetzt war. Schröms Buch ent- Kampf Osama bin Ladens ist mein hüllt, von welchen interessierten Dritten Kampf.“ die Carlos-Gruppe Unterstützung er- Jochen Staadt hielt. Neben allen möglichen Geheim- diensten und Untergrundorganisationen gehörte dazu auch der Schweizer Hit- lerverehrer François Genoud, der sein Geld unter anderem mit dem Verkauf von Rechten an den Goebbels- Tagebüchern gemacht hatte. Nur einer der Carlos-Helfer aus dem Geheim- dienstmilieu ist bislang bestraft worden. Am 11. April 1994 verurteilte das Berli- ner Landgericht den Stasi-Offizier Hel- mut Voigt wegen „Beihilfe zum Mord und zur Herbeiführung einer Spreng- stoffexplosion“ zu vier Jahren Gefäng- nis. Erst nachdem Carlos und seiner Bande die osteuropäischen Rückzugs- räume weggebrochen waren und für vie- le arabische Staaten die Duldung oder gar Unterstützung des Terrornetzwerks wegen des internationalem Drucks zu brisant wurde, gingen Carlos und meh- rere seiner Mittäter den westlichen Si- cherheitsdiensten ins Netz. Johannes Weinrich wurde 1995 vom Jemen an die

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Frank Schumann (Hg.): Lotte Ul- Idee einer gerechteren Welt.“ Margot bricht. Mein Leben – Selbstzeugnisse, Honecker konzediert er, wenigstens für Briefe und Dokumente. Verlag Das die letzten zwei Jahre ihrer Amtsfüh- Neue Berlin, Berlin 2003, 288 S., geb., rung, für „das Ziel, den Sozialismus zu 17, 50 Euro. retten, zumindest einen Beitrag“ dazu geleistet zu haben. „Sie hat es wenigs- Ed Stuhler: Margot Honecker. Eine tens versucht, könnte man sagen.“ Biografie. Überreuter Verlag, Wien Das könnte man auch über die beiden 2003, 224 S., geb., 19,95 Euro. Bücher sagen, die – jedes in seiner Wei- Sie waren die First Lady und die Last se – mehr vom politischen Standort ihrer Lady der DDR – Lotte Ulbricht und Verfasser als von der Biographie der Margot Honecker. Das allein genügt, Porträtierten verraten. Im Falle Lotte um biographisches Interesse zu wecken, Ulbrichts ist das fast selbstverständlich, unabhängig vom Rang ihrer Persönlich- denn ihr Buch besteht zu zwei Dritteln keit und ihrem eigenen Publizitätsbe- aus Freundesgrüßen und Fanpost („Ihr dürfnis. Lotte Ulbricht scheint davon stets ergebener Peter Hacks“). Was die wenig verspürt zu haben, denn sie hat zu Freunde über ihr politisches Weltbild Lebzeiten nicht einmal jene knappen berichten, gleicht einem Holzschnitt: Aufzeichnungen veröffentlicht, die sie „Gorbatschow – ein Verräter, Castro – als 94jährige begonnen und bis zu ihrem ein Idol.“ Bis zuletzt liest sie nur das Tod mehrfach redigiert hat. Sie bilden Neue Deutschland – mit dem Rotstift in zusammen mit Briefen, Fotos und Do- der Hand. Gysi hält sie für einen Win- kumenten den Kern eines anspruchsvoll keladvokaten, Kurt Hager für einen „Mein Leben“ betitelten Buches, das Lügner, weil er behaupte, Ulbricht sei nach der Überzeugung des Herausgebers zum Rücktritt gezwungen worden. Den Frank Schumann ermöglicht, „diese habe er vielmehr Breschnew selbst an- vielschichtige und vielseitige Persön- geboten. Daß er im geheimen mit Dub- lichkeit des 20. Jahrhunderts postum zu ček sympathisiert habe, ist allerdings ei- entdecken.“ ne Legende, die der Herausgeber ohne Auch Margot Honecker hat auf den Plan Quellenangabe für „bezeugt“ hält. ihrer Biographie durch Ed Stuhler – ei- Lotte Ulbricht selbst hat in den neun nen Freund des umstrittenen Wende- Seiten ihrer eigenen Aufzeichnung we- Begleiters der Honeckers, Reinhold An- nig mehr mitzuteilen als das Dementi ih- dert – mit der knappen Antwort reagiert, res angeblichen Umzugs in die Schweiz „daß ich für Ihr Projekt nicht zur Verfü- und daß sie ihren Mann „politisch nega- gung stehe.“ Auch nicht für eine Befra- tiv“ beeinflußt habe. Nur beim Eislauf gung: Stuhler zitiert sie mit der Äuße- in Moskau 1935 habe sie ihm gezeigt, rung, sie wolle keine Fragen von Auto- „warum seine Haltung beim Bogenfah- ren beantworten, „deren Absicht letzt- ren falsch sei und was er verändern lich nur darin besteht, den Feldzug ge- müsse.“ Alles andere: Lügen und Ver- gen den Sozialismus fortzusetzen.“ Das leumdung von Renegaten, Parteifeinden sei, beteuert Stuhler, auch nicht seine und unwissenden Parteifreunden. „Wal- Absicht gewesen. Das können wir ihm ter Ulbricht hatte nämlich die Ange- ebenso wie Frank Schumann ohne wei- wohnheit, zu Hause über seine Arbeit teres glauben, wenn er am Ende seines nicht zu sprechen. Und die hat er bis an Buches bekennt: „Die Idee des Sozia- sein Lebensende beibehalten. Etwas, das lismus ist mit dem Ende der DDR und ich gar nicht im Detail kannte – nämlich der anderen sozialistischen Staaten ge- die politischen Überlegungen und Ent- wiß nicht gestorben – es ist letztlich die scheidungen meines Mannes – konnte

Rezensionen 177 ich weder politisch negativ noch positiv Haartönung – die „blaue Eminenz“ der beeinflussen.“ Ja, sie war von 1948 bis DDR, die zumindest deren Bildungspo- 1953 auf eigenen Vorschlag seine per- litik bis zum Ende bestimmte. Gleich- sönliche Mitarbeiterin im ZK, aber das zeitig zitiert er genüßlich den letzten Be- hatte im Gegenteil „für meine eigene richt der Bundesregierung zur Lage der politische Entwicklung große Bedeu- geteilten Nation mit der Feststellung, tung. […] Natürlich habe ich Walter „daß die in der DDR früher erfolgte Bil- stets meine Meinung gesagt, wenn er sie dungsexpansion und die konsequenten wissen wollte.“ Beispiel: „Bevor die HO Bemühungen um einen beruflichen Ab- gegründet wurde, fragte er mich, ob die schluß für alle Jugendlichen der DDR- Bezeichnung Handelsorganisation oder Bevölkerung einen Qualitätsvorsprung Handelsgesellschaft heißen sollte. Ich gegenüber der BRD eingebracht haben.“ war für Handelsorganisation, um die Er- Man könne Margot Honecker vieles innerung an die kapitalistische GmbH. vorwerfen, „nicht aber, daß ihr Kompe- zu vermeiden.“ Die ihr zugeschriebene tenz und ehrliches Bemühen gefehlt hät- Urheberschaft für die Parole „Überholen ten.“ Von ihrem Mitarbeiter Klaus Korn ohne einzuholen“ bestreitet der Heraus- will Ed Stuhler sogar erfahren haben, sie geber; sie stamme vom Vorsitzenden habe Mielkes Stasi aus den Schulen des DDR-Wirtschaftsrates, Peter A. fernhalten wollen; sie werde „dem Ge- Thiessen; der freilich „unterhielt zu bei- nossen Mielke sagen, daß er seine Fin- den Ulbrichts ein gutes Verhältnis.“ An- ger herauszulassen hat aus meinem Be- ders als Margot Honecker, von der sie reich.“ Markus Wolf zitiert er mit der bis zuletzt vergeblich Post aus dem chi- Bemerkung, Mielke habe seinerseits in lenischen Exil erwartete; ihr selbst zu Margot Honecker „den absoluten bösen schreiben, „gestattete ihr Stolz nicht.“ Geist“ gesehen. Entlastungszeugen oder Auch Margot Honecker will übrigens zu ein Trio Infernal? Hause mit ihrem Mann nicht über das Stuhler selbst bekräftigt im Vorwort, Politbüro gesprochen haben. Aber das „daß der Zeitzeuge der Feind des Histo- geht selbst ihrem Biografen zu weit, der rikers sei.“ Das hindert ihn nicht, gele- sie lieber gegen sie selbst in Schutz gentlich auch die Masseuse der Ministe- nehmen möchte: „Sie ist nicht der Typ rin als Kronzeugin zu bemühen oder gebildete Hausfrau, wie man das bei Po- Klatsch und Tratsch über ihre – wenig litikern im Westen oft beobachten kann, aufregenden – Männergeschichten aus- kein Heimchen, das sich mit irgendwel- zubreiten. Und woher kommen die als chen Ehrenämtern zufrieden geben wür- kleine Sensation präsentierten Angaben de. Sie ist eine wache, kluge, politisch über die legendäre erste Ehe ihres Man- denkende und energische Frau, und es nes mit einer Gefängnisaufseherin, de- wäre unnatürlich, wenn sich Honecker ren Namen und das Datum der Ehe- nicht in vielen Fragen mit ihr beraten schließung er erstmals nennt – wenn er hätte. Ihre schon zitierte Behauptung, das im Buch präsentierte Dokument daß Politbürositzungen zu Hause tabu selbst als „Montage“ bezeichnet? Die gewesen seien, ist völlig unglaubwür- angebliche – von Götz Berger behaupte- dig.“ Stuhler schenkt Margot Honecker te – Scheidung der beiden Honeckers nichts, gerade weil er das Bild dieser 1970 kann auch er nicht belegen. „Do- ungeliebten Zuchtmeisterin seiner Stu- kumente, die eine Scheidung beweisen, dienzeit an der Humboldt-Universität waren jedenfalls keine zu finden“, auch für die gute Sache des Sozialismus ret- nicht als Montage. Viel interessanter ten will. Sie ist für ihn einerseits – in sind denn auch die besser belegten De- boshafter Anspielung auf ihre damalige tails aus dem politischen Leben der Ho-

178 ZdF 14/2003 neckers, darunter ihre Rolle bei der für Jörg Siegmund: Opfer ohne Lobby? die Kulturgeschichte der DDR schick- Ziele, Strukturen und Arbeitsweise salhaften Inszenierung des 11. Plenums, der Verbände der Opfer des DDR- bei dem die beiden Honeckers als Ein- Unrechts. BWV Berliner Wissen- peitscher und Claqueure auftraten. Stuh- schafts-Verlag, Berlin 2002, 192 S., 25 ler hat dafür den wichtigsten – inzwi- Euro. schen 74jährigen – Zeitzeugen Kurt Reiner Eppelmann legt schon in seinem Turba aufgetrieben, das erste Bauernop- Geleitwort den Finger in die Wunde: fer bei der Inthronisierung einer Kultur- Die Opferverbände werden nur dann politik, deren prominentestes Opfer Gehör finden, wenn sie sich auf gemein- Wolf Biermann wurde. In seinem Fall same Ziele einigen und vor allem mit waren sich die First und die Last Lady einer Stimme sprechen. Daß die Ver- der DDR sogar einmal einig: „Kurt, du bände weit davon entfernt sind, zieht hast nichts begriffen!“ soll Lotte Ul- sich wie ein roter Faden durch Jörg bricht den einstigen Günstling ihres Siegmunds Buch. Das ist die eine Er- Mannes nach dem 11. Plenum ange- kenntnis. Die andere: Siegmund selbst faucht haben. Auch zu Wolf Biermanns berichtet, daß er eher beiläufig auf das Jugendfreundschaft mit Margot Feist- Thema „Opferverbände“ gestoßen sei. Honecker kann Ed Stuhler Konkreteres Und er bekennt, daß es vor allem die in mitteilen als die aufgebauschten Legen- Briefen geschilderten Verfolgungs- den seines Freundes Reinhold Andert. schicksale gewesen seien, die sein Inte- Aber auch das sind private Details. Als resse weckten. Vorher habe er noch nie Politikerin hat Margot Honecker im etwas von Opfervereinigungen gehört, Zweifelsfall genauso borniert und nach- und das, obwohl Siegmund, Jahrgang tragend reagiert wie ihr Mann, wenn sie 1973, aus Erfurt stammt. Das sind die just nach Biermanns Ausbürgerung auch zwei Seiten einer Medaille: Einerseits Frank Beyers und Jurek Beckers Film Opfer politischer Repression, die sich „Pause für Wanzka“ verhinderte – nach untereinander schwer einigen können dem Roman des Lehrers Alfred Wellm, und wenig Gehör finden; andererseits der es gewagt hatte, die Schulpädagogik Schicksale, deren Schilderungen auch der DDR zu kritisieren. Den Roman hat- Nachgeborene anrühren. Paßt das zu- te sie schon beim Erscheinen 1968 als sammen? Läßt sich aus den Verfol- „revisionistisch“ bekämpft. Kommentar gungsschicksalen von damals nicht heu- ihrer Masseuse: „Wer einmal bei ihr te politisches Gewicht herleiten? Müß- durch war, da war sie nachtragend, da ten nicht Politiker – vom Bürgermeister hat sie schwer wieder einlenken kön- bis zum Bundeskanzler – den politisch nen.“ So wird es wohl auch Ed Stuhler Verfolgten einen Ehrenplatz zuweisen, ergehen, obwohl Margot Honecker weil sie in der Diktatur für Freiheit und nichts mehr verhindern kann. Dabei hat Demokratie eingetreten sind? er es gar nicht so schlecht mit ihr ge- meint. Doch solange sie lebt, ist das Das Alltagsgeschäft in der Politik läßt letzte Wort über ihre Biographie nicht sich kaum durch Gefühle beeinflussen – gesprochen; vielleicht will sie es selbst und seien sie noch so stark. Das mag noch nehmen? manchmal anders sein – so in der Zeit der Wende und der deutschen Einheit. Hannes Schwenger Damals haben viele Opfer politischer Willkür positive Erfahrungen gemacht – sei es mit dem öffentlichen Interesse für deren Schicksale, sei es mit dem Wohl- wollen von Politikern für deren Forde-

Rezensionen 179 rungen. Daran knüpften sich Hoffnun- rungen als der, der zu jahrelanger gen. Doch Politik ist in der Regel ein Zwangsarbeit verurteilt wurde, ein ehe- nüchternes Geschäft. Keiner bekommt mals verfolgter Schüler hofft jetzt auf einen Ehrenplatz, jede gesellschaftliche Bildungsmöglichkeiten, ein damals ver- Gruppierung setzt ihre Interessen mittels urteilter Aufständischer vom 17. Juni Einflußnahme durch, und für die meis- auf eine Ehrenpension. ten Politiker ist es nachrangig, welche Hinzu kommen Konflikte zwischen den Schicksale Verbandsvertreter vorzuwei- Betroffenen. „Wer aus politischen sen haben – in Gesetzgebungsverfahren Gründen eingesperrt war, der hat das geht es um die Stärke der Verbände und höhere Opfer gebracht“, zitiert Sieg- um die Schwierigkeiten, die sie den Re- mund einen Verbandsvertreter. Mora- gierenden machen können, und da ist lisch mag das manchem wichtig sein, es der ADAC eben einflußreicher als etwa mag auch zur Kameradschaft jener „hö- die Vereinigung der Opfer des Stalinis- heren“ Opfer beitragen, für den Zusam- mus (VOS). Siegmund räumt den theo- menhalt zwischen allen Betroffenen ist retischen Grundlagen der Interessenver- eine solche Rangordnung Gift. Darüber tretung in einer pluralistischen Gesell- hinaus kam es auch in diesen Verbänden schaft breiten Raum ein und legt die zu Ost-West-Spannungen: Der eine Teil strukturellen Defizite der Opfergruppen der Betroffenen ist seit Jahrzehnten in dar, insbesondere deren schwache Or- Westdeutschland organisiert, der andere ganisations- und Konfliktfähigkeit. hat sich erst nach 1989 im Osten zu- Welche Partei läßt sich etwa von der sammengefunden, um für seine Rechte Drohung beeindrucken, das Wahlverhal- einzutreten. Überdies seien gelegentlich ten zu ändern, die von einem Verband im Westen Stimmen zu hören, daß die ausgesprochen wird, der nur ein paar aktiven Widerständler in der Haftzeit tausend, dazu meist wenig einflußreiche zusammengehalten haben und durch Mitglieder hat? Häftlingsfreikauf oder nach der Entlas- Wohl gibt es trotz des oft vorgerückten sung in den Westen gelangt seien, wo Alters immer noch sehr viele Betroffe- sie sich organisierten. Demgegenüber ne, doch die Interessen dieser Opfer sind sei die andere Gruppe eher passiv zu zu verschiedenartig, und zu wenige fin- Opfern geworden, hätten keine politi- den den Weg in die Verbände. Über- schen Überzeugungen geteilt und seien haupt erweist sich der Begriff Opfer als auch nach der Haft in der DDR geblie- viel zu große Schublade – es sind Wi- ben, wo mancher überdies eine SED- derständler, Oppositionelle, Enteignete, Karriere gemacht habe. So führte die es sind auch zufällig in die Fänge von Frage der Entschädigung zwischen öst- Stasi oder NKWD Geratene, es sind lichen und westlichen Betroffenen zu straffällig Gewordene, die zu über- erheblichen Reibungen: Westdeutsche durchschnittlich hohen Haftstrafen ver- Verbandsvertreter hielten es für ausrei- urteilt wurden, es sind Antikommunis- chend, für die immateriellen Schäden ten, Sozialisten und Zeugen Jehovas, es wie zum Beispiel Freiheitsentzug ent- sind Adlige, Intellektuelle, Arbeiter und schädigt zu werden, einige ostdeutsche Bauern – sie alle werden unter den Be- Vertreter forderten hingegen auch für griff Opfer subsumiert. Es ist eine hete- materielle Schäden wie Lohnausfall ei- rogene Gruppe, mag sie auch von außen nen Ausgleich, was ihnen den Vorwurf als homogen wahrgenommen werden – der Maßlosigkeit einbrachte. Solche „homogenisiert“ wurde sie lediglich Vorwürfe sowie das Gefühl, auch auf durch die Repression. Ein Enteigneter diesem Gebiet von westdeutschen Funk- hat an den Gesetzgeber andere Forde- tionären überstimmt zu werden, führten

180 ZdF 14/2003 dazu, daß im Osten vielfach neue Op- ist schwach. Wer im Zeitalter von Fil- ferverbände gegründet wurden, anstatt men wie „Sonnenallee“ ein Gespräch sich den westdeutschen wie dem VOS über Bautzen II oder das Lager Mühl- anzuschließen. Fast unnötig zu erwäh- berg beginnen will, hat schlechte Kar- nen, daß diese Konfliktlinien auch zu ten. Darüber hinaus sind die Verbände Zerwürfnissen und Anschuldigungen überaltert. Die VOS macht sich keine Il- zwischen einzelnen Verbandsfunktionä- lusionen und stellt fest, bei der jetzigen ren führten. Altersstruktur werde es sie in spätestens Daß diese Zersplitterung Lobbyarbeit zehn bis zwanzig Jahren nicht mehr ge- und Einflußnahme nahezu erschwert, ben. Also wäre es zur Durchsetzung der legt Siegmund anhand der Beteiligung Interessen dringend geboten, juristi- der Verbände an verschiedenen Gesetz- schen Sachverstand, professionelle Lob- gebungsverfahren dar. Bei der Anhö- byisten sowie Medienkompetenz einzu- rung des Bundestags-Rechtsausschusses holen. Um die Vergangenheitsfixierung zum Ersten SED-Unrechtsbereinigungs- zu überwinden, schlägt Siegmund vor, gesetz vermochten es die Verbandsver- daß sich Opferverbände aufgrund ihrer treter nicht, durchgängig mit einer Erfahrungen lauter als bisher zu gegen- Stimme zu sprechen und ihren Ände- wärtigen Fragen von Politik und Men- rungsforderungen Gewicht zu verleihen. schenrechten äußerten, wie etwa zur Si- Geharnischte Kritik, überzogene Forde- tuation auf dem Balkan oder in China rungen, emotionale Appelle und die oder aber zur Arbeitslosigkeit in Drohung, andere Parteien zu wählen, Deutschland. Dadurch ließen sich au- führten im Ergebnis dazu, daß das Ge- ßerdem strategische Allianzen finden. setz im November 1992 in großen Tei- Diese Vorschläge lesen sich rührend, len unverändert verabschiedet wurde. doch bei allem, was der Verfasser vor- Bei den Verjährungsgesetzen für DDR- her zusammengetragen hat, weiß er Unrecht im darauffolgenden Jahr macht wohl am besten, wie unrealistisch diese Siegmund eine erstaunliche Beobach- Empfehlungen sind. Es fehlt den Ver- tung: Während die Gesetze nahezu ohne bänden die Kraft. Die schwache Finanz- Einflußnahme der Opferverbände zu- ausstattung und die Abhängigkeit von stande kamen – es findet sich in den staatlichen Töpfen tut ein übriges. 42 In- Quellen des Bundestages nur die Stel- teressenverbände hat Siegmund ausfin- lungnahme des Bundes der Stalinistisch dig gemacht und im Anhang aufgelistet, Verfolgten (BSV), wurde in den Ver- von der gut organisierten Aktionsge- bandszeitschriften im Vorfeld umfang- meinschaft Recht und Eigentum (ARE) reich über die Notwendigkeit dieser Ge- bis hin zur Vereinigung der Verfolgten setze berichtet. des Stalinistischen Terrors in Deutsch- land, von der Siegmund offenbar nur re- Den geringen Erfolg der Lobbyarbeit cherchieren konnte, daß es sie gibt (oder leitet Siegmund aus der schlechten Fi- gab), weder Adresse noch Telefon sind nanzausstattung, der mangelnden Pro- ihm bekannt. Die beiden größten Verei- fessionalität, der Vergangenheitsfixie- nigungen, der Bund der Stalinistisch rung, der ungenügenden Medienpräsenz Verfolgten (BSV) und die Vereinigung und der allgemein geringen Akzeptanz der Opfer des Stalinismus (VOS) verfü- der Verbandsarbeit in der Öffentlichkeit gen über je rund 3 000 Mitglieder sowie her. Verbandsvertreter beklagen Unwis- über zwei, drei Angestellte. Allein diese senheit und Interesselosigkeit im Wes- Zahlen belegen, wie weit entfernt die ten, sowie DDR-Nostalgie im Osten. Verbände von einer effizienten Arbeit Die Bereitschaft, sich differenziert mit sind. der Vergangenheit auseinanderzusetzen,

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Diese Marginalisierung führt zu Verbit- nahmen, die man mit der sprichwörtli- terung und Frustration, zum Rückzug chen Lupe suchen muß, keine wesent- ins Private und zu neuem Mißtrauen. lich neuen Erkenntnisse über die „Ab- Siegmund, der seine Recherchen neben wehrarbeit des MfS“. Mehr noch, zum Aktenstudium auf Fragebögen und In- großen Teil bleibt es hinter dem erreich- terviews mit Verbandsvertretern stützte, ten Informations- und Forschungsstand berichtet von der Mühe, von den Be- weit zurück. troffenen Auskünfte und Zahlen zu er- Im Gegensatz zu den ausführlichen Ab- halten, obwohl das Thema bei vielen auf handlungen über die Aktivitäten der großes Interesse stieß. Angesichts der vermeintlichen und wirklichen Gegner Altersstruktur scheinen die Probleme in beschränken sich die Autoren beim den Verbänden unlösbar und sind ein DDR-Staatssicherheitsdienst vielfach unfreiwilliger und tragischer Epilog auf auf langatmige Darstellungen von Ab- das Unrecht in SBZ und DDR, das die teilungsstrukturen (z.B. Bd. 1, S. 414ff.) betroffenen Menschen nicht zur Ruhe sowie der Gesetzes- und Befehlslage, kommen läßt und bis heute kränkt. Eine die kritisch kommentiert auch in den professionelle Distanz zu ihrer Sache ist Publikationen der „Gauck-“ bzw. ihnen unmöglich. Erlebtes Unrecht ver- „Birthler-Behörde“ enthalten sind. Fall- letzt weiter. Siegmunds Buch ist eine schilderungen sind meist nach folgen- detailreiche Quelle für alle, die sich über dem Schema abgefaßt: Staatsfeindliche Geschichte und Arbeit der Opferverbän- Handlungen und Pläne der bearbeiteten de informieren wollen. Allerdings wirkt Person oder Personengruppe – Verhaf- es schon wie ein Nachruf auf die Arbeit tung – Gerichtsurteil. Wie die einzelnen der Opferverbände und dürfte dort den Struktureinheiten des MfS ihre Operati- Eindruck gesellschaftlicher Marginali- onen geplant, vorbereitet und durchge- sierung noch verstärken. führt haben, wird bewußt verschwiegen. Thomas Gerlach Das gleiche gilt auch für das Agieren der hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter. Nicht wenige Beiträge sind Reinhard Grimmer/Werner Irmler/ bezüglich des MfS vollkommen entper- Willi Opitz/Wolfgang Schwanitz sonifiziert. Ein angeblicher Ehrenkodex (Hg.): Die Sicherheit. Zur Abwehrar- verbietet den Verfassern sogar die na- beit des MfS. Mit einem Plädoyer von mentliche Erwähnung von längst be- Peter-Michael Diestel. 2 Bände. editi- kannten Abteilungsleitern und anderen on ost im Verlag Das Neue Berlin, führenden Geheimdienstoffizieren. In Berlin 2002, 1248 S., 54 Euro. diesem Zusammenhang fällt auch auf, Wenn führende Geheimdienstmitarbei- daß in keinem der Artikel näher auf die ter a. D. über ihre ehemalige Tätigkeit Person Wilhelm Zaissers, Ernst Woll- und „Firma“ berichten, erwartet die inte- webers und Erich Mielkes eingegangen ressierte Leserschaft eine spannende, oder deren Rolle in der Staatssicherheit viele bisher unbekannte Fakten und De- behandelt wird. Bis auf wenige Aus- tailinformationen offerierende Lektüre. nahmen sind die ehemaligen DDR- Die vorliegende Ausarbeitung von elf “Schlapphüte“ in ihrem Buch nicht dazu Generälen und neun Obersten des MfS bereit, rückblickend ihre Berufspraxis enttäuscht aber nicht nur in dieser Hin- kritisch zu reflektieren. An „Irrtümern“, sicht. Mißerfolgen und der endgültigen Nie- Das voluminöse, zweibändige Werk, das derlage 1989/90 sind in erster Linie Feh- als umfassende Überblicksdarstellung ler und mangelnde Unterstützung der angelegt ist, enthält bis auf wenige Aus- Partei- und Staatsführung sowie der

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Verrat der Sowjetunion unter Michael bzw. untermauern. Die Schilderungen Gorbatschow schuld. Daß zum Beispiel des Gegners stützen sich vielfach auf die auch solche Aktionen wie das maßlose Auftragswerke von Julius Mader (Bd. 1, Vorgehen des MfS auf Grundlage des S. 316) und die teilweise während der Artikel 6 der DDR-Verfassung („Boy- MfS-Untersuchungshaft entstandenen kotthetze“) in den 50er Jahren (Bd. 1, S. Unterlagen (Geständnisse, Gutachten, 621ff.; Bd. 2, S. 484ff.) sowie die per- Prozeßvorschläge usw. Bd. 2, S. 450f.) manente Kriminalisierung Andersden- für die Verhandlungen vor dem Obers- kender und Ausreisewilliger die aktive ten Gericht der DDR. Wahrscheinlich ist politische Gegnerschaft großer Bevölke- den Staatssicherheitsmännern immer rungsgruppen gefördert oder erst her- noch nicht klar, daß Propagandapublika- vorgerufen hatten, liegt außerhalb des tionen nicht unbedingt dem Anliegen Bewußtseinshorizonts der Autoren. Bei verpflichtet sind, die historische Wahr- einer solchen Denkhaltung ist es auch heit zu verbreiten. So heißt es in einem nicht verwunderlich, daß sie sich be- der zitierten Pamphlete über eine „Re- wußt dagegen sperren, die Sicht der publikflucht“, bei der ein 14jähriger „Stasi-Opfer“ wahrzunehmen und sich Junge von DDR-Grenzern lebensgefähr- mit der „Betroffenenliteratur“ auseinan- lich verletzt wurde: „Am 23. Mai 1962 derzusetzen. Anderenfalls hätte man beschoß die Westberliner Polizei mit sich unter anderem zu Übergriffen in der Schnellfeuerwaffen am Spandauer Untersuchungshaft, Manipulierung von Schifffahrtskanal aus etwa 40 m Entfer- Strafprozessen, zu Menschenraub, Hin- nung Angehörige der Grenztruppen der richtung von Verrätern und Handlanger- DDR, als diese jemanden festnahmen diensten für den sowjetischen Bruder- [sic !]. Der Unteroffizier Peter Göring dienst sowie zu geplanten oder ausge- wurde dabei ermordet, ein zweiter führten Mordversuchen äußern müssen. DDR-Grenzsoldat […] schwer verletzt.“ Alles Themen, die im Sammelband kei- (S. 285) Eine Zumutung ist es, wenn so- ne Widerspiegelung finden. In diesem gar Aussagen von Personen (Heinz Kontext wäre es auch sehr problema- Kühne, Wilhelm Lohrenz) herangezo- tisch gewesen, das MfS immer wieder gen werden, die nachweislich durch als „Schutz-, Sicherheits- und Rechts- massiven Zwang und Folter in sowjeti- pflegeorgan der DDR“ zu bezeichnen. scher Untersuchungshaft zustande ge- Ein Hauptanliegen des Buches ist es, kommen sind. (Bd. 1, S. 598; Bd. 2, S. das Vorgehen des ostdeutschen Ge- 573) heimdienstes zu rechfertigen und für Dagegen sind die fundierten und auch seine Mitarbeiter eine politisch-morali- von Wissenschaftlern anerkannten Ar- sche Rehabilitierung in der bundesre- beiten des Entführungsopfers Karl Wil- publikanischen Öffentlichkeit zu beför- helm Fricke den Verfassern keine Fuß- dern. Dazu dienen insbesondere aus- note wert. führliche Abschweifungen über das oft An vielen Stellen in den beiden Bänden kritikwürdige Agieren deutscher und werden die historischen Geschehnisse US-amerikanischer Geheimdienste in falsch oder verzerrt dargestellt, ver- der Gegenwart und über für Staatssi- schleiernde Halbwahrheiten verbreitet cherheitsmitarbeiter positiv verlaufende und neue Legenden geschaffen. juristische Prozesse. So behauptet Siegfried Rataizik, ehema- Bemerkenswert ist weiterhin, mit wel- liger Leiter der Abteilung XIV (Unter- chen Quellen und mit welcher Sekun- suchungshaftvollzug), daß das MfS därliteratur die 20 Autoren ihre Darstel- 1951 das zentrale Untersuchungsge- lungen und Argumentationen belegen fängnis in Berlin-Hohenschönhausen

Rezensionen 183 vom sowjetischen Geheimdienst „leer“ übernommen und sofort eine Vergröße- rung der dort vorhandenen „Verwahr- räume, Fenster und Türen“ veranlaßt habe. (Bd. 2, S. 501) Das in der unmit- telbaren Nachbarschaft des „U-Boots“ gelegene Haftarbeitslager des MfS (1952-1974) wird bei ihm als „größeres

Strafgefangenen-Arbeitskommando“ be- zeichnet. (Bd. 2, S. 513) Daß die Häft- linge des „Lagers X“ unter anderem Un- tersuchungshaftanstalten für einige Be- zirksverwaltungen entwerfen und bauen, Geheimdienstutensilien fabrizieren so- wie Vorrichtungen zum Öffnen von Briefen herstellen mußten, ist kein Thema für Oberst Rataizik.

Ungeachtet all dieser aufgelisteten Kri- tikpunkte ist Peter - Michael Diestel in seinem Vorwort jedoch der festen Auf- fassung, daß der vorliegende Sammel- band der MfS-Mitarbeiter, denen er Fairneß und Ritterlichkeit bei der Dar- stellung der einstigen Feinde beschei- nigt, wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Peter Erler

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Anja Mihr: Amnesty International in Amnesty International zählt zu den äl- der DDR: Der Einsatz für Menschen- testen und bekanntesten NGO. Sie wur- rechte im Visier der Stasi. Christoph de 1961 in Großbritannien von einem Links Verlag, Berlin 2002 (Forschun- Rechtsanwalt mit dem Ziel gegründet, gen zur DDR-Gesellschaft), 332 S., politische Gefangene und ihre Angehö- 24,90 Euro rigen in aller Welt zu betreuen und Anja Mihr schildert in Amnesty Interna- durch Eingaben an verantwortliche Stel- tional in der DDR zum ersten Mal aus- len und eine geeignete Öffentlichkeits- führlich einen größeren Teilbereich der arbeit ihre Freilassung oder wenigstens weltweiten Arbeit der Organisation. Das bessere Haftbedingungen zu erreichen. materialreiche Buch ist aus einer Disser- Dabei ist gleichgültig, aus welchen poli- tation an der Freien Universität Berlin tischen Gründen jemand inhaftiert ist. hervorgegangen. Die Autorin kommt zu Entscheidend ist, daß der Gefangene aus dem meines Erachtens zutreffenden Er- Gewissensgründen gehandelt und keine gebnis, daß derzeit nichts dafür spricht, Gewalt bei der Durchsetzung seiner po- die Bemühungen von Amnesty könnten litischen Ziele angewendet hat. So setzte den DDR-Gefangenen geschadet haben. sich Amnesty International nicht nur für Daran ändert auch der Fall eines Ehe- politische Gefangene im Ostblock, son- paars nichts, das ausdrücklich unter dern auch für Kommunisten in Westeu- Hinweis auf die Aktivitäten von Amnes- ropa und in der Dritten Welt ein. ty erst ein paar Monate später als ur- Letzteres hinderte das Ministerium für sprünglich vorgesehen auf dem Wege Staatssicherheit der DDR nicht daran, des „Freikaufs“ entlassen wurde. Damit die neue Organisation, deren Mitglieder sollte zwar die Bundesregierung mora- sich mit ihren Anliegen im Interesse be- lisch unter Druck gesetzt werden, es stimmter Gefangener bald auch an blieb aber ein Einzelfall. Wichtiger war, Staats- und Parteistellen der DDR wand- daß das Aufsehen, das die Aktionen von ten, schon frühzeitig in die Reihe der Amnesty im Ausland aber auch in Re- Staatsfeinde einzuordnen und entspre- gierungskreisen der DDR erregten, für chend zu bearbeiten. Bereits 1962 rich- viele Gefangene einen gewissen Schutz tete das Ministerium für Auswärtige darstellte, auch wenn sie persönlich da- Angelegenheiten der DDR eine Anfrage von in aller Regel erst nach ihrer Entlas- über Amnesty International an das sow- sung im Westen erfuhren. Die Häftlinge jetische Außenministerium und erhielt für die sich Amnesty einsetzte, zum die Antwort, Amnesty sei „eine westli- großen Teil Republikflüchtlinge und che Organisation und gegenüber den so- Antragsteller auf Ausreise, entsprachen zialistischen Staaten feindlich gesinnt.“ sicherlich nur selten dem Ideal des poli- Die Sowjetunion unterhalte „keinerlei tischen Gewissenstäters, der den Grün- Kontakte zu der Organisation.“ Das ge- dern von Amnesty als besonders schutz- nügte und bestimmte bis zum Ende der bedürftig vorgeschwebt hatte. Dennoch DDR ihr Verhalten gegenüber Amnesty. haben auch diese Menschen ihren Bei- Alle Eingaben der Organisation wurden trag zum Niedergang und unrühmlichen als unzulässige Einmischung in die in- Ende der DDR geleistet. So untersucht neren Angelegenheiten der DDR be- Anja Mihr auch wesentliche Aspekte trachtet. Keine staatliche oder Parteistel- des Kalten Kriegs in Deutschland und le durfte sie beantworten oder bestäti- beleuchtet dabei einige immer noch ge- gen. Natürlich auch kein Rechtsanwalt. heimnisumwitterte Komplexe der Aber auch in der DDR waren nicht alle Deutschlandpolitik und der handelnden gleich. Ein Rechtsanwalt bestätigte doch Personen. eingehende Anfragen und gab manch-

188 ZdF 14/2003 mal sogar knappe Auskünfte, etwa ob Die Mitarbeiter des Untersuchungsaus- ein Gefangener verurteilt wurde oder gar schusses, der im Gesamtdeutschen Insti- bereits entlassen war: Wolfgang Vogel. tuts aufging, hatten nie Bedenken, Am- Der Strafverteidiger mit Dauervisum für nesty International bei der Beschaffung den Westen Deutschlands gab seine von Informationen über politische Häft- diesbezügliche Post immer in Westber- linge in der DDR zu unterstützen. Viel- lin auf. 1965 besuchte Vogel „als Pri- leicht würde ja die DDR-Führung doch vatmann“ sogar das Londoner Internati- durch öffentliche Proteste im Ausland onale Sekretariat und ließ sich das AI- zu beeindrucken sein. Daran änderte Büro zeigen und die Vorgehensweise sich nichts, als sie 1969 Bundesbediens- von Amnesty erklären. Bei allen Kon- tete wurden. Inzwischen hatte allerdings takten mit der Organisation war es sein der „Freikauf“ von politischen Gefange- Anliegen, öffentlichkeitswirksame Ak- nen, der schon 1964 begonnen hatte, tionen von Amnesty möglichst zu ver- größere Dimensionen erreicht und war hindern. für die DDR-Führung ein wesentlicher Die DDR-Häftlinge betreuenden Grup- Devisenbringer geworden. Da es offizi- pen von Amnesty in rund 30 Ländern ell ein Geheimnis war und auch bleiben bekamen ihre „Adoptions“-Fälle von der sollte, daß sich die DDR, die angeblich Zentrale in London zugewiesen. Ent- gar keine politischen Häftlinge, sondern sprechend den Grundsätzen von Amnes- nur Kriminelle kannte, dieser durch ty, wonach niemand Gefangene im ei- Verkauf an den Klassenfeind entledigte, genen Land betreuen durfte, erhielten übten die Verhandlungsführer der DDR Mitglieder in der Bundesrepublik erheblichen Druck auf das BMB aus. Deutschland keine Fälle in der DDR. Das Gesamtdeutsche Institut sollte an Amnesty International wollte nicht in einer Zusammenarbeit mit Amnesty ge- den Verdacht geraten, sich in innenpoli- hindert werden, denn diese konnte das tische Streitigkeiten einzumischen. Das für die DDR lukrative Geschäft nur stö- ist der Organisation zwar im Falle der ren. DDR gründlich mißglückt, hat aber dazu Das BMB machte sich in den 70er Jah- geführt, daß die Gruppen außerhalb ren die DDR-Argumentation gegenüber Deutschlands große Schwierigkeiten seiner nachgeordneten Behörde zu ei- hatten, auch nur die nötigsten Informati- gen, die allerdings Weisungen so lange onen über politische Gefangene in der wie möglich zu ignorieren trachtete. An- DDR und die Umstände ihrer Inhaftie- ja Mihr dokumentiert den einschlägigen rung zu erhalten. Dann mußten sie sich Schriftwechsel. Schließlich war es Am- doch an deutsche Stellen wie den Unter- nesty International peinlich, Ursache ei- suchungsausschuß freiheitlicher Juristen ner hochpolitischen Meinungsverschie- in West-Berlin und, nach 1969, an das denheit zwischen dem Bundesministeri- Gesamtdeutsche Institut, die nachgeord- um und seiner nachgeordneten Behörde nete Behörde des Bundesministeriums zu sein. Es wies seine Gruppen an, das für innerdeutsche Beziehungen (BMB), Gesamtdeutsche Institut nicht mehr mit wenden, wo man eine Kartei der aus po- Anfragen in Verlegenheit zu bringen. litischen Gründen in der DDR Inhaftier- Erst 1984, als der neue Bundesminister ten führte und über relativ viele Infor- für innerdeutsche Beziehungen, Hein- mationen zu Haftgründen, Strafmaß, rich Windelen, Schweden besuchte, er- Gesundheitszustand und Aufenthaltsort hielt die dortige DDR–Koordinierungs- sowie etwaige Angehörige in Ost oder gruppe von Amnesty seine Zusage, daß West verfügte. in Zukunft wieder Anfragen vom Ge- samtdeutschen Institut beantwortet wer-

Rezensionen 189 den durften. Dennoch befürchtete man Markus Trömmer: Der verhaltene im BMB bis zum Ende der DDR, daß Gang in die deutsche Einheit. Das die Publizität, die Amnesty den von ihr Verhältnis zwischen den Oppositions- betreuten Fällen verschaffte, den „be- gruppen und der (SED-) PDS im letz- sonderen Bemühungen“ der Bundesre- ten Jahr der DDR. Verlag Peter Lang, gierung schaden könnte. Europäischer Verlag der Wissen- Eine kritisch durchgesehene zweite Auf- schaften, Frankfurt a. M. 2002, 328 lage wäre Anja Mihrs Buch zu wün- S., 37,30 Euro. schen. Dabei müßten Flüchtigkeitsfehler Als am 9. November 1989 die Berliner und Ungenauigkeiten beseitigt werden: Mauer fiel, zeigten sich prominente Ludwig Rehlinger war zum Beispiel DDR-Oppositionelle entsetzt. Intuitiv nicht Ministerialdirektor sondern Minis- befürchteten sie, daß ihre kurze Gastrol- terialrat im Bundesministerium für ge- le auf der Bühne der deutschen Ge- samtdeutsche Fragen, danach von 1969 schichte nun zu Ende sein würde. Sie bis 1971 der erste Präsident des Ge- sollten recht behalten. Im Sog der Ereig- samtdeutschen Instituts; nach 1982 war nisse bis zur deutschen Vereinigung er dann Staatssekretär im BMB. Walter knapp ein Jahr später wurden sie gleich- Priesnitz war dort nicht nur Ministerial- sam an den Rand gespült. direktor sondern als Nachfolger Rehlin- Inzwischen sind viele Bücher über die gers ebenfalls Staatssekretär (S. 11). Der Rolle der DDR-Opposition in der End- Referatsleiter Klaus Plewa im BMB phase der DDR erschienen, zumeist von stand nicht im Range eines Ministerial- Akteuren oder Sympathisanten verfaßt. direktors (S. 54). Das Gesamtdeutsche Der persönliche oder wissenschaftliche Institut wurde nicht vom BMB „finanzi- Rückblick gerät dabei nicht selten in ell gefördert“, sondern hatte als Bundes- Gefahr, oppositionelle Personen und anstalt einen eigenen Titel im Bundes- Gruppen idealisiert darzustellen. Vor al- haushalt (S. 48). Zu den Rechtsanwäl- lem das Verhältnis der Opposition zum ten, die von der Bundesregierung beauf- Sozialismus als Idee, zur deutschen Ein- tragt wurden, sich um die Verteidigung heit, aber auch zur SED/PDS wird häu- von Gefangenen in der DDR zu küm- fig tabuisiert oder weichgezeichnet. mern, zählte Ülo Salm, nicht Solm (S. Markus Trömmer widersteht dieser Ver- 63). Erich Loest wurde zu 7 ½ Jahren suchung und gibt ein weitgehend realis- Zuchthaus verurteilt (S. 186, Anm. 275). tisches Bild der Oppositionsgruppen Roland Jahn wurde 1982 und nicht 1983 wieder. in Jena festgenommen (S.196). Wolf- gang Welsch stammte nicht „aus West- Eingangs skizziert Trömmer die unter- Berlin“ und saß 1970 in Brandenburg schiedlichen Entstehungsbedingungen, auch nicht wegen Fluchthilfe ein; die Motive und die eher vagen und bis- Fluchthelfer wurde er erst nach seiner weilen diffus geratenen programmati- Entlassung (S. 233). schen Vorstellungen und Ziele der wich- tigsten Oppositionsgruppen. Deutlich Detlef Kühn wird schon in der Formierungsphase im Anmerkung der Redaktion: Der Rezen- Herbst 1989 die Bandbreite der DDR- sent war von 1972 bis 1991 Präsident Opposition, die von Radikalökologen des Gesamtdeutschen Instituts. über orthodoxe Marxisten bis hin zu Bürgerrechtlern reicht. Die meisten wa- en sich einig in der Ablehnung der SED- Diktatur, des westdeutschen Gesell- schaftsmodells sowie in der Forderung nach Erhalt der DDR. Vor allem aber

190 ZdF 14/2003 träumten sie von einer Renaissance des Land“ wie auch schon in einer am 8. Sozialismus in einer demokratischen November von Christa Wolf im DDR- und humanen Form. Fernsehen verlesenen Erklärung forder- Die Opposition war stärker von Persön- ten kritische wie systemimmanente lichkeiten als von Programmen geprägt, Geister: „Helfen Sie uns, eine wahrhaft was sich laut Trömmer als Stärke und demokratische Gesellschaft zu gestalten, Schwäche zugleich erwies. Die über die die auch die Vision eines demokrati- Westmedien prominent gewordenen schen Sozialismus bewahrt.“ Oppositionsführer konnten weitgehend Die Berührungsängste wichen langsam, pragmatisch und massenmobilisierend wozu der Runde Tisch und vor allem agieren, aber nicht zuletzt ihre Eitelkei- der Eintritt der Opposition in die von ten und Antipathien verhinderten die Modrow geführte „Regierung der natio- Entstehung einer großen geeinten Oppo- nalen Verantwortung“ im Januar 1990 sitionsbewegung, die einen Machtan- beitrugen. Nachdem die Auflösung des spruch hätte formulieren können. So MfS nach vielem Hin und Her etwas in blieb ihr nur die Rolle des Ferments in den Hintergrund getreten war, kamen den sich schnell überschlagenden Ereig- Gemeinsamkeiten in sozialen Fragen nissen des Herbstes 1989. und im Kampf um den Erhalt der DDR Im Gefolge der Absetzung des langjäh- stärker zum Vorschein. Für große Teile rigen Generalsekretärs der SED, Erich der Opposition war nicht mehr die sich Honecker, und des kurzen Intermezzos nun PDS nennende alte diktatorische von Egon Krenz vollzog die SED im Staatspartei der Hauptgegner, sondern Dezember einen personellen, organisa- die Kohl-Regierung und die sie unter- torischen und programmatischen Wan- stützenden Parteien. del. Die neuen starken Männer Gysi und Im Vorfeld der Volkskammerwahlen im Modrow hielten zwar am Sozialismus März 1990 wurden die Gräben trotz der fest, wollten ihm indes eine demokrati- Bildung eines (Wahl-)Bündnis 90, dem sche Gestalt geben. Das Verhältnis zur ein Großteil der Gruppen angehörte, Opposition entspannte sich zumindest noch tiefer. Während die Mehrheit wei- von seiten der neuen Parteispitze, und terhin auf eine Reform des Sozialismus man erhoffte sich über den Dialog und setzte, plädierten der Demokratische punktuelle Kooperation eine Imagever- Aufbruch oder die neugegründete Sozi- besserung. Dieser Kurswechsel fand aldemokratische Partei nun für die zwar an der Parteibasis kaum Zustim- (schnelle) Vereinigung und eine weitge- mung, aber die jahrzehntelange Ein- hende Orientierung am westlichen Mo- übung von Disziplin verhinderte das dell. Ein Vergleich der Programmaussa- Aufbrechen von Widersprüchen und si- gen führt Trömmer zu dem Ergebnis, cherte die Einheit der Partei. daß es mehr Differenzen zwischen Op- Die Mehrheit der Oppositionellen blieb positionsgruppen selbst gab als zwi- auch gegenüber der gewandelten schen bestimmten Teilen der Opposition SED/PDS mißtrauisch, zu unterschied- und der PDS. lich waren Prägungen und soziales Mili- Die punktuellen Gemeinsamkeiten zwi- eu. Nur wenige wie Friedrich Schor- schen ehemaliger Opposition und ehe- lemmer betonten immer wieder, daß ei- maliger Herrschaftspartei setzten sich in ne Reform der DDR ohne eine erneuerte der Volkskammer und im Bundestag SED nicht möglich sein werde. In einem fort. Anläßlich der Bundestagswahl wa- Punkt waren sich Oppositionelle und ren Teile des Neuen Forums sogar be- Herrschende einig: in der Ablehnung reit, mit der PDS ein Wahl- bzw. Perso- der Vereinigung. Im Aufruf „Für unser nenbündnis zu bilden, wozu es jedoch

Rezensionen 191 letztlich nicht kam. In der Kritik am te von Repräsentanten und Mitgliedern Verlauf des Vereinigungsprozesses der beiden größten deutschen Staatspar- rückten Antipoden von einst noch enger teien statt. Erich Hahn und Rolf Reißig zusammen – so zum Beispiel in der „Er- nahmen an einigen davon teil und erin- furter Erklärung“. In Sachsen-Anhalt nern sich nun auf unterschiedliche Wei- ließ sich eine Koalition von SPD und se daran, was sie eigentlich wollten und Bündnis-Grünen sogar von der PDS to- was daraus am Ende geworden ist. Ins- lerieren und ermöglichte dieser dadurch gesamt siebenmal traf sich vom Februar den Einstieg in das ostdeutsche Regie- 1984 bis zum April 1989 ein Ge- rungsgeschäft. Nun kam zusammen, was sprächskreis von ost- und westdeutschen ehedem nicht zusammengehören wollte. Parteifunktionären zum Dialog über Trömmers Buch gibt einen guten Ein- Frieden, Fortschritt, Geschichte und blick in das Innenleben der immer schon Menschenrechte. Der eine Teil des Ge- zersplitterten und unterschiedlich ausge- sprächskreises gehörte zur Grundwerte- richteten Opposition, zeichnet erstaunli- kommission der SPD, und der andere che Kontinuitätslinien anhand einzelner war in der Akademie für Gesellschafts- prominenter Oppositioneller nach und wissenschaften beim ZK der SED ange- zeigt die Sozialismus-Affinität der meis- stellt. Schon nach vier Treffen einigten ten Gruppen. Über einige seiner Ein- sich die beteiligten Ost- und Westideo- schätzungen, etwa zum SED-SPD- logen auf ein gemeinsames Papier, das Papier von 1987, zur Rolle der Kirche den Titel trug: „Der Streit der Ideolo- oder zu den vermeintlichen Reformkräf- gien und die gemeinsame Sicherheit“. ten in der SED kann gestritten, über Erich Hahn spricht im Rückblick auf die Leerstellen im Buch wie zur Bedeutung für ihn ereignisreichen Zusammenkünfte des MfS innerhalb der Opposition oder vom „Dialog zwischen SED und SPD“, zu ihrem sozialen und kulturellen Milieu während sein damaliger Mitstreiter Rolf muß weiter geforscht werden. Reißig es umgekehrt sieht und die An- Klaus Schroeder gelegenheit als „SPD-SED-Dialog“ cha- rakterisiert. Das ist – liest man beider Zeitzeugen Darstellungen – keineswegs Erich Hahn: SED und SPD. Ein Dia- nur eine marginale Frage. Nach Reißigs log. Ideologie-Gespräche zwischen Interpretation ging „die unmittelbare 1984 und 1989. edition ost im Verlag Initiative für die Aufnahme von ‚Partei- Das Neue Berlin, Berlin 2002, 280 S., gesprächen’“ von Willy Brandt aus. 14,90 Euro. Brandt habe nach dem Verlust der Re- Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer. gierungsmacht 1982 einen vertraulichen Die umstrittene Annäherung von SPD Brief an geschrieben und SED. Campus Verlag, Frankfurt und vorge-schlagen, „zusätzlich zu den a. M/New York 2002, 449 S., 29,90 offiziellen Regierungskontakten zwi- Euro. schen Bonn und Berlin flankierende Karl Seidel: Berlin-Bonner Balance. Parteigespräche aufzunehmen“. Brandt 20 Jahre deutsch-deutsche Beziehun- habe damit verhindern wollen, „daß die gen. Erinnerungen und Erkenntnisse von ihm eingeleitete Entspannungspoli- eines Beteiligten. edition ost im Verlag tik auch nach Übernahme der Regie- Das Neue Berlin, Berlin 2002, 440 S., rungsverantwortung durch Helmut Kohl 19,90 Euro. ins Stocken geriete“. Der Entwurf des erwähnten Brandt-Briefes stammte von Dem Frieden zuliebe fanden in den 70er Günter Gaus. Selbiger erklärte im März und 80er Jahren des vergangenen Jahr- 2000 gegenüber Reißig treuherzig, daß hunderts einige tausend Zusammenkünf-

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Brandt mit diesem Schritt „keine Ne- SPD-Präsidiumsmitglied Hans-Jochen benaußenpolitik installieren“ wollte. Vogel Anfang Dezember 1982 zum Erich Hahn gewichtet hingegen die Ur- SED-Politbürokraten Joachim Herr- sprünge der parteioffiziellen Bezie- mann, „könne man jetzt, wo die SPD hungsaufnahme anders und zutreffender. keine staatliche Verantwortung trage, Die im November 1982 vom SED- einen unmittelbaren Kontakt herstellen“. Politbüro beschlossenen Parteibezie- Soweit die Quellen es offenbaren, hatte hungen zur SPD gehen nach seiner In- der Dialog der beiden linken Staatspar- terpretation auf langfristigere Bemü- teien viele Väter und eine lange Vorge- hungen zurück, „vorbereitet unter ande- schichte. Die sieben Gesprächsrunden rem durch Herbert Häber als Leiter der von Parteileuten aus der SPD-Grund- Westabteilung des ZK seit 1973“. Ohne wertekommission und der SED-Akade- Zweifel haben Häbers rastlose Rundrei- mie schufen im Zusammenhang der An- sen als Honeckers Emissär im Westen näherung durch Wandel auf beiden Sei- dem späteren parteioffiziellen Dialog ten freilich eine neue Qualität, woran den Boden bereitet. Häber führte in den sich manche der Beteiligten nur ungern 70er Jahren unzählige Gespräche mit erinnern möchten. So versuchte Erhard westdeutschen Parteipolitikern, worun- Eppler, bald nachdem seine früheren ter sich auch nahezu alle damals maß- Dialogpartner schmählich in die Bedeu- geblichen Sozialdemokraten befanden. tungslosigkeit abgestürzt waren, die Ohne Zweifel hat auch Honeckers Son- überbordende Betonung des Friedens- derbeziehung zu Herbert Wehner ihren willens im gemeinsamen Papier schlicht Teil zum Zustandekommen der Partei- als „Friedenslyrik“ abzutun, die man der beziehungen beigetragen. Doch auch SED-Seite zugestanden habe. Wie sehr von Seiten der SPD wurden die Fühler er mit dieser sarkastischen Geschichts- zu offiziellen Parteibeziehungen weit begradigung in die Irre deutete, war erst früher ausgestreckt, als Reißig das – ge- dieser Tage wieder zu erleben. Das ge- stützt auf die Prahlereien von Günter meinsame Mißtrauen gegen die Politik Gaus – glaubt. Schon im Januar 1979 der Vereinigten Staaten war die eigent- berichtete Erich Honecker dem KPdSU- liche Folie, vor der das Ideologiepapier Politbüromitglied Boris Ponomarjow, in den 80er Jahren entstanden ist. Dieser Brandt habe schon zu einem früheren Grundvoraussetzung entsprang ange- Zeitpunkt vorgeschlagen, offizielle Par- sichts der Irakintervention jetzt eine so- teibeziehungen aufzunehmen. „Jetzt zialdemokratische „Friedenslyrik“, die stellen Ehmke und Bahr die gleiche Fra- den damaligen Text bei weitem in den ge. Die DDR strebt nach normalen Be- Schatten stellte und sogar der Anti- ziehungen zur BRD, und es ist gut be- Kriegs-PDS keinen Raum mehr für ei- kannt, wodurch diese Beziehungen im- gene Manöver ließ. mer wieder belastet werden. Aber die Doch zurück zu den Zeiten, als die deut- Beziehungen mit der SPD wollen wir sche Sozialdemokratie sich noch mit der nicht herstellen.“ Man werde Brandt SED um die „gemeinsame Sicherheit“ mitteilen, „daß unseres Erachtens der mühte. Erich Hahns Darstellung bietet Zeitpunkt für die Aufnahme von Bezie- im Blick auf das damalige Geschehen – hungen noch verfrüht wäre“. Der richti- obgleich sie einer dogmatischen Per- ge Zeitpunkt aber war erreicht, nachdem spektive verhaftet bleibt – den ungemei- die SPD aus der Bundesregierung aus- nen Vorzug, daß sie den Verlauf von geschieden war und Helmut Schmidts sieben Zusammenkünften der SPD- transatlantisches Konzept in der SPD Grundwerte- und SED-Akademiedele- keine Mehrheit mehr hatte. „Was die gationen anhand von damaligen Auf- Parteibeziehungen anbelangt“, sagte

Rezensionen 193 zeichnungen haarklein und nur selten um politische Gemeinsamkeiten geht.“ haarspalterisch rekonstruiert. Erst am Für das Metier, dem sich Karl Seidel Ende der einzelnen Kapitel über das je- seit 1970 widmete, galt in etwa das Um- weilige Seminar fügt der Autor seine ei- gekehrte. Wenn sich Seidel in den Ver- genen Ansichten „aus heutiger Sicht“ handlungen mit den Vertretern der hinzu. Reißig hingegen legt mehr Wert Kanzlerämter Brandt, Schmidt und Kohl auf die Gesamtschau, auf das Drumher- auf einen „Streit der Ideologien“ kapri- um, auf Wirkungen, Deutungen und auf ziert hätte, wäre er völlig fehl am Platze den Nachweis, daß das gemeinsame Par- gewesen. Denn nur unter oft trickreicher teiendokument „den gesellschaftlichen Ausklammerung der reinen Lehre konn- Wandel beförderte“ und deswegen zur te manches deutsch-deutsche Abkom- „(Vor-)Geschichte der Wende in der men aufs gemeinsame Vertragspapier DDR“ gehöre. Er kontextualisiert das gebracht werden. Über die vielen von ihm mitverfaßte Papier sogar reich- Kunstgriffe, derer man sich beiderseits lich kühn als „Intervention von Intellek- dabei bediente, handelt Seidels Buch – tuellen in Abläufe und Gestaltungswei- zu großen Teilen jedenfalls. Gleichwohl sen der Politik, der Organisierung ge- ist es aus einer ideologiesatten Perspek- sellschaftlicher Diskurse und politischer tive verfaßt, die nicht nur vom „Be- Öffentlichkeit“. Bei Hahn hängt die Sa- kenntnis zum Sozialismus“ – wie Seidel che deutlich tiefer. Für ihn markierte der schreibt –, sondern auch „zu diesem SED-SPD-Dialog einen „wichtigen Staat“ durchtränkt ist sowie von einem Schritt zur politischen Anerkennung der Bekenntnis zur SED: „Die Partei war SED durch die SPD“, was er rückbli- meine politische Heimat seit meinem ckend als einen „zeitweise erfolgreichen 18. Lebensjahr. Ich trat ihr als Zimmer- Versuch von Vertretern zweier politi- mannslehrling nicht aus Karrieregrün- scher Bewegungen“ bewertet, „mitei- den bei. Ihr verdanke ich alles.“ nander kulturvoll über Grundsatzfragen Es versteht sich von selbst, daß Seidel zu sprechen“. nicht viel von der sowjetischen Politik In der Kunst, „kulturvoll über Grund- unter Michail Gorbatschow hält. „Vor satzfragen zu sprechen“, übte sich im allem Gorbatschow“, schreibt Seidel, sei deutsch-deutschen Gespräch gut 20 Jah- „in gleichem Maße schuldig wie der re lang auch Karl Seidel, der von 1970 Westen, daß die Einverleibung der DDR bis 1990 die „Abteilung BRD“ im Mi- in die BRD sich so vollzog, wie es dann nisterium für Auswärtige Angelegenhei- geschah“. Als „ausgesprochen schäbig“ ten der DDR leitete. In Seidels Erinne- empfand Seidel das Verhalten der sow- rungen spielt das gemeinsame Dialog- jetischen Führung gegenüber ihren papier keine Rolle. Seidel ist weniger „treuen Genossen in der DDR“. Das Ideologe, sondern weit mehr ein diplo- mindeste, was man von den langjährigen matischer Buchhalter seines unterge- Freunden doch hätte erwarten dürfen, gangenen Staates. Akribisch verzeichnet wäre „eine die BRD bindende Ver- er die List und Tücken der zahllosen pflichtung“ gewesen, „die die Verfol- deutsch-deutschen Verhandlungsmara- gung aller jener ausgeschlossen hätte, thons, die Verantwortungsebenen auf die treu ihre Pflicht gegenüber ihrem SED-Seite sowie die entscheidenden Staat“ getan hatten. Für Seidel war die und ausführenden Personen. Seidel hätte Öffnung der Mauer am 9. November das wohl kaum einen Satz schreiben kön- „eigentliche politische Desaster“. Jede nen, wie er sich in Hahns Dialogfazit staatliche Kontrolle sei der SED damit findet: „Der Bereich der Ideologie muß aus der Hand geglitten. „Gegenüber der nicht ausgeklammert werden, wenn es BRD wurde der stärkste, ja einzige

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Trumpf aus der Hand gegeben.“ Wäre es für Staatssicherheit auf der DDR-Seite nach Seidel gegangen, so hätte die SED aus. Das gilt übrigens auch für seine an- statt nachzugeben lieber rechtzeitig in sonsten erschöpfenden autobiographi- einigen „Regionen den Ausnahmezu- schen Auskünfte. An keiner Stelle er- stand verhängen“ sollen. „Die bewaffne- wähnt Seidel seine eigene Zusammenar- te Macht der DDR hätte allein durch ih- beit mit dem MfS. Einige Zeugnisse re Anwesenheit zur Aufrechterhaltung darüber sind jedoch erhalten geblieben, der Ordnung genügt, ohne auch nur ei- weil das MfS sie sorgfältig archiviert nen Schuß abzugeben. […] Wer hätten hat. Am 17. April 1959 schrieb Leutnant denn einen Bürgerkrieg auslösen sollen? Berge in seinem „Bericht über die Die paar ‚Bürgerrechtler’? Oder die durchgeführte Werbung des Seidel, Karl schweigende Mehrheit der DDR-Bür- als geheimer Informator“, der Kandidat ger? Und womit?“ habe sich ohne Zögern bereit gefunden, In den Jahren, als die Mauer noch stand „die schriftliche Verpflichtung abzuge- und die SED alle Trümpfe in der Hand ben“, und sich selbst den Decknamen hatte, verhandelte Karl Seidel in unzäh- „Arthur“ gewählt. Als „Arthur“ unter- ligen Runden mit westdeutschen Dele- richtete Seidel in den 60er Jahren länge- gationen. An einer Stelle seines Buches re Zeit das MfS über innere Vorgänge spricht er ganz ungeniert über „das im Außenministerium. Über seinen da- Grundmuster“, das die innerdeutschen maligen Chef, Außenminister Otto Win- Gespräche seit den Ostverträgen mit der zer, hatte Seidel keine gute Meinung. Er Regierung Brandt auszeichnete: „Im bescheinigte ihm „einen äußerst Grunde lief es auf ständige Junktims schlechten Arbeitsstil“. Als Seidel in die zwischen finanziellen Leistungen der Moskauer DDR-Botschaft wechselte, BRD gegen Zugeständnisse der DDR erhielt er einen neuen Decknamen, nun bei ‚menschlichen Erleichterungen’ und hieß er „Ingrid“ und hielt das MfS brief- beim Ausbau der Verbindungen zwi- lich über dienstliche und persönliche schen der BRD und Westberlin hinaus.“ Verfehlungen von Botschaftsmitarbei- Seidel bekennt, daß er selbst Anfang der tern auf dem laufenden. Seidels infor- 70er Jahre geglaubt habe, die Frage der melle MfS-Akte endet 1970. Die Ge- menschlichen Bindungen zwischen den heimpolizei schloß den Vorgang formell Ost- und Westdeutschen würden sich aber erst 1988 mit den Vermerk ab: „durch die Zeit erledigen“. Das Gegen- „Wegen Leitungsfunktion fehlende ope- teil sei jedoch eingetreten. Die millio- rative Einsatzmöglichkeiten“. Karl Sei- nenfachen innerdeutschen Kontakte hät- del ist ein Mann mit Prinzipien. Er hat ten die nationalen Bindungen verstärkt, sich bis heute an seine 1959 dem MfS und „die DDR-Identität war zu schwach, versprochene Schweigepflicht gehalten. um dem Druck des Wohlstandsgefälles Jochen Staadt und dem Demokratiedefizit widerstehen zu können“. Deswegen blieb am Ende nur noch die Mauer als der „letzte Trumpf“, den die SED zum Bedauern Seidels am 9. November 1989 dilettan- tisch aus der Hand gab. Karl Seidels Er- innerungen an die vielen deutsch- deutschen Verhandlungsrunden, an de- nen er aus der zweiten Reihe heraus mitgewirkt hat, sparen auf eigentümlich Weise die Mitwirkung des Ministeriums

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Hartmut Paetzke/Hans-Jörg Schirm- die „falsche Romantik, die seine Bilder beck (Hg.): Der Deutsche Künstler- lebensfern macht, zu überwinden“. Da- kongreß in Dresden 1953 – Ein Pro- für hält er den Kollegen aus der Bundes- tokollfund. Archivjahrbuch 4 des republik nachsichtig zugute, daß die „so Kunstwissenschaftler- und Kritiker- wesentliche Hilfe durch unseren Staat, verbandes: 3. Deutsche Kunstausstel- durch Schulen, Verbände und durch die lung Dresden 1953 / Deutscher Künst- öffentliche Kritik den in Westdeutsch- lerkongreß vom 29.–30. April 1953, land schaffenden Künstlern naturgemäß korrigierte und erweiterte Auflage, nicht zuteil wird.“ Von ihnen mußte un- Berlin 2002, 178 S., 25 Euro. ter sehr viel schwierigeren Bedingungen Künstlerkongresse sind in der DDR ein erbitterter Kampf gegen die Ideolo- zwar sorgfältig inszeniert, aber nicht gie der kosmopolitischen Einflußsphäre immer ebenso sorgfältig publiziert wor- und gegen ihre formalistischen Tenden- den. Wenn ihr Ablauf oder einzelne Bei- zen geführt werden. träge der Regie nicht folgten oder von Das sehen einige der westdeutschen politischen Ereignissen überholt wur- Gäste dann doch anders, wenn am zwei- den, blieben die Protokolle in der ten Kongreßtag der Karlsruher Maler Schublade, wie die des 1. Deutschen Kiwitz das Wort nimmt und bekennt: Schriftstellerkongresses 1947 oder – im „Wir aus dem Westen haben eine Vor- vorliegenden Fall – des „Deutschen stellung von einem Bilde, die einem Künstlerkongresses“ im April 1953, der großen Teile der Bilder aus der Ausstel- am Rande der 3. Deutschen Kunstaus- lung nicht entspricht. […] Wir fühlen stellung in Dresden stattfand. Nur zwei uns getroffen, daß über das, was wir so der dort gehaltenen Reden – von Heinz hoch schätzen, wofür wir als Maler und Mansfeld und Lea Grundig – erschienen Künstler kämpfen, daß gerade das als in redigierter Form in der Zeitschrift Formalismus bezeichnet wird.“ Er be- Bildende Kunst , die zum Kongreß mit kommt sogar Beifall, als er fortfährt, die einem 16seitigen Leitartikel „Stalin un- in Dresden gezeigten Arbeiten „sagen ser Freund und Lehrmeister“ aufwartete. uns nicht viel. […] So treten wir – wer Sein Echo hallt auch in den Kongreßre- es fertigbringt, soll es tun – in das große den der ostdeutschen Kunst- und Kultur- ideologische Fahrwasser des Ostens. funktionäre wider, wenn Mansfeld in Darin sind wir uns einig, und wenn wir seinem Eröffnungsreferat den versam- nächstens wieder ausstellen, wünschen melten Künstlern Stalin als Lehrmeister wir unter diesen Umständen auch eine des Sozialistischen Realismus empfiehlt. Jury, um als westdeutsche Künstler be- (Und nachdem die Jury der „Dritten rücksichtigt zu sein.“ Kunstausstellung“, der Mansfeld ange- Dazu ist es nicht mehr gekommen, aber hörte, zuvor Otto Dix als Juror abberu- das ist wohl nur einer der Gründe, daß fen hatte. Dix erschien denn auch gar das Protokoll dieses Kongresses in der nicht erst zum Kongreß, obwohl er ge- Versenkung verschwand. Wahrschein- rade in Dresden war.) lich waren es sogar gerade die eigenen Mansfeld erteilt den wenigen westdeut- Tiraden gegen Formalismus und Loblie- schen Gästen, die sich weder vom Um- der auf Stalin, die schon wenige Wo- gang mit Dix noch von den Schikanen chen später – nach Stalins Tod, dem 17. der eigenen Behörden an der Teilnahme Juni und dem „Neuen Kurs“ der SED – hindern ließen, Nachhilfeunterricht. So kurzfristig nicht mehr opportun waren. rät er dem rheinischen Landschaftsmaler Der Herausgeber des jetzt gedruckten Carlo Mense eine „realistische Ausei- Kongreßprotokolls, Hartmut Paetzke, nandersetzung mit seinen Motiven“, um vermutet mit Recht: „Falls 1953 die Ab-

Rezensionen 199 sicht bestanden haben sollte, das Proto- Dresden in den Vorstand der Sektion koll des „Deutschen Künstlerkongres- Bildende Kunst im „Deutschen Kultur- ses’ im Ganzen zu veröffentlichen, ha- tag“ gewählt – Präsident des BBK wur- ben der ‚Neue Kurs’, der Aufstand der de. Auch das westdeutsche Kapitel des Arbeiter vom 17. Juni 1953 […] und die Kalten Kulturkrieges harrt noch seiner Beiträge, die aus den Protokollen der Historiographen. Sie müssen sich nicht außerordentlichen Vorstandssitzungen unbedingt soviel Mühe machen wie der des Verbands Bildender Künstler Herausgeber des Archivjahrbuchs, der Deutschlands (VBKD) am 7. und 8. Au- den 115 Seiten des Kongreßprotokolls gust 1953 und am 14. November 1953 einen Anhang beigegeben hat, in dem zusammengefaßt wurden und unter dem nicht nur Heinz Mansfeld (1 Seite) und Titel ‚Neuer Kurs und die Bildenden Helmut Holtzhauer (1 Seite), sondern Künstler’ erschien, das zumindest aktu- auch Karl Marx (1 Seite), Friedrich En- ell hinfällig gemacht.“ Einige der Ak- gels (1/2 Seite), Josef Stalin (4 Seiten), teure des Kongresses – darunter der Mao Zedong (1/2) und – Konrad Ade- Vorsitzende der Staatlichen Kunstkom- nauer (4 Seiten) mit Kurzbiographie, mission und größte Scharfmacher Hel- Primär- und Sekundärliteratur gewürdigt mut Holtzhauer – waren sogar (nach werden. Nur einer fehlt seltsamerweise: Auflösung der Kommission) vorüberge- Walter Ulbricht. hend von der Bildfläche verschwunden. Hannes Schwenger Dem Herausgeber ist zuzustimmen – und dem Kunstwissenschaftler- und Kunstkritikerverband für die Publikation Maren Köster: Musik-Zeit-Gesche- des Protokolls als Archivjahrbuch 4 zu hen. Zu den Musikverhältnissen in danken –, „daß die Begegnungen der der SBZ/DDR 1945 bis 1952. Pfau- Künstler aus den beiden deutschen Staa- Verlag, Saarbrücken 2002, 179 S., 20 ten, speziell in den fünfziger Jahren, nä- Euro. her untersucht werden müssen.“ Doch Das Musikleben stellt bei der wissen- ist die Aktenlage nicht so gut, wie der schaftlichen Aufarbeitung der SED-Dik- Fund dieses Protokolls vermuten läßt: tatur nach wie vor ein Stiefkind dar. Um „Die Aktenordner, die Materialien zu so mehr ist das Erscheinen einer Arbeit dem deutsch-deutschen Gespräch in den wie die nunmehr im Druck vorliegende fünfziger Jahren enthielten und in einem Rostocker Dissertation von Maren Kös- verschlossenen Schrank im Keller des ter zu begrüßen. Die Autorin, eine aus Verbandes Bildender Künstler der DDR Bremen stammende und in Berlin le- in der Inselstraße 12 Anfang der neunzi- bende Musikwissenschaftlerin, gliedert ger Jahre entdeckt wurden, waren leer.“ ihr Buch in zwei inhaltlich nicht streng Dafür kann man im Westen fündig wer- voneinander abgegrenzte Teile, von de- den: Im Archiv des Westberliner Be- nen der erste („Zur gesellschaftlichen rufsverbands Bildender Künstler fanden Relevanz von Musik“) eher ereignisori- sich in den 70er Jahren Akten, die bele- entiert und der andere („Biographien – gen, daß das Gesamtdeutsche Ministeri- Institutionen – Werk“) eher institutionell um die Teilnehmer solcher Gespräche und personell zentriert ist. mit erheblichen Geldmitteln in ihren Daß Köster die Grenzen traditioneller Verbänden zu isolieren suchte und das Musikgeschichtsschreibung überwinden Gesamtdeutsche Ministerium sogar eine will und in diesem Sinne auch Anregun- Spaltung des bundesdeutschen Künst- gen etwa aus neuerer kulturwissen- lerverbands BBK finanzierte, als der schaftlicher Literatur aufgreift, muß Hamburger Maler Eylert Spars – in grundsätzlich lobend hervorgehoben

200 ZdF 14/2003 werden. Sie liefert keine „Musikge- stößt die Autorin spätestens dann an die schichte“, geschweige denn eine Kom- Grenzen der gebotenen wissenschaftli- positionsgeschichte, sondern setzt den chen Objektivität, wenn sie bisweilen Schwerpunkt ihres Interesses auf die solche Arbeiten noch nicht einmal als äußeren Determinanten der musikkultu- brauchbares Quellenmaterial gelten läßt. rellen Entwicklung: auf die politischen Ihr ganzer Argumentationsstil ist von Zustände im östlichen Nachkriegs- der altbekannten Legende des guten An- deutschland und auf die Biographien der fangs durchdrungen. Wie in vielen das Musikleben beherrschenden Perso- linkslastigen Publikationen zur frühen nen. Somit darf der Leser keine flächen- DDR-Geschichte wird die Nachkriegs- deckende musikgeschichtliche Aufarbei- zeit als ein von ideologischen Vorgaben tung der Nachkriegsepoche erwarten; im noch weitgehend freies Terrain betrach- Grunde handelt es sich bei Kösters Buch tet, das ab 1948 überhaupt erst restriktiv um eine Zusammenstellung einzelner von der Politik besetzt wurde. Die naive Fallstudien, die überwiegend Gegen- Gutgläubigkeit gegenüber der in Wirk- stände abhandeln, welche bereits von lichkeit von Anfang an auf Täuschung der Forschung – darunter auch durch angelegten kommunistischen Taktik ist Aufsätze der Autorin (etwa zur Ge- angesichts des heutigen Erkenntnisstan- schichte der Kommission Musik des des anachronistisch. Als hätte sie vom Kulturbundes) – erschlossen worden Mißbrauch des Demokratie-Begriffs sind. Schon den im Titel vorgegebenen durch die sowjetischen und deutschen lokalen und zeitlichen Anspruch erfüllt Kommunisten während der Zeit des so- Köster nur zum Teil. So widmet sie sich genannten antifaschistisch-demokrati- fast ausschließlich den Verhältnissen in schen Aufbaus nie etwas gehört, be- Berlin und vernachlässigt nahezu völlig hauptet die Autorin, daß während dieser die übrige SBZ/DDR. Und auch hin- Jahre in der SBZ der Versuch unter- sichtlich des vorgegebenen Zeitrahmens nommen worden wäre, „die Musikver- sind die Grenzen fließend: Einerseits be- hältnisse – und mit ihnen die allgemei- rücksichtigt die Autorin die erst 1953 nen Lebensverhältnisse – wirklich zu stattgefundene Auseinandersetzung um demokratisieren“, ein Versuch, der dann Eislers Opernlibretto „Johann Faustus“, bedauerlicherweise „aus vielerlei Grün- andererseits hat sie ein so wichtiges Er- den“ gescheitert sei (S. 85). Köster eignis wie die Gründung des Komponis- scheint von dem Motiv angetrieben zu tenverbandes 1951 aus ihrer Betrach- sein, den Nachweis zu erbringen, daß tung ausgeklammert, obwohl es in die unter den Schafspelzen sich auch wirk- im Titel angegebene Periode fällt. lich nur harmlose Lämmer befunden Als schwerwiegender sind diejenigen hätten – allem Argwohn alter und neuer Lücken zu bewerten, die sich aus der se- „Kalter Krieger“ zum Trotz. Beispiels- lektiven Wahrnehmung des Gegenstan- weise leugnet sie bei der Charakterisie- des infolge der politischen Voreinge- rung des im Mai 1948 in Prag stattge- nommenheit der Autorin ergeben. Dies fundenen „II. Internationalen Kongres- betrifft nicht zuletzt auch die in der Ar- ses der Komponisten und Musikkritiker“ beit berücksichtigte Literatur. Daß Kös- die politische Gleichschaltungsfunktion ter, die offenbar die DDR immer noch dieses Ereignisses – das in erster Linie für das bessere Deutschland hält, gene- dem Export des sowjetischen Musikbe- rell Forschungsergebnisse SED-kriti- schlusses vom Februar desselben Jahres scher Autoren als Kalte-Kriegs-Literatur diente. Insbesondere das (von Hanns Manifest schmäht, mag man noch als persönliche Eisler entworfene) des Kon- Meinungsäußerung tolerieren, jedoch gresses wird von Köster als überwie- gend ästhetisch intendiertes Dokument

Rezensionen 201 dargestellt und damit politisch verharm- propagierten, eigentlich ablehnend ge- lost. Für die von Theodor W. Adorno genübergestanden. Der Gipfelpunkt die- bereits 1948 in dem Aufsatz „Die ge- ser durch keinen stichhaltigen Beweis gängelte Musik“ veröffentlichte treffen- bekräftigten Behauptung stellt die Ver- de Analyse des Prager Kongresses hat mutung dar, Dymschitz’ Zeitungsartikel die Autorin auch heute nur ein hilfloses „Über den Formalismus in der deut- Achselzucken übrig (S. 48). Und nicht schen Malerei“, mit dem Ende 1948 in annähernd vermag sie etwa dem Leser der SBZ der stalinistische Feldzug ge- die Tragik der Rolle zu vermitteln, die gen die Moderne eröffnet wurde, habe Eisler auf dem genannten Kongreß den Versuch bedeutet, eben diese Kam- spielte: Einerseits hatte der Komponist pagne „von der SBZ fernzuhalten“ in seinem Referat „Gesellschaftliche (S. 79). Grundfragen der modernen Musik“ den Köster begründet ihre Forderung nach Versuch einer Ehrenrettung seines ver- SED-freundlicher Historiographie da- ehrten Lehrers Arnold Schönberg unter- mit, daß „mit dem Ende der Ost-West- nommen – und es auch nicht unterlas- Konfrontation“ zugleich auch „die sen, einiges von der eigenen ästheti- Denkmodelle des Kalten Krieges“ „his- Manifests schen Position in den Text des torisch obsolet geworden“ seien (S.12). einzuschmuggeln –, andererseits war er In Wahrheit hat aber gerade die von der aber offenbar nicht in der Lage, in der Autorin favorisierte Methode, die ei- Veranstaltung als solcher, die er durch gentlich ein alter Hut ist, vor der Ge- seine Autorität als prominentester Teil- schichte versagt. Auch ohne daß Köster nehmer aufzuwerten half, eine jener auf den ihr offenbar unbekannten „sys- Maßnahmen zu erblicken, „welche die temimmanenten“ Ansatz der DDR- östlichen Kulturvögte im Gefolge der Forschung Bezug nimmt, wird der Leser nazistischen verhängen“ (Adorno). bei der Lektüre ihrer Dissertation fort- Reichlich gutgläubig fällt auch Kösters während an die Ära erinnert, in der eine Einschätzung der Rolle aus, die die sow- Flut westdeutscher Publikationen der jetischen Kulturoffiziere beim Aufbau SED-Diktatur die Eigenschaft perma- des ostdeutschen Musiklebens spielten. nenter Wandlungsfähigkeit attestierte – Zwar ist zunächst positiv anzumerken, ausgerechnet zu einer Zeit, in der sich daß die Autorin sich diesem unter mu- fast gar nichts mehr in der DDR wandel- sikpolitischen Gesichtspunkten noch te. wenig erforschten Gebiet zugewandt hat Den größten Gebrauchswert des Buches und hier auch trotz der schwierigen für die Forschung stellen biographische Quellenlage einige interessante biogra- Studien dar, die sich in dieser Fülle bis- phische Details mitteilen kann, doch lei- her in keiner anderen Publikation fin- det ihre Darstellung unter dem selbst- den. Dabei konnte die Autorin die durch auferlegten Zwang, die durchweg als Archivrecherche gewonnenen Angaben Gutmenschen charakterisierten SMAD- in vielen Fällen durch mündliche Aus- Angehörigen von ihrer Mitverantwor- künfte, die entweder von den Porträtier- tung für die Sowjetisierung der Musik- ten selbst oder von deren Angehörigen verhältnisse in der SBZ freizusprechen. stammen, um so manches interessante So unterstellt sie, der bis 1948 für Musik Detail ergänzen. So ist bisher Unbe- zuständige SMAD-Offizier Sergej Bar- kanntes aus der holländischen Exilzeit skij und dessen Chef, der Leiter der des späteren ersten Komponistenver- SMAD-Kulturabteilung Alexander bandschefs Nathan Notowicz (1911– Dymschitz, hätten den Shdanowschen 1968) zu erfahren, und auch Notowicz’ Kunstbeschlüssen, die sie pflichtgemäß Geburtsort, der bisher in allen Lexika

202 ZdF 14/2003 fälschlicherweise mit Düsseldorf ange- ter des NS-Regimes anerkennen zu las- geben wurde, konnte Köster erstmals sen. korrekt ermitteln: Notowicz, der seine Lars Klingberg Kindheit ab 1913 in München und dann in Düsseldorf verlebte, war am 31. Juli 1911 in der galizischen Kleinstadt Ty- czyn geboren worden. Von besonderem Interesse für den Leser dürften Kösters biographische Anmer- kungen zu Personen mit NS-Vergan- genheit sein. Die Erkenntnis, daß unter den Exponenten des Musiklebens in der DDR nicht nur Antifaschisten waren, sondern daß die Zahl NS-belasteter Per- sonen sogar überaus hoch war, vermag freilich nur jene Leser zu überraschen, die noch immer der Legende vom unbe- fleckte antifaschistischen Neubeginn Glauben schenken wollen. Durch die

Säuberung ihrer Biographien und den rechtzeitigen Wechsel in die neue Staatspartei gelang es etlichen Nazi- Mitläufern, ihre im NS-Staat begonne- nen Karrieren ungebrochen fortzusetzen. Zu Recht stellt Köster fest, daß dieses Thema „bis zum Ende der DDR ein Ta- bu“ geblieben ist (S. 86). Beispielsweise wurde der Komponist Johann Cilenšek

(1913–1998) schon 1947 Professor und später Rektor der Weimarer Musikhoch- schule. Steil verlief auch die Karriere von Walther Siegmund-Schultze (1916– 1993), einem der treuesten SED- Parteisoldaten unter den Musikwissen- schaftlern in der DDR. Beiden glückte es, sich nach 1945 als Antifaschisten auszugeben, obwohl sie beide schon

1934 in der SA tätig geworden und 1937 in die NSDAP eingetreten waren. Das bizarre Täter-Opfer-Schicksal des Mu- sikkritikers Karl Schönewolf (1894– 1962) war zu DDR-Zeiten nur der Stasi bekannt. Obwohl Schönewolf 1938/39 wegen einer homosexuellen Beziehung für fünf Monate inhaftiert und aus der NSDAP ausgeschlossen wurde, konnte er es nach 1945 aus naheliegenden Gründen nicht wagen, sich als Verfolg-

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Heidrun Budde: Willkür! Die Schat- leichterungen“ oder auch „finanzielle tenseite der DDR. Ingo Koch Verlag, Zuwendungen“ gewährte, wußte man im Rostock 2002, 752 S., 38 Euro. allgemeinen zwar nicht, hielt es aber für Was hat zum gesellschaftlichen Um- durchaus möglich. Ebenso, daß der so- bruch in der DDR geführt? Waren es zialistische Untertan, äußerte er sich nicht wirtschaftliche Engpässe, deren „negativ“ oder gar „feindlich“, plötzlich das DDR-Volk schließlich leid war? vom Arbeitsplatz „abberufen“ werden Und deuteten nicht Ausreisebewegung, konnte. Der Fall des Technischen Offi- marode VEBs und Konsumrausch nach ziers, der auf einem DDR-Handelsschiff dem Fall der Mauer darauf hin? Oder Udo Lindenbergs Spottlied „Es fährt ein war es der Wunsch nach politischer Sonderzug nach Pankow“ laut in der Freiheit, die Sehnsucht, einem muffigen Kantine hörte und dem man dafür das Obrigkeitsstaat zu entfliehen, der seine Seefahrtsbuch entzog, ist durchaus kein als „Bürger“ titulierten Subjekte bestän- einzelner. Diese und ähnliche Vorfälle dig bespitzelte, demütigte und vor allem bestimmten den Erwartungshorizont des beständiger Willkür aussetzte? Letzteres DDR-Bürgers. Außerdem dürfte wohl ist jedenfalls die Antwort von Heidrun jedem Ostdeutschen vor 1989 klar ge- Budde, die sie in ihrem Buch auf diese wesen sein, daß nur der mit „Jugendtou- Frage findet und als „Beweis“ für den rist“ ins Ausland reiste, der sich auch zu „Volkszorn“ des Jahres 1989 heraus- Hause linientreu gab, hingegen der Que- stellt. rulant, Individualist oder auch „Ver- dächtige“, auf organisierte Reiseidylle Der mit Quellenverzeichnis und Doku- nicht zu hoffen brauchte. Daher hätte mentenabdrucken über 700 Seiten um- sich die Verfasserin auch sparen kön- fassende Wälzer liest sich denn auch nen, eifrig mit „sozialistischen Verfas- wie eine bedrückende Anthologie des- sungsnormen“ und anderen DDR- potischer Akte, vor denen das Individu- Rechtssätzen zu argumentieren, um so um im „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ den willkürlichen Charakter bestimmter nicht gefeit war. Jedoch ist hierin nicht Verwaltungsentscheidungen zu unter- von sattsam bekannten Fällen der dissi- streichen. Man braucht heute nicht mehr denten DDR-Intelligenzija die Rede, langatmig zu beweisen, daß die DDR sondern von dem, was sich in den heuti- ein Unrechtsstaat gewesen war, in dem gem Interesse und Verständnis weitge- die Staatsräson sehr oft vor dem Gesetz hend entzogenen Lebensbereichen an rangierte. borniertem Dünkel und mitunter perver- ser staatlicher Willkür manifestierte: et- Interessant jedoch ist, wenn Budde auf wa im DDR-Strafvollzug, in der soge- die geheimen Ausbürgerungsmethoden nannten sozialistischen Arbeitswelt oder zu sprechen kommt. Die Ausbürgerung auch beim Feriendienst des FDGB. war nicht nur probates Zwangsmittel, sich gewisser Oppositioneller zu entle- Freilich, das Buch fördert für den mit digen, auch andere Personen konnte dies der jüngsten deutschen Geschichte ver- betreffen; vor allem dann, wenn sie trauten Leser zumeist nichts grundle- straffällig geworden waren, keiner gere- gend Neues zutage. Deshalb wirkt zu- gelten Arbeit nachgingen oder für den weilen auch Buddes entsetzter Gestus, Staat einfach volkswirtschaftlich nicht beispielsweise der des öfteren zu lesen- rentabel waren. Hier vermag es die Au- de Satz: „Das müssen Sie sich einmal torin durchaus, der „Schattenseite der vorstellen!“ etwas befremdlich und af- DDR“ einige weniger bekannte Details fektiert. Denn daß die Stasi unter den hinzuzufügen. Denn was weiß man heu- Gefängnisinsassen sogenannte Zellenin- te noch von jener eliminatorischen Lo- formanten rekrutierte, dafür „Hafter-

206 ZdF 14/2003 gik der DDR-Behörden, in der kruder gen“, heißt es in einem Bittbrief der Homogenitätswahn, dumpfer Ordnungs- Mutter; und an anderer Stelle „[…] hier sinn und ökonomisches Kalkül nicht sel- in unserer DDR ist er zu Hause, in Ös- ten in eine schlichtweg inhumane Praxis terreich ist er fremd […], dort geht er mündeten? mir ganz unter“. Allein es half nichts. Das tragische Schicksal des Rudolf S. Als Rudolf S. 1968 erneut zu einer Ge- aus Dresden ist hierfür bezeichnend: fängnisstrafe verurteilt wurde, geriet er Rudolf S. wurde 1941 in Österreich ge- wiederum ins Visier der Abschiebung, boren. Er war nach der damaligen obwohl ein Gericht vorgeschlagen hatte, Rechtslage Deutscher, erhielt aber nach ihn freiwillig in eine Einrichtung für 1945 seine österreichische Staatsange- psychisch Kranke einzuweisen. Doch hörigkeit zurück. Seine Mutter, eine Ös- das interessierte die dafür zuständigen terreicherin, siedelte im Jahr 1948 in die Behörden anscheinend nicht. Direkt sowjetische Besatzungszone über, um nach seiner Haftentlassung verbrachte ihre zweite Ehe mit einem Deutschen zu die Volkspolizei Rudolf S. über die schließen. Sie erwarb damit die deutsche tschechische Grenze und gab ihm eine Staatsbürgerschaft, und auch die Halb- Fahrkarte nach Wien. Man ließ Rudolf geschwister von Rudolf S., die aus die- S. noch wissen, daß „erneute Einreisen ser Ehe hervorgingen, waren nach dem in die DDR nach seiner Ausreise nicht Abstammungsprinzip deutsche Staats- erwünscht“ seien. Die DDR, die ansons- bürger. Bis zum Beginn der 60er Jahre ten Humanität und Moral für sich ge- interessierte sich praktisch niemand da- pachtet hatte, entließ somit einen offen- für, daß aus der Familie nur Rudolf S. bar psychisch kranken Mann in eine un- die österreichische Staatsbürgerschaft gewisse Zukunft, in ein Land, in dem er besaß. Das änderte sich allerdings, denn weder Angehörige noch Freunde besaß, Rudolf S. wurde während dieser Zeit das ihm vollkommen entfremdet war. straffällig. Rudolf S., der an Debilität litt Ähnlich perfide reagierte die sozialisti- und nur die Hilfsschule absolviert hatte, sche Obrigkeit, wagten sich die Unterta- entblößte sich vor Kindern. Als man ihn nen in Personen aus dem Westen zu ver- dafür 1963 bereits zum zweiten Male zu lieben. Ehe war zwar auch im „besseren einer Gefängnisstrafe verurteilte, erin- Deutschland“ Privatsache, doch wollte nerten sich die DDR-Behörden daran, man zwecks Heirat in das „nichtsozialis- daß ja Rudolf S. gar kein deutscher tischen Wirtschaftsgebiet“, womöglich Staatsbürger war. Nunmehr versuchte gar in das Land der „Bonner Ultras“ man Rudolf S. an den österreichischen ausreisen, begannen „Eheberater“ des „Klassenfeind“ loszuwerden. So erging MfS hellhörig zu werden. Was auch im Jahr 1964 beim Ministerium des In- immer Heidrun Budde an Fällen von neren der DDR, Hauptabteilung Paß- „Ehe Ost-West“ zusammengetragen hat, und Meldewesen, ein erster Antrag auf die Handlungsmuster der sogenannten „Ungültigkeitserklärung der Aufent- zuständigen Stellen blieben stets die haltsberechtigung“ für Rudolf S.; Ab- gleichen: man lud zu entwürdigenden sender war die Bezirksbehörde der „Aussprachen“, man drohte, man be- Deutschen Volkspolizei in Dresden. Die spitzelte; man versuchte mit den infams- Familie intervenierte heftigst und ließ ten Methoden die Paare einander zu ent- dabei keinen Zweifel an ihrer opportu- fremden, mitunter sogar zu kriminalisie- nen ideologischen Gesinnung. „Meines ren. Manchen DDR-Bürger brachte die Sohnes Großvater hat sein ganzes Leben verbotene Liebe denn auch ins Gefäng- lang für die KPÖ gekämpft. Ich selber nis – wegen „landesverräterischer Agen- bin 1939 schon illegal agitieren gegan- tentätigkeit“. Fruchtete all dies nicht, so

Rezensionen 207 gab es seitens der sozialistischen die mehr einen „Civic-culture-Ansatz“ Staatsmacht nur noch eines: „Kontakt- favorisieren, werden das belegen. Es be- sperre“, was hieß: keine „Aus- oder Ein- streitet niemand den despotischen Cha- reisegenehmigung“, manchmal über rakter des SED-Regimes, jedoch folgte Monate oder auch Jahre hinweg. Es ist der Aufstand gegen die sozialistische offenbar nicht mehr zu ermitteln, wie Willkür nicht, wie es die Autorin ver- viele Tragödien die DDR hierbei zu ver- muten läßt, der Lorenzschen Pressions- antworten hat, wahrscheinlich auch logik, sondern erst als die tiefsitzenden nicht, wie vielen Menschen nun doch gesellschaftlichen Widersprüche nicht noch die makabre Gnade einer staatli- mehr zu verheimlichen waren, erst als chen Heiratserlaubnis zuteil wurde. Ei- die Lügen der SED so übermächtig nes wird nach der Lektüre jedoch klar: wurden, daß sie selbst der Dümmste als Mit derlei Praktiken übertraf die DDR solche wahrnahm . Erst also, als die sogar noch die Willkür des Ancien DDR ihre Willkürherrschaft nicht mehr régime. legitimieren konnte, begehrte das Volk Leider hat der Verlag in dem Band da- auf – und aus den sozialistischen Unter- rauf verzichtet, die Autorin kurz vorzu- tanen wurden freie Bürger. stellen. Jedoch stammt Heidrun Budde Michael Böhm offenbar selbst aus der DDR. Ihre pro- funde Kenntnis der bürokratischen Strukturen der DDR, die sie hier unter Beweis stellt, ihr untrüglicher Instinkt, mit dem sie die sozialistische Despotie für den Leser immer wieder sichtbar macht, nicht zuletzt ihr Sprachgebrauch lassen dies zumindest vermuten. Man spürt es: Hier schreibt jemand nicht nur passioniert über das, was er in Akten ge- lesen hat, sondern über etwas, was er aus eigenem Erleben heraus wohl auch sehr gut kannte. Jedoch führen Buddes Untersuchungen auch zu einem etwas kurzen Schluß. Wie viele DDR-Bürger haben im Gefängnis gesessen? Wie vie- le von ihnen wollten in den Westen hei- raten oder mit der „Völkerfreundschaft“ in die Karibik fahren, wie viele von ihnen schließlich waren mit dem Aus- bürgerungsproblem konfrontiert? Es dürfte sich hierbei nur um bestimmte Bevölkerungsteile handeln, um Gruppen also, die als Beweis für die eingangs vorgestellte These nicht ausreichen. Es muß vielmehr gesagt werden: Das DDR-Volk war durch die deutsche ob- rigkeitsstaatliche Tradition kulturell ge- prägt und nahm in seiner großen Mehr- heit die sozialistische Willkür nur be- dingt wahr. Entsprechende Analysen,

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Rolf Steininger: 17. Juni 1953. Der der DDR: Weg vom Unterpfand, hin zu Anfang vom langen Ende der DDR. der Rolle des strategischen Glacis nach Olzog Verlag, München 2003, 206 S., Westen im Bündnis mit der UdSSR. Die 12 Euro. im Buch teilweise faksimilierten frag- Rolf Steininger schrieb 1985 ein Buch mentarischen Aufzeichnungen Wilhelm über die Stalin-Noten des Jahres 1952, Piecks über die wohl wichtigste Unter- das – obgleich nur ein Taschenbuch – redung der engsten Partei- und Staats- seinerzeit für Aufsehen sorgte, weil es führung der DDR und der UdSSR über- eine letzte Debatte über die Frage der haupt am 7. April 1952 sind ein Beweis Ernsthaftigkeit dieser Noten auslöste für die veränderten Prioritäten Stalins. und heute als Standardwerk gilt. Steini- Stalins Skizze lautete wohl wörtlich: gers neuestes Buch reiht sich thematisch „Atlantikpakt – selbständiger Staat im in die lange Liste von Büchern ein, die Westen Demarkationslinie gefährliche dieser Autor zur Deutschen Frage und Grenze 1. Linie deutsche Stasi, dahinter der Geschichte des Kalten Krieges ver- Sowjetsoldaten … Nicht Miliz sondern faßt hat. Wie immer besticht der präzise ausgebildete Armee (aufbauen). Alles Stil. ohne Geschrei, aber beharrlich … Ein- heit, Friedensvertrag – weiter agitieren“ Steininger beweist wieder einmal, daß (S. 33). Am Anfang des 17. Juni steht Lesbarkeit nicht auf Kosten des wissen- diese Skizze eines massiven Aufrüs- schaftlichen Anspruchs zu gehen tungsprogramms für ein ausgeblutetes braucht und vermeidet andererseits je- Land, dessen wichtigste Betriebe ohne- den Plauderton. Der neueste For- hin als SAG in der Hand der Sowjets schungsstand zum 17. Juni 1953 und waren und das noch immer ca. 25 Pro- seiner Vorgeschichte wird anschaulich zent seines BIP als Reparationen abzu- zusammengefaßt, dazu tragen sowohl liefern hatte. Die II. Parteikonferenz der Abbildungen als auch ein kleiner Do- SED setzte im Juni 1952 die Vorgaben kumententeil bei. Obwohl die Grün- Stalins unter organisiertem Jubel der dungsphase der DDR, ihre Konsolidie- Delegierten in Beschlüsse um. Ulbrichts rung zwischen 1961 und etwa 1973 und Schlüsselreferat proklamierte den „Auf- ihr langer Abstieg dargestellt werden, bau des Sozialismus“: Verschärfter bildet der 17. Juni 1953 als konstitutiver Klassenkampf gegen bürgerliche Rest- Wendepunkt den Schwerpunkt des Bu- bestände, Kirchenkampf, forcierte Kol- ches. lektivierung in LPG, PGH und HO, Ab- An den Anfang stellt Steininger die Ver- schaffung der Länder und Schaffung suche der SED-Führung, die sowjetische von Bezirken, Ausbau der Volkspolizei Besatzungszone sehr viel schneller nach und eine Kampagne für den (noch) frei- dem Vorbild der „Volksdemokratien“ zu willigen Wehrdienst unter Mitwirkung organisieren. Ihr Übereifer vertrug sich von FDJ, FDGB und der neu geschaffe- trotz der Staatsgründung noch nicht mit nen paramilitärischen GST; schließlich: dem deutschlandpolitischen Generalplan Auf- und Ausbau der Schwerindustrie, Stalins, der die Verhinderung einer anti- um Kompensationsgüter für sowjetische sowjetischen Allianz in Westeuropa in Waffenlieferungen bereitstellen zu kön- den Vordergrund stellte und dabei die nen. Und das alles zusätzlich zum lau- DDR als Unterpfand sah. fenden Fünfjahresplan, der selbst schon Steininger beschreibt die Ablehnung der längst Fiktion war. Der „Aufbau des So- Stalin-Noten durch die Westalliierten im zialismus“ traf die DDR-Bevölkerung März 1952 als optionalen Wechsel im ohne die sonst übliche propagandisti- Denken Stalins in Bezug auf die Rolle sche Vorbereitung. Grund war die zö- gernde Haltung der KPdSU, die erst

Rezensionen 211 wenige Tage vor Beginn der II. Partei- daß, wie Steininger schreibt, der Auf- konferenz ihre Zustimmung zum „Auf- stand sich in den Juli und August hin- bau des Sozialismus“ gab. zog.Befriedet war die Arbeiterschaft, Administrative Verknappung und Ver- wie der Verfasser selbst feststellte, auch teuerung von Konsumgütern des tägli- im Sommer des darauffolgenden Jahres chen Bedarfs und die damit einherge- noch nicht. Augrund der drakonischen hende Frustration über ein Regime, das Strafen kam es dann zwar nicht mehr zu vorgab, immer im Interesse der arbei- Streiks, wohl aber zu Protestverhalten tenden Massen zu regieren, steigerten knapp unterhalb der Streikschwelle bzw. sich in der Folgezeit beständig. zu Minutenstreiks. Schließlich ist es verdienstvoll, daß Steininger die allge- Steiningers Knappheit der Darstellung, meinpolitischen Forderungen der Auf- die nur die allgemeine Stimmung in je- ständischen unterstreicht. Der Aufstand ner Zeit umreißen kann, fallen die In- ist auch als Protest gegen die zuneh- strukteurberichte des FDGB aus den Be- mende Spaltung Deutschlands zu sehen. trieben zum Opfer. Aus diesen Berich- Nahezu überall wurden freie Wahlen in ten von an die Basis entsandten Kadern ganz Deutschland in die Forderungska- ist die Stimmung der Arbeiterschaft un- taloge und Resolutionsentwürfe aufge- geschminkt ablesbar, die sich seit De- nommen. Das Ergebnis solcher Wahlen zember 1952 in spontanen Arbeitsnie- war für die SED und die Besatzungs- derlegungen, Sabotageakten und mas- macht vorhersehbar. senhaften „Republikfluchten“ kontinu- ierlich auch über die Tage um den 17. Steininger teilt im übrigen die These Juni 1953 hinaus äußerten. von der „zweiten Staatsgründung“ der DDR infolge des 17. Juni. Die Besat- Der Kulminationspunkt war die pau- zungsmacht stärkte von nun an die schale Normerhöhung um zehn Prozent Staatsqualität der DDR, was sich im durch ZK-Beschluß vom 13. Mai 1953, August 1953 unter anderem im Verzicht die freiwillige Normerhöhungen in den auf künftige Reparationen manifestierte. Wochen und Monaten zuvor unberück- Die DDR konnte von da an Freiräume sichtigt ließ, so daß einzelne Beleg- gegenüber der UdSSR weit unterhalb schaften faktische Normerhöhungen von der Souveränität behaupten. Das Buch 25 Prozent und mehr hinnehmen muß- geht auch auf den Mauerbau 1961 als ten. Bei dieser Normerhöhung sollte es die letzte große Zäsur der DDR- offenbar auch bleiben, als der „Aufbau Geschichte vor 1989 ein, der wohl wie- des Sozialismus“ zugunsten des „Neuen der eine Staatsgründung oder eine Kurses“ revidiert wurde. Der Verlauf „Wiedergeburt“ war, wie Steininger zi- des Aufstands ist bekannt und wird dar- tiert. Berücksichtigt man den Exodus gelegt. Bei Steininger kommen jedoch ambitionierter junger Leute, war der einige Aspekte hinzu, die bislang ent- Mauerbau sicherlich eine stabilisierende weder unbekannt, von Legenden ver- Maßnahme der SED im Einvernehmen schüttet oder nicht geläufig waren. Dazu mit der Sowjetführung und mit Wissen gehört, daß der Aufstand flächende- und Duldung der Westmächte. Aber nie ckend war und auch die Bauern voll er- wieder hat es die DDR-Partei- und faßte. Zwar gab es klare Aufstandszen- Staatsführung wie 1953 auf eine Macht- tren und auch ein Süd-Nord-Gefälle hin- probe mit dem Volk wegen materieller sichtlich der Intensität, aber in Klein- Einschnitte ankommen lassen. Staats- städten und auf dem Land gab es eben- macht und Bevölkerung fanden einen falls Protest. Bauern verließen in jenen modus vivendi – so häßlich der auch Tagen aufgrund des „Neuen Kurses“ manchmal war; die Grundversorgung an scharenweise die LPG. Vergessen war,

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Konsumgütern stellte der Staat von nun an sicher. Der Repressionsapparat wuchs im Gegenzug und „verfeinerte“ sich, um das langsam und mühselig auf- gebaute internationale Renommee nicht zu gefährden. Als die DDR dann zu- sammenbrach, wurde überdeutlich: „Sie war ein Irrweg in der deutschen Ge- schichte, sie war grau und trist, muffig, kleinbürgerlich und braunkohlestinkig, repressiv und perspektivlos. Am Ende wollten die meisten nur noch weg“ (S. 107). All jenen, die sich auf den neues- ten Stand der Forschung zum 17. Juni 1953 bringen wollen und sich einen Einblick in die Folgejahre der „zweiten Staatsgründung“ verschaffen möchten, sei Steiningers Buch empfohlen. Andreas Graudin