Neuzugänge Buchbesprechungen Barbara Degen: Das Herz schlägt in Ravens- brück. Die Gedenkkultur der Frauen. Opladen Gute Geschäfte – Kunsthandel Handelsregister an. Es folgten Niederlassungen in & Farmington Hills: Budrich Verlag, 2010 München und Bad Kissingen. 1965 erhielt er das in 1933–1945 Bundesverdienstkreuz für seine Verdienste um das deutsche Auktionswesen. Bis zu seinem Tod hatte er Volkhard Knigge, Rikola-Gunnar Lüttenau, „Gute Geschäfte“ – der Titel des Katalogs zur gleich- 462 Kunstauktionen geleitet. Seine Familie führt das Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwangsarbeit. namigen Ausstellung, der im folgenden besprochen Auktionshaus bis heute weiter. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der wird, ist von den Organisatoren der Ausstellung Der Katalog bietet einen spannenden Einblick in die Krieg. Weimar: 2010 absichtlich mehrdeutig gewählt. Die Ambivalenz des Geschichte des Berliner Kunsthandels von 1933 bis Berliner Kunsthandels zwischen 1933 und 1945 soll 1945, allerdings muss in den kommenden Jahren dem Leser schon im Titel begegnen. „Gute Geschäfte“ Hans-Gerd Warmann: „Herr Abrahamson, und Jahrzehnten mit Sicherheit im Bereich des Kunst- können sowohl Läden mit qualitativ hochwertigen handels stetig weitergeforscht werden, damit aus Ihre Synagoge brennt!“. Geschichten zur Waren und guter Beratung sein als auch aktive Stettiner Geschichte. Kückenshagen: Schei- „beispielhaften Dokumentationen“, wie sie die Aus- Handlungen mit oftmals zwielichtigen Methoden – tellungsmacher am Anfang des Kataloges nennen, nen Verlag, 2009 Geschäftemacherei. Doch was bedeutet das für den „umfassende Ergebnisse“ werden können. Vielleicht Kunsthandel zwischen 1933 und 1945? bieten Ausstellung und Katalog für einige Wissen- Christian Nürnberger: Mutige Menschen. Galeristen, die ihr Handwerk verstanden und es mit schaftler einen Anreiz dieses Thema, das im Vergleich Widerstand im Dritten Reich. Stuttgart, Engagement ausführten, stehen zum Beispiel denen zu Themen wie Kunstraub und Restitution bis jetzt Wien: Gabriel Verlag, 2010 gegenüber, die von dem System der nationalsozia- eher im Hintergrund der Betrachtung stand, weiter- listischen Verfolgung profi tierten wollten. Diesem zuverfolgen und zu erforschen. Umstand versuchen Ausstellung und Katalog nach- Hubert Brieden, Tim Rademacher: Luft- zugehen. Dargestellt werden keine endgültigen und waffe, Judenvernichtung, totaler Krieg. umfassenden Ergebnisse, sondern die Geschichte Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Guernica, Lomzia, Warschau, Coventry. von 14 verschiedenen Kunsthändlern, wie zum Bei- Berlin (Hg.): Gute Geschäfte. Kunsthandel in Berlin Deutsche Geschichtspolitik, Traditionspfl ege spiel von Alfred Flechtheim oder Helene Scheduikat. 1933 – 1945. Berlin 2011 in der Garnisonsstadt Wunstorf, Vergessene Neben diesen 14 Artikeln beschäftigt sich der mehr Jessica Strobl Geschichte in Hannover-Langenhagen. Neu- als 200 Seiten umfassende Band aber auch mit dem stadt: Region und Geschichte, 2010 Thema Reichskulturkammer oder den rechtlichen Rahmenbedingungen. Meuten – Broadway-Cliquen – Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Die Geschichte der 14 Kunsthändler und Galerien Junge Garde Moshe Zimmermann: Das Amt und die steht somit nicht losgelöst für sich alleine, sondern ist in den Kontext der Kunst und Kunstpolitik der NS-Zeit Der Autor beschreibt ausführlich die ihm bekannten Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im eingebettet und ermöglicht dem Leser so ein breite- Jugendbünde und -organisationen in vom Dritten Reich und in der Bundesrepublik. res und umfassendes Wissen für die Vorgänge des Ende der Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit. München: Karl Blessing Verlag, 2010 düstersten Kapitels der deutschen Kunstgeschichte. Dabei bezieht er sich für die Zeit vor 1933 insbeson- Kurz und prägnant geschrieben lässt der Katalog viel dere auf die Jugendverbände der KPD und SPD sowie Erinnerungs- und Forschungsstätte Johann- Raum für Abbildungen von Gemälden, Fotografi en die Gruppen der Bündischen Jugend, die er nach Georg-Elser (Hg): Ein Blick ins Archiv. Doku- und Akten. Auf diese Art und Weise bekommt man, konfessionellen und nicht konfessionellen Bünden mente und Aufzeichnungen aus der Königs- auch wenn man die Ausstellung im aktiven Museum gliedert. Erst für die Zeit ab 1933 erwähnt er die Berlin nicht selbst gesehen hat, eine Vorstellung wie bronner Gedenk- und Forschungsstätte. Hitlerjugend, wobei der Verfasser in einem Halbsatz diese wohl ausgesehen haben könnte. begründet, dass laut Aktenlage die HJ in Leipzig vor Schriftenreihe Nr. 11. Königsbronn: 2010 Gleichzeitig wird dem Leser beim Durchstöbern der 1933 „nicht in größerem Umfang in Erscheinung einzelnen Artikel immer wieder die zu Beginn des getreten“ (S. 63) sei. Madeleine Lerf: Buchenwaldkinder – eine Kataloges erwähnte Ambivalenz vor Augen geführt, Warum die „Junge Garde“, eine Zeitschrift des Kom- schweizer Hilfsaktion. Humanitäres Enga- so etwa im Artikel über den Kunsthändler Leo Spik. munistischen Jugendverbands Deutschlands (KJVD), gement, politisches Kalkül und individuelle Schon als junger Mann hatte er seine erste Kunst- im Titel des Buches Erwähnung fi ndet, bleibt offen. Erfahrung. Zürich: Chronos Verlag, 2010 handlung eröffnet, in der er Kopien aus den Dresdner Vielleicht spielte hier der Einfl uss der Aufsatzsamm- und Staatlichen Berliner Museen verkaufte. Seit 1929 lung über oppositionelle Jugend im „Dritten Reich“ Christopher Browning: Die Endlösung und war der ausgebildete Restaurator bei der Handels- von Wilfried Breyvogel („Piraten, Swings und Junge kammer als Kunstexperte eines Auktionshauses ange- das Auswärtige Amt. Das Referat D III Garde“, Bonn 1991) eine Rolle. Jedenfalls beschäf- meldet. Im Oktober 1935 erwarb er das Auktionshaus tigt Lange sich ausführlich mit der kommunistischen der Abteilung Deutschland 1940–1943. „Union“, bei dem er zuvor stiller Teilhaber gewesen Jugendopposition durch den KJVD und mit der Bün- Stuttgart: Wissenschaftliche Buchgesell- war. In den darauffolgenden Jahren versteigerte er dischen Jugend während der frühen Phase nach der schaft, 2010. Hunderte von Einrichtungen und Kunstwerken aus NS-Machtergreifung und trägt hier eine Vielzahl von „nichtarischem Besitz“. An diesen Zwangsversteige- Einzelheiten fl eißig zusammen. Sodann schildert er Historischer Verein für Mittelbaden – Mit- rungen, die vom Reichs- und preußischen Finanz- viele Details zu den sich bildenden Meuten und gliedergruppe Nordrach (Hg.): Deportiert ministerium veranlasst wurden, verdiente Spik zehn Cliquen als oppositionelle Subkulturen im Leipziger aus Nordrach. Das Schicksal der letzten Prozent Versteigerungsgebühr vom Gesamtumsatz. Jugendmilieu. Dabei stützt er sich partiell auf Archiv- In der ersten Jahreshälfte von 1941 betrugen die materialien sowie auf 18 Interviews mit ehemaligen jüdischen Patientinnen und Angestellten Versteigerungsumsätze 1 290 120 Reichsmark. Da Angehörigen jugendoppositioneller Gruppen und der des Rothschild-Sanatoriums. 2009 Leo Spik immer mehr Kunstgegenstände versteigerte, Hitlerjugend. Leider werden im Laufe des Buches nur konnte er schon bald den Namen seiner Firma in einzelne Schlüsselsätze aus den Interviews wiederge- Elizabeth Harvey: Der Osten braucht dich. Kunstversteigerungshaus „Union“ Inhaber Leo Spik geben; es bleibt für den Leser nicht nachvollziehbar, Frauen und nationalsozialistische Germa- umbenennen. Obwohl seine Räume in Berlin am 15. ob hier noch andere Informationen zu fi nden gewesen nisierungspolitik. Hamburg: Hamburger Februar 1944 vollständig zerstört worden waren, wären, die von dem Autor nicht genannt worden sind. Edition, 2010 wollte Spik weiter Kunst versteigern. In einer Annonce Einen Anhang mit umfangreichen Auszügen aus den kündigte er wohl die letzte Versteigerung von Gemäl- Interviewtexten hätte man sich gewünscht. Über- den alter und neuer Meister und Möbeln des Zweiten haupt sind zahlreiche kleinere Fehler in dem Buch Michael Kißener (Hg.): Rheinhessische Weltkrieges an. zu fi nden: Namen werden nicht korrekt geschrieben Wege in den Nationalsozialismus. Studien Leo Spik war am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein- (so schreibt Lange durchgehend dj 1.11 statt dj.1.11; zu rheinhessischen Landgemeinden von getreten, ab 1939 gehörte er der nationalsozialis- Hugo Fritzsche statt Hans Fritzsche; Kreuzschar statt der Weimarer Republik bis zum Ende der tischen Volkswohlfahrt und dem Reichsschutzbund Kreuzfahrer; Jensen statt Jansen und so fort), und NS-Diktatur. Worms: Worms-Verlag, 2010 an. Deshalb stellte er wohl auch, nachdem er kurz Literaturangaben sind unvollständig (beispielsweise vor Kriegsende in russische Kriegsgefangenschaft weist Lange auf den autobiografi schen Roman des Leipzigers Rolf Pabst „Aufzeichnungen aus 1001 Gerd R. Ueberschär (Hg.): Handbuch zum geraten war, am 15. März 1946 einen Antrag auf Entnazifizierung. Nachdem sie bewilligt war und Jahr“ hin, ohne in einer Fußnote den Erscheinungsort Widerstand gegen Nationalsozialismus und zu nennen, im Literaturverzeichnis taucht der Titel Faschismus in Europa 1933/39 bis 1945. Spik seine Kunstgüter und seine Bibliothek hatte zurückholen können – sie waren 1945 ausgelagert erst gar nicht auf). Trotz des langen Forschungs- Berlin, New York: de Gruyter, 2011 worden und unbeschädigt geblieben – meldete er zeitraumes erscheinen die Ergebnisse häufi g zufäl- bereits 1947 „Leo Spik Kunstversteigerungen“ beim lig. Man hätte sich gewünscht, dass das Buch vor informationen 74 | Seite 34 dem Druck nochmals von einem Fachmann gelesen diese „Illegalen“, die zum Teil ihre Ausweispapiere worden wäre. gefälscht hatten, wieder abzuschieben, wurden alle Neuzugänge Nichtsdestominder stellt das Buch eine Fleißarbeit in der Schweiz aufgenommen. dar, die zwar inhaltlich für den Bereich Jugendoppo- Das geplante Prestigeprojekt, Kinder aus deutschen Alexander Lange: Meuten-Broadway-Cli- sition und Jugendbünde im Allgemeinen wenig Neues Konzentrationslagern zur Erholung vorübergehend quen-Junge Garde. Leipziger Jugendgrup- zu bieten hat, dem an Leipzig Interessierten jedoch in der Schweiz aufzunehmen, löste sich also schon pen im Dritten Reich. Geschichte und Poli- durch die Vielzahl an Details als weiterer Baustein zur bei Ankunft des Transportes in Luft auf. Stattdessen tik in Sachsen, Bd. 27. Köln, Weimar, Wien: Aufarbeitung der regionalen Jugendgeschichte dient. wurden die Beteiligten auf eidgenössischer Seite Böhlau Verlag, 2010 Auch der Ausblick auf die Zeit nach 1945 gibt interes- mit der Realität der Nachkriegsmigration konfron- sante und ausführliche Informationen: So stellt Lange tiert, wobei ihnen angesichts der selbst gewählten Corinna von List: Frauen in der Résistance fest, dass viele Mitglieder der ehemaligen Bündischen Öffentlichkeit keine andere Wahl blieb, als auch diese 1940–1944. Der Kampf gegen die „Boches“ Jugend nach 1945 in den Westen gingen. Warum ungewollte Gruppe aufzunehmen und zu versorgen. Die vermeintlich über 17-Jährigen wurden der Frem- hat begonnen. Paderborn, München, Wien, diese Entwicklung eintrat, bleibt allerdings offen Zürich: Verlag Ferdinand Schöningh, 2010 und wäre eine Anregung für eine weitere Studie im denpolizei zur Betreuung übergeben, für die Jüngeren Bereich der gesamtdeutschen Jugendgeschichte. übernahm die Schweizer Spende die Verantwortung. Daneben konkurrierten verschiedene jüdische Orga- Oliver von Wrochem (Hg.): Das KZ Neuen- nisationen um die Sorge für die fast ausnahmslos gamme und seine Außenlager. Geschichte, Alexander Lange: Meuten – Broadway-Cliquen – jüdischen Flüchtlinge. Nachgeschichte, Erinnerung, Bildung. Neu- Junge Garde. Leipziger Jugendgruppen im Dritten Nach der Vorstellung der beteiligten Organisa- engammer Kolloquien, Bd. 1. Berlin: Metro- Reich. Köln: Böhlau-Verlag, 2010. tion und ihrer wichtigsten Akteure sowie einer pol Verlag, 2010 Achim Freudenstein Beschreibung der Zusammensetzung der „Buchen- wald-Gruppe“ werden im Hauptteil der Arbeit die Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge in den Uwe Fleckner, Max Hollein (Hg.): Museum Buchenwaldkinder unterschiedlichen Lagern und Heimen sowie Privat- im Widerspruch. Das Städel und der Natio- unterkünften anschaulich nachgezeichnet. Hinzu nalsozialismus. Berlin: Akademie Verlag, „Im Juni 1945, nur wenige Wochen nach Kriegs- kommt eine ausführliche Übersicht über den Alltag 2011 ende, kamen 374 junge Menschen aus dem befrei- der MigrantInnen, insbesondere in den Bereichen ten Konzentrationslager Buchenwald in die Schweiz. Schule und Ausbildung, Arbeit aber auch Freizeit. Fritz Kilthau: Menschengesichter. Die jüdi- Ihnen sollte ein sechsmonatiger ‚Erholungsaufenthalt’ Ein kurzes Abschlusskapitel zeichnet die Wege derer sche Bensheimer Familie Bauer. Bensheim: ermöglicht werden.“ (S. 13). Knapp und nüchtern nach, die gemäß den ursprünglichen Intentionen der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger, 2010 stellt Madeleine Lerf den Untersuchungsgegenstand Schweizer Regierung wieder aus- bzw. weiter reisten. ihrer 2008 an der ETH Zürich eingereichten Dis- Außer Akten der „offiziellen Schweiz“ – darunter sertation vor, um anschließend auf über 400 Seiten fasst Lerf neben Regierung und Polizei auch die halb- KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Ein die Motive, Interessen, Umstände und Folgen der staatliche Hilfsorganisation „Schweizer Spende“ und Täter, Mitläufer, Zuschauer, Opfer in der sogenannten „Buchenwald-Aktion“ detailliert heraus- die „Kinderhilfe“ des Schweizer Roten Kreuzes (SRK, Familie. Materialien zu biografi schen Fami- zuarbeiten. Kh) – hat die Autorin insbesondere die Personendos- lienrecherchen. Neuengammer Studienhefte, Schon der Begriff „Buchenwaldkinder“ weist auf siers des Verbandes Schweizerischer Jüdischer Flücht- Heft 1. Hamburg, 2010 einige entscheidende Probleme der Hilfsaktion hin. lingshilfen (VSJF), Unterlagen des Schweizerischen Zwar stand das Angebot, Kinder aus einem deutschen Israelischen Gemeindebundes und jüdischer Alijah- KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Natio- Konzentrationslager für eine befristete Zeit in der Gruppen sowie private Nachlässe von an der Aktion nalsozialistische Germanisierungspolitik und Schweiz aufzunehmen, in der Tradition der „Kinder- Beteiligten ausgewertet. Hinzu kommen einzelne Zeit- züge“, die seit dem Ersten Weltkrieg Minderjährige zeugeninterviews. Dies ermöglicht es ihr, die Wege ihre Folgen. Das Beispiel Slowenien. Neuen- aus kriegsversehrten Ländern zur Erholung in die vieler ehemaliger „Buchenwaldkinder“ vor Beginn gammer Studienhefte, Heft 2. Hamburg, Schweiz gebracht hatten. Die offi zielle Offerte, Ver- und nach Auslaufen der Hilfsaktion ab Sommer 1946 2010 folgte des Naziregimes in der Schweiz aufzunehmen, nachzuzeichnen, die teils weiter in der Schweiz, teils stellte jedoch einen Bruch mit der Flüchtlingspolitik nach Palästina/Israel und teils in andere Länder ver- Renate Dreesen, Lea Dror-Batalion: Jüdi- der vorangegangenen Kriegsjahre dar, als unzählige liefen. Für diesen qualitativen Teil der Studie wertete sche Berufsfachschule Masada Darmstadt. Schutzsuchende an den Schweizer Grenzen abgewie- sie 114 VSJF-Dossiers der Flüchtlinge, etwa ein Drittel Katalog zur Ausstellung. Exhibition Cata- sen oder gar aus der Schweiz wieder ausgewiesen der gesamten Gruppe, ausführlich aus. log. Darmstadt, 2011 worden waren. „Buchenwaldkinder“ profi tiert von dieser Kombination Wie Madeleine Lerf zeigt, bemühte sich die Schweizer aus der Analyse politischer Intention und administ- Regierung zu dieser Zeit um bessere Beziehungen zu rativer Praxis einerseits und der empirischen Nach- Günter Grau: Lexikon zur Homosexuellen- den Westalliierten. Da jedoch ein Beitritt zum Flücht- zeichnung der Lebenswege der Migranten und ihrer verfolgung 1933–1945. Institutionen – lingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNRRA) auf- Agenden andererseits. Das Buch ist trotz diverser Kompetenzen – Betätigungsfelder. Berlin: grund der eidgenössischen Neutralität nicht möglich Wiederholungen und gleichzeitiger Verstreutheit von LIT-Verlag, 2011 war, bot die zu diesem Zweck im Mai 1945 gegrün- Informationen angenehm zu lesen und bleibt selbst in dete „Schweizer Spende“ die prestigeträchtige Auf- vermeintlich „trockenen“ Teilkapiteln zu administrati- Renate Knigge-Tesche, Peter Reif-Spirek nahme von 2000 „displaced children“ unter zwölf ven Aspekten überaus spannend. Für die europäische (Hg.): Hermann Louis Brill. Widerstands- Jahren für einen Zeitraum von sechs bis zwölf Mona- Migrationsgeschichte der Nachkriegszeit ist „Buchen- kämpfer und unbeugsamer Demokrat. ten an. Die Kinder sollten möglichst nicht staatenlos waldkinder“ über den engen Fokus auf die Überle- sein, damit ihre Aus- bzw. Weiterreise gesichert sei. benden von Verfolgung und Vernichtung hinaus ein Wiesbaden: Thrun-Verlag, 2011 Zuvor hatten bereits jüdische Organisationen darum methodisch und inhaltlich wichtiger Beitrag. gebeten, 400 Waisenkinder aus Buchenwald in der Heinrich Fink, Cornelia Kerth (Hg.): Ein- Schweiz aufzunehmen. spruch! Antifaschistische Positionen zur Madeleine Lerf: „Buchenwaldkinder“ – Eine Schwei- Die UNRRA reagierte auf das Schweizer Angebot mit zer Hilfsaktion. Humanitäres Engagement, politi- Geschichtspolitik. Köln: Papyrossa, 2011 der Bitte, 350 13- bis 16-jährige Kinder aus Buchen- sches Kalkül und individuelle Erfahrung. Zürich: wald aufzunehmen. Dies entsprach zwar nicht den Chronos 2010. Tobias Ebbrecht: Geschichtsbilder im schweizerischen Vorstellungen, konnte jedoch aus Marcel Berlinghoff medialen Gedächtnis. Filmische Narratio- Gründen der Glaubwürdigkeit und im Sinne einer nen des Holocaust. Bielefeld: Transcript guten zukünftigen Zusammenarbeit nicht abgelehnt werden. Am 23. Juni 1945 traf schließlich ein Zug mit Verlag, 2011 350 Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus dem Konzentrationslager Buchenwald ein, nachdem tags Rettungswiderstand Jan Korte, Dominic Heilig (Hg.): Kriegsver- zuvor bereits 27 Schwerkranke mit einem Ambulanz- in Europa rat. Vergangenheitspolitik in Deutschland. wagen der Bahn in Basel angekommen waren. Neben Analysen, Kommentare und Dokumente zwei Säuglingen, einer Familie mit zwei fünf- und Die Aufgaben waren überall die gleichen: Unterkunft einer Debatte. Berlin: Dietz-Verlag, 2011 zehn Jahre alten Söhnen sowie einem von seinem gewähren, Verstecke fi nden, Lebensmittel und Klei- Vater begleiteten Sechsjährigen war ein Elfjähriger dung beschaffen, falsche Papiere besorgen, Flucht- das jüngste Kind ohne Begleitung. Alle anderen wege erkunden ... Doch die Bedingungen im Deut- Ulf Schmidt: Hitlers Arzt Karl Brandt. Medi- waren älter als zwölf Jahre. Jüngere Kinder hatten das schen Reich, in den von der Wehrmacht überfallenen zin und Macht im Dritten Reich. Berlin: Konzentrationslager kaum überlebt. Mehr als 200 der Ländern Europas, in den mit Hitlerdeutschland ver- Aufbau Verlag, 2009 Flüchtlinge waren gar älter als 17 Jahre. Trotz Plänen, bündeten Ländern, in den neutralen Staaten und in iinformationennformationen 7744 | SSeiteeite 3355 den Staaten der Alliierten konnten unterschiedlicher den in Marseille ansässigen Vertretern der Quäkeror- Neuzugänge nicht sein. In seinem zutiefst beeindruckenden Werk ganisation American Friends Service. Das Dorf wurde über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit zur Sammelstelle für Flüchtlinge, die in die Schweiz Stéphane Hessel: Indignez vous!. Montpel- beschreibt Arno Lustiger die jeweiligen Rahmenbedin- fl i e h e n w o l l t e .n lier: Indigène éditions, 2010 gungen, unter denen sich Menschen der Ermordung 98 Prozent der in Dänemark lebenden oder dorthin der jüdischen Bevölkerung entgegenstellten. In Polen gefl üchteten Juden konnten vom dänischen Wider- Stéphane Hessel: Empört Euch!. Berlin: Ull- zum Beispiel wo vor der Shoah mit über drei Millio- stand gerettet werden. Zwischen 5.000 und 8.000, stein, 2011 nen die meisten Juden lebten, wurde die Rettung unter ihnen 1.500 Flüchtlinge aus Deutschland, jüdischer Leben generell mit dem Tode bestraft. Im wohnten, gut in die Gesellschaft integriert, in Kopen- Deutschen Reich hatte der „verbotswidrige Umgang hagen. Vor der ersten (und einzigen) Deportation Claude, Lanzmann: Der patagonische Hase. mit Juden“ die Verhaftung durch die Gestapo, die Erinnerungen. Reinbek: Rowohlt, 2010 am 1./2. Oktober 1943 hatte Georg Duckwitz, ein Einweisung in ein KZ und den möglichen Tod oder für das Auswärtige Amt arbeitender Schifffahrts- Gefängnis- und Zuchthausstrafen zur Folge. Wie die sachverständiger, die Jüdische Gemeinde Kopen- Gerhard Menk: Waldeck im Dritten Reich. Untersuchung missglückter Hilfeleistungen zeigt, hagen gewarnt; so konnten die Deutschen statt der Voraussetzungen und Wirken des National- waren in hohem Maße Spitzel und Denunzianten für geforderten 6.000 Menschen lediglich weniger als sozialismus im hessischen Norden. Korbach, die Verhaftungen verantwortlich – ohne sie wären 500 Juden in das KZ Theresienstadt deportieren. Wiesbaden: Wolfgang-Bonhage-Museum Gestapo und Sicherheitsdienst nicht so erfolgreich Unmittelbar danach rief der Dänische Freiheitsrat, gewesen. Den Länderbeschreibungen folgen im Buch ein Zusammenschluss der lokalen und berufl ichen Korbach und Lebenshilfe-Werk Kreis Wal- biografi sche Skizzen der Retter und Retterinnen. deck-Frankenberg e.V., 2010 Widerstandsgruppen, dazu auf, den Juden zu helfen. Wer waren die Judenretter? Es waren Einzelne aus Schweden, bisher strikt „neutral“, erklärte sich zur allen Schichten der Gesellschaft, die auf sich allein Aufnahme aller jüdischen Flüchtlinge aus Dänemark Studienkreis Deutscher Widerstand 1933– gestellt einen Juden oder eine jüdische Familie ver- bereit. Ärzte und Pfl egepersonal richteten in den 1945 (Hg.): Es lebe die Freiheit! Jugendliche steckten, und es gab ganze Netzwerke, die das Leben Kopenhagener Kliniken Auffangstationen ein, in gegen den Nationalsozialismus. Katalog zur von Versteckten sicherten oder Fluchten organisier- denen sie Juden, die auf Bootsplätze nach Schwe- Ausstellung. Frankfurt am Main: 2011 ten. Es ist der noch jungen Retterforschung nicht den warteten, als Patienten getarnt, betreuten und gelungen, ein gemeinsames Persönlichkeitsprofil schließlich weiterleiteten. Studenten machten sich Daniel Blatman: Die Todesmärsche der Retter und Retterinnen zu erstellen: „Zu groß auf, in die Wälder gefl ohene Juden zu suchen und 1944/45. Das letzte Kapitel des national- waren die Unterschiede der beteiligten Personen, sie in die Krankenhäuser zu bringen. Bei der Rettung der Länder, in denen sie lebten und der sozialen der dänischen Juden halfen „neben etwa tausend sozialistischen Massenmords. Hamburg: Schichten, aus denen sie stammten. Gemeinsam Fischern, Seeleuten, Zubringern, Finanziers oder Gast- Rowohlt, 2011 ist ihnen allen: der Wille zu handeln, zu retten und geber auf dem Land ... rund hundert beteiligte Retter, dabei mussten sie alle die Angst vor der schweren die zum Großteil – untypisch für den europäischen NS-Dokumentationszentrum der Stadt Drangsal im Falle der Entdeckung überwinden“ (S. Widerstand insgesamt – aus der bürgerlichen Mittel- Köln (Hg.): Köln im Nationalsozialismus. 21). Arno Lustiger erweitert den Kreis der Retter und Oberschicht stammten ... 22 Dänen wurden Ein Kurzführer durch das EL-DE-Haus. Köln: und Retterinnen. Seit 1962 ehrt der Staat Israel schon früh als Gerechte geehrt; alle anderen Perso- Emons-Verlag, 2011 mit der von Yad Vashem verliehenen Auszeichnung nen aus dem dänischen Widerstand wurden später „Gerechte der Völker“ nichtjüdische Retter von Juden; auf eigenen Wunsch in einer gemeinschaftlichen diesen Ehrentitel, der von Geretteten beantragt und Ehrung zusammengefasst“ (S. 255). Dieter Schiffmann, Hans Berkessel, Ange- sorgfältig geprüft wird, erhielten bis heute 23.778 lika Arenz-Morch (Hg.): Widerstand gegen Polen ist das einzige europäische Land, dessen (Exil-) Menschen aus 44 Staaten. Ausgeschlossen blieben Regierung die Rettung von Juden zur nationalen Auf- den Nationalsozialismus auf dem Gebiet vor allem jüdische Retter und Menschen, die die gabe erklärte. Dazu wurde „Zegota“ gegründet, zu des heutigen Rheinland-Pfalz. Wissen- strengen Kriterien nicht erfüllten. So finden sich deren Gründungsmitgliedern neben Wladyslaw Bart- schaftliche Darstellung und Materialien unter den biografi schen Skizzen seines Buches viele oszewski auch Maria Kann, eine erfolgreiche Kinder- für den Unterricht. Mainz: Landeszentrale Berichte über jüdische Retter und andere bisher nicht und Jugendbuch-Autorin, gehörte. Seit Beginn der für politische Bildung Rheinland-Pfalz, gewürdigte Menschen: „In diesem Buch gibt es keine deutschen Besatzung war sie in der Armia Krajowa, der 2011 Hierarchisierung; was für mich zählt, ist die Bereit- größten militärischen Widerstandsorganisation Polens, schaft der Retter, ihre und ihrer Angehörigen Freiheit, aktiv. Sie wohnte in der Nähe des Warschauers Ghettos Gesundheit und Leben einzusetzen, um den ihnen und war an der Rettung jüdischer Kinder beteiligt. Als Silvio Peritore, Frank Reuter (Hg.): Insze- manchmal unbekannten Menschen beizustehen und nierung des Fremden. Fotografi sche Dar- Zeugin der Massenmorde veröffentlichte sie im Sep- sie zu retten. Ihnen gebührt eine, wenn auch sehr tember 1943 im Untergrund die Broschüre Na oczach stellung von Sinti und Roma im Kontext späte, Würdigung“ (S. 24). Viele von ihnen kannte swiata (Vor den Augen der Welt); Sie schrieb: „Vor den der historischen Bildforschung. Heidelberg: Arno Lustiger persönlich. Augen der Welt und unseren eigenen Augen wurde Dokumentations- und Kulturzentrum Deut- Yad Vashem verlieh drei kollektive Ehrungen: an das ein Volk ermordet, wir haben tatenlos zugeschaut. Das scher Sinti und Roma, 2011 Dorf Nieuwlande im Nordosten der Niederlande, an Blut Wehrloser schreit zum Himmel nach Rache. Wer das Dorf Le Chambon-sur-Lignon im Département mit uns diesen Protest nicht unterstützt – der ist kein Daniel Azuélos (Hg.): Alltag im Exil. Würz- Haute-Loire im französischen Zentralmassiv und an Katholik. Man muss die Verbrechen sofort stoppen“ burg: Königshausen & Neumann, 2011 den dänischen Widerstand. In Nieuwlande konnten die (S. 149). In seinem Gastbeitrag schreibt Feliks Tych, beiden Landwirte Johannes Post und Arnold Douwes Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in War- alle 117 Einwohner ihres Dorfes überzeugen, in jedem schau: „In vergleichbarem Umfang (wie von Zegota, Dagmar Stuckmann: Gebt Raum den Haus mindestens eine jüdische Familie oder mehrere Vf.) wurden Rettungsaktionen von dem geheimen Jüdi- Frauen. 100 Jahre Internationaler Frauen- jüdische Kinder aufzunehmen. Sie bauten mit Hilfe des schen Nationalen Komitee durchgeführt, das auch auf tag in Bremen. Wiesbaden: Thrun-Verlag: jungen Juden Max Leons ein bis nach Amsterdam rei- ‚arischer Seite’ wirkte und mit Zegota zusammenarbei- 2011 chendes Netzwerk auf und es gelang ihnen, einige hun- tete. Die Klöster spielten eine bedeutende Rolle bei der dert Juden, unter ihnen viele Kinder, mit gefälschten Rettung jüdischer Kinder. Der größte Teil der Juden Christine Fischer-Defoy, Kaspar Nürnberg Papieren in ihr Dorf zu bringen. Johannes Post wurde (von 3,3 Millionen lediglich 360.000, Vf.) überlebte (Hg.): Gute Geschäfte. Kunsthandel in im Juli 1944 bei einem Überfall auf eine Zuteilungs- jedoch nicht im Rahmen organisierter Strukturen, son- stelle für Lebensmittelkarten gefasst und hingerichtet, dern dank der Hilfe und Initiative einzelner Menschen Berlin 1933–1945. Katalog zur Ausstellung. Arnold Douwes wurde noch im Frühjahr 1945 denun- oder Familien, die auf eigenes Risiko handelten“ (S. Berlin: 2011 ziert, doch es gelang dem holländischen Widerstand, 132). Dies spiegelt sich in den von Arno Lustiger aus- ihn kurz vor seiner Hinrichtung zu befreien. gewählten biografi schen Skizzen wider, die über das MBR & apabiz (Hg.): Berliner Zustände Le Chambon-sur Lignon war ein überwiegend von Pro- mutige Handeln von Äbtissinnen, einem Boxkämpfer, 2010. Ein Schattenbericht über Rechtsext- testanten bewohntes Bergdorf; es gab hier eine von einem Kindermädchen, einer Zwangsarbeiterin, einer remismus, Rassismus und Antisemitismus. den hugenottischen Vorfahren herrührende Tradition, Hausgehilfi n, einem Ingenieur, Bauernfamilien, einem Berlin: 2010 Verfolgten und Armen Asyl zu gewähren. Nach den Partisanenkommandeur und vielen anderen berichten. Judenrazzien im August 1942 öffnete die Gemeinde Bis heute wurden 6.266 Polen als Gerechte geehrt. Rüdiger von Voss: Der Staatsstreich vom ihre Türen für jüdische Flüchtlinge; bis 1945 wurden Den Rettungswiderstand im Deutschen Reich schil- 20. Juli 1944. Politische Rezeption und zwischen 3.500 und 5.000 Juden gerettet. Neben dern Gastbeiträge von Beate Kosmala, Nina Gaiser, den drei Pastoren hatten Frauen eine wichtige Rolle: Norbert Reichling, Petra Bonavita, Johannes Winter Traditionsbildung in der Bundesrepublik Sie organisierten die Unterkunft auf den verstreut und Wolfram Wette, von dem auch das Vorwort Deutschland. Berlin: Lukas Verlag, 2011 liegenden Höfen, in Pensionen und Schulen und stammt, in dem er noch einmal darauf hinweist, dass erkundeten Fluchtwege in die Schweiz. Man suchte der Begriff Rettungswiderstand, inzwischen in der auch Kontakte zu anderen Hilfsorganisationen, so zu deutschen Widerstandsforschung akzeptiert, bereits informationen 74 | Seite 36 vor zehn Jahren von Arno Lustiger, dem Überlebenden noch nicht so bedroht war wie in Litauen. In den und Historiker des jüdischen Widerstands, entwickelt Werkstätten beschäftigte er 140 jüdische Hand- Neuzugänge wurde. In seinen biografi schen Skizzen würdigt Arno werker, die er mit „gelben Scheinen“ ausstattete, Lustiger den Berliner Juden Dagobert Lewyn, der sein um sie und ihre Familien bei Razzien zu schützen, Petra Bonavita: „Was ihr getan habt ...“ Überleben als „Stadtnomade“ seinem Mut, seiner und versorgte sie mit Lebensmitteln. „Wenn man Zivilcourage und Widerstand. Ausstellung Beharrlichkeit, seinem Lebenswillen und der Hilfe Erzählungen und Berichte über seine für ihn lebens- zum 100. Geburtstag von Pfarrer Heinz widerständiger Berliner verdankte, die Gräfi n Maria gefährlichen Hilfsaktionen liest,“ schreibt Arno Lus- Welke. Frankfurt am Main, 2011 Maltzan, eine der wenigen Überlebenden des Solf- tiger, „muss man sich wundern, wie er all das neben seinem regulären Dienst bewältigen konnte“ (S. 97). Kreises, den Kommunisten August Sapandowski, die Eberhard Kolb: Bergen-Belsen. Geschichte Zirkusleute Maria und Adolf Althoff, die Buchenwald- Zudem knüpfte er Kontakte zur jüdischen Wider- Häftlinge Robert Siewert, Franz Leitner und Wilhelm standsbewegung: Seine Wohnung war Treffpunkt des „Aufenthaltslagers“ 1943–1945. Berlin: Hammann, den Industriellen Ernst Leitz, den Soldaten für Kuriere und Kurierinnen, die sich hier von den LIT Verlag, 2011 Heinz Drossel und viele andere. Strapazen ihrer Fahrten ausruhten und neue Aufträge Eine Dokumentation über den Rettungswiderstand in entgegen nehmen konnten. Abba Kovner, Komman- Jürgen Zimmerer: Von Windhuk nach Ausch- Europa wäre unvollständig, ohne den „Zielort Paläs- dant der Partisanen in der Region Wilna, schilderte witz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialis- tina“ und die schwierigen, gefährlichen Wege dorthin beim Eichmann-Prozess in Jerusalem die Taten von mus und Holocaust. Berlin: LIT Verlag, 2011 zu beschreiben. 1922 hatte der Völkerbund Großbri- Anton Schmid als die „verblüffendsten und seltensten Episoden in der Geschichte dieser Zeit“ (S. 98). Anton tannien das Mandat über Palästina erteilt; wichtigster Curt Geyer, Walter Loeb u.a.: Fight for Free- Auftrag des Mandatsvertrages war „die Errichtung Schmid wurde am 13. April 1942 hingerichtet. 1964 ehrte ihn der Staat Israel als „Gerechten“. dom. Die Legende vom anderen Deutsch- einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in land. Materialien für Aufklärung und Kritik. Palästina“. Bis zum Kriegsbeginn hatten zionistische Freiburg: ça ira Verlag: Freiburg, 2009 Organisationen die Auswanderung aus Hitlerdeutsch- Arno Lustiger: Rettungswiderstand. Über die Juden- land nach Palästina geleitet, insbesondere durch die retter in Europa während der NS-Zeit. Göttingen: von Recha Freier in Berlin gegründete Kinder- und Wallstein-Verlag, 2011. Viola B. Georgi, Rainer Ohliger (Hg.): Cross- Jugend-Alija. Deren Ziel war, unter Umgehung der briti- Ursula Krause-Schmitt over Geschichte. Historisches Bewusstsein schen Einwanderungsbestimmungen junge, besonders Jugendlicher in der Einwanderungsgesell- für die Landwirtschaft ausgebildete Menschen nach schaft, Hamburg: Edition Körber-Stiftung, Palästina zu bringen. Seit Sommer 1941, mit dem 2009 Beginn der Deportationen, der Ghettoisierung und Widerstand der physischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, ging es – angesichts der neuen Dimensionen der Shoah in Rheinland-Pfalz Internationale Föderation der Widerstands- kämpfer (Hg,): 60 Fédération internatio- in Osteuropa – darum, so viele Menschen wie möglich Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, nach Palästina zu bringen. Der Weg dorthin ging über nale des Résistants (FIR) – Association dass Schüler dem Thema Nationalsozialismus im antifasciste. 1951–2011. Berlin: 2011 die Donau und das Schwarze Meer. Arno Lustiger schil- Geschichtsunterricht eher abwehrend gegenüberste- dert die höchst schwierige Arbeit von Bertold Storfer, hen. Oftmals haben sie den Eindruck die historische einem getauften Juden, der im März 1940 auf Befehl Rollenverteilung bereits zu kennen. Denn nicht nur Silke van Dyk, Alexandra Schauer: „... daß der SS die Leitung der Schiffstransporte aus dem Deut- die Schule bietet Informationen zu diesem Thema, die offi zielle Soziologie versagt hat“. Zur schen Reich und dem Protektorat Böhmen und Mähren auch das Fernsehen, Zeitschriften und Zeitungen Soziologie im Nationalsozialismus, der Ge- übernommen hatte. Storfer konnte bis März 1943 auf sind voll damit. Allerdings haben die Schülerinnen legalem und illegalem Weg 2.042 österreichische und schichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle und Schüler nur selten einen direkten Bezug zur NS- der DGS. Essen: 2010 7.054 Juden aus dem übrigen Reichsgebiet die Aus- Zeit. Mit dem hier besprochenen Werk soll jungen wanderung nach Palästina ermöglichen. Da Strofer, Menschen in Rheinland-Pfalz die NS-Zeit vergegen- der im November 1944 in Auschwitz ermordet wurde, wärtigt werden, indem es regionale Bezüge herstellt Siegfried Bär: Der Untergang des Hauses Jude war, wurde er nicht von Yad Vashem geehrt. und junge Menschen dadurch in ihrem persönlichem Rascher. Ein Dokumentarroman von Sieg- Auf den gefahrvollen Weg über die Donau und das fried Bär. Freiburg: Eigenverlag, 2011 Schwarze Meer machten sich zwischen März 1938 Umfeld berührt. und Dezember 1944 82 Schiffe, meist alte, nicht mehr Die 304 Seiten umfassende Broschüre ist aufgeteilt seetüchtige Kähne. Über 20 wurden von den Briten in wissenschaftliche Artikel über den Widerstand auf Christina Ullrich: Ich fühl mich nicht als angehalten, ihre Passagiere meistens in Internierungs- dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz, sowie in Mörder. Die Integration von NS-Tätern in lager gebracht. Zwei Schiffe wurden von sowjetischen einen praktischen Teil, der Unterrichtsmaterialien und die Nachkriegsgesellschaft. Darmstadt: U-Booten versenkt, ihre Passagiere ertranken, andere Aufgabenstellungen zu diesem Thema enthält. Neun Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011 gerieten in Seenot, und nicht immer konnten die Men- wissenschaftlichen Beiträge führen in das Thema ein schen gerettet werden. und verschaffen den Lehrenden einen Überblick. Sie Friedrich Kellner: Vernebelt, verdunkelt sind Arno Lustiger widmet seine eindrucksvolle und be- sind gut gegliedert und aufeinander aufbauend. Peter alle Hirne. Tagebücher 1939–1945. Göttin- Steinbach eröffnet das Werk mit einem allgemeinen wegende Dokumentation „dem Feldwebel Anton gen: Wallstein Verlag, 2011 Schmid, Marianne Cohn und allen anderen Helden Überblick über die Widerstandsgruppen in Deutsch- land. Der darauffolgende Artikel, verfasst von Axel des Rettungswiderstandes in Europa“. Die 1935 von Bernd Heidenreich, Sönke Neitzel (Hg.): Berlin nach Frankreich gefl üchtete Marianne Cohn Ulrich, gibt einen Einblick in den Widerstand auf dem hatte sich in der OSE (Oeuvre de secours aux enfants, gesamten Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz. Es Medien im Nationalsozialismus, Paderborn: Kinderhilfswerk) engagiert, jüdische Kinder betreut folgen Beiträge über den politischen und kirchlichen Ferdinand Schöningh Verlag, Wilhelm Fink und zusammen mit Emmanuel und Mila Racine deren Widerstand in Rheinhessen, über die Haltung der Verlag, 2010 Transport in die Schweiz organisiert. Im Frühsommer katholischen Kirche im Bistum Mainz. Zuletzt wird in vier unterschiedlichen Artikeln der Widerstand gegen 1944 wurde sie bei Annemasse verhaftet. Ein Flucht- Rolf Buchterkirchen: „... und wenn sie mich angebot lehnte sie ab, weil sie die Kinder nicht allein den Nationalsozialismus in der Pfalz, im Koblenzer Raum, im Westerwald und im Raum Trier beschrieben. an die Wand stellen“.Desertion, Wehrkraft- in den Händen der Deutschen lassen wollte. Trotz zersetzung und Kriegsverrat von Soldaten Folter verriet sie weder Fluchtrouten noch Vertrauens- Der gesamte wissenschaftliche Teil ist mit Bildern von in und aus Hannover 1933–1945, Neu- leute. Sie wurde am 8. Juli 1944 ermordet aufgefun- im Widerstand tätigen Menschen illustriert. Auch sind den. Ihr Schicksal wird unter anderem in der jüngsten Zeitungsartikel, Dokumente und Flugblätter aus der stadt: Edition Region und Geschichte, 2011 Ausstellung des Studienkreis Deutscher Widerstand Zeit des Nationalsozialismus abgedruckt. Diese bele- 1933–1945 „Es lebe die Freiheit – Junge Menschen ben den Text und veranschaulichen das Geschriebene. Gine Elsner: Schattenseiten einer Arztkar- gegen den Nationalsozialismus“ gewürdigt. Auch einige Biographien sind zu fi nden. riere: Ernst Wilhelm Baader (1892–1962): Anton Schmid, geboren am 9. Januar 1900 in Wien, Der zweite Teil der Broschüre besteht aus Unterrichts- Gewerbehygieniker & Gerichtsmediziner, hatte bereits 1938 einigen jüdischen Bekannten zur materialien zum Widerstand auf der regionalen Ebene Hamburg: VSA, 2010 Flucht verholfen. Im Spätsommer 1941 wurde er mit des heutigen Rheinland-Pfalz. Sie sollen, laut den seiner Einheit nach Litauen verlegt und als Leiter Autoren des Einführungskommentars, Hans Berkes- Initiative Stolpersteine für Rotenburg a.d. einer Sammelstelle für versprengte Wehrmachtssol- sel und Marco Hörnig, „Schülerinnen und Schülern Fulda, Förderkreis Ehemaliges Jüdisches daten nach Wilna abkommandiert. Seine Dienststelle einen unmittelbaren Zugang zum Widerstand in der Ritualbad, Jüdisches Museum Rotenburg befand sich im Bahnhof, ihr waren einige Werkstätten NS-Zeit bieten, der sie in ihrer eigenen Lebenswelt (Hg.): In Memoriam. 43 Rotenburger Opfer angegliedert. Bis zu seiner Verhaftung Ende Januar berührt und ihr Interesse weckt.“ Die Betrachtung 1942 transportierte er mit seinen Lastwagen und der eigenen Wohn- oder Schulorte bzw. Orte in der des Holocaust, Rotenburg a.d. Fulda: 2011 selbst ausgestellten Marschbefehlen über 300 Juden näheren Umgebung sollen Schülerinnen und Schüler nach Weißrußland, wo ihr Leben zu diesem Zeitpunkt für die NS-Zeit interessieren mit dem Ziel, sich in ihrer iinformationennformationen 7744 | SSeiteeite 3377 es gegenüber dem tschechischen Volk nur zwei Lange Zeit galt die professionelle Soziologie Buchbesprechungen Möglichkeiten: a) Beseitigung durch Ausrottung als Opfer des NS-Regimes. Die Entwicklung oder Aussiedlung, b) Einbau in das Dritte Reich des Fachs sei von den Nazis „gewaltsam unter- und die weltanschauliche Grundlage dieses bunden“ (Rene König), ja das gesamte „Auf- eigenen Heimat auf die Spuren der Widerständ- Reiches.“ klärungsprogramm“ der Disziplin sei mit deren ler zu begeben. Dass es an den Absichten der Deutschen nichts geschlossenen Weltbild unvereinbar gewesen Durch die Präsentation von Quellen wie beispiels- zu deuteln gibt, ist vielen Tschechen bereits (Rainer Lepsius). weise Bilder, Zeitungsartikel, Flugblätter und lange vor jenem 15. März klar; allein das Wort Mit ihrem Band: „.... dass die offi zielle Sozio- Karten, wird den Schülern schon während des „Eindeutschung“, das im Zusammenhang mit logie versagt hat“ geben die Autorinnen Silke Unterrichts das Vergangene greifbar gemacht. der Invasion Realität wird, bedeutete konkret van Dyk und Alexandra Schauer einen neuen, Die häufige Nutzung der Originaldokumente die Etablierung eines Rassenstaats und damit sehr lesenswerten Abriss der Geschichte der ist lobenswert, gerade auf Schüler wirkt dies Ausplünderung und Vernichtung. Am Ausbau Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), authentischer. Jedoch sind einige der abgedruck- des deutschen Behemoths in der Tschechoslo- ihrer Beziehung zum Naziregime, sowie den ten Quellen verblasst und schwer zu lesen, was wakei ist ab Juli 1941 auch ein zu jener Zeit Versuchen der Aufarbeitung der disziplineige- das für Schulen notwendige Kopieren schwierig erst 26-jähriger SD-Mitarbeiter beteiligt: Hanns nen Vergangenheit vor. In sieben bebilderten machen könnte. Die Materialien sind alle gut Martin Schleyer. Schleyer, seit Juli 1933 bei der Kapiteln wird die politische Geschichte der strukturiert, sie beginnen mit einem Einführungs- SS, hatte sich erste Lorbeeren in der NS-Stu- DGS von ihrer Gründung 1909 bis in die Nach- text, der den Schülern Hintergrundinformationen dentenbewegung verdient und war Leiter des kriegszeit rekonstruiert: Die Machtergreifung zu dem jeweiligen Themenschwerpunkt geben Heidelberger Studentenwerks geworden. Über der Nazis traf die DGS in Zeiten personeller soll. Auf die Texte folgen Quellen mit einigen Innsbruck und die dortige Universität führt Neuorientierung (wichtige Gründerväter wie Aufgaben, die von den Schülern bearbeitet ihn seine Karriere schließlich nach Prag, wo Max Weber und Georg Simmel waren während werden können. Diese sind klar formuliert und er die Leitung des Studentenwerks der „Deut- oder kurz nach dem 1. Weltkrieg verstorben). die besonders schwierig zu lösenden Arbeits- schen Karls-Universität“ übernimmt. Im Früh- Gleichzeitig war die junge Disziplin noch stark aufträge sind mit einem Ausrufezeichen mar- jahr 1943 tritt er zudem als Sachbearbeiter in mit sich selbst beschäftigt. kiert. Ebenso bietet jedes der 29 Arbeitsblätter den „Zentralverband der Industrie für Böhmen Wie der Band zeigt, fl üchteten sich die profes- Anregungen für Hausaufgaben. Auf den letzten und Mähren“ ein. Der Zentralverband ist unter Seiten des Werkes fi nden sich Lösungsvorschläge, sionellen Gesellschaftsbeobachter in abstrakte anderem für die „Arisierung“ der tschechischen Beschreibungen und verzichteten auf eine Aus- Quellennachweise und weiterführende Literatur- Wirtschaft und die Beschaffung von Zwangs- tipps für die Lehrenden. Die Herausgeber der einandersetzung mit den aktuellen politischen arbeitern für das Deutsche Reich zuständig. Umwälzungen. Sowohl der Versuch der Entpoli- Materialien waren außerdem bemüht, den zeit- Hier bringt es Schleyer bis zum persönlichen lichen Rahmen einer Unterrichtsstunde im Auge tisierung als auch die „Strategie der Selbstgleich- Sekretär des Präsidenten Bernhard Adolf und schaltung“ (welche die Aufnahme linientreuer zu behalten. Obwohl es aufgrund der aufeinan- gelangt dadurch an einen der wichtigsten Berei- der aufbauenden wissenschaftlichen Beiträge zu che der deutschen Macht im Protektorat; gleich- Wissenschaftler und den Ausschluss jüdischer der einen oder anderen Wiederholung kommt, zeitig bleibt er für den SD tätig. oder emigrierter Mitglieder vorsah) des damali- ist ein sehr lesenswertes Werk herausgekom- gen DGS Vorsitzenden Leopold von Wiese schei- men. Vor Allem die Lehrunterlagen sind mit viel Die Villa Waigner ist zu diesem Zeitpunkt bereits terten 1933 an den „Jenaer Rebellen“. Umsicht und Sorgfalt zusammengestellt, und zweieinhalb Jahre „arisiert“ und in Besitz des Deutschen Reiches. Die rechtmäßigen Eigen- Eine Initiative Jenaer Sozialwissenschaftler es bleibt zu hoffen, dass viele Lehrerinnen und markierte den endgültigen Sündenfall der Lehrer einen Blick hinein werfen werden. tümer, Emil und Marie Waigner, sind längst tot. Ihre Spur verliert sich 1942 in Mauthausen und deutschen Soziologie: Ihre Forderungen liefen Auschwitz. Auf dem Anwesen der Waigners auf die aktive Andienung an die neuen politi- Dieter Schiffmann, Hans Berkessel, Angelika wohnt seither der Besatzungsfunktionär Fried- schen Herren heraus. Unter ihrem Druck wurde Arenz-Morch (Hg): Widerstand gegen den rich Klausing, damals Rektor der Deutschen der Vorstand der DGS ab- und Hans Freyer Nationalsozialismus auf dem Gebiet des heu- Universität und glühender Hitleranhänger. Sein als „alleiniger Führer“ eingesetzt. Unter seiner tigen Rheinland-Pfalz. Mainz: Landeszentrale persönliches „Stalingrad“ erlebt Klausing am Amtsführung wurde die Arbeit der DGS ab für politische Bildung Rheinland-Pfalz, 2011. 20. Juli 1944: Sein Sohn Friedrich Karl ist Adju- dem Jahr 1934 effektiv eingestellt. Ob es sich bei der Entscheidung Freyers um den Schluss- Anna-Lena Sieber tant Claus von Stauffenbergs und gehört damit zum engsten Verschwörerkreis gegen Hitler. stein der von Leopold von Wiese begonnenen Dem Vater bleibt letztlich nur der Selbstmord, Strategie der Selbstgleichschaltung, oder aber um – nach nationalsozialistischer Gesinnung um einen radikalen Schritt zur Vermeidung der Herrenmensch in Prag: – die Familienehre zu retten. Nach dem Ende Kompromittierung der Disziplin handelte, war Klausings erhält Schleyer den Zuschlag für die lange umstritten. Anhand der, von den Auto- Schleyers erste Karriere Villa. Aufgrund seines rasanten Aufstiegs in rinnen zusammengetragenen Informationen SS und der Protektoratsverwaltung gehört er erscheint ein nobler Rettungsakt Freyers jedoch 15. März 1939. Angespornt durch das „Münch- unwahrscheinlich. Die DGS schien teilweise ner Abkommen“ zwischen Großbritannien, inzwischen zur Elite und will nun auch dem- entsprechend repräsentativ in Prag wohnen. aus Übereinstimmung mit dem neuen Regime, Frankreich, Italien und dem Deutschen Reich teilweise aus Resignation jeden Versuch, eine besetzen rund 350.000 Wehrmachtssoldaten Im Januar 1944 steigt Schleyer schließlich bis zum „Führer im Reichssicherheitshauptamt“, der wissenschaftliche Opposition zu entwickeln, auf- die so genannte „Resttschechei“. Sechs lange zugeben. Das sozialwissenschaftliche Vakuum Jahre sollte die damit beginnende deutsche Zentrale des Vernichtungskriegs, auf. Dies kann Erich Später anhand in seinem Buch erstmals wurde von den Jenaer Rebellen gefüllt, die Herrschaft aus Raub, Verfolgung und Terror bereits 1934 auf dem „Treffen deutscher Sozio- bestehen. publizierter Dokumente belegen. Neben Fotos von Marie und Emil Waigner sind etwa der Brief logen“ ihre Nähe zum System zum Ausdruck Dies ist der historische Kontext, mit dem das über die Einreichung des „Ahnennachweises“ brachten. Buch von Erich Später über das jüdische Ehe- Schleyers, der Aufnahmeantrag seiner späteren Die umfangreiche Presseschau zum Jenaer paar Waigner, ihre Villa in Prag, und über Hanns Frau Waltraud Ketterer in die NSDAP, Schleyers Soziologentreffen führt zu einer Kernaussage Martin Schleyer beginnt. Aufgrund der Ideo- Heiratserlaubnis durch den „Reichsführer SS“, des Bandes: Von einer wesensmäßigen Unver- logie vom „Großdeutschen Reich“ wurde die sowie seine Ernennung zum „Führer im Reichs- einbarkeit der Soziologie und der Nazi-Ideologie vormals demokratische CSR nun endgültig zer- sicherheitshauptamt“ abgedruckt. kann keine Rede sein. Die „Deutschen Soziolo- stückelt und zum „Reichsprotektorat Böhmen gen“ waren mit dem Versuch, ihre Disziplin im und Mähren“ erklärt, das dem Wahn der Nazis „politisch-volklichen Geschehen“ zu verankern zufolge „germanisiert“ werden musste. Ernst Erich Später: Villa Waigner. Hanns Martin vielmehr überaus erfolgreich. Damit wird die Klundt, enger Mitarbeiter von Konrad Hen- Schleyer und die deutsche Vernichtungselite Erzählung der „Auslöschung der Soziologie im lein, dem Führer der Sudetendeutschen Partei, in Prag 1939–45. Hamburg: Konkret Literatur- Nationalsozialismus“ als Mythos entlarvt, den verlangt im Oktober 1938 in einer geheimen verlag, 2009 Verfolgungs- und Exilbiographien stehen sozio- Denkschrift die Liquidierung der tschechischen Markus Bitterolf logische Karrieren unter dem Hakenkreuz ent- Demokratie: „Dieser Raum“, so Klundt, „muß in gegen! Die Wirkmächtigkeit dieses Mythos, der die außenpolitische und militärische Oberhoheit einen „eigentümliche[n] Konsens zwischen Emi- des großdeutschen Reiches gelangen, weil das granten und Sympathisanten des NS- Regimes“ deutsche Volk und sein Staat nur Herr in Mittel- Gehasst, instrumentalisiert darstellte, bestimmte auch die ersten Jahre der und Südosteuropa sein kann, wenn es der Herr oder angedient? Aufarbeitung innerhalb der DGS. So sind vor von Böhmen ist … (Um) das zu erreichen, gibt allem die letzen Kapitel des Bandes auch für „Gehasst oder instrumentalisiert“ betitelte Alex- Nicht-Soziologen interessant. Anhand ausge- ander Zinn Anfang der 1990er Jahre einen Auf- wählter Biografi en und der Geschichte sozial- satz zur Rolle der Soziologie im Dritten Reich. wissenschaftlicher Forschungsinstitute wird informationen 73 | Seite 38 die bemerkenswerte personelle und inhaltliche er keine Fakten erfunden und nur gelegentlich Kontinuität der deutschen Soziologie belegt. Details in den Dialogen „nachempfunden“ habe. Buchbesprechungen Die schnelle Wiederbelebung der deutschen Bär beschönigt nichts, nennt die Menschen- Gesellschaft für Soziologie im Jahr 1946 fügt versuche Raschers mit zumeist tödlichem Aus- für die Internierung und Erschießung der ein- sich in die allgemeine Stimmung im Nach- gang – Höhenlage- und Unterkühlungsversuche kriegsdeutschland, in dem „alles aufs Vergessen heimischen jüdischen Bevölkerung sowie dem für die Luftwaffe, sowie Versuche mit einem Verscharren der Ermordeten – so wie Auschwitz angelegt zu sein“ schien, wie Max Horkheimer angeblich blutstillenden Mittel bei Schussverlet- bemerkte. zum Symbol für die Vergasung und die anschlie- zungen für das Heer – das, was sie waren: Ver- ßende Verbrennung von Juden geworden ist. Der Band von van Dyk und Schauer zeigt am brechen. Er macht zudem deutlich, dass diese Beispiel der DGS die Mechanismen und Motive Versuche methodisch schlampig durchgeführt Trotz der Bedeutung dieses Ortes und der Kol- der (Selbst-)Verstrickung eines Berufsverbandes wurden und ihr Erkenntnisgewinn sowohl für laboration von Teilen der einheimischen Bevöl- im Nationalsozialismus. Die deutsche Soziologie die Wissenschaft, als auch für die (militärische) kerung wird das Problem der Mittäterschaft in hat in doppelter Weise versagt: Wissenschaft- Praxis daher nahe Null war. Dies ist, nebenbei der Gesellschaft Lettlands noch weitgehend lich unfähig oder nicht willens, die gesellschaft- gesagt, in Fachkreisen seit langem bekannt verdrängt und tabuisiert. Bestenfalls wird sie lichen Umbrüche zu analysieren, wurde auch und wurde schon von Raschers Kollegen in der in der lettischen akademischen wissenschaft- der Versuchung, sich den neuen Verhältnissen Luftwaffe seiner Zeit vermutet. Hier betritt Bär lichen Forschung thematisiert. Demgegenüber anzudienen nicht widerstanden. also kein Neuland. drängen die Juden in Lettland gegenwärtig – völlig zu Recht – darauf, dass die Problematik Silke van Dyk, Alexandra Schauer: „… daß die Sein Hauptinteresse gilt jedoch der Persönlich- der Kollaboration in der Shoah auch als ein offi zielle Soziologie versagt hat“. Zur Sozio- keit Sigmund Raschers: Was für ein Mensch war gesellschaftliches Thema ihres Landes behan- logie im Nationalsozialismus, der Geschichte er? Wo kam er her? Was machte ihn zum Mörder delt werden muss. ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS. im weißen Kittel? Um diese Fragen zu beant- Essen: Deutsche Gesellschaft für Soziologie, worten, holt Bär weit aus, schildert detailliert Daran, dass Riga nach 1990 immer stärker als 2010. das familiäre Umfeld, in dem Sigmund Rascher Tatort und Stätte des Gedenkens sowohl in Lett- land als auch in Deutschland wahrgenommen Alexander Ruser aufwuchs, geprägt von Theorie und Praxis der Theo- und Anthroposophie (der Bär höchst kri- wird, hat der Autor des vorliegenden Buches tisch gegenüber steht). Es entsteht das Bild durch seine zahlreichen Aktivitäten in Lettland eines persönlich durchaus liebenswürdigen und und in Deutschland einen wesentlichen Anteil. Sigmund Rascher – hilfsbereiten, an materiellen Dingen wenig inte- Alexander Bergmann, geboren im Jahr 1925, Genese eines KZ-Arztes ressierten, intellektuell nur mittelmäßig begab- hat als Jugendlicher als einer von sehr wenigen ten, zu ausdauernder, disziplinierter Arbeit (wie lettischen Juden die Shoah überlebt. Zunächst Wenn in den Jahren unmittelbar nach Kriegs- sie die Wissenschaft verlangt) unfähigen, dafür im Ghetto in Riga, dann anschließend in ver- ende die Diskussion über NS-Medizinverbre- aber um so ehrgeizigeren Mannes, der kruden schiedenen Konzentrationslagern und zuletzt chen aufkam, fi el unvermeidlich als erstes der medizinischen Theorien (Blutkristall-Diagnosen als Zwangsarbeiter in einem Außenlager des Name „Rascher“. Dr. med. Sigmund Rascher für Krebs und Schwangerschaft) anhängt, und KZ Buchenwald hat er eine Odyssee erlebt, (12.2.1909 bis 26.4.1945) hatte von März 1942 den Angst vor berufl ichem Versagen und seine deren Qualen mit menschlichem Maß kaum zu bis April 1944 unter Himmlers Protektion Ver- Liebe zu Himmlers Ex-Geliebter Nini Diehl, einer begreifen sind. suche an Insassen des KZs Dachau für Heer wahren Lady Macbeth aus der Trogerstraße, in Nach der Befreiung aus dem Konzentrations- und Luftwaffe mit zumeist tödlichem Ausgang letzter Konsequenz zum Massenmörder werden lager ist Alexander Bergmann in seine Hei- durchgeführt. Mit Beginn der 1960er Jahre ließ. matstadt zurückgekehrt und praktizierte dort wurde es still um ihn. Mit dem aufkommenden Sigmund Rascher war Partei- und SS-Mit- als Rechtsanwalt. Im Jahr 1993 wurde er Vor- Holocaust-Bewusstsein in der westlichen Gesell- glied, aber kein eifriger Nazi. Er unterschrieb sitzender der Selbsthilfeorganisation der ehe- schaft hatte ihm Josef Mengele aus Auschwitz nie Privatbriefe mit „Heil Hitler“ und hatte maligen jüdischen Ghetto- und Lagerhäftlinge den Rang abgelaufen. auch keine Funktion in einer NS-Organisation Lettlands. Erst nach dem Ende der UdSSR hat Siegfried Bär (ein nom de plume) legt hier die inne. Er war auch nicht mehr Antisemit als der Bergmann daran gedacht, seine Erinnerungen erste Biografi e Raschers vor. Er hat hierzu nicht „brave, anständige Deutsche“ (Adolf Hitler) der Jahre 1941 bis 1945 aufzuschreiben und nur die Akten des Nürnberger Ärzteprozesses von nebenan, setzte sich sogar höheren Orts öffentlich zu machen. Die „Aufzeichnungen erneut gesichtet, sondern vor allem bisher für Juden ein und beschäftigte, als privilegierte eines Untermenschen“ sind Ergebnis des Nieder- unerschlossenes Material aus dem Bundes- Häftlinge, zwei „Halbjuden“ als engste Mit- schreibens dieser Erinnerungen. Diese authen- archiv (Raschers Privatkorrespondenz) und dem arbeiter auf seiner Versuchsstation. Er war tischen, differenzierten und präzisen sowie mit Staatsarchiv München (Ermittlungen der Kripo keineswegs das Monster, die „Bestie in Men- einem sehr großen analytischen Verstand ver- gegen das Ehepaar Rascher wegen Kindesent- schengestalt“, zu der ihn die Medien gemacht fassten Reminiszenzen sind eine der wenigen führung u.a.) ausgewertet, dazu Aussagen über haben. In seinem Bösen steckte – dies zeigt Bär Zeugenberichte vom Holocaust in Lettland. Rascher aus der Nachkriegszeit von Freunden, deutlich – letztlich viel zu viel Banales. Ohne Bergmanns Beitrag ist grundsätzlich chrono- Bekannten, Vorgesetzten und Kollegen sowie den Krieg wäre der Rudolf-Steiner-Anhänger logisch aufgebaut. Dennoch hat der Autor je dessen Häftlings-Mitarbeitern in Dachau. Das Sigmund Rascher sehr wahrscheinlich ein netter, nach Bedarf auch Ausführungen über die Vor- umfangreiche Material aus Raschers „Umfeld“ freundlicher Arzt für alternative Heilverfahren und Nachkriegszeit eingefügt, was oftmals das wird von Bär kritisch hinterfragt, waren diese geworden, so wie sein Vater Hans und sein Verständnis der Geschehnisse erleichtert. Es ist Personen doch alle mehr oder weniger in die Onkel Fritz. somit durchaus kein Tagebuch im eigentlichen kriminellen Machenschaften Raschers verstrickt Sinne. Bergmann berichtet in seinen Erinne- oder wussten zumindest von ihnen und ver- rungen nicht über den gesamten Holocaust Siegfried Bär: Der Untergang des Hauses in Bezug auf die Juden in Lettland. Er erinnert suchten nach dem Krieg, ihren – inzwischen Rascher. Freiburg i. Br.: Selbstverlag, 2011 toten – ehemaligen Kollegen, Bekannten oder sich vielmehr an einzelne Episoden aus seinem Chef in den schwärzesten Farben zu malen, um Joachim Neander Leben während der Zeit des Zweiten Weltkrie- selbst um so leuchtender dazustehen – und das ges sowie an die ersten Monate nach dessen mit beachtlichem Erfolg. Ende. Aber Alexander Bergmann berichtet nicht nur über die Leiden der lettischen Juden, denn Der Autor ist von Beruf Molekularbiologe, hat Erinnerungen aus Riga zugleich erinnert er vielmehr auch an zahlreiche lange Jahre in der Grundlagenforschung und Als ein Ort von faschistischen Verbrechen wäh- Akte der Solidarität. Außerdem geht er auch zuletzt 16 Jahre als Redakteur einer Fachzeit- der Frage nach, warum die Juden aus Lettland schrift zu medizinischen Diagnose- und Arznei- rend der Jahre 1941 bis 1945 ist die lettische Stadt Riga in den letzten zwanzig Jahren immer nicht vor den vorrückenden Truppen des deut- mittelbewertungsverfahren gearbeitet. Er kennt schen Faschismus in die UdSSR gefl ohen sind. sich also in Raschers Fachgebiet aus (was von mehr in das historische und politische Bewusst- sein gerückt. Seit 1990 ist in steigendem Maße Zudem veranschaulicht Bergmann nicht zuletzt einem „normalen“ Historiker nicht erwartet zumindest ansatzweise die unsäglichen Leiden werden kann), und es erklärt auch sein Interesse die europaweite Dimension des Vernichtungs- geschehens der Shoah wahrnehmbar. In diesem der vom deutschen Militär gefangen genommen am „Fall“. (Nebenbei: es gibt keinerlei persön- sowjetischen Rotarmisten. liche Beziehungen zwischen dem Autor und Zusammenhang ist es ist immer deutlicher geworden, dass die Ermordung der lettischen Die wesentliche Bedeutung dieses Erinne- der Familie Rascher.) Er hat einen spannend zu rungs-Werkes ist die Glaubwürdigkeit der in lesenden „Dokumentarroman“ geschrieben, keine Juden der Ermordung der Juden aus Deutsch- land vorausgegangen ist. ihm berichteten Geschehnisse sowie die wirk- klassische, Fußnoten gesättigte Monographie, lichkeitsgetreue Wiedergabe der Gedanken und stilistisch bewusst sowohl auf wissenschaft- Zusammen mit den Konzentrations- und Außen- lichen Jargon als auch auf ritualisierte Floskeln lagern in den Vororten sowie den Stätten der von Abscheu und Empörung verzichtet. Er nennt Erschießungen in den umliegenden Stadtwäl- seine Quellen und versichert auf Ehrenwort, dass dern steht das Ghetto in Riga heute als Symbol iinformationennformationen 7733 | SSeiteeite 3399 Ausländern die Stadt verlassen und in der Nacht der deutschen Wehrmacht und Luftwaffe aus- Buchbesprechungen vom 23. auf den 24. September von Königs- gesetzt waren. Nach früheren Einzel- und Teil- berg nach Riga ausreisen konnte. Seine Filme veröffentlichungen sind diese Fotografi en, die (darunter auch ihm anvertraute Fotografi en und Julien Bryans Sohn 2003 dem Washingtoner und Gefühle von Alexander Bergmann während Aufnahmen seiner Mitarbeiter, die ihn selbst United States Holocaust Memorial Museum und dieser Jahre. Der Autor hat durch seine Erinne- mit der Filmkamera zeigen) konnte er durch der dortigen Kongress-Bibliothek übergab, jetzt rungen vor allem auf das Schicksal der Juden die deutschen Kontrollen bringen, mit niemals umfassend zugänglich. in Lettland vor und nach 1945 aufmerksam aufgedeckten konspirativen Methoden. Am 7. gemacht und einen sehr bedeutenden Beitrag Oktober traf er in New York ein und bereits dazu geleistet, dass deren Schicksal nicht länger neun Tage später erschien in der „Time“ seine Jacek Zygmunt Sawicki/Tomasz Stempowski so stark in Vergessenheit bleibt. erste Reportage, der wenig später weitere in (Hg.): Oble˛˙zenie Warszawy w fotografi i Juli- Wie andere Erinnerungen von Überlebenden den größten amerikanischen und internatio- ena Bryana / Siege of Warsaw in the photo- des Holocaust gehören auch diese „Aufzeich- nalen illustrierten Wochenzeitungen folgten graphs of Julien Bryan. Warszawa: Instytut nungen eines Untermenschen“ unbedingt in (einige dieser Reportagen sind exemplarisch in Pami˛eci Narodowej, 2010 unser kollektives Gedächtnis – um die Erinnerun- der erstgenannten der beiden Editionen repro- Aleksandra Janiszewska (Hg.). Jacek Zygmunt gen an die Shoah und an deren Einzigartigkeit duziert). Millionen von Kinobesuchern in den Sawicki (Einleitung): Kolory wojny. Oble˛˙ze- in der Geschichte der Menschheit wachzuhalten. USA und weiteren Ländern sahen 1940 Julien nie Warszawy w barwnej fotografi i Juliena Alexander Bergmann: Aufzeichnungen eines Bryans Film „Siege“ (Die Belagerung). Bryana / The Colors of War. The Siege of Warsaw in Julien Bryan’s Color Photographs. Untermenschen. Ein Bericht über das Ghetto Julien Bryans Fotografi en und Filmaufnahmen in Riga und die Konzentrationslager in Warszawa: Instytut Pami˛eci Narodowej / zeigen die Zivilbevölkerung Warschaus, den O´srodek Karta, 2010 Deutschland. Bremen: Edition Temmen, 2009 Bau von Barrikaden und Gräben, durch die Andreas Diers deutschen Luftangriffe und Beschießungen zer- Jochen August störte Krankenhäuser, Kirchen, Wohnhäuser und Betriebe und vor allem die Kriegsopfer: tote Frauen und Kinder, Verwundete, Flüchtlinge, Warschau Obdachlose. Auf mehreren der Fotografi en sind Ein Beitrag abgeschossene deutsche Flugzeuge, erbeutete während der Belagerung Fahrzeuge und gefangen genommene deutsche zur Gedenkkultur Die Kämpfer gegen Hitlers Krieg wussten oft Soldaten zu sehen (im Warschauer Gefängnis Im Jahr 1939 ließ die SS das größte Frauen- nicht voneinander, obwohl sie getrennt für das Pawiak, das wenige Wochen später zum Gefäng- konzentrationslager auf deutschem Gebiet in gleiche Ziel wirkten. Einer von ihnen war der nis der deutschen Sicherheitspolizei wurde). Ravensbrück errichten. In den Jahren 1939 amerikanische Dokumentarfi lmer und Fotograf Einige der Fotografi en wurden weltweit zu Sym- bis 1945 sind dort etwa 132.000 Frauen und Julien Bryan (1899–1974), der bereits wenige bolen des Schicksals Polens 1939, wie die Bilder Kinder, 20.000 Männer und 1.000 weibliche Wochen nach dem deutschen Angriff auf Polen einer gerade durch Beschuss deutscher Flieger Jugendliche als Häftlinge registriert worden. entscheidend dazu beitrug, in den USA und getöteten jungen Frau und ihrer über die Leiche Sie wurden aus über 40 Nationen dorthin ver- der ganzen westlichen Welt medienwirksam zu gebeugten, weinenden jüngeren Schwester; schleppt. Unter ihnen befanden sich Jüdinnen zeigen, wie brutal und rücksichtslos das natio- auf einer weiteren Fotografi e ist zu sehen, wie und Juden, Sinti und Roma, Kommunistinnen nalsozialistische Deutschland in Polen Krieg Julien Bryan dieses Mädchen umarmt und es zu und Sozialdemokratinnen. Zehntausende führte. trösten versucht. Julien Bryans Bildreportagen wurden ermordet, starben an Hunger, an Krank- und sein Dokumentarfilm zeigten Millionen heiten oder durch medizinische Experimente. Wenn berücksichtigt wird – was zu diesem Menschen in der freien Welt eindrücklich, dass Zeitpunkt noch nicht absehbar war –, dass die Das ist die Umgebung, die nun gefühlvoll in die angreifenden deutschen Truppen diesen den Mittelpunkt historischer Frauenforschung Beseitigung der nationalsozialistischen Diktatur Krieg gegen die Zivilbevölkerung Polens führ- erst durch den militärischen Sieg der zwei Jahre in der NS-Zeit gerückt wird. Ein Ort, der die ten. Sie wurden zum Appell, die Angegriffenen Zeugnisse über das Überleben und Sterben, später entstandenen Anti-Hitler-Koalition der zu unterstützen. USA und ihrer damaligen europäischen Verbün- den Überlebenskampf und die Angst, aber auch deten möglich wurde, dann war die Foto- und Während des Krieges fi lmte und fotografi erte über das Erfahren von Solidarität und Liebe Filmpublizistik Julien Bryans vielleicht eine der Julien Bryan in Nord- und Südamerika; er leis- hervorgebracht hat. wirkungsvollsten Taten eines der Gegner Hitlers. tete auch in den folgenden Jahrzehnten weiter Diese Zeugnisse präsentiert Barbara Degen in Julien Bryan hatte bereits in den 1930er Jahren Pionierarbeit auf dem Gebiet der Nutzung des ihrem Buch „Das Herz schlägt in Ravensbrück“, Dokumentarfilme u.a. in der UdSSR und in Films für Bildung und Erziehung. Erst nach dem das im Rahmen der Arbeit des gemeinnützigen Deutschland gedreht, darunter den 1938 unter Krieg reiste er erneut nach Europa und besuchte Vereins „Haus der Frauen Geschichte e.V.“ in seiner Beteiligung entstandenen Film „Inside 1946/47, 1958, 1959 und 1974 Polen, traf dort Bonn zur Erinnerungs- und Gedenkkultur der “, und gehörte zu den innovati- mit auf seinen Fotografi en zu sehenden Über- Frauen in Ravensbrück entstanden ist. lebenden und seinen damaligen Mitarbeitern ven Fotografen und Filmemachern, die bereits Über 1.000 Berichte, 1.200 Gedichte, Tage- früh die neuen Medien öffentlichkeitswirksam zusammen und veröffentlichte 1960 in War- bucheintragungen und Zeichnungen der (ehe- einsetzten. Im Sommer 1939 war er für Dreh- schau eine Edition seiner zwanzig Jahre zuvor maligen) weiblichen Häftlinge aus Ravens- arbeiten zu Filmen über Kinder in der Schweiz entstandenen Fotografi en. brück, erzählen ihre leidvollen Geschichten. und in Holland. Da er noch Filmmaterial und Die beiden hier vorgestellten neuen, polnisch- So bietet dieses Buch ausgewählte Zeugnisse Zeit vor der Rückkehr in die USA hatte, ent- und englischsprachigen Publikationen ergän- von Frauen in der Zeit ihrer Gefangenschaft schied er sich, als sich die Lage in Europa immer zen sich: die zuerst genannte Edition enthält und ihrer Befreiung nach 1945. Es bietet einen mehr zuspitzte, im absehbaren Kriegsgebiet zu Schwarzweiß-Fotografi en sowie detaillierte Auf- tiefen und authentischen Einblick in die Erfah- fi lmen und fuhr am 1. September über Bukarest sätze über Julien Bryans Leben und Werk, seine rungen der Ravensbrücker Häftlinge im Rahmen nach Polen. Bewusst stellte er sich also dem bereits 1960 publizierten Erinnerungen an die ihrer Selbstdarstellung. Es wird der menschli- von Deutschland angegriffenen Land an die Arbeit in Warschau und die Situation in der che Alltag unter unmenschlichen Bedingungen Seite, wo er bereits 1936 gefi lmt hatte (die belagerten Stadt, Berichte von Mitarbeitern und beschrieben. Die Schreckensseiten des Lagers USA waren bis zur deutschen Kriegserklärung damals fotografi erten Warschauern und auch – werden genauso geschildert wie die Stärke 1941 neutral). als beigelegte DVD – den 1940 gezeigten Film der Frauen, im Tod, ebenso wie im Alltagsle- Julien Bryan überschritt am 4. September „Siege“ (Die Belagerung); die zweite Publikation ben des Lagers. Ihr Zusammengehörigkeits- die rumänisch-polnische Grenze und traf am dokumentiert umfassend Julien Bryans 1939 in gefühl, ihre Hilfsbereitschaft und wie sie sich 7. September in Warschau ein, kurz vor der Warschau aufgenommene Farbfotografi en bzw. gegenseitig Trost spendeten, wird einfühlsam Einschließung der Stadt durch die deutschen die unter seiner Aufsicht bereits in New York dargestellt. Die jeweiligen Ereignisse werden Truppen. Polens Hauptstadt war zu diesem Zeit- kolorierten Aufnahmen (eine damals für die dem Leser durch Portraits und passend Zitate punkt bereits seit mehreren Tagen deutschen Fotopublizistik praktizierte Methode), jeweils nahegebracht. Den Frauen selbst war es schon Luftangriffen ausgesetzt. Zwei Wochen lang mit Erinnerungen über die damals Fotografi er- während ihrer Zeit im Konzentrationslager fotografi erte und fi lmte Julien Bryan die Aus- ten und die auf den Aufnahmen zu sehenden bewusst, wie wichtig sie als Zeuginnen dieser wirkungen der ständigen deutschen Angriffe, Situationen und Geschehnisse. Seine Fotogra- Zeit waren. Diese Frauen veranschaulichen die bevor er am 21. September mit einer Kolonne fi en und Filmaufnahmen aus dem Warschau des Stärke des Widerstandes gegen das NS-Regime. von ausländischen Diplomaten und neutralen Jahres 1939 sind ein eindrucksvolles Beispiel Sie zeugen von einem Sieg der Menschlichkeit eines engagierten, Partei ergreifenden Bildjour- und der Liebe, von der Erfüllung von Hoffnun- nalismus und vor allem Zeugnis des Schicksals gen, die diese Frauen zusammenhielten. „Es der Warschauer, die während der ersten Kriegs- ist ein politisches Buch von einem kollektiven wochen den Luftangriffen und Beschießungen Frauenwiderstand gegen das Unmenschliche im informationen 73 | Seite 40 Menschlichen“ (S. 8), wie es die Autorin selbst sich nicht um eine übergreifende Arbeit han- formuliert. Diese Widerstandsleistung erfolgte delt. Thematisiert wird eine bestimmte Epoche, Buchbesprechungen auf jede erdenkliche Form, auch wenn es nur nämlich die so defi nierte Endphase der NS-Dik- das Tragen von Lippenstift war, um der SS ihren tatur (1944–1945). Dies hätte auch im Titel des Lebensmut und Optimismus zu zeigen. Buches berücksichtigt werden können. Als Quel- Kapiteln, ist ein Hinweis auf die vielfältigen Hintergründe des Delikts Wehrkraftzersetzung Das Buch leitet die Autorin mit den Beschrei- lengrundlage dienten die Prozessunterlagen des 1944 eingerichteten Zentralgerichts des zur Sicherung der so genannten Inneren Front. bungen des eigenen Besuchs und ihrer Eindrü- Dazu gibt es bereits einschlägige Untersuchun- cke des KZ Ravensbrück ein. Die Ausführungen Heeres, Außenstelle Wien. Das engt den Fokus noch deutlicher ein. Hier darf gefragt werden: gen zu Österreich, die zum Teil in die Arbeit werden mit zahlreichen Fotos und Bildern unter- nicht hinreichend eingefl ossen sind, wie bei- strichen, es werden viele Namen genannt und Warum dieser allgemeine Titel, wo es doch um einen ganz bestimmten Spruchkörper geht? spielsweise das Werk „Deserteure, Wehrkraftzer- in Kürze ihre Geschichten erzählt. So werden setzer und ihre Richter“ von Albrecht Kirschner. beispielsweise Schicksale der Ravensbrücker Daraus resultiert auch die Einschränkung auf Frauen aus Düsseldorf vorgestellt, deren Akti- Wehrmachtssoldaten als Opfer der NS-Justiz. Der zweite umfängliche Hauptteil der Arbeit vitäten nach 1945 in die Arbeit der örtlichen Obendrein beachtet Hornung in ihrer Arbeit nur widmet sich den Akteuren – und zwar Opfern Mahn- und Gedenkstätte eingefl ossen sind und die Soldaten des Ersatzheeres im Einzugsgebiet wie Tätern. Allerdings kann durchaus danach immer noch einfl ießen. „Das Herz schlägt in des 1938 angeschlossenen Österreich, der so gefragt werden, welche Aussagekraft diese drei Ravensbrück“ unterscheidet sich von histori- genannten Ostmark. Somit fallen, worauf die Einzelfälle im Kontext der bisherigen Arbeit schen Standardwerken, da Barbara Degen die Autorin explizit hinweist, Zivilisten zumeist aus haben. Es deutet vieles darauf hin, dass hier Frauen selbst zu Wort kommen lässt und somit der Untersuchung heraus. Die Datengrundlage zwei separate Arbeiten miteinander verknüpft den Fokus auf die Überlebens- und Gedenk- umfasst 199 Akten (Prozesse), wovon 149 (also wurden, die nicht so recht zueinander passen. kultur rückt. Dabei wird ihre Identifi zierung, ihr gut drei Viertel) Anklagen Wehrkraftzersetzung Für sich betrachtet geben die Interviews sehr Verständnis und ihre Bewunderung deutlich. betreffen. In der Einleitung wird darauf verwie- interessante Einblicke in die Verarbeitung der Man versetzt sich mit in die Gefühlswelt der sen, dass die Denunziationsbereitschaft „enorm eigenen Geschichte. Es handelt sich um ein Frauen, die selbst nach der Befreiung keine hoch“ (S. 11) war, ohne dass dafür ein schlüssi- retrospektives Deutungsmuster und um eine Gerechtigkeit erfuhren, „im Bombenhagel der ger Beleg angeführt wird. konstruktive Bewertung von weit zurückliegen- Alliierten umkamen, vergewaltigt wurden oder Die kritische Einleitung soll und will keinesfalls den Geschehnissen. nach 1945 gegen neue Vorurteile und für ihr die Stärken der Arbeit herabsetzen. Es handelt Insgesamt ein facettenreiches Buch, das der Existenzminimum kämpfen mussten“ (S. 15). sich um eine der wenigen Untersuchungen, die Leserin und dem Leser einen eindrücklichen So kämpft Degen mit diesem Buch für die sich mit Denunziationen im Zusammenhang mit Blick auf einen bislang wenig thematisierten Gerechtigkeit und weist auf Brücken, die die der Wehrmachtsjustiz befassen. Äußerst rele- regionalen Bereich der NS-Militärjustiz vermit- Frauen nach der Befreiung geschlagen haben, vant ist das Hinterfragen des Mythos von der telt. Vor allem für die schulische Bildungsarbeit hin. Weder die Stärke noch der Wille der Frauen weiblichen Dominanz bei denunziatorischem ist das Werk sehr gut geeignet. wurde nach 1945 gebrochen. Sie nahmen Ein- Verhalten. In ihrer Einleitung geht die Verfas- fl uss auf die Politik in vielen Landesparlamen- serin auf die Begriffl ichkeit Denunziation ein. ten, auf die NS- Prozesse, auf den Aufbau der Hier hätte der Strafrechtspraxis, der Ahndung Ela Hornung: Denunziation als soziale Praxis. Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, durch von Denunziationen nach dem Ende der NS- Fälle aus der NS-Militärjustiz. Weimar: Böhlau die Aktivitäten der nationalen und internatio- Diktatur, ein breiterer Raum eingeräumt werden Verlag, 2010. nalen Lagergemeinschaften. Somit trugen sie zu können, um das Spannungsverhältnis zwischen Wolfgang Form einer humanen Gedenkkultur bei. Strafgesetz und Ahndungswillen zu kontrastie- Die überlebenden Frauen hielten die Ereig- ren. In Deutschland zum Beispiel gab es den nisse im Lager in Geschichten, Theaterstücken, Straftatbestand der Denunziation nicht – wohl Liedern, Romanen, wissenschaftlichen Auf- aber wurde Denunziation in vielen Hundert Ver- Existenzbedingungen in arbeitungen und Chroniken fest. Man sieht, fahren als Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Konzentrationslagern welche Konsequenzen diejenigen Frauen, die vor Gericht gestellt. ihre Gefangenschaft überlebten, aus ihren Argumentativ schlüssig werden im Weiteren der „Die Berichte der Überlebenden von Konzen- Erfahrungen zogen. Diese Erfahrungen nun, methodische Ansatz sowie die Forschungsfra- trations- und Vernichtungslagern lassen den die Erlebnisse jeder einzelnen Frau, werden zu gen ausgebreitet. Allerdings muss man fragen, Leser kalt, stoßen ihn, wenn er sich ihnen wirk- einem Gesamtbild geformt und damit ein zen- inwieweit sich die überaus interessante und lich überläßt, in das gleiche apathische Nicht- traler Beitrag zur Gedenkkultur in Europa und eindrückliche empirische Auswertung verallge- mehr-Begreifen, in dem sich der Berichterstat- darüber hinaus geleistet. meinern lässt. Das Werk bringt einen anschau- ter bewegt.“ Dieses pessimistische Zitat von lichen Einblick in die Arbeit des untersuchten Hannah Arendt aus dem Jahre 1951 stellt Her- Gerichts und der damit verbundenen Ange- mann Kaienburg an den Anfang eines Protokoll- Barbara Degen: Das Herz schlägt in Ravens- klagtenklientel. Wie und ob diese Ergebnisse (S. bandes über die Anfang 2009 in Berlin statt- brück. Die Gedenkkultur der Frauen. Opladen 67 ff.) auf Fälle außerhalb des Dokumentations- gefundene Konferenz zum Thema „National- & Farmington Hills: Budrich-Verlag, 2010. zeitraums (zum Beispiel auf die Vorkriegszeit) sozialistische Konzentrationslager 1933–1945: Kristina Steingräber zu übertragen sind, bleibt offen. Indes sind Die Veränderung der Existenzbedingungen“. die ausgewerteten Fälle sehr gut strukturiert. Erfreulicherweise hat sich die Meinung von Die Einteilung in einen persönlichen Bereich Hannah Arendt nicht bestätigt. Berichte von sowie in ein weiter gefasstes Umfeld ist ein- Überlebenden – als Zeitzeugenberichte oder als Denunziation gängig. Nachvollziehbar ist auch die Katego- Dokumentationen – erfreuen sich in aller Regel rie militärisches Umfeld, da dieses einen ganz einer großen Aufmerksamkeit, insbesondere bei in der Wehrmacht eigenen Lebensbereich darstellt. Ein wesent- den Angehörigen heutiger Generationen, die liches Ergebnis ist, dass die hier untersuchten die Geschichte des faschistischen Lagersystems Ela Hornung legt mit ihrer Habilitation ein Denunziationen zum Großteil nicht im direkten nur historisch nachvollziehen können. Dabei ist überaus interessante Arbeit zu einem allseits persönlichen Umfeld stattfanden (S. 333). Es es aus der Sicht der Geschichtswissenschaft wahrgenommenen, aber immer noch unbekann- lassen sich Hinweise dazu anführen, dass dies wichtig, die unterschiedlichen Perspektiven der ten Themenkomplex vor: Denunziation. Viele unter anderem auch durch die Dokumentations- Zeitzeugenberichte mit den veränderten Exis- Mythen ranken sich um allfällige Schnüffl er, grundlage, die Gerichtspraxis, bedingt war. Der tenzbedingungen in den jeweiligen Lagern in das Ausspähen und die „Verräter auf unterem nähere Familienkreis scheint offensichtlich eine Verbindung zu bringen, so wie es aus Sicht der Niveau“ während der NS-Zeit. War es der Nach- gewisse Schutzfunktion gehabt zu haben. Was Geschichtsdidaktik wichtig ist, die Zeitbezogen- bar oder die Nachbarin, die eine unliebsame auch nicht verwunderlich ist, denn welchen heit und individuelle Perspektive des jeweiligen Person anschwärzte? War es der soziale Druck, Grund sollten enge Familienmitglieder normaler- Zeugenberichts angemessen zu vermitteln. die soziale Kontrolle des „Dritten Reichs“, die weise haben, jemanden aus ihrer Mitte anzu- Die Konferenz bot dabei in zwei Perspektiven eine kollektive Beschnüffelung etablierte? Oder zeigen. Deutlich öfter kommen Anzeigen aus eine Bestandsaufnahme: Während es zum einen handelte es sich nur um Einzelfälle, Entglei- nicht persönlichen Lebensfeldern – Soldaten um neue Untersuchungen zu den Existenzbe- sungen in einer entgrenzten Gesellschaft? Die untereinander, Anzeigen gegen unliebsame dingungen in verschiedenen KZs des NS-La- Autorin fokussiert ihre Erklärungszusammen- Vorgesetzte etc. Nicht zu vergessen sind ano- gersystems ging, wird hier zum anderen die hänge, darauf weist schon der Titel hin, auf nyme Anzeigen. Gemeint sind damit nicht unbe- didaktische Vermittlung dieses Wissens an die soziale Determinanten. kannte Anzeigende, sondern der Umstand, dass nachgeborenen Generationen thematisiert. Eigentlich erwarten die Leserinnen und Leser das Opfer dem Anzeigenden nicht persönlich ein Werk zur Denunziation während der NS- bekannt war (Anzeige von Behörden, z.B. durch Zeit – so zumindest suggeriert es der Titel. Aber Briefkontrolle). Was man bei der Zusammenfas- schon auf den ersten Seiten wird klar, dass es sung vermisst, ebenso wie in den einleitenden iinformationennformationen 7733 | SSeiteeite 4411 zunehmende historische Distanz pädagogisch Die Edition enthält darüber hinaus knappe Ver- Buchbesprechungen überwunden werden kann. merke, die das Zwischenkapitel „Chronik der wichtigsten Ereignisse 1942“ bilden, so dass über drei Kriegsjahre hinweg lückenlos berich- Als Ausgangspunkt der acht Aufsätze über das Hermann Kaienburg (Hg.): Nationalsozia- tet wird. Vor jedem Monat werden detaillierte Lagersystem im Allgemeinen und spezifisch listische Konzentrationslager 1933–1945: Vorbemerkungen des Herausgebers präsentiert, bezogen auf die Emslandlager, Sachsenhau- Die Veränderung der Existenzbedingungen. vorwiegend solche über das militärische Vor- sen, Mauthausen, Ravensbrück, Auschwitz und Geschichte der Konzentrationslager 1933– gehen, etwa gegen die Sowjetunion, in Nord- Dora-Mittelbau stand die Frage im Fokus, wie 1945, Bd. 11. Berlin: Metropol Verlag, 2010 afrika oder auf dem Balkan. Besondere Kleinode sich die Verhältnisse in den jeweiligen Lagern Ulrich Schneider für die Widerstandsforschung sind Kaisers im veränderten und welche Ursachen diese Ver- Anhang wiedergegebene Notizen über „Wesen änderungen hatten. Dabei bemühen sich die und Aufgaben der Politik“ sowie über das „Ver- Autoren sowohl um verallgemeinernde Defi ni- hältnis des Staates zur Kirche“ (S. 663 f.); viel- tionsansätze, als auch um Periodisierungen, die leicht waren sie für Fromm bestimmt, womög- die Entwicklung des Lagersystems mit dessen Einzigartiges Zeugnis lich auch für Carl Goerdeler, dessen „Aufruf an Funktionswandel und den Veränderungen der das deutsche Volk“ Kaiser mitverfasst hatte. politischen Rahmenbedingungen verbanden. des „20. Juli“-Widerstandes Der Grundgedanke war: „Wenn die Konzen- endlich ediert Seine meist nur stichpunktartigen Einträge trationslager als ein Fundament des national- beinhalten neben einer Fülle von Hinweisen sozialistischen Herrschaftssystems anzusehen Es ist schon erstaunlich, dass die Tagebücher zur Kriegslage sowie zum Rüstungsstand auch sind, dann vermag die Geschichte der Konzent- des nationalkonservativen Widerstandskämp- Einschätzungen der außenpolitischen Entwick- rationslager auch umgekehrt einiges über den fers Hermann Kaiser (1885–1945) erst jetzt lungen. Außerdem bergen sie viele Hinweise Zustand der NS-Herrschaft in den verschiede- publiziert worden sind, sechseinhalb Jahrzehnte anderer Art, nicht zuletzt auf die vielfältigen nen Perioden auszusagen“ (S. 183f). nach der militärischen Niederringung des „Drit- Kontakte der Widerständler und ihre langwie- rigen Attentats- und Staatsstreichplanungen. Und so zeichnen die Autoren die Wirklichkeit ten Reiches“ durch die Armeen der Anti-Hitler- Koalition. Unser Wissen über den Umsturzver- Wegen der Brisanz seiner Aufzeichnungen „stupider Willkür“ in den Anfangsjahren und musste Hermann Kaiser Decknamen verwen- der „Systematisierung der Gewalt“ in den „Mus- such vom 20. Juli 1944 stützt sich zwar durch- aus auf etliche weitere authentische Zeugnisse, den, um deren Entschlüsselung sich sein Neffe terlagern“ nach. Zwei Beiträge beschäftigen in besonderer Weise verdient gemacht hat. sich intensiv mit den vernichtenden Arbeits- so auf die den faschistischen Verfolgern in die einsätzen in Mauthausen und im Stollensys- Hände gefallenen Befehle, Aufrufe, Denkschrif- Als rühriger Mittler zwischen zivilem und militä- tem von Dora-Mittelbau, während Franciszek ten und Memoranden der Verschwörer und rischem Arm der Umsturzbewegung kooperierte Piper den Wandel des Lagers Auschwitz von dergleichen mehr, wie auch auf die diesbezügli- Kaiser speziell mit Carl Goerdeler aufs Engste, einem Konzentrations- zu einem Vernichtungs- chen Ermittlungs- und Strafprozessakten. Hinzu der im Fall eines Machtwechsels an die Spitze lager nachzeichnet. Bernhard Strebel belegt an kommen z.B. die Tagebücher Ulrich von Hassells der alsbald zu bildenden Zivilregierung hätte der Geschichte des Lagers Ravensbrück, dass und noch diverse, allerdings in der Regel nach rücken sollen. Häufi ge Erwähnung ndenfi dane- es „himmelweite Unterschiede“ zwischen den 1945 verfasste Berichte, Briefe und Artikel von ben viele andere zivile Oppositionelle, ebenso Bedingungen in der Aufbauperiode und der Aktivisten der Erhebung. Ein Schattendasein solche aus dem Militär, mit denen Kaiser beim Schlussphase des Lagers gab, wodurch auch gefristet haben hingegen die privaten Tagebü- OKH Kontakt hatte, so Hans Oster, Friedrich die Wahrnehmungen der betroffenen Häftlinge cher Hermann Kaisers, im Zivilberuf Gymnasial- Olbricht, Ludwig Beck, Henning von Tresckow, über die Lagerwirklichkeit sehr unterschiedlich lehrer in Wiesbaden und seinerzeit als Haupt- Fabian von Schlabrendorff usw. Auffällig ist, ausfi elen. mann der Reserve Kriegstagebuchführer im dass der spätere Hitler-Attentäter Claus Graf Schenk von Stauffenberg nur selten erwähnt Als wissenschaftliches Desiderat wurde auf Stab von Generaloberst Fritz Fromm, dem Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatz- wird, und dies, obwohl die beiden doch mehr- der Konferenz beklagt, dass es keine trenn- mals aufeinander getroffen sind. Und der als scharfe Defi nition für Konzentrationslager gibt, heeres im Oberkommando des Heeres (OKH). Nur gelegentlich sind sie von Historikern für künftiger Vizekanzler eingeplante Arbeiterfüh- die diese vom übrigen Lagersystem abgrenzt. rer Wilhelm Leuschner hat sogar nur in einem Kaienburg formuliert dabei den Anspruch an Arbeiten zum „20. Juli“ herangezogen worden. Keiner mochte sich jedoch dazu bereitfi nden, einzigen Hinweis eine Spur in Kaisers Diarium eine Defi nition: „Sie sollte die Ziele und die hinterlassen. Zielgruppen benennen, deretwegen die Kon- diese einzigartige zeitgeschichtliche Quelle sys- zentrationslager errichtet wurden. Sie sollte tematisch zu erschließen und zu veröffentlichen, Zum besseren Verständnis werden in den An- beschreiben, was mit den Betroffenen geschah. da eine editorische Sisyphusarbeit abschreckte. merkungen die Beziehungen der Personen Sie sollte zumindest grundlegende Angaben Dieser kolossalen Kraftanstrengung hat sich nun untereinander erklärt und zudem weitere Hinter- darüber enthalten, auf welchem politischen und Peter M. Kaiser unterzogen, aus dessen Feder grundinformationen mitgeteilt. Die Häufi gkeit organisatorischen Wege diese Ziele verfolgt und bereits einige der leider nur raren biografi schen der Eintragungen, welche Widerstandsaktivi- erreicht wurden“ (S. 182). Beiträge über seinen Onkel Hermann stammen, täten betreffen, offenbart die ganze Intensität, der im Zuge der Staatsstreichaktion zunächst mit der Kaiser am Netzwerk der Verschwörung Auch mit Blick auf die hier veröffentlichten gearbeitet hat. materialreichen Studien stellt sich jedoch die als Verbindungsoffi zier im Wehrkreis XII (Wies- Frage, welchen Erkenntnisfortschritt die Arbeit baden), anschließend in leitender Funktion im Peter M. Kaisers wichtige Quellenedition, bei an einer solchen Defi nition bringen könnte. Kultusministerium hätte hervortreten sollen. Das der er manche Unterstützung anderer Wissen- So wird doch deutlich, dass trotz aller Ähn- Editionsprojekt wurde bereits 1998 in Angriff schaftler erfahren hat, wird gewiss zu weiterer lichkeiten die Lager ihre eigene Dynamik und genommen und nun mit Bravour zu einem guten Forschungsarbeit anregen. Damit wird dem Wirklichkeit entfalteten. Abschluss gebracht. Die einzigen erhalten geblie- Widerständler Hermann Kaiser, der sich zum benen Kaiser-Tagebücher, nämlich jene für die Schluss zum strikten Befürworter eines Ver- Daraus ergab sich auch der zweite Schwerpunkt Jahre 1941 und 1943, wobei Letzteres bereits fassungsstaates mit frei gewählter Regierung der Konferenz, nämlich die Überlegung zum Anfang August endet, liegen damit in geradezu emporgearbeitet hatte, endlich eine angemes- Verhältnis von wissenschaftlicher Forschung vorbildlich erschlossener Form vor. sene historiografi sche Würdigung zuteil. und pädagogischen Zugängen für Jugendliche, wie sie Matthias Heyl (Gedenkstätte Ravens- Während seine sonstigen Aufzeichnungen Peter M. Kaiser (Hrsg.): Mut zum Bekenntnis. brück) erläutert. Er verweist darauf, dass es von den faschistischen Fahndern beschlag- Die geheimen Tagebücher des Hauptmanns eine pädagogische Herausforderung für das nahmt worden sind und als Beweisstücke in Hermann Kaiser 1941/1943. Berlin: Lukas Gedenkstätten-„Narrativ“ sei, die bei Jugend- den Schauprozessen gegen die Verschwörer Verlag 2010. lichen vorhandenen Geschichtsbilder und feh- vor dem „Volksgerichtshof“ Verwendung gefun- Nazlı Ïlhan, Axel Ulrich lendes, strukturierendes Wissen mit differenzie- den haben, konnten diese beiden Tagebücher renden Informationen zu konfrontieren. Wissen- dem Zugriff der NS-Behörden entzogen werden. schaft und Pädagogik muss es aber um eine Zusammen mit einigen weiteren Unterlagen Förderung des Respektes für die Ermordeten Hermann Kaisers gelangten sie nach dem Krieg und Überlebenden gehen. In einem abschließen- in den Besitz seines Bruders Ludwig, der sie den Beitrag plädiert Kaienburg daher für eine bereits vor Jahrzehnten an das Bundesarchiv Faschismus in der Professionalisierung der pädagogischen Arbeit abgegeben hat. Da es nur unzulängliche in den Gedenkstätten, damit nicht nur gesicher- Abschriften gab, war es unumgänglich, die nordhessischen Provinz tes Wissen geschaffen wird, sondern auch die unzähligen Schreibfehler und Fehldeutungen, die sich eingeschlichen hatten, durch eine mehr- Seit vielen Jahren gibt es verstärkt Forschun- fache, akribische Abgleichung mit den Original- gen zur NS-Geschichte in der Provinz. Dieser texten zu korrigieren. Allein dies hat Jahre in Forschungsansatz ist von daher ertragreich, da Anspruch genommen. auf diese Weise die Bedingungen für die Durch- informationen 73 | Seite 42 setzung der faschistischen Ideologie und die 7. November in Kassel und anderen nordhes- Buchbesprechungen Umsetzung der verbrecherischen Politik bis in sischen Orten war. Er erbringt den Nachweis, den letzten Winkel des Deutschen Reiches nach- wie diese Aktion gesteuert und anschließend vollziehbarer werden. Die Fragen, um die sich propagandistisch ausgeschlachtet wurde. Der die meisten dieser Veröffentlichungen drehen, Autor lässt die Schutzbehauptung von Josias Kriegsende bestand. Hierbei handelte es sich thematisieren die gesellschaftlichen und perso- zu Waldeck, er sei an dem Tag in München vor allem um ein Strafl ager für ausländische nellen Voraussetzungen für die Etablierung der gewesen, nicht gelten und führt anschließend Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die NS-Herrschaft und die Wirkungen des National- detailliert aus, in welcher Form gewalttätiger sich dem Arbeitseinsatz widersetzt hatten. sozialismus in der Provinz. Antisemitismus in der Region in den folgenden Gleichzeitig bildete es jedoch auch die zentrale und wichtigste Haftstätte der Gestapo Kassel Die Frage, warum es solche Veröffentlichungen Jahren um sich griff, und wie die Nazis der Region daran partizipierten. für deutsche und ausländische Gefangene, die nicht schon vor 50 Jahren gegeben habe, lässt aus ideologischen Gründen verfolgt worden sich leicht beantworten: Regionale Forschungen Im Abschlusskapitel verweist Menk auf den waren. Etwa 7.000 ausländische und mehr als nehmen ganz konkret die einzelnen Akteure in Terror der NS-Herrschaft in der Phase seines 1.300 deutsche Gestapo-Gefangene aus dem den Blick und zeichnen damit oftmals das Netz- Niedergangs, welcher auch vor den eigenen Regierungsbezirk Kassel und aus Thüringen werk der regionalen Eliten nach, die als Täter, Mitstreitern, wenn sie sich der totalen Unterwer- waren im Verlauf des Zweiten Weltkrieges dort Mittäter oder Profi teure in den Faschismus ein- fung versagten, nicht Halt machte. Das Ende der inhaftiert. Zudem stellte die Haftstätte das gebunden waren. Da diese Netzwerke zumeist NS-Herrschaft führte in der Zeit amerikanischer erste AEL dar, in welches auch Frauen inhaf- auch nach 1945 weiter Bestand hatten, stellte Besetzung zu einem Wechsel der politischen tiert wurden. Unter allen Inhaftierten dieser sich – im günstigsten Fall – einem Forscher eine Eliten. Doch dieser Neuanfang war nicht von Institution beläuft sich der Anteil der Frauen Mauer des Schweigens entgegen. In negativen Dauer. „So sticht hervor, dass Waldeck nach auf etwa ein Viertel. Beispielen ist selbst von existenzvernichten- 1945 ein gesuchtes Ziel alter nationalsozia- listischer Eliten wurde. (...) In der mittelbaren In seiner Einführung geht Richter auf die „Wie- den Maßnahmen gegen Regionalforscher zu derentdeckung“ des Lagers ein, das viele Jahr- berichten. Umgebung Arolsens als bisherigem SS-Zentrum schienen die besten Netzwerke zu bestehen, zehnte in der Öffentlichkeit erfolgreich verdrängt Auch Gerhard Menk, der den hier zu bespre- die zuerst einmal eine ausreichende Ernährung, worden war. Dabei zeigen seine Ausführungen chenden Band „Waldeck im Dritten Reich“ ver- darüber hinaus aber auch eine angemessene über die Rolle und Arbeit der Gestapo Kassel fasst hat, kennt solche Beispiele. Er selbst ist Unterstützung von alten Freunden zu gewähr- auf, welche Bedeutung dieser Haftort im System Archivoberrat im Staatsarchiv Marburg, lehrt leisten schienen“ (S. 258). Wie lang der Arm des faschistischen Terrors besaß. So wird am an der Universität Gießen und veröffentlicht der ehemaligen Nazis war, mussten aber auch Beispiel einzelner Einweisungen durch Kreis- und seit 20 Jahren Aufsätze zur Waldeckschen ehemalige Mitkämpfer erleben. Das wohl pro- Ortspolizeibehörden oder durch die Gestapo Geschichte. minenteste Beispiel war Johann Harnys, ein SS- Weimar sichtbar, welche Funktion dieses Lager Menk liefert zuerst einen Überblick über den Brigadeführer, der nach einem Streit mit Josias als Terrorinstrument zur Durchsetzung von Stand der Forschung und die Quellen, wobei er zu Waldeck-Pyrmont als prominenter Häftling Zwangsarbeit besaß. Richter zeichnet, bezogen aufgrund seiner berufl ichen Voraussetzungen in das KZ Buchenwald eingeliefert, später ins auf das Schicksal einzelner Verfolgter, immer die besten Möglichkeiten der Quellenarbeit in SS-Gefängnis nach München verlegt und „uneh- wieder die Struktur des Lagers, die Haft- und hessischen Archiven besaß. Seine Arbeit glie- renhaft“ aus der NSDAP und SS ausgeschlossen Lebensbedingungen und die Strafmaßnahmen dert er in drei Schwerpunkte. So thematisiert er wurde. Aus amerikanischer Internierungshaft nach. Basierend auf zahlreichen Zeitzeugenbe- erstens den Anfang und Aufstieg der national- sagte er als Belastungszeuge gegen Waldeck- richten und Verfolgungsakten detailliert er die sozialistischen Herrschaft, um an zweiter Stelle Pyrmont aus. Sein Versuch, wieder in der Heimat Haftbedingungen von der Ankunft bis zu einer die Judenverfolgung und den Niedergang des zu leben, scheiterte. Ohne Erfolg stritt er beim möglichen Entlassung oder Überstellung in das NS–Regimes in den Fokus seiner Betrachtung Verwaltungsgericht Kassel um eine Entschädi- KZ Buchenwald. Deutlich wird, dass auch das zu nehmen. Den abschließenden Schwerpunkt gung für die Haftzeiten. Ende der 1950er Jahre AEL den ideologischen Vorgaben der faschisti- seiner Arbeit widmet er dem Ende des NS-Re- verließ er die Region, da es ihm unmöglich war, schen „Volksgemeinschaft“ folgte, so dass nicht gimes. berufl ich wieder Fuß zu fassen. Menk zeichnet nur Menschen wegen unzureichender Arbeitsleis- auch die politische Karriere des NS-Bürgermeis- tungen, sondern auch politische Gegner, sowie Im Eingangskapitel belegt er an Beispielen, dass Christen verschiedener Kirchen und jüdische sich in Waldeck schon in den 1920er Jahren ters von Bad Wildungen Rudolf Sempf und des Rasseforschers Dr. Lothar Stengel-von Rutkowski, Gefangene zwischen 1940 und 1945 in Breite- deutschnationale und reaktionäre Strukturen nau inhaftiert waren. etabliert hatten. So berichtet Menk von einem der im Gesundheitsamt von Korbach Karriere machen konnte, nach. Insgesamt entwickelte Richter dokumentiert anhand von 20 Fällen „System Schmieding“, benannt nach dem preu- die Morde an Gefangenen, insofern sie mit ßischen Landesdirektor Wilhelm Schmieding, sich diese Region bis in die 1980er Jahre zu einem Eldorado ehemaliger Naziverbände. Eine Hilfe der Unterlagen rekonstruierbar waren. Den welches bereits Jahre vor der Machtübertra- Abschluss bilden Berichte über Deportationen gung völkische Kräfte in dieser Region hege- wichtige Rolle dabei spielte Fürst Josias: „Wenn in allen schriftlichen Stellungnahmen des frü- aus dem AEL Breitenau in die verschiedenen monial werden ließ. Schon während der Wahlen heren Erbprinzen und nachmaligen Fürsten zu Konzentrationslager von Dachau bis Buchen- 1932 erlangte die NSDAP in fast allen Wahl- seiner blutgetränkten Vergangenheit nicht ein wald. Abschließend fasst Richter die bereits bezirken eine Dominanz. Jedoch waren auch Funken Schuld zu erkennen ist, so macht er auch mehrfach dokumentierten Fakten des Gesta- gesellschaftlich – bis hinein in die evangelische in dieser Form seiner Rolle als schwarzes Schaf pomordes an den verbliebenen Häftlingen im Landeskirche – völkische, nationalistische und der Familie alle Ehre“ (S. 260). März 1945 kurz vor dem Eintreffen der ameri- faschistische Überzeugungen prägend. kanischen Truppen zusammen. Die Machtetablierung wurde durch die Akteure Der Kasseler Historiker Jens Flemming fasste geprägt. Menk nennt insbesondere drei Perso- Gerhard Menk: Waldeck im Dritten Reich. Voraussetzungen und Wirken des National- im Vorwort sein Urteil über das Buch folgen- nen, die von großer Bedeutung für die Durch- dermaßen zusammen: Die „materialgesättigte setzung der faschistischen Herrschaft in Wal- sozialismus im hessischen Norden. Korbach/ Wiesbaden: Beiträge aus Archiv und Museum Fallstudie zeichnet ein facettenreiches Bild der deck waren: den Bauern und Mühlenbesitzer lokalen und regionalen Unterdrückungsmaschi- SS-Hauptsturmführer Fritz Best, den Bürgermeis- der Kreisstadt Korbach und Archiv der Alten Landesschule, 2010 nerie. Sie besticht durch ein, hier muss man ter von Bad Wildungen Rudolf Sempf und den sagen: bedrückendes Maß an Anschaulichkeit, SS-Obergruppenführer und Oberaufseher der Ulrich Schneider sie liefert Anstöße für die Erinnerungsarbeit Konzentrationslager Josias Erbprinz zu Waldeck- am Ort des Geschehens, sie ist selber ein Stück Pyrmont. Diesen drei Persönlichkeiten widmet Erinnerungskultur.“ er ein eigenes Kapitel und zeichnet darin nach, welche Mittel und Wege sie ergriffen, um nicht Besonders hervorzuheben ist der umfangrei- nur für das System, sondern auch für sich privat che Schlussteil, der sich mit der Nachkriegsent- und entsprechend ihrer Persönlichkeit Vorteile Historische Aufarbeitung wicklung dieses Ortes beschäftigt. Dabei geht zu erzielen. es dem Autor nicht nur um Nachnutzung des des AEL Breitenau historischen Ortes als Landesarbeitsanstalt und Zu den wohl bekanntesten Verbrechen der Nazi- als Mädchenerziehungsheim, sondern vor allem Herrschaft in der Provinz zählen die Übergriffe Grundlage dieser Veröffentlichung ist die 2004 um den Umgang mit den Tätern und Mittätern. und Gewalttaten im Zuge der Reichspogrom- eingereichte Dissertation von Gunnar Richter In mehreren Prozessen, z.B. gegen Erich Engels nacht im November 1938. Erwähnenswert über die Geschichte des Arbeitserziehungsla- und weitere Angehörige der Kasseler Sicher- ist, dass in dieser Region die antisemitischen gers (AEL) Breitenau, welches im Mai 1940 heitspolizei in Polen oder in Spruchkammerver- Gewalttaten ihren Ausgangspunkt nahmen. von der Geheimen Staatspolizeistelle Kassel Menk belegt, dass Josias zu Waldeck in Zusam- auf dem Gelände des ehemaligen Benediktiner- menarbeit mit dem Gaupropagandaleiter und klosters und späteren Arbeitshauses Breitenau Initiator der Übergriffe Max Solbrig bereits am in Guxhagen eingerichtet wurde und bis zum iinformationennformationen 7733 | SSeiteeite 4433 spät erfolgt sein, da die Anzahl noch lebender im NS-Regime um einen Zeitzeugenbericht zu Buchbesprechungen Zeitzeugen inzwischen minimal sein dürfte. bereichern. Hierzu führte er nicht nur zahlreiche Vor diesem Hintergrund ist Alexander Zinns Interviews mit Rudolf Brazda, Zinn recherchierte auch sehr gründlich für sein Buch. Er setzte sich fahren, kamen die Vorgänge im AEL Breitenau Vorhaben, einem verfolgten Schwulen Gehör zu verschaffen, nicht hoch genug zu bewerten. nicht nur mit der gängigen Forschungsliteratur zur Sprache. Um so mehr überrascht, wie die auseinander, sondern er ging Brazdas Lebens- Täter durch die juristische Verfolgung weitge- Und Rudolf Brazdas ungewöhnliche Lebensge- schichte erzählt nicht nur von Bedrohung und spuren auch in zahllosen Archiven und Doku- hend unbelastet blieben. Exemplarisch schildert mentationszentren nach. Man spürt beim Lesen, der Autor den Fall des Leiters der Gestapo- Verfolgung, sondern auch von einem unbän- digen Lebenswillen und dem Bemühen, auch mit welch großem Respekt und Einfühlungs- stelle Kassel, Franz Marmon, der zu Beginn der vermögen sich Zinn der Lebens- und Leidens- 1950er Jahre zwar angeklagt wurde, jedoch unter sehr schwierigen Bedingungen das Recht auf die eigene Identität zu leben. geschichte Rudolf Brazdas nähert. Herausge- im Jahre 1952 das Gericht wieder unbehelligt kommen ist dabei ein intensives Dokument, das verlassen konnte. Rudolf Brazda wird 1913 als Kind tschechi- dazu beiträgt, Homosexuelle als Opfergruppe Angesichts dieser Vorgänge überrascht der scher Einwanderer in der Nähe von des NS-Regimes erneut stärker in den Blick- von Richter skizzierte Umgang mit den Opfern geboren. Schon früh in seinem Leben macht punkt zu rücken. Dies war auch das Anliegen und der NS-Geschichte des AEL Breitenau nach er Erfahrung damit, anders zu sein. Dies liegt Rudolf Brazdas, der seine Geschichte erzählen 1945 nicht. Zwar gab es anfangs einen Gedenk- nicht nur an seiner Herkunft, denn bereits als wollte: „Damit so etwas nie wieder passiert.“ friedhof, aber es dauerte Jahrzehnte, bis die Jugendlicher entdeckt er seine Homosexualität. Leider kann er die Wirkung des Buches nicht Verfolgungsschicksale angemessen anerkannt Rudolf lernt schließlich seine erste große Liebe mehr erleben. Im August 2011 ist er im Alter wurden. Dies lag nicht zuletzt an Vorbehalten kennen, mit der er bald darauf zusammenzieht. von 98 Jahren im Elsass gestorben. gegenüber Zwangsarbeitern, welche teilweise Das ist äußerst ungewöhnlich für jene Zeit, beschuldigt wurden, sie hätten „freiwillig“ mit insbesondere im Jahre 1934. Denn die National- der faschistischen Administration zusammen- sozialisten lassen bereits kurz nach der Macht- Alexander Zinn: „Das Glück kam immer zu gearbeitet. Richter kommt zu dem zusammen- übernahme klar erkennen, dass sie schwule mir.“ Rudolf Brazda – Das Überleben eines fassenden Urteil: „Auffällig ist vor allem die und lesbische Lebensformen nicht tolerieren. Homosexuellen im Dritten Reich. Frankfurt/ große Diskrepanz zwischen dem Umgang mit Durch einen Erlass vom Februar 1933 werden New York: Campus Verlag, 2011. den Tätern und Mittätern einerseits und den viele Bars und Cafés, die als Treffpunkte Homo- André Wilkening Opfern andererseits. Mit denjenigen, die an den sexueller gelten, geschlossen. Vereinigungen Verbrechen beteiligt oder in sie verstrickt waren, und Publikationen werden verboten, und im wurde in unserer Gesellschaft sehr nachsichtig Herbst 1934 setzt die erste systematische Ver- umgegangen“, den Opfern wurden „Almosen folgungswelle ein. gegeben, und ihr Schicksal wurde verdrängt und Rudolf und seinem Freund Werner gelingt es Antifaschistische Positionen vergessen“ (S. 529). Erst mit der Errichtung der zunächst noch, ihre Beziehung in gewisser Gedenkstätte kann man von einem würdigen- Unbekümmertheit zu leben. Mit der deutlichen zur Gedenkpolitik den Verhältnis zu diesen Opfern faschistischen Verschärfung des § 175 im Jahre 1936 weitet Im April 2010 veranstaltete die Vereinigung Terrors sprechen. sich die Verfolgung Homosexueller aber auch der Verfolgten des Naziregimes – Bund der zunehmend auf die ländlichen Regionen aus. Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN- 1937 schließlich wird Rudolf mit zahlreichen BdA) gemeinsam mit zahlreichen Partnerorga- Gunnar Richter: Das Arbeitserziehungslager anderen Schwulen verhaftet und in den soge- Breitenau (1940–1945): Ein Beitrag zum nisationen in Berlin eine Konferenz unter dem nannten Altenburger Homosexuellenprozessen Titel „Einspruch! Antifaschistische Positionen nationalsozialistischen Lagersystem. Straf- verurteilt. Von den 44 Verhafteten werden 42 lager, Haftstätte und KZ-Durchgangslager zur Geschichtspolitik“. Dabei sollten aktuelle zu mitunter mehrjährigen Gefängnisstrafen Geschichtsbilder und geschichtspolitische Ten- der Gestapostelle Kassel für Gefangene aus abgeurteilt; Rudolf kommt für sechs Monate Hessen und Thüringen. Kassel: Winfried denzen hinsichtlich der Bewertung und den ins Gefängnis. Kurz nach Verbüßung seiner Umgang mit dem Nationalsozialismus diskutiert Jenior Verlag, 2009 Haftstrafe wird er aus Deutschland ausgewie- Ulrich Schneider werden. Die Beiträge dieser Konferenz wurden sen. Rudolf geht für einige Jahre nach Karlsbad 2011 von Heinrich Fink und Cornelia Kerth und tingelt zeitweise mit einer jüdischen Schau- herausgegeben. spielertruppe über die Dörfer und Städte. Doch mit den zunehmenden antisemitischen und Der Band gliedert sich in vier Hauptteile, in Das Überleben antitschechischen Übergriffen im , denen jeweils „Einspruch“ erhoben wird: eines Homosexuellen im wird auch dort die Lage für ihn immer gefährli- Gegen eine „grundlegende Neubewertung der cher. 1941 erfolgt seine erneute Verhaftung, da Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“ mittels Nationalsozialismus man ihn wegen seiner Homosexualität denun- Totalitarismusformeln, gegen deutsche Opfer- ziert hatte. Es folgen ein erneuter Prozess und konstruktionen, gegen den Mythos einer „saube- Alexander Zinns äußerst lesenswertes Buch eine vierzehnmonatige Haftstrafe. Im Anschluss ren Wehrmacht“ sowie gegen ein nivellierendes über das Schicksal eines Homosexuellen wäh- kommt Rudolf jedoch nicht mehr frei; als „Wie- Gedenken an die Opfer „diktatorischer Herr- rend des NS-Regimes verdankt seine Entstehung derholungstäter“ bleibt er in Schutzhaft und schaft in Deutschland zwischen 1933 und 1990“. einem Zufall. Als 2008 in Berlin das Mahnmal wird anschließend in ein KZ überstellt. Dieses Besonders hervorzuheben ist die Beteiligung für die homosexuellen Opfer des NS-Terrors Schicksal teilt er mit vielen anderen Homosexu- eingeweiht werden sollte, meldete sich die ehemaliger Widerstandskämpfer und NS-Opfer ellen. Insbesondere in den letzten Kriegsjahren an der Konferenz. In seinem Eröffnungsbeitrag Angehörige eines noch lebenden Zeitzeugens steigt die Anzahl schwuler Häftlinge in den KZs beim Lesben- und Schwulenverband in Deutsch- referierte der mittlerweile verstorbene Präsident signifi kant an. Brazda gelangt im August 1942 der Fédération Internationale des Résistants, land (LSVD). So entstand der Kontakt zu jenem nach Buchenwald, wo er bis zur Befreiung des Mann, dessen Geschichte Zinn in seinem Buch Michel Vanderborght, über die Bedeutung Lagers inhaftiert bleibt. Die Überlebenschancen des Widerstands gegen den Nationalsozialis- ausführlich schildert. Zwar sind in den vergan- der Häftlinge mit dem Rosa Winkel in Buchen- genen Jahren erfreulicherweise zahlreiche Pub- mus für das historische Bewusstsein Europas wald sind denkbar schlecht. Viele werden im nach 1945; Rosario Bentivegna, Mitglied der likationen über die Verfolgung Homosexueller Steinbruch zu Tode geschändet, oder sie werden im Nationalsozialismus erschienen, doch fi nden Partisanengruppe Brigate Garibaldi in Rom Opfer der zahlreichen Menschenversuche. Und 1943/44, legte einen Erinnerungsbericht über sich darunter kaum Zeitzeugenberichte. Denn auch innerhalb der unterschiedlichen Häftlings- mit der Befreiung von der NS-Diktatur endete seine Motivation, dem bewaffneten Widerstand gruppen begegnet man den Schwulen vielfach beizutreten, ab; die Schlussworte der Konferenz für Schwule und Lesben nicht die Gefahr, auf- mit Misstrauen und offener Ablehnung. grund ihrer sexuellen Orientierung verhaftet und sprach Adam König, Überlebender der Konzent- vor Gericht gestellt zu werden. Viele verfolgte Rudolf gelingt es allerdings aufgrund seines rationslager Sachsenhausen, Auschwitz, Mittel- Schwule und Lesben trauten sich schon deshalb einnehmenden Wesens und kommunikativen bau-Dora und Bergen-Belsen. nicht, ihre Geschichte publik zu machen. Der Geschicks, überlebenswichtige Kontakte zu Da sich die Konferenz nicht an ein wissenschaft- von den Nazis verschärfte §175 blieb bis 1969 vielen anderen Häftlingen aufzubauen. Dadurch liches Fachpublikum, sondern an geschichts- in Kraft, und erst 2002 erfolgte eine symboli- steigt er in der Lagerhierarchie auf und schafft politisch interessierte AntifaschistInnen auch sche Rehabilitierung der vom NS-Regime nach es schließlich, im Dachdeckerkommando zu ohne tiefgehende Vorkenntnisse richtete, ist dem Unrechtsparagraphen verurteilten Homo- arbeiten. Rudolf hat das Glück, die unmensch- zu verstehen, dass der wissenschaftliche Ertrag sexuellen. Für viele der Betroffenen mag dies zu liche KZ-Haft zu überleben. Nach der Befreiung des Bandes eher gering ist. Vielmehr sind die kehrt er Deutschland den Rücken und lebt fort- Beiträge als Einführung in zentrale Problem- an in Frankreich. felder der Geschichts- und Erinnerungspolitik Alexander Zinn gelingt es in seinem Buch, die zu verstehen. So geben etwa die Beiträge von Geschichte über die Verfolgung Homosexueller Wolfgang Wippermann zu Faschismustheorien, informationen 73 | Seite 44 von Hannes Heer zur Rolle der Wehrmacht im Zusammenfassend kann der Tagungsband gut Zweiten Weltkrieg sowie von Detlef Garbe zur als Einführungslektüre in verschiedene Felder Buchbesprechungen geschichtspolitischen Bedeutung von Gedenk- der Geschichts- und Erinnerungspolitik dienen, stätten als „authentische Orte“ die Ergebnisse deren AutorInnen jedoch bewusst auf eine „neu- deutsche Gesandtschaft auf Propagandaarbeit vorangegangener Arbeiten der Autoren in Kürze trale“ Sichtweise verzichten und in der Mehrzahl und Überwachung der schwedischen Presse, wieder, die einem breiteren Publikum zugäng- dezidiert linke oder antifaschistische Positionen um ein pro-deutsches Bild schaffen zu können. lich gemacht werden sollen. Ulrich Sanders vertreten. Zu bemängeln ist sicherlich die Kürze Vortrag zur „Traditionspflege“ der Bundes- vieler Beiträge, wodurch einige Themen nur Während Schweden bereits in der Vorkriegs- wehr fasst weitestgehend die Auseinanderset- gestreift werden können und nur wenige Inhalte phase eine Schlüsselrolle für die deutschen zungen der vergangenen Jahre über die von vermitteln. Eine Zusammenfassung der an die Rüstungsvorhaben inne hatte, erlangte es auch den Mittenwalder Gebirgsjägern im Zweiten Vorträge anschließenden Diskussionsrunden in den Kriegsjahren eine besondere Rolle als Weltkrieg verübten Massaker und deren von wäre hier sicher sinnvoll gewesen. Handelspartner für die kriegs- und rüstungs- deutscher Seite überwiegend ausgebliebene wichtigen Güter und diente – trotz der propa- strafrechtliche Verfolgung wie auch öffentliche gierten Neutralität – als wichtiges Transitland Thematisierung nach 1945 besonders in Hin- Heinrich Fink/Cornelia Kerth (Hg.): Ein- für die deutsche Wehrmacht zum Transport von blick auf die politische Legitimierung heutiger spruch! Antifaschistische Positionen zur Waffen, Materialien und Soldaten von Norwe- Auslandseinsätze der Bundeswehr zusammen. Geschichtspolitik. Köln: PapyRossa, 2011 gen über Schweden an die fi nnische Ostfront. Moshe Zuckermann widmet sich in einem sehr Marco Brenneisen Durch einen massiven Ausbau der deutschen kurz gehaltenen Beitrag der „Ideologie des Ver- Gesandtschaft – von anfänglich 28 Mitarbei- gleichs“ zwischen Nationalsozialismus und Stali- tern bei Kriegsbeginn auf 218 im Herbst 1943 nismus, Kurt Pätzold kritisiert die einschlägigen – sollte der Einfl uss auf die schwedische Samm- Opferdiskurse, etwa in Bezug auf die deutschen lungsregierung gesteigert werden. Der massiven „Heimatvertriebenen“ oder die Bombardierung Zunahme an deutsch-feindlicher Einstellung Dresdens. Besonders interessant ist der daran Hitlers Brückenkopf seitens der schwedischen Öffentlichkeit und anschließende Beitrag von Holger Politt, Vor- in Schweden Berichterstattung nach der Okkupation Däne- stand der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, der marks und Norwegens sollte durch Subventio- die Bedeutung des Hitler-Stalin-Pakts und der Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelingt nierung kollaborationswilliger schwedischer Zei- darin festgelegten Annexion der polnischen Ost- es dem Auswärtigen Amt, den Mythos der tungen und Nachrichtenagenturen entgegenge- gebiete durch die Sowjetunion als Grundlage Unschuld an den Verbrechen des NS-Regimes wirkt werden. Gegen Ende des Kriegs schwand der 1945 beschlossenen „Westverschiebung“ zu etablieren: Die Tätigkeiten der Mitarbeiter die deutsche Machtposition in Nordeuropa und Polens sowie der sich daraus entwickelnden Her- hätten sich einzig auf die Aufrechterhaltung des somit auch das Druckmittel zur Einfl ussnahme ausforderungen für die polnische Nachkriegs- diplomatischen Dienstes ohne jeglichen Einfl uss auf die schwedische Sammlungsregierung. Dies gesellschaft behandelt. nationalsozialistischer Ideologie konzentriert. minderte letztendlich auch die schwedische Bereitschaft zur Unterstützung des NS-Regimes. Einen besonderen Schwerpunkt der Tagung Ein ähnliches Bild wird von Mitgliedern der bildeten zugleich Referate über die gegenwär- deutschen Gesandtschaft in Stockholm gezeich- Daniel B. Roth thematisiert in „Hitlers Brücken- tige Gedenkkultur und zukünftige Aufgaben net. Diese sollen mit Ende des Zweiten Welt- kopf in Schweden“ nicht nur die Entwicklung der Gedenkstätten. Rosel Vadehra-Jonas, Vor- krieges versucht haben darzustellen, Schweden und Vorgehensweise der deutschen Gesandt- sitzende der Lagergemeinschaft Ravensbrück, aus dem Krieg der Großmächte heraushalten schaft und ihren vergeblichen Versuch der Ein- betont den Stellenwert der KZ-Gedenkstätten zu wollen. fl ussnahme auf die schwedische Öffentlichkeit, als Erinnerungsorte der Überlebenden und Einen wichtigen Beitrag zur Revidierung dieser sondern auch das Austarieren der schwedischen warnt vor einer Entpolitisierung der Erinnerungs- Aussage und zur Analyse der realen Tätigkeit Regierung zwischen ihrer oft propagierten Neu- orte. Peter Fischer, der in seinem Beitrag die der Gesandtschaft in Schweden zwischen 1933 tralität und der nahezu aktiven Beeinfl ussung Grundpositionen des Zentralrats der Juden zur bis 1945 leistet Daniel B. Roth durch die 2007 des Kriegsgeschehens. Dies zeigt die heraus- Gedenkstättenpolitik darlegte, verweist hier- an der Universität Flensburg eingereichte und ragende Recherchearbeit des Autors, welcher bei auf die schwierige Herausforderung, das nun leicht überarbeitet publizierte Dissertation neben den Forschungsarbeiten im Politischen „Vermächtnis“ der Überlebenden nach dem unter dem Titel „Hitlers Brückenkopf in Schwe- Archiv des Auswärtigen Amts, im Bundesarchiv Schwinden der ZeitzeugInnen weiter zu tragen den – Die deutsche Gesandtschaft in Stockholm in Berlin-Lichtefeld, Dahlwitz-Hoppegarten und und warnt vor Tendenzen einer „Waagscha- 1933–1945“. Koblenz, im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg lenmentalität“ im Sinne einer „Einebnung der ebenso das Riksarkivet Stockholm sowie das Geschichte unter dem Begriff ‚Totalitarismus‘ “ Innerhalb seiner Monografi e differenziert Roth Stockholmer Archiv der schwedischen Sicher- ebenso wie vor wachsendem Antisemitismus, zwischen der Tätigkeit der deutschen Gesandt- heitspolizei konsultierte. einer Normalisierung der Erinnerungskultur schaft in der sechsjährigen Vorkriegszeit und dem Zeitraum des Krieges ab 1939. Der erste Neben der Angabe von biografi schen Daten sowie wieder „aufkommender Ignoranz“ gegen- führender Gesandtschaftsangehöriger, welche über jüdischen Organisationen u.a. bei Gedenk- Bereich widmet sich dem strukturellen Wandel Orientierung in der Vielzahl der genannten feierlichkeiten: „Wenn Gedenkroutine um sich der deutschen Gesandtschaft in Stockholm Namen bietet, und der Verwendung eines Per- greift und politische Verbeugungen in den Vor- in der sechsjährigen Vorkriegsperiode sowie sonenregisters helfen die Darstellungen des dergrund geraten, dürfen wir nicht schweigen, deren politischen und ideologischen Prämissen. Organisationsaufbaus der Gesandtschaft in weil ansonsten die humanitären Erfordernisse Anschließend fokussiert Roth das Agieren der Stockholm zum Verständnis der internen Vor- der Beachtung von leidgeprüften Menschen im Gesandtschaft zur Kriegszeit und stellt, neben gehens- und Arbeitsweise. der personellen Umstrukturierung, die Integra- Räderwerk von Protokoll und Medieninteresse Unerfreulich ist jedoch die Vielzahl an Recht- zermalen werden.“ tion Schwedens in die deutschen Kriegsanstren- gungen, die schwedische „Neutralitätspolitik“ schreibfehlern, die durch ein gründliches Lekto- Besonders lesenswert ist zudem der Beitrag sowie die veränderte deutsche Machtposition rat zu verhindern gewesen wäre. von Silvio Peritore, Vorstandsmitglied des Zen- gegen Ende des Krieges dar. Dennoch stellt „Hitlers Brückenkopf in Schwe- tralrats Deutscher Sinti und Roma, der darauf Die vom NS-Regime geführte Außenpolitik den“ einen informativen und wichtigen Beitrag hinweist, dass der nationalsozialistische Völker- zur Darstellung des Wirkens der Gesandtschafts- mord an den Sinti und Roma bis heute nicht nur zielte seit der Machtergreifung im Jahre 1933 auf die „Wiedergewinnung einer Großmacht- mitarbeiter dar und revidiert durch Nutzung in der öffentlichen Erinnerung an die NS-Opfer und Auswertung deutscher wie schwedischer weitgehend inexistent ist, sondern auch zumeist stellung“ (S. 159). Evident für dieses Vorhaben waren die Aufrüstung und die darauf folgende Quellen den nach dem Zweiten Weltkrieg von Seiten der Politik, der Wissenschaft, der gezeichneten Mythos der Unschuld – vor allem Medien wie auch der Gedenkstätten ignoriert militärische Expansion, welche u.a. durch die Schaffung eines gesicherten Zugangs zu rüs- auf deutscher, aber auch auf schwedischer wird und antiziganistische Stereotype und Vor- Seite. So trägt dieses Werk ebenso seinen Teil urteile bis heute kontinuierlich erhalten blei- tungs- und kriegswichtigen Gütern durch die deutsche Gesandtschaft in Stockholm unter- zur Aufarbeitung der schwedischen „Neutrali- ben, weshalb gegenwärtige gesellschaftliche tät“ während des Zweiten Weltkrieges bei. Benachteiligung, rassistische Diskriminierung stützt wurde. Das Interesse an gegenseitigen und Gewalt gegen Sinti und Roma kaum auf Wirtschaftsbeziehungen war sowohl im Deut- Empörung stoßen: „Ursachen sind eine von schen Reich, als auch in Schweden vorhanden, Daniel B. Roth: Hitlers Brückenkopf in Schwe- Versäumnissen geprägte Erinnerungsarbeit so dass bereits 1934 ein Handelsabkommen den. Die deutsche Gesandtschaft in Stock- sowie eine vorurteilsschürende Medienbericht- zwischen beiden Staaten geschlossen wurde. holm 1933–1945. Berlin: LIT Verlag, 2009 erstattung. Wenn der Völkermord an den Sinti Ein „Dorn im Auge der deutschen Schweden- Sebastian Willert und Roma verschwiegen oder gar verleugnet politik“ (S. 159) bildete jedoch die vornehmlich wird, besteht dieser absurden Logik folgend negative Einstellung der schwedischen Öffent- auch keine historische Verantwortung für die lichkeit sowie Presseberichterstattung gegen- Betroffenen in der Gegenwart.“ über der NS-Diktatur. Daher fokussiert sich die iinformationennformationen 7733 | SSeiteeite 4455