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Einsicht 05 Bulletin des Instituts

Fritz Bauer Institut Geschichte und vor Gericht Wirkung des Holocaust DDerer ProzessProzess inin JerusalemJerusalem WOCHEN Editorial SCHAU VERLAG Demokratie ... ein Begriff für politische Bildung braucht politische

Bildung wir glauben, dass Chiffren wie die von der »Banalität des Bösen« uns helfen, das Geschehen zu verstehen; als wäre es vor allem die Indifferenz gegenüber den bösen Handlungen anderer gewesen, die zu den Verbrechen geführt hat. Was alle neuere Forschung doch auszeichnet, ist die Erkenntnis, dass nicht diese Indifferenz, sondern eine komplexe Mentalität, zu der Überzeugungen, aber auch Gefühle wie Hass, Ekel, Neid und Größenwahn gehörten, diese Verbrechen erst ermöglicht hat. Es ist nicht unbedingt angenehm, sich dem auszusetzen und darüber nachzudenken. Aber es scheint mir eine immer noch vordringliche Aufgabe, und ich bin froh, dass am Fritz Bauer Institut verschiedene Ansätze in Forschung und Pädagogik unternommen werden können, sich mit dieser Seite des Holocausts zu beschäftigen. Ich freue mich, dass wir in diesem Sommersemester Alan E. Steinweis als Gastprofessor am Fritz Bauer Institut begrüßen dürfen. Liebe Leserinnen und Leser, Prof. Dr. Steinweis ist Leiter des neu eingerichteten Carolyn and Leonard Miller Center for Holocaust Studies an der University of Neu: Das Journal für alle politischen Bildner Fritz Bauer hatte durch seine Kontakte Vermont, an der der große Holocaust-Historiker Raul Hilberg Jahr- und seine mehrfachen Hinweise den zehnte seines Lebens gelehrt hat. Alan E. Steinweis wird gemeinsam Die politische Jugend- und Erwachsenenbildung in Deutschland hat israelischen Behörden wesentlich dabei mit mir ein Hauptseminar über die »Kristallnacht« 1938 durchführen ein neues, übergreifendes Fachmedium. Praxis Politische Bildung und geholfen, Adolf Eichmann in Argentini- und eine Vorlesung über den Holocaust halten. kursiv haben sich zusammengeschlossen. en zu ergreifen und ihm den Prozess zu Zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust gehören nicht nur machen. 50 Jahre danach hört die Be- Forschung und Pädagogik – sondern auch das öffentliche Erinnern. Das Journal für politische Bildung schäftigung mit diesem SS-Funktionär Das geschieht oft und zu Recht am unmittelbaren Ort des histo- und Massenmörder nicht auf. Das The- rischen Geschehens. Es ist daher zu begrüßen, dass am 11. März ■ ist die übergreifende Kommunikationsplattform für alle ma der vorliegenden Ausgabe unseres 2011 die Stadt am Main – in enger Abstimmung mit der außerschulischen politischen Bildungsbereiche Bulletins Einsicht 05 ist der Prozess ge- Europäischen Zentralbank und der Jüdischen Gemeinde Frank- ■ diskutiert wissenschaftliche Kontroversen gen Eichmann in . Die Auto- furt – beschlossen hat, eine Erinnerungsstätte zum Gedenken an ■ berichtet aus der Praxis für die Praxis rinnen und Autoren des Schwerpunktes die Deportation der Juden aus Frankfurt direkt an der ehemaligen Von Anfang an dabei ! versuchen in ihren Aufsätzen neues Licht auf Eichmann und die Großmarkthalle zu verwirklichen und einen Entwurf des Kölner ■ betreibt Lobbyarbeit für politische Bildung Mit dem Testabo: Prozesshintergründe sowie die spätere Rezeption des Verfahrens zu Architekturbüros KATZKAISER umzusetzen. ■ verdeutlicht, wie wichtig politische Bildung für die Gesellschaft ist werfen. Darüber hinaus wird das Institut am 10. und 11. April 2011 ■ Vier Hefte jährlich eine Tagung zum Thema »Gerechtigkeit in Jerusalem« veranstalten. Prof. Dr. Raphael Gross ■ Der erste Jahrgang Einzelheft: ¤ 16,80* In der öffentlichen Wahrnehmung von Adolf Eichmann in Je- Frankfurt am Main, im März 2011 ■ Jahresabonnement ¤ 56,00* rusalem fällt mir vor allem eine Interpretation auf, die in Hannah 1/11 Zukunftsfähigkeit und Zivilgesellschaft Arendts berühmter Formulierung von der »Banalität des Bösen« 2/11 Praxis trifft Forschung Unser Testangebot: nur einen Ausdruck gefunden hat. Was in öffentlichen Reden über Abonnieren Sie den ersten Jahrgang 3/11 Formal? Non-formal? Informell? den Massenmörder Eichmann immer wieder betont wird, ist seine zum halben Preis. angebliche Indifferenz, das Befehlsempfängerische an seiner Person. 4/11 Politische Partizipation Irgendwie scheint diese Interpretation auch heute noch eine beson- Jetzt bestellen ders starke Resonanz zu fi nden, obschon fast alle Historiker – und Herausgeber journal.wochenschau-verlag.de auch die Autorinnen und Autoren in unserem Bulletin – einhellig [email protected] Herausgegeben vom Bundesausschuss Politische Bildung (bap) und nicht die »Indifferenz«, das »Banale«, sondern die von antisemiti- schem Hass und Ekel motivierte Seite an Eichmanns Taten betonen. vom Wochenschau Verlag * Preise zzgl. Versandkosten Fritz Bauer ging es darum, in den Prozessen gegen NS-Verbre- cher so viel Gerechtigkeit wie möglich zu erreichen, die Verbrechen ans Licht zu bringen und das Nachdenken über den Nationalsozialis- mus zu intensivieren. Vieles scheint mir dabei – trotz aller bisherigen Bemühungen – noch zu tun zu sein. Es reicht in keiner Weise, wenn www.wochenschau-verlag.de Adolf-Damaschke-Str. 10, 65824 Schwalbach/Ts., Tel.: 06196/86065, Fax: 06196/86060, E-Mail: [email protected] Einsicht 05 Frühjahr 2011 Foto: Helmut Fricke, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Bulletin_Fritz Bauer Institut.indd 1 15.02.2011 15:18:28 Inhalt

Einsicht Nachrichten und Berichte Forschung und Vermittlung Information und Kommunikation Neue Forschung zum Themenschwerpunkt: Adolf Eichmannn vor Gericht. Aus dem Institut Der Prozess in Jerusalem 111 Nachruf: Imo Moszkowicz sel. A. (1925–2011) / 18 »Nein, das habe ich nicht gesagt.« Eine kurze Geschichte Matthias Naumann Nationalsozialismus der Argentinien-Papiere / Bettina Stangneth 112 Doktorandenseminar: Neue Forschungen zu Geschichte 26 Staatsanwalt Zeug in Jerusalem. Zum Kenntnisstand und Wirkung des Holocaust / Jörg Osterloh der Anklagebehörde im Eichmann-Prozess und der 113 Internationale Konferenz: Axel Springer. Juden, Deutsche Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik / und Israelis Judenforschung Ruth Bettina Birn im Dritten Reich 33 Adolf Eichmann und seine Verteidiger. Ein kleiner Aus dem Förderverein Wissenschaft zwischen Nachtrag zur Rechtsgeschichte / Willi Winkler 114 Bericht des Vereinsvorstands / Brigitte Tilmann Politik, Propaganda und 42 »Die Augen der Welt schauen nach Jerusalem«. Der Ideologie Prozess gegen Adolf Eichmann / Lisa Hauff Aus Kultur und Wissenschaft Von PD Mag. Dr. Dirk Rupnow Fritz Bauer Institut 48 Der wahre Spezialist. Eyal Sivans Filmcollage zum 114 Neue Impulse für den Dialog der Religionen und Kulturen. 2011, 494 S., geb., 69,– € Im Überblick Eichmann-Prozess / Stewart Tryster Christian Wiese übernimmt Martin-Buber-Professur ISBN 978-3-8329-6421-4 55 Der unverbesserte Nazi. Eichmann im Dokumentarfi lm / 115 Online-Module: Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 (Historische Grundlagen 4 Das Institut / Mitarbeiter / Gremien Christoph Schneider 116 Dr. Helmut Kramer: Fritz-Bauer-Preisträger 2010 der Moderne, Bd. 4)

62 »Die mauerten uns ein«. Vor 70 Jahren wurde das Krakauer Getto eingerichtet / Andrea Löw und Markus Roth Die Studie nimmt erstmals umfassend die sogenannte ‚Judenforschung‘ im ‚Dritten Reich‘ in den Blick. Die geis- Veranstaltungen Ausstellungsangebote tes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten, die sich Halbjahresvorschau Wanderausstellungen des Instituts aus antisemitischer Perspektive mit Geschichte und Kultur des Judentums beschäftigten, stellen den markantesten 6 Gastprofessur am Fritz Bauer Institut Rezensionen 117 Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung Schnittpunkt von Wissenschaft und antisemitischer Propa- 8 Lehrveranstaltungen Buch- und Filmkritiken der Juden in Hessen 1933–1945 ganda sowie antijüdischer Ideologie und nationalsozialis- 9 Tagung: »Gerechtigkeit in Jerusalem« 119 Die IG Farben und das KZ Buna/Monowitz tischer Politik dar. 10 Tagung: Das Unbehagen an der Erinnerung 68 Rezensionsverzeichnis: 119 Ein Leben aufs neu. Das Robinson-Album Verbotener Umgang. Ausländer und 10 European Leo Baeck Lecture Series 2011 Liste der besprochenen Bücher und Filme Deutsche im Nationalsozialismus 12 Deutsch-israelischer Jugendaustausch 70 Rezensionen: Aktuelle Publikationen 12 Wanderausstellung: Legalisierter Raub zur Geschichte und Wirkung des Holocaust Diskurse um Sexualität, Moral, Wissen und Strafe Von Silke Schneider 120 Impressum 2010, 308 S., geb., 49,– €, ISBN 978-3-8329-6008-7 (Historische Grundlagen der Moderne, Bd. 2) Die Autorin schildert die Kriminalisierung sozialer und inti- Neuerscheinungen Pädagogisches Zentrum mer Beziehungen von Deutschen mit Kriegsgefangenen Aktuelle Publikationen des Instituts Frankfurt am Main und „Fremdarbeitern“. Mit einem diskursanalytischen Ansatz werden dabei Ordnungsvorstellungen, Motive und 13 Jörg Osterloh, NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. 108 Mitteilungen und Berichte Strategien dieses Teilbereichs der NS-Rassenpolitik deutlich. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR 109 Angebote und Beratung Damit wird das Delikt des „verbotenen Umgangs“ erstmals 14 Jörg Osterloh, Nacionálněsocialistické pronásledování Židů 110 Führungen und Studientage in den Mittelpunkt einer umfassenden Analyse gestellt. v říšské župě Sudety 1938–1945 14 Norbert Frei, Ralf Ahrens, Jörg Osterloh, Tim Schanetzky, Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht 15 Neues Internetportal: Vor dem Holocaust. Fotos zum Bitte bestellen Sie im Buchhandel oder versandkostenfrei unter www.nomos-shop.de jüdischen Alltagsleben in Hessen

Einsicht 05 Frühjahr 2011 3 Fritz Bauer Institut Im Überblick

Mitarbeiter und Arbeitsbereiche

Direktor Prof. Dr. Raphael Gross

Gastprofessur am Fritz Bauer Institut, Sommersemester 2011 Prof. Dr. Alan E. Steinweis

Administration Dorothee Becker (Sekretariat) Werner Lott (Technische Leitung und Mediengestaltung) Manuela Ritzheim (Leitung des Verwaltungs- und Projektmanagements)

Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Das Fritz Bauer Institut Dr. Dmitrij Belkin (Zeitgeschichtsforschung) Anne Gemeinhardt (Zeitgeschichtsforschung) Das Fritz Bauer Institut ist eine interdisziplinär ausgerichtete, un- PD Dr. Werner Konitzer (stellv. Direktor, Forschung) abhängige Forschungs- und Bildungseinrichtung. Es erforscht und Dr. Jörg Osterloh (Zeitgeschichtsforschung) dokumentiert die Geschichte der nationalsozialistischen Massen- Dr. Katharina Rauschenberger (Programmkoordination) verbrechen – insbesondere des Holocaust – und deren Wirkung bis Dr. Wolfgang Treue (Zeitgeschichtsforschung) in die Gegenwart. Das Institut trägt den Namen Fritz Bauers (1903–1968) und ist Pädagogisches Zentrum Wissenschaftlicher Beirat seinem Andenken verpfl ichtet. Bauer widmete sich als jüdischer des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt Stiftungsrat Remigrant und radikaler Demokrat der Rekonstruktion des Rechts- Dr. Wolfgang Geiger Prof. Dr. Joachim Rückert systems in der BRD nach 1945. Als hessischer Generalstaatsanwalt Monica Kingreen Für das Land Hessen: Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main hat er den Frankfurter Auschwitz-Prozess angestoßen. Gottfried Kößler (stellv. Direktor, Pädagogik) Volker Bouffi er Prof. Dr. Moritz Epple Am 11. Januar 1995 wurde das Fritz Bauer Institut vom Land Manfred Levy Ministerpräsident stellv. Vorsitzender, Goethe- Universität Frankfurt am Main Hessen, der Stadt Frankfurt am Main und dem Förderverein Fritz Dr. Martin Liepach Eva Kühne-Hörmann Prof. Dr. Wolfgang Benz Bauer Institut e.V. als Stiftung bürgerlichen Rechts ins Leben geru- Ministerin für Wissenschaft und Kunst Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität fen. Seit Herbst 2000 ist es als An-Institut mit der Goethe-Universität Archiv und Bibliothek Prof. Dr. Dan Diner assoziiert und hat seinen Sitz im IG Farben-Haus auf dem Campus Werner Renz Für die Stadt Frankfurt am Main: Hebrew University of Jerusalem/Simon-Dubnow-Institut für Westend in Frankfurt am Main. Petra Roth jüdische Geschichte und Kultur e.V. an der Universität Forschungsschwerpunkte des Fritz Bauer Instituts sind die Be- Freie Mitarbeiter, Gastwissenschaftler, Doktoranden Oberbürgermeisterin Prof. Dr. Atina Grossmann reiche »Zeitgeschichte« und »Erinnerung und moralische Auseinan- Armin Engel (Taube Center for Jewish Studies, Stanford University) Prof. Dr. Felix Semmelroth The Cooper Union for the Advancement of Science and Art, dersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust«. Gemeinsam mit Ronny Loewy (Cinematographie des Holocaust) Dezernent für Kultur und Wissenschaft Prof. Dr. Volkhard Knigge dem Jüdischen Museum Frankfurt betreibt das Fritz Bauer Institut Katharina Stengel (Doktorandin der Fritz Thyssen Stiftung) Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora das Pädagogische Zentrum Frankfurt am Main. Zudem arbeitet das Thomas Wittendorf (European University Institute Florence) Für den Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.: Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber Institut eng mit dem Leo Baeck Institute London zusammen. Das Brigitte Tilmann Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main aus diesen Verbindungen heraus entstehende Zentrum für jüdische Vorsitzende Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp Studien soll neue Perspektiven eröffnen, sowohl für die Forschung Rat der Überlebenden des Holocaust Herbert Mai Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf wie für die gesellschaftliche und pädagogische Vermittlungsarbeit. 2. Vertreter des Fördervereins Krystyna Oleksy Die Arbeit des Instituts wird unterstützt und begleitet vom Wis- Trude Simonsohn (Vorsitzende und Ratssprecherin), Staatliches Museum Auschwitz- Birkenau, Oświęcim senschaftlichen Beirat, dem Rat der Überlebenden des Holocaust Siegmund Freund, Dr. Heinz Kahn, Inge Kahn, Für die Goethe-Universität Frankfurt am Main: Prof. Dr. Walter H. Pehle und dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. Dr. Siegmund Kalinski, Prof. Dr. Jiří Kosta, Prof. Dr. Werner Müller-Esterl S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main Katharina Prinz, Dora Skala, Tibor Wohl Universitätspräsident Prof. Dr. Peter Steinbach Prof. Dr. André Fuhrmann Universität Mannheim Abb.: Haupteingang des IG Farben-Hauses auf dem Campus Westend Unser Ratsmitglied Imo Moszkowicz sel. A. ist am 11. Januar Dekan, Fachbereich Philosophie und Prof. Dr. Michael Stolleis der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Foto: Werner Lott 2011 verstorben. Einen Nachruf lesen Sie auf Seite 111. Geschichtswissenschaften Goethe-Universität Frankfurt am Main

4 Fritz Bauer Institut Einsicht 05 Frühjahr 2011 5 Veranstaltungen Halbjahresvorschau

anderer Länder und die Rolle transnationaler Institutionen, wie der katholischen Kirche und des Roten Kreuzes. Die Verfolgung und NEU bei Vernichtung der Juden wird auch im Zusam- Campus menhang mit dem Genozid an den Sinti und Roma und mit dem nationalsozialistischen Krankenmord dargestellt.

2011 Gastprofessur am Fritz Bauer Institut 356 Seiten € 24,90 ISBN 978-3- Die »Reichskristallnacht« 593-39435-0 Geschichte, Erinnerung, Rudolf Brazda, geboren 1913, ist vermut- justizielle Aufarbeitung lich der letzte noch lebende Zeitzeuge, der Gastprofessur am Fritz Bauer Institut The Impact of : New Perspectives on wegen Homosexualität in einem Konzen- the Third Reich and Its Legacy (University trationslager inhaftiert war. Seine Lebens- geschichte ist ebenso erschütternd wie Prof. Dr. Alan E. Steinweis of Nebraska Press, 2003; paperback 2007); Prof. Dr. Alan E. Steinweis und Prof. Dr. Raphael erstaunlich. Alexander Zinn verbindet die Coping with the Nazi Past: West German Gross, Seminar, mittwochs 16.00–18.00 Uhr, 13. April persönliche Biografi e mit der Geschichte bis 13. Juli, Goethe-Universität Frankfurt am Main, der Verfolgung von Homosexuellen wäh- Prof. Dr. Alan E. Steinweis Debates about Nazism and Generational Alan E. Steinweis, Gastprofessor am Fritz Bauer Institut im Sommersemester 2011. Foto: privat Campus Westend, IG Farben-Haus, Raum 4.401, Insti- rend des Nationalsozialismus – eine Ge- wird im Sommersemester Confl ict, 1955–1975 (Berghahn Books, 2006; tutionen: Fritz Bauer Institut und Historisches Seminar schichte, die 1945 noch nicht zu Ende war. 2011 als Gastprofessor an das Fritz Bau- paperback 2007). Darüber hinaus hat er vie- Erst 2002 erfolgte die symbolische Reha- er Institut kommen und am Historischen le Aufsätze zum Holocaust veröffentlicht Die sogenannte »Reichs- bilitierung der Männer, die zwischen 1933 und 1945 nach § 175 verurteilt wurden. Seminar der Goethe-Universität eine Vor- und ist Mitherausgeber der Comprehensive kristallnacht« – der Pogrom Die Hauptthemen des Seminars sind: › Die große »Festnahme-Aktion«: die De- lesung (Der Holocaust) und ein Seminar History of . an den deutschen Juden vom 9./10. Novem- › Hintergründe: NS-Judenpolitik 1933– portation der festgenommenen Juden in (Die »Reichskristallnacht«: Geschichte, Er- ber 1938 – gilt als das zentrale Ereignis in 1938; Gewalt gegen Juden in Deutschland die Konzentrationslager, die Erlebnisse innerung, justizielle Aufarbeitung) anbieten. der NS-Judenverfolgung vor dem Zweiten vor November 1938 im KZ, die Entlassungen aus dem KZ Steinweis ist Professor für Geschichte und Weltkrieg. Trotz einer großen Zahl von Stu- › Ursachen: Die Absichten der NS-Führung › Reaktionen der deutschen Bevölkerung Direktor des Center for Holocaust Studies Gastprofessur am Fritz Bauer Institut dien zur »Reichskristallnacht« ist sie kei- betr. Judenpolitik im Herbst 1938; das auf das Pogrom der University of Vermont, jener Universi- neswegs ein abgeschlossenes Thema. In den Attentat Herschel Grynszpans auf Ernst › Folgen des Pogroms für die NS-Judenpo- tät, an der Raul Hilberg lehrte. Das Center Der Holocaust letzten Jahren sind neue Quellen der For- vom Rath am 7. November; die Verschär- litik: »Arisierung« und Emigration for Holocaust Studies steht in der Tradition schung zugänglich gemacht geworden, z. B. fung der antisemitischen Motive unter › Die justizielle Aufarbeitung des Pogroms 2011 Hilbergs und richtet jährlich eine Gedenk- Prof. Dr. Alan E. Steinweis, Vorlesung, dienstags die Tagebücher von Josef Goebbels, die lokalen NS-Aktivisten durch die Ritua- nach 1945 sowohl durch die Alliierten 300 Seiten vorlesung zu seinen Ehren aus. 16.00–18.00 Uhr, 12. April bis 12. Juli, Goethe- NS-Stimmungsberichte zur Judenpolitik, le des Gedenkens an den 9. November als auch durch die BRD, die DDR und € 29,90 Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, ISBN 978-3- die zeitgenössischen Augenzeugenberichte 1923; Inhalt und Ziele antisemitischer Österreich 593-39422-0 Casino, Raum 1.811, Institutionen: Fritz Bauer Institut Steinweis ist spezialisiert auf die Geschichte und Historisches Seminar aus der Wiener-Bibliothek in London und Propaganda zwischen dem 7. und dem › Der Pogrom in der deutschen Erinnerungs- Der NS-Staat zerstörte althergebrachte des Nationalsozialismus und des Holocaust. die Prozessakten der deutschen Gerichte 9. November kultur nach 1945 Verwaltungs- und Organisationsstruktu- Er ist Autor dreier Bücher: Art, Ideology, Diese Vorlesung dient als der Nachkriegszeit. Außerdem haben sich › Lokale Pogrome vom 7. bis 9. November ren, was oft als Schwäche interpretiert and Economics in Nazi : The Reich allgemeine Einführung in die Fragestellungen und die Methoden von in Kurhessen: Ursachen, Folgen, Täter wurde. Die Studien in diesem Band neh- men dagegen die aus den neu geschaf- Chambers of Music, Theater, and the Visual das Thema. Sie soll Studierenden Grund- Historikern und Sozialwissenschaftlern › Auslösen des reichsweiten Pogroms am fenen Institutionen entstandene Durch- Arts (University of North Carolina Press, kenntnisse über den Holocaust vermitteln. weiterentwickelt und verändert, was neue 9. November durch die NS-Führung: die setzungsfähigkeit nationalsozialistischer 1993; paperback 1996); Studying the Jew: Die Vorlesung beschränkt sich nicht nur Einsichten in ein altes Thema ermöglicht. Rolle von Goebbels und Hitler Herrschaft in den Blick. Gerade aus der nachbürokratischen, netzwerkartigen Scholarly Antisemitism in auf NS-Judenpolitik, sondern bietet einen In diesem Zusammenhang sind vor allem › Der große Pogrom 9./10. November: Struktur des Regimes erklärt sich dessen (Harvard University Press, 2006; paperback breiten Überblick: Behandelt werden unter Lokalstudien zur Alltagsgeschichte des Analyse von Tätergruppen: SA, SS, Hit- Leistungsfähigkeit – vor allem in der Ver- 2008); Kristallnacht 1938 (Harvard Univer- anderem auch die kulturellen und ideologi- NS-Regimes, die Forschung über gewalt- lerjugend, Beamte (Polizei, Feuerwehr, nichtungs- und Ausbeutungspolitik. sity Press, 2009). Studying the Jew war in der schen Wurzeln des Antisemitismus und des tätigen Antisemitismus in Deutschland vor Stadt- und Landkreisverwaltung), »nor- Ausscheidung für den National Jewish Book Rassismus, die Erlebnisse der jüdischen Op- dem November 1938 und die interdiszip- male« Deutsche, Frauen Award in der Kategorie Holocaust. Zudem fer innerhalb und außerhalb Deutschlands, linäre Forschung über Rituale der Gewalt › Jüdische Reaktionen: Selbstrettung, Ver- www.campus.de ist Steinweis Mitherausgeber zweier Bände: die Politik der USA, Großbritanniens und zu nennen. stecken, Widerstand

6 Veranstaltungen Einsicht 05 Frühjahr 2011 7 Lehrveranstaltung im Nachkriegsdeutschland? Wie kommt es zu- ihn 1960 der israelische Geheimdienst in Lehrveranstaltung Tagung der im Deutschen Fernsehen ausgestrahlten stande, dass gegen Ende der 1980er Jahre eine Argentinien festgenommen hatte, stand er Sonderberichte des Norddeutschen Rund- Antisemitismustheorien schrumpfende jüdische Gemeinschaft eines von April bis Dezember 1961 in Jerusalem Gedenkstätte KZ Buchenwald »Gerechtigkeit in funks über den Jerusalemer Prozess schlie- im Vergleich sich im Umbruch befi ndenden Deutschland vor Gericht. Eichmann erklärte sich als nicht Pädagogische Möglich- Jerusalem« ßen die Tagung ab. einen signifi kanten Einwanderungsschub be- schuldig im Sinne der Anklage und berief keiten für Haupt- und Tagung zum 50. Jahrestag Die Ergebnisse der Tagung werden im kommt? In den 1990er Jahren kommen näm- sich auf die Befehle seiner Vorgesetzten. Der Jahr 2012 in der Wissenschaftlichen Reihe PD Dr. Werner Konitzer, Kolloquium, montags, lich mehr als 200.000 Jüdinnen und Juden aus Prozess machte ihn und seine Verbrechen der Realschüler in Buchenwald des Eichmann-Prozesses des Fritz Bauer Instituts veröffentlicht. 18.00–20.00 Uhr, 11. April bis 11. Juli, Goethe- der ehemaligen Sowjetunion, die eine radikal Weltöffentlichkeit bekannt. Nachdem Eich- Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, andere Lebens- und Erinnerungsgeschichte mann in erster und zweiter Instanz zum To- Monica Kingreen, Übung und Seminar, 27. Juni bis Sonntag, 10. und Montag, 11. April 2011, Goethe- Programm IG Farben-Haus, Raum 5.318. Institutionen: Fritz 30. Juni, viertägige Exkursion nach Buchenwald. Universität Frankfurt am Main, Campus Bauer Institut und Fachbereich 8 – Philosophie und haben, nach Deutschland. Entsteht als Folge de verurteilt worden war, fand im Juni 1962 › Prof. Dr. Raphael Gross, Fritz Bauer In- Vorbereitung: Mittwoch, 15. Juni, Montag, 20. Juni, Bockenheim, Mertonstraße 17–21, Hauptgebäude/ Geschichtswissenschaften dieser Einwanderung 60 Jahre nach dem Ho- die Hinrichtung statt. Die Lehrveranstaltung stitut, Frankfurt am Main: Einführung in Nachbereitung: Donnerstag, 7. Juli, jeweils 18.00– Jügelhaus, 2. OG, Aula. Die Tagung ist öffentlich, locaust eine neue deutsch-jüdische Gemein- befasst sich eingehend mit Eichmanns Rolle 20.00 Uhr. Institutionen: Fritz Bauer Institut und Anmeldung erwünscht. Die Teilnahme ist kostenlos. die Tagung In dem Kolloquium sollen schaft? All diese Themen wird die Lehrveran- bei der Verfolgung und Vernichtung von Mil- Institut für die Didaktik der Geschichte Veranstalter: Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main. › Prof. Dr. Hanna Yablonka, Ben-Gurion- verschiedene Theorien zur staltung behandeln, die sich als Fortsetzung lionen Juden. Daneben sollen aber auch der Gefördert durch den Arbeitskreis selbständiger University, Beer Sheva: »The Eichmann Erklärung des Antisemitismus miteinander der Übung »Safe Among the Germans. Juden Jerusalemer Prozess und die damit verbunde- In der Gedenkstätte Buchen- Kulturinstitute e.V. (AsKI), Bonn. Mit Unterstützung trial: Was it the Jewish Nuremberg?« des Norddeutschen Rundfunks, Studio Hamburg, verglichen werden. Thema sollen vor allem im Nachkriegsdeutschland, 1945–1970« ver- nen Diskussionen in der internationalen Öf- wald bei Weimar werden die Distribution & Marketing GmbH › Univ. Doz. Dr. Hans Safrian, Institut für Theorien zum Antisemitismus sein, die seit steht, jedoch auch ohne Vorkenntnisse prob- fentlichkeit in den Blick genommen werden. TeilnehmerInnen das Gelände erkunden und Zeitgeschichte, Universität Wien: »Von den 1930er Jahren entstanden sind. Grund- lemlos besucht werden kann. sich mit der Geschichte des KZs Buchenwald Die Ergreifung Eichmanns den ›Zentralstellen für jüdische Auswan- lage soll das Buch von Samuel Salzborn, vertraut machen. Wir lernen die Angebote der durch den israelischen Ge- derung‹ zum Referat im RSHA. Eichmann Antisemitismus als Leitfaden der Moderne, pädagogischen Abteilung der Gedenkstätte heimdienst erfolgte nach Informati- als Organisator von Vertreibungen und bilden. Diskutiert werden u.a. Sartres Aufsatz Lehrveranstaltung kennen, erproben unterschiedliche Zugänge onen, die der hessische Generalstaatsanwalt Deportationen« »Betrachtungen zur Judenfrage«, Klaus Holz, Lehrveranstaltung der pädagogischen Arbeit mit Haupt- und Re- Fritz Bauer von einem in Argentinien le- › Dr. Bettina Stangneth, Philosophin, Ham- Nationaler Antisemitismus, aber auch psycho- Bilder und Zeitzeugenvideos alschülern und diskutieren sie im Hinblick benden jüdischen Emigranten und Dachau- burg: »›Offenes Visier ist bei mir ein ge- analytische Theorien zum Antisemitismus. Adolf Eichmann im Geschichtsunterricht auf ihre Relevanz für die schulische Praxis. Überlebenden erhalten und an israelische fl ügeltes Wort‹« – Bekenntnisse des Täu- und die Vernichtung Pädagogische Konzepte, Stellen weitergegeben hatte. Bauer schaltete schers Adolf Eichmann« der europäischen Juden weder die bundesdeutsche Justiz noch dip- › Dr. Ruth Bettina Birn, Historikerin, Den methodische und lomatische Stellen im In- und Ausland ein, Haag: »Ein deutscher Staatsanwalt in Lehrveranstaltung didaktische Fragen Lehrveranstaltung weil er erhebliche Zweifel am Ahndungswil- Jerusalem. Zum Kenntnisstand der An- Dr. Jörg Osterloh, Übung, Blockseminar, Vorbespre- len der Justiz und am Aufklärungsinteresse klagevertretung im Eichmann-Prozess Deutsches Judentum 2? chung: Dienstag, 12. April 2011, 10.00–12.00 Uhr, Gottfried Kößler, Übung, freitags, 14.00–16.00 Uhr, Palästina – Bonns hatte. Die israelische Staatsführung und der Strafverfolgungsbehörden in der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus West- 15. April bis 15. Juli, Goethe-Universität Frankfurt am unter David Ben Gurion nahm die Gele- Bundesrepublik« Erinnern und Einwandern in end, IG Farben-Haus, Raum 3.401. Institutionen: Fritz Vorgeschichte und Entste- Main, Campus Westend, IG Farben-Haus, Raum genheit wahr, in einem großen Prozess das › Lisa Hauff, Stiftung Topographie des der jüdischen Geschichte der Bauer Institut und Historisches Seminar 3.501. Institutionen: Fritz Bauer Institut und Institut hung des Nahostkonfl ikts für die Didaktik der Geschichte lange in Israel vorherrschende Schweigen Terrors, Berlin: »›Und Ihnen hat Müller Bundesrepublik, 1970–2005 Der SS-Offi zier Adolf Eich- über die Shoah zu brechen und die israeli- nie gesagt, Sie müssten nicht Eichmann, mann (1906–1962) ist heut- Visuelle Quellen ermögli- Dr. Wolfgang Geiger, Übung, freitags, 14.00–16.00 sche Gesellschaft und die Welt über das von sondern Weichmann heißen?‹: Die Richter Dr. Dmitrij Belkin, Übung, Blockseminar, 18. und zutage »ein Symbol des Dritten Reiches und chen im Geschichtsunter- Uhr, 15. April bis 15. Juli, Goethe-Universität Deutschen und ihren Helfershelfern verübte im Eichmann-Prozess« 19. Juni 2011, 10.00–18.00 Uhr, Goethe-Universität des Völkermords an den Juden« (David Cesa- richt Arbeitsformen, die vom noch immer Frankfurt am Main, Campus Westend, IG Farben- Menschheitsverbrechen aufzuklären. › Willi Winkler, Süddeutsche Zeitung, Ham- Haus, Raum 454. Institutionen: Fritz Bauer Institut Frankfurt am Main, Campus Westend, IG Farben- rani): Im August 1938 baute er zunächst die dominierenden Erschließen von Texten ab- Die zweitägige Tagung behandelt nicht burg: »Adolf Eichmann und seine Vertei- Haus, Raum 4.401, Vorbesprechung: Dienstag, und Historisches Seminar 12. April, 10.00–12.00 Uhr, und Dienstag, 3. Mai, »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« weichen. Bilder – Fotografien, Gemälde, an erster Stelle die Funktion Eichmanns im diger. Ein kleiner Nachtrag zur Rechtsge- 10.00–12.00 Uhr. Institutionen: Fritz Bauer Institut in Wien auf, Ende Juli 1939 schuf er nach Zeichnungen – sind Kunstwerke und bedür- Diskussionen über den Nah- NS-Vernichtungsprozess, sie konzentriert sich schichte« und Historisches Seminar deren Vorbild eine entsprechende Dienststel- fen einer kunsthistorischen und quellenkriti- ostkonfl ikt zeichnen sich oft vielmehr auf die Rolle, die der Prozess für die › Gabriel Bach, ein Vertreter der Anklage: le in Prag. Im Dezember 1939 übernahm er schen Analyse als Voraussetzung didaktischer durch eine große Unkenntnis über seine Ent- israelische und die deutsche Gesellschaft hat- Ein Zeitzeuge im Gespräch Was passiert mit einer jüdi- die Leitung des Referats IV B 4 im Reichssi- und methodischer Überlegungen. Zeitzeu- stehungsgeschichte aus, von daher geraten te. Sie beleuchtet sowohl die Umstände, die › Ronny Loewy, Deutsches Filminstitut, schen Gemeinschaft in der cherheitshauptamt in Berlin und wurde damit genvideos sind eine visuelle Quellensorte, Urteile entsprechend schnell zu Vor-Urteilen das Verfahren begleiteten, als auch die Au- Frankfurt am Main: Einführung in EINE Bundesrepublik, die damit beginnt, ihre be- schließlich zum Organisator der Judentrans- die einer medienkritischen Erschließung und im ursprünglichen Sinne des Wortes. Die ßenwirkung, die die Anklagevertretung, die EPOCHE VOR GERICHT – Sonderberichte des rühmten »gepackten Koffer« allmählich aus- porte in die Ghettos, Konzentrations- und besonderer methodischer Konzepte bedarf, Übung will durch die Analyse historischer Verteidigung und die Verteidigungsstrategie Deutschen Fernsehens vom Eichmann- zupacken? Wie wird eine kleine Gemeinschaft Vernichtungslager. Gegen Ende des »Dritten um sie in Lehr-Lern-Arrangements sachge- Quellen einen qualifi zierten Einblick in die des Angeklagten Eichmann hatten. Prozess in Jerusalem. Sonderberichter- politisch und öffentlich präsent, und welche Reiches« 1945 tauchte er unter und war in recht einzusetzen. Die Übung beschränkt sich Geschichte Palästinas und Israels bis zum Ein Gespräch mit dem Anklagevertre- statter: Joachim Besser und Peter Schier- Rolle spielen dabei die Erinnerungsdiskurse den 1950er Jahren fast vergessen. Nachdem zeitlich auf das 20. Jahrhundert. Sechstagekrieg und seinen Folgen gewinnen. ter aus Israel, Gabriel Bach, sowie Auszüge Gribowsky.

8 Veranstaltungen Einsicht 05 Frühjahr 2011 9 Tagung von Trauer als zentraler Metapher deutscher Dr. Adam Sutcliffe unterrichtet Europäi- of the visual stereotyping of the mentally ill, Jewess in Nineteenth-Century British Lite- Erinnerungspolitik gehen. sche und Jüdische Geschichte am King’s Seeing the Insane, published by John Wiley rary Culture (Cambridge University Press) Hier könnte Ihre Das Unbehagen an der Die Tagung will darüber hinaus den College London. Er ist Autor des Buches and Sons in 1982 (reprinted: 1996) as well and the co-editor of fi ve books on Jews and Erinnerung Blick auf transnationale Erinnerungspro- Judaism and Enlightenment (2003) und as the standard study of Jewish Self-Hatred, British literature. Anzeige stehen! Illusionen der Vergangen- zesse und gegenwärtige Herausforderungen Mitherausgeber des Bandes Philosemitism the title of his Johns Hopkins University lenken, die für die Holocaust-Erinnerung in in History (Cambridge University Press Press monograph of 1986. From 2007 to the heitsbewältigung der deutschen Migrationsgesellschaft sowie 2011). present he served as Professor at the Institute im erweiterten Europa eine Rolle spielen. in the Humanities, Birkbeck College; 2010 European Leo Baeck Lecture Series 2011 Freitag, 6. bis Sonntag, 8. Mai 2011, Evangelische to 2013 as a Visiting Research Professor at Akademie Arnoldshain, Martin-Niemöller-Haus, Am The University of Hong Kong. He has been Dr. Anthony Kauders, Eichwaldsfeld 3, 61389 Schmitten im Taunus, Fritz European Leo Baeck Lecture Series 2011 a visiting professor at numerous universities. Bauer Institut in Kooperation mit der Evangelischen Keele/München Akademie Arnoldshain European Leo Baeck Lecture Series 2011 A strange kind of love: Prof. Dr. Sander L. Gilman, In Anlehnung an das von Dr. Adam Sutcliffe, London Atlanta/London/Hongkong Der Philosemitismus in Ulrike Jureit und Christian Eine kleine Geschichte des Why the Jews are the smar- European Leo Baeck Lecture Series 2011 der deutsch-jüdischen Schneider veröffentlichte Buch Gefühlte Philosemitismus Geschichte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbe- test people in the universe Nadia Valman, London wältigung (2010) will die Tagung einen and why this is a bad thing The virtuous jewess. Montag, 25. Juli 2011, 18.00 Uhr c.t., Goethe- kritischen Blick auf die deutsche Erinne- Montag, 9. Mai 2011, 18.00 Uhr c.t., Goethe- Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, Gender and semitic IG Farben-Haus, Raum 311. Veranstaltet vom Fritz rungskultur der letzten fünfzig Jahre wer- Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, Donnerstag, 26. Mai 2011, 18.00 Uhr c.t., Goethe- Bauer Institut in Kooperation mit dem Leo Baeck IG Farben-Haus, Raum 311. Veranstaltet vom Fritz Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, discourse in the nineteenth- fen und eine Debatte anregen, die nach ei- Institute London und dem Jüdischen Museum Bauer Institut in Kooperation mit dem Leo Baeck IG Farben-Haus, Raum 311. Veranstaltet vom Fritz nem anderen Verständnis von historischer Frankfurt. Institute London und dem Jüdischen Museum Bauer Institut in Kooperation mit dem Leo Baeck century England Trauer und Erinnerung fragt. Dabei geht es Frankfurt. Institute London und dem Jüdischen Museum vor allem darum, die in den letzten Jahr- Frankfurt. Vortrag in englischer Sprache. Montag, 4. Juli 2011, 18.00 Uhr c.t., Goethe- In jüngster Zeit haben zehnten gewachsenen Formen, Muster und Philosemitismus wird oft Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, Wissenschaftler den Phi- Praktiken des öffentlichen Erinnerns an den missverstanden als schlich- The claims about Jewish in- IG Farben-Haus, Raum 311. Veranstaltet vom Fritz losemitismus oft negativ dargestellt. Für Einsicht Bauer Institut in Kooperation mit dem Leo Baeck Holocaust zu refl ektieren und seine theore- ter Antisemitismus im Schafsgewand. Die- tellectual superiority surface Institute London und dem Jüdischen Museum die eine Gruppe habe er nie existiert, für Bulletin des tischen Prämissen kritisch zu hinterfragen. se Vorlesung von Dr. Adam Sutcliffe wird regularly even in the 21st century. Modern Frankfurt. Vortrag in englischer Sprache. die andere sei er nur der Versuch, Juden zu Fritz Bauer Instituts Zugleich ergibt sich die Herausforderung, verdeutlichen, dass er im Gegensatz dazu genetics, it is claimed, proves that Jews are verdinglichen oder als Projektionsfl äche die in Deutschland dominierende Identifi - ein reales und wichtiges Phänomen ist, das smart and that this is a singular component From the medieval ballad nichtjüdischer Fantasien zu benutzen. Der Anzeigenformate und Preise kation mit den Opfern angesichts globaler tiefe Wurzeln sowohl in der säkularen als of defi ning »being Jewish.« It can’t be a bad of the Jew’s daughter who Vortrag wird versuchen, diese einseitige Umschlagseite U 4 Erinnerungs- und Gedenkkonjunkturen neu auch in der christlichen Haltung den Juden thing to be though to be smart. Or is it? This seduces a young Christian boy in order to Einschätzung des Philosemitismus zu hin- 230 x 295 mm € 950,– zu überdenken. gegenüber hat. claim reveals itself to be a form of insidious murder him, to Shakespeare’s uncertain terfragen. Gleichzeitig plädiert er dafür, die Umschlagseite U 2 / U 3 Unter Mitwirkung der beiden Buchau- Der Vortrag wird einen Überblick über philosemitism, an on-going form of anti- apostate Jessica, the Jewess held a margi- Erforschung des Philosemitismus als alter- 230 x 295 mm € 850,– toren, der Hamburger Historikerin Ulrike die Geschichte des Philosemitismus von Semitism, which has traditionally masked nal place in English literary history. In the nativen Zugang zur Frage der Beziehungen Ganzseitige Anzeige Jureit und des Frankfurter Soziologen und seinen Anfängen im Altertum und in der itself as being supportive of the Jews. Often nineteenth century, however, she became a zwischen Juden und Nichtjuden zu verste- 230 x 295 mm € 680,– Forschungsanalytikers Christian Schneider, frühchristlichen Theologie über seine poli- it is your supposed friends that you have to literary preoccupation. In this lecture, Na- hen. 1/2 Seite vertikal / horizontal stellt die Tagung zentrale Grundfi guren des tische, literarische und kulturelle Rolle im worry about most. dia Valman traces the story of the Jewess, 93 x 217 / 192 x 105,5 mm € 380,– in Deutschland etablierten Erinnerns zur De- Mittelalter und in der Frühen Neuzeit bis from its birth in Romantic and Evangelical Dr. Anthony D. Kauders lehrt im Depart- 1/3 Seite vertikal batte, das sich in einem Spannungsfeld von ins 19. Jahrhundert geben. Darüber hinaus Sander L. Gilman is a distinguished profes- writing through myriad rewritings in both ment of History an der Universität von Keele 60 x 217 mm € 300,– Opferidentifi kation, Erlösungshoffnung und wird er die mächtigen Manifestationen des sor of the Liberal Arts and Sciences as well popular and high literature. The literary in England. Derzeit forscht er an der Univer- 1/4 Seite vertikal Anerkennungsbegehren begriffl ich vermes- Philosemitismus in den letzten Jahrzehnten as Professor of Psychiatry at Emory Uni- Jewess – invariably beautiful, virtuous and sität München über die Rezeptionsgeschichte 93 x 105,5 mm € 250,– sen lässt. In Vorträgen, moderierten Gesprä- vorstellen, angefangen bei den christlich- versity. A cultural and literary historian, he tragic – dramatically reveals the dynamic der Psychoanalyse in Deutschland, 1900– Preise zzgl. gesetzl. MwSt. chen und Podien wird das Verhältnis von evangelikalen Unterstützern Israels bis hin is the author or editor of over eighty books. and ambiguous responses to Jews in Eng- 1985. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichun- Druckaufl age: 5.500 Exemplare Vergessen und Erinnern thematisiert und die zum Tourismus und der Klezmer-Szene in His Obesity: The Biography appeared with land in this period. gen auf dem Gebiet der deutsch-jüdischen Kontakt Frage diskutiert, inwiefern eine opferidenti- Zentral- und Osteuropa. Der Vortrag schließt Oxford University Press in 2010; his most Geschichte gehören Democratization and Dorothee Becker fi zierte Erinnerungskultur selbst Züge einer auch die Diskussion der komplexen Rolle recent edited volume, Wagner and Cinema Dr. Nadia Valman is Senior Lecturer in the Jews, 1945–1965 (2004) und Tel.: 069.798 322-40 Vergessenskultur aufweisen kann. Insbeson- des Philosemitismus in der gegenwärtigen (with Jeongwon Joe), was published in that Nineteenth-Century Literature at Queen Ma- Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische [email protected] dere wird es dabei auch um die Bedeutung globalen Politik mit ein. same year. He is the author of the basic study ry, University of London, the author of The Geschichte der Bundesrepublik (2007).

10 Veranstaltungen Einsicht 05 Frühjahr 2011 11 Neuerscheinungen Aktuelle Publikationen des Instituts

Deutsch-israelischer Jugendaustausch in der Konfrontation der Jugendlichen und Wanderausstellung Ausschluss der Öffentlichkeit? Zur Verfol- ihrer Lebenswelten miteinander und im Be- gung von NS-Verbrechen durch die sowjeti- Identität und zug aufeinander thematisieren und in einen Legalisierter Raub sche Sonderjustiz; Gerald Hacke: Der Dresd- Selbstverständnis Klärungsprozess überführen: Der Fiskus und die ner Juristenprozess 1947 im Spannungsfeld Begegnung jüdischer › Die Identitätsbildung jüdischer Jugend- Ausplünderung der Juden der politischen und medialen Auseinander- licher in Deutschland gestaltet sich oft setzung; Boris Böhm/Julius Scharnetzky: Jugendlicher aus disparat und wenig linear. Brüche in der in Hessen 1933–1945 »Wir fordern schwerste Bestrafung«. Der Deutschland und Israel Familiengeschichte, durch den Holocaust Dresdner »Euthanasie«-Prozess 1947 und geschlagene Leerstellen, ungeklärte na- 1. September bis 30. November 2011, Gelnhausen, die Öffentlichkeit; Carina Baganz: »Milde 15. bis 25. Juli 2011 in Israel, 30. September bis tionale Verortung und das Verhältnis zu Main-Kinzig-Forum, Barbarossastraße 24, 63571 gegen die Verbrecher wäre Verbrechen gegen 9. Oktober 2011 in Berlin. Veranstalter: Zionistische Israel, die Bedeutung des Judentums im Gelnhausen, Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag die Opfer.« Die Hohnstein-Prozesse 1949; 8.00–18.00 Uhr, Freitag 8.00–15.00 Uhr, Eintritt frei. Jugend in Deutschland e.V., Youth Departement of the Spannungsverhältnis von Religion und Falco Werkentin: Die Waldheimer Prozesse Ramat HaNegev Regional Council und Fritz Bauer Anmeldung zu Gruppenführungen: Zentrum für Re- Institut. Gefördert durch: ConAct − Koordinierungs- säkularer Identität – die einzelnen Teile, gionalgeschichte, Tel.: 06051.8514318, [email protected]. 1950 in den DDR-Medien; Claudia Fröhlich: zentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch und aus denen sich junge Juden in Deutschland Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Der »Ulmer -Prozess« 1958. Israel Youth Exchange Council, Tel Aviv. ihr Selbstbild zu entwickeln suchen, sind Hessischen Rundfunks, mit Unterstützung der Wahrnehmung und Wirkung des ersten gro- Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und des facettenreich und selten passgenau. Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Jörg Osterloh, Clemens Vollnhals (Hrsg.): die NS-Prozesse reagierte. Die Beiträge ßen Holocaust-Prozesses; Annette Weinke: Das deutsch-israelische Ju- › Der Blick auf jüdisches Leben in Deutsch- machen sowohl die Unterschiede als auch »Bleiben die Mörder unter uns?« Öffentliche gendaustauschprojekt für land ist für viele Israelis nicht frei von »Da mein Sohn außeror- NS-Prozesse und deutsche die Wechselwirkungen zwischen Ost und Reaktionen auf die Gründung und Tätig- angehende Jugendleiter und -Leiterinnen fi n- Irritationen. Auch wenn Deutschland im dentlich begabt ist, wie Öffentlichkeit West anschaulich. Sie zeigen, wie sich die keit der Zentralen Stelle Ludwigsburg; Peter det in diesem Jahr zum sechsten Mal statt. Im 21. Jahrhundert nicht mehr mit den Ver- auch sein Lehrer bestätigt, bitte ich Sie, Besatzungszeit, frühe öffentliche Wahrnehmung der Prozesse in Krause: »Eichmann und wir«. Die bundes- jährlichen Wechsel treffen sich Jugendliche brechen des Nationalsozialismus gleich- mir das Klavier des evakuierten Juden zu den Westzonen und später in der Bundesre- deutsche Öffentlichkeit und der Jerusalemer aus Frankfurt am Main, München oder, wie gesetzt wird, erscheint vielen Israelis ein überlassen.« Mit dieser Bitte trat 1942 ein Bundesrepublik und DDR publik in all ihren Widersprüchen entwickel- Eichmann-Prozess 1961; Katharina Stengel: in diesem Jahr, aus Berlin mit israelischen jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 Offenbacher Bürger an sein Finanzamt he- te. Zugleich wird deutlich, dass es anfangs Die ehemaligen NS-Verfolgten – Zeugen, Jugendlichen aus den Kibbuzim und Moscha- als nicht angemessen. Dabei ist das Wissen ran. Zu dieser Zeit waren die Finanzämter auch in der Sowjetischen Besatzungszone Kläger, Berichterstatter; Markus Riverein: wim der Region Ramat HaNegev. Im Rahmen um europäische jüdische Geschichte und bereits mit der sogenannten Verwertung des noch einen gewissen Freiraum gab, Justiz »Das ›einwandfreie‹ Leben des Waffen-SS- der vielfältigen von ConAct geförderten Aus- jüdisches Leben im heutigen Deutschland Eigentums der Deportierten befasst, das seit und Öffentlichkeit jedoch schon bald im Generals Karl Wolff«. Der Münchner Prozess tauschprojekte zeichnet sich dieses dadurch in der Regel nicht allzu stark ausgeprägt. der 1941 erlassenen Elften Verordnung zum Dienste der SED-Propaganda standen. gegen Himmlers Adjutanten 1964; Werner aus, dass auf beiden Seiten der Begegnung Jüdische Jugendliche aus Berlin im Alter Reichsbürgergesetz dem »Reich verfi el«. Renz: Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess jüdische Jugendliche stehen. Neben den üb- von 15 bis 17 Jahren sind eingeladen, am Überall kam es zu öffentlich angekündigten Aus dem Inhalt: 1963–1965 und die deutsche Öffentlichkeit. lichen Inhalten eines Austauschprogramms, Austauschprogramm teilzunehmen. Auktionen von Wohnungsinventar aus dem Edith Raim: NS-Prozesse und Öffentlich- Anmerkungen zur Entmythologisierung eines wie dem wechselseitigen Kennenlernen von Besitz von Juden: Tischwäsche, Möbel, Kin- keit. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen NSG-Verfahrens; Christian Dirks: »Vergan- Alltagsleben, Geschichte und Kultur, lassen Kontakt derspielzeug, Geschirr, Lebensmittel usw. durch die deutsche Justiz in den westlichen genheitsbewältigung« in der DDR. Zur Re- Werner Lott sich in dieser besonderen Konstellation die Tel.: 069.798 322 38 wechselten den Besitzer. Viele schrieben an Besatzungszonen 1945–1949; Andreas Eich- zeption des Prozesses gegen den KZ-Arzt Dr. spezifi schen Problemlagen beider Gruppen [email protected] die Finanzämter, um sich das begehrte Kla- müller: Die strafrechtliche Verfolgung von Horst Fischer 1966 in Ost-Berlin; Clemens vier oder die schönere Wohnung zu sichern. NS-Verbrechen und die Öffentlichkeit in der Vollnhals: »Über Auschwitz wächst kein Die Ausstellung gibt einen Einblick in die frühen Bundesrepublik Deutschland 1949– Gras«. Die Verjährungsdebatten im Deut- Geschichte des legalisierten Raubes, in die Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 1958; John Cramer: Der erste Bergen-Bel- schen Bundestag; Claudia Kuretsidis-Haider: Lebensgeschichten von Tätern und Opfern. 456 S., € 62,95, ISBN: 978-3-525-36921-0 sen-Prozess 1945 und seine Rezeption durch Die Rezeption von NS-Prozessen in Öster- Das umfangreiche Begleitprogramm die deutsche Öffentlichkeit; Heike Krösche: reich durch Medien, Politik und Gesellschaft zur Ausstellung finden Sie unter: www. Strafverfahren zur Ahndung Abseits der Vergangenheit. Das Interesse im ersten Nachkriegsjahrzehnt fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html nationalsozialistischer Ge- der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit am bzw. www.kulturportal-mmk.de. waltverbrechen hatten neben der Aburtei- Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegs- Dr. Jörg Osterloh ist wissenschaftlicher Weitere Informationen zur Wanderaus- lung der Täter von Anfang an auch zum Ziel, verbrecher 1945/46; Jörg Osterloh: »Diese Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frank- Austauschprojekt 2008: Deutsche und israelische stellung »Legalisierter Raub« bekommen die deutsche wie die internationale Öffent- Angeklagten sind die Hauptkriegsverbre- furt am Main. Jugendliche in der Sie auf den Seiten 117 f. in diesem Heft. lichkeit über den Charakter und die Verbre- cher«. Die KPD/SED und die Nürnberger Ausstellung der Gedenk- chen des NS-Regimes unmissverständlich Industriellen-Prozesse 1947/48; Robert Si- Dr. Clemens Vollnhals ist stellvertreten- und Bildungsstätte Haus aufzuklären. Der Band analysiert, wie die gel: Die Dachauer Prozesse 1945–1948 in der Direktor des Hannah-Arendt-Instituts der Wannsee-Konferenz in Berlin. Öffentlichkeit in der Besatzungszeit sowie der Öffentlichkeit: Prozesskritik, Kampagne, für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Foto: Werner Lott in der frühen Bundesrepublik und DDR auf politischer Druck; Mike Schmeitzner: Unter Dresden.

12 Veranstaltungen Einsicht 05 Frühjahr 2011 13 Jörg Osterloh Reichsgau . Im Blick befi n- Unter vier politischen Systemen, vom Neues Internetportal Das Portal zeigt aber auch Fotos zur den sich sämtliche Akteursebenen von der späten Kaiserreich über die Weimarer Re- nationalsozialistischen Verfolgung und vor Nacionálněsocialistické Reichsregierung in Berlin über regionale publik und das »Dritte Reich« bis in die Vor dem Holocaust allem Fotos zu den Reaktionen jüdischer pronásledování Židů Entscheidungsträger bis hin zu den Tä- Bundesrepublik, war Flick erfolgreich – und Fotos zum jüdischen Menschen auf die nationalsozialistische v říšské župě Sudety tern und Profi teuren in der Bevölkerung. scheiterte doch auf ganzer Linie. Was ihm Alltagsleben in Hessen Bedrohung in Hessen. Die Fotos können Deutlich treten die Konfl iktlinien zwischen vorschwebte, war ein gewaltiger Konzern, über die einzelnen Städte und Dörfer, über 1938–1945 Reichs- und Sudetendeutschen hervor: Bei der generationenübergreifend in Familien- Themenfelder und auch über eine Hessen- der »Arisierung« des Besitzes von Juden besitz bleiben sollte. Aber nach dem Vater Dieses neue Internetportal Karte erschlossen werden. Dieses Fotoportal sollten nach Vorstellung sudetendeutscher versagten die Söhne. Die Techniken, mit präsentiert eine große Zahl ist ein pädagogisches Arbeitsmittel für die Politiker einheimische Interessenten be- denen das Haus Flick politischen Einfl uss kommentierter Fotos vom Alltagsleben jü- Vermittlung jüdischen Lebens und der Ver- vorzugt behandelt werden; für das Reichs- nahm, um seine unternehmerischen Ziele discher Menschen in ihren hessischen Hei- folgung der Juden in der NS-Zeit, aber auch wirtschaftsministerium standen hingegen zu erreichen, waren seit den 1920er Jahren matorten in der Zeit »vor dem Holocaust«. für die historische Forschung zur deutsch- in der Industrie die Rüstungsinteressen des auf verhängnisvolle Weise gleich geblieben. Zu mehr als 250 Orten sind Fotos zu fi nden jüdischen Geschichte. Reiches im Vordergrund. Auf die sich verändernden Rahmenbedin- zu den Themen: Am 18. Mai 2011 fi ndet eine Lehrerfort- gungen in der Bundesrepublik fand der Kon- › im Alltag bildung zum Portal statt, am 16. Juni wird es zern keine passenden Antworten mehr und › in der Familie in einer Abendveranstaltung der Öffentlich- ging im Strudel des Parteispendenskandals › in der Schule keit vorgestellt. Sie fi nden das Portal unter: Norbert Frei, Ralf Ahrens, der 1980er Jahre unter. Sein Gründer aber › in der Freizeit www.vor-dem-holocaust.de Jörg Osterloh, Tim Schanetzky blieb bis heute ein Symbol unternehmeri- › bei der Arbeit Kontakt scher Skrupellosigkeit und unverstandener › im öffentlichen Leben Monica Kingreen *­$)3#(%Ö Prag: Argo 2010, 776 S., 598,– Kč Flick Schuld. › im religiösen Bereich [email protected] ,%"%.37%,4%.Ö)-Ö ISBN: 978-80-257-0213-0 Der Konzern, 2(%).,!.$Ö Tschechische Übersetzung von: +/--%.4)%24%Ö15%,,%.Ö6/.Ö Jörg Osterloh, Nationalsozialistische die Familie, die Macht Prof. Dr. Norbert Frei ist Inhaber des Lehr- Judenverfolgung im Reichsgau $%2Ö&2­(%.Ö.%5:%)4Ö")3Ö:52Ö Sudetenland 1938–1945, stuhls für Neuere und Neueste Geschichte '%'%.7!24 München: Oldenbourg, 2006, 721 S. an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. "%!2"%)4%4Ö6/.Ö ISBN: 978-3-486-57980-2 %,&)Ö02!#(4 *²2.3 Dr. Ralf Ahrens ist wissenschaftlicher Im Herbst 1938 bestimmte Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Anhand 85 kommentierter Quellen das Münchner Abkommen Forschung Potsdam. erhält der Leser neue authentische die Abtrennung des sogenannten Sude- Einblicke in die Geschichte der tenlandes von der Tschechoslowakei und Dr. Jörg Osterloh ist wissenschaftlicher jüdischen Minderheit im Rheinland dessen Angliederung an das nationalsozi- Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frank- von der Frühen Neuzeit bis heute. alistische Deutschland. Sofort nach dem furt am Main. Knappe Epochenüberblicke, ein »« setzte die Verfolgung von Re- Beitrag zur Quellensituation, eine gimegegnern und Juden ein. Im Mai 1939 Dr. Tim Schanetzky ist wissenschaftlicher Zeittafel und ein Glossar sowie eine registrierte man im Reichsgau Sudetenland Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und historisch-thematische Karte runden von ursprünglich etwa 24.500 dort lebenden Neueste Geschichte an der Friedrich-Schil- den Band ab und ermöglichen als Menschen jüdischen Glaubens (1930) nur München: Pantheon 2011, ler-Universität Jena. Lesebuch eine breite Nutzung in noch rund 2.400 Personen. 912 S., broschiert, € 19,99 Schulen, Universitäten und sonstigen Jörg Osterloh zeichnet die Geschich- ISBN 978-3-570-55143-1 Gebundene Ausgabe: Blessing (2009) Bildungs einrichtungen. te der Entrechtung, Enteignung und Ver- folgung der jüdischen Bevölkerung im Ö8)6 ÖÖ3Ö-)4ÖÖ37 !"" Ö Reichsgau Sudetenland und der Deporta- Kein Name verkörpert das Ö&!2")'%Ö+!24%Ö).Ö2­#+%.4!3#(%Ö tionen von dort nach Theresienstadt und Drama der deutschen Wirt- '"ÖÖ8ÖÖ-- ÕÖ Ö;$=Ö \Ö )3".Ö     in die Vernichtungslager im Osten nach. schaft im 20. Jahrhundert klarer als der Dabei fragt er nach dem spezifischen Name Flick. Zweimal folgte dem beispiello- Charakter des sudetendeutschen Antise- sen Aufstieg der politische und moralische Die Geschwister Wilhelm, Manfred und Gerda Katz aus Ostheim mit ihren Verwandten aus Fischborn. 777"/%(,!5 6%2,!'#/- mitismus und der Judenverfolgung im Bankrott. Das Foto wurde um das Jahr 1919 aufgenommen. Foto: Sammlung Monica Kingreen

14 Neuerscheinungen Einsicht 05 Frühjahr 2011 15 Frankfurt amMaine.V. Gesellschaft derFreunde undFörderer desJüdischenMuseums Gefördert durch Hörbuchpreis 2011erhalten. SuhrkampVerlag. DasHörbuchzurAusstellunghatdenDeutschen Zur Ausstellungerscheinteinreich bebildertesBegleitbuchim zwanzigsten Jahrhunderts. Wosk zeichnendasPorträteinerderwichtigstenDichterinnendes und HansMagnusEnzensberger, Margaretha HolmqvistundRosi MaterialalsauchEinblickeinwichtigeFreundschaften mitPaulCelan baren Universums«bestimmtwerden. Sowohldasreichhaltige DokumentekönnenzumerstenMaldieKoordinaten ihres »unsicht- kurz, inKriseundUmbruch.MitHilfevielerbisherunbekannter gegangene Welt, imKontaktmiteinerneuen,aberfremden Kultur– entfalten konnte:imGedenkenaneinebekannte,aberverloren »Flucht undVerwandlung« zeigt,wiesichdasWerk derNelly Sachs ihres Lebensgeprägtsein sollten, unterstützenwollte? dem AusbruchderpsychischenKrankheit,vondieletztenJahre Besuchs ihres Freundes PaulCelan,alsersieimHerbst1960nach poetischenUniversumssah?Was passiertewährend desStockholm- dratmeter großen »Kajüte«, inderdieDichterindenUrpunktihres Bräutigam« EinganginihrWerk fand?Was geschahindervierQua- der unbekannteGeliebteBerlinerJahre, derspäterals»dertote kulturgeschichtliche Kontextihrer Dichtungherausgearbeitet.Wer war Texten undZeugnissenwerden diewachsendeRadikalitätundder Leben undWerk. AnhandeinerFüllevonbisherunbekanntenFotos, Zum erstenMalwürdigt einegroße Wanderausstellung NellySachs’ für Literaturgeehrtwurde. denen einlyrischesWerk entstand, das1966mitdemNobelpreis 1933 inBedrohung geraten war;vorihrlagendreißig Jahre Exil,in Lebens, dasnachderMachtergreifung derNationalsozialisten aus BerlinnachStockholm.HinterihrlagmehralsdieHälfteeines Im Mai1940flohNellySachsmiteinemderletztenFlugzeuge 16. MÄRZBIS31.JULI2011 AUSSTELLUNG IMJÜDISCHENMUSEUM SCHRIFTSTELLERIN BERLIN/STOCKHOLM FLUCHT UNDVERWANDLUNG. NELLY SACHS, JÜDISCHES MUSEUMFRANKFURT AUSSTELLUNGEN

© Kungl. biblioteket, Stockholm, Foto: Harry Järv BEGLEITPROGRAMM ZURAUSSTELLUNG Vortrag vonProf. Dr. ArisFioretos, KuratorderAusstellung »DIE SCHERE AMHIMMEL« MITTWOCH, 22.JUNI2011,19 UHR Jan Volker RöhnertundSilkeScheuermann Gespräch/Lesung mitNoraBossong, MichaelKrüger, NELLY SACHSUNDDIEGEGENWARTSLYRIK »BRÜCKEN-BAUSTEINE /VON HIERNACHDORT« MONTAG, 20.JUNI2011,19UHR Vortrag vonDr. ElaineMartin NELLY SACHS’POETIKDESSCHWEIGENS »IN DERTIEFEDESHOHLWEGS« MITTWOCH, 8.JUNI2011,19UHR Komfort-Hein undProf. Dr. JürgenWertheimer Diskussion mitProf. Dr. DoerteBischoff, Prof. Dr. Susanne NEUE PERSPEKTIVEN NELLY SACHSUNDDIEEXILLITERATUR: »EIN FREMDERHAT IMMER/SEINEHEIMAT IMARM« MITTWOCH, 25.MAI2011,19UHR (Cello) undMeikeGoosmann(Saxophon) Musikalische LesungzuNellySachsmitUrsulaIllert,AnkaHirsch »HIER NEHMEICHEUCHGEFANGEN /IHRWORTE« DONNERSTAG, 19.MAI2011,19UHR SCHRIFTSTELLERIN BERLIN/STOCKHOLM« »FLUCHT UNDVERWANDLUNG. NELLY SACHS,

Nelly Sachs 1965, © Jüdisches Museum Frankfurt nähern sichdem ThemainBildundWort. Eindrucksvollhaltensie nähern Die amerikanischen KünstlerinnenJaniceRubin undLeahLax der AntikebisindieGegenwart fotografiert. Spanien, Österreich undDeutschland jüdische Ritualbädervon in Europa. FastzwanzigJahre langhaterinFrankreich, Italien, derBauformenjüdischerRitualbäder Peter SeideldieVielfalt In aufwändigenArchitekturstudien zeigtderFrankfurterFotograf lich geprägterGegenwart. und Ehe,imSpannungsfeldzwischenreligiöser Tradition undwelt- mit Grenzerfahrungen: Liebe,SexualitätundTod, Geschlechterrollen Einblicke ineinenintimenBereich jüdischenLebens–denUmgang Die SonderausstellungüberMikwen,jüdischeRitualbäder, eröffnet HohenemsundWien. Eine AusstellungderJüdischenMuseenFranken,Frankfurt, FOTOGRAFIEN VONJANICERUBIN,TEXTELEAH LAX DAS MIKWENPROJEKT FOTOGRAFIEN VONPETERSEIDEL MIKWEN. JÜDISCHERITUALBÄDER 4. MAI2011 – OKTOBER 2011 MUSEUM JUDENGASSE GANZ REIN! http://www.juedischesmuseum.de/ Besuchen Sieunsere Webseite unter Ein umfangreiches Begleitprogramm findetimSommerstatt. und bisheutepraktiziertesRitual. wickelt sicheinkontroverser DialogderStimmenübereinaltes der MikweausverschiedenenGründenaufDistanzgehen.Soent- Europa, denUSAundIsrael gegenübergestellt,diezumRitual In derAusstellungwerden diesen Werken ZitatevonFrauenaus unterschiedlicher religiöser OrientierungzuWort. zur Sexualitätfest.DabeikommenamerikanischeFrauenmitganz mung jüdischerFrauenzumRitualbad,weiblichenKörperund undpersönlichenGesprächendieWahrneh-in poetischenBildern Mo geschlossen Uhr 10–20 Mi Uhr 10–17 Di –So ÖFFNUNGSZEITEN Tel. (069)2977419 60311 FrankfurtamMain Kurt-Schumacher-Str. 10 MUSEUM JUDENGASSE www.juedischesmuseum.de [email protected] Fax (069)212–30705 Tel. (069) 212–35000 60311 FrankfurtamMain Untermainkai 14/15 JÜDISCHES MUSEUMFRANKFURT

Mikwe in Friedberg von 1260, © Peter Seidel Einsicht Forschung und Vermittlung

einem Stück »Dichtung«. Es sollte siebenunddreißig Jahre dauern, Beruf: SS-Obersturmbannführer a.D.«6 Seine Gedanken kreisen um bis man eindeutig beweisen konnte, dass Eichmann gelogen hatte, die Möglichkeit, das Exil selber zu beenden und sich zu stellen. Das weil erst 1998 jeder selber hören konnte, welcher Ton in Argentinien Zielpublikum seiner Zeilen ist kein Geheimnis: Adolf Eichmann tatsächlich geherrscht hatte. schrieb nicht nur für seine Sympathisanten, sondern vor allem die Menschen in dem Land, in das er immer zurück wollte: Deutschland. »Nein, das habe ich nicht gesagt.« In Israel wusste nur Adolf Eichmann, was die Anklagebehörde Mit diesem Bestreben stand Eichmann in Argentinien keines- gefunden hatte: einen Teil der Argentinien-Papiere, also der Auf- wegs allein. Auch andere Männer des Dürer-Kreises sahen in Argen- Eine kurze Geschichte der zeichnungen, die seit Mitte der 1950er Jahre in seinem Exil entstan- tinien immer nur eine Zwischenstation auf dem Weg zurück in die 1 den waren. Nach der Flucht aus Deutschland 1950 hatte Eichmann Heimat. Wer konnte, reiste so wie Willem Sassen und Hans-Ulrich Argentinien-Papiere schnell Kontakt zu einer Gruppe gefunden, die ein Geschichtsbild Rudel regelmäßig in die Bundesrepublik. In Kooperation mit rechts- verbreiten wollte, in dem der Nationalsozialismus glorreich und gut extremen Verlagen, aber auch Parteien im Nachkriegsdeutschland von Bettina Stangneth war. Dieser sogenannte Dürer-Kreis gruppierte sich um den Verleger versuchten sie, wieder politischen Einfl uss zu gewinnen und die des Dürer-Verlags, Eberhard Fritsch. Der junge Deutsch-Argentinier Ideologie wiederzubeleben, die ihnen nach wie vor als beste er- schaffte es, sich für gefl ohene Nationalsozialisten unverzichtbar schien: den Nationalsozialismus. zu machen. Er vertrieb nicht nur extrem rechtes Gedankengut und Allerdings wurde Mitte der 1950er Jahre sogar den überzeug- Der 13. Juli 1961 war einer der schwärzesten heimatliches Kunsthandwerk. Vor allem war sein Verlagshaus eine testen Nazis in Argentinien klar, dass der Massenmord an den Juden Tage im Eichmann-Prozess, und das nicht Kontaktbörse für Neuankömmlinge und bot Zugang zu Reise-, Bank- nicht völlig zu leugnen war. Die Bücher von Joel Brand, Gerald Reit- nur für den Ankläger, Generalstaatsanwalt und Kurierdiensten, die man brauchte, um Kontakt zu den zurückge- linger, und Joseph Wulf enthielten zu viele Beweise. Gideon Hausner. Er hatte Eichmanns Be- lassenen Familien zu halten. Eichmann nutzte dieses Netzwerk schon Wer also den Nationalsozialismus wiedererstehen lassen wollte, Bettina Stangneth, Studium der kenntnis in den Händen.1»Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen«, hieß 1952, um die heimliche Ausreise seiner Familie aus Österreich zu musste erst einmal glaubhaft machen, dass die Vernichtungspolitik Philosophie an der Universität Ham- es auf dem Papier von 1957, »hätten wir von den 10,3 Millionen organisieren. Die Kontaktadresse, die er seiner Frau für Argentinien nie ein wesentlicher Teil davon gewesen war. Es waren Überlegun- burg; Promotion über Immanuel Juden, die Korherr2, wie wir jetzt nun wissen, ausgewiesen hat, 10,3 gab, war das Verlagshaus von Eberhard Fritsch. gen wie diese, die Anfang 1957 zu der Veranstaltung führten, die Kant. Stangneth ist die Herausgeberin Millionen Juden getötet, dann wäre ich befriedigt und würde sagen, Das Interesse des Dürer-Kreises an dem ehemaligen SS-Ober- später unter dem Namen »Sassen-Interviews« bekannt wurde. einer kommentierten Ausgabe von gut, wir haben einen Feind vernichtet.« sturmbannführer war groß, denn die Zahl von sechs Millionen jüdi- Von April bis November kam es an den Wochenenden zu Treffen Kants Religionsschrift und bekam Genau das hatte Adolf Eichmann tatsächlich gesagt, nämlich in schen Opfern ging auf Eichmann zurück. Wer wie der Dürer-Kreis im Haus von Willem Sassen, dem ehemaligen SS-Kriegsberichter- für ihre Studie über Antisemitismus einer Runde Gleichgesinnter, die sich ein Jahr lang in das Menschheitsverbrechen leugnen oder doch relativieren wollte, statter und umschwärmtem Autor des Dürer-Verlags. Die Runde war bei Kant 1999 den ersten Preis der getroffen hatten, um in stundenlangen Sitzungen die deutsche Ge- kam also an dem Detailwissen des »anerkannten Spezialisten« nicht illuster: Neben dem Verleger Eberhard Fritsch und dem Spezialisten Philosophisch-Politischen Akademie schichte zu verklittern. Gideon Hausner allerdings konnte das 1961 vorbei. Fritsch versuchte deshalb, Eichmann für seinen Verlag zu Adolf Eichmann beteiligten sich auch , der e.V., Köln. Seither forscht sie zu Adolf nicht beweisen. Er musste hilfl os hinnehmen, dass Eichmann alles gewinnen. Letztlich war es aber nicht das werbende Bemühen von ehemalige Chef-Adjutant Heinrich Himmlers, und Dr. Langer, ein Eichmann. Bettina Stangneth beriet abstritt: »Nein, das habe ich nicht gesagt«, behauptete er mit fester Fritsch, das Eichmann überzeugte, sondern vor allem die schlechte Kriminalist des SS-Sicherheitsdienstes in Wien,7 regelmäßig an dem den NDR bei dem Dokudrama EICH- Stimme nicht ohne Empörung über die vermeintliche Unterstellung.3 Presse: Mitte der 1950er Jahre erschienen die ersten umfangreichen Projekt; andere kamen gelegentlich dazu, denn die Treffen waren MANNS ENDE (2010), das auch aufgrund »Ich habe aber eines gesagt, mit Reue ist nichts gemacht, Reue hat Bücher über NS-Verbrechen, in denen immer wieder sein Name keineswegs geheim. In stundenlangen Sitzungen las man gemein- ihrer Forschungsergebnisse gedreht gar keinen Zweck, Reue ist etwas für kleine Kinder, wichtiger ist, stand. 1956 schließlich war Eichmann überzeugt, dass der richti- sam alles, was zum Nationalsozialismus und zur Judenverfolgung wurde, und ist u. a. wissenschaftliche dass man Mittel und Wege sucht, die solche Geschehen künftig aus- ge Zeitpunkt gekommen war, diesen Büchern seine unumstößliche erschienen war: Memoiren und Sachbücher, Zeitschriften- und Zei- Beraterin der diesjährigen Ausstellun- geschlossen machen. In diesem Ton bewegte sich das Gespräch.«4 Wahrheit entgegenzusetzen. Eichmann verfasste ein umfangreiches tungsartikel – immer auf der Suche nach Belegen dafür, dass die Ju- gen zum Eichmann-Prozess in Berlin Eichmann in Jerusalem, der Pazifi st und Mahner künftiger Genera- Manuskript unter dem programmatischen Titel »Die anderen spra- denvernichtung mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun hatte. Die (Stiftung Denkmal für die ermordeten tionen, erklärte seine erschreckendste Nachkriegsaussage dreist zu chen, jetzt will ich sprechen«. Eines seiner Motive ist besonders über- Männer nahmen ihre Gespräche so ernst wie ein historisches Semi- Juden Europas, Topographie des Ter- raschend: Eichmann war seine unscheinbare Existenz im Exil leid. nar: Es wurden Referate verteilt, Manuskripte mitgebracht, Themen rors, Stiftung Wannsee) und in »Ich bin es langsam müde, als anonymer ›Unterseeboot‹- vorbereitet und mit Disziplin abgearbeitet. Da man im Dürer-Verlag (Memorial de la Shoah). Zahlreiche fahrender Wanderer zwischen den Welten zu leben«, heißt es un- gute Erfahrungen mit moderner Technik gemacht hatte, griff man Publikationen: »Antisemitische und 1 Eine ausführlichere Darstellung und alle Belege fi nden sich in Bettina Stangneth, missverständlich in einem Einleitungsentwurf.5 Auch sonst strotzt auch für die Sassen-Runde darauf zurück. Man nutzte Tonbänder, antijudaistische Motive bei Immanu- Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich der Text vor Selbstbewusstsein: »Es wird nun Zeit«, erklärt der die anschließend abgetippt und dann wieder neu besprochen wurden. el Kant?«, in: Horst Gronke et. al. 2011, Kapitel »Nachspiel«. Autor, »daß ich aus meiner Anonymität heraustrete und mich vor- Das Ergebnis der Veranstaltung waren nicht nur etliche Papiere mit 2 Der Korherr-Bericht war eine Statistik, die Himmler 1943 bei dem Statistiker (Hrsg.), Antisemitismus bei Kant und Richard Korherr in Auftrag gegeben hatte. stelle: Name: Adolf Otto Eichmann, Staatsangehörigkeit: Deutsch. anderen Denkern der Aufklärung, 3 Zu dieser Sequenz sind Filmaufnahmen erhalten. Würzburg 2001, S. 11–124; Eichmann 4 Das Kreuzverhör wird hier nach dem deutschen Prozessprotokoll zitiert. Leichte vor Jerusalem. Das unbehelligte Le- Korrekturen nach den Tonmitschnitten bzw. der offi ziellen englischen Edition er- 6 Nachlass Eichmann, BArch K, N1497-90, Bl. 1. folgen stillschweigend. The Trial of Adolf Eichmann. Record of Proceedings in 5 Der Text, der bisher als nicht nachweisbar galt, fi ndet sich im Nachlass Eich- 7 Wer Langer war, ist bis heute nicht zu klären, auch wenn wir viel über ihn wis- ben eines Massenmörders, Zürich the District Court of Jerusalem, State of Israel, Ministry of Justice, Jerusalem mann, Bundesarchiv Koblenz (BArch K), N1497-92: Persönliches; eine (unzu- sen. Vgl. Stangneth, Eichmann vor Jerusalem, Kapitel »Der unbekannte Helfer: 2011 (Abb. des Covermotivs links). 1992–1995, hier: Session 96, 13.7.1961, Vol. IV, S. 1666. verlässige!) zeitgenössische Abschrift unter E/1497-73. Dr. Langer«.

18 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 19 Notizen und Kommentaren, sondern vor allem Abschriften von über Exklusivrechte an den vermeintlich biografi schen Texten und Fotos 72 Tonbändern. aus dem Exilleben. Es handelte sich um Kopien von mehreren Hun- Dennoch entstanden weder aus Eichmanns Aufzeichnungen dert Seiten, darunter ein kleiner Teil Handschriften in zum Teil sehr noch aus den Protokollen die geplanten Bücher. Willem Sassen unzuverlässigen Abschriften. Sassen wurde als »Berater« bezahlt und versuchte zwar zunächst, die Gespräche zu eigenen Entwürfen8 zu glaubte, er selber dürfe die Artikel für Life verfassen. verarbeiten, aber es zeigten sich schnell grundlegende Probleme: Sassen hatte allerdings nie vor, sich an die Absprache mit Life Eichmann und Dr. Langer widerlegten die Gerüchte über den natio- zu halten. Er hatte die ausgewählten Argentinien-Papiere längst nalsozialistischen Judenmord nicht. Im Gegenteil. Beide bestätigten fotografi eren lassen. Das machte aus einem sieben Kilogramm in vielen Details, dass es den systematischen Massenmord gegeben schweren Haufen Papier ein paar Filmrollen. Damit ließ sich leicht hatte und dass eine Trennung zwischen Verbrechen und vermeint- und unauffällig reisen, und genau das hatte Sassen vor. Direkt nach lich »reinem« Hitler-Staat ein unmögliches Unterfangen war. Adolf dem Abschluss mit Life fl og er nach Europa und bot das Material Eichmann war überzeugter Nationalsozialist und genau darum ein noch einmal an: dem Stern, dem Spiegel, in den Niederlanden auch Massenmörder. Gegenüber dieser unerwarteten Einsicht war es Volkskrant und De Sparnetstad in Haarlem.11 Außerdem fuhr Sassen beinahe eine Bagatelle, dass den Autoren Anfang 1958 der Verlag nach Salzburg und traf sich mit Eberhard Fritsch und den Brüdern abhandenkam, weil Eberhard Fritsch nach Österreich übersiedelte. von Adolf Eichmann. Er plante nämlich ein eigenes Buch für Ende Dezember 1960. Sassen wollte dafür nicht nur die Unterstützung von Als man am 23. Mai 1960 auch in Argentinien begriff, dass dem Teilhaber Fritsch, sondern auch die Zustimmung von Eichmanns Adolf Eichmann ein Gefangener der Israelis war, handelte Willem Brüdern Robert und Otto aus , die sich um die Verteidigung Sassen schnell. Er sichtete das Material aus dem Jahr 1957 unter kümmerten. Alle erteilten ihre Zustimmung, und Eberhard Fritsch, einem neuen Gesichtspunkt: der möglichen Vermarktung einiger der in Österreich nicht selber publizieren durfte, ging mit ein paar Teile als Eichmann-Biografi e. Dabei zeigten sich die besonderen Beispielseiten auf Verlegersuche. Hermann Langbein. Foto: Schindler-Foto-Report Fritz Bauer. Foto: Fritz Bauer Institut/A. Mergen Henry Ormond. Foto: Bestand Thomas Ormond Tücken der Protokolle. Die knapp eintausend Seiten enthielten zwar Innerhalb von wenigen Wochen hatte Willem Sassen die Exis- die Gesprächstexte, aber keine Kennzeichnung für die Sprecher. Es tenz der Argentinien-Papiere in den entscheidenden Verlagen be- war unmöglich, sich in diesem Endlosprotokoll schnell zu orientieren, kannt gemacht. Henri Nannen nutzte die Quelle zuerst. Er wusste und es war schwer, die Spuren zu tilgen, die zu den anderen Teilneh- genau, wer sein Lieferant war, denn Nannen und Sassen kannten Es gab noch eine ganz andere Partei, die mit Besorgnis von mern der Runde und vor allem der Absicht der Veranstaltung führten. sich seit ihrer gemeinsamen Zeit in der SS-Propaganda-Staffel Kurt diesen Aufzeichnungen hörte: Die Menschen in der Bundesrepublik Eichmanns Biografi e hatte 1957 nämlich niemanden interessiert. Eggers. Außerdem arbeitete Sassen längst als Korrespondent für Deutschland, die in Sorge waren, dass sie ein Teil dieser Erinnerun- Sassen entfernte Interviews mit anderen Teilnehmern, die Tonbänder Nannen.12 Während alle anderen noch prüften, ob sie das Material gen sein könnten. Als Koordinator der Judenvernichtung hatte Eich- 6 bis 10, in denen allzu deutliche Israel-Kritik stand, und er entschied kaufen sollten, druckte der Stern am 25. Juni 1960, also einen Monat mann viele interministerielle Verhandlungen geführt. Sein Wissen sich, das Transkript mit einem Vortrag Eichmanns enden zu lassen, nach Ben Gurions Knesset-Ansprache, den ersten Teil einer Eich- um Ghettos, KZs und Vernichtungslager schloss auch Kenntnisse der sich wie ein Schlusswort las, dem berüchtigten Band 67. mann-Serie. In vier Folgen verbreitete das Magazin aus Hamburg über die Verstrickung der Industrie mit ein. Es gab also viele, die Knapp zwei Wochen nach der Prozessankündigung vom Bilder, Texte, Zeitzeugenberichte und vor allem mehr Details aus fürchten mussten, dass Eichmann ihren Namen noch so genau im 23. Mai empfi ng Sassen einen Vertreter des US-Magazins Life in dem Nachkriegsleben Adolf Eichmanns, als jede andere Zeitschrift Gedächtnis hatte wie sie die »Dienststelle Eichmann«. Außerdem Buenos Aires und überredete Eichmanns Frau, einen Vertrag zu un- es bis heute wiederholen konnte. Die Artikel waren so materialreich, war die deutsche Vergangenheit Ende der 1950er Jahre zum Politi- terschreiben.9 Vera Eichmann war überzeugt, im Sinne ihres Mannes dass sie sogar von der Untersuchungskommission in Israel (Büro kum geworden, weil die DDR begonnen hatte, die Aufklärung über zu handeln, und auch Sassen konnte sich auf eine Abmachung mit 06) verwendet wurden, die mit dem Verhör Eichmanns beauftragt NS-Personalien als Waffe im Kalten Krieg einzusetzen. Die Ner- Eichmann berufen. Eichmann selber hat sogar noch in der Haft bestä- war. Damit erfuhr allerdings auch Adolf Eichmann selber, dass sein vosität westlicher Geheimdienste angesichts möglicher Eichmann- tigt, dass Sassen den Auftrag hatte, das Material »zu veröffentlichen, Freund Willem Sassen mit der Vermarktung der Unterlagen begon- Enthüllungen lässt sich heute schon an den wenigen freigegebenen falls ich jemals sterben oder in die Hände der Israelis fallen sollte«.10 nen hatte, und konnte sich auf die Folgen vorbereiten.13 So hilfreich Dokumenten eindeutig ablesen. Der Gewinn sollte zu gleichen Teil an Sassen, an Eberhard Fritsch die Veröffentlichungen auch waren, um die Familie fi nanziell zu Sowohl die CIA als auch der Bundesnachrichtendienst versuch- und an Eichmanns Familie gehen. Life erwarb am 5. Juni 1960 die unterstützen, so gefährlich waren die argentinischen Altlasten an- ten, die Argentinien-Papiere in die Hände zu bekommen. Der BND14 dererseits für die Verteidigung.

8 David Irving fand einige von Sassens Entwürfen und dokumentiert ein Kapitel 14 Gerüchte, aber auch Aktivitäten beim Spiegel und dem Stern werden aufmerksam auf seiner Website, allerdings ohne zu erkennen, dass es sich um einen Sassen- beobachtet. So fi nden sich Details über Spiegel-Artikel schon vor dem Erschei- Text handelt, also eine sehr freie Verarbeitung der Sassen-Interviews. 11 CIA-Bericht aus München, 1.12.1960, National Archives, RG 263, CIA Name nen in CIA-Berichten, in denen auch nachzulesen ist, welche Unterlagen Rudolf 9 Eine Abschrift des Vertrags und alle Informationen zur Veröffentlichung fi nden File Adolf Eichmann; Recherchen von Robert Servatius über die Abschlüsse, Augstein von Sassen bekommen hat, National Archives, RG 263 CIA Name File sich unter BArch K, All.Proz. 6/253. BArch K, All.Proz. 6/253. Adolf Eichmann. Zum Autor der Stern-Artikel werden vom BND Recherchen in 10 Zitiert aus Eichmanns Aufzeichnung Meine Flucht. BArch K, All.Proz. 6/253, 12 Stern, 24.6.2010. Adolf Eichmann nach seiner Festnahme in Argentinien. Auftrag gegeben, und Veröffentlichungspläne anderer Redaktionen wie Neuer Il- Meine Flucht, S. 31 (handschriftliche Paginierung). 13 Verhörtag 15.9.1960, The Trial of Adolf Eichmann, Bd. VII. Foto: Ullstein Bild/AP lustrierter und Revue sind Gegenstand von BND-Berichten. Vgl. Beiakte Verfah-

20 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 21 bemühte sich nicht nur in Zeitungsredaktionen, sondern setzte direkt Gideon Hausner 1961 dem Gericht vorlegen konnte, um Kopien der obwohl keine diplomatischen Beziehungen mit Polen bestanden. bekommen hätte und so neunhundert Seiten in seinen Besitz ge- einen Mann auf Eberhard Fritsch an. Da Sassen aber so vorsichtig Life-Unterlagen gehandelt haben muss oder doch um Seiten aus den Eichmann stand ganz oben auf Langbeins Liste, er hatte schon Anfang bracht habe.27 Am 7. März reservierte Fritz Bauer die Kopieranlage gewesen war, Fritsch nur wenige Beispielseiten zu überlassen, kam Beständen, die Willem Sassen im Juni 1960 mit nach Deutschland 1959 gezielt nach Bildern in Polen gesucht und im gleichen Jahr in in seiner Dienststelle, sodass alle anderen Kopierarbeiten von den man nicht an die Unterlagen, sondern stattdessen an noch beunruhi- gebracht hatte. Es gab aber noch einen ganz anderen Weg, auf dem Österreich formelle Strafanzeige gegen Adolf Eichmann erstattet.22 Mitarbeitern in das Hessische Justizministerium verlegt werden gendere Nachrichten. Fritsch hatte in den vermeintlichen Verkaufs- Argentinien-Papiere nach Europa gelangten. Henry Ormond (1901–1973), geboren als Hans Ludwig Jacob- mussten. Der Generalstaatsanwalt Bauer brauche nämlich, wie es in gesprächen selbstverständlich übertrieben und von Tausenden von Im November 1960 hatte Eichmanns Anwalt Robert Servatius sohn in Kassel, war ein deutscher Jurist, der wegen seiner jüdischen einer Mitteilung heißt, alle Kapazitäten für die Vervielfältigung der Seiten voller hochbrisanter Enthüllungen gesprochen. Der BND- bei Vera Eichmann angefragt, wie es zu den Life-Veröffentlichungen Herkunft 1933 seine Position als Richter am Amtsgericht Mannheim Transkriptionen eines Tonbandes, »die angeblich Eichmann direkt Informant notierte alarmiert: »Größte Vorsicht, sehr heißes Eisen!«15 gekommen war. Eichmanns Frau schickte daraufhin nicht nur ei- verlor. 1938 gehörte er zu den Verhafteten der Novemberpogrome. diktiert habe, als er sich noch auf freiem Fuße befunden habe«.28 Die Kollegen von der CIA waren erfolgreicher und gelangten ne Kopie des Life-Vertrages an ihren Schwager Robert Eichmann Er durfte das KZ Dachau nur verlassen, weil er eine Ausreisemög- Eichmanns Stiefbruder in Linz hingegen erzählte offenbar nie- an Material von Life, das man auch nach Deutschland schickte. Dort nach Linz, sondern auch die Version der Argentinien-Papiere, die lichkeit nachweisen konnte. Nach der Flucht nach Großbritannien mandem von dem Diebstahl in seinem Büro. Offensichtlich waren begann man sofort, die Unterlagen akribisch nach verfänglichen sie noch zu Hause fand.20 Wir wissen nicht mit Sicherheit, warum und Kanada kam er als Soldat der britischen Armee nach Europa ihm die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen bei einem derart heik- Namen abzusuchen, noch bevor die amerikanische Zeitschrift am Robert Eichmann niemandem etwas davon erzählt hat. Vielleicht zurück und blieb als Besatzungsoffi zier in Hannover und Hamburg, len Material so unangenehm, dass er noch nicht einmal der Familie 22. November 1960 den ersten Artikel druckte.16 Life veröffent- hatte er angefangen, die Handschriften und Interview-Transkripte wo er für den Aufbau einer neuen Presse zuständig war und auch seines Bruders etwas davon berichtete.29 licht wenige, aber aussagekräftige Ausschnitte aus dem Interview- zu lesen, und ihre Gefahr erkannt. Obwohl Servatius nach den Life- Henri Nannen und Rudolf Augstein die notwendigen Lizenzen er- Das Treffen zwischen Ormond, Harlan und Langbein diente Transkript und kleine Teile der Handschrift unter dem Titel »Eich- Veröffentlichungen immer wieder bei Willem Sassen eine Kopie teilte.23 Ab April 1950 wirkte Ormond als Rechtsanwalt in Frankfurt, noch einem anderen Zweck: Langbein benötigte Geld, um die Unter- mann tells his own damning story«. Sogar Willem Sassen reagiert anmahnte, verriet Eichmanns Bruder nichts. Im Frühjahr 1961 waren wo er auch den ersten Zwangsarbeiterprozess gegen die IG Farben lagen zu verfi lmen und Harlan eine intensive Analyse dieser umfang- geschockt: »Schauen Sie mal an, was mir die LIFE angetan hat«, die Unterlagen dann plötzlich aus seinem Schreibtisch verschwun- (Wollheim-Prozess) führte. Allein im Auschwitz-Prozess sollte er reichen Quelle zu ermöglichen, denn Langbein wünschte sich vor lamentiert er ausgerechnet bei Eichmanns Frau, die ihrerseits den den, um Anfang März in den Händen von niemand anderem als dem 15 Nebenkläger vertreten.24 allem eines: eine möglichst schnelle Publikation des Materials. Wie Life-Text »Ich führte sie zum Schlachter« gar nicht fassen konnte.17 hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zu landen. Thomas Harlan (1929–2010), Sohn des Regisseurs Veit Harlan, aus der Abrechnung Ende März hervorgeht, gelang es Henry Ormond Vor allem hatte Life die Artikel ohne die Hilfe von Sassen geschrie- Die Geschichte klingt fantastisch, und dennoch ist sie genau der den berüchtigten Film JUD SÜSS gedreht hatte, lebte seit 1959 in tatsächlich, die Verfi lmung zu fi nanzieren.30 Inwieweit auch Bauer ben, sodass ihm das Honorar entging. so passiert: Zwischen dem 3. und 6. März 1961 kam es in einem Warschau und betrieb engagiert historische Forschung. Harlan wollte hierbei eine Rolle spielte, wie man vermuten kann, ist bis heute nicht Die Life-Artikel präsentierten fünf Monate vor Prozessbeginn Frankfurter Hotel zu einem denkwürdigen wie bisher unbekannt NS-Verbrechen aufdecken und Täter beim Namen nennen. Ein Buch geklärt, da die gesamte Korrespondenz über Ormond läuft. Harlan das erste Mal öffentlich eine Quintessenz der drastischen Bekennt- gebliebenen Treffen zwischen Männern, die alle von dem Wunsch unter dem Titel »Das Vierte Reich« sollte NS-Täter entlarven, die in nahm den Film mit nach Warschau und kontaktierte einen weiteren nisse des überzeugten Judenmörders. Bis zum Prozess waren sie weit nach Gerechtigkeit getrieben waren.21 Hermann Langbein aus Wien, der Nachkriegszeit wieder etabliert waren. Schon im Mai 1960 hatte Freund, Daniel Passent, den Redakteur der Wochenzeitung Polity- verbreitet, auch durch Lizenzdrucke in Paris Match in Frankreich18 Thomas Harlan aus Warschau und Henry Ormond aus Frankfurt Harlan einen der ersten Artikel über Eichmann in der angesehenen ka.31 Der schlug seinem Chefredakteur Mieczysław F. Rakowski eine und der Revue in Deutschland.19 Während wir heute rekonstruieren machten Fritz Bauer das derzeit umfangreichste Exemplar der polnischen Wochenzeitung Polityka veröffentlicht.25 Artikelserie vor. Rakowski gab eine Expertise bei den Kriminalisten können, welches Material Stern und Life benutzt hatten und dass die Argentinien-Papiere zugänglich, das kurz zuvor noch bei Robert Ormond und Langbein kannten sich seit spätestens 1955. Bei- der Milicja Obywatelska (Bürgermiliz) in Auftrag. Am 6. Mai kam Texte tatsächlich aus den Argentinien-Papieren stammten, waren sie Eichmann gelegen hatte. de sprachen Presseinformationen ab, Ormond griff auf Langbeins das Gutachten: Das Material war echt und die Handschrift eindeutig 1960 nichts anderes als sensationelle Schlagzeilen in aufl agenstar- Hermann Langbein (1912–1995) war schon früh als Kommunist Kontakte zurück, und Langbein konsultierte Ormond bei Fragen von Adolf Eichmann.32 In Polen entschied man sich für ein anderes ken Zeitschriften, aber keineswegs ein beweiskräftiges Dokument. in Österreich politisch aktiv und überlebte mehrere KZs. Er war der zum deutschen Rechtssystem. Schon 1959 hatte Fritz Bauer über Dennoch blieben die journalistischen Arbeiten für fast zwanzig Jahre erste Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees in Henry Ormond Kontakt zu Langbein aufgenommen, weil dieser die einzige umfangreiche Quelle für alle, die etwas über die Sassen- Wien, wechselte später in die Leitung des Comité International des angeboten hatte, eine Ortsbesichtigung in Auschwitz zu ermögli- 27 Ich danke Thomas Harlan für seine engagierte Hilfe. Für die Herkunft der Kopie Interviews wissen wollten. Camps und bekam den Ehrentitel »Gerechter unter den Völkern«. chen.26 Langbein und Harlan wiederum kannten sich über Harlans sprechen aber vor allem Umfang und Qualität der Kopien. In den handschriftli- Sein Leben stand ganz im Dienst der Aufklärung über NS-Verbre- polnische Freundin, die Auschwitz überlebt hatte. Ormond und Har- chen Teilen fi ndet sich ausdrücklich der Hinweis, dass es sich um alle Unterlagen Man ist selbstverständlich davon ausgegangen, dass es sich bei chen. Langbein schuf Öffentlichkeit für die Not der Überlebenden lan schließlich lernten sich spätestens 1960 über Langbein kennen. handele, abgesehen von denen, die an Life verkauft worden seien, was eine ge- naue Rekonstruktion aller Exemplare ermöglicht. BArch Ludwigsburg, Ordner den Seiten der Argentinien-Papiere, die der Generalstaatsanwalt und forderte konsequent eine juristische Aufarbeitung. Durch seine Langbein erzählte bei dem Treffen in Frankfurt, dass jemand »Sassen Interviews Diverses«. ausgezeichneten Kontakte war er in der Lage, für die Frankfurter als Schlosser getarnt Zugang zu dem Büro von Robert Eichmann 28 Vermerk 7.3.1961, Hessisches Ministerium der Justiz (HMJ) Wiesbaden, Veesen- Staatsanwaltschaft nicht nur Zeugen in Polen zu fi nden, sondern mayer, Edmund – Novak; jetzt: Adolf Eichmann, Bd. II, Bl. 211. Belegt bei Irm- sogar auch eine Verbindung zu polnischen Juristen zu ermöglichen, trud Wojak, Fritz Bauer. 1903–1968. Eine Biographie, München 2009, S. 582. ren BVerwG 7A 15.10, Saure gegen BND, BND-Akten 121099 und 100470. Ich 29 Nach der freundlichen Auskunft von Helmut Eichmann schien die Familie Adolf danke Christoph Partsch für die Zitiergenehmigung. Eichmanns bis zu meiner konkreten Nachfrage nichts von den entwendeten Un- 15 Ebd., 121099, 1854. 22 Langbein an Ormond, 12.3.1959, ÖStA, NL Langbein E/1797, Ordner 106. Die terlagen zu wissen. Vgl. außerdem die Korrespondenz von Servatius im März/ 16 Life erscheint jeweils am Dienstag vor dem aufgedruckten Datum, eine übliche Korrespondenz über die Strafanzeige ebd. April 1961, insb. BArch K, All.Proz. 6/253, 60–62. Eine Anfrage bei der Polizei Vordatierung von US-Magazinen. Die Vorankündigung von Harry Golden er- 20 Indirekt: Sassen an Servatius, 13.6.1961, BArch K, All.Proz. 6/253, 109. 23 In Hermann Langbeins Nachlass fi nden sich etliche Kommentare und Korrespon- und der Staatsanwaltschaft Linz 2009 nach Einbruch-Anzeigen brachte kein Er- scheint in der Ausgabe »21.11.1960«, also am 15. November. Die beiden Folge- 21 Der Briefwechsel zwischen Henry Ormond und Hermann Langbein enthält ab denzen zu den Zeitschriften, so auch in der Ormond-Korrespondenz, denn beide gebnis. hefte enthalten dann die Serie »Eichmann tells his own damning story«. Heft dem 23.2.1961 die Terminabsprachen, die Finanzierungsfragen und Abrechnung sprachen ihre Pressearbeit ab. 30 Nach Harlan. Interview mit Jean-Pierre Stephan, Das Gesicht Deines Feindes. »28. November« erscheint am 22. November, und das Heft »6. Dezember« am für Thomas Harlans Reisekosten und die Kurzinformation an Langbein im Hotel, 24 Der Nachlass Henry Ormonds liegt heute in Yad Vashem. Ich konnte ihn bisher Ein deutsches Leben, Berlin 2007, S. 124; Korrespondenz mit Thomas Harlan 29. November 1960. wann Harlan ankommen wird. Nachlass von Hermann Langbein (Deposit im Ös- aber leider nicht einsehen. Die vorliegende Rekonstruktion der Rolle Ormonds 2010. 17 Vera Eichmann im Interview mit Paris Match, 29.4.1962. BArch K, All.Proz. terreichischen Staatsarchiv), ÖStA E/1797, Ordner 106. Ich danke Anton Pelinka/ beruht auf dem umfangreichen Briefwechsel mit Langbein, ÖStA, NL Langbein 31 Ich danke Daniel Passent für seine ausführlichen Informationen. Ohne seine Of- 6/253. Innsbruck für die Genehmigung, diese unfassbar vielschichtige Quelle zu nutzen. E/1797, Ordner 106. fenheit wäre ich nie auf die Idee gekommen, die Quellen zu suchen, mit denen 18 »Eichmann par Eichmann«, in: Paris Match, No. 630–632, 6.5.–20.5.1961. Die Angaben zu Langbein und Ormond im Folgenden beruhen ebenfalls auf dem 25 Thomas Harlan, »Kto to był Eichmann?«, in: Polityka, 28.5.1960. man die Geschehnisse rekonstruieren kann. 19 »Das Geständnis des Adolf Eichmann«, in: Revue, Nr. 8–10, 1961. Nachlass. 26 ÖStA, NL Langbein E/1797, Ordner 106. 32 Rakowski notierte die Ereignisse in seinem Tagebuch. Mieczysław F. Rakowski,

22 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 23 Vorgehen als Life. Die Polityka konzentrierte sich ganz auf die Sas- war selbstverständlich nicht Desinteresse. Hausner muss überzeugt damit öffentlich zugänglich wurde. Ein gründlicher Vergleich mit an- stellte, die Tonbänder mit der Israel-Kopie zu vergleichen, konnte so sen-Transkripte und druckte ab dem 20. Mai eine fünfteilige Serie, gewesen sein, dass er längst alle Dokumente in Israel hatte, und deren Exemplaren wie den Unterlagen von Fritz Bauer fand nie statt. auch beweisen, dass die Transkripte keineswegs verfälscht waren. die nicht nur erstmals den unredigierten Text präsentierte, sondern niemand kam auf die Idee, dass das nicht stimmte. Ein Grund dafür, dass man dieser wichtigsten Nachkriegsquel- Die Originalaufnahmen machen aber auch hörbar, dass Eichmann den Leser auch mit Bildmaterial, Faksimiles, Handschriftanalysen Im März 1961 gab auch Gideon Hausner eine Expertise in Auf- le der Holocaust-Forschung so wenig Beachtung geschenkt hat, log, als er die Debatten in Sassens Haus »Wirtshausgespräche« und vor allem historisch-kritischen Kommentaren versorgte.33 Es trag, nämlich beim Handschriften-Experten der israelischen Poli- lag zweifellos darin, dass es Adolf Eichmann in Jerusalem gelang, nannte. handelt sich bis heute um den mit Abstand gründlichsten Versuch, zei, Avraham Hagag.37 Ihm verdanken wir die erste Ordnung und grundlegende Zweifel an der Verlässlichkeit der Quelle zu säen.41 Es waren die Erinnerungen von Daniel Passent und Thomas den Quellenwert der Sassen-Interviews nachvollziehbar für ein gro- vollständige Beschreibung einer Kopie des Sassen-Transkripts. Er Er behauptete von Anfang an, dass es sich nicht um ordentliche Harlan, die mich 2009 zu den Polityka-Artikeln und von dort auf ßes Publikum zu dokumentieren. Umso enttäuschter war man bei sortierte die Seiten und bildete aus den Papiermengen überschaubare Abschriften handelte, sodass er eine Korrektur schon 1957 aufge- die Suche nach dem anderen Konvolut der Argentinien-Papiere führ- Polityka über die ausbleibende Resonanz. Rakowski notiert nach Aktenmappen, in denen er jeweils mehrere Tonband-Abschriften geben habe. Da man in Israel seine Korrekturen bis zum letzten ten. Mit tatkräftiger Hilfe von Tobias Herrmann und seinem Team Abschluss der Serie resigniert, dass sich noch nicht einmal die Medi- zusammenfasste. Auf diese Weise entstanden die berühmten zwei Band nicht hatte, ließ sich das auch nicht widerlegen. Die Krönung im Bundesarchiv Ludwigsburg gelang es, das Exemplar von Fritz en im Ostblock dafür interessiert hätten. Nur das DDR-Radio Berlin Leitz-Ordner mit siebzehn Ordnungsmappen, sechzehn davon für seiner Lügen ist aber die Behauptung, Sassen habe nur schlecht Bauer wieder zutage zu fördern und mit ihm den »Ordner Diverses«, habe eine Woche später um ein Exemplar der ersten Aussage gebe- die Transkripte und »File 17« für die 83 Seiten Handschrift-Ko- Deutsch gesprochen. Halsbrecherisch fordert Eichmann außerdem nämlich einen großen Teil an Eichmann-Handschriften, die in der ten.34 Im Westen brachten die Allgemeine Wochenzeitung der Juden pien.38 Die Einordnung ist nicht immer ganz richtig, weil Hagag immer wieder die Vorlage der Originaltonbänder zum Vergleich, setzt Israel-Kopie fehlten. Wer einmal entdeckt hat, dass nicht überall und die Welt eine Randnotiz, aber das blieb in Polen unbekannt.35 auch unbemerkt andere Argentinien-Papiere zwischen die Tonband- aber vorsorglich dazu, dass Sassen ihn zu Falschaussagen animiert das Gleiche drin ist, nur weil dasselbe draufsteht, erkennt auch, Offensichtlich glaubte jeder, dass es sich nur um einen Nachdruck Abschriften rutschten, aber es gelang doch unter dem damaligen habe, um gute Schlagzeilen zu produzieren. Auf diese Weise prägt dass es sinnvoll ist, sich wirklich jedes sogenannte Sassen-Interview der Life-Artikel handelte. Es gab aber noch etwas, das Rakowski Zeitdruck eine beachtliche Leistung. Offi ziell kam man auf 716 Eichmann verlogen den Begriff der »Wirtshausgespräche«, der aus noch einmal genau anzusehen. Es war diese Idee, schlicht Seiten nicht verstand: Warum der Generalstaatsanwalt in Israel, Gideon Seiten Transkript und 83 Seiten Handschrift. Zieht man davon drei stundenlangen gemeinsamen Studien von Geschichtstheorien kur- zu zählen, die auch die Papiere wieder interessant machte, die der Hausner, nur von (ursprünglich) 67 Tonband-Transkripten und 83 versehentliche39 Doppelpaginierungen ab, dann umfasst das Israel- zerhand hochprozentige Sentimentalitäten machte.42 Sassen habe ihn Schweizer Verlag zusammen mit den Tonbändern an das Bundesar- handschriftlichen Seiten sprach. Was Rakowski – und offensichtlich Exemplar Kopien von 713 getippten und 83 handgeschriebenen gelegentlich zu »Rückfällen« in nationalsozialistische Kategorien chiv Koblenz übergeben hatte. Dass es sich bei diesen Unterlagen auch Gideon Hausner – nicht ahnte, war, dass man in Polen schlicht Seiten bzw. Seitenteilen. verleitet. Dass die gesamte Sassen-Runde so gesehen ein einziger tatsächlich um einen großen Teil der verschollen geglaubten Sassen- ein umfangreicheres Exemplar und über einhundert Seiten Hand- Die Israel-Kopie ist offensichtlich aus verschiedenen Quellen Rückfall und das eigentliche Rauschmittel die Nazi-Ideologie war, Original-Transkripte handelte, und zwar inklusive der meisten Teile, schriften mehr hatte. Rakowski konnte sich einfach nicht vorstellen, zusammengesetzt. erinnerte Hausner viele Jahre sagte er natürlich nicht. die Sassen 1960 entnommenen hatte, habe ich zu diesem Zeitpunkt dass ein Zeitungsredakteur in Warschau mehr Dokumente nutzen später daran, dass auch er einen Teil dazu beigetragen hatte, und nicht einmal geahnt.44 konnte als ein israelischer Generalstaatsanwalt. Rakowski befi ndet der Autor der Stern-Artikel, Robert Pendorf, soll seine Kopien der Im Jahr 2011 ist die Forschungslage eine andere. 1979 verkaufte Heute verteilen sich die Argentinien-Papiere auf drei Archivbe- sich damit allerdings in guter Gesellschaft nicht nur mit der israeli- Handschriften geschickt haben.40 Dennoch sind die Israel-Kopien das nicht nur Robert Servatius seine Unterlagen an das Bundesarchiv. stände des Bundesarchivs. Auch wenn das Zusammensetzen einigen schen Anklagebehörde, sondern auch mit der Eichmann-Forschung. einzige Konvolut der Argentinien-Papiere geblieben, das eine größe- Auch Willem Sassen übergab die noch erhaltenen Original-Papiere Aufwand bedeutet, weil keine der Sammlungen vollständig ist, ergibt re Verbreitung gefunden hat und bis heute als Forschungsgrundlage und seine restlichen Tonbänder an die Familie Eichmann. Nachdem sich so doch eine Grundlage für künftige Forschung, die weit über Wir wissen bis heute nicht genau, woher Gideon Hausner seine dient. Der Grund dafür war letztlich ein Zufall: Das im Prozess so- man die Unterlagen zu der in jeder Hinsicht unhaltbaren Buchaus- das hinausreicht, was wir uns bisher unter dem Namen »Sassen- Version der Argentinien-Papiere hatte, denn sicher ist nur, dass er genannte »Sassen-Document« gehörte zu den Prozesspapieren, von gabe Ich, Adolf Eichmann43 verwertet hatte, verkaufte die Familie Interviews« vorgestellt haben.45 Die Argentinien-Papiere führen uns das Angebot von Polityka ausschlug, eine Kopie aus Polen anzuneh- denen selbstverständlich auch Eichmanns Anwalt Robert Servatius das Material an einen Verlag in der Schweiz. 1998 konnte Guido mitten unter Täter und ihre Sympathisanten zwölf Jahre nach dem men.36 Die Israel-Kopien sind im Vergleich zu den in Linz gestohle- eine Kopie bekam, und als Servatius 1979 seine Unterlagen aus dem Knopp diesen Bestand für seine Fernsehserie HITLERS HELFER nutzen. Untergang des Hitler-Regimes. Sie enthalten neben einer Fülle zu nen Unterlagen so schlecht, dass wir auch ausschließen können, dass Eichmann-Prozess an das Bundesarchiv in Koblenz verkaufte, war Das erste Mal war für jedermann zugänglich, wie sich Eichmann in untersuchender historischer Angaben das Abbild einer Gesprächskul- Hausner sich eine Kopie von Fritz Bauer schicken ließ. Der Grund das Israel-Konvolut die erste Version der Argentinien-Papiere, die Argentinien wirklich angehört hatte. Der Schweizer Verlag lagert tur, die ein grelles Licht auf das nationalsozialistische Denken und Papiere und Tonbänder seither im Bundesarchiv Koblenz (N1497: seinen Zusammenhang mit den Verbrechen wirft. Sich mit diesen Nachlass Eichmann). Irmtrud Wojak, die sich als Erste der Aufgabe Unterlagen zu beschäftigen ist deshalb nicht nur die Pfl icht von Dzienniki polityczne 1958–1962, Warszawa 1998, S. 286. Die schriftliche Fas- Historikern, sondern auch ein Prüfstein für jeden, der die Dimensi- sung des Gutachtens der Zentralen Kriminalpolizei (Warschau) folgte am 37 Hagag-Gutachten vom 31.5.1961, Prozessdokument (Hebräisch) T/1392. Hagag on der Frage begreifen möchte, die Karl Jaspers46 als die schwerste 9.5.1961 und wurde zum Teil in der ersten Artikelfolge mit abgedruckt. Ich danke nennt als Zeitpunkt der Übergabe aller Seiten eindeutig den 25.5.1961, erwähnt philosophische Aufgabe nach 1945 formuliert hat: »Zu welchem Christian Ganzer für seine Hilfe beim Übersetzen der polnischen Texte. aber zwei sachlich vorangegangene Gutachten vom 17.3. und 10.4.1961. In nur 41 Eichmanns Polemik gegen die Dokumente zieht sich durch das Kreuzverhör. Vgl. Gedanken habe ich das Recht?« 33 Die Übersetzung des Transkripts mit den Erläuterungen gibt Polityka mit 1.258 sechs Tagen wäre das Gutachten über die Berge an Seiten auch nicht machbar ge- insbesondere die Sitzungen 13.–20.7.1961. Seiten an. Das Manuskript soll im Zeitungsarchiv leider nicht mehr existieren. wesen. 42 Das Missverständnis, dass Alkohol eine wesentliche Rolle gespielt habe, beruht Nach den Erinnerungen von Krystyna Zywulska, der Freundin von Harlan, wurde 38 In der Literatur wimmelt es von Zeugen, die angeblich diese zwei Leitz-Ordner auf Bemerkungen über Weinkorken im Protokoll. Das Geräusch des Entkorkens es in allen Kopien entwendet. Allerdings sind die Erinnerungen von Zywulska, so mit den 17 Foldern in Sassens Haus gesehen haben wollen. Diese Zeugen kann hört man zwar auch auf den Tonbändern, aber Eichmann unterschlägt, dass die wie sie ihrerseits Liane Dirks erinnert (und auch in einem Roman verarbeitet hat), man zweifelsfrei widerlegen, denn Sassen besaß schließlich gut 400 Seiten mehr Sassen-Runde so groß war, dass noch nicht einmal eine Flasche Whisky in zwei 44 Mit herzlichem Dank an Manuela Lange vom Bundesarchiv Koblenz für ihre je- nicht immer zuverlässig. Vgl. Liane Dirks, »Eingriff auf höchster Ebene«, in: Material. Wenn er also, so wie Hagag, sortiert hätte, wäre er auf etwa 28 Folder Stunden für eine nennenswerte Wirkung gereicht hätte. derzeit engagierte Hilfsbereitschaft. Frankfurter Rundschau, 20.6.2006; dies., Und die Liebe? frag ich sie. Die unge- gekommen. 43 Rudolf Aschenauer, Ich, Adolf Eichmann. Ein historischer Zeugenbericht, Leoni 45 Meine Seitenkonkordanz zu allen bis heute aufgetauchten Blättern der Argentini- schriebene Geschichte der Krystyna Zywulska. Roman. Zürich 1998. 39 Es handelt sich eindeutig um ein Versehen, denn es gibt bei den Doppelpaginie- am Starnberger See 1980. Die Komposition mit deutlich revisionistischen Ten- en-Papiere mit Hinweisen auf den Fundort in den drei Beständen kann bei mir 34 Rakowski, Dzienniki polityczne, Tagebucheintrag vom 20.6.1961, S. 293 f. rungen keinen Hinweis auf später entfernte Seiten. Doppelt gezählt sind 112=113, denzen kann heute im Einzelnen rekonstruiert werden. Manuskript-Kopie im angefragt und im Bundesarchiv benutzt werden. Eine Kopie fi ndet sich außerdem 35 Ich persönlich verdanke dieser kleinen Randnotiz in der Allgemeinen Wochenzei- 224=225, 508=509. BArch K, Nachlass Eichmann, N1497/77-86. Der Grund, warum diese Ausgabe im Archiv des Fritz Bauer Instituts. Bettina Stangneth, »Die Argentinien-Papiere. tung der Juden den ersten Hinweis auf die Polityka-Veröffentlichungen. Vgl. 40 Brief Wiesenthal an Hausner, 5.10.1980, Simon Wiesenthal Archiv, Korrespon- keine verlässliche Quelle darstellt, ist aber die Aufl ösung der Dialogstruktur und Verteilungsgeschichte und heutiger Bestand. Annotiertes Findbuch zu den Be- auch Die Welt, 24.5.1961. denz. Ich danke Michaela Vocelka für die schnelle Zusendung. Zum Pendorf-Ma- die Vermischung von Eichmann-Aussagen mit Äußerungen anderer Teilnehmer ständen des Bundesarchivs«, unveröffentlichtes Manuskript, Hamburg 2011. 36 Rakowski hatte Hausner eine Übergabe der Dokumente angeboten. terial vgl. National Archives, RG 263, CIA Name File Adolf Eichmann. der Sassen-Runde. 46 Karl Jaspers, Die großen Philosophen, München 1988 (1. Aufl . 1957), S. 75.

24 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 25 an seine Vorgesetzten in Deutschland schrieb, ist seine wachsende Mängel in der Vorbereitung des Falls wie auch der vorgelegten Desillusionierung anzusehen. Bereits aus ersten Unterhaltungen mit Beweismittel wurden immer deutlicher:13 Erstens waren die relevan- den israelischen Staatsanwälten entnahm er, dass wohl einzelnes ten Archive gar nicht oder unsystematisch ausgewertet worden. So neues Material, aber »keine grundlegend neuen Belastungen gegen musste Zeug feststellen, dass dem für die Ermittlungen zuständigen einen noch nicht erfassten Personenkreis« zu erwarten waren.5 Als Büro 06 (Israel Police) das Berlin Document Center (BDC) nicht Staatsanwalt Zeug in Jerusalem guter Kenner der Materie konnte Zeug auf der Basis der in Gideon bekannt war.14 Andere Archive, wie das des Auswärtigen Amts oder Hausners Eröffnungsrede aufgeführten Sachkomplexe den Vergleich das Staatsarchiv in Nürnberg, waren nicht systematisch auf den Zum Kenntnisstand der Anklagebehörde zu deutschen Ermittlungsverfahren ziehen.6 Er wies dabei auch kri- Eichmann-Fall hin ausgewertet worden.15 Kurz, der Prozess war tisch auf Defi zite hin, auf Verfahren, die noch nicht eingeleitet oder nicht mit der gebotenen Sorgfalt vorbereitet worden. im Eichmann-Prozess und der Strafverfol- nicht mit der nötigen Intensität bearbeitet worden waren.7 Ein aus Zweitens hatten Hausner und seine Mitarbeiter keine wirklich Anlass des Eichmann-Prozesses besonders hervortretendes Ver- fundierte Kenntnis der Befehlsstrukturen und Unterstellungsverhält- gungsbehörden der Bundesrepublik säumnis war der Fall Eberhard von Thadden, der als Judenreferent nisse der Dienststellen, die den Massenmord an den europäischen im Auswärtigen Amt mit Eichmann zusammengearbeitet hatte; ein Juden begingen. Schon in der Anklageschrift war Zeug aufgefallen, Verfahren gegen ihn war 1956 eingestellt worden.8 dass nicht der SSPF als der Hauptverantwortliche für die Ver- von Ruth Bettina Birn Hausners Präsentation des Falls war auf den Aussagen von nichtungslager der »Aktion Reinhard« (Bełżec, Sobibór, Treblinka) Dem Eichmann-Prozess wird zugeschrieben, Holocaust-Überlebenden aufgebaut. Zeug, der aus seiner eigenen bezeichnet wurde, sondern ein nicht existierender »Befehlshaber der den entscheidenden Impuls für die Aufnah- Arbeit die Wichtigkeit von Augenzeugen kannte, listete auf, zu wel- « Lublin.16 Aufgrund mangelnder Sachkenntnis me der Strafverfolgung von Nazi-Tätern chen Sachkomplexen die Zeugen aussagen konnten. Er schickte erkannte die Anklagebehörde die Wichtigkeit einiger Aussagen Eich- in der Bundesrepublik gegeben zu haben. fortlaufend Kopien der Prozessunterlagen nach Deutschland, ebenso manns nicht, in denen er Eingeständnisse machte.17 Im Verlauf des Ruth Bettina Birn, Dr. phil, seit 1986 Bereits Hannah Arendt vertrat die Ansicht, dass erst der Eichmann- in Israel erhältliche Literatur zum Holocaust.9 Zeug urteilte, dass es Verfahrens wurde immer deutlicher, dass Hausner Eichmanns Rolle in der Strafverfolgung von internati- Prozess die nicht motivierten deutschen Behörden dazu angespornt wohl gelingen werde, »das Gewissen der Menschheit aufzurütteln«, überzeichnete, ohne seine tatsächliche Stellung in der Mordmaschi- onalen Verbrechen tätig, 1991–2005 habe, die Strafverfolgung von Nazi-Tätern aufzunehmen; mittler- der Prozess für den Fachmann aber »sehr wenig an neuem Material nerie zu berücksichtigen.18 Selbstverständlich bestand für Zeug kein Chief Historian, War Crimes and weile ist dies zur nicht mehr hinterfragten Gewissheit geworden.1 erbringen« werde.10 Zweifel daran, dass Eichmann eine wichtige Rolle gespielt hatte, also Section, Einer kritischen Überprüfung hält diese Annahme nicht stand. Das Bald ging Zeugs Kritik darüber hinaus. Er kommentierte nicht nicht, wie von der Verteidigung vorgebracht, ein »Befehlsempfänger Department of Justice, . Buch- geht schon aus den Berichten eines Prozessbeobachters hervor, Diet- nur, dass kein neues Material zu erhoffen sei, sondern dass die veröffentlichungen: Die Höheren SS- rich Zeug (1930–1997), vom hessischen Justizministerium als der deutschen Behörden über erheblich mehr Kenntnisse der Ereignis- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter »beste Sachkenner des Eichmann-Komplexes« bezeichnet.2 Er war se verfügen würden, auch mehr Zeit und Arbeit in die Aufklärung 13 Einen Grund dafür beschreibt Zeug so: »Darauf entgegnete einer der anwesenden 11 im Reich und in den besetzten Gebie- seit dem 4. Mai 1959 von Hessen zur »Zentralen Stelle der Landes- von Nazi-Verbrechen investiert hätten. Ein Beispiel dafür, wie Offi ziere des Büros 06 ziemlich kleinlaut: ›Wir haben halt wenig Erfahrung ge- ten (Düsseldorf 1986); Eine Nation justizverwaltungen« in Ludwigsburg abgeordnet und sollte den ihm viel Wichtiges die deutschen Ermittlungsbehörden hätten beitragen habt und das ist auch der erste und letzte Prozess, den wir machen.‹ Dass man auf dem Prüfstand. Die Goldhagen- vorgesetzten Justizbehörden über neue Erkenntnisse berichten, die können, war die von Zeug im Januar 1961 durchgeführte Verneh- diese mangelnde Erfahrung nicht z.B. durch eine Fühlungnahme mit uns ausge- These und die historische Wahrheit, für deutsche Ermittlungen relevant sein könnten.3 mung von Georg Michalsen (früherer Judenreferent im Stab des glichen hat, bleibt eines der größten Versäumnisse des Eichmannprozesses. Einer der Gründe hierzu dürfte insbes. in einer überbetont nationalen Einstellung zu hrsg. zus. mit Norman G. Finkelstein, Zeug war mit hohen Erwartungen nach Jerusalem gekommen SS- und Polizeiführers (SSPF) Lublin), derzufolge Eichmann einer fi nden sein, die man in Israel immer wieder fi ndet. Man wollte einen rein israeli- Hildesheim 1998; Die Sicherheitspoli- und wurde von den Kollegen der israelischen Generalstaatsanwalt- Liquidierungsaktion im Warschauer Ghetto im Sommer 1942 als schen Prozess machen, möglichst nur mit eigenem Material und ohne große Hilfe zei in Estland 1941–1944. Eine Studie schaft gut aufgenommen.4 Den neunundzwanzig Berichten, die er Beobachter beiwohnte. Diese Aussage belastete Eichmann schwer, von außen.« (Bericht 28.7.1961). zur Kollaboration im Osten, Pader- sie konnte aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in den Prozess ein- 14 Bericht 28.7.1961. Dokumente aus Eichmanns BDC File fi nden sich unter den Beweisdokumenten, laut Cesarani entstammten sie aber Dokumentensammlun- 12 born 1998. geführt werden. gen von Tuvia Friedman in Haifa. Vgl. , Eichmann. His life and crimes, London 2005, S. 248. 1 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bö- 15 Berichte 26.4.1961, 29.5.1961. sen, 4. Aufl ., München 2009, S. 82–91. 16 Bericht 11.4.1961. Auch in anderen Punkten zeigt sich, wie beschränkt das Wis- 2 11.1.1961, Vermerk Bundesjustizministerium, Bundesarchiv (BArch) Koblenz 5 Bericht 16.4.1961. sen der Anklagebehörde war. So verhinderte Generalstaatsanwalt Hausner die La- B 141/21887. 6 Bericht 21.4.1961. dung von Zeugen durch die Verteidigung, weil er Naziverbrechern kein freies Ge- 3 Zeug blieb bis Ende 1970 in Ludwigsburg, kam nach Kassel und wurde dort 1974 7 Berichte 21.4.1961, 26.4.1961, 7.5.1961. leit zusichern wollte. Er machte dabei zwei Ausnahmen: Wilhelm Höttl und Leiter der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Kassel. – Auch aus Österreich 8 »Es ist leider so, daß durch die mangelhafte Bearbeitung von so herausragenden Walter Huppenkothen. Zeug machte die Anklagebehörde darauf aufmerksam, waren zwei mit Ermittlungen gegen Nazi-Täter beschäftigte Polizeioffi ziere an- Verfahren gegen prominente Beschuldigte wie von Thadden oder Reinefarth usw. dass Huppenkothen von 1940 bis 1941 Kommandeur der Sicherheitspolizei in gereist, ihre Berichte befi nden sich im Österreichischen Staatsarchiv (BMI GZ unsere gesamte Arbeit in Mißkredit gerät. (…) Es müßte doch möglich sein, we- Lublin gewesen und deshalb an der ersten Phase der Judenverfolgung beteiligt 20.765-2A/62). Die Verfasserin dankt Dr. Jerabek dafür, dass er ihr die Berichte nigstens solche Fälle, die die Öffentlichkeit besonders interessieren, sorgfältig zu gewesen war, Bericht 7.5.1961. zugänglich gemacht hat. bearbeiten«, Bericht 17.5.1961. 17 Ein wichtiges Eingeständnis Eichmanns war, dass er »Fahrpläne für Aussiedlung 4 11.4.1961, Zeug an OStA Heinz Wolf (StA b. LG Frankfurt/M.), Hauptstaatsar- 9 Berichte 8.6.1961, 20.6.1961, 12.7.1961, Fritz Bauer Institut, NSG/Eichmann-4. aus Ostgebieten ins KL Lublin erstellt« habe. »Diese Einlassung war völlig neu. chiv Stuttgart EA 4/106, Bü 12. Alle Berichte Zeugs stammen aus demselben Be- 10 Bericht 21.4.1961. Obgleich gerade insoweit die Anklagevertretung bis jetzt kaum Material gegen stand. Sie werden im Folgenden mit »Bericht« und Datum zitiert. Zeug fand bald 11 Berichte 26.4.1961, 10.5.1961. Eichmann hat, wurde dem nicht näher nachgegangen«, Bericht 5.7.1961. heraus, dass den israelischen Justizbehörden die Ermittlungsarbeit in Deutschland 12 24./25.1.1961, Vernehmung Georg Michalsen, Bundesarchiv-Ludwigsburg 18 Zeug zufolge waren sich auch die israelischen Staatsanwälte bewusst, dass ihr weitgehend unbekannt war, Bericht 16.4.1961. (BArch-L) B 162/2062. Fall große Lücken hatte, Bericht 26.4.1961.

26 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 27 einer unteren Stufe in dem gesamten in die Judenvernichtung ein- wie schon zuvor, durch bombastische Rhetorik die fehlenden Be- geschalteten Staatsapparat war«.19 weise zu überspielen. Man könne, so Zeug, dadurch, dass man von Es zeigte sich auch, dass Hausner nicht nur schlecht unter- Eichmann als einer »Greuelgestalt« oder als einer »Inkarnation alles richtet, sondern an einer Klärung der tatsächlichen Gegebenheiten Schlechten« spreche, sachliche Beweise nicht ersetzen.26 nicht interessiert war.20 Recht fragwürdige Beweismittel wurden in das Verfahren eingeführt;21 zu den problematischen Beweismitteln Zeugs Ansicht, dass die israelische Generalstaatsanwaltschaft gehörten Aussagen anderer Nazi-Täter vor den Nürnberger Ermitt- von einer Zusammenarbeit mit der Zentralen Stelle hätte profi tie- lungsbehörden, in denen Eichmann belastet wurde.22 Zeugs Kom- ren könnnen, wird von der Verfahrensübersicht bestätigt.27 Daraus mentare wurden zusehends negativ. Am 10. Mai 1961 schlug er geht hervor, dass Verfahren zu den entscheidenden Sachkomple- seinen Vorgesetzten vor, vorzeitig zurückzukehren, weil ihm seine xen lange vor dem Eichmann-Prozess eingeleitet worden waren. Arbeit in Ludwigsburg wichtiger erschien.23 Vor allem in Hausners Ermittlungsverfahren zum KL Auschwitz28 und den Vernichtungs- Kreuzverhör wurden die Defi zite immer deutlicher.24 Am 15. Juli lagern der »Aktion Reinhard«29 sowie zu Majdanek30 waren 1958 1961 sprach Zeug von einem Schauprozess: »In sachlicher Hin- und 1959 eröffnet worden, ebenso gegen einige zentrale Figuren der sicht ist Generalstaatsanwalt Hausner dem Angeklagten nicht immer Massenvernichtung im »Generalgouvernement«.31 Ermittlungen das ganz gewachsen. Die Führung des Kreuzverhörs durch Hausner Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof betreffend liefen ebenfalls seit zeigt erneut, daß sich die Anklagevertretung keine ausreichende 1959.32 Gegen die Mehrzahl der Einsatzgruppen und -kommandos Kenntnis von den komplizierten Zusammenhängen innerhalb des und den aus diesen hervorgegangenen Sicherheitspolizeidienststel- Staatsapparats des ›Dritten Reiches‹ erarbeitet hat. Die Stellung len in der Sowjetunion wurden Ermittlungen zwischen 1958 und des Angeklagten in diesem Apparat wird immer wieder überzeich- 1960 eingeleitet.33 Das »Generalgouvernement« betreffend waren net, was ständig neue unnötige Diskussionen mit dem Angeklag- zahlreiche Tatorte aufgeführt; zu Lemberg (inklusive Zwangsarbeits- ten verursacht. Es wird seitens der Anklagevertretung dabei oft der lager Janowskastraße), wozu im Eichmann-Prozess Zeugen gehört Versuch gemacht, Dinge nachzuweisen, die nicht den historischen wurden, liefen mehrere Ermittlungen seit 1959.34 Dasselbe gilt für Tatsachen entsprechen, was dem Angeklagten die Möglichkeit gibt, Warschau.35 Ermittlungen zu Eichmanns Dienststelle wurden von der sachlich zutreffende Einwände zu machen. Dies gilt insbes. für die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main seit 1956 betrieben.36 Die Auf- Erörterung der Vorgänge in Rußland und dem Generalgouvernement arbeitung von Deportationen in die Vernichtungslager aus süd- und (…) Hausner plädierte teilweise nicht um der Sache willen, sondern westeuropäischen Ländern dagegen, die unter der Zuständigkeit von offensichtlich lediglich zum Publikum hin. Besonders unangenehm Eichmann und seinen Mitarbeitern standen, war nicht so weit fort- waren seine wiederholten Ausfälle gegen den Angeklagten, die zwar geschritten.37 Ermittlungen gegen einzelne Mitarbeiter des Reichs- beim Publikum gut ankamen, jedoch der Objektivität des Verfahrens sicherheitshauptamtes (RSHA) gingen schon auf 1950 zurück (das schadeten.«25 Das Schlussplädoyer Hausners bestätigte Zeugs Ein- Sammelverfahren gegen das RSHA beim Generalstaatsanwalt Berlin schätzung noch einmal. Nicht nur war sich der Generalstaatsanwalt ist erst auf 1963 datiert).38 Die Konzentration auf Massenverbrechen, Staatsanwalt Dietrich Zeug war im Auftrag der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main als Beobachter des Eichmann-Prozesses in Jerusalem. über Eichmanns tatsächliche Rolle nicht im Klaren, er versuchte, Fotos: Andreas Zeug

26 Bericht 17.8.1961. insbesondere die Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Polen einer eigenen Dynamik, die abhing von den Lernprozessen, die die 19 Bericht 5.7.1961. 27 Übersicht über Verfahren wegen NS-Gewaltverbrechen, Stand vom 1.12.1961, 20 »Andererseits hat hierbei jedoch offensichtlich auch eine Rolle gespielt, daß bei BArch-L B 162/82. In den Aktenzeichen ist (nach dem Schrägstrich) das Jahr ent- und der Sowjetunion, entsprach dem Ziel, das der Zentralen Stelle Ermittler durchliefen, und einer immer breiteren Palette von Infor- einer sorgfältigen Aufgliederung der Befehlsverhältnisse die Behauptung der An- halten, in dem das Verfahren eingeleitet wurde. gesetzt war, nämlich der systematischen Aufarbeitung von Taten, mationsquellen. Der folgende Ablauf ist typisch: Zu Beginn kamen klage, Eichmann sei in nahezu alle Vorgänge eingeschaltet gewesen, nicht mehr 28 2 AR-Z 37/58. die außerhalb der BRD, besonders in Osteuropa, begangen worden die ersten Informationen aus Überlebendenberichten in Yad Vashem. hätte aufrecht erhalten werden können«, Bericht 21.6.1961. 29 8 AR-Z 230/59, 8 AR-Z 251/59, 8 AR-Z 252/59. waren, bevor die Verjährung einsetzte. Darauf baute die Suche nach Verdächtigen und täterspezifi schen 21 Zeug fand bemerkenswert, dass die Anklage »größten Wert« darauf legte, dass 30 8 AR-Z 268/59. 40 »die zahlreichen bekannten Broschüren« der Hauptkommission zur Untersu- 31 Zum Beispiel Karl Wolff: 8 AR-Z 203/59; Dietrich Allers: 8 AR-Z 235/60. Ein Blick in die Akten selbst zeigt weder eine Beeinfl ussung Dokumenten auf. Dazu wurden deutsche Archive ausgewertet. chung der Nazi-Verbrechen in Polen als Beweismittel anerkannt werden, Bericht 32 3 AR-Z 69/59. der Verfahren durch den Eichmann-Prozess noch grundsätzliche 10.5.1961. 33 Aktenzeichen auf den Seiten 24–49, Übersicht, BArch-L B 162/82. Veränderungen in den Jahren 1961/62.39 Die Ermittlungen folgten 22 Berichte 26.4.1961, 27.4.1961. Eichmanns Verteidiger Robert Servatius wusste 34 Aktenzeichen auf den Seiten 52–61, Übersicht, BArch-L B 162/82. vermutlich aus seiner Zeit als Verteidiger in Nürnberg, dass häufi g alle Schuld auf 35 Aktenzeichen auf den Seiten 62–62, Übersicht, BArch-L B 162/82. 40 Dazu gehörten: Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten An- einen Abwesenden (wie Eichmann) geschoben wurde. 36 Hermann Krumey und Otto Hunsche, 2 AR-Z 60/58 (StA Frankfurt/M. 4a Js gehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt), Berlin 23 Bericht 10.5.1961. 586/56); Adolf Eichmann 2 AR-Z 150/59. Document Center (BDC), Zentralnachweisstelle des Bundesarchivs (Korneli- 24 Zeug hatte das Vorwissen, um zu erkennen, wenn Eichmanns Aussagen »in vielen 37 Bulgarien: Adolf Beckerle, 1 AR-Z 59/59; Griechenland: Max Merten 8 AR-Z 39 Diese Einschätzung beruht auf der Durchsicht von Ermittlungsakten zu den oben münster), Entschädigungsakten, Spruchkammerakten, Akten der Nürnberger Pro- Punkten glaubhaft« waren, Bericht 21.6.1961. Später beschönigte Eichmann 139/59; Eichmann-Mitarbeiter , GStA FFM Js 141/60; Niederlande: aufgeführten Sachkomplexen bis zum Jahr 1962/63, BArch-L B 162, Bände zesse, SS-Rangdienstlisten, Kriegsverbrechersuchliste, Nürnberger Personalbö- mehr, Bericht 30.6.1961. Wilhelm Zoepf, 6 AR 518/59; Kroatien: Eichmann-Mitarbeiter Franz Abromeit, 2 1695, 2062, 2209–2210, 2638, 2958–2959, 3164–3171, 3243–3249, 3275–3276, gen, Heimatortskarteien, United Restitution Organization (URO). Die Bestände 25 Bericht 15.7.1961. Laut Zeug wurde der Ausdruck »Schauprozess« auch in der AR-Z 150/59. Belgien, Frankreich, Italien und Serbien waren wenig bearbeitet. 3301, 3407–3420, 3422, 3622–3624, 3819, 4425–4429, 4973–4976, 4632, 5018– des National Archive in Alexandria wurden von der Zentralen Stelle in den USA israelischen Presse gebraucht. Hausner verhielt sich daraufhin sachlicher. 38 Aktenzeichen auf den Seiten 108–109, Übersicht, BArch-L B 162/82. 5023, 5055, 5350–5252, 5610, 14193. ausgewertet.

28 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 29 Die Ermittler erkannten bald, dass, zum Beispiel im Berlin Was war der Kenntnisstand der Zentralen Stelle im Jahr 1961 Belastungszeuge vorgesehen und bekundete auch, daß Eichmann Document Center, breit recherchiert werden musste, über die Per- dazu?44 Im Rahmen der Ermittlungen gegen das Sonderkommando maßgeblich bei der Aufstellung der Einsatzgruppen zu Beginn des sonalakten einzelner Verdächtiger hinaus, um Informationen über Eichmann, vor allem dessen Einsatz 1944 in Ungarn, durch die Krieges mit Rußland tätig gewesen sei. Im Kreuzverhör mußte er Unterstellungsverhältnisse zu gewinnen. Sonderkommissionen der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main45 waren zwei Kommandoan- demgegenüber dann jedoch zugeben, daß er Eichmann in seinem Polizei machten die Verdächtigen ausfi ndig und verhörten sie. Viele gehörige, Otto Hunsche und Hermann Krumey, in U-Haft genom- seinerzeitigen Urteil und auch in einem späteren Buch noch nicht davon bestritten die Massenverbrechen, wie Vergasungen in Todes- men worden und machten zum Teil recht detaillierte Angaben.46 einmal genannt hatte.«51 lagern, nicht. Individuelle Taten hingegen leugneten sie. Aufklä- Die Staatsanwaltschaft hatte sowohl Belastungszeugen als auch Vorgeschichte der Einsatzgruppen und die Unterstellungsver- rung darüber kam von Überlebenden, die unter Mithilfe jüdischer mögliche Mittäter, wie SS-Führer und Diplomaten, die in Ungarn hältnisse waren von der Staatsanwaltschaft München bereits in der Organisationen, wie des , und vor allem des tätig gewesen waren, befragt.47 Während Hausner Eichmann, wie Anklageschrift vom 19.4.1960 gegen Otto Bradfi sch, Führer des »Landesstabs der Israel Police« unter Otto Liff gefunden wurden. von Zeug kritisiert, als »Zentralfi gur« betrachtete, kam die Staats- Einsatzkommandos 8, korrekt wiedergegeben worden. Das Referat Die deutschen Ermittler arbeiteten eng mit dem Landesstab zusam- anwaltschaft zu einer realistischeren Anschauung der Befehlsver- IV B 4 spielte dabei keine Rolle.52 men, der die Zeugen auch vernahm. (Diese Spezialisten scheinen zur hältnisse und führte den Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) Ein weiterer im Eichmann-Prozess dargestellter Verbrechens- Vorbereitung des Eichmann-Prozesses nicht herangezogen worden Ungarn, Otto Winkelmann, bereits am 3.5.1960 als Beschuldigten.48 komplex, für den Eichmann nicht verantwortlich war, war das »Son- zu sein.) Zeug benutzte seinen Aufenthalt in Israel auch zur Ver- Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und der Leiter der Zentralen Stelle, derkommando 1005«, das mit der Beseitigung von Massengräbern tiefung der Kontakte mit der Israel Police und mit dem Archiv von Erwin Schüle, kooperierten eng bei der Aufklärung von schwierigen beauftragt war. Die Zentrale Stelle betrieb ein Ermittlungsverfahren Yad Vashem.41 Sachverhalten, die später auch im Eichmann-Prozess auftauchen gegen ein Teilkommando, das »Sonderkommando Cholm«.53 Auch in sollten.49 Die Zusammenarbeit des Referats von Eichmann mit Si- diesem Fall waren die Unterstellungsverhältnisse seit Anfang 1960 Die Ermittlungsakten bestätigen also Zeugs Ansicht: »Wir haben cherheitspolizeidienststellen in besetzten Ländern wurde in dem geklärt, das Buch von Leon Wells54, einem Zeugen im Eichmann- in der Bundesrepublik mit den neuerlichen umfangreichen Ermitt- seit 1959 laufenden Ermittlungsverfahren gegen Wilhelm Zoepf, Prozess, der Zentralen Stelle55 bekannt, seit November 1960 lagen lungen mindestens 1½ Jahre früher begonnen. Der bei uns in die Leiter des Referats IV B 4 beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei detailierte Aussagen von Kommandoangehörigen vor.56 Wie sich Ermittlungen eingeschaltete Personenkreis ist etwa 10 bis 20 mal (BdS) Den Haag, beleuchtet. Es ging um Deportationen aus den herausstellte, waren einige der Überlebenden, die in Jerusalem aus- grösser als der hiesige. (…) Wir haben ausserdem in der Bundesre- Niederlanden.50 gesagt hatten, von der Israel Police für die deutschen Stellen bereits publik viel bessere Erkenntnisquellen, insbes. das Document Center Hausner versuchte, Eichmann mit der Verantwortung für die ermittelt und befragt worden.57 in Berlin, das Staatsarchiv in Nürnberg und vor allem als entschei- Einsatzgruppen zu belasten. Dafür war Michael Musmanno, Richter Zeug hatte seit Beginn seiner Tätigkeit in Ludwigsburg Ermitt- dende Quelle die z.T. umfassenden Geständnisse und Aussagen der im Fall 9 der Nürnberger Nachfolgeprozesse (Einsatzgruppen-Pro- lungen zu den Todeslagern der »Aktion Reinhard« vorangetrieben. ehemaligen SS-Angehörigen selbst.«42 zess), in den Zeugenstand gerufen worden. Dazu Zeug: »Musmano In einer Reihe von Berichten, die von Ende 1959 bis Anfang 1960 Ein Hauptkritikpunkt von Zeug war, dass Eichmanns Rolle nicht [sic] war hinsichtlich der angeblichen Einschaltung Eichmanns in datiert sind (also noch bevor auch nur die Entführung Eichmanns richtig eingeschätzt wurde: »(…) in wesentlichen Punkten war es die Vorgänge bei den Einsatzgruppen im wesentlichen als einziger bekannt geworden war), fasste er seine Ergebnisse nicht nur zur nicht möglich, Eichmann eine Beteiligung an den angeklagten Teil- »Aktion Reinhard«, sondern dem Befehlsbereich des SSPF Lublin komplexen nachzuweisen. Zu diesen Komplexen gehören insbes. die allgemein zusammen: »Es handelt sich damit bei der Behörde des Einsatzgruppen in Russland und die polnischen Vernichtungslager, SS- und Polizeiführers Lublin zweifelsohne um diejenige Dienst- 44 Es sollte darauf hingewiesen werden, dass sich diese Ausführungen allein auf den vor allem die Vorgänge im Rahmen der ›Aktion Reinhard‹, d.h. also Kenntnisstand der Zentralen Stelle beziehen. Die Strafverfolgungen gingen in stelle der örtlichen NS-Verwaltungen in den Ostgebieten, in deren in Treblinka, Belzec und Sobibor. Insoweit – in Ziffern ausgedrückt drei Etappen vonstatten, Ludwigsburg war nur für den ersten Schritt, die Vorer- Bereich zahlenmäßig die meisten Opfer der NS-Gewaltherrschaft also etwa hinsichtlich eines Drittels der ›Endlösung‹ – müsste Eich- mittlungen, zuständig. Danach ging ein Verfahren an die zuständige Staatsanwalt- mann mangels Beweisen freigesprochen werden, ein Ergebnis, das schaft, die weiter ermittelte und Anklage erhob. Der dritte Schritt war das Ge- richtsverfahren. nicht überrascht, sondern zu erwarten war. (…) Überhaupt ist es 45 Sachstand 1959: 21.1.1959, Grabert, Untersuchungsrichter (UR) LG 51 Bericht 29.5.1961. Musmanno scheint die in Nürnberg von Zeugenkartellen ab- m.E. der Anklage nicht gelungen, den Nachweis dafür zu erbringen, Frankfurt/M. an Erwin Schüle (Zentrale Stelle Ludwigsburg (ZStL)), BArch-L B gesprochenen Geschichten unkritisch übernommen zu haben. dass es sich bei Eichmann um die Zentralfi gur der ›Endlösung der 162/2958. 52 19.4.1960, Anklageschrift gegen Otto Bradfi sch und andere, BArch-L B Judenfrage‹ handelte. Dies konnte auch nicht gelingen, da diese 46 Vernehmungen in BArch-L B 162/2958, 2959. Dazu: 16.1.1961, OStA Wolf an 162/3177. Bradfi sch befand sich seit dem 21.4.1958 in U-Haft. Die Annahme, die Israel-Mission in Köln, BArch Koblenz B 141/21887. dass den Einsatzgruppen vor Abmarsch in die Sowjetunion ein »Führerbefehl« 43 Ansicht der Anklage nicht zutreffend sein dürfte.« 47 Zum Beispiel Philip von Freudiger, der 1958 ein Affi davit für den Untersu- zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung gegeben worden sei, wird von der chungsrichter in Frankfurt am Main abgab. Im Juni 1961 wurde er dann ausführ- Forschung nicht mehr geteilt. lich befragt, BArch-L B 162/2959. Weitere Aussagen ebd. 53 8 AR-Z 395/59. 48 21.8.1961, Beschluss OLG Frankfurt/M., BArch-L B 162/5351. 54 Vgl Leon Weliczker (Wels), Brygada śmierci, Łódź 1946; dt. Ausgabe: Leon 49 Zu den Kindern von Lidice 4.12.1958, Schüle an Fritz Bauer, BArch-L B Weliczker Wells, Ein Sohn Hiobs, München 1963. 162/2954; zu Kurt Becher 23.7.1960, Schüle in Alexandria an Fritz Bauer, 55 2.4.1960, Zeug, Schlussbericht, BArch-L B 162/4973. 41 Berichte 16.4.1961, 2.5.1961, 7.5.1961. BArch-L B 162/2958. 1959 waren beide bestrebt, Medienberichte zum gegenwär- 56 BArch-L B 162/4975. 42 Bericht 26.4.1961. tigen Aufenthalt Eichmanns zu unterbinden, 3.12.1959, Schüle an Fritz Bauer, 57 14.9.1961, Untersuchungsreferent Landsberg an Liff, BArch-L B 162/4976. Der 43 Bericht 29.5.1961. Nicht nur das RSHA, auch der Persönliche Stab Reichsführer BArch-L B 162/5350. Leiter der Zentralen Stelle hatte aufgrund der Berichte Zeugs die zuständige SS, das Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, die Kanzlei des Führers usw. waren 50 Das Verfahren bei der Staatsanwaltschaft München II war durch direkte Interven- Staatsanwaltschaft Heilbronn auf diese Zeugen aufmerksam gemacht, 28.6.1961, maßgeblich beteiligt. Nach Zeugs Einschätzung gab es 20 bis 30 ebenso wichtige tion niederländischer Behörden zustande gekommen. Zum Sachstand: Schüle an StA Heilbronn; 23.8.1961, LG Heilbronn, Eingangsstempel ZStL, Personen. 26.10.1959, StA München II an ZStL, BArch-L B 162/5610. BArch-L B 162/4975.

30 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 31 zu verzeichnen sind.«58 Beschrieben werden nicht nur die Trans- behilfl ich sein können. Eine Aussage im Eichmann-Prozess, die einen porte in die Vernichtungslager, die Details der Vergasungen und die hohen Bekanntheitsgrad erlangt hat, ist die von Rivka Yosselewska, »unglaublichsten und grauenhaftesten Exzesse«59, sondern auch die mit ihrer gesamten Familie einer Erschießungsaktion zum Opfer Erschießungen und Deportationen, aufgelistet nach den Kreisen, in fi el. Nur ihr gelang es, sich aus dem Massengrab herauszuarbeiten.65 denen diese Verbrechen verübt worden waren. Zudem konnten die Eichmann hatte mit der Ermordung von Rivka Yosselewskas Familie komplexen Zuständigkeitsverhältnisse der »Aktion Reinhard« ge- nichts zu tun, der Verantwortliche für die Mordaktion 1942 hieß Adolf Eichmann und seine Verteidiger klärt werden, neben dem SSPF Lublin war die »Kanzlei des Führers« Alfred Renndorfer, der Leiter der Außenstelle der Sicherheitspolizei beteiligt, der die Euthanasieaktion unterstanden hatte. Eichmann und in Hansewicze, in dessen Zuständigkeitsbereich der Heimatort der Ein kleiner Nachtrag zur Rechtsgeschichte sein Referat waren in diese Befehlswege nicht eingeschaltet. Zeug Zeugin lag.66 Die Zuständigkeitsverhältnisse im »Generalkommis- hatte auch die Kommandanten der drei Vernichtungslager und deren sariat Weissruthenien« und die Massenverbrechen an der jüdischen Vertreter ermittelt, ebenso zahlreiche Angehörige des Lagerperso- Bevölkerung waren, schon aufgrund mehrerer Parallelverfahren, von Willi Winkler nals. Der stellvertretende Kommandant von Treblinka, , gut aufgeklärt,67 der Befehlsweg für die Ghettoaktionen lief vom konnte bereits am 2.12.1959 verhaftet werden.60 Befehlshaber zum Kommandeur der Sicherheitspolizei an die Au- Praktischen Nutzen hatte der Eichmann-Prozess für die Ermitt- ßenstellen.68 Renndorfer wurde am 4.12.1959 ermittelt.69 Vermutlich lungen zum Vernichtungslager Chełmno. Die grundlegenden Fakten aufgrund von Zeugs Berichten versuchte die Staatsanwaltschaft waren auch hier schon vor 1961 geklärt, zudem waren zahlreiche Rivka Yosselewska als Zeugin zu gewinnen.70 Aus welchen Grün- Am 27. Dezember 1960 meldet sich der Angehörige der Lagermannschaften bereits 1960 ermittelt und ge- den auch immer kam sie dieser Aufforderung nicht nach, sodass sie Rechtehändler Josef von Ferenczy bei Ro- ständig (inklusive der Fahrer der Gaswagen).61 Am 1.2.1960 war zwar gegen Eichmann, aber nicht gegen den Mörder ihrer Familie bert Servatius und signalisiert sein Interesse als möglicher Verantwortlicher der ehemalige HSSPF »Warthe«, aussagte.71 an der Geschichte von dessen Mandanten, , verhaftet worden, der seine Zuständigkeit bestritt.62 Zeug hat in seinen Berichten auf das Hauptproblem des Eich- Willi Winkler, Studium der Sprach- dem ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Feren- Zeug bemerkte, dass Eichmann in seinen Aussagen vor der israeli- mann-Prozesses hingewiesen: »(…) daß der Prozess zwei nicht und Literaturwissenschaften an der czy verweist darauf, dass er »im In- und Ausland durch die Tätigkeit schen Polizei Koppe als den Zuständigen bezeichnete, und gab diese miteinander vereinbare Zwecke verfolgt, nämlich einmal die Ab- Ludwig-Maximilians-Universität in meiner 80 Autoren Romane und Tatsachenberichte in Illustrierten Information an die Staatsanwaltschaft Bonn weiter.63 Zudem sagten urteilung des Angeklagten Eichmann – der nur in einen Teil der München und der Washington Uni- und Magazinen veröffentlicht« habe.1 Eichmann, die Bestie, darf da in Jerusalem drei Überlebende von Chełmno aus, die dann von der Geschehnisse eingeschaltet war – und zum andern eine historische versity in St. Louis, Missouri (USA). nicht fehlen. Der Makler hatte das kommerzielle Potenzial dieser Israel Police für das deutsche Verfahren befragt wurden.64 Darstellung aller Geschehnisse«.72 Die im Gerichtssaal beschrie- Nach Abschluss des Studiums Redak- einmaligen Geschichte erkannt, allein, er kommt zu spät, ein anderer Die Zentrale Stelle hätte der israelischen Anklagebehörde benen Verbrechen gingen weit über das hinaus, was Eichmann zu teur bei der Wochenzeitung , Agent littéraire war noch etwas schneller gewesen. auch bei der Klärung des Verfolgungsschicksals einzelner Zeugen verantworten hatte – an einigen Punkten selbst über den Verantwor- Ressortleiter Kultur beim Magazin Eichmann war nicht nur der Menschheitsverbrecher, der in Jeru- tungsbereich von . Der Eichmann-Prozess gab, wie , seit 1998 als Autor vor- salem zum Tode verurteilt und gehängt wurde, Eichmann war auch ein gezeigt wurde, nicht nur nicht den Anstoß zu neuen Anstrengungen nehmlich für die Süddeutsche Zeitung Geschäft, und er brachte Renommee. Robert Servatius, der fünfzehn zur Strafverfolgung von Nazi-Tätern in Deutschland, er eignet sich tätig. Zahlreiche Buchveröffentlichun- Jahre zuvor in Nürnberg Fritz Sauckel, den Generalbevollmächtigten für 58 Zitat aus: 12.4.1960, Zeug, Bericht, BArch-L B 162/1695 (8 AR-Z 74/60, zum auch nicht als historische Darstellung, weil er ein verzerrtes Bild gen, zuletzt: Die Geschichte der RAF, den Arbeitseinsatz, verteidigt hatte, meldete sich bei Robert Eichmann SSPF Lublin). Berichte von: 26.11.1959, Zeug, Schlussbericht, B 162/3819; 2 16.2.1960, Zeug, Schlussbericht, B 162/3167; 11.4.1960, Zeug, Vorläufi ger Ab- der Abläufe entwirft. Berlin 2007, und Der Schattenmann. und gab »sein Interesse an der Verteidigung meines Bruders kund«. schlussbericht, B 162/4426; 10.11.1960, Zeug, Zusammenfassung der bisherigen Von Goebbels zu Carlos: Das mys- Robert Eichmann plagte zunächst der Verdacht, dass Servatius weniger Ergebnisse, B 162/3167, alle BArch-L. teriöse Leben des François Genoud, Adolf verteidigen als vielmehr andere vor dessen Aussagen schützen 59 10.11.1960, Zeug, Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse, BArch-L B Berlin 2011. sollte, dass er also noch andere Interessen vertreten würde. In einem 162/3167. 60 2.12.1959, Zeug an Schüle, BArch-L B 162/3819. Für ein mit der »Aktion Rein- Foto: Martin Baus Artikel mit der Überschrift »Wer zahlt?« stellte der Spiegel bereits im hard« zusammenhängendes Verfahren gegen Helmut Kallmeyer, dessen Name Oktober 1960 »drei Personenkreise« vor, die »möglicherweise Wert mit dem Eichmanns in einem Dokument erscheint, fragte Zeug am 24.8.1961 65 The Trial of Adolf Eichmann. Record of Proceedings in the District Court of Je- darauf legten«, dass sich Eichmann »nicht zu weitschweifi g rechtfertigt: Eichmann, ob ihm Kallmeyer bekannt sei. Eichmann verneinte das, 29.9.1961, rusalem, State of Israel, Ministry of Justice, Vol. I, Jerusalem 1992. Der Zeugin › Beamte, die schon in Hitlers Ministerien dienten; Schüle an StA Kiel, mit Dienstlicher Äußerung Zeugs, BArch-L B 162/2209. Ei- scheint ihre Aussage schwergefallen zu sein, am ursprünglich vorgesehenen Ver- ne geplante Vernehmung Eichmanns zu einer Reihe von Ermittlungen kam nicht handlungstag konnte sie wegen eines Herzanfalls nicht erscheinen. › Industrielle, die zur Verwertung des jüdischen Vermögens mit den zustande, weil Eichmann sich weigerte. 66 202 AR-Z 95/59. SS-Dienststellen zusammenarbeiteten; 61 Vernehmungen in BArch-L B 162/3245, 3246. 67 Gegen Georg Heuser, Leiter Abteilung IV beim Kommandeur der Sicherheitspo- › Kollaborationspolitiker in den einstmals von der deutschen Wehr- 62 1.2.1960, SoKo Zentrale Stelle, BArch-L B 162/3243. Eichmanns Dienststelle lizei (KdS) Minsk, (AR-Z 282/59) und Gerhard Erren, Gebietskommissar Slonim macht besetzten und heute wiederum – durch die Nato – mit der war in den Befehlsweg nicht eingeschaltet. (AR-Z 228/50). 3 63 21.4.1961, Zeug an Zentrale Stelle; 22.4.1961, Zeug an Untersuchungsrichter 68 23.11.1959, Fragenkatalog ZStL, BArch-L B 162/3407. Bundesrepublik Deutschland verbündeten Staaten.« (UR) Bonn, beide Hauptstaatsarchiv Stuttgart EA 4/106, Bü 12. Eichmanns Ver- 69 4.12.1959, Bayerisches Landeskriminalamt (LKA) an ZStL; 7.12.1959, Dr. teidiger Dieter Wechtenbruch teilte dagegen dem Sohn Koppes mit, dass Eich- Schneider an Soko Zentrale Stelle, beide: BArch-L B 162/3407. mann Koppe nicht belasten würde, 27.9.1961, RA Dieter Wechtenbruch an RA 70 24.11.1961, StA München I an ZStL, BArch-L B 162/3416. Manfred Lohmann; 12.10.1961, Zeug, Dienstliche Äußerung, beide: BArch-L B 71 2.4.1964, Anklage Alfred Renndorfer, Wilhelm Daditschek mit Zeugenliste, 1 Bundesarchiv Koblenz (BArch K) All.Proz. 6/256. 162/3247. BArch-L B 162/3419. 2 Zit. nach: »Eichmann/Wer zahlt?«, in: Der Spiegel, Nr. 43 (1960), 19. Oktober 1960. 64 9.1.1962, Liff, Zwischenbericht, BArch-L B 162/3249. 72 Bericht 29.5.1961. 3 Ebd. Lustigerweise tauchen diese drei Kreise in einer dpa-Meldung vom

32 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 33 Der Spiegel nennt das kennerisch »plausible, jedoch nicht subs- bei der Abfassung ihrer Memoiren zur Hand gehe. In einem Brief tantiierte Hinweise«4, aber deswegen weiß er nicht unbedingt mehr. an die Zeitschrift Revue weist Servatius die Unterstellung zurück, Auch die Prozessbeobachterin Hannah Arendt hört von diesen Ge- er habe 100.000 Mark »aus undurchsichtigen Quellen erhalten«. rüchten und vermutet, dass Servatius »offenbar ganz andere Leute im »Ich stehe mit keinen früheren nationalsozialistischen oder anti- Sinn [hat] als gerade [Eichmann]. Es scheint sich darum zu handeln, semitischen Kreisen in Verbindung, die Zahlung von Kosten oder zu verhindern, daß bestimmte Namen genannt werden. (I.G. Farben, Honorar zugesagt hätten«.11 die das Gas in Auschwitz lieferten usw.) Seinem Assistenten wiede- Der Nachweis des Gegenteils ist nicht einfach. Dieter Wechten- rum, von einem wütenden Hass gegen Adenauer beseelt, liegt wohl bruch, Servatius’ Assistent in Jerusalem, den auch Hannah Arendt umgekehrt daran, gewisse Namen der Adenauer-Administration anführt, weigert sich mit Verweis auf seine Schweigepfl icht, Fragen abzuschießen, vor allem aber, Deutschland anzuprangern, daß die zum Prozess zu beantworten.12 Tatsächlich existiert ein Vertrag zwi- Auslieferung noch nicht einmal verlangt wurde.«5 schen ihm und Servatius, der das festschreibt. Wechtenbruch erhielt Im Briefwechsel mit ihrem väterlichen Freund und Lehrer Karl nach der am 17. Januar 1961 in Köln geschlossenen Vereinbarung Jaspers fällt der Name Krupp. Jaspers referiert ein weiteres Gerücht: 1.000 DM pro Monat. Unter Punkt 6 dieses Papiers, das sich auch »In Deutschland bedrohte Leute« hätten Servatius »gekauft, damit im Bundesarchiv befi ndet, heißt es: »Rechtsanwalt Wechtenbruch ihr Name nicht vorkomme«. Er selber zweifelt daran. »Wenn es aber verpfl ichtet sich, der Presse, Verlegern oder sonst an Veröffentli- der Fall sein sollte, und wenn gar israelische Richter aus politischen chung interessierten Personen keinerlei Mitteilungen über Prozeß- Gründen die volle Aufdeckung von allem, was vorkommt, unterlas- material oder Verfahren oder über Erklärungen und Mitteilungen des sen, dann müßte doch Lärm geschlagen werden.«6 Mandanten zu machen, auch wird er selbst keine Veröffentlichung Lärm schlägt der Anwalt Friedrich Karl Kaul aus Ostberlin, der vornehmen.«13 auf Betreiben der Bundesregierung in Jerusalem als Nebenklagever- Die Unterlagen zum Eichmann-Prozess gelangten nach Serva- treter allerdings nicht zugelassen wird. Er raunt von einem »über tius’ Tod ins Bundesarchiv. Sie sind erkennbar gefl öht, doch lassen 13 Millionen D-Mark betragenden Geheimfonds«7, den angeblich sich ihnen Hinweise auf eine Art doppelter Buchführung entnehmen. der Kanzleramtssekretär verwaltet und aus dem die So schreibt Servatius am 12. Januar 1962 an Wechtenbruch: »Was Verteidigung fi nanziert wird. Ihre Honoraransprüche betrifft, so war die mit Ihnen14 getroffenen Das ist natürlich reiner Quatsch. »Sicherlich«, so resümiert [!] Honorarvereinbarung auf die I. Instanz begrenzt. Die weitere Christina Große, »wäre es Servatius möglich gewesen, sich die guten Inanspruchnahme erfolgte nicht durch mich, sondern durch Herrn Wünsche für die Verteidigungsarbeit mit Nullen auf einem Scheck Rechenberg im Interesse der Publikation. Ich15 telegrafi erte Ihnen verzieren zu lassen, aber es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß daher, daß Ihre Tätigkeit auf Kosten der Familie Eichmann erfolgen er auf unbekannte Finanzierungsquellen zurückgriff.«8 müsse. (…) Wollen Sie sich bitte mit Herrn Rechenberg wegen Ihrer Und das kann ich widerlegen.9 Ansprüche in Verbindung setzen?«16 Gerüchte gab es immer. Christina Große erwähnt einen Zusam- Wer bitte ist Herr Rechenberg? Oben links: Adolf Eichmann bei der menhang mit dem seinerzeit berühmten Nazi-Fliegerhelden Hans- Von Herrn Wechtenbruch war dazu wie gesagt keinerlei Aus- Urteilsverkündung des Berufungsgerichts am 29. Mai 1962, in der das erstinstanzliche 10 Ulrich Rudel , mit dem Eichmann aus Argentinien bekannt gewesen kunft zu erlangen, dabei muss dieser Rechenberg doch eine wichtige Urteil zum Tod durch den Strang bestätigt wurde. sein muss, da sie sich beide an Willem Sassen hielten, damit er ihnen Rolle im Verteidigungsgeschäft gespielt haben. Für 12. September Foto: Ullstein Bild/AP 1961 ist eine Zahlung Rechenbergs in Höhe von 1.500 DM verzeich- net, für den 3. Januar 1962 eine weitere in Höhe von 2.500 DM. Oben rechts: Strafverteidiger Rechtsanwalt Dr. Robert Servatius. Dabei handelte es sich noch um bescheidene Beträge. Die gesamte Foto: Süddeutsche Zeitung Photo 12.12.1960 auf, die wiederum einen Kommentar der bürgerlichen israelischen Korrespondenz von Servatius durchzieht ein klagender Grundton, Zeitung referiert. es geht immer um Geld. Mit der Verteidigung Eichmanns erziele Links: Blick in den Gerichtssaal (1961): 4 Ebd. er kein angemessenes Honorar, sondern müsse sogar einen Kredit Im Glaskasten der Angeklagte Eichmann; 5 Brief von Hannah Arendt an Heinrich Blücher vom 8.5.1961, zit. nach: Hannah in der unteren Reihe v.l.: der deutsche Verteidiger Arendt/Heinrich Blücher, Briefe 1936–1968. Hrsg. und mit einer Einführung von aufnehmen und Schulden machen. Servatius beziffert die Kosten für Dr. Robert Servatius und der israelische Lotte Köhler, München 1996, S. 534. Generalstaatsanwalt Gideon Hausner; auf der 6 Brief von Karl Jaspers vom 3.4.1961, zit. nach: Hannah Arendt/Karl Jaspers, Richterbank: Yitzhak Raveh, Moshe Landau und Briefwechsel 1926–1969. Hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München, Zü- Benjamin Halevi. rich ²1987 [1985], S. 470. Foto: Süddeutsche Zeitung Photo 7 Friedrich Karl Kaul, Der Fall Eichmann, [Ost-]Berlin 1963, S. 126. 11 Zit. nach ebd., S. 62. 8 Christina Große, Der Eichmann-Prozeß zwischen Recht und Politik, Frankfurt am 12 Schreiben Dieter Wechtenbruchs vom 3.9.2005 und 7.10.2005. Main 1995, S. 83. 13 BArch K All.Proz. 6/257. 9 Vgl. auch Willi Winkler, Der Schattenmann. Von Goebbels zu Carlos: Das myste- 14 Im handschriftlichen Original zwei Mal »mit Ihnen«. riöse Leben des François Genoud, Berlin 2011. 15 Im Original verschrieben als »In«. 10 Vgl. Große, Eichmann-Prozeß, S. 82. 16 BArch K All.Proz. 6/257.

34 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 35 die Verteidigung zu Anfang auf 100.000 DM. Das schließt wieder- geforderten 100.000 DM fehlen. »Wir dürfen mit Sicherheit anneh- François Genoud. Rechenberg und Genoud kamen für Dr. Servati- Rexisten Léon Degrelle allerlei merkwürdige Szenarien durch- holte Reisen von Köln über München, möglicherweise noch Zürich men«, fasst Hanna Yablonka diese Regelung zusammen, »dass die us’ Spesen auf, jedenfalls einen Teil davon, und erhielten dafür das gespielt wurden.27 und Athen, nach Jerusalem ein, einen mehrwöchigen Aufenthalt im israelische Regierung Servatius’ Honorar im Bemühen übernahm, Eichmann-Copyright.« Die beiden, so der Autor weiter, »went about Genoud und Rechenberg erfahren im Sommer 1960, dass Ro- dortigen Hotel, für sich, für den Assistenten, für die Sekretärin. Die den deutschen Amtsträgern dabei behilfl ich zu sein, sich von je- shaking the can for Eichmann among wealthy former Nazis«.25 Also bert Servatius Eichmann verteidigen will. »Ce n’est donc pas notre Kanzlei zu Hause braucht einen Vertreter (es wurde dafür Gerhart der Verbindung mit Eichmann, seinen Taten und der Nazi-Zeit zu doch Krupp und die im Spiegel angeführten bewussten Kreise? choix, mais nous lui rendons visite, lui offrons notre appui moral Baum bestellt, der spätere Bundesinnenminister). distanzieren«.22 Nein. Obwohl sich in der Post von Servatius von vermutlich et matériel, lui exposons notre stratégie de défense«, wie Genoud Servatius besaß zunächst die Zusage von Hans Gawlik von Es reicht nur nicht, das Geld. Die (erfolglose) Verteidigung einschlägiger Seite Subventionsangebote fi nden, nimmt der Anwalt kurz vor seinem Tod seinem Biografen erläutern wird: »l’accusé der Zentralen Rechtsschutzstelle (ZRS), dass die Bundesrepublik Eichmanns brachte Servatius Ruhm und Ehre. In seinem Nachlass ein anderes wahr. Das geschieht klammheimlich, um seine Reputati- doit se refuser absolument à participer à une parodie de justice Deutschland für die Kosten der Verteidigung aufkommen werde. fi nden sich Dankschreiben aus aller Welt. Dennoch ist hier eine wei- on nicht zu gefährden, und fi ndet doch vor einem bemerkenswerten dépourvue de toute base légale.«28 Die ZRS versah auf Beschluss des Bundestages »die Aufgabe, den tere Annahme fällig: Servatius verfügte über Nebeneinnahmen, die Publikum statt. Ein Mossad-Agent meldet, dass sich Servatius An- Die materielle und moralische Hilfe liefert das Urheberrecht. geordneten Rechtsschutz derjenigen Deutschen sicherzustellen, die er aber gleichwohl dem Hauptverfahren verdankte. Im Verlag Ferd. fang August mit zwei Männern trifft. Bei den beiden handele es sich Das Urheberrecht ist jedoch nicht Servatius’, sondern Genouds in ehemals von deutschen Truppen besetzten Staaten (Frankreich, Harrach in Bad Kreuznach veröffentlicht der Anwalt im Herbst 1961 um »aktive Nazis, die mit Nazi-Kreisen in verschiedenen Ländern Spezialgebiet, wie nicht zuletzt das Münchner Institut für Zeit- Belgien, Holland …) wegen des Verdachtes oder unter Anklage der sein Plädoyer von Jerusalem; in der Frankfurter Allgemeinen wird verbunden« sind.26 Da die Namen in der Aufzeichnung geschwärzt geschichte leidvoll erfahren musste. In einem Brief klagt der Beteiligung an Kriegsverbrechen festgehalten wurden«.17 Eichmann dafür eine Anzeige geschaltet.23 Der oben erwähnte Hans Rechen- sind, lässt es sich nicht beweisen, aber es ist sehr wahrscheinlich, hätte unter diesen Rechtsschutz fallen müssen. berg ist es, der zahlt; er hat eine Ausfallbürgschaft für fünftausend dass es sich hier um Rechenberg oder Genoud, vielleicht sogar um

Daraus wurde freilich nichts; die offi zielle Politik folgte ei- Exemplare übernommen. Bereits vor Erscheinen, am 10. Oktober beide handelt. Sie werden für den von Servatius so sehnlich erhofften 27 Vgl. CIA-Message, Secret, Herkunft gelöscht, 3.3.1961. Freigegeben 2000. ner Prämisse, die Außenminister Heinrich von Brentano in einer 1961, fordert der Verleger 3.100 DM, »denn wir haben keine Lust, fi nanziellen Ausgleich sorgen. 28 Pierre Péan, L’extrémiste. François Genoud, de Hitler à Carlos, Paris 1996, internen Notiz festgelegt hatte: »Ich halte eine Finanzierung der auch nur einen Pfennig an diesem Buch zu verlieren«. Kurz danach Als »Mitläufer« und mit einer Sühneleistung von 1.000 Reichs- S. 258. [»Das ist also nicht unsere Entscheidung, wir haben also nicht die Wahl, BR[Bundesregierung] für unmöglich!«18 Servatius gibt aber nicht fragt Servatius, ob die Finanzierung der für Anfang November vor- mark war der ehemalige Pressesprecher Görings und des Wirtschafts- aber wir besuchen ihn, wir kommen ihm entgegen, wir bieten ihm unsere mora- lische und materielle Unterstützung an, legen ihm unsere Verteidigungsstrategie auf und fordert sein Geld. »Die Erwartung, aus Verwertung von gesehenen kleinen Reise nach Israel gesichert sei. Auch dafür zahlt ministers Walther Funk nach dem Krieg recht glimpfl ich davon- dar. Der Angeklagte muss sich unbedingt weigern, an einer Justizparodie teilzu- Urheberrechten aus sogenannten Memoiren des Beschuldigten Rechenberg. gekommen. Doch obwohl Hans Rechenberg als Ministerialrat zur nehmen, die jeder rechtlichen Grundlage entbehrt.« Übersetzung: Wolfgang Mittel zur Finanzierung der Verteidigung zu erhalten, haben sich Warum tut er das? Dieser Frage muss eine andere vorangehen: Wiederverwendung nach Art. 131 GG ein Wartegeld bezieht, ist er Geiger, Pädagogisches Zentrum] zerschlagen«,19 schreibt er fast gleichzeitig an die Rechtsschutz- Wer ist dieser Rechenberg überhaupt? An eindeutigen, zeitgenös- mit dem neuen Regime nicht glücklich. Zaugg bezeichnet ihn als stelle. Er klagt sogar gegen die Bundesrepublik Deutschland, doch sischen Aussagen habe ich zunächst nur einen Aufsatz in der Zeit- »inoffi ziellen Außenminister, politischen Berater und juristischen die Bundesregierung bleibt hart. Mit dem Massenmörder Eichmann schrift The Nation gefunden, der Rechenberg als Prozessbeteiligten Berater der alten Nazis«, denen er beim Übergang ins Zivilleben will sie nichts zu tun haben. nennt. Ein amerikanischer Journalist mit dem schönen Schweizer der Bundesrepublik behilfl ich ist. »Die Deutschen versuchen instinktiv, diese Verbrechen aus Namen Ernest Zaugg24 nutzte die Gelegenheit einer Rezension der In dem Schweizer Nazi Genoud hatte er einen Freund gefunden, »Ein Meisterwerk der neueren ihrem Bewußtsein zu verdrängen, um sich nicht mehr damit ausei- damals neuesten Werke des französischen Holocaust-Leugners Paul mit dem er in der Erinnerung an die alten Zeiten schwelgen und nandersetzen zu müssen«20, erläutert der israelische Justizminister Rassinier, um von einem »geheimen Eichmann-Verteidigungskomi- gleichzeitig mit den neuen Geld verdienen konnte. Genoud hatte deutschen Geschichtsschreibung.« Pinhas Rosen zwei Reportern der Zeitschrift Kristall. Schließlich tee« zu sprechen. »Es bestand aus Hans Rechenberg, dem früheren als 17-Jähriger die Hand schütteln dürfen. Wenig später Frankfurter Rundschau erklärt sich das israelische Justizministerium doch bereit, Servati- Presseadjutanten Hermann Görings, und einem Schweizer namens wurde er auf einer Orientreise dem Mufti von Jerusalem vorgestellt, us’ anwaltliche Leistungen mit den 20.000 Dollar abzugelten, die zu dessen treuem Knappen er sich selber ernannte, nachdem der Servatius für »alle Aufwendungen einschliesslich der Reisekosten, »Führer« nicht mehr war. Kosten fuer Aufenthalt, Gehaelter von Mitarbeitern und Sekretaerin« Die beiden konnten sich schnell darauf verständigen, dass den Neuauflage erwartet. »Dazu gehoert auch das Honorar fuer einen Rechtsberater 22 Hanna Yablonka, The State of Israel vs. Adolf Eichmann. Translated from the He- Spitzenkräften des »Dritten Reichs« in der Nachkriegszeit Unrecht brew by Ora Cummings with David Herman, New York 2004, S. 129. Yablonka 21 im Lande Israel.« kommt auf der Grundlage weiterer Belege zum gleichen Ergebnis: »Servatius’ geschah. Rechenberg hatte seinen ehemaligen Vorgesetzten Göring Die vereinbarte Summe, von der er im Januar 1961 eine ers- Kosten beliefen sich auf insgesamt DM 100.000.« (S. 128, Übersetzung d. Au- und Funk in Nürnberg assistiert, er war auch dabei, als General te Rate von 7.500 Dollar erhält, entspricht nach dem damaligen tors) Die Kosten für eine Revision waren dabei nicht eingerechnet; sie wurden Hermann-Bernhard Ramcke in Paris vor Gericht stand, doch der Wechselkurs jenen 84.000 DM, die nach dem Beitrag der Familie mit weiteren 10.000 DM pro Monat veranschlagt. (Vgl. S. 127 f.) Prozess gegen Adolf Eichmann sollte sein Meisterstück werden. Die 23 Verteidigung Adolf Eichmann. Plädoyer von Dr. Robert Servatius, Bad Kreuz- Eichmann in Höhe von 16.000 DM noch auf die errechneten und nach 1961. Auf dem Umschlag heißt es »Plaidoyer«. beiden Nazi-Nostalgiker hatten Ramcke zur spektakulären Flucht Ulrich Herbert 24 Zaugg wird in der linksliberalen Nation als Besitzer und Chefkorrespondent eines aus dem milden französischen Hausarrest verhelfen können. Bei Best »Hometown Feature Service« vorgestellt, als Journalist, der für Zeitungen in der Eichmann verbot sich jeder Gedanke an Befreiung, auch wenn im 704 Seiten, Broschur halben Welt schreibe. In Deutschland ist er vor allem als Fotograf bekannt gewor- Umkreis des Mussolini-Helden und des belgischen 30,00 Euro 17 18.11.1960, BArch K B 305/954. Zit. nach Große, Eichmann-Prozeß, S. 55 f. den. Als sich der Studienrat Ludwig Zind im Juli 1960 unerkannt in der Bundes- 18 18.11.1960, BArch K B 305/954. republik aufhielt, konnte Zaugg Bilder des nach Ägypten gefl ohenen Holocaust- ISBN 978-3-8012-5036-2 19 Robert Servatius an die Zentrale Rechtsschutzstelle, 23.11.1960, BArch K Leugners an die Illustrierten verkaufen. Das spricht gegen diesen Autor, dennoch All.Proz. 6/227. scheint er mehr als irgendjemand sonst über die geheime Finanzierung des Eich- 20 »›Ist die Gerechtigkeit im Recht?‹ KRISTALL-Interview mit Dr. Pinhas Rosen, mann-Prozesses zu wissen. Vermutlich hatte Zaugg, der nach amerikanischen An- 25 Ernest Zaugg, »The Nazi Whitewash«, in: The Nation, July 14, 1962. dem Justizminister Israels«, in: Kristall. Die außergewöhnliche Illustrierte, gaben im Jahr 2000 starb, Kontakte zum Bundesnachrichtendienst und dabei ein 26 Yablonka, State of Israel, S. 126. Fußnote 29 auf S. 275 verrät, dass Shlomo Co- Verlag J.H.W. Dietz Nachf. • www.dietz-verlag.de 1. Vj., 1961, Nr. 5. besonderes Interesse an einem anderen in München tätigen Nachrichtenmann ent- hen am 17.8.1960 an Yosef Nachmias schrieb (Israel State Archives, 06, A/3146, T 02 28/18 48 77-0 • [email protected] 21 BArch K All.Proz. 6/227. wickelt, dem bereits erwähnten Rechenberg. 4/300/12).

36 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 37 Mitarbeiter Helmut Heiber darüber, dass im Fall Goebbels »an den Eine solche Finanzierung ist nicht verboten, aber Servatius, den Zürich getroffen, um zu beraten, wie man den Staatssekretär Globke, urheberrechtlichen Ansprüchen des Herrn Genoud« nicht zu rütteln die Prozessbeobachterin Hannah Arendt recht ungnädig als »ölig, der 1936 einen Kommentar zu den »Nürnberger Gesetzen« veröf- sei. Deshalb habe das Institut Genoud für eine Goebbels-Ausgabe schmierig, geschickt, kurz und bündig, weiß, was er will«34, charak- fentlicht hatte, aus dem Prozess heraushalten könne.36 »Loyalität war ZUR KRITIK DER »wohl oder übel eine hübsche Summe Geld zahlen« müssen, »was terisiert, schämt sich genug, um sie zu bestreiten und alles zu unter- offenbar das Stichwort«,37 und Globke hatte doch immer Verständnis uns bitter weh tat«.29 nehmen, damit sie nicht bekannt wird. Die Geheimhaltung hat bis für Israel gezeigt. GESCHICHTSSCHREIBUNG Genoud war es in den Jahren zuvor gelungen, zwar nicht das heute recht gut funktioniert; es ist also Zeit, sie endlich aufzuheben. Wenige Tage danach treffen sich in Paris Servatius, Genoud herausgegeben von Prof. Dr. Hans-Heinrich Nolte unveräußerliche Urheberrecht, aber das Verwertungsrecht an den Ohne Zweifel wird die zu erwartende Freigabe von Akten des und der britische Literaturagent Patrick Fitzgerald O’Connor und Schriften von Martin Bormann und Joseph Goebbels zu erwerben, Bundesnachrichtendienstes (BND) weitere Details zutage fördern. besprechen Verkauf und Vertrieb der Eichmann-Memoiren. Life hat das sich in den folgenden Jahrzehnten zu einer eifrig sprudeln- Vorläufi g kann nur auf der Basis des vorliegenden Materials versucht bereits in zwei Folgen Eichmann-Memoiren veröffentlicht, der Stern den Quelle entwickeln sollte.30 Auch mit seinem frisch entdeckten werden, das große Eichmann-Geschäft zu rekonstruieren. Unter kon- hat sie für eine mehrteilige Geschichte ausgewertet, es braucht also Helden will Genoud Geld verdienen und spannt dafür den Anwalt spirativen Umständen fi ndet schon kurz vor Weihnachten 1960 in neues Material. Eichmann liefert alles, was er bereits geschrieben Servatius ein. Eichmann überträgt Servatius die Auswertung des Salzburg ein geheimnisvolles Treffen statt, also wenige Tage nach hat und noch schreiben wird, als Entschädigung für die Prozess- Urheberrechts und schreibt. Er schreibt im Gefängnis Tausende von Servatius’ Erklärung, es hätten sich Hoffnungen auf Einnahmen nach kosten an seinen Anwalt ab. Servatius gibt die »Verwertung des Seiten, rechtfertigt sich, erklärt sich, zeigt Reue, zeigt dann wieder dem Urheberrecht zerschlagen. Bei diesem Salzburger Konvent wird Urheberrechts«38 an Genoud weiter, der mit dem Erlös die Kosten Rückfälle in den alten Antisemitismus. Vor allem produziert er damit die Finanzierung des Prozesses durch ebenjene Einnahmen verab- tragen will, die durch Servatius’ Verteidigung anfallen und nicht gut verkäufl iches Material. In einer handschriftlichen Notiz, die redet. Mit dabei: aus Buenos Aires Willem Sassen und der Verleger durch das israelische Honorar gedeckt sind. Rechenberg übernimmt von Servatius’ Sekretärin und seinem Assistenten Wechtenbruch Eberhard Fritsch, zwei Brüder Eichmanns, Servatius und, unvermeid- die Details und das große Geschäft und verhandelt mit Agenten und gegengezeichnet ist, erteilt Eichmann am 15. Februar 1961 seinem lich, Hans Rechenberg. Bei diesem Treffen wird die »Interessenge- Rechtsanwälten in New York, London und Paris. Eichmann, der IL’JA AL’TMANN Anwalt »alle Vollmachten, all jene Verhandlungen und Abschlüsse meinschaft Linz« gegründet und Folgendes vereinbart: »Die ›Inte- mit der Todesstrafe zu rechnen hat, verspricht davor noch ein gutes bezüglich meiner Urheberrechte vorzunehmen, die er für richtig ressengemeinschaft Linz‹ verfügt ab sofort über die Urheberrechte Geschäft zu werden. hält«.31 an den sogenannten ›Eichmann-Memoiren‹ (die auszugsweise von Genoud kann in Salzburg leider nicht dabei sein. Er wird auch Es gibt da allerdings noch einen anderen, der mit Eichmann dem amerikanischen Magazin ›Life‹ veröffentlicht wurden). Vertreten gar nicht vermisst, denn die Verhandlungen übernimmt sein Freund Opfer des Hasses Geld verdienen will. Aus Argentinien meldet sich Willem Sassen, durch RA Dr. Robert EICHMANN, bevollmächtigt die ›Interessen- Rechenberg. Er selber hält sich allerdings ganz in der Nähe auf, denn Der Holocaust in der UdSSR 1941–1945 Geburtshelfer der ersten Memoiren Eichmanns im argentinischen gemeinschaft Linz‹ Dr. R. SERVATIUS zum Vorgehen gegen ›Life‹ er besucht in München die ihm durch Rechenberg bekannt gemachte Exil. Er hat dieses Material an Time Life verkauft, und er verkauft wegen Verletzung der Urheberrechte.«35 In dieser netten Runde muss Emmy Göring, die Witwe des Reichsmarschalls. Von dort treibt es es ein weiteres Mal an den Stern. Beide werten nur einen Teil davon sich ein Zuträger des BND befunden haben, denn schon wenige Tage ihn in den Nahen Osten, wo er die Verteidigung Eichmanns auf seine 2008, 588 Seiten, kartoniert aus, dabei käme es doch darauf an, so erklärt Sassen sein Interesse, später zitiert dessen Chef Reinhard Gehlen dem für ihn zuständigen Weise unterstützen will. ISBN 978-3-7881-2032-0 dass »sowohl das Leben dieses Menschen wie die ›deutsche Ehre‹ Staatssekretär Hans Globke den Wortlaut der Vereinbarung. Die Verteidigung Adolf Eichmanns hat nicht wenige Zeugen 2 59,63 (A) / 2 58,– (D) in entscheidendem Masse nur gerettet werden koennen durch die Einen Tag, nachdem ein weiteres Treffen stattgefunden hat, am aufgeboten, die selber mit Verfahren rechnen mussten und sich des- sofortige Veroeffentlichung der Gesamtmemoiren«.32 16. Dezember, fl iegt Servatius nach Tel Aviv, wo er sich von Eich- halb nur in ihrem jeweiligen Heimatland vernehmen lassen. Sogar Genoud und Rechenberg geht es aber nicht nur um die deut- mann eine wichtige Erklärung unterschreiben lässt, der noch mehrere der judenhasserische Mufti ist bereit, ein freundliches Zeugnis für sche oder Eichmanns Ehre, es geht um Geld. Bei einem Telefonat ähnlich lautende folgen werden: »Zur Finanzierung meiner Verteidi- seinen alten Kompagnon Eichmann abzulegen. Am 3. September mit Rechenberg am 13. März 1962 klagt Genoud leise über die gung (…) trete ich an den Vorgenannten meine Urheberrechte (…) 1960 wendet sich wegen der »Verdeidigung« (er schreibt immer so) Kosten, die ihm Servatius verursache, der in Jerusalem im teuren ab«. Die »moralische und materielle Unterstützung«, die Servatius Eichmanns ein gewisser Dr. Georg Fischer aus Damaskus an Robert Hotel King David wohne. Rechenberg gibt ungerührt zurück: »Für versprochen wurde, sieht demnach so aus, dass sie auf Kosten des Servatius. Fischer spricht neutral von »meiner Tätigkeit im Orient«, Ihr Geld, wenn Sie ihm soviel Geld beschaffen.«33 Aber Eichmann Angeklagten geht, der in Jerusalem in einer unterirdischen Zelle die ihn daran hindere, nach Deutschland oder Israel zu kommen. oder vielmehr seine Ideologie ist Genoud das wert. Insgesamt ist hockt und – anders ist es nicht zu sagen – um sein Leben schreibt. Eigentlich müsste er sagen, dass ihn nicht etwa seine jetzige, sondern das recht viel moralische und materielle Unterstützung für einen Draußen beschäftigen sich seine ihm mehr oder weniger ge- seine frühere Tätigkeit daran hindere, schließlich hat sich der Doktor, Mann, der sich weltweites Renommee mit dem aussichtslosen Man- wogenen Vertreter mit seiner Vermarktung, auch mit den mögli- der nicht immer Doktor, sondern einst ein einfacher Hauptsturm- dat Eichmann erwarb. chen Folgen. Bereits Ende November haben sich, wie eine Notiz führer und Alois Brunner war, gern gerühmt, Wien für die Nachwelt im israelischen Staatsarchiv belegt, der israelische Geschäftsträger »« gemacht zu haben.39 Dieses mörderische Wirken setz- in Deutschland, Felix E. Shinnar, und verschiedene Deutsche, dar- unter Abgesandte des Bundesnachrichtendienstes, im exterritorialen 29 Helmut Heiber vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in einem Brief vom 5.1.1961 an Agnes F. Peterson von der Hoover Institution (IfZ, Hausarchiv, ID 50/13). 36 Aufzeichnung über das Gespräch mit Dr. Shinnar in Zürich vom 2.11.1960, Israel MUSTER-SCHMIDT VERLAG 30 Vgl. Winkler, Schattenmann, vor allem S. 93–107. State Archives, 4327/12. Gefunden in Yeshayahu A. Jelinek, Deutschland und Schuhstraße · 37154 Northeim-Sudheim 31 BArch K All.Proz. 6/253. Israel 1945–1965. Ein neurotisches Verhältnis, München 2004, S. 349. Telefon (055 51) 9 08 42-0 · Telefax (055 51) 9 08 42-29 32 Brief Willem Sassen an Robert Servatius, 13.1.1961, BArch K All.Proz. 6/253. 34 Arendt/Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, S. 471. 37 Ebd., S. 350. [email protected] 33 Abhörprotokoll der CIA. National Archives and Records Administration 35 »Zeit d[er].F[eststellung]: 9.12.60«. BND Nr. 1603 II/60 geh, Stempel Geheim. 38 Brief Robert Servatius an Genoud vom 27.3.1961, BArch K All.Proz. 6/253. www.muster-schmidt.de (NARA), Central Intelligence Agency (Record Group 263) 01, 02 – 106 – Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), I-070-085/3. Der BND wusste bereits zwei 39 Gegenüber dem Journalisten Kurt Seinitz, der den Wortlaut am 12. September 230/86/24/01. Tage vor dem Treffen, dass am 15. Dezember ein weiteres stattfi nden würde. 2010 bestätigt hat.

38 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 39 te er in Griechenland, in Frankreich und der Slowakei fort. Nach inzwischen studieren und sie lassen keinen Zweifel an dem Interesse, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« exklusiv vermarktet Aber da wären ja noch die USA, da wäre die spanisch, die italie- dem Krieg fl oh er über die bekannte Route in Italien nach Ägypten. das sowohl die deutsche wie die israelische Regierung an einem werden sollen. Genoud sollen dreißig Prozent der Bruttoeinnahmen nisch sprechende Welt. Genoud habe doch in Rom bereits erleben Brunner geht mit der Zeit, kauft Waffen im Ostblock und verkauft straff geführten Prozess hatte. Dabei kam es zu den merkwürdigsten zufallen, aber Servatius dabei nicht zu kurz kommen. »Der über- können, mit welchem Erfolg die Agentur in Propaganda zu machen sie der algerischen FLN. Zieht dann auf Empfehlung des Muftis Koalitionen: »Nach meiner Ansicht kommt es darauf an, daß die schießende Betrag«, nach Abzug der Kommission (weitere dreißig verstand. Bevor Servatius nach Tel Aviv fl iegt, werden sie sich noch weiter nach Syrien, wo er im Mai 1960 verhaftet, aber sogleich vom israelische Verhandlungsleitung in der bisherigen Weise verfährt und Prozent) und diverser Auslagen, ist, wie Servatius in einem Brief in München sehen. »Auch François wird sich die Ehre geben«, damit Geheimdienst aufgenommen wird, als er sich als -Mann zu eine Ausweitung zu verhindern trachtet«, heißt es in einem Brief, den vom 27. März 1961 an Genoud bestätigt, »an mich auszuzahlen«.48 er, der Anwalt, dann vor Abfl ug noch kurz die Möglichkeiten der erkennen gibt. »Die Feinde unserer Feinde sind unsere Freunde«, der BND-Präsident am 16. März 1962 »nur persönlich« an seinen Rechenberg, den Beauftragten Genouds, quält jedoch die Sorge, Veröffentlichungsergebnisse mit ihm besprechen könne.49 soll der syrische Geheimdienstoffi zier Lahan zu ihm gesagt haben.40 Chef Globke schreibt. Unter dem Betreff »Beabsichtigte Namhaft- dass womöglich auch für andere, für Fremde, etwas von den kost- Eichmann hat zwar nicht mehr viel zu erwarten, aber für die »In- In Deutschland droht ihm lebenslänglich, in Israel, nicht anders machung Staatssekretärs Globke als Zeuge in der Berufungsver- baren Eichmann-Äußerungen abfallen könnte. In Jerusalem sind teressengemeinschaft Linz« lässt er sich noch richtig ausschlachten. als Eichmann, die Todesstrafe, aber Servatius ist im Interesse sei- handlung gegen A. Eichmann« kann Gehlen ebendiesem Globke, fünfhundert Journalisten versammelt, das Fernsehen ist dabei, da ist So wird der Prozess gegen den Menschheitsverbrecher Eichmann nes Mandanten zur Kontaktaufnahme mit dem weltweit gesuchten der diesen unfreiwilligen Auftritt vor Gericht fürchtet, bereits mittei- jedes Wort Eichmanns wertvoll. Alles muss genau geplant sein. »Ich auch noch zur Geheimdienst-Klamotte, in der sich alle gegenseitig Kriegsverbrecher bereit. »Ich möchte Ihnen sagen, dass ich Ihnen als len, der Bundesnachrichtendienst werde sich darum kümmern, dass bitte Sie daher zu bedenken«, schreibt er allen Ernstes an Eichmanns belauern. Ein V-Mann aus dem Bundeskanzleramt wird nach Jeru- seinen Verteidiger in Damaskus oder Beirut jederzeit persönlich zur der Prozess den geplanten Verlauf nimmt.45 Der Staatssekretär des Anwalt, ob es nicht möglich sei, dieser Gefahr dadurch einen Riegel salem geschickt, um dort die deutschen Journalisten zu überwachen; Verfügung stehe, und würde mich freuen, wenn ich dazu beitragen Kanzlers braucht sich nicht zu sorgen, wie Gehlen ihm unter einem vorzuschieben, dass Servatius seinen Mandanten nur zu einem wohl Robert Servatius wird in Köln und in Jerusalem observiert; Friedrich könnte, die einseitigen Belastungen seiner Gegner zu entwerten«, roten »Geheim«-Stempel versichert: »Entsprechende Maßnahmen vorbereiteten und vom Anwalt ausgearbeiteten Statement veranlasse, Karl Kaul aus Ostberlin, der vergeblich um seine Zulassung als schreibt Dr. Fischer nach Deutschland. Da Israel als Treffpunkt nicht sind eingeleitet.« Dank der Gehlen’schen Intervention wird, wie es dagegen darauf verzichte, ihn in den Zeugenstand zu rufen. Nebenklagevertreter kämpfte, wird in seinem Jerusalemer Hotel- infrage kommt, schlägt Servatius die libanesische Hauptstadt Beirut in dem Schreiben heißt, »die israelische Verhandlungsleitung in der Rechenberg nimmt damit nicht bloß Einfl uss auf die Verteidi- zimmer von BND-Agenten bestohlen50; nicht wenige Männer mit vor. »Servatius«, erzählt Brunner, »schickte mir dann einen Schwei- bisherigen Weise« verfahren und »eine Ausweitung zu verhindern« gung und die Prozessstrategie von Servatius – das ist die angekün- nachgewiesener nazistischer Vorgeschichte arbeiten als Zuträger des zer Mitarbeiter nach Damaskus. Wir trafen uns im Hotel Omayad. trachten. Globke bleibt durch diese deutsche Einfl ussnahme auf das digte moralische Unterstützung –, sondern sorgt sich dem Anwalt Bundesnachrichtendienstes und des Mossad. Eichmann, das müssen Sie verstehen, war mir das wert.«41 Schließ- israelische Gericht unbehelligt. In der Berufungsverhandlung stellt gegenüber sogar um die Termine vor Gericht, damit sie zur Veröf- In einem Brief, den eine Sekretärin in Servatius’ Kanzlei in lich verdankte ihm Brunner seine Karriere und auch den Tipp, sich Servatius am 23. März 1962 den Antrag, Globke als Zeugen zu ver- fentlichung passen: »Nehmen wir an, der Prozeß startet am 11. April Köln51 tippt, wirbt Genoud den ehemaligen »Judenreferenten« im im Nahen Osten zu verstecken. nehmen. Der Antrag wird vom Gericht wie besprochen abgelehnt. und der Mandant kommt am 12. April oder 13. April mit seinem deutschen Außenministerium, SS-Obersturmführer Franz Radema- Wer aber ist dieser Schweizer Mitarbeiter? Gute Frage. Einfache Dank seinem V-Mann Hans Rechenberg (Deckbezeichnung: Sta[t]ement zu Wort, dann kann Patrick im ›PEOPLE‹ in der Sonn- cher, als Informanten für sich und Rechenberg, der ihn wiederum für Antwort mit diesem Telegramm, das Servatius (mit Kopie an Hans V-7396) weiß der BND über alle Aktivitäten im Hintergrund des tagnummer (16. April) starten, spätestens in der darauffolgenden den BND abschöpft, während er gleichzeitig für die CIA arbeitet.52 Rechenberg) im Dezember 1960 an Georg Fischer, Post Box 635, Eichmann-Prozesses genau Bescheid. Der Geschäftspartner von (23. April)[.]« »Rechenberg war ein Freund, und ich bin sicher, dass er über unsere , schreiben lässt: »To settle questions of your letter of Servatius, der Mann, an den sich sein Assistent wegen ausstehender Der ehemalige Pressereferent Rechenberg – er bezeichnet sich Aktivitäten nicht Bericht erstattet hat«53, glaubte Genoud oder hoffte 16. September you see Mr. Genoud between 16. and 18. December in Honorarforderungen wenden soll, ist ein BND-Mitarbeiter. Rechen- inzwischen als »Publizist« – versteht genug vom Gewerbe, dass es es zumindest. Und doch wird der multiple Agent Genoud von seinem Hotel St. Georg Beirut Libanon«, unterzeichnet Dr. Servatius, der da berg wird seit August 1959 als »nicht eingewiesene und unbewußte mit der Verwertung auch klappt. Der Prozess gegen Adolf Eichmann besten Freund auf Schritt und Tritt überwacht. Die CIA wiederum mit den Gedanken bereits bei der Geheimkonferenz in Salzburg ist.42 Unterquelle geführt«.46 Seine Kenntnisse vor allem der Verhältnisse beginnt am 11. April 1961, People brachte die Erklärungen Eich- hört den eher rechtsextremen BND-Mann Hans Rechenberg ab, weil Genoud fi ndet den Massenmörder Brunner »un type sympathique«.43 in Algerien machen ihn mit dem nahenden Ende des Bürgerkriegs manns in fünf Folgen vom 30. April an. die Amerikaner ihn für einen Ost-Agenten halten.54 In seiner Einleitung (1986) zu Hannah Arendts Eichmann in immer wertvoller. Bald wird er für seine Informationen auch bezahlt. Servatius, so mahnt ihn sein Betreuer aus München, solle nur In diesem extrem verminten Gelände sollte es eigentlich aus- Jerusalem wirft Hans Mommsen der Autorin vor, dass sie »in ihrer »Seine Anmeldung als Aussen-Mitarbeiter erfolgte im Dezember dafür Sorge tragen, dass Eichmanns Erklärungen rechtzeitig fertig geschlossen sein, Eichmann ohne Aufsehen zu Geld zu machen. Funktion als Journalistin« Informationen, wonach es eine Absprache 1959.«47 Alles, was Servatius, Genoud, Sassen oder die Brüder Eich- und in Form gebracht würden. Die verhandlungsfreien Tage eigneten Genoud und Rechenberg gelang es trotzdem, und die Geheimdienste zwischen Adenauer und Ben Gurion zu Prozessdetails, insbeson- mann unternehmen, trägt Rechenberg auf der Stelle weiter. sich, um diese Erklärungen so schnell wie möglich, mit seiner oder waren mit Freude dabei. dere zur Schonung von Adenauers Staatssekretär, gegeben habe, Das hindert ihn allerdings nicht, auch für sich alles aus dem der Hilfe einer Sekretärin, ins Englische zu übersetzen und dann zu leichtfertig verwende. Deren »Wahrheitsgehalt« sei nur durch Eichmann-Material herauszuholen. Am 31. März 1961 schreibt er sofort nach London zu expedieren. Rechenberg erwartet sich aus »mühselige historische Analyse und gutenteils erst nach Zugäng- einen Brief an Servatius, um mit dem Anwalt gemeinsam zu über- diesem Exklusiv-Eichmann einen Erlös von 15.000 Pfund. Im sel- lichkeit der Akten« zu klären.44 Diese Akten gibt es, sie lassen sich legen, wie der »größtmögliche Gewinn« aus dieser Sache zu ziehen ben Brief rechnet er Servatius das Honorar in Mark um und kommt sei. Gewinn meint Rechenberg ganz wörtlich. Bei dem Treffen in für diesen auf DM 65.000, »von denen die bisherigen, noch nicht Paris wurde vereinbart, dass »sämtliche Äußerungen Eichmanns in erstatteten Auslagen abzuziehen sind«. Die paar Pfund aus England, das sei aber längst nicht alles, 49 Alle Zitate aus dem Brief Rechenbergs an Servatius vom 31.3.1961, BArch K 40 Anonymus, »Er ist, was er immer war: Ein Feind der Juden«, in: Bunte, Nr. 46 versichert Rechenberg dem ständig jammernden Anwalt, den er fast All.Proz. 6/253. (1985), 7.11.1985. zärtlich an die Hand nimmt, um ihm die glänzenden Aussichten zu 50 Vgl. »Aktenklau für die Adenauer-Republik«, in: Spiegel Online, 2.9.2010. 41 Ebd. Bösen. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Granzow. In der Übersetzung www.spiegel.de/politik/deutschland/0.1518.715292.00.html [21.2.2011]. 42 BArch K All.Proz. 6/257. Vermerk: »15/XII«. Im deutschen Entwurf fi nden sich überarbeitete Neuausgabe, München 1986 [1964], S. III sowie Fußnote 6 auf zeigen: Er habe nur »ein ganz rohes Bild« gezeichnet und vorder- 51 Brief François Genoud an Franz Rademacher, 9.3.1962, BArch K All.Proz. noch zwei Anmerkungen: »Genoud z. Zt. in Kairo« und »Abschrift des Telegr. an S. XXXIII. hand nur errechnet, was sich auf dem britischen Markt erlösen lasse. 6/257. Herrn Rechenberg (mit rotem Zettel)«. Ob das Treffen nun in Damaskus oder 45 Konrad-Adenauer-Stiftung der Christlich Demokratischen Union in St. Augustin 52 Vgl. Richard Breitman, with Norman J. W. Goda and Paul Brown, »The Gesta- Beirut stattfand oder ob es zwei gab, ist nicht festzustellen. (KAS), I-070-085/3, Nachlass Dr. Hans Globke. po«, in: Breitman u. a., U.S. Intelligence and the Nazis, New York 2005, S. 161. 43 François Genoud zit. in: Péan, L’extrémiste, S. 180. 46 NARA, RG 263, 01, 02 – 106 – 230/86/24/01. Declassifi ed 2007. Das ist die 53 Genoud, zit. nach Péan, L’extrémiste, S. 181. 44 Hans Mommsen, »Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann«, Auskunft, die die CIA vom BND über Rechenberg erbat und erhielt. 54 Abhörprotokoll der CIA. NARA, Central Intelligence Agency (Record Group in: Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des 47 Ebd. 48 Brief Robert Servatius an François Genoud, 27.3.1961, BArch K All.Proz. 6/253. 263) 01, 02 – 106 – 230/86/24/01.

40 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 41 jüdische Volk«, explizit auf die juristische Ahndung des Holocaust ernannt worden. Das Team um Hausner bildeten die Staatsanwälte abzielte. Die einschlägigen Tatbestände »Kriegsverbrechen« und Gabriel Bach und Zvi Terlo, der Tel Aviver Bezirksstaatsanwalt »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« aus dem Statut des Inter- Jaakov Bar-Or sowie Dr. Jacob Robinson, ein Völkerrechtsexperte nationalen Militärgerichtshofs vom 8. August 1945 und dem Kon- und Mitglied der Anklagevertretung unter Robert H. Jackson beim trollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 wurden in Israel Nürnberger Prozess. Die 15 Punkte der Anklageschrift waren vier »Die Augen der Welt ergänzt. Wie der israelische Historiker und Publizist Tom Segev Kategorien zugeordnet: Verbrechen gegen das jüdische Volk, Ver- 1 treffend festgestellt hat, war in Israel 1950 allerdings niemand davon brechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und die Mit- schauen nach Jerusalem« überzeugt, jemals eines deutschen NS-Täters habhaft werden zu gliedschaft in feindlichen Organisationen. Somit wiederholten sich können. Ursprünglich galt das Gesetz also vielmehr der strafrecht- einzelne Anklagepunkte zwar teilweise, ermöglichten es Hausner Der Prozess gegen Adolf Eichmann lichen Verfolgung der »Helfer«, tatsächlicher wie vermeintlicher aber, die Eichmann zur Last gelegten Verbrechen in ihrer gesamten jüdischer Kollaborateure.4 Dimension und Bedeutung aufzuzeigen. von Lisa Hauff Dieses Gesetz sowie die Zuständigkeit des Gerichts und die Den Vorsitz des Gerichts übernahm Moshe Landau (1912–2006), Rechtmäßigkeit der Gefangennahme Eichmanns wurden von sei- seine Beisitzer waren Benjamin Halevi (1910–1996), Präsident des nem Verteidiger, Dr. Robert Servatius (1894–1983), angezweifelt. Jerusalemer Bezirksgerichts, und Yitzhak Raveh (1906–1989), eben- Der Kölner Jurist, der verschiedene Nationalsozialisten während falls Richter am Bezirksgericht in Jerusalem. Alle drei Richter waren Am 11. April 1961 wurde in Jerusalem das der Nürnberger Prozesse vertreten hatte, wurde im Oktober 1960 als in Deutschland geboren und ausgebildet worden. Alle drei waren Verfahren gegen den ehemaligen SS-Ober- Verteidiger Eichmanns bestimmt.5 Israelische Anwälte hatten sich durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten gezwungen wor- sturmbannführer Adolf Eichmann eröffnet. geweigert, das Mandat zu übernehmen. Da Servatius als unbelastet den, ihre Heimat zu verlassen, und nach Palästina emigriert. Eichmann, der als Leiter des Referats IV B 4 galt – er hatte zwar als Hauptmann und ab 1943 als Major am Zweiten Die Zeugen, die während des Jerusalemer Verfahrens gehört Lisa Hauff, Studium der Geschichte (»Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten«) im Reichs- Weltkrieg teilgenommen, Mitglied der NSDAP war er aber nie gewe- oder deren Aussagen in Form von eidesstattlichen Erklärungen ver- und Politik an der Universität Köln, sicherheitshauptamt (RSHA) für die Deportation der europäischen sen –, wurde er zum Rechtsbeistand Eichmanns bestellt. Das Honorar lesen wurden, bildeten drei höchst unterschiedliche Gruppierungen. Magisterarbeit: »NS-Indizierungspo- Juden in die Vernichtungslager mitverantwortlich gewesen war, für Servatius’ Mandat im Jerusalemer Verfahren übernahm der Staat Die weitaus größte Gruppe von Zeugen setzte sich aus Überlebenden litik im Buchwesen«; Master of Holo- konnte nach Kriegsende 1945 zunächst in Niedersachsen untertau- Israel, nachdem die Bundesrepublik eine Zahlung abgelehnt hatte. des Holocaust zusammen; sie sollten den späteren Blick auf den caust Communication and Tolerance, chen, um 1950 über die sogenannte »Rattenlinie«2 nach Argentini- Eine zusätzliche Finanzierung der Verteidigungskosten soll außerdem Prozess nachhaltig prägen. Einer zweiten Zeugengruppe haftete Touro College Berlin; Master of Je- en zu gelangen. Unter dem Namen Ricardo Klement lebte er dort durch rechte Kreise erfolgt sein, die sich im Gegenzug die Rechte an zunächst etwas Beliebiges an, sie war aber für Hausners Kalkül von wish Studies/Holocaust Studies, Touro zunächst allein, dann mit seiner Frau und den vier Söhnen, bis er Eichmanns im Gefängnis geschriebenen »Memoiren« sicherten. Sie großer Bedeutung: Es handelte sich um Polizeibeamte, Richter in College New York, Masterarbeit: im Mai 1960 vom israelischen Geheimdienst Mossad entführt und versuchten Einfl uss auf das Aussageverhalten des Angeklagten zu vorausgegangenen Prozessen, Gutachter oder Militärangehörige, die »Benjamin Murmelstein. Das Selbst- nach Israel gebracht wurde. In den knapp neun Monaten bis zur nehmen, um die »Memoiren« besser vermarkten zu können.6 aufgrund ihrer Tätigkeit zu Beobachtern des Holocaust geworden bild der Judenräte«; seit 2009 wissen- Prozesseröffnung war Eichmann im Camp Iyar inhaftiert, einem Generalstaatsanwalt Gideon Hausner erhob am 21. Februar 1961 waren. Hinzu trat eine dritte Gruppe von Zeugen, die aus guten schaftliche Mitarbeiterin der Stiftung aus britischer Mandatszeit stammenden Gefängnis bei Haifa. Dort Anklage gegen Adolf Eichmann beim Bezirksgericht Jerusalem. Der Gründen nicht persönlich in Jerusalem erschienen, ehemalige Weg- Topographie des Terrors (Berlin). fanden die Verhöre durch Polizeihauptmann Avner Less (1916–1987) aus Lemberg stammende Hausner (1915–1990) war bereits 1927 mit gefährten Eichmanns und NS-Funktionäre. statt, der Eichmann über einen Zeitraum von etwa acht Monaten zu seinen Eltern nach Palästina ausgewandert.7 Im Juni 1960, unmittel- »When I stand before you here, Judges of Israel, to lead the seiner Rolle während der nationalsozialistischen Judenverfolgung bar nach Eichmanns Entführung, war er zum Generalstaatsanwalt Prosecution of Adolf Eichmann, I am not standing alone. With me vernahm. Less, gebürtiger Berliner und 1933 nach Palästina emig- are six million accusers. But they cannot rise to their feet and point riert, gehörte dem sogenannten Büro 06 an, das mit den Vorermitt- an accusing fi nger towards him who sits in the dock and cry: I ac-

lungen zum Prozess betraut war. 4 Vgl. Tom Segev, »Der Fall ist abgeschlossen, aber unvollendet. Der Prozess cuse. For their ashes are piled up on the hills of Auschwitz and the Rechtsgrundlage für den Prozess gegen Eichmann war das 1950 gegen in Jerusalem«, in: Einsicht 02. Bulletin des Fritz Bauer fi elds of Treblinka, and are strewn in the forests of . Their von der Knesset verabschiedete rückwirkende »Gesetz zur Bestra- Instituts (Herbst 2009), S. 16–23, hier S. 18. graves are scattered throughout the length and breadth of Europe. fung von Nazis und ihren Helfern«3, welches durch die Einführung 5 Im Hauptkriegsverbrecherprozess hatte Servatius den ehemaligen Generalbe- Their blood cries out, but their voice is not heard. Therefore I will vollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, verteidigt. Weitere Mandate eines völlig neuen Straftatbestands, des »Verbrechens gegen das folgten im sogenannten Ärzteprozess als Anwalt von Karl Brandt, einem der be their spokesman and in their name I will unfold the awesome Verantwortlichen für die organisatorische Durchführung der Morde im Rahmen indictment«, lauteten die einleitenden Worte des Eröffnungsplä- der »Euthanasie«; im Wilhelmstraßenprozess verteidigte er Paul Pleiger, den ehe- doyers von Generalstaatsanwalt Hausner.8 Er positionierte sich als maligen Generaldirektor der Reichswerke Hermann Göring, und im Prozess ge- Anwalt der sechs Millionen ermordeten Juden und beabsichtigte, den 1 Süddeutsche Zeitung vom 12.4.1961. gen das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) den ehemaligen SS- 2 Ein vom amerikanischen Geheimdienst geprägter Begriff für die Fluchtrouten Standartenführer Franz Eirenschmalz, der ab Februar 1942 das Amt C VI im Holocaust in seiner räumlichen Dimension ebenso wie in der Fülle ehemaliger Nationalsozialisten, die zumeist über Südtirol nach Südamerika WVHA geleitet hatte. führten. Vgl. hierzu Uki Goñi, Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für 6 Willi Winkler, Der Schattenmann. Von Goebbels zu Carlos. Das mysteriöse NS-Kriegsverbrecher, Berlin 2006. Leben des François Genoud, Berlin 2011, S. 127 ff. 3 Eine deutsche Übersetzung des »Gesetzes zur Bestrafung von Nazis und ihren 7 Hausner hatte Philosophie und Rechtswissenschaften studiert, war Mitglied der 8 State of Israel/Ministry of Justice (Ed.), The Trial of Adolf Eichmann. Record of Helfern« ist abgedruckt bei Bernd Nellessen, Der Prozess von Jerusalem. Ein Hagana und arbeitete nach der Staatsgründung für die israelische Militärgerichts- Proceedings in the District Court of Jerusalem, Vol. I–VI, Jerusalem 1992–1994, Dokument, Düsseldorf, Wien 1964, S. 313–316. barkeit, zunächst als Staatsanwalt, dann als Präsident des Militärgerichtshofs. hier: Vol. I, S. 62.

42 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 43 seiner Hauptaspekte darzustellen. Hierzu befragte er Überlebende, konzentrierte sich die Anklage in der letzten Phase der Beweisauf- die den Holocaust in verschiedenen Teilen Europas erlebt hatten. nahme auf die Morde in den Lagern. Entscheidende Bedeutung kam Erklärtes Ziel Hausners war es, neben der Verurteilung Eichmanns, auch dem Themenkomplex Ungarn zu. Von dort waren innerhalb »der Welt eine Geschichtslektion«9 zu erteilen, wie Anette Wieviorka von circa zwei Monaten mehr als 400.000 Juden nach Auschwitz treffend formulierte. Um diese Absicht verwirklichen zu können, deportiert und größtenteils ermordet worden. In drei Hauptphasen stützte sich Hausners Anklage auf zwei unterschiedliche Bereiche. würde das Gericht später den Verlauf der Beweisaufnahme einteilen. Zur Beweisführung dienten ihm neben umfangreichen Dokumen- Aus allen Teilen Europas, in denen der Holocaust stattgefunden ten, die den Holocaust, aber auch die Schuld Eichmanns an diesem hatte, wurde ebenso berichtet wie über die verschiedenen Instru- Jahrhundertverbrechen zweifelsfrei belegten, die Aussagen von ins- mente zur Verfolgung und Vernichtung, die einzelnen Lager und Links: Blick in den Verhandlungssaal. gesamt 111 Zeugen, die persönlich vor dem Gericht erschienen. War Verbrechenskomplexe. Zwei Opferzeugen sagten unter Ausschluss Foto: Ullstein Bild/AP die Anhörung von Zeugen in einem Strafprozess selbstverständlich der Öffentlichkeit über medizinische Experimente in Auschwitz aus. nichts Neues, erstaunte doch ihre überaus große Zahl. Mithilfe der Der zweiten Zeugengruppe gehörten neben Polizeiangehörigen Unten links: Yehiel Dinur, Überlebender des Aussagen der Überlebenden hoffte der Generalstaatsanwalt, »einem wie Naphtali Bar-Shalom (Leiter der Sektion 1: Dokumentation) Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, bei seiner Zeugenaussage am 7. Juni 1961. (Unter dem 10 Phantom die Dimension der Wirklichkeit verleihen zu können«. und Eichmanns Verhöroffi zier, Avner Less, auch wissenschaftliche Pseudonym K. Zetnik veröffentlichte Dinur mehrere Dazu diente ihm eine bestimmte Form von Inszenierung, um die Gutachter an. Professor Salo Baron, der an der viel beachtete Bücher über den Holocaust.) Menschen in ihrem Innersten zu bewegen. Die Dokumente, so er- in New York jüdische Geschichte lehrte, referierte ausführlich über Foto: USHMM/Israel Government Press Offi ce/PD schütternd sie in ihrer inhaltlichen Bedeutung auch waren, reichten das jüdische Leben in Europa vor 1933. Als Auftakt der in den kom- Unten rechts: Yehiel Dinur bricht während seiner in Hausners Sinne keineswegs aus, um die Katastrophe des Holo- menden Prozesswochen hörbar werdenden Vernichtung der Juden in Zeugenaussage am 7. Juni 1961 vor Gericht zusammen. caust in Israel selbst wie auch weltweit zu vergegenwärtigen und Europa ließ Hausner durch Baron zunächst ein Bild der jüdischen Foto: Ullstein Bild/Popper Ltd. im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern. So verwunderte es Lebenswelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnen, um die Trag- nicht weiter, dass die große Mehrheit der Zeugen Eichmann niemals weite des Verbrechens später umso mehr veranschaulichen zu können. persönlich begegnet war. Als erklärte Kritikerin Hausners bezeich- Einen besonderen Fall stellte die Vernehmung von Richter Mi- nete Hannah Arendt in ihrem Bericht von der Banalität des Bösen chael Musmanno dar. Musmanno, ein aus Pennsylvania stammender diese Strategie als »Bildermalen«.11 Jurist, war in drei der Nürnberger Nachfolgeprozesse als Richter Die von Hausner gemeinsam mit dem Büro 06 und großer Un- tätig gewesen, im Einsatzgruppenprozess hatte er sogar den Vorsitz terstützung seitens der damaligen Archivleiterin in der Gedenkstät- innegehabt. Gegen die Aussage Musmannos wehrte sich Servatius te Yad Vashem, Rachel Auerbach, ausgewählten Zeugen mussten nachdrücklich, aber vergeblich.12 Somit wurde er im Sinne Hausners verschiedene Kriterien erfüllen. Von allen Zeugen, die später im als »indirekter Zeuge« gehört und berichtete über Äußerungen der Prozess aussagen würden, sollten bereits Berichte in schriftlicher Nürnberger Angeklagten zu Eichmann. Geradezu identisch verlief Form vorliegen. Ihre Darstellung musste möglichst glaubwürdig die Aussage des Zeugen Gustav Gilbert einige Tage später. Gilbert, und ergreifend sein. Die Vernehmung der Zeugen vor Gericht folgte Leiter des Psychologischen Instituts der Long Island University einem ausgefeilten System: Analog zur Radikalisierung der Juden- (New York), hatte während des Nürnberger Prozesses als Gefäng- verfolgung und ihrer Ausdehnung auf die besetzten europäischen nispsychologe regelmäßig Kontakt zu den dortigen Angeklagten.13 Länder wurden zunächst Überlebende zu antijüdischen Maßnahmen In Jerusalem sagte er aus, der Name Eichmann sei von diesen auf und Übergriffen im Deutschen Reich gehört. Darauf folgten Zeu- die Frage nach der Verantwortung für den Holocaust wiederholt genberichte zur antisemitischen deutschen Besatzungspolitik nach genannt worden. Servatius gelang es, beide Aussagen zu erschüttern. Beginn des Zweiten Weltkrieges. Wichtige Aspekte hierbei waren Musmanno wie auch Gilbert mussten im Verlauf des Kreuzverhörs die Ghettoisierung, die Einsatzgruppen und Massenerschießungen eingestehen, dass Eichmanns Name kaum erwähnt worden sei.14 gemeinsames Problem hatten. Ehemalige NS-Funktionäre sollten verfügte Richter Landau zwar die Zulässigkeit der Affi davits, diese und die beginnende Konzentrierung von Juden in Westeuropa, aber Der dritten Gruppe gehörten sowohl Zeugen der Verteidigung in Israel zur Verantwortung Eichmanns und seiner Entscheidungs- sollten aber durch das persönliche Erscheinen der Zeugen bestätigt auch der jüdische Widerstand. Mit den einsetzenden Deportationen wie auch der Staatsanwaltschaft an, die alle ein grundlegendes gewalt im Rahmen der Verfolgungspolitik aussagen. Exemplarisch werden. Aufgrund ihrer absehbaren Verhaftung in Israel als NS-Täter der jüdischen Bevölkerung aus allen besetzten Gebieten Europas für diese Problematik ist die Diskussion vor Gericht am 28. April wurde ihr Nichterscheinen vom Gericht antizipiert und einer eides- 1961: Der Generalstaatsanwalt beantragte bei Gericht, die Affi davits stattlichen Aussage vor ausländischen (deutschen, österreichischen einiger hochrangiger Nationalsozialisten15 aus Nürnberg als Beweis- und im Falle Herbert Kapplers italienischen) Gerichten zugestimmt.16 12 State of Israel, Trial of Adolf Eichmann, Vol. II, S. 709. 13 In seinem Gedächtnisprotokoll über seine Gespräche mit den in Nürnberg an- mittel zuzulassen. Auf den Einspruch Servatius’, die Männer seien Diese Entscheidung Nr. 11 des Jerusalemer Bezirksgerichts wurde 9 Anette Wieviorka, »Die Entstehung des Zeugen«, in: Gary Smith (Hrsg.), Han- geklagten Hauptkriegsverbrechern erinnert sich Gilbert an eine Aussage Hermann noch am Leben und könnten daher persönlich vernommen werden, zum Präzedenzfall für die folgenden Anträge, Zeugen dieser letzten nah Arendt Revisited. »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen, Frankfurt am Görings: »Wisliceny ist nur ein kleines Schwein, das aussieht wie ein großes, Main 2000, S. 136–159, hier S. 141. weil Eichmann nicht hier ist.« Gustav M. Gilbert, Nürnberger Tagebuch. 10 Gideon Hausner, Gerechtigkeit in Jerusalem, München 1967, S. 446. Gespräche der Angeklagten mit dem Gerichtspsychologen, Frankfurt am Main 11 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des 1962, S. 109. 15 Es handelte sich hierbei um die Aussagen von Wilhelm Höttl, Walter Huppen- Bösen, München 1964, S. 269. 14 State of Israel, Trial of Adolf Eichmann, Vol. III, S. 1000 f. kothen und Eberhard von Thadden. 16 State of Israel, Trial of Adolf Eichmann, Vol. I, S. 305.

44 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 45 Kategorie zu hören. Damit der Prozess ungehindert fortgeführt wer- lischen Gericht. Ob hier Überzeugung, Strategie oder Eichmanns »reinen Befehlsempfänger« geworden, der einem extremen »Gewis- Eichmanns Behauptung, er habe wiederholt um seine Versetzung den konnte, reisten Erwin S. Shimron als Vertreter der israelischen »Metaphysik«, mit der er sich während seiner Haft beschäftigte, senskonfl ikt« zwischen Pfl ichterfüllung und moralischem Gewissen gebeten.24 Auch im weiteren Verlauf der Befragung nahm der an- Staatsanwaltschaft und der Vertreter von Servatius, Dieter Wechten- den Ausschlag gaben, bleibt ungeklärt.21 ausgesetzt gewesen sei. Die angeblich drohenden Folgen einer Be- gebliche Versetzungswunsch Eichmanns eine zentrale Stelle ein, als bruch, nach Deutschland und Österreich, um den kommissarischen Die kommenden fünf Wochen des Verfahrens stand der An- fehlsverweigerung bemühte Eichmann zur weiteren Rechtfertigung Richter Halevi Eichmann das Zugeständnis abringen konnte, dass Vernehmungen beizuwohnen.17 geklagte im Mittelpunkt des Interesses. Nach der Vernehmung seiner Taten. Mit dem Augenblick, in dem von der NS-Führung der »Gewissenskonfl ikt«, der ihn während seiner Tätigkeit so stark Die Bedeutung der Überlebenden im Jerusalemer Verfahren für durch seinen Verteidiger folgte das Kreuzverhör durch den Gene- (den »Päpsten«, wie Eichmann die wichtigen Entscheidungsträger belastet habe, nicht ausgereicht habe, um persönliche Konsequenzen die weltweite Wahrnehmung des Holocaust und – wie die Richter ralstaatsanwalt. Zum Ende der Verhandlung nutzten die Richter die der Wannsee-Konferenz nannte) die Wende von der Auswanderung auf sich zu nehmen. Der Vorsitzende Richter schließlich befragte später feststellten – »für den erzieherischen Wert«18 ist unbestritten. Möglichkeit, Eichmann zu befragen. In seinem Eröffnungsplädoy- zur Vernichtung vollzogen wurde, so verteidigte sich Eichmann, Eichmann zunächst kurz zu verschiedenen zuvor gehörten Einzel- Für das juristische Urteil gegen Eichmann hingegen spielten sie nur er konzentrierte sich Servatius auf das wesentliche Element der sei er für seine Tätigkeit nicht mehr verantwortlich gewesen. Diese aspekten und entlockte Eichmann die Aussage, dass während des eine untergeordnete Rolle. Hier waren die mehr als 1.500 vorgelegten Verteidigungsstrategie, die er gemeinsam mit Eichmann entworfen Argumentationslinie stützend, versuchte er, das Gericht wie auch inoffi ziellen zweiten Teils der Wannsee-Konferenz über verschiede- Dokumente entscheidend. hatte: Adolf Eichmann als reiner Befehlsempfänger, der passiv, oh- schon zuvor Avner Less während seines polizeilichen Verhörs zu ne Tötungsmethoden gesprochen worden sei. Das richterliche Haupt- Der Blick auf das in Jerusalem eingereichte Beweismaterial ne Eigeninitiative, seine Arbeit verrichtet und seine Dienstpfl icht überzeugen, dass er nie antisemitische Ressentiments gehabt habe. interesse galt aber Eichmanns viel beschworenem Treueeid, der für wäre allerdings nicht vollständig ohne die Aussage Eichmanns im erfüllt habe. Getreu dieser Argumentation scheute Servatius sich Die Befragung durch Servatius dauerte bis zum 7. Juli 1961. sein Handeln ausschlaggebend gewesen sei. Nach einer Diskussion polizeilichen Verhör und seine in israelischer Haft verfassten Auf- nicht, von Eichmann als Opfer des nationalsozialistischen Staates Am selben Tag, in der Nachmittagssitzung, begann Hausner mit zwischen Richter und Angeklagtem über die »Toughness« als un- zeichnungen. Ein besonderer Stellenwert kam dem sogenannten zu sprechen. Ein Befehlsempfänger sei er gewesen, der nicht nur seinem Kreuzverhör. Sein ganzes Streben richtete sich nun darauf, bedingt erforderliche Charaktereigenschaft eines SS-Angehörigen Sassen-Interview zu. Jenes Interview, das Eichmann in Argentinien keinerlei Verantwortung für die von der Staatsführung angeordneten vom Angeklagten das Eingeständnis seiner Schuld zu erlangen. Auf (Eichmanns also) – hatte Eichmann doch zuvor ganz im Sinne seiner mit dem ehemaligen niederländischen SS-Untersturmführer und Verbrechen gehabt habe, sondern nur unter größten Gewissensqua- die Frage, ob Eichmann sich als Komplize bei der Ermordung von Strategie des »reinen Befehlsempfängers« immer behauptet, er sei Journalisten Willem Sassen (1918–2001) geführt hatte, war von len diese Befehle befolgt habe. Genau diese Taktik hatte Dieter Millionen von Juden betrachte, antwortete Eichmann zum Ärger des nicht besonders »tough« oder entscheidungsfreudig gewesen – stellte radikalen antisemitischen Aussagen durchzogen, die den »wahren« Wechtenbruch bereits im Februar, einige Wochen vor Prozesseröff- Staatsanwalts nicht mit »ja« oder »nein«, sondern unterschied zwi- Landau die entscheidende Frage: Warum er nicht von seinen Vorge- Eichmann zeigten. Um seine Zulassung vor Gericht wurde hart nung, gegenüber einem Journalisten des Time Magazine dargelegt: schen der Schuldfrage im menschlichen und im juristischen Sinne. setzten aufgrund dieses Mangels von seinem Posten entfernt worden gekämpft. Hausner gelang es nicht, die Tonbänder zu beschaffen, »Eichmann is eager to tell why things happened without regard to Im menschlichen Sinne, so Eichmann, fühle er sich schuldig und sei. Die Antwort blieb Eichmann schuldig. und Eichmann behauptete, die Transkriptionen des Interviews, die the outcome of the trial […]. He says he obeyed orders, and the habe schwer an seiner Schuld zu tragen, unter rechtlichen Gesichts- Zum Ende seiner Befragung zeigte sich Eichmann sehr zufrieden dem Gericht vorlagen, seien manipuliert. Das Interview wäre für defense should be able to prove this. He thinks of nothing all day punkten sei er aber nur ein Befehlsempfänger gewesen und daher mit dem Kreuzverhör, das es ihm ermöglicht habe, sämtliche über die Anklage zum entscheidenden Beweismittel geworden. Nur ein but his defense.«22 Im Sinne Eichmanns bedeutete dies, das Gericht unschuldig. Eine große Rolle bei der Befragung spielten die Befug- ihn seit Kriegsende verbreiteten Lügen richtigzustellen. kleiner Teil wurde schließlich offi ziell zugelassen.19 Eingang in das von seiner persönlichen Bedeutungslosigkeit zu überzeugen. Zu Pro- nisse Eichmanns im RSHA, die Hausner über die Arbeitsabläufe und Am 11. und 12. Dezember 1961 wurde das Urteil durch die Beweismaterial während des Prozesses erhielt das Sassen-Material zessbeginn bekannte er, der einst zuständig für die Deportation der die Funktionsweise des Referates IV B 4 zu klären versuchte. Ein Richter in mehreren Sitzungen verlesen. Adolf Eichmann wurde allerdings über die zugelassenen Dokumente hinaus auch auf indi- europäischen Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager rein aus der Aktenlage schwieriges Unternehmen, da der Aktenbe- in nahezu allen Anklagepunkten schuldig gesprochen. Darüber hi- rektem Weg: Es hatte als Grundlage für Eichmanns Befragung durch gewesen war, sich im Sinne der Anklage für »nicht schuldig«. Dabei stand des Referats weitgehend der maßgeblich von Eichmann selbst naus stellten die Richter im Schuldspruch ausdrücklich fest, dass Avner Less wie auch als wichtiges Gestaltungsmittel zur Ausar- leugnete er keineswegs die begangenen Verbrechen, lehnte aber die initiierten Spurenbeseitigung 1945 anheimgefallen war. »seine [Eichmanns] Aussage in ihrer Gesamtheit ein fortlaufendes beitung des bevorstehenden Kreuzverhörs von Eichmann gedient. Übernahme von persönlicher Schuld konsequent ab, indem er sich Offensichtlich genervt von Eichmanns immer wiederkehrender konsequentes Bestreben war, die Wahrheit abzuleugnen, um sei- Mit der 74. Sitzung am 12. Juni 1961 endete die Beweis- – wie viele NS-Täter vor und nach ihm – auf seinen Fahneneid und Argumentation, er sei nur ein kleiner, subalterner Beamter gewesen, nen tatsächlichen Anteil an der Verantwortung zu verneinen oder aufnahme. Es folgte eine einwöchige Verhandlungspause. Am den Befehlsnotstand berief. Die Schuld schob er ganz im Sinne des befragte Hausner ihn zunehmend höhnisch als »little Eichmann«. mindestens soweit als möglich zu verringern«.25 Er habe, so der 20. Juni 1961 trat das Gericht erneut zusammen. Auf die Frage des hierarchischen Führerstaats auf seine Vorgesetzten. Dabei folgte er Immer wieder kam Hausner während des Kreuzverhörs auf bereits Richterspruch, aus »innerer Überzeugung, mit ganzem Herzen und Vorsitzenden Richters, ob er eine beeidete Aussage machen wolle einem an seiner Tätigkeit ausgerichteten Konzept, das ihn an der behandelte Themen zurück und versuchte Eichmann zu einem Ge- ganzer Seele« gehandelt und beharrlich an der Beschleunigung der oder nicht, entschied sich Eichmann zwar für Ersteres, verweigerte Schwelle zur Radikalisierung der NS-Judenpolitik, der beginnenden ständnis zu bewegen. Dieses Vorgehen scheiterte insbesondere an »Endlösung« gearbeitet. Am 15. Dezember 1961 gab das Gericht allerdings den Schwur auf das Neue Testament mit den Worten, er Deportation in den Tod, zu einem völlig anderen Menschen wer- der Intervention Landaus, der Hausner ermahnte, den Prozess nicht das Strafmaß bekannt: Tod durch den Strang. sei »gottgläubig«.20 Dieses demonstrative Bekenntnis Eichmanns zur den ließ: Zunächst habe er seine Aufgabe, die gezielte (»forcierte«) unnötig zu verzögern. Die von Eichmanns Verteidiger angestrengte Berufungsverhand- nationalsozialistischen Ideologie mutete seltsam an vor einem israe- Auswanderung, ambitioniert vorangetrieben, um den Verfolgten Dem Kreuzverhör schloss sich mit der 105. Sitzung am 20. lung vor dem Obersten Gericht Israels endete am 29. Mai 1962 mit ihre Rettung zu ermöglichen. Dann, mit dem endgültigen Auswan- Juli 1961 die Befragung durch die Richter an, die zu einem großen der Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils. Ein Gnadengesuch derungsverbot im Herbst 1941, der einsetzenden »Endlösung« und Teil auf Deutsch geführt wurde. Yitzhak Raveh erwirkte Eichmanns Eichmanns wurde abgelehnt. In der Nacht zum 1. Juni 1962 wurde seinem neuen Tätigkeitsgebiet als Deportationsspezialist, sei er zum Eingeständnis, dass er während seiner Tätigkeit im RSHA nicht Adolf Eichmann hingerichtet, der Leichnam verbrannt und die Asche 17 Bei den Zeugen der Verteidigung handelte es sich um Erich von dem Bach- 23 Zelewski, , Herbert Kappler, Hermann Krumey, Max Merten, Franz dem kategorischen Imperativ , den er zuvor als seine Lebensma- in den internationalen Gewässern des Mittelmeeres versenkt. Bis Novak, Alfred Six, Franz Slawik, Edmund Veesenmayer und Otto Winkelmann. xime bezeichnet hatte, gefolgt sei, und erschütterte darüber hinaus zuletzt zeigte Adolf Eichmann keine Reue. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurden vernommen: Hans Jüttner, Eberhard von Thadden, Kurt Becher, Theodor Horst Grell, Wilhelm Höttl und Walter 21 Der britische Historiker und Eichmann-Biograf David Cesarani bewertete dieses Huppenkothen. Auftreten als »herausfordernde, kompromisslose Haltung«, was angesichts der 18 Avner W. Less (Hrsg.), Der Staat Israel gegen Adolf Eichmann, Weinheim 1995, Verteidigungsstrategie Eichmanns eher fraglich erscheint. Vgl. David Cesarani, 23 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: Kant, S. 5. Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder, Berlin 2004, S. 384 f. Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 6, Darmstadt 1968, 19 State of Israel, Trial of Adolf Eichmann, Vol. III, S. 1353. 22 »Israel: The Accused«, in: Time U.S. (24.2.1961), http://www.time.com/time/ S. 51, 71: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als 24 State of Israel, Trial of Adolf Eichmann, Vol. IV, S. 1811. 20 State of Israel, Trial of Adolf Eichmann, Vol. IV, S. 1371. magazine/article/0,9171,828775,00.html#ixzz1AcLGMgkW. Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« 25 Less, Der Staat Israel gegen Adolf Eichmann, S. 322.

46 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 47 1999 kam EIN SPEZIALIST von Eyal Sivan in die Kinos, 128 Mi- David Ben Gurion, die Anwesenheit von Kameras im Gerichtssaal nuten lang und als Dokumentarfi lm klassifi ziert. Alle Bilder dieses könnte den Eindruck eines Schauprozesses hervorrufen, und verhielt Films gehen auf das Videomaterial zurück, das während des Prozes- sich der Idee gegenüber, die Verhandlungen audiovisuell zu doku- ses aufgenommen wurde. Zwei Auswirkungen der Rezeption dieses mentieren, zunächst äußerst ablehnend. Kurz vor Eichmanns Gefan- Films sind zu benennen. Erstens wurde der Film berühmt als Quelle gennahme hatte Fruchtman, der damals in München arbeitete, ein Der wahre Spezialist für das Wissen von diesem Prozess. Zweitens wurde, nicht zuletzt geheimes Treffen von Neonazis beobachtet. Sein Plan, darüber eine von mir selbst, behauptet, der Film verfälsche die Videoaufzeichnun- Sendung zu machen, wurde von den Rundfunkanstalten abgelehnt, Eyal Sivans Filmcollage zum gen. Und das nicht nur durch die Entscheidung, welche Szenen in und nicht zuletzt das brachte ihn dazu, Ben Gurion um Zugang zu den den Film aufgenommen, welche weggelassen wurden, sondern auch Unterlagen des Eichmann-Prozesses zu bitten und um die Erlaubnis, Eichmann-Prozess deswegen, weil viele spezifi sche Ereignisse und Dialoge niemals in anschließend eine vollständige Aufzeichnung der Verhandlungen der Form stattgefunden haben, in der sie in DER SPEZIALIST zu sehen leiten zu dürfen. Fruchtmans erste Versuche, Rundfunkanstalten für von Stewart Tryster sind: Sie sind im Wortsinn Fälschungen, erzeugt durch simple An- eine Fernsehübertragung des Eichmann-Prozesses zu interessieren, wendung der Schnitttechnik. Der vorliegende Artikel zeichnet nach, scheiterten nicht nur, sie führten sogar zu einer Todesdrohung, die wie nach dem erfolgreichen Versuch, ein genaues Videodokument an die Wand seines Madrider Hotelzimmers geschrieben wurde. Erst des Prozesses aufzuzeichnen und zu bewahren, ein nicht minder als sich deutsche Sender positiv zu der geplanten Berichterstattung »… wenn ich einen Artikel schreibe und je- erfolgreicher Versuch unternommen wurde, eine rabiat gefälschte äußerten, gelang es Fruchtman, von Ben Gurion doch noch grünes manden zitiere, davon aus Platzgründen et- Verkürzung des Dokuments zu erstellen, die weithin als Darstellung Licht für die Aufzeichnung zu erhalten. Indes sprachen sich die was weglasse und mit (…) kenntlich mache, des Prozesses in seinen wesentlichen Zügen anerkannt wird. Richter gegen die Anwesenheit von Kameras im Gerichtssaal aus. dann, so schwöre ich bei meinen Kindern, Es wäre unaufrichtig, würde ich mich in dieser Sache nur als Fruchtman blieb nicht untätig und brachte die Kameras heimlich so Rodney Stewart Hillel Tryster ist lasse ich nichts weg, das, würde es vollständig wiedergegeben, den interessierter Außenstehender präsentieren. Ich habe, mehr oder an, dass die Richter sie nicht entdeckten. Entsprechend überrascht Filmhistoriker und Archivar, war Sinn oder die Bedeutung des Originals verändern würde. Wer diesen weniger eng, eine Reihe der Menschen gekannt, die entweder mit waren sie, als ihnen Fruchtman die klandestin gefi lmte Inspektion Direktor des Steven Spielberg Jewish Pakt mit Lesern oder Zuschauern bricht, verdient nur Verachtung.« dem Prozess oder mit seiner Verfi lmung zu tun hatten. Und ich kenne des Verhandlungsorts vorführte. Film Archive an der Hebräischen Christopher Hitchens1 Eyal Sivan, den Regisseur von EIN SPEZIALIST, denn wir haben uns Die vier Kameras (besetzt von insgesamt fünf Kameraleuten: Universität in Jerusalem und veröf- als Gymnasiasten in einem Filmprojekt für Jugendliche kennenge- Rolf M. Kneller4, Jakob Jonilowicz, Fred Czasznick, Emil Knebel5 fentlichte 1995 die Studie Israel befo- Wir Menschen haben die Angewohnheit, zu dokumentieren, lernt, und während meiner Zeit als Filmkritiker bei der Jerusalem und Jacob Kalach) konnten die Richter, den Angeklagten, die An- re Israel: Silent Cinema in the Holy was uns wichtig erscheint. Viele werden zustimmen, dass es kein Post habe ich einen seiner früheren Filme positiv besprochen. Und klagevertreter, die Verteidiger sowie die Zeugen und das Publikum Land. Von 1991 bis 1993 war er Film- Verbrechen in der Geschichte gibt, das mit der Folge von Ereignis- schließlich war ich über 16 Jahre lang angestellt beim Steven Spiel- aufnehmen. Aufgezeichnet wurde nur, was eine Kamera zu einer kritiker bei der Jerusalem Post und sen zu vergleichen ist, die als Holocaust bezeichnet werden. Darum berg Jewish Film Archive der Hebräischen Universität in Jerusalem, bestimmten Zeit zeigen konnte; die Entscheidung, von einer Kamera von 1995 bis 2004 Mitherausgeber müssen denn auch Reaktionen auf den Holocaust, insbesondere aber in dem die Videoaufzeichnungen des Prozesses seit 1972 aufbe- auf eine andere umzuschalten, traf der Regisseur Leo Hurwitz. von The Journal of Film Preservation. die Anklage gegen Täter vor einem Gericht, enorme Bedeutung für wahrt werden. Viele Einzelheiten zu diesem Fall habe ich anderswo Milton Fruchtman hat auch davon erzählt, wie besorgt er war, Seit 2005 lebt er als freier Historiker die Menschheit bekommen. Kein Verfahren, das im Anschluss an den dargestellt;2 und ich möchte, statt meine eigenen Funde noch einmal dass das Material der Nachwelt verloren gehen könnte. Darum ließ und Publizist in Berlin. Holocaust geführt wurde, hat ein so großes symbolisches Gewicht wiederzukäuen, nur die wichtigsten Fakten über Produktion und er ein Duplikat anfertigen, und zwar mit Szenen, die für besonders erlangt wie der Prozess gegen Adolf Eichmann, den hochrangigen Überlieferung der Videos skizzieren, ebenso kurz schildern, welchen wertvoll gehalten wurden. Diese Entscheidung traf ein Team, dem SS-Führer, der während des Krieges in Deutschland ausschließlich Gebrauch Sivans Film davon macht, um dann auf die Folgen einer er selbst, Generalstaatsanwalt Gideon Hausner, zwei Rechtsexperten mit der »Judenfrage« befasst war und der eine große Mitverantwor- Affäre einzugehen, die vor mehr als einem Jahrzehnt begann. Die und zwei Historiker angehörten. Gemäß den Vereinbarungen mit tung dafür trug, dass die Juden in die Vernichtungslager transportiert Macher von EIN SPEZIALIST haben das gesetzliche Recht auf freie dem Staat Israel sollten die Bänder nach dem Prozess an die ameri- wurden. Meinungsäußerung; ihren Kritikern steht nicht nur das gleiche Recht kanische Produktionsfi rma Capital Cities Broadcasting Corporation zu, sondern sie haben, wenn es um Geschichtsfälschung geht, auch zurückgehen; offenbar aber hatte auch das Presseamt der israelischen Der Eichmann-Prozess, der 1961 in Jerusalem stattfand, wurde die Pfl icht, das wiederholt auszusprechen – ohne unangebrachte Ver- Regierung rund 90 Bänder, vermutlich Kopien der täglichen einstün- auf Videoband aufgezeichnet, ein damals neues Medium, das dort beugungen vor einer Neutralität, die hier moralisch verwerfl ich wäre. digen Sendungen, die für das deutsche und das amerikanische Fern- zum ersten Mal nicht für Unterhaltungszwecke eingesetzt wurde. Der Wie Milton Fruchtman, der Produzent der Videoaufzeichnun- sehen geschnitten wurden. Als weitere Vorsichtsmaßnahme schickte Prozess selbst mag strittig gewesen sein, doch die Videoaufnahmen gen, berichtet hat,3 fürchtete Israels damaliger Ministerpräsident Fruchtman die Bänder in getrennten Sendungen in die USA. Und zeigen direkt, was die Kameras sahen, hält Stimmen, Tonlagen und auch den Ausdruck der Gesichter fest, die in niedergeschriebenen Protokollen notwendig fehlen müssen. 2 Stewart Hillel Tryster, »And Then There Were None or Murder in the Editing torin des Spielberg Archivs, in den Räumen des Archivs am 5. Juni 1997. Suite«, in: Frank Stern u.a. (Hrsg.), Filmische Gedächtnisse. Geschichte – Archiv 4 Vom Autor über seine Arbeit im Eichmann-Prozess befragt in Jerusalem am – Riss, Wien 2007, S. 260–291. 17.5.1999. 1 Christopher Hitchens, »Unfairenheit 9/11: The lies of Michael Moore«, nach: 3 Notizen des Autors zu einem Gespräch mit Fruchtman, Prof. Evyatar Friesel, dem 5 Vom Autor über seine Arbeit im Eichmann-Prozess befragt in Berlin am Slate, 21.6.2004, online unter: www.slate.com/id/2102723/ damaligen Archivar des Staates Israel, und Marilyn Koolik, der damaligen Direk- 27.10.2005.

48 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 49 er begann ein Katz-und-Maus-Spiel, das sich über mehrere Monate dem Eichmann-Prozess zu beschäftigen; damals war er ins Archiv hinzog und das zu lang war, als dass es hier im Einzelnen darge- gekommen, um für seinen Film ITGABER. LE TRIOMPHE SUR SOI (1993) stellt werden könnte: Durch eine Mischung von Hinhaltetaktik und zu recherchieren. Sachlich richtig ist, dass sich in den Räumen, die Ausfl üchten konnte Fruchtman verhindern, dass die Bänder wieder damals mein Büro und den dahinterliegenden Lagerraum beherberg- verwendet, mithin bereits gesendete Aufnahmen gelöscht wurden, ten, in dem die Originalbänder aufbewahrt wurden, zuvor Toiletten was die Finanzlage der Produktionsfi rma eigentlich erfordert hätte. befunden hatten, die ein paar Jahre zuvor umgebaut worden waren. Schließlich gelang es ihm, für das Unternehmen einen Steuernach- Sivan konnte davon nur wissen, weil ich ihm, einem alten Freund, das lass auszuhandeln – im Austausch gegen die Schenkung der Bänder anvertraut habe. Es mag melodramatisch klingen, aber auch Sivan hat an die Anti-Defamation League von B’nai B’rith, wo sie dann bis mir bei dieser Gelegenheit etwas anvertraut. Nachdem die Bedeutung zu ihrer Rückkehr nach Israel im Jahr 1972 verblieben. Während dessen, was ich ihm gezeigt hatte, genügend Zeit gehabt hatte, in ihm dieser Zeit sind offenbar einige Originale, aber keine Duplikate, zu sacken, sagte er mit einem bösen Funkeln im Blick: »Ich könn- ausgeliehen und nicht zurückgegeben worden. te einen Film über den Eichmann-Prozess machen, aus Eichmanns Von 1972 an wurden die originalen Zwei-Zoll-Bänder in den Blickwinkel.« Die Bemerkung verfolgte mich, obwohl ich mir damals Abraham F. Rad Jewish Film Archives der Hebräischen Universi- gar nicht vorstellen konnte, wie so etwas zu bewerkstelligen war, tät in Jerusalem aufbewahrt – das Institut wurde 1988 umbenannt wenn dazu die Originalbänder verwendet werden sollten. in Steven Spielberg Jewish Film Archive. Ein knappes Jahrzehnt Just als die Sicherung der Bänder beginnen sollte und noch bevor später wurden alle Bänder auf Dreiviertel-Zoll-Bänder umkopiert sich jemand wegen Sivans Film an das Spielberg Archiv gewandt und dadurch wieder zugänglich gemacht (fi nanziert von der Revson hatte, entbrannte eine bitterböse Pressekampagne, ausgelöst durch die Foundation). Während der 1980er und 1990er Jahre sind diese Ko- Behauptung, das Filmmaterial werde vernachlässigt, und die rasch pien zu Produktionen über den Eichmann-Prozess genutzt worden. nachgeschobene Forderung, die Originalbänder dem rein kommer- Mitte der 1990er Jahre wurden die Originale ein weiteres Mal um- ziellen Filmprojekt EIN SPEZIALIST ohne Gebühren zu überlassen, bei kopiert, diesmal – in Zusammenarbeit mit dem Staatsarchiv – auf welcher Gelegenheit das Material ja konserviert und katalogisiert Adolf Eichmann im kugelsicheren Glaskasten bei der Beta Digital; es war das erste Mal, dass der Staat Israel die Erhaltung werden könnte. Zu keinem Zeitpunkt wandten sich die Journalisten, Prozesseröffnung in Jerusalem, am 11. April 1961. von Film- oder Videomaterial fi nanziert hat. die Sivans Behauptungen und Forderungen verbreiteten, mit der Bitte Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/AP 1997 dann besuchte Milton Fruchtman das Spielberg Archiv. Er um eine Stellungnahme an das Spielberg Archiv. Die israelische Ko- erzählte, wie er um die Erlaubnis, den Prozess fi lmen zu können, produzentin von Sivans Film wollte den Fall nötigenfalls vor Gericht kämpfen musste und was er für die Erhaltung der Bänder getan hat. bringen, doch ihr deutscher Partner hatte kein Interesse daran, als Nicht nur um die Zeugenaussagen des Angeklagten und der Opfer Beteiligter an einem Streit um Tantiemen für die Eichmann-Videos sei es damals gegangen, sondern auch darum, die Prozessführung in die Schlagzeilen zu geraten, und drohte, sich aus dem Projekt zu- selbst darzustellen. Trotz des Alters der Bänder und wider Erwar- rückzuziehen. Sehr zu Sivans Ärger, der den Streit mit dem Spielberg ten war, von einigen fehlenden Bändern abgesehen, das ganze Set, Archiv gerne fortgesetzt hätte. So kam die bereits erwähnte Kom- das die wichtigsten Ereignisse des Prozesses dokumentiert, intakt promisslösung zustande, angesichts des kommerziellen Zwecks des und in sicherer Obhut eines verantwortungsvollen Filmarchivs, das geplanten Films musste die Nutzung der Archivmaterialien bezahlt vom Büro des Premierministers für seine Professionalität offi ziell werden. Wenn man bedenkt, was Sivan mit »seiner« Kopie der Videos anerkannt wurde. Als Fruchtman an jenem Junitag das »Allerhei- anstellen sollte, wird einem nachträglich klar, welch inakzeptables ligste« des Spielberg Archivs betrat und vor den Hunderten digitaler Risiko es bedeutet hätte, ihm die Originale zu überlassen. Videobänder stand, war er sichtlich bewegt. Als der Film in die Kinos kam, verwiesen diejenigen, die am Zwei Kopien der Prozessvideos waren gezogen worden; eine Prozess mitgewirkt hatten, nur darauf, dass der Film tendenziös sei. blieb zur Nutzung und Vorführung im Spielberg Archiv, die andere Gabriel Bach, der Assistent von Generalstaatsanwalt Hausner, er- lagert, ausschließlich zum Zweck der Bewahrung und Sicherung, im klärte: »Es ist nichts falsch daran, einen Dokumentarfi lm zu drehen, israelischen Staatsarchiv. Es gab noch eine dritte Kopie, angefertigt der Eichmanns Standpunkt zum Ausdruck bringt. Doch der Film für die Produktion von EIN SPEZIALIST. Eyal Sivan sollte später be- zeigt nicht, dass es dem Gericht gelungen ist, seine Behauptung, haupten, die Dreiviertel-Zoll-Kopien enthielten nur eine begrenz- er sei ›nur ein Rädchen im System‹ gewesen, zu widerlegen und te Auswahl von Szenen, das Spielberg Archiv bestreite zudem die darüber hinaus zu zeigen, dass Eichmanns Fanatismus den seiner Existenz der Zwei-Zoll-Originale. Irgendwie konnte er es dann so Vorgesetzten noch übertraf.«6. Fast sechs Jahre später, als einige darstellen, als habe er selbst diese Bänder in einer nicht mehr genutz- Filmplakat Regisseur Eyal Sivan ten Toilettenanlage wiedergefunden. (Natürlich sorgte eine solche

Behauptung für einigen Pressewirbel.) In Wahrheit habe ich ihm die 6 Zit. nach Dana Zimmermann, »He only specialized in extermination«, in: Originale gezeigt, noch bevor er mit dem Gedanken spielte, sich mit Haaretz, 13.4.1999.

50 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 51 der ungeheuerlichsten Verfälschungen Sivans ans Licht kamen, überwältigt hatten: Direkt zuvor berichtete er davon, wie er in Treb- Publikation zum Film (die die Dialogliste und »Hintergrundtexte« zu Anspruch, dokumentarisch zu sein, bekannt. Ob EIN SPEZIALIST Fäl- führte die Radiostation der israelischen Armee ein Interview mit linka in einem Berg von Leichen nach Goldplomben suchen musste EIN SPEZIALIST enthält) wird die unwahre Behauptung aufgestellt, Yad schungen enthält oder nicht, ist längst keine offene Frage mehr; nicht dem Holocaust-Überlebenden und Polizisten Michael (Goldmann) und unter den Toten seine Schwester entdeckte. Vashem, Israels offi zielle Holocaust-Gedenkstätte, sei auf den Rui- einmal das Faktum ist mehr strittig. Niemand, der den Film mit den Gilead, der ebenfalls als Assistent der Strafverfolgung am Prozess Hausners Sohn Amos hat Sivan damit in einer Fernsehdiskus- nen eines palästinensischen Dorfes errichtet worden. Viele weitere originalen, ungeschnittenen Bändern verglichen hat, bestreitet die teilgenommen hatte. Der Radioreporter Idan Kweller leitete Gileads sion8 konfrontiert, der jedoch versuchte das Problem mit der Be- Statements Sivans vor und nach der Veröffentlichung seines Films Behauptung; und umgekehrt kann man davon ausgehen, dass nie- Worte ein: »… als der Film herauskam, sah er, wie tendenziös der merkung beiseite zu wischen, jene Frage sei Dutzenden von Zeu- stützen die vorgetragene Bewertung seiner Motive, keine machen sie mand, der die Fälschung bestreitet, selbst am Material Vergleiche Film geschnitten war, konnte sich aber nicht vorstellen, in welchem gen gestellt worden, was mit der Unterstellung verbunden war, auf unplausibel. Zur Rechtfertigung seiner Aktionen schlüpft er in die vorgenommen hat; jedenfalls hat kein Verteidiger Sivans behauptet, Umfang das geschehen war.« Gilead selbst sagte dann: »Der Film eine solche Frage gäbe es gar keine richtige Antwort. (Tatsächlich Maske des Zivilisierten, gelegentlich aber verrutscht die Maske, so jemals irgendetwas überprüft zu haben. In dieser Frage einen Disput machte mich die ganze Zeit über wütend, aber ich konnte mir nicht meinte er damit, schon das Stellen dieser Frage sei ein Symptom etwa, als er in einer Ausschusssitzung des israelischen Parlaments zu beginnen, erschiene mir ebenso töricht wie einem Professor der vorstellen, dass man ihn bewusst verzerrt hatte.«7 israelischer Arroganz gegenüber den Überlebenden.) Sivan setzte zu einen konkurrierenden Filmemacher mit einer obszönen Bemerkung Evolutionsbiologie das Ansinnen vorkommen muss, sich auf ein Die Täuschung wurde eher zufällig entdeckt. Niemand hatte Recht darauf, dass weder Hausner noch der Moderator seine falsche attackierte. Er könne ja sagen, schleuderte er diesem entgegen, er Streitgespräch mit einem Kreationisten einzulassen. nach der Veröffentlichung des Films einen systematischen Vergleich Behauptung erkennen würden, aber von nahezu einhundert Zeugen habe mit seiner Mutter, einer Auschwitz-Überlebenden, im Vernich- Warum aber gibt es noch immer Leute, die den Fall noch immer mit den Originalen angestellt, dann aber begannen Nutzer des Spiel- wurde besagte Frage nur vieren gestellt, und alle haben sie sofort tungslager sexuellen Kontakt gehabt.10 nicht für geklärt halten? Einer der Gründe ist das Versäumnis von berg Archivs, nach bestimmten Szenen aus Sivans Film zu fragen. eine Antwort gegeben, die dem Sinn der Frage entsprach. Goel Pinto, der 2005 die Chance einer Titelstory in Haaretz nicht Deborah Steinmetz, damals als Bibliothekarin für die Nutzerbetreu- In meinem zweiten Beispiel zeigt Sivan den Beginn eines Wort- In EIN SPEZIALIST hat sich Sivan mit seinen politischen Absichten zu dieser Klärung nutzte.12 Pinto konfrontierte Sivan mit einigen ung zuständig, heute Direktorin des Archivs, konnte die betreffenden wechsels zwischen Gabriel Bach, dem Anklagevertreter, und dem rücksichtslos über das originale Filmmaterial hinweggesetzt, buch- Behauptungen über seinen Film, von denen die meisten, wie Sivan Szenen nicht fi nden: Sivan hatte sie beim Schneiden seines Films Zeugen Pinchas Freudiger. Im Prozess hatte dieser gesagt, er könne stäblich alle Mittel schienen ihm erlaubt. Als sein Film als DVD auf selbst einräumte, zutreffend seien; auf geradezu kindische Weise produziert. Nun begann mich das Ausmaß dieser kreativen Arbeit zu sich daran erinnern, wie ihn Eichmann in Uniform und Stiefeln, den Markt kam, wurde der Edition ein ausführliches Interview mit versuchte er, sich zu rechtfertigen. Vielleicht hat sich Sivan nicht interessieren, und ich fi ng an, Abgleiche vorzunehmen. Daran habe die Hand auf dem Revolver, »angebrüllt« habe, »von den Gipfeln Sivan und seinem Mitarbeiter und Vetter Rony Brauman beigefügt, getraut zuzugeben, dass er die negative Beurteilung Eichmanns ich zwischen 2001 und 2004 sporadisch gearbeitet und grobe Ent- der Herrenrasse herunter«. Doch nicht das zeigt der Film, Sivans in dem über die Geschichte der Bänder, deren technische Behandlung durch den Zeugen Pinchas Freudiger mit einer positiven vertauscht stellungen entdeckt: An einigen Stellen der Tonspur war Gelächter Schnitt springt stattdessen ohne Übergang zu einer anderen Stelle bzw. Nicht-Behandlung eine Menge Unwahrheiten gesagt wurden. hat, die dieser bezogen auf ein Treffen machte, an dem Eichmann eingespielt worden; es gab irreführende Auslassungen. In großem der Aussage Freudigers, in welcher dieser sagt, ein Treffen des Ju- Das Interview ist, frei heraus gesagt, dermaßen voller Täuschungen nicht teilnahm. Stattdessen hat Sivan, was Pinto ihm vorhielt, eine Maßstab wurden Gegeneinstellungen (reaction shots) ausgewechselt, denrats mit Angehörigen des Sondereinsatzkommandos Eichmann, und diese werden derart blauäugig und ohne eine Miene zu verziehen unverfrorene Lüge genannt. (Ich halte es für sehr bezeichnend, dass stets in einer Weise, die Eichmann schwach und verwirrt erscheinen bei dem Eichmann aber nicht anwesend gewesen sei, habe sich auf vorgebracht, dass man sich nur schwer vorstellen kann, dass die bei- Sivan, der dem französischen Philosophen Alain Finkielkraut per ließ, Gideon Hausner dagegen autoritär und zurückweisend in seiner die besorgten Repräsentanten der ungarischen Juden beruhigend den Vettern, kaum war die Kamera abgeschaltet, nicht in grölendes Gerichtsurteil verbieten lassen wollte, ihn zur Gruppe der »jüdischen Haltung gegen Eichmann. Mehr als einmal sieht man Hausner, wie ausgewirkt. Sivan lässt die äußerst negative Charakterisierung Eich- Gelächter ausgebrochen sind. Antisemiten« zu zählen – er blieb erfolglos –, mir bislang noch nicht er Eichmanns Antwort mit einer Frage unterbricht, tatsächlich aber manns nicht nur weg, er ersetzt sie auch noch durch eine positive Ich habe den Fall der Rechtsabteilung der Hebräischen Uni- einmal einen Prozess angedroht hat, obwohl ich unmissverständlich war es allein Sivans Schnitt, der Eichmann ins Wort fi el. Was bei Bemerkung, die sich gerade nicht auf Eichmann bezieht. Beim Be- versität zur Kenntnis gebracht, allerdings nicht mit dem Ziel einer behaupte, sein Film enthalte Fälschungen.) Natürlich konnte nur Sivan als Hausners Eröffnungsplädoyer erscheint, stammt tatsächlich trachten seines Films erhält man natürlich keinen Hinweis darauf, Anzeige gegen Sivan. Mitte 2004 haben die Anwälte der Univer- eine Seite recht haben, und für Pinto wäre es ein Leichtes gewesen, aus seinem Schlussvortrag, wodurch er als blutdürstiger Henker dass diese Szene verfälschend manipuliert wurde, das lässt sich nur sität das Archiv zusammen mit Gästen besucht, und weil ich ihnen seinen Lesern mitzuteilen, welche Seite: Er hätte die beiden Versi- dasteht, der ein Todesurteil fordert, bevor der Prozess überhaupt mit akribischen Vergleichen mit den ungeschnittenen Prozessvideos Archivmaterial vorführen wollte, das Bezug zu ihrem Beruf hatte, onen nur nebeneinanderstellen müssen. Er hat das nicht getan, und begonnen hat. An keiner Stelle in EIN SPEZIALIST, das wurde mir oder den Wortprotokollen feststellen. (Wie wir sehen werden, hat zeigte ich ihnen einige Filmszenen im Vergleich. Es überraschte sein Artikel, der Sivans ungeprüfter Leugnung das gleiche Gewicht klar, kann man sicher sein, dass zwei benachbarte Einstellungen Sivan den Schwindel vehement bestritten.) mich, dass sie, kaum hatten sie begriffen, was Sivan getan hatte, gibt wie den Vorwürfen, dient bis heute als Munition für andere auch nur aus dem gleichen Prozessabschnitt stammten und dass die Die Frage liegt nahe: Was könnte Sivan zu dieser Art schweren mich fragten, ob der Film einen israelischen Produzenten habe; Fälschungsleugner. zusammengeschnittenen Einstellungen real zusammengehörende Betrugs motiviert haben. Alles deutet auf ein banal politisches Motiv. der nämlich, fügten sie hinzu, könnte sich strafbar gemacht haben. Das deutsche Fernsehpublikum konnte den Vergleich13 sehen, Fragen und Antworten zeigten. Sivan ist erklärter Antizionist und pro-palästinensischer Aktivist. Ihre Anfrage beim Generalsstaatsanwalt, die aus den Fälschungen woraufhin das renommierte Grimme-Institut darüber nachgedacht Zwei Beispiele sollten genügen, um Sivans Taktik in ihren bösen Die Linie, die er verfolgt, läuft darauf hinaus, dass Zionisten den eine kleine cause celebre machte, führte allerdings nicht zu einem haben soll, dem Film den Preis wieder abzuerkennen, den ihm das Folgen zu demonstrieren. Einer der Zeugen scheint sich sekunden- Holocaust als PR-Mittel nutzen, um einerseits die ohne den Holo- Prozess, denn es gab ein Präzedenzurteil, nach dem es nicht gesetz- Institut 2001 verliehen hatte. (Von einem entsprechenden Beschluss lang untröstlich zu winden, anstatt die Frage zu beantworten, warum caust vorgeblich illegitime Existenz des Staates Israel zu stützen widrig ist, in Filmen historisch falsche Behauptungen aufzustellen.11 wurde bislang nichts gemeldet; man ließ die peinliche Angelegenheit er denn keinen Widerstand geleistet habe. Es stellte sich heraus, und andererseits die Diskussion über das Leiden der Palästinenser Die Uraufführung des Films ist inzwischen mehr als zwölf Jahre offenbar ruhen, nannte »Personalwechsel« als Grund dafür, dass dass dem Zeugen Avraham Lindwasser, der im Film zu sehen ist, abzuwürgen. Auch wenn die Palästinafrage kaum von Bedeutung her, etwa halb so lange sind die schlimmsten Einwände gegen seinen die Diskussion bis Juni 2005 nicht wieder aufgenommen wurde.)14 diese Frage im Prozess nie gestellt wurde. (Sie ist in besagter Ein- war für einen Prozess über Ereignisse, die drei Jahre und mehr vor Die Veränderungen, die an den Prozessvideos vorgenommen stellung nur zu hören und stammt von der Tonspur zu einer ganz der Gründung des Staates Israel stattfanden, hat Sivan genau diese wurden, müssten vielleicht gar nicht als Fälschung bezeichnet wer- 9 anderen Stelle des Prozesses.) Tatsächlich bleibt Lindwasser (im Frage in einem Buch aufgegriffen, dessen Koautor er war. In dieser 10 Ronen Leibowitz, »Knesset Members to Eyal Sivan: ›We will not give Money to den, wenn Sivan nicht jede von ihnen bestritten, sich vielmehr offen Film) stumm, weil ihn (während der Vernehmung) seine Gefühle Antisemites‹«. (Knessetabgeordnete zu Eyal Sivan: Wir werden keine Antisemi- ten fi nanzieren), in: News 1, 25.5.2007. Online unter: www.news1.co.il/ Archive/001-D-132143-00.html?tag=09-39-40 (in Hebräisch). 8 »Tik Tikshoret« (»Media File«), Israel Television, Channel 2, 17.5.2005. 11 Vgl. Asher Maoz, »Law and History – A Need for Demarcation«, in: Law and 12 Goel Pinto, »We do fi lms, not archives«, in: Haaretz, 31.2.2005. 9 Rony Brauman, Eyal Sivan, Éloge de la désobéissance, Saint-Armand-Montrond History Review, Vol. 18 (Herbst 2000), online unter: www.historycooperative. 13 3sat, Kulturzeit, Sendung vom 22.2.2005. 7 Israel Army Radio (Galei Tzahal), Sendung vom 4.2.2005. 1999. org/journals/lhr/18.3/maoz2.html. 14 Ralf Rättig (ZDF-Journalist), persönliche Notiz an den Autor vom 15.6.2005.

52 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 53 dazu geäußert hätte, bevor andere sie entdeckt haben. Auch hätte wird. Wenn Rony Brauman im DVD-Interview sagt: »Wir müssen er davor warnen können, seinen Film als Informationsquelle zum nur zurückblicken ins letzte Jahrhundert, um zu sehen, dass jede Eichmann-Prozess zu betrachten, darauf verweisen, dass sein Film moderne Tyrannei keine anderen Spezialeffekte als den Schnitt ein- nichts anderes sei als eine künstlerische Interpretation von Hannah gesetzt hat«, dann wird er gewusst haben, dass er voller Stolz auf Arendts These von der »Banalität des Bösen«, die sie in ihrem Buch den Vertrauenstrick seines eigenen Films hinweist. »Tyrannei« ist Eichmann in Jerusalem (München 1964) entwickelt hat. Selbst ei- ein zudem geschickt gewähltes Wort. Die Filmemacher behaupten nigermaßen kenntnisreiche Zuschauer, denen nicht entgeht, dass fälschlich, das Spielberg Archiv (das, in ihrer Weltsicht, das »zionis- Der unverbesserte Nazi der Film einen ganz bestimmten Blick auf Eichmann, den Prozess tische Establishment« repräsentiert) habe den Zugang zu den Videos und die Strafverfolger vorgeben will, können sich nicht vorstellen, aus inhaltlichen Gründen beschränkt, hätte die Stimme des Täters Eichmann im Dokumentarfi lm dass das Quellenmaterial in einer solchen Weise verfälscht wurde, gedämpft und so die authentische Debatte erstickt. Sehen ist glauben, dass man nicht einmal vom einfachsten Dialog, den man im Film und wer EIN SPEZIALIST sieht und nichts von den Manipulationen von Christoph Schneider zu sehen oder zu hören bekommt, sicher annehmen kann, dass er weiß, sich zudem durch Spezialeffekte ablenken lässt, wird eine Rei- außerhalb von Sivans Fantasie stattgefunden hat. he falscher Überzeugungen zum Prozess, seinen Mitwirkenden und »Das Erste, was einem nach dem Betrachten des Films in den deren Charakter gewinnen. Auf der Basis solcher Missverständnisse Sinn kommt, ist, dass das ganze gerichtliche Verfahren von 1962 kann keine authentische Debatte stattfi nden; und genau das wollen [sic] doch ziemlich einseitig gewesen ist. Es gab offenbar keine Macher von Propagandafi lmen stets erreichen. Einige Szenen aus dem Gerichtssaal in Jeru- Verteidigung für Adolf Eichmann.« So beginnt ein »user review« Wenn ansonsten gut informierte Akademiker in die Fallen tap- salem sind in das kollektive Gedächtnis ein- zu Sivans Film, den die Internet Movie Database (IMDb) 2000 ins pen, die ihnen skrupellose Filmemacher stellen, dann wird man un- gegangen: Adolf Eichmann im Glaskasten, Netz15 gestellt hat, noch bevor die Debatte um die Zuverlässigkeit des willkürlich an James Randi denken, den kanadisch-amerikanischen der Ankläger Gideon Hausner mit Robe im Films ernsthaft begonnen hatte. Bis heute noch äußern sich Blogger, Zauberer und Entfesselungskünstler, der zum professionellen Skep- Christoph Schneider, Studium der Profi l. Möglich wurde dies, weil der Prozess von einem eigens aus offenbar ohne Kenntnis seiner Geschichte, zu dem Film. »Der Film tiker wurde. International bekannt gemacht hat ihn die erfolglose Theater-, Film- und Medienwissen- den USA herbeigeholten TV-Team mit vier Kameras komplett auf des israelischen Regisseurs Eyal Sivan arbeitet mit Originalfi lmma- 15-Millionen-Dollar-Klage, die Uri Geller wegen Verleumdung schaft, Philosophie und Soziologie in Video aufgezeichnet wurde. Diese ungewöhnliche bildliche Fun- terial aus dem Prozess, der zu großen Teilen im Fernsehen übertragen gegen ihn anstrengte. In einem Interview mit der International He- Frankfurt am Main. Seit vielen Jahren dierung eines historisch bedeutsamen Strafprozesses soll der Anlass wurde, plus einigen technischen Tricks (die ich völlig überfl üssig rald Tribune hatte Randi gesagt, Geller habe »selbst angesehene Betreuung von Studien- und Besu- sein, nach dem weiteren Vorkommen des Eichmann-Prozesses im fand).«16 Das schreibt ein deutscher Anwalt, der in England studiert Wissenschaftler« hereingelegt, und zwar mit Tricks der Art, »die chergruppen in der »Euthanasie«- Dokumentarfi lm zu fragen. Angesichts der Fülle können an dieser (und seine Bloggs mal Englisch, mal Deutsch verfasst). Der intelli- auf der Rückseite von Cornfl akes-Schachteln zu stehen pfl egten, Gedenkstätte Hadamar. Konzeption Stelle jedoch keineswegs alle Produktionen der folgenden Jahrzehnte gent verfasste Blog enthält Wendungen wie »Mr. Eichmann replies als ich ein Kind war. Offenbar essen die Wissenschaftler von heute von Studientagen für verschiedene in den Blick genommen werden.1 …« und »Mr. Eichmann responded …«, und wer den Blog liest, keine Cornfl akes mehr.«19 Vor Kurzem hat Randi den Kern seines Einrichtungen. Lehr- und Forschungs- wird feststellen, dass auch dessen Autor, der den Film gesehen hat, Arguments einfacher wiederholt: »Man darf Leute, die nicht kapie- schwerpunkte: Rezeption der NS- davon ausgeht, dass Eichmann, wenn er antwortet, auf eine gerade ren, wie Tricks funktionieren, nicht für dumm halten; sie kapieren Vernichtungspolitik in Film und Erin- DER FALL ADOLF EICHMANN gehörte Frage antwortet – was aber im Fall von EIN SPEZIALIST gerade das nicht, weil es nicht ihre Spezialität ist.«20 nerungskultur, Bildwissenschaft und D 2000, R.: Sabine Keutner, 75 Min., ZDF/3sat nicht sicher ist. Wenn es Menschen gibt, die Eyal Sivans bewusste Täuschun- Dokumentarfi lmtheorie. Im Herbst 2003, bevor ich das der DVD beigegebene »Interview with gen auch nach deren Entdeckung noch mit Entschuldigungen wie erscheint das Buch Das Subjekt der Im Mai 2000, kurz vor dem 40. Jahrestag der Entführung Eich- the Authors«17 gesehen hatte, habe ich über Sivan geschrieben: »Manchmal muss man eben lügen, um auf die Wahrheit zu stoßen«21 Euthanasie (Münster: Verlag Westfäli- manns aus Argentinien, lief auf 3sat in der Reihe »Fernsehen als »Es scheint, dass er auf einen bestimmten Effekt setzt und dabei verteidigen, dann versteht man, dass das Wort »Spezialist« besser sches Dampfboot). Zeitgeschichte« ein moderiertes Gespräch zwischen dem Juristen sehr genau einen traditionellen Trick imitiert, dessen sich Zauberer zu unserem Filmemacher passt als zum Gegenstand seines Films. Foto: Thomas Hasselbeck Gabriel Bach, dem Historiker Wolfgang Scheffl er und dem Journa- bedienen: das Ablenken der Aufmerksamkeit.«18 Unehrliche, aber listen Daniel Dagan: DER FALL ADOLF EICHMANN. Im Laufe des Ge- technisch unaufwendige Schnitte werden, selbst wenn sie großzügig Aus dem Englischen von Klaus Binder sprächs wurde ein Konfl ikt deutlich zwischen Bach – damals in Israel angewendet werden, leicht übersehen, wenn die Aufmerksamkeit des juristischer Berater der Eichmann vernehmenden Polizeibehörde Betrachters zugleich auf Neuerungen der digitalen Technik gelenkt

1 Neben den im Folgenden diskutierten Filmen kämen infrage: ERSCHEINUNGSFORM 15 12.4.2000, online unter: www.imdb.com/title/tt0189172/usercomments. MENSCH: ADOLF EICHMANN (BRD 1979), R.: Rolf Defrank, 107 Min.; MEMOIRES OF 16 18.12.2010, online unter: andreasmoser.wordpress.com/2010/12/18/fi lm-review- 19 Wendy Grossman, »Science: Putting psychics to the test«, The Independent, THE /ZICHRONOT MISPHAT EICHMANN (Israel 1979), R.: David Per- the-specialist-eichmann. 9.12.1996, online unter: www.independent.co.uk/news/science/science-putting- lov, 16 mm, sw; I CAPTURED EICHMANN (Belgien 1980), R.: Michael Sandler, 50 17 THE SPECIALIST, DVD, Interview mit den Filmemachern, Editions Montparnasse psychics-to-the-test-1313819.html. Min.; WITNESS TO THE HOLOCAUST: THE TRIAL OF ADOLF EICHMANN (USA 1987), 90 2000. 20 Zit. nach Wynne Parry, »Magicians to Scientists. Don’t Assume infallibility«, Min.; EICHMANN: THE NAZI FUGITIV/LECHIDATO SHEL ADOLF EICHMANN (Israel 18 Hillel Tryster, »We Have Ways of Making You Believe: The Eichmann Trial as Live Science, 5.12.2010, online unter: www.livescience.com/culture/magician- 1994), R.: Dan Setton, 88 Min.; EIN SPEZIALIST/THE SPECIALIST (F, D, A, B, Il seen in The Specialist« (2003): Eine Kurzversion fi ndet sich online unter: skeptic-101203.html. 1998), R.: Eyal Sivan, 128 Min.; ADOLF EICHMANN – BEGEGNUNGEN MIT EINEM www.spielbergfi lmarchive.org.il/ActivitiesHighEich.htm. 21 2.6.2008, online unter: http://www.imdb.com/title/tt0189172/usercomments. MÖRDER (D/UK/USA 2003), R.: Clara Glynn, 90 Min. NDR/BBC.

54 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 55 und später einer der Vertreter der Anklage – und Scheffl er, der 1961 Eichmanns Vorschub leistete. Der Moderator hat im Versuch der als Beobachter des Auswärtigen Amts den Eichmann-Prozess ver- Pointierung – Rädchen oder Motor – wissentlich oder intuitiv die folgt hatte. Ohne Polemik und somit wenig telegen wurde eine seit von Arendt fi xierte Terminologie erneuert.4 Bach und Scheffl er ver- Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem2 bekannte Konstellation mögen dem Dissens eine dezentere Kontur zu geben, lassen aber variiert. Der Moderator kündigte einen der üblichen Einspielfi lme seine unabgelöste Dringlichkeit aufscheinen. Gegeneinander stehen – ein Zusammenschnitt aus Guido Knopps HITLERS HELFER – DER verschiedene Vorstellungen von der Bedeutung moderner arbeits- VERNICHTER (ZDF 1998) – mit den Worten an: »Adolf Eichmann teiliger Vorgänge hinsichtlich der Verfolgung und Ermordung der war der Auslöser, der Organisator der sogenannten Endlösung der Juden einerseits und vom Erkenntnispotenzial einer Rekonstruktion Judenfrage.« Danach wendete er sich mit der Frage an Scheffl er, der (ideologischen) Motive und des Innenlebens eines Einzelnen. ob Eichmann ein »Untertan«, ein »Apparatschik« gewesen sei oder Bei den Dokumentarfi lmproduktionen, auf die nun das Augen- aus eigenem Antrieb gehandelt habe. Die aufgeladene Situation merk gerichtet werden soll, stehen keineswegs immer die allzu ein- 1961 in Jerusalem erinnernd, sagt Scheffl er sinngemäß: Wenn man fachen Alternativen Rädchen oder Motor, Befehlsempfänger oder das, was in der Öffentlichkeit und letztlich in der Anklage gesagt Aktivposten, Büro oder Ideologie im Vordergrund. Schon deswegen wurde, mit dem verglich, der da im Glaskasten saß, dann klafften nicht, weil die politischen Rahmenbedingungen, in die die Filme hi- Welten auseinander. Weiter attestiert er Eichmann, zwar seine Rol- neinproduziert wurden, sich über die Jahrzehnte massiv veränderten le beschönigt und gelogen zu haben, letztlich aber hätte der wohl und die Intentionen der Filmemacher differierten. Dennoch scheint auch »rothaarige Brillenträger« vom Leben in den Tod befördert, die Grundfrage nach der Bedeutung der Person Eichmanns im Ver- wenn es befohlen worden wäre. Diese Rede, die unmittelbar an hältnis zu ihrer Funktion als Unterstrom immer vorhanden zu sein.5 das Diktum vom subalternen, diensteifrigen, letztlich aber an Ideen und Überzeugungen desinteressierten Befehlsempfänger anschließt, schwächt er kurz darauf ab: Eichmann sei zweifellos ein »wichtiges, EICHMANN UND DAS DRITTE REICH zentrales Rad im Gesamtgeschehen«, jedoch nicht der »Motor der CH 1961, R.: Erwin Leiser, 85 Min. Vernichtung, sondern der Transporteur« gewesen. Seine antisemi- tische Grundeinstellung sei »nicht das ausschlaggebende Moment« Der Film EICHMANN UND DAS DRITTE REICH aus dem Jahr 1961 gewesen. Je höher man das ideologische Moment gewichte, desto folgt einer Chronologie. Nach der Skizzierung des Antagonismus mehr tendiere man dazu, die Gefahren der Verwaltung im Hinblick zwischen Hitler und den Juden, zwischen dem Herrenmenschentum auf genozidale Prozesse zu unterschätzen. und der Mitleidsmoral – durchaus eine nazistische Konfl iktbeschrei- Bach widerspricht Scheffl er: Eichmanns Rolle sei weit bedeu- bung, die der Autor mit umgekehrter Bewertung übernimmt – erzählt tender als die des Transporteurs gewesen. Als einzigen Abteilungs- der Film die Geschichte vom Leben der Juden in Mittelalter und Neu- leiter bzw. Referenten im Amt IV des Reichssicherheitshauptamts3 zeit, über die Machtergreifung, die antijüdischen Gesetze, das Jahr habe man ihn nie ausgetauscht, er habe Transportlogistik für Depor- 1938, den Überfall auf Polen, die Ghettoisierung und Vernichtung Oben links: Der israelische Generalstaatsanwalt Gideon Hausner, Chefankläger tationen beansprucht, wohl wissend, dass sie der Front fehlte, und bis zur Gründung Israels, um schließlich beim Prozess in Jerusalem im Prozess gegen Adolf Eichmann, vor dem Jerusalemer Bezirksgericht. Foto: Süddeutsche Zeitung Photo er habe sogar einen Befehl Hitlers Ende 1944, die Schonung einer zu enden. Verwoben mit dieser Darstellung sind der Werdegang und Gruppe ungarischer Juden betreffend, missachtet. Scheffl er insis- die Rolle Eichmanns. Das Strukturmoment der Verschränkung von Oben: Das von der italienischen Delegation des Roten Kreuzes in Genf ausgestellte tiert, selbstverständlich sei Eichmann in seinem Aufgabenbereich Chronologie und Biografi e wird für Filme über Eichmann einige Ausweisdokument, mit dem Adolf Eichmann unter dem falschen Namen Ricardo Befehlsgeber gewesen, aber es sei eine Folge der Emotionalisierung, Nachahmer fi nden. Klement im Jahr 1950 nach Argentinien einreiste. Foto: Publik Domain dass man seine Person und seine Rolle überschätze. Gemäß einer zeitgenössischen Lesart stehen Hitler und nament- Links: Eichmann beim Hofgang in israelischer Haft. Unschwer zu erkennen ist in diesem Disput die jahrzehntelang lich bekannte Nazigrößen als Akteure im Mittelpunkt: »In 18 Tagen Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/Rue des Archives virulente Frage nach der Rolle und Bedeutung Eichmanns. Die Di- hat Hitler Polen überrannt«. Das Testat der Manipulation, Verführung mension, die die israelische Regierung dem Prozess gab, erscheint und Verlockung auf der Seite der Deutschen geht mit der Sünden- sehr viel adäquater, wenn Eichmann die zentrale Rolle innehatte, die bocktheorie auf der Seite der Juden einher. Problematischer noch ist Bach skizziert. Umgekehrt erwächst Scheffl ers Unbehagen aus der Einschätzung, dass die Umstände des Prozesses einer Dämonisierung

4 »Wir hörten die Beteuerungen der Verteidigung, Eichmann sei doch nur ein ›winziges Rädchen‹ im Getriebe der ›Endlösung‹ gewesen, und die Meinung der Staatsanwaltschaft, die in Eichmann den eigentlichen Motor entdecken zu können 2 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bö- glaubte.« Arendt, Eichmann in Jerusalem, aus d. Amerikan. v. Brigitte Granzow, sen, München 1964. mit einem Essay von Hans Mommsen, Neuausgabe München 1986, S. 17. 3 RSHA, Amt IV: Gegner-Erforschung und -Bekämpfung (Geheimes Staatspolizei- 5 Vgl. Gary Smith (Hrsg.), Hannah Arendt Revisited: »Eichmann in Jerusalem« amt). und die Folgen, Frankfurt am Main 2000.

56 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 57 der Gebrauch der Bilder, denen aufgegeben ist, die Geschichte eines Migration Arendts über ihre ersten Jahre in den USA zum Prozess Die Schlusswendung des Films erscheint von heute aus gesehen Gangs ins Verderben zu zeigen. Unterbrochen lediglich durch ein und Arendts Artikelserie im New Yorker, die dem Buch Eichmann als Vorschein einer bald gewöhnlich werdenden Relativierung der längeres Statement Fritz Bauers relativ zu Beginn und von Sequen- in Jerusalem zugrunde liegt. Der Film verzichtet weitgehend auf Naziverbrechen im antitotalitaristischen Einerlei. Im Versuch, die zen, die Eichmann im Jerusalemer Gerichtssaal zeigen, erscheinen historisches Filmmaterial aus der Nazizeit. Neben Ausschnitten aus Äußerungen ehemaliger -Angehöriger in die Geschichte der im raschen Wechsel Ausschnitte aus Wochenschauen, Naziaufnah- Reden Arendts und dem berühmten Gespräch, das sie 1964 mit Gün- von Arendt entblößten subalternen Mitmachbereitschaft einzuord- men aus den Ghettos sowie Ausschnitte aus dem Film OPFER DER ter Gaus führte, sind Straßenbilder und Alltagsszenen der Gegenwart nen, werden Vernichtungsbefehl und Schießbefehl gleichgesetzt. VERGANGENHEIT. An einigen Stellen nimmt der Kommentar explizit zu sehen, ergänzt von Auftritten ihrer Freunde wie Joseph Mayer, Die Absicht, eine deutsche Mentalität zu denunzieren, verfällt der Bezug auf den Status der Bilder, etwa beim eben genannten Propa- Richard Plant und Lotte Köhler. Bagatellisierung des Handelns von Eichmann. Denn offenkundig gandafi lm, der die Zwangssterilisationspraxis rechtfertigen sollte, Vor dem Hintergrund der Stilisierung Eichmanns als »Superhirn ist es Eike Geisel hier gleichgültig, welchen Taten gegenüber der oder bei einer absurd anmutenden Sequenz, in der ein HJ-Führer der Massenvernichtung« (Avner Less zugeschrieben, dem Polizei- Verweis auf Hierarchie und Common Sense als Entschuldigung oder HANDBUCH DES ANTISEMITISMUS die Geburtstagsglückwünsche seiner Gruppe auf einem Bergkamm offi zier, der Eichmann vernommen hatte) erscheint Arendts forciert zumindest als Erklärung dienen soll. Reklamiert der Filmemacher Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart entgegennimmt. Der fatale Effekt dieser kritischen Hinwendung ist nüchterner Blick auf das Geschehen im Gerichtssaal als notwendiges damit, in den Fußstapfen seiner Protagonistin zu stehen, erweist er Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung die Akzeptanz des übrigen Materials als deskriptiv. Dominiert von Gegengift. Bilder des im Glaskasten sitzenden Eichmann bestätigen ihr einen Bärendienst. der Technischen Universität Berlin herausgegeben von der Intention, die Abfolge von Entrechtung, Ghettoisierung und ihre Wahrnehmung eines befl issenen, gedankenlosen, letztlich seich- Wolfgang Benz Ermordung der Juden nachvollziehbar zu machen, die Taten an die ten Schreibtischtäters. »Er hatte sich nur (…) niemals vorgestellt, In Zusammenarbeit mit Werner Bergmann, Absichtserklärungen zu binden, um das Urteil – sowohl das histo- was er eigentlich anstellte.«6 Der gegen diese Sichtweise gerichtete THE TRIAL OF ADOLF EICHMANN Johannes Heil, Juliane Wetzel und Ulrich Wyrwa rische wie das Urteil gegen Eichmann – fi lmisch zu fundieren, setzt Vorwurf der Verharmlosung Eichmanns spielt für den Film jedoch USA 1997, 117 Min., PBS-Home Video Redaktion: Brigitte Mihok der Film nach der wiedererweckten Begeisterung auf Überwältigung: keine große Rolle. Anschaulich gemacht wird vielmehr, wie fol- 7 Bände Verhungerte in den Ghettostraßen, Zähne und Zahnreste mit Gold, genreich nicht nur diese, sondern vor allem die Position Arendts THE TRIAL OF ADOLF EICHMANN ist ein ausführlicher Dokumen- Massenerschießungen hinter der Front, ausgemergelte Körper und zur Rolle der Judenräte war. Der Kommentar nennt die massiven tarfi lm aus dem Jahr 1997 primär über den Eichmann-Prozess. Ein BAND 4: EREIGNISSE, DEKRETE, Leichen. Bilder, die die Massenvernichtung erweisen sollen, werden Auseinandersetzungen den »ersten Historikerstreit« zum Thema wesentlicher Teil des Films wird mit den Original-Mitschnitten aus KONTROVERSEN mit dem O-Ton Eichmanns vor Gericht unterlegt. Eichmann wird zu Holocaust. Der Vorwurf an Arendt, sie habe eine Mitschuld der Juden dem Gerichtssaal in Jerusalem bebildert. Hier entwickelt der Film 07/2011. Ca. XII, 400 Seiten einem Teil des schockhaft bebilderten Naziterrors zum Preis, dass an ihrer Ermordung behauptet, wird im Film jedoch ebenfalls nicht Qualitäten, die zunächst nicht zu erwarten waren, denn am Beginn Gebunden Ladenpreis € 119,95 [D]/US$ 168.00 die Arbeit der Verwaltung, ihre zivilen Alltage und der Habitus ihrer debattiert, er beschränkt sich auf die Skizzierung der Dimension, die steht eine stereotype Bildfolge: Menschen in Viehwaggons, der Serienpreis für Bezieher der Gesamtedition € 99,95 [D]/US$ 140.00 Akteure gar nicht ins Bild kommen. Die gelegentliche Einblendung die Kampagne gegen Arendt gehabt hat: Joseph Mayer bezeichnet ausfahrende Güterzug, eine bewegte Kommentarstimme mit un- ISBN 978-3-598-24076-8 eBook Unverb. Ladenpreis € 119,95/US$ 168.00 der von Eichmann unterzeichneten Dokumente und Listen fungiert ihre Gegner als »intellektuellen Mob«, Arendt beklagt sich briefl ich terlegter Musik – jener bekannte audiovisuelle Mix zur Erfüllung ISBN 978-3-11-025514-0 eher als Indiz und weniger als Entschlüsselung der Prozeduren. bei Karl Jaspers, dass sie sich dauernd gegen Anwürfe zu verteidigen themenspezifi scher Erwartungen. Bald aber nimmt sich der Film Der vierte Band thematisiert in 207 Artikeln Ereignisse, legislative und Zwar ist der Schreibtischtäter mit den Wirkungen seines Handelns habe, die Positionen beträfen, die sie nie vertreten habe. Thematisiert die Zeit, eine Szene stehen oder einen Zeugen sprechen zu lassen. administrative Akte der Diskriminierung sowie Affären, Skandale und identifi ziert, umgekehrt aber ist die Zivilität subalternen oder büro- wird auch die spezifi sch deutsche Variante der Ablehnung – der Das gilt zumindest für die historischen Gerichtszeugen, weniger für Kontroversen. Behandelt werden u. a. Antisemiten-Kongresse im 19. Jahr- hundert, die „Protokolle der Weisen von Zion“, Schächtverbot-Debatten, kratischen Handelns – die fi skalische Ausplünderung der Juden, die Zorn ihres Wortführers, Golo Mann, richtete sich gegen Arendts die interviewten Überlebenden, wie zum Beispiel Joseph Kleinman die „Verschwörung“ der Kremlärzte, Volkspredigten im Mittelalter, der Fall Entrechtung von Regimegegnern, die Legitimation von Anstalts- Abwertung der Männer des 20. Juli. Der Film referiert all diese oder Eliahu Rosenberg, die zumeist nur mit knappen Statements Jenninger, die Walser-Bubis-Debatte und vieles mehr. morden usw. – nicht denunziert. Der Film vermag die Frage, die mit gewiss schmerzhaft-persönlichen Angriffe auf Arendt, interessiert auftreten. Darüber hinaus kommen Zeitzeugen des Prozesses zu Eichmann aufgetaucht ist, nicht in ihren Implikationen zu verfolgen. sich jedoch wenig für die zugrunde liegenden Differenzen und trägt Wort wie Geoffrey Wigoder, der BBC-Korrespondent, oder Yehudit ZULETZT ERSCHIENEN: Gegen Ende heißt es: »Eichmann ist ein neuer Typ des Mörders. Er Züge einer Huldigung. Hausner, die Frau des Chefanklägers Gideon Hausner. BAND 3: BEGRIFFE, THEORIEN, tötet durch Unterschriften, im Auftrag des Systems. Für ihn sind die Arendt hatte sich mehrfach gegen die grassierende »Schulder- Nach der Darstellung von Eichmanns Flucht zunächst nach IDEOLOGIEN Opfer nur Namen und Zahlen, die in Akten verschwinden. Papier klärung der Unschuldigen« gewandt. Menschen, viel zu jung, um Norddeutschland, dann nach Argentinien und der Geschichte seiner 2010. XII, 388 Seiten blutet nicht.« Gefolgt von Stille und Bildern von Leichenbergen. in Nazitaten involviert gewesen zu sein, äußerten die Bereitschaft, Ergreifung setzt der Film gleichsam neu an mit den Prozessvor- Gebunden Ladenpreis € 119,95 [D]/US$ 168.00 historische Schuld auf sich zu nehmen, derweil eine Unzahl tat- bereitungen, das heißt dem mehrmonatigen Verhör und der nicht Serienpreis für Bezieher der Gesamtedition € 99,95 [D]/US$ 140.00 ISBN 978-3-598-24074-4 sächlicher Täter, durchaus gedeckt von Kollegen und Nachbarn, minder gründlichen architektonischen Präparation der Gerichtsszene. eBook Unverb. Ladenpreis € 119,95/US$ 168.00 ERBSCHAFT EINES ANGESTELLTEN der Sühne ihrer konkret benennbaren Schuld entkämen. Plastisch Hausner wird gezeigt, wie er das Gespräch mit Überlebenden sucht, ISBN 978-3-11-023379-7 ÜBER HANNAH A RENDT, EICHMANN UND DIE BANALITÄT DES BÖSEN wird diese Einschätzung durch ein Foto anlässlich der Verleihung sich also um die moralische Legitimität bemüht, die gleichsam his- Band 3 widmet sich Begriffen, Theorien und Ideologien des Antisemitismus BRD 1990, R.: Eike Geisel, 44 Min. SFB der Ehrendoktorwürde 1972 in New York. Hannah Arendt steht, nur torische Anklage zu führen. von A wie „“ bis Z wie „Zwangstaufe“. durch eine weitere Person getrennt, neben dem ebenfalls geehrten Der Einbezug des Materials der Prozessdokumentation kommt Knapp 30 Jahre nach Erwin Leiser thematisiert Eike Geisel den UN-Generalsekretär , dessen NS-Vergangenheit zu ohne Musiksoße und ohne Filmschnipsel von Deportationen, Ghet- Eichmann-Prozess vor dem Hintergrund des Falls der Mauer zur der Zeit nicht öffentlich bekannt war. tozuständen oder der Öffnung der Lager aus. Einstellungen, die die Preise in US$ gelten für Bestellungen aus Nordamerika DDR. Aber nicht nur die historischen Marksteine sind verschoben, Zuschauerränge und immer wieder Eichmann zeigen, suggerieren Preisänderungen vorbehalten Preise inkl. MwSt. mit Hannah Arendt und ihrem Bericht steht jetzt auch ein Moment Dialogizität. Die Präsenz des Publikums wird auch in Zwischenru- der Rezeptionsgeschichte im Mittelpunkt. Der Film ERBSCHAFT fen und dem Aufruhr nach dem Zusammenbruch des Auschwitz- www.degruyter.com EINES ANGESTELLTEN schlägt einen Bogen von den Umständen der 6 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 16. Überlebenden Yehiel De-Nur (unter dem Pseudonym Ka-Tzetnik

58 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 59 Autor mehrerer Bücher) spürbar. Es ist eine gespenstische Szene, wird dabei jene Art des fi lmischen Erzählens, die historische Fotos, Der Film spielt in Argentinien und handelt von der Enttarnung Bemühungen, ihn dingfest zu machen, unterstreicht. Der Höhe- in der der Zeuge in der Befragung aufsteht, wie als wolle er endlich eingestreute Stadt-, Fassaden- und Landschaftsansichten der Ge- Eichmanns und der Zeit der Sassen-Interviews. Eindrücke aus dem punkt des Films ist die Identifi zierung Eichmanns durch Sylvia mit gehen, dann auf das Verlangen des Gerichts, weiter Antworten zu genwart, kurze bedeutungsschwere Einstellungen auf schließende Prozess runden den Film lediglich ab. Dramaturgisch ähnelt das anschließender Gefangennahme. Zuvor wohnen wir im Hause Sassen geben, sich wieder hinsetzt, nur um erneut aufzustehen und auf der Zellentüren oder Ähnliches, ein paar Interviewsequenzen mit Über- Dokudrama dem Spielfi lm, denn es werden in der Regel konturierte einem endgültigen »Geständnis« Eichmanns bei – einer Rede, in der Stelle zusammenzubrechen. Die latente Gewalt der Präsenzforde- lebenden, Einstellungen aus dem Gerichtssaal in Jerusalem und eine Handlungsstränge entwickelt, die auf einen Grundkonfl ikt zulaufen, er sich in zynischen und kalten Worten zum Ziel der Ausrottung der rung, die Ökonomie der verbleibenden Bewegungen bestimmt auch Fülle historischer, zum allergrößten Teil nazideutscher Filmmateri- der den Zuschauer in den identifi katorischen Bann schlägt. Das Juden bekennt. In der Begleitpublizistik wird betont, dass es sich eine zweite denkwürdige Szene. Moshe Beisky wird jene Frage alien zusammenwirft. Manchmal durchdringt die ursprünglich den Gerüst bilden in diesem Fall die Gespräche im Hause von Willem bei diesen Dialogen um eine wortwörtliche Übernahme der Sassen- gestellt, die das dominante zionistische Selbstverständnis dieser Bildern beigegebene Tonspur kurz den Musikteppich, beide hängen Sassen, die Liebesgeschichte zwischen Sylvia und Nick, dem Sohn Protokolle handele. Abgesehen davon, dass die Transkription der Zeit ausdrückt, mehr noch: es dem Überlebenden entgegenhält: Why jedoch am Bändel des allwissenden Kommentars. Der so erzeugte Eichmanns, sowie die Ermittlungen des Vaters von Sylvia, des jü- Protokolle etwa einen Umfang von 800 Seiten hat, der Auswahl didn‘t you revolt? Der Zeuge hatte bis dahin seine Aussage stehend Flow verhindert gewöhnlich jeden weiterführenden Gedanken über dischen Überlebenden Lothar Hermann. Der entstehende Konfl ikt also enorme Bedeutung zukommt, ist es kommunikationstheoretisch vorgebracht. Nun hält er inne und schweigt. Er dreht sich um, greift die Sache sowie die Refl exion der Darstellung, in der sie über den ist im Grunde ein romantischer: Sylvia steht zwischen ihrer Familie nicht leicht einzuholen, wie viel von einem Sprechen im niedergeleg- nach dem Stuhl und sagt, für eine Antwort müsse er sich setzen. Die Rezipienten kommt.8 Vor den Augen des Zuschauers ersteht eine und ihrer Liebe, zwischen den aus der Geschichte resultierenden ten Textgehalt geborgen ist und welche Bedeutungsanteile, welche Szene wird plötzlich unruhig, weil ein Gerichtsdiener herbeitritt und hermetische Deutung, die sich immer schon auf die angesteuerten Gerechtigkeits- und Sühneforderungen und ihrem jungen geschichts- vor- und asemantischen Mitteilungen sich der Körperhaltung, der dem Zeugen fürsorglich den Stuhl zurechtrücken will. Nach einem Emotionen stützen kann, bevor sie die Bilder als Belege in Anspruch losen Glück. Die narratologisch mit den Fahndungsbemühungen Stimmlage, der Diktion, den Gesten und, nicht zu vergessen, der weiteren schweigenden Blick in den Zuschauerraum setzt dieser zur nimmt. Keinesfalls bereit, ein Zeugenstatement als disparat, ein Bild verschlungenen Sassen-Gespräche charakterisieren Eichmann als Interaktion mit den Gesprächspartnern verdankt. Klar ist jedoch, Antwort an und erläutert die Bedingungen im Lager und die Gründe, als Fragment, eine Sequenz als vom Kontinuum der Geschichte unverbesserlichen Nazi, was die Berechtigung der väterlichen dass den Filmzuschauer die Darstellung letztgenannter Momente wieso eine Rebellion unmöglich schien. Dabei redet er sich in Rage abgesprengt stehen zu lassen, ist der Film vielmehr bemüht, jeden unmittelbar angehen, noch bevor er die Rede ihrem semantischen – gestikulierend, sitzend. Diese die Großerzählung skandierenden Riss, alle Brüche und Ungereimtheiten vergessen zu machen. Gehalt nach versteht und mit dem ersten Eindruck in Übereinstim- Eindrücke können auch von den gelegentlich wieder einsetzenden Auch SECRET MEMOIRS verknüpft den panoramischen Geschichts- mung zu bringen versucht. Diese Macht der fi lmischen Inszenierung Standardbildfolgen nicht mehr weggewischt werden. blick mit der Biografi e Eichmanns, erzählt also die NS-Geschichte wird geleugnet, wenn man das Spiel von Ulrich Tukur und Herbert »Without the trial our stories would never had been told.« Der von Mitte der 20er Jahre bis 1945 um dessen Lebensdaten herum. Knaup als Durchsicht auf Sassen und Eichmann präsentiert. Solche Einschnitt in das Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft, Eine Herangehensweise, die nicht nur den bildmächtigen nazisti- Beglaubigungsformen verstellen die analytische Distanz, die der den , ein Überlebender des Vernichtungslagers So- schen Triumphalismus bedenkenlos reinszeniert, sondern auch dazu Dokumentarfi lm – sofern er nicht gänzlich im Flow aufgeht – ermög- bibór, mit diesen Worten ausdrückt, resultiert aus der politischen angetan ist, den Ereignissen eine Teleologie einzuschreiben. Maß- licht. Aber auch das spielfi lmgemäße nachträgliche Erkunden des Entscheidung, die Vernichtung der Juden mit all ihren Schauplätzen geblich im Hinblick auf Eichmann ist jedoch, dass diese Erzählform eigenen Erlebens angesichts einer Inszenierung kann kaum gelingen, zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Mag der Prozess wegen den Schluss nahelegt, ohne Eichmann hätte die Vernichtung nicht weil man umstellt ist von Echtheitsverweisen, die themenspezifi sch dieser staatspolitischen Aufl adung, wegen seiner Theatralität und stattfi nden können – die Art des Zugriffs befördert die Überhöhung zudem eine erhebliche moralische Fallhöhe haben – auch dieser Film wegen des Ansinnens, Eichmann für die gesamte Judenverfolgung der historischen Rolle Eichmanns. kommt nicht ohne Bilder von Leichenbergen aus. verantwortlich zu machen, zu Recht kritisiert worden sein, er hat Der Blick auf einige Eichmann-Dokumentationen endet somit jedenfalls nicht nur den bis dahin stummen Überlebenden Sprechorte bei einem Film, der sich hilfl os, gegenüber seiner Quelle macht, mit maximaler Sichtbarkeit geschaffen,7 sondern auch die strafrecht- EICHMANNS ENDE – LIEBE, VERRAT, TOD hilfl os wie Erwin Leiser gegenüber dem Wochenschaumaterial war. liche Verfolgung bislang unbehelligter NS-Täter zur tagesaktuellen D 2010, R.: Raymond Ley, 89 Min., WDR EICHMANNS ENDE zeigt den endlos sein Handeln wiederkäuenden, Frage gemacht. wiederverzehrenden Eichmann. Als wäre es damit getan, seine Sätze EICHMANNS ENDE – LIEBE, VERRAT, TOD ist der stimmungsvolle vom Knarzen und Rauschen alter Bänder zu befreien, die »Ähs« Titel eines sogenannten Dokudramas, ein Format, das Spielszenen nicht zu vergessen und diesen Text mit den Konfl ikten in der Familie ADOLPH EICHMANN – THE SECRET MEMOIRS mit historischen Foto- und Filmmaterialien und neuen Interviewsze- Hermann zusammenzubringen. Das Strömende dieser Rede, das IL/NL 2002, R.: Nissim Mossek, Alan Rosenthal, 112 Min. nen mischt. Wobei nicht die Integration fi ktionaler Elemente das Pro- Heraufbeschwören der Arbeit im Referat IV B 4 des RSHA, das blem ist – hinter einer prinzipiellen Kritik steht häufi g ein unhaltbarer über alle Wochenenden eines halben Jahres andauerte, das Auskosten Titelgebend für die zweiteilige Produktion ADOLPH [sic] EICH- Abbildrealismus des Dokumentarischen –, sondern das Bemühen, des Massenmords wäre vielleicht ein unerhörtes, ein entstellendes MANN – THE SECRET MEMOIRS ist das Tagebuch, das Eichmann in der die Darstellungsebenen zu verwischen und mit aller Macht das Spiel und damit nicht nur den Zuschauer, sondern auch den Gegenstand israelischen Haft schrieb und das laut Anklagevertreter Gabriel Bach zu authentifi zieren. So werden zum Beispiel Zeitzeugen, die im Film packendes Stilmittel geworden, wenn man ihm erlaubt hätte, die später dem Gericht übergeben wurde und in den Akten lag, von den auftreten, und die von Schauspielern verkörperten Figuren mit den narratologische Form zu sprengen. Aber so füllt Eichmann den Raum Filmemachern aber als »secret about fourty years« eingestuft wird. gleichen Inserts identifi ziert. der Imagination mit dem Mord an den Juden, und nichts und nie- Von dem Tagebuch aus will der Film nun die Spur des wirklichen mand, kein Formgedanke nimmt es mit dem auf, was er sagte und Adolf Eichmann aufnehmen. Annähernd zur Vollendung geführt tat, sagend wieder tat und tatsächlich noch einmal von den Bildern bestätigt bekommt. 8 Zur Erzeugung des Flows, vor allem im Medium Fernsehen, vgl. Vivian Sob- chack, »Frohes neues Jahr«, in: Eva Hohenberger, Judith Keilbach (Hrsg.), Die 7 Vgl. Inge Deutschkron, Israel und die Deutschen. Das schwierige Verhältnis, Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfi lm, Fernsehen und Geschichte, Ber- Adolf Eichmann in seiner Gefängniszelle wenige Tage vor Prozessbeginn. Köln 1983, S. 133. lin 2003, S. 129; sowie ebd., Einleitung der Herausgeberinnen, S. 16. Foto: Ullstein Bild/AP

60 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 61 Von den einst rund 60.000 Krakauer Juden lebten im April griffen willkürlich, später organisiert, Juden zu Zwangsarbeiten auf, 1941 nur noch etwa 15.000 im Getto, 3.000 von ihnen ohne eine demütigten sie auf offener Straße. Aufenthaltserlaubnis. Damit lebten fünfmal so viele Menschen als Bald schon lenkten die Besatzer die Verfolgung der Juden in vor Einrichtung des Gettos in dem heruntergekommenen Stadtteil. »geordnete« Bahnen und erließen eine Vielzahl antijüdischer Ver- Von den 300 bis 320 Häusern waren viele nur einstöckig und in ordnungen, die das Leben erheblich einschränkten: Juden muss- »Die mauerten uns ein« schlechtem Zustand. In dieser katastrophalen Enge musste sich die ten eine Armbinde mit Davidstern tragen, ihre Geschäfte wurden von den deutschen Besatzern geschaffene Zwangsgemeinschaft so gekennzeichnet, ihnen war bald darauf die Benutzung von Zügen Vor 70 Jahren wurde das gut es eben ging neu fi nden und organisieren – und das in einem nach verboten, der Zugang zu vielen Parks und Grünanlagen blieb ihnen außen abgeriegelten und bewachten Raum, nicht frei von inneren verwehrt, sie waren zu Zwangsarbeit verpfl ichtet, und auf der Ver- Krakauer Getto eingerichtet Konfl ikten und unter miserabler Versorgung. sorgungsskala rangierten sie auf der untersten Stufe. All dies traf die Juden im gesamten Generalgouvernement, wie die Nationalso- von Andrea Löw und Markus Roth Vor dem Getto zialisten den nicht annektierten Teil des besetzten Polen nannten. In Krakau jedoch kam ein besonderer Umstand hinzu: Seit Oktober Der tiefe Einschnitt, den das Getto für die Krakauer Juden zwei- 1939 war Krakau Hauptstadt des Generalgouvernements und damit felsohne bedeutete, war nur eine, wenn auch zentrale Etappe ihres April 1941, man feierte trotz allem gerade Leidens und ihrer Verfolgung, die eineinhalb Jahre zuvor bereits in

das Pessachfest im gerade eben – März 1941 den ersten Tagen der deutschen Besatzungsherrschaft im September Die Gettomauer wird gebaut, Mai 1941. – entstandenen Getto im Krakauer Stadtteil 1939 begonnen hatte: Die Deutschen plünderten jüdische Geschäfte, Foto: ADN-ZB/Archiv Podgórze. An der Stacheldrahtumzäunung Andrea Löw, wissenschaftliche zur »arischen« Seite zogen Arbeiter auf. Roman Polanski, der mit Mitarbeiterin am Institut für Zeit- seinen Eltern in einer Wohnung unmittelbar an der Gettogrenze geschichte München – Berlin im wohnte, konnte beobachten, was nun vor sich ging: »Plötzlich begriff Editionsprojekt »Judenverfolgung ich. Die mauerten uns ein! Ich brach völlig entsetzt in Tränen aus. 1933–1945«, zuvor wissenschaftli- Dies war das erste wirkliche Zeichen, daß die Deutschen es blutig che Mitarbeiterin der Arbeitsstelle ernst meinten.«1 Konnte der junge Roman bis dahin noch aus der Holocaustliteratur an der Justus- Wohnung wenigstens auf die andere Seite schauen und den Alltag Liebig-Universität Gießen, Veröf- in der vermeintlichen Freiheit beobachten, blieb ihm auch dies in fentlichungen u.a.: Juden im Getto Zukunft versperrt: »Die Handwerker mauerten auch den Haupt- Litzmannstadt. Lebensbedingungen, eingang und die Fenster auf der einen Seite unseres Appartement- Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göt- Blocks zu, so daß wir nicht mehr auf den Platz und auf die Kirche tingen 2006. blicken konnten. […] Was früher einen so hübschen Anblick geboten hatte – eine ruhige Straße, die auf einen offenen Platz mit Bäumen Markus Roth, stellvertretender Leiter führte –, war jetzt eine Sackgasse inmitten roter Ziegelfl ächen.«2 der Arbeitsstelle Holocaustliteratur So wie Roman Polanskis Familie erlebten viele Gettobewohner an der Justus-Liebig-Universität diese Zuspitzung ihrer Isolierung vom Rest der Krakauer Bevölke- Gießen und wissenschaftlicher Mit- rung. Die Mauer, die weite Teile des relativ kleinen Gettos umgab, arbeiter am Herder-Institut Marburg, machte die trostlose Lage noch greifbarer, zumal die Deutschen es Veröffentlichungen u.a.: Herrenmen- nicht an Zynismus fehlen ließen, wie der jüdische Arzt Julian Alek- schen. Die deutschen Kreishauptleute sandrowicz feststellte, als er über die Mauer schrieb: »Die Arbeiter im besetzten Polen – Karrierewege, gaben ihr die Gestalt von Grabsteinen. Mit welcher Perfi die die Herrschaftspraxis und Nachgeschich- Psychologen des ›Herrenvolkes‹ mit den Seelen ihrer Gefangenen te, Göttingen 2009; Theater nach spielten!«3 Auschwitz. George Taboris Die Kan- nibalen im Kontext der Holocaust- Debatten, Frankfurt am Main 2003. Im Frühjahr 2011 erscheint im Wall- 1 Roman Polanski, Roman Polanski. Autobiographie, Bern, München 1984, S. 19. stein Verlag von Andrea Löw und 2 Ebd. 3 Julian Aleksandrowicz, Kartki z dziennika doktora Twardego [Blätter aus dem Markus Roth Juden in Krakau unter Tagebuch des Doktor Twardy], Kraków 2001, 4. Aufl ., S. 31 (Übersetzung aus deutscher Besatzung 1939 bis 1945. dem Polnischen).

62 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 63 die Zentrale des NS-Besatzungsapparats, an dessen Spitze Hans Umsiedlung gemeldet hatte, berichtet: »In den Wohnungen der dort Frank als Generalgouverneur stand. Frank, der sein selbstherrliches lebenden Juden, die ohne die elementarste sanitäre Ausstattung waren, Drahomír Jancˇík, Eduard Kubu°, Jirˇí Šouša (Hg.) und korruptes Regime vom alten Königsschloss Wawel aus führte, wurden einige oder gar ein Dutzend Juden einquartiert, ein Teil der waren die Juden in der Stadt ein Dorn im Auge. Schon im April 1940 Ankömmlinge kam in die Badeanstalt, wo Unmengen von Menschen Arisierungsgewinnler erklärte Frank laut Protokoll der Abteilungsleitersitzung: »Wenn ohne Möbel auf dem Fußboden wohnten – wenn man überhaupt von Die Rolle der deutschen Banken bei der „Arisierung“ und Konfi skation jüdischer Vermögen im Protektorat 7 die Autorität des nationalsozialistischen Reiches aufrecht erhalten Wohnen sprechen kann.« Angesichts solcher Zustände, die Epidemien Böhmen und Mähren (1939–1945) werden solle, dann sei es unmöglich, daß die Repräsentanten dieses verursachten, traten manche die Rückreise nach Krakau an. Unter Mitarbeit von Jirˇí Novotný Reiches gezwungen seien, beim Betreten oder Verlassen des Hauses Als sich die »freiwillige« Umsiedlung der Krakauer Juden aus Studien zur Sozial-und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas 21 mit Juden zusammenzutreffen, daß sie der Gefahr unterlägen, von Sicht der Besatzer über Gebühr in die Länge zog und nicht die ge- 2011 . Ca. 428 Seiten, 3 Abb., 42 Tabellen , br Seuchen befallen zu werden.«4 Künftig sollten, forderte Frank, nur wünschten Ergebnisse brachte, gingen die deutschen Behörden zu ISBN 978-3-447-0 6432- 3 Ca. € 29,80 (D) / sFr 52,– noch 5.000, maximal 10.000 Juden in der Stadt leben dürfen, die als Zwangsmaßnahmen über. Ab Ende November 1940 führte die deut- Der Band Arisierungsgewinnler ist das Ergebnis langjähriger Forschungen Handwerker dringend benötigt würden. sche Polizei gemeinsam mit der polnischen Razzien durch, über die eines Teams von Wirtschaftshistorikern der Karls-Universität Prag. Im ° Zunächst setzten die Deutschen auf »freiwillige« Abwanderung Irena Glück in ihrem Tagebuch berichtet: »Es ist schrecklich. Sie Vordergrund der von Drahomír Jancˇík, Eduard Kubu und Jirˇí Šouša erarbeiteten umfassenden Untersuchung der „Arisierungs“-Tätigkeit der Juden. Der , den die Deutschen im September 1939 als holen alle Männer aus den Häusern und aus den Straßenbahnen. Sie deutscher Banken im „Protektorat“ Böhmen und Mähren steht die Frage, Vollzugsorgan ihrer Befehle eingesetzt hatte, versuchte unter Leitung durchsuchen die Dachböden. […] In der Stadt herrscht Verzweif- ob die Banken (mit der Dresdner und der Deutschen Bank an der Spitze) in von Marek Bieberstein, die Last der Umsiedlung möglichst gerecht lung. Wie werden wir das alles überleben?«8 Allein im Dezember die Rolle ausführender Organe des NS-Regimes hineingezwungen wurden – und erträglich zu gestalten. Unter den Krakauer Juden herrschte mussten etwa 20.000 Juden die Stadt verlassen. Diese Vertreibung oder ob sie nicht vielmehr, als dessen bereitwillige Helfershelfer, skrupellose Profi teure der „Arisierung“ waren. Jenseits der Frage nach dem Stellenwert große Angst und vor allem auch Unsicherheit. Joseph Hollander, setzten die Nationalsozialisten im Januar und Februar 1941 fort. der Banken beleuchtet die Studie die umgreifenden gesellschaftlichen der rechtzeitig in die USA hatte emigrieren können, erreichten dort Am 27. Februar erklärte der Gouverneur des Distrikts Krakau, Otto Kontexte ihrer Tätigkeit und damit das gesamte Spektrum der Nutznießer beunruhigende Nachrichten seiner Verwandten aus Krakau. Klara Wächter, alle bisherigen Ausweise für ungültig; nur noch diejenigen des Judenmords, bis in die letzten Winkel der Städte und auch des fl achen Hollander schrieb ihm: »Vielleicht hilft Gott uns, dass wir bleiben sollten in der Stadt leben dürfen, die bis zum 15. März eine neue Landes hinein. Eindringlich belegt wird so, dass nicht nur kleine Klüngel von dürfen. Aber es ist Krieg, wir leben wie auf einem Vulkan und Befehl Kennkarte erhielten. Um diese überhaupt zu bekommen, musste Partei- und Staatsfunktionären, sondern breite Kreise der Wirtschaft aus dem Raub jüdischen Vermögens Nutzen zogen. ist Befehl.« Mania Hollander gab die Hoffnung noch nicht ganz man eine Bescheinigung über geleistete Arbeit vorlegen, wodurch auf: »Wir leben in Chaos und Unsicherheit, aber vielleicht wird am vor allem junge und in den Augen der Deutschen arbeitsfähige Juden Jascha Nemtsov Ende alles gut.« Salo Hollander schrieb verzweifelt nach Amerika: eine Aufenthaltsgenehmigung für die Stadt bekamen. Deutsch-jüdische Identität »Wenn nicht im letzten Augenblick etwas geändert wird, werden Diese Maßnahmen und Nachrichten aus anderen Orten ließen und Überlebenskampf wir gezwungen sein, Krakau zu verlassen. Wohin? Ins Ungewisse.«5 das Gerücht über die Bildung eines Gettos aufkommen, das sich bald Jüdischer Arzt bei einem Hausbesuch im Krakauer Getto. Foto: bpk/Artur Grimm Jüdische Komponisten im Berlin der NS-Zeit Viele wussten nicht, was besser sei – bleiben oder die Stadt ver- schon als wahr herausstellte: Am 3. März ordnete Wächter die Errich- Jüdische Musik 10 lassen. Halina Nelken, ein damals 16-jähriges Mädchen, schreibt im tung eines »Jüdischen Wohnbezirks« an. Bis zum 20. März mussten 2010. 354 Seiten, 83 Abb., 1 Audio CD mit Aufnahmen von Jakob Schönberg, Oktober 1940 in ihr Tagebuch: »Die Leute kombinieren dies und die Menschen nach Podgórze, dem heruntergekommenen Stadtteil am Arno Nadel, Karl Wiener, Oskar Guttmann und Alfred Goodman, br das, die einen denken, gerade in Krakau sei es am sichersten, die anderen Weichselufer, umziehen. Den dort lebenden Polen wiederum Ich will nicht, daß mir der leere Magen knurrt, daß es im Zimmer so ISBN 978-3-447-06269-5 € 38,– (D) / sFr 66,– anderen fahren in die Provinz.«6 Diejenigen, die mehr oder minder wurde die gleiche Frist gesetzt, ihre Wohnungen zu verlassen. Diese kalt ist, daß Vater so entsetzlich dünn ist, so übermüdet, daß die Haut Im Mittelpunkt von Jascha Nemtsovs Monographie stehen sechs Kompo- freiwillig die Stadt verließen, wussten, wenn sie nicht bei Verwandten warteten oft bis zuletzt, in der Hoffnung, doch noch bleiben zu dürfen. nach den letzten Tagen wie an einem Skelett an ihm herunterhängt. nisten: Arno Nadel, Jakob Schönberg, Werner Seelig-Bass, Karl Wiener, unterkommen konnten, oft nicht, wohin. Nicht selten kamen sie in Das hatte zur Folge, dass der Umzug vieler Juden völlig überhastet Ich will nicht, daß Mama so abgezehrt ist, daß bei uns ständig Hunger, sowie Oskar und Alfred Guttmann. Auf vielfältige Weise beteiligten sie sich am einzigartigen Aufschwung der deutsch-jüdischen Kultur im Rahmen 9 fremden, vollkommen überfüllten Orten an, wo man sie zurückwies. und unorganisiert stattfi nden musste. Bei Weitem nicht jeder hatte Kälte, Verbitterung und Mutlosigkeit herrschen.« der Jüdischen Kulturbünde, der der vollständigen Vernichtung in der Shoa Die jüdischen Gemeinden in den Aufnahmeorten bemühten sich nach bis zum gesetzten Termin eine Wohnung im Gettogebiet gefunden, vorausging. Die Schicksale und das Wirken dieser Musiker stehen exempla- Kräften, den neu angekommenen Menschen zu helfen, doch litten sie zumal dort, wo zuvor 3.000 Menschen gelebt hatten, ohnehin nicht Im Getto risch für die Kultur des deutschen Judentums, die dem Jüdischen und dem selbst unter dem Verfolgungsdruck, sodass die Lebensbedingungen ausreichend Platz für die nunmehr 15.000 neuen Bewohner war. So Deutschen gleichermaßen verpfl ichtet war: „Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu katastrophal waren, wie Maks Szwarcbach, der sich nach einem ge- blieb manchen Unglücklichen zunächst keine andere Möglichkeit, als Der Judenrat sah sich mit Errichtung des Gettos vor eine Vielzahl neuer lösen“ (Jakob Wassermann). scheiterten Fluchtversuch in sowjetisch besetztes Gebiet freiwillig zur auf den Straßen oder in Hinterhöfen zu nächtigen. Im Getto herrschte Probleme gestellt, von denen das Wohnraumproblem nur eines, wenn Nemtsov geht es um eine Neubewertung des jüdischen Musiklebens im allgemein Verzweifl ung, auch bei denen, die, wie Halina Nelkens Fa- auch das zunächst dringendste war. Die Versorgung der Menschen mit Berlin der Jahre 1933–1941 sowie um die Entdeckung und die Wiederein- milie, auf Anhieb ein Zimmer für sich gefunden hatten: »Ich will nicht. Lebensmitteln und Medikamenten war unter den neuen Verhältnissen gliederung von bedeutenden Kulturwerten in das Kulturleben der Gegen- wart. Seine Publikation, die zahlreiche seltene Abbildungen enthält, ist das erheblich schwieriger geworden, als sie es zuvor ohnehin schon gewe- 4 Werner Präg, Wolfgang Jacobmeyer (Hrsg.), Das Diensttagebuch des deutschen Ergebnis einer Pionierforschung auf diesem Gebiet, zu der Archivrecher- Generalgouverneurs in Polen 1939–1945, Stuttgart 1975, S. 165 (Eintrag vom sen war. Vor allem mussten sie sich auch mit den fundamental anderen chen in mehreren Ländern gehörten. Der Monographie ist eine Audio-CD mit 12.4.1940). Bedingungen eines abgeriegelten Gettos, das sie vieler bisher noch konzertanten Mitschnitten von den ersten Wiederaufführungen der Werke 5 Christopher Browning, Richard S. Hollander, Nechama Tec (Ed.), Every Day 7 Bericht Maks Szwarcbach, Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego [Ar- dieser Komponisten im Oktober 2009 beigelegt. Lasts a Year. A Jewish Family’s Correspondence from Poland, Cambridge 2007, chiv des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau] (AŻIH), 301/5765, Bl. 2 f. S. 156 f. (Übersetzung aus dem Englischen). (Übersetzung aus dem Polnischen). HARRASSOWITZ VERLAG • WIESBADEN 6 Halina Nelken, Freiheit will ich noch erleben. Krakauer Tagebuch, Reinbek b. 8 Tagebuch Irena Glück, AŻIH, 302/270, Bl. 43 (Eintrag vom 2.12.1940; Überset- www.harrassowitz-verlag.de • [email protected] Hamburg 1999, S. 107 (Eintrag vom Oktober 1940). zung aus dem Polnischen). 9 Nelken, Freiheit will ich noch erleben, S. 126 (Eintrag vom 25.3.1941).

64 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 65 möglicher sozialer Kontakte beraubte, arrangieren. Diese zwar für alle waren dringend auf Kontakte nach draußen und die Möglichkeit, Im selben Monat lief auch die »Aktion Reinhardt« an, die syste- der seit Februar Kommandant des nahe gelegenen Zwangsarbeitsla- gleiche Situation erfuhren die Krakauer Juden je nach Alter, Herkunft, zusätzliche Lebensmittel in das Getto zu schaffen, angewiesen. In matische Ermordung der polnischen Juden in den eigens errichteten gers Płaszów war, leitete diese zweitägige »Aktion«. Am 13. März sozialem Status etc. anders. Die allen gemeinsame Bedrohung führte den ersten Monaten war dies noch leichter, viele hatten Passierschei- Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka. Die National- mussten sich alle Bewohner von Getto A vor dem Gettotor einfi nden, auch keineswegs zur Bildung einer homogenen und solidarischen Ge- ne oder arbeiteten tagsüber in anderen Teilen der Stadt. Bisweilen sozialisten begannen damit, angefangen in Lublin und in Lemberg, wo sie einer willkürlichen Selektion unterzogen und zum Beispiel meinschaft. Alte soziale oder politische Konfl ikte bestanden fort oder drückten einzelne polnische Polizisten, die das Getto gemeinsam mit Juden in diese Todeslager zu deportieren. In zwei mehrtägigen De- alle Kinder zurückbehalten wurden. Die übrigen Juden führten die verschärften sich, neue brachte die veränderte Lage mit sich. der deutschen Polizei bewachten, auch ein Auge zu. Wie existenziell portationsaktionen im Juni und Oktober 1942 schickten sie auch Deutschen ins Lager Płaszów. Trotz aller Probleme entwickelte sich im Getto auch ein Alltags- diese zusätzlichen Versorgungswege waren, zeigt ein Tagebuchein- aus dem Krakauer Getto, dessen Bevölkerungszahl zwischenzeitlich Am Tag darauf rückten schwer bewaffnete SS- und Polizeikräfte leben, ein Stück Normalität. Die Menschen lebten ihre Religion, jun- trag der 14-jährigen Renia Knoll: »Papa hat keinen ›Passierschein‹ durch Umsiedlungen aus dem Umland auf über 20.000 angestiegen in das Getto ein und trieben mit bisher nicht da gewesener Brutalität ge Menschen hatten mit den ganz normalen Problemen Jugendlicher bekommen. Das ist für uns ein schrecklicher Schlag. Jetzt müssen wir war, rund 14.000 Menschen nach Bełżec und ermordeten sie dort die Bewohner des Gettos B auf dem plac Zgody zusammen, wo diese zu kämpfen, sie verliebten sich, fl irteten und tanzten. Es gab musika- vor Hunger sterben. Denn schließlich war Krakau unser Brot. Und in den Gaskammern. Diese »Aktionen« verliefen immer nach dem stundenlang und unter ständiger Demütigung ausharren mussten. lische Darbietungen und andere kulturelle Veranstaltungen. Halina wenn nicht vor Hunger, dann sterben wir vor Entkräftung. Immer gleichen Schema: Deutsche und polnische Polizei umstellten das Dabei richteten die deutschen Einheiten im Getto ein Blutbad an. Nelken schreibt, angetan von der Musik, die ihr Bruder und andere wieder wird mir schwindelig, und immer öfter habe ich einfach nicht Getto, alle Gettobewohner mussten mit ihren Papieren zur Regist- Die Patienten der Krankenhäuser erschossen sie in ihren Betten, auch in einem Café darboten: »Musikalische Klänge in dieser häßlichen die Kraft, mich zur Arbeit zu schleppen.«12 rierung kommen, wo die Dokumente derjenigen gestempelt wurden, diejenigen, die sie in Verstecken aufstöberten, ermordeten sie an Ort Umgebung – was für ein Kontrast! Man tat so, als ob man lebt.«10 Ein großer Teil der Gettobevölkerung war dringend auf Unter- die zunächst von der Deportation ausgenommen werden sollten. und Stelle. Auf dem Weg vom Getto zum Bahnhof erschossen die Arbeit war – das war den Krakauer Juden spätestens im Zuge stützung angewiesen. Der Judenrat widmete einen Großteil seiner Alle Übrigen mussten sich auf dem plac Zgody versammeln oder Begleitmannschaften immer wieder Einzelne. Insgesamt ermordeten der Gettoeinrichtung bewusst geworden – nicht nur für die eigene Arbeit diesem Bereich, er richtete Volksküchen, auch solche speziell wurden unter roher Gewalt dorthin getrieben. Von hier brachte man sie an diesem Tag etwa 2.000 Menschen im Getto oder auf dem Weg Versorgung lebensnotwendig, sondern unabdingbare Voraussetzung für Intellektuelle ein. Hunger und Enge erhöhten das Seuchenrisiko sie in einem Fußmarsch zum Bahnhof in Płaszów und zwängte sie zum Zug, 3.000 deportierten sie ins Vernichtungslager. Damit war die für den Verbleib im Getto. Für viele, vor allem für Intellektuelle, immens, in weiten Teilen des Gettogebiets gab es keine Kanalisati- in die bereitstehenden Züge. Geschichte des Krakauer Gettos an ihr blutiges Ende gekommen, die war es besonders schwierig, einen Arbeitsplatz zu ergattern, da ihre on. Daher bildete die Jüdische Gemeinde eine Sanitätskommission, Im März 1943, zwei Jahre nach seiner Errichtung, wurde das Leidensgeschichte vieler Krakauer Juden aber setzte sich im Lager Qualifi kationen nicht mehr gefragt waren. Die deutsche Verwaltung, schuf ein öffentliches Bad und unterstützte die Krankenhäuser. Die Getto aufgelöst. Zuvor war es in zwei streng voneinander getrennte Płaszów und später noch in anderen Lagern fort. Von einst 60.000 der sehr an einer Ausbeutung der Juden als billige Arbeitskräfte ge- Anstrengungen des und der unermüdliche Kampf der Ärzte Bereiche, Getto A und B, geteilt worden. In Getto A lebten die Ar- Krakauer Juden erlebten das Kriegsende nur 4.000, mehr als 1.000 legen war, richtete eigens eine Abteilung des Arbeitsamts im Getto zeitigten Wirkung – das Krakauer Getto blieb, anders etwa als das beitskräfte mit ihren Familien, in Getto B alle anderen. Amon Göth, von ihnen allein dank Oskar Schindler. ein. Arbeit gab es bei deutschen oder polnischen Firmen, die ihre weitaus größere Warschauer Getto, von Seuchen verschont. Profi te durch die Beschäftigung von Juden steigern konnten, bei der Doch nicht alle Gettobewohner handelten so, dass es den an- Wehrmacht und anderen deutschen Einrichtungen. Die bekanntesten deren half. Einige Juden dienten sich den Deutschen, speziell der Firmen, wegen der dort besseren Arbeitsbedingungen bei den Men- Gestapo, an und gingen für diese Spitzeldiensten im Getto nach. schen heiß begehrt, waren die Textilfabrik des Österreichers Julius Manch einer von ihnen kam so zu erheblichem Wohlstand und Ein- Madritsch oder die Emailwarenfabrik Oskar Schindlers. Jüdische fl uss. Besonders berüchtigt und umstritten war auch der jüdische ¼=VccV]6gZcYi]Vi&.+(Y^ZW^h]ZjiZ\“ai^\ZGZedgiV\Z Handwerker schlossen sich auch selbst zu Arbeitsgemeinschaften Ordnungsdienst, der unter der Leitung von Symche Spira bereits “WZgZ^cZcYZgheZ`iV`ja~ghiZcEgdoZhhZYZh'%#?V]g]jcYZgih zusammen und organisierten Bestellungsannahme, Produktion und 1940 gegründet worden war. Etliche der Ordnungsdienstmänner \ZhX]g^ZWZc!:^X]bVcc^c?ZgjhVaZb#7Zii^cVHiVc\cZi]c^bbi Auslieferung gemeinsam. Neben der von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz nutzten ihre Stellung zur persönlichen Bereicherung und verrichte- Y^ZhZcI^iZac^X]ioj[~aa^\Vj[/H^ZWZhX]gZ^Wi:^X]bVcchÑYjc`aZ variierenden, aber immer unter den ohnehin schon niedrigen Löhnen ten ihre Aufgabe rücksichtslos und brutal. Es gab aber auch solche, ?V]gZÐ!Y^ZOZ^i!^cYZgYZgDWZghijgbWVcc[“]gZgkZghX]lVcY für Polen liegenden Bezahlung brachte eine regelmäßige Beschäfti- die versuchten zu helfen oder das Leid durch ihre Arbeit nicht noch jcYYZg7ZVj[igV\iZ[“gY^ZÑ:cYaŽhjc\YZg?jYZc[gV\ZÐ^cYZg gung oft auch zusätzliche Versorgung mit Mahlzeiten. unnötig steigern wollten. A“cZWjg\Zg=Z^YZ^cY^ZJchX]Z^cWVg`Z^iVWiVjX]iZ!^bLVaY Die Kinder blieben tagsüber oft sich selbst überlassen, mussten VgWZ^iZiZ!=“]cZg]^ZaijcYh^X]he~iZg!cVX]YZg;ajX]iVjh zusätzliche Verantwortung übernehmen oder in relativ jungen Jahren Vernichtung :jgdeV!^c7jZcdh6^gZhWZ^BZgXZYZh7ZcoVchiZaaZca^Z›# auch arbeiten. Halina Nelken etwa berichtet von der für sie ungewohn- ten und qualvollen Arbeit in einer Bürstenfabrik: »Mit einem Haufen Die Ordnungsdienstmänner hofften, als die ersten Deportationszüge ;Vhic^X]ihlVgW^h]Zg“WZgY^ZhZ[“c[oZ]c?V]gZWZ`Vcci# ekelhafter, verschmutzter Haare auf dem Schoß begannen wir, einen in das Vernichtungslager Bełżec im Juni 1942 Krakau verließen, Bettina Stangneth :^X]bVcckdg?ZgjhVaZb^hiY^Z

10 Ebd., S. 131 (Eintrag vom 6.4.1941). 12 Tagebuch Renia Knoll, AŻIH, 302/197, Bl. 176 (Eintrag vom 7.7.1941; 6gX]Z 11 Ebd., S. 166 f. (Eintrag vom 8.10.1941). Übersetzung aus dem Polnischen).

66 Einsicht Einsicht 05 Frühjahr 2011 67 Rezensionen Buch- und Filmkritiken

81 Markus Heckmann: NS-Täter und Bürger der 96 Hans Kundnani: Utopia or Auschwitz. Germany’s 1968 Two bursaries for the Leo Baeck MA Bundesrepublik. Das Beispiel Dr. Gerhard Klopfer Generation and the Holocaust von Kurt Schilde, Siegen/Potsdam von Wolfgang Kraushaar, Hamburg in European Jewish History

82 Michael Geyer, Sheila Fitzpatrick (Hrsg.): Beyond 98 Miriam Y. Arani: Fotografi sche Selbst- und Fremdbilder The Leo Baeck MA trains scholars towards undertaking independent re- search on Jewish history, culture and thought in Europe. It provides a strong Totalitarianism: Stalinism and Nazism Compared von Deutschen und Polen im Reichsgau Wartheland grounding in approaches and theories which have infl uenced the ways in von Alex J. Kay, Frankfurt am Main 1939–45. Unter besonderer Berücksichtigung der Region which scholars understand Jewish history. Simultaneously, the MA introdu- Wielkopolska ces students to a wide range of sources available for European Jewish stu- 83 Jana Jelitzki, Mirko Wetzel: Über Täter und Täterinnen von Ingo Loose, Berlin dies. Parti cular att enti on will be paid to the Jewish response to modernity and problems around the defi niti on and issues of assimilati on and identi ty. sprechen. Nationalsozialistische Täterschaft in der The role of anti semiti sm and the origins of the Holocaust are central, as is pädagogischen Arbeit von KZ-Gedenkstätten 100 Katarina Bader: Jureks Erben. Vom Weiterleben nach Jewish intellectual history, focusing on the ideas of eminent Jewish thinkers von Ingolf Seidel, Berlin dem Überleben about the place of Jews and Judaism in pre-modern and modern society. von Jochen August, Berlin/Oświęcim The Leo Baeck Insti tute in conjuncti on with the School of History, Queen Mary, University of London is off ering two bursaries tenable for the acade- 85 Bill Niven: Das Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion mic year 2011–2012 for students taking the Leo Baeck MA in European Je- und Propaganda 101 Katalin Pécsi (Bearb.): Salziger Kaffee. Unerzählte wish History. The bursary will cover the fee at the Home/EU rate. Rezensionsverzeichnis von Harry Stein, Gedenkstätte Buchenwald Geschichten jüdischer Frauen von Jochen August, Berlin/Oświęcim The Leo Baeck Insti tute Liste der besprochenen Bücher The Leo Baeck Insti tute (LBI) is the leading research insti tute in the fi eld of 87 Ladislaus Löb: Geschäfte mit dem Teufel. Die the history and culture of German-speaking Jewry in Europe from the 17th Tragödie des Judenretters Rezső Kasztner. Bericht eines 102 Jacques Picard: Gebrochene Zeit. Jüdische Paare im Exil Century onwards. It was founded in 1955 and named aft er Leo Baeck, the 70 Insa Meinen: Die Shoah in Belgien Überlebenden von Birgit M. Körner, Frankfurt am Main last public representati ve of the Jewish Community in Nazi Germany. Among von Pim Griffi oen, von Regina Fritz, Wien the Insti tute’s publicati ons are the Leo Baeck Insti tute Year Book and the Schrift enreihe wissenschaft licher Abhandlungen. The insti tute has recently 104 Michael Brocke, Margarete Jäger, Siegfried Jäger, established two research professorships to investi gate the role of German- 72 Freia Anders, Katrin Stoll und Karsten Wilke (Hrsg.): 88 Seef Eisikovic: Erinnerungen eines ehrbaren Fälschers Jobst Paul, Iris Tonks (Hrsg.): Visionen der gerechten speaking Jews in 19th and 20th century academia. Der Judenrat von Białystok. Dokumente aus dem Archiv von Ladislaus Löb, University of Sussex, Brighton Gesellschaft. Der Diskurs der deutsch-jüdischen des Białystoker Ghettos 1941–1943 Publizistik im 19. Jahrhundert The School of History at Queen Mary The School of History at Queen Mary is one of the largest history departments Sara Bender: The Jews of Białystok. During World War II 89 Joachim Carlos Martini: Musik als Form geistigen Wider- von Mathias Berek, Leipzig in London and off ers a very wide range of degree courses and research op- and the Holocaust standes. Jüdische Musikerinnen und Musiker 1933–1945 portuniti es. It provides fi rst-rate teaching fuelled by cutti ng-edge research von Markus Roth, Gießen/Marburg von Helga Krohn, Frankfurt am Main 105 Jörg Bremer: Unheiliger Krieg im Heiligen Land. within a friendly, welcoming atmosphere with an emphasis on student sup- Meine Jahre in Jerusalem port. Queen Mary is ranked among the top 15 research universiti es in the UK. 74 Jürgen Matthäus and Mark Roseman: Jewish Responses 90 Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen von Igal Avidan, Berlin General Entry Requirements to Persecution. Vol. 1: 1933–1938 von Alexandra Senfft, Hagenheim/Hofstetten An upper second class honours undergraduate degree or higher in History von Andrea Löw, München 106 Viktoria Korb: … kein polnischer Staatsbürger (or overseas equivalent). Mature students from other academic backgrounds 91 Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die von Hans-Christian Dahlmann, Warschau are encouraged to apply. 76 Jacek Andrzej Młynarczyk, Jochen Böhler (Hrsg.): Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang Please visit www.qmul.ac.uk/postgraduate/apply/index.html to download an applicati on form and ensure you submit a statement of purpose addres- Der Judenmord in den eingegliederten polnischen mit schlimmer Vergangenheit 107 Eva Lezzi: Beni, Oma und ihr Geheimnis sing the following: Gebieten 1939–1945 von Dmitrij Belkin, Fritz Bauer Institut von Isabel Enzenbach, Berlin › Why do you want to study the Leo Baeck MA in European Jewish History Catherine Epstein: Model Nazi. and programme at Queen Mary? the Occupation of Western Poland 93 Angela Genger, Hildegard Jakobs (Hrsg.): Düsseldorf. › How do you think the MA will assist you in your future ambiti ons? › Please identi fy any relevant experience which has prepared you for this von Markus Roth, Gießen/Marburg Getto Litzmannstadt. 1941 programme. von Dorothee Lottmann-Kaeseler, Wiesbaden Deadline for receipt of applicati ons for bursaries: 9 May 2011 78 Michael Mayer: Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und »Judenpolitik« in 94 Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der Contact: Further informati on links: Jon Cliff ord www.history.qmul.ac.uk NS-Deutschland und Vichy-Frankreich »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- Admissions Administrator www.jewishstudies.history.qmul.ac.uk von Anne Klein, Köln und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 Tel: +44 (0)20.7882 8370 www.leobaeck.co.uk Hrsg. von Wolfgang Benz: Lexikon des Holocaust j.cliff [email protected] 79 Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe The United States Holocaust Memorial, Geoffrey P. Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Megargee (Ed.): Encyclopedia of Camps and Ghettos Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik 1933–1945, Vol. I von Kurt Schilde, Siegen/Potsdam von Markus Nesselrodt, Berlin

68 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 69 Judenverfolgung in Belgien der Deportation zu entkommen. Dazu konnte die Autorin Quellen nut- bislang, die Deportation im Wesentlichen beschrieben. Tatsächlich aber in Belgien zu etwa gleichen Teilen in diesen beiden Ballungsräumen zen, die bis vor wenigen Jahren gar nicht oder nur schwer zugänglich wurde, wie Insa Meinen zeigt, die Mehrheit der aus Belgien deportier- gewohnt hatten. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Opferzahlen in waren, zumindest aber nicht die Aufmerksamkeit fanden, die sie ver- ten Juden nicht während dieser Großrazzien verhaftet, sondern durch beiden Städten gleich gewesen wären. Frühere Forschungen des bel-

dient hätten. Das betrifft vor allem die Archive des deutschen Devisen- individuelle Festnahmen und die Verhaftung kleiner Gruppen. Und gischen Historikers Lieven Saerens haben ergeben, dass rund zwei schutzkommandos, in denen sich auch Unterlagen von Einheiten der es waren nicht die deutsche Feldgendarmerie und Sicherheitspolizei, Drittel der jüdischen Bevölkerung Antwerpens, dagegen nur ein Drittel Insa Meinen deutschen Grenzpolizei befi nden, die entlang der belgischen Grenzen auch nicht die reguläre belgische Polizei, die diese Schmutzarbeit vor der Brüssels deportiert wurden. Saerens hat das zunächst mit der Rolle Die Shoah in Belgien nach Frankreich und den Niederlanden patrouillierten und dabei Juden allem leisteten. Viel bedeutsamer war das Wirken des bereits erwähnten der Antwerpener Behörden und Stadtpolizei erklärt. Doch reichte das, Darmstadt: Wissenschaftliche verhafteten, die ins Ausland zu entkommen suchten. Devisenschutzkommandos, der deutschen Grenzpatrouillen, der Gehei- wie sich herausstellte, als Erklärung der unterschiedlichen Opferquo- Buchgesellschaft, 2009, Das Buch ist von Interesse nicht nur für Forscher, sondern auch men Feldpolizei (GFP) sowie belgischer sogenannter Vertrauensleute ten nicht aus, und Saerens verwies darauf, dass die Untergrund- und 254 S., € 59,90 für Studenten und angehende Wissenschaftler, denn es ist die einzige (V-Leute) oder agents provocateurs. Letztere verleiteten Juden, die Widerstandstätigkeit in Antwerpen später einsetzte als in Brüssel, au- Studie zu diesem Thema in deutscher Sprache. Das erste Kapitel bie- dafür häufi g ihr letztes Geld einsetzten, im Land selbst unterzutauchen ßerdem seien in Antwerpen prodeutsche kollaborationsbereite Flamen tet einen allgemeinen Überblick über das deutsche Besatzungsregime oder über die Grenze zu gehen, und verrieten sie dann an die deutsche als »Judenjäger« aktiv gewesen. Insa Meinen erhebt Einwände gegen Während der ersten dreieinhalb Jahrzehnte in Belgien, über die deutsche Polizei, über die Rolle der belgischen Polizei. Mit Blick darauf wird sehr viel klarer, auf welche Weise Ju- die von Saerens präsentierten Statistiken aus Antwerpen und Brüssel. nach 1945 war die Historiografi e der Sho- Behörden bei der Durchsetzung antijüdischer Verordnungen der den versuchten, der drohenden Deportation zu entkommen, vor allem Die Zahlen, so schreibt sie, die Saerens verwendet, basierten auf Per- ah in Belgien verglichen mit den Niederlanden oder Frankreich im Besatzer sowie über Beginn und Verlauf der Deportation aus Belgien. dann, wenn ihre Versuche im letzten Moment scheiterten – kurz vor sonendaten von nur 60 Prozent der Juden, die aus Belgien deportiert Rückstand. In den 1980er Jahren dann holte Belgien auf, zunächst mit Das zweite Kapitel beschäftigt sich ausführlich mit der Association dem Entschluss unterzutauchen oder über die Grenze zu entkommen. wurden; und die Datenlage werde dadurch noch weiter verzerrt, dass den bahnbrechenden Büchern und Aufsätzen von Maxime Steinberg, des Juifs en Belgique (AJB), den belgischen Judenrat, der im November In solchen Fällen sind die diversen Strategien, mit denen Juden zu Saerens die offi zielle AJB-Registrierung verwendet, in der die Brüsseler denen etwas später verschiedene Arbeiten Lieven Saerens’ folgten. 1941 durch eine deutsche Verordnung installiert wurde. Die Leitung überleben versuchten, eingeschlossen die Versuche, gefälschte Papiere Juden unterrepräsentiert sind. Juden in Antwerpen seien, so Meinen, Inzwischen sind drei große Sammelbände erschienen, Belgium and the übernahmen prominente Juden belgischer Staatsangehörigkeit, die zu erwerben und eine nichtjüdische Identität anzunehmen, in Polizei- wahrscheinlich noch gefährdeter gewesen als die in Brüssel, weil sie Holocaust (Jerusalem 1998), Les curateurs du ghetto (Brüssel 2004), von der deutschen Militärverwaltung eingesetzt wurden. Die AJB war berichten, Beschlagnahmungslisten des Devisenschutzkommandos konzentrierter in einem Stadtviertel lebten. Und schließlich stehe fest, La Belgique docile (Brüssel 2007), und mit dem hier besprochenen eine »Zwangsvereinigung«, die Ausschluss und Segregation der Juden und Verhörprotokollen der deutschen Besatzer festgehalten worden. dass bereits von 1941 an eine konstante Abwanderung der Juden aus Buch hat die wissenschaftliche Erforschung der Shoah in Belgien erleichtern sollte; doch zeigt dieses Kapitel auch, dass die Association – In vielen Fällen sind das die letzten schriftlichen Lebenszeichen und der Region Antwerpen nach Brüssel stattgefunden habe. Daraus nun die Studien zu den Niederlanden möglicherweise sogar überholt. Die insbesondere in den vier Städten, in denen sie von lokalen Ausschüssen Belege für Aktionen der Opfer – eine bedeutende Erweiterung des schließt Meinen, dass für beide Städte bislang keine verlässlichen Zah- Forschung dort scheint, betrachtet man die verglichen mit Belgien repräsentiert wurde – nicht nur ein Werkzeug in der Hand deutscher Quellenmaterials, vor allem weil die Versuche, sich der Deportation len zu den Opfern vorliegen, weder absolute noch Prozentzahlen; hier unterdurchschnittliche Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen, Besatzer war. Das war nur möglich und konnte auch eine Weile durch- durch Flucht zu entziehen, bislang nur aus Tagebüchern der Opfer oder müsse weiter geforscht werden. Hinsichtlich der Frage, wie ab etwa unter dem »Gesetz des schwindenden Vorsprungs« zu leiden. gehalten werden, weil die Teilung von Aufgaben und Kompetenzen, die aus Erinnerungen und sehr viel später niedergeschriebenen Memoiren Oktober 1942 die jüdischen Deportierten in ihrer Mehrzahl in die Hand Wie die Autorin in der Einleitung schreibt, zielt die vorliegende zwischen der Militärverwaltung und ihren Unterabteilungen einerseits Überlebender rekonstruiert werden konnten. der deutschen Sicherheitspolizei gerieten, kann Meinen zeigen, dass Monografi e, trotz ihres Titels, nicht auf eine detaillierte Gesamtdar- und der deutschen Sicherheitspolizei, einer Untergliederung der SS, Darum versucht das vierte Kapitel die Fluchtversuche nachzu- dies wohl das Werk einzelner Informanten, Denunzianten, V-Leute, stellung der Shoah in Belgien. Vielmehr nimmt sie die Lücken früherer andererseits herrschte, genutzt werden konnte. Die hinter den Kulissen zeichnen, die Juden unternahmen, bevor sie dann doch verhaftet und Mitglieder der fl ämischen SS und dergleichen gewesen ist, die häufi g Forschungsarbeiten zum Ausgangspunkt. Aus diesem Grund wird die ausgetragenen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Wehrmacht und SS mit dem Zug deportiert worden sind, der Belgien am 31. Juli 1943 vom mit fünf Prozent des Geldes oder der Ausplünderung der Juden, zu der jüngere detaillierte Studien vorliegen, gehörten bekanntlich zum allgemeinen Muster des Machtkampfs, der Richtung Auschwitz verlassen hat. In diesem Zug, dem sogenann- Wertsachen honoriert wurden, die sich im Besitz der Juden befanden, als nur am Rande behandelt. Auch die Rolle der belgischen Regierung sowohl in NS-Deutschland wie in den besetzten Gebieten zwischen ten Transport 21, saßen 1.552 jüdische Gefangene, und die Autorin diese verhaftet wurden. Aufgrund neuer Archivfunde kann die Autorin und Behörden wird nur in begrenztem Umfang dargestellt, weil mit NSDAP, SS und Wehrmacht ausgefochten wurde. versucht herauszufi nden, wie genau sie den Besatzern in die Hände belegen, dass eine direkte Verbindung bestand zwischen den Versuchen, La Belgique docile eine ausführliche Untersuchung zu diesem Thema Das dritte Kapitel beschäftigt sich ausschließlich mit den Vorgän- fi elen, ohne dass die deutsche Polizei große Razzien veranstaltet die verbliebene Juden bereits Ende August, Anfang September 1942 vorliegt, die eine Historikerkommission im Auftrag des belgischen gen, die zur Verhaftung und damit zur Deportation von Juden führten. hätte. Vor allem in diesem Kapitel gelingt es der Autorin, die Er- unternahmen, sich zu verstecken, und der erzwungenen Veränderung Parlaments erstellt und 2007 veröffentlicht hat. Auf welche Weise Eine frühere Version dieses Kapitels ist unter identischem Titel auf eignisse nicht nur aus der Perspektive der Verfolger, der Täter, ihrer deutscher Polizeimethoden; die Polizei sah von Großrazzien ab und ging genau und mit Unterstützung welcher Helfer – das ist die zentrale, Französisch und Englisch in den Cahiers de la Mémoire contempo- Komplizen und ihrer Taktiken darzustellen, sondern auf dem Weg zu Einzelverhaftungen und subtileren Taktiken der Verfolgung über. leitende Frage in Insa Meinens Studie – wurden die Juden aufgespürt raine (Nr. 6, 2005) bzw. in den Yad Vashem Studies (Vol. 36/1, 2008) biografi scher Studien auch die Stimme der einzelnen Opfer hörbar Wie die Schlussbetrachtung zunächst betont, darf man die Rolle, und verhaftet, die dann der deutschen Sicherheitspolizei überstellt und erschienen. Zusammen mit dem folgenden bildet dieses Kapitel den zu machen und einen direkten Zugang zu ihren Handlungen zu fi n- die die Militärverwaltung bei der Deportation der Juden aus Belgien nach Auschwitz in den Tod deportiert wurden? Dabei konzentriert sich Kern des Buchs. Bis vor Kurzem hatte sich die Forschung zur De- den. Mit anderen Worten: Es entsteht ein direkter Zusammenhang spielte, nicht unterschätzen: Die Sicherheitspolizei konnte sich jeder- das Buch auf den Zeitraum von Juli 1942 bis . portation der belgischen Juden auf die »hundert Tage« von Anfang zwischen den Strategien der Juden und den Methoden der Verfolger. zeit auf die Kooperationsbereitschaft der Feldgendarmerie verlassen. Auf den ersten Blick und angesichts der bereits vorliegenden Lite- August bis Ende Oktober 1942 konzentriert, auf die groß angelegten In Kapitel fünf wird die Zusammensetzung der Deportierten im Anders als bei ihren Militärkameraden im besetzten Frankreich blieb ratur zur Judenverfolgung in Belgien mag es so aussehen, als sei dieses Massenverhaftungen und Razzien durch die deutsche Feldgendarme- bereits erwähnten Zug vom 31. Juli 1943 mit der in vier anderen De- die Mitwirkung der deutschen Militärverwaltung in Belgien – so- Thema in allen Aspekten genügend aufgeklärt; aber an Meinens Buch rie und Sicherheitspolizei, im Fall Antwerpen auch mit erzwungener portationszügen (drei vom Oktober 1942 und einem vom Mai 1944) wohl was Entscheidungen wie deren Umsetzung betraf – während zeigt sich, dass gründlichere Forschung neue Fakten und Einsichten Unterstützung durch die belgische Ortspolizei. In diesen drei Monaten verglichen. Auch deren Insassen wurden nicht während großer Razzien, der gesamten Periode der Deportationen beträchtlich. Ein weiteres zutage fördern kann, auch darüber, auf welche Weise die meisten der wurden 16.621 der insgesamt über 25.400 jüdischen Deportationsopfer sondern einzeln oder in kleinen Gruppen verhaftet. Die große Mehr- Ergebnis betrifft die Antwerpener Polizei: Deren Mitwirkung bei den Juden, die aus Belgien deportiert wurden, in die Hand von Deutschen aus Belgien verschleppt. Damit sowie mit den ersten Wochen schrift- heit der Deportierten – sowohl in diesen Zügen wie auch allgemein Verhaftungen ist in der bisherigen Forschung überbewertet worden. Die gerieten. Zwar waren die Juden in Belgien all ihrer Rechte beraubt, licher Arbeitseinsatzbefehle und der Evakuierung jüdischer belgischer – hatte zuvor in Brüssel oder Antwerpen gelebt. Das ergibt sich auch meisten der deportierten Juden wurden einzeln oder in kleinen Gruppen dennoch fanden sie, auch darüber berichtet die Studie, Möglichkeiten, Männer aus den Arbeitslagern in Nordfrankreich sei, so dachte man daraus, dass zu Beginn der Besatzung rund 90 Prozent aller Juden verhaftet, und die belgische Polizei spielte bei diesen Aktionen keine

70 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 71 bedeutende Rolle. Diese Arbeit erledigten diverse deutsche Polizei- Getto Białystok – Dokumente und Forschung in Brand und ließen die mindestens 800 Menschen bei lebendigem sehr auf die Einordnung durch die Aufsätze verlassen. Ein geson- behörden, unterstützt von belgischen Informanten und Denunzianten. Leib verbrennen. Insgesamt töteten sie etwa 7.000 Juden in den er- derter Konferenzband und ein, freilich ausführlicher kommentierter Das dritte und letzte Ergebnis betrifft Abwehrstrategien der Juden sten Wochen der deutschen Besatzung. Wenige Wochen später, am Quellenband wären zwar ungleich aufwendiger, aber durchaus loh- selbst, von Bedeutung waren hier insbesondere ihr Untertauchen und 1. August 1941, dem Tag, an dem Gauleiter aus dem be- nenswert gewesen. So aber bleibt der Leser mit manchen Fragen an der Aufbau des organisierten Widerstands (das Comité de défense des nachbarten Ostpreußen die Verwaltung des neu geschaffenen Bezirks die Dokumente allein. In der Meldung 383 zum Beispiel gibt der Juifs, CDJ). Die meisten der zuletzt doch verhafteten und deportierten Freia Anders, Katrin Stoll und Białystok übernahm, schufen sie das Getto, in dem fortan circa 43.000 Judenrat im Januar 1943 bekannt, dass ein Jude für das unberechtigte Juden haben sich ihrer Verhaftung entziehen wollen, indem sie sich ge- Karsten Wilke (Hrsg.) Männer, Frauen und Kinder leben mussten. Der von den Deutschen Verlassen des Gettos ausgepeitscht wird (S. 271). Da in anderen fälschte Papiere besorgten, unterzutauchen oder zu fl iehen versuchten. Der Judenrat von Białystok. eingesetzte Judenrat mit Efraim Barasz an der Spitze musste nun die Regionen des besetzten Polen hierauf die Todesstrafe stand, fragt Es gab Unterschiede in der wirtschaftlichen Verfolgung von Ju- Dokumente aus dem Archiv des Befehle der Nationalsozialisten umsetzen und innerhalb des Gettos das man sich, ob dies in Białystok nicht der Fall war oder die betreffende den, wie sie in Belgien einerseits, in Frankreich und den Niederlanden Białystoker Ghettos 1941–1943 Zusammenleben und die Arbeit organisieren, für die Versorgung mit Person Glück hatte. Eine andere Meldung (Nr. 114, S. 189) fordert die andererseits durchgeführt wurde; in Belgien waren die Juden darum Paderborn: Schöningh Verlag, 2010, Lebensmitteln und Medikamenten sorgen und vieles mehr. Die Stra- Kinder, die sich für die erste und zweite Klasse registriert haben, auf, offensichtlich in der Lage, ihre Versuche, sich der Deportation zu 527 S., € 58,– tegie, durch produktive Arbeit ein vitales Interesse bei den deutschen sich zu einem bestimmten Termin einzufi nden. Wie es aber um das entziehen, zu fi nanzieren. Was die Lektüre des Buchs meiner Meinung Verantwortlichen für den Erhalt des Gettos zu wecken, war letztlich Schulwesen im Getto bestellt war, erfährt der Leser hier leider nicht. nach allerdings nicht klärt, ist, wie sie gefälschte Papiere erworben Sara Bender zum Scheitern verurteilt, da sie an der grundlegenden Vernichtungsab- Auch die Protokolle des Judenrats hätten an vielen Stellen einer haben, wie sie Verstecke »kaufen«, also Zimmer in einfachen Pensi- The Jews of Białystok. During World sicht nichts änderte. Im Februar 1943 wurden 10.000 Menschen nach Erläuterung bedurft. In den Protokollen Nr. 42 bis 44 zum Beispiel onen oder billigen Hotels mieten, sich (auf dem Schwarzmarkt) Le- War II and the Holocaust Treblinka und Auschwitz deportiert und dort überwiegend ermordet, sind Fälle von Erpressung, Diebstahl und von Morden, die einem bensmittel beschaffen konnten oder Menschen dafür bezahlen, dass Hanover/London: Brandeis University im August desselben Jahres folgte die Deportation von weiteren 30.000 Quintett um Grisha Zelikowicz innerhalb des jüdischen Ordnungs- sie die Flüchtlinge über die Grenze nach Frankreich oder weiter weg Press, 2008, 384 S., € 38,99 Menschen, bis schließlich das Getto im September aufgelöst wurde. dienstes zugeschrieben werden, das beherrschende Thema. Eine Er- brachten. Wie mir scheint, muss es für all das in gewissem Umfang ei- Wie in anderen Großgettos im deutschen Herrschaftsbereich er- läuterung der Hintergründe, eine Einordnung dieser Geschichte oder nen Wirtschaftskreislauf gegeben haben; die Ausplünderung der Juden kannten einige ihre Aufgabe darin, das Leben und Sterben der Men- ein biografi scher Kommentar zu den Personen fehlt aber, und sei es durch die Deutschen kann nicht ganz so gründlich erfolgt sein wie in schen zu dokumentieren und Zeugnis für die Nachwelt abzulegen. Im nur der Hinweis darauf, dass über die in den abgedruckten Dokumen- den Niederlanden. Der organisierte jüdische Widerstand, vor allem das November/Dezember initiierte -Tamaroff ein ten vorhandenen Informationen hinaus nichts Weiteres bekannt ist. CDJ, wurde bereits im September 1942 gegründet, doch tatsächlich Białystok im Nordosten Polens und der Be- geheimes Gettoarchiv, dessen Arbeit wir heute die meisten Informa- Erschwert wird die eigenständige Spurensuche des Lesers dadurch, dauerte es bis in den Februar 1943, bis das Komitee so weit gewach- zirk Białystok, die mit dem Überfall auf die tionen über das Getto in Białystok verdanken. Ein Teil hiervon liegt dass sich das Personenverzeichnis nur auf den Dokumententeil, nicht sen war, dass es den vielen Tausend Juden, die Verstecke brauchten, Sowjetunion im Juni 1941 unter deutsche Besatzungsherrschaft ge- nun nach einer hebräischen Edition erstmals auf Deutsch vor, nachdem aber die Aufsätze bezieht. So fi ndet sich zwar schließlich nach müh- diese in größerem Umfang und professioneller organisiert beschaffen rieten, waren jahrzehntelang ein weißer Fleck der westlichen Holo- diese Dokumente bereits im Bielefelder Białystok-Prozess eine promi- samem Suchen im Aufsatz von Sara Bender über den Judenrat in konnte. Ich denke, Tausende von Juden, die bereits im September und caustforschung. Es waren vor allem die Überlebenden selbst, die wie nente Rolle gespielt hatten. Es sind dies die Protokolle des Judenrats Białystok eine Stelle zu dieser Affäre (S. 372), doch bringt diese Oktober 1942 untergetaucht waren, mussten in den ersten Monaten Szymon Datner vom Jüdischen Historischen Institut in Warschau die aus den Jahren 1941 bis 1943 sowie die Meldungen und Anordnungen, außer einem längeren Zitat aus einem der Judenratsprotokolle keine ihrer illegalen Existenz von ihren kleinen Ersparnissen leben. Als ihnen Geschichte dieser Region im Zweiten Weltkrieg auf Polnisch oder die der Judenrat in diesem Zeitraum im Getto bekannt gemacht hat. wirklich erhellende Information. Wer hierzu Näheres erfahren will, das Geld ausging, hatten sich CDJ und andere alternative Quellen, so Jiddisch aufgearbeitet haben. Während in Polen seit einigen Jahren Die Herausgeber haben sich entschlossen, die Judenratsprotokolle ist auf Benders 2008 auf Englisch erschienene Monografi e über die auch Hilfsfonds vom Joint Distribution Committee so weit organisiert, vor allem durch den Wegfall politischer Gängelung seit 1989 und vor den Meldungen abzudrucken, da sie die Entscheidungsprozesse Juden in Białystok während des Zweiten Weltkriegs angewiesen. Hier dass sie die notwendige Versorgung übernehmen und liefern konnten. durch die Debatte um Jan Tomasz Gross’ Buch über den Mord an transparent machten, die zu der Veröffentlichung der Bekanntmachun- rollt Bender den Fall auf Grundlage der Dokumente aus dem Gettoar- Doch diese leise Kritik ändert nichts daran, dass das vorliegende den Juden in Jedwabne die sowjetische Besatzungszeit dieser Region gen geführt hätten. Deutlicher wären diese Zusammenhänge wohl bei chiv, aber auch mithilfe von Berichten Überlebender auf (S. 134 ff.). Buch in seiner Darstellung äußerst informativ ist und mit seinen in- in den Jahren 1939 bis 1941 sowie die ersten Tage des deutschen einer chronologischen Folge der Dokumente geworden. Ohnehin schließt Benders Buch manche Lücke, die die Edition novativen Vorgehensweisen zugleich zu neuen Einsichten führt. Die Einmarschs in den Vordergrund gerückt sind, hat die Verfolgung und Neben der Edition der Quellen aus dem Gettoarchiv besteht der offenlässt, zum Teil offenlassen muss. Besonders hervorzuheben Prozesse von Verfolgung und Überleben waren, wie Meinen zeigt, Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten nicht zuletzt Band aus einer Reihe von Aufsätzen, die auf einen Workshop 2007 ist, dass Bender sich nicht auf eine Darstellung der Kriegsjahre be- sehr dynamisch, weswegen man mit statischen Kategorien auch nicht durch die Verfasser bzw. Herausgeber der zu besprechenden Bücher zurückgehen. Außer einer Einordnung in den größeren Kontext der schränkt, sondern der sowjetischen Besatzungszeit von 1939 bis 1941 zu Verallgemeinerungen gelangt; zudem wird deutlich, wie die Reak- erheblich mehr Aufmerksamkeit erlangt.1 Debatten um die Rolle der Judenräte loten die Verfasser hier die sowie der Vorkriegsjahre fast ein Drittel ihrer Monografi e widmet. tionen der Opfer die Verfolger zwangen, ihre Methoden anzupassen Wenige Tage nach Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion, Bedeutung der Dokumente etwa im Hinblick auf das Strafverfah- Ohne diese Zeit, vor allem die sowjetische Phase, sind der Horizont und zu verändern. Und schließlich zeigt diese Studie meiner Meinung am 27. Juni 1941, besetzten deutsche Truppen die Stadt, und sogleich ren aus. Im letzten Teil wird mit Beiträgen über das Tagebuch des und das Umfeld, in dem sich die Juden in Białystok bewegten, nicht nach, wie ausgerechnet die Verfolger selbst – in ihren Polizeiakten begannen Polizei und SS mit Morden und Terror gegen die jüdische Warschauer Judenratsvorsitzenden Adam Czerniaków oder über das zu verstehen. Bender stützt sich bei ihrer umfassenden Darstellung und Berichten über einzelne jüdische Flüchtlinge, die geschnappt Bevölkerung. Am 27. Juni trieben Angehörige des Polizeibataillons Bild, das die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt vom Lodzer auf die Unterlagen des Gettoarchivs, auf eine Vielzahl von Berichten wurden – die Belege für die unterschiedlichen Wege liefern, auf 309 Männer, Frauen und Kinder in die Große Synagoge, setzten diese Judenältesten Mordechai zeichnet, die Perspek- und Erinnerungen sowie auf die Überlieferung der Täterseite, wo- denen die Opfer verzweifelt zu entkommen suchten. Durch die bio- tive auf andere Gettos erweitert. durch sie das, was gemeinhin als »Opfer-« oder »Täterperspektive« grafi schen Studien, die sie mit diesem Archivmaterial unterlegt, hat Es ist vielleicht dieser Konzeption geschuldet – Quellenediti- bezeichnet wird, zusammenführt, den Schwerpunkt allerdings auf die Autorin den Opfern ein großartiges Denkmal geschaffen. on auf der einen, Konferenzband auf der anderen Seite –, dass die die »Opferperspektive« setzt. Abgerundet wird das Buch von einem 1 Vgl. Freia Anders, Hauke-Hendrik Kutscher, Katrin Stoll (Hrsg.), Bialystok in Kommentierung der Dokumente vor allem auf Querverweise unter- Kapitel mit einem hohen Anspruch, verspricht es doch nicht weniger Bielefeld. Nationalsozialistische Verbrechen vor dem Landgericht Bielefeld 1958 Pim Griffi oen (aus dem Engl. von Klaus Binder) bis 1967, Bielefeld 2003; Katrin Stoll, Strafverfahren gegen ehemalige Ange- einander, die Erläuterung von Ausdrücken sowie Erklärungen von als »A Comparative Study of the Białystok Ghetto and Other Ghet- Amsterdam hörige der Sicherheitspolizei für den Bezirk Bialystok. Diss. Bielefeld 2008. Ortsnamen beschränkt ist. Hier haben sich die Herausgeber wohl zu tos«. Im Vergleich mit den Gettos Łódź/Litzmannstadt, Warschau

72 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 73 und Wilna möchte Bender die Besonderheiten von Białystok und Beginn der NS-Herrschaft 1933 bis 1938 in den Blick. Insgesamt Einzelpersonen stritten darüber, welches die beste Strategie sei, ob und Zentrum in der Diskussion um die Entwicklung zum syste- die Gemeinsamkeiten herausarbeiten, bewegt sich dabei aber auf wird die Serie bis in die unmittelbare Nachkriegszeit reichen.3 Gehen oder Bleiben, ob größtmögliche Anpassung und Kooperation matischen Mord an den europäischen Juden eine wichtige Rolle. sehr schmaler Literaturbasis, zumal diese allenfalls dem Stand von Der Band ist unterteilt in vier große chronologische Abschnitte oder der Versuch, den antijüdischen Maßnahmen etwas entgegenzu- Bewegte sich die Debatte vor den 1990er Jahren auf einem relativ 1997, dem Erscheinungsjahr der hebräischen Ausgabe, entspricht mit Unterkapiteln, diesen sind jeweils historische Einführungen vor- setzen. Wie hätten die Verfolgten auch genau wissen können, was abstrakten Niveau, haben in der Zwischenzeit eine Vielzahl von und nicht für die Übersetzung aktualisiert wurde. Dennoch kann sie angestellt, auch sind die Dokumente durch ausführliche begleitende richtig ist und wie es weitergeht, wenn das NS-Regime selbst sich Regionalstudien für eine empirische »Unterfütterung« und substan- hier manche Hinweise für eine vergleichende Geschichte der Gettos Texte der Herausgeber in den jeweiligen Kontext eingeordnet, sodass lange Zeit nicht im Klaren darüber war, worauf seine antijüdische ziell neue Erkenntnisse gesorgt. Darauf aufbauend hat das Deutsche liefern, für die die Forschung aber erst noch einige Grundlagenarbeit man im engeren Sinne gar nicht von einer reinen Quellenedition Politik letztlich hinauslaufen würde. Historische Institut in Warschau seit Beginn des neuen Jahrtausends zu leisten hat. Einen wichtigen Beitrag hierzu erbringen trotz der sprechen kann. Auch in diesen Zwischentexten wird umfangreich Die ausführliche und sorgfältige Einordnung der Dokumente eine Serie von Konferenzen organisiert, die diese Erkenntnisse bün- genannten Kritikpunkte beide Bücher zweifelsohne. von bisher unveröffentlichten Quellen Gebrauch gemacht. Sämtliche durch einführende Texte und Anmerkungen sowie ein umfangreiches delte und die bis dato weitgehend unberührt voneinander parallel Dokumente – viele stammen aus dem Archiv des USHMM, aber bei Glossar und eine Chronologie tragen dazu bei, dass mittels dieser Edi- betriebenen Forschungen im Westen und in Polen zusammenge- Markus Roth Weitem nicht alle – wurden ins Englische übersetzt, von einigen sind tion Studierende (die Herausgeber erhoffen sich dezidiert den Einsatz führt hat. Das ist auch das Verdienst des jüngsten Konferenzbandes Gießen/Marburg die in den allermeisten Fällen deutschen Originale auch als Faksimile der Bände in der universitären Lehre, S. XVI) und allgemein historisch über den »Judenmord in den eingegliederten polnischen Gebieten abgedruckt. Die Dokumente werden gekürzt ediert, was einerseits Interessierte glänzend an das Thema herangeführt werden. Doch auch 1939–1945«, den Jochen Böhler und Jacek Andrzej Młynarczyk verständlich und mitunter vielleicht auch gar nicht zu vermeiden ist, der Kenner der Materie wird zahlreiche Entdeckungen machen: Jürgen herausgegeben haben. andererseits kann man dadurch nicht erkennen, welchen Stellenwert Matthäus und Mark Roseman ist es gelungen, ein ungeheuer breites Die eingegliederten Gebiete sind in den letzten Jahren verstärkt der jeweilige Auszug im Gesamttext hat. und vielfältiges Panorama jüdischer Stimmen zu dokumentieren und im Fokus der Forschung, dem allgemeinen Trend folgend mit einem Die Herausgeber betonen die Bedeutung zeitgenössischer so die verschiedensten Interpretationen und Reaktionen deutscher deutlichen Schwergewicht auf der Untersuchung der Verfolgung und Jüdische Reaktionen auf die Verfolgung Quellen aus der Feder der Opfer: »They can recover the agency and Juden auf die Verfolgung zwischen 1933 und 1938 zu zeigen. Auf Ermordung der Juden. Angefangen bei Götz Alys wegweisender subjectivity of those too often seen merely as the recipients of Nazi die nächsten Bände dieser wichtigen Edition darf man gespannt sein. Studie über den Zusammenhang von Germanisierungspolitik und

policy. They can rescue the diversity and individuality of millions Ermordung der Juden 19951 bis zum jüngst von Wolf Gruner und of women, men, and children whom their tormentors tried to treat as Andrea Löw Jörg Osterloh vorgelegten Sammelband über »Nationalsozialisti- Jürgen Matthäus and Mark Roseman the faceless, undifferentiated ›Jew‹«. (S. XIV) Diese Individualität München sche Verfolgung in den ›angegliederten‹ Gebieten«2 haben sich eine Jewish Responses to Persecution. bezeugt die Edition sehr eindrucksvoll. Die Dokumente zeigen, wie Reihe von Arbeiten mit der Verfolgung und Ermordung der Juden Vol. 1: 1933–1938 ungeheuer vielfältig die Wahrnehmungen, Interpretationen und Hand- in diesen Gebieten beschäftigt.3 Insofern ist die Feststellung der Documenting Life and Destruction. lungsweisen der Verfolgten waren. Sie lassen den Leser die Angst Herausgeber in ihrer Einleitung, die eingegliederten Gebiete hätten Holocaust Sources in Context und die Verwirrung erahnen, welche das Leben der deutschen Juden anders als das Generalgouvernement nicht im Zentrum des Interes- Washington: AltaMira Press in association nach 1933 bestimmten. Sie zeigen auch die ganz alltäglichen Sorgen Der Judenmord an der Peripherie des Reichs ses der Holocaustforschung gestanden, nur zum Teil richtig. Diese with the USHMM, 2010, 469 S., € 28,40 und Nöte einer Gruppe, die sich mehr und mehr ausgegrenzt sieht. Aussage konnte 2005, als die dem Band zugrunde liegende Kon- Neben persönlichen Dokumenten wie Briefen und Tagebüchern sind ferenz stattfand, weitaus mehr Gültigkeit für sich beanspruchen als Zwei große Editionen von Dokumenten der auch zahlreiche Artikel aus jüdischen Zeitungen, Aufrufe, offi zielle heute. Ungebrochen gilt dies noch für Gebiete wie den Gau Danzig- nationalsozialistischen Judenverfolgung Schreiben verschiedener jüdischer Organisationen, aber auch Fotos Jacek Andrzej Młynarczyk, Westpreußen und den Regierungsbezirk Zichenau. Der Reichsgau und -ermordung entstehen gerade gleichzeitig, aber unabhängig ediert. Auch kurze Dokumente, die man vielleicht gar nicht in einer Jochen Böhler (Hrsg.) Wartheland aber und – mit Abstrichen – seit jüngster Zeit auch der voneinander und in verschiedenen Sprachen. Während die Edition solchen Edition erwarten würde, zeigen die sich verschärfende Lage Der Judenmord in den eingegliederten Bezirk Białystok oder Ostoberschlesien hingegen sind relativ gut Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das na- der deutschen Juden: Da für die Ausreise nach Palästina sogenannte polnischen Gebieten 1939–1945 erforscht. Hier mangelt es vielmehr an eingehenden Untersuchungen tionalsozialistische Deutschland 1933–1945 (VEJ)1 versucht, die Zertifi kate nötig waren und auf diese aber die Ehepartner mit einrei- Osnabrück: Fibre Verlag, 2010, 425 S., der allgemeinen Besatzungspolitik. Judenverfolgung aus möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln2 zu sen durften, fi nden sich etwa Annoncen, in denen aufgrund dieser € 35,– Aus diesem inzwischen erreichten Forschungsstand folgt, dass dokumentieren, präsentiert die Reihe des United States Holocaust Emigrationsmöglichkeit ein Ehepartner gesucht wurde (S. 221). der Anspruch, der Band würde eine bestehende Forschungslücke Memorial Museums (USHMM) jüdische Perspektiven auf Verfol- Der Band endet mit dem »Schicksalsjahr 1938«, wie Avraham Catherine Epstein gung und Mord. Der erste von fünf geplanten Bänden, mit Jürgen Barkai dies formulierte, also mit dem »Anschluss« Österreichs, der Model Nazi. Arthur Greiser and the

Matthäus und Mark Roseman von zwei durch zahlreiche Publika- Konferenz von Évian und der Pogromnacht vom November 1938. Occupation of Western Poland 1 Götz Aly, Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Ju- tionen ausgewiesenen Kennern verantwortet, nimmt die Jahre vom Das letzte Unterkapitel ist treffend überschrieben: »What next?« Oxford: Oxford University Press, 2010, den, Frankfurt am Main 1995. (S. 367). Diese Unsicherheit kennzeichnete die gesamte Periode, 451 S., ₤ 30,– 2 Wolf Gruner, Jörg Osterloh (Hrsg.), Das »Großdeutsche Reich« und die Juden. die hier dokumentiert wird. Verschiedene jüdische Institutionen und Nationalsozialistische Verfolgung in den »angegliederten« Gebieten, Frankfurt am Main 2010. 1 Das Projekt wird getragen vom Bundesarchiv, dem Institut für Zeitgeschichte 3 Zum Beispiel: Sybille Steinbacher, »Musterstadt« Auschwitz. Germanisierungs- München-Berlin, dem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Univer- politik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000; Michael Alberti, Die sität Freiburg und dem Lehrstuhl für die Geschichte Ostmitteleuropas am Osteur- Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939–1945, opa-Institut der Freien Universität Berlin. 3 Geplant sind Band 2: 1938–1940, Band 3: 1941–1942, Band 4: 1942–1943 und Wiesbaden 2006; Andrea Löw, Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingun- 2 Siehe die Rezension zu VEJ 1 von Monica Kingreen, in: Newsletter, Nr. 33, S. Band 5: 1944–1946. Neben diesen chronologischen Bänden sollen aber weitere gen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006; Peter Klein, Die »Gettover- 63–64 und von Jörg Osterloh zu VEJ 2, in: Einsicht 04, S. 75–76. Im Januar 2011 thematische Bände erscheinen, so etwa über den Holocaust in Ungarn und über Seit einigen Jahrzehnten bereits spielt die waltung Litzmannstadt« 1940 bis 1944. Eine Dienststelle im Spannungsfeld von ist VEJ 4 (Polen 1939–1941) erschienen. Kinder während des Holocausts. Frage nach dem Verhältnis von Peripherie Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, Hamburg 2009.

74 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 75 schließen, nur zum Teil eingelöst werden kann, da ein Teil der Bei- umfassende Biografi e einer der zentralen Männer für die Verfolgung Greisers bis 1939 anschaulich und kohärent, wenn auch die Suche darzustellen (S. 160/161), wird sie nur zum Teil gerecht; zu sprung- träge auf bereits publizierten Erkenntnissen der Verfasser basiert. und Ermordung der Juden im »Warthegau« vor.4 Andere Ebenen nach Hinweisen auf den späteren »Polenschlächter« Greiser vor haft und lose ist an manchen Stellen ihr Erzählfaden. Die unmittelbar Dieses Manko, an dem die meisten Sammelbände leiden, wiegt der Besatzungsverwaltung, der SS- und Polizeiapparat und weitere allem bei der Darstellung von Kindheit und Jugend ein wenig zu nach Kriegsende einsetzende und bis heute umfangreich betriebene aber nicht schwer, da auch, und zum Teil gerade diese Beiträge Bereiche sind bis heute weitgehend biografi sche Terra incognita häufi g Thema ist. polnische Forschung zu den verschiedensten Aspekten der deut- äußerst lesenswert sind und in gebündelter Form ihre Erkenntnisse geblieben.5 Mehr als die Hälfte ihres Buches widmet Epstein der Zeit Grei- schen Besatzungspolitik im »Warthegau« ignoriert Epstein leider präsentieren oder aber dem deutschen Publikum die jüngere pol- Epstein geht bei ihrer Untersuchung davon aus, dass Greiser sers als Reichsstatthalter und Gauleiter des »Warthegaus«. Hier fast vollständig. Besonders eklatant fällt dies in Kapitel 6 auf, in nischsprachige Forschung so zugänglich machen. Der Beitrag von nicht in die gängigen Raster der Täterforschung passe, ordnet ihn entfaltete er, nachdem er die diplomatischen Rücksichtsnahmen, dem sie die Polenpolitik Greisers untersucht. Auf die, freilich an Peter Klein über das Vernichtungslager Kulmhof etwa ist eine Quel- dann aber gleichwohl in die Gruppe derer ein, die geprägt waren die ihn in Danzig noch gebremst hatten, hatte abstreifen können, einer Hand abzuzählenden, genannten polnischen Arbeiten verweist lenkunde erster Güte, bei der nicht nur Geschichtsstudenten, sondern von einem völkischen Nationalismus in ethnischen Konfl ikten der ein radikales Regime, das jenes seines Rivalen Forster bei Wei- sie überdies oft nur ganz allgemein, sodass der Eindruck entstehen auch ausgewiesene Historiker lernen und staunen können. Anhand Grenzregionen Deutschlands. Greiser wurde 1894 in der Provinz tem übertraf. Konnte sich Epstein in den vorherigen Kapiteln noch muss, es handele sich um Feigenblätter. unverfänglich erscheinender Rechnungen, Zahlungsanweisungen Posen geboren, wo er aufwuchs und, mit Unterbrechung durch seine auf umfangreichere private Unterlagen stützen, fallen diese für die Trotz mancher Schwächen aber verleiht Epsteins Buch einer und Kontoauszüge gelingt ihm der plausible Nachweis für die fe- Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg, auch bis 1918, bis zum Verlust Kriegszeit weitgehend weg. In der Darstellung der Politik Grei- zentralen Gestalt der NS-Rassenpolitik im besetzten Polen schärfere derführende Verantwortung der Reichsstatthalterei von Gauleiter dieser Region an Polen, lebte. Der in bescheidenen Verhältnissen sers, vor allem der Germanisierung seines Herrschaftsbereiches, Konturen, fundamental neue Erkenntnisse über Greisers Rolle kann Arthur Greiser für den Judenmord im »Warthegau«. groß gewordene Greiser erlebte in seinem familiären Umfeld kei- der rücksichtslosen Unterdrückung und Ausbeutung der polnischen sie freilich nicht beibringen, das haben andere Forscher in Ost und Gegliedert in die vier Abschnitte »Die Rolle der eingegliederten ne ausgeprägte antipolnische Haltung; immerhin erlaubte ihm sein Bevölkerung und schließlich der Verfolgung und Ermordung der West bereits geleistet, so auch manche der Autoren des Sammelbands Gebiete bei der Entschlussbildung zur Judenvernichtung«, »Von der Vater, der Beamter war, Polnisch zu lernen. Erst durch den Verlust Juden kann Epstein allenfalls einige wenige neue Akzente setzen, von Böhler und Młynarczyk. Entrechtung zur Vernichtung«, »Arbeits-, Vernichtungs- und Kon- der Grenzregionen an Polen und seine Danziger Zeit, so scheint es, ist doch die zentrale Rolle Greisers etwa in der Radikalisierung zentrationslager« und »Reaktionen«, entfaltet der Band ein breites entwickelte Greiser eine zunehmend polenfeindliche Haltung, die der »Judenpolitik« bereits lange bekannt. Ihrem Anspruch, diese Markus Roth Panorama an nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungs- dann, im »Warthegau«, zur unheilvollen Entfaltung kam, zumal sie drei Bereiche der Greiser’schen Politik erstmals im Zusammenhang Gießen/Marburg politik und ihrer Mordstätten sowie der Reaktionen verschiedener ihm dort ein willkommenes Vehikel zur eigenen Profi lierung bot. Zu Bevölkerungsteile darauf. In einer Mischung aus Detailstudien, wie Höherem berufen fühlte er sich schon in frühen Jahren, wie Epstein der von Peter Klein und anderen, sowie Überblicksdarstellungen, nicht zuletzt aus erstmals erschlossenen privaten Briefen Greisers wie einem allgemeinen Vergleich der antijüdischen Politik in den herausarbeiten kann. eingegliederten polnischen Gebieten mit denen im Westen und Sü- Diese vermeintliche Berufung konnte Greiser in den 1930er den des Deutschen Reichs von Ryszard Kaczmarek, nähern sich Jahren in Danzig, wohin er nach Ende des Ersten Weltkriegs gezo- die Verfasser dem Thema von verschiedenen Seiten. Vergleichende gen war, ausleben. Nachdem er zuvor nach Jahren des Wohlstands Aspekte zwischen den einzelnen Regionen zum Beispiel kommen 1928/29 wirtschaftlich gescheitert und vorübergehend arbeitslos hierbei allerdings zu kurz. Ob es zentrale Gemeinsamkeiten in der war, schloss er sich der NSDAP und 1931 auch der SS an, wo er Entwicklung der Verfolgung und Ermordung der Juden in Danzig- rasch aufstieg. Zwar scheiterte seine vorgesehene Ernennung zum Westpreußen, im »Warthegau«, im Regierungsbezirk Zichenau und Gauleiter 1930 noch an innerparteilichen Konfl ikten, und Greiser Peter Longerich entzaubert den Mythos um Joseph den anderen Regionen gab, welcher Art sie waren und wo die Ur- wurde nur Stellvertreter seines späteren Rivalen Albert Forster. Doch Goebbels als dem genialen Lenker eines allumfassenden sachen hierfür zu suchen sind, bleibt außen vor, dabei wären dies, 1933 schließlich wurde Greiser nach dem Wahlerfolg der NSDAP Propagandaapparats. Er zeigt, wie abhängig Hitlers ausgehend von den verdienstvollen Forschungen der letzten Jahre, stellvertretender Senatspräsident und Innensenator und damit Chef Einpeitscher vom Zuspruch seines »Führers« war – und vielversprechende Fragen gewesen. Was heute, 2011, als ein Manko der Danziger Polizei. Im November 1934 schließlich erreichte er wie sehr er bis zu seinem dramatisch inszenierten Ende erscheinen mag, zeigt aber auch, dass seit der Konferenz 2005 doch den vorläufi gen Höhepunkt seiner Karriere: Er kam an die Spitze in einer selbst geschaffenen Scheinwelt lebte. ein erheblicher Erkenntnisfortschritt nicht zuletzt dank der Verdiens- des Danziger Senats, blieb Innensenator und übernahm überdies die te der beiden Herausgeber und zahlreicher Beiträger erzielt worden auswärtigen Beziehungen der Stadt, die seit Versailles als Freie Stadt ist, der weitergehende Fragen erst ermöglicht. unter Völkerbundsmandat stand. In den folgenden Jahren focht er Doch trotz aller Fortschritte bleiben Forschungslücken bestehen, mit wechselnder Intensität zahlreiche Scharmützel mit Forster aus Goebbels – die nicht nur einzelne Regionen betreffen. Augenfällig ist etwa, dass und knüpfte wohl auch die während des Krieges dann so wichti- der Abschnitt »Reaktionen« die Deutschen, insbesondere die Volks- gen engen Beziehungen zu Himmler. Epstein schildert diese Jahre deutschen vollständig ausblendet, ausblenden muss, da es schlicht die Biographie keine stichhaltige Forschung hierzu gibt. Wie die ortsansässigen

Deutschen, die in die Region gebrachten Volksdeutschen aus den 4 Czesław Łuczak veröffentlichte 1997 bereits eine schmale Biografi e. Vgl. verschiedensten Regionen Ostmitteleuropas oder die Reichsdeut- Czesław Łuczak, Arthur Greiser. Hitlerowski władca w Wolnym Mieście Gdańsku schen auf die Entrechtung und Ermordung der Juden reagierten, muss i w Kraju Warty, Poznań 1997. 912 Seiten mit Abb. nach wie vor offen bleiben. In einen anderen bislang unterbelichteten 5 Die verdienstvolle, im Westen kaum wahrgenommene Studie von Wiesław Por- e 39,99 [D] zycki bildet hier eine Ausnahme: Wiesław Porzycki, Posłuszni aż do śmierci. Nie- Siedler www. siedler-verlag.de Bereich bringt Catherine Epstein mit ihrem jüngsten Buch ein wenig mieccy urzędnicy w Kraju Warty 1939–1945 [Dienstbar bis in den Tod. Deutsche ISBN 978-3-88680-887-8 Licht. Nun liegt mit ihrer Arbeit über Arthur Greiser erstmals eine Beamte im Wartheland 1939–1945], Poznań 1997.

76 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 77 Politische Elite und politische Verantwortung es auf 65 Seiten um den Wandel der institutionellen Zuständigkeiten in Diese Sprachproblematik setzt sich fort in einer teils suggerier- Vollstreckungsgehilfen des Judenmords der »Judenpolitik« beider Länder. Der dritte Teil (C, circa 130 Seiten) ten, teils explizit ausgesprochenen Entlastung der Ministerialbüro- stellt die zweite große Entwicklungsphase dar, und zwar den Weg zur kratie von der politischen und historischen Verantwortung. Selbst- Vertreibung der Juden aus NS-Deutschland (1938–1945) und Vichy- verständlich steht es dem Historiker und auch der Rezensentin nicht Michael Mayer Frankreich (1942–1944). Im Anhang fi ndet man die beiden zentralen zu, im Nachhinein über die mühseligen Positionierungsversuche Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Staaten als Täter. Ministerialbürokratie antijüdischen Gesetze der Vichy-Regierung und die Erste Verordnung historischer Akteure zu urteilen. Dennoch stellt sich angesichts der Hayes, Moshe Zimmermann und »Judenpolitik« in NS-Deutschland zum deutschen Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935, zudem allzu offensichtlichen antisemitischen Exklusionsprozesse die Frage Das Amt und die Vergangenheit. und Vichy-Frankreich ein Abkürzungsverzeichnis und ein einfaches Personenregister. nach dem politischen Bewusstsein der Beamten in der Ministerialbü- Deutsche Diplomaten im Dritten Reich München: R. Oldenbourg Verlag, 2010, Will man die antijüdischen Gesetze und Maßnahmen in beiden rokratie, die gut ausgebildet waren und in politisch verantwortlichen und in der Bundesrepublik 479 S., € 64,80 Ländern parallelisieren, ist die zeitliche Verschiebung vorausgesetzt. Positionen tätig waren. Wie ist es beispielsweise zu interpretieren, Unter Mitarbeit von Annette Weinke Die Segregation der Juden begann in Frankreich sieben Jahre später dass viele dieser politischen Beamten zunächst den »Segregations- und Andrea Wiegeshoff als in Deutschland, nach dem deutschen Überfall im Mai 1940. An- antisemitismus« (Michael Mayer) durchaus befürworteten und auch München: Karl Blessing Verlag, 2010, »Mit Hilfe eines Vergleichs kann der Autor schließend wurde der Nordteil des Landes besetzt und im unbesetz- beförderten und erst am 7. September 1942, nachdem über Frühjahr 2. Aufl ., 880 S., € 34,95 wichtige Antworten zur Struktur des NS- ten Süden das Vichy-Regime etabliert. Parallel zur geostrategischen und Sommer die ersten Deportationen aus Frankreich bereits abge- Staates und Vichy-Frankreichs sowie zu deren Politik gegenüber den Expansion des Krieges in Europa wurde dann von dem NS-Regime wickelt worden war, ihre Zurückhaltung verkündeten (vgl. S. 296)? Juden fi nden.« Diese Ankündigung auf dem Klappentext des zu be- die Durchführung des Völkermords europaweit synchronisiert. Der Die zentrale Frage, die sich beim Lesen dieses exzellent recher- Diese Studie geht auf einen Skandal zurück: Das Auswärtige Amt sprechenden Buches klingt vielversprechend. Werden die geweckten Massenmord an den europäischen Juden wurde mit dem Überfall chierten und äußerst quellenfundiert geschriebenen Buches stellt, ist als Behörde mit Tradition erinnert in seiner Mitarbeiterschrift in Erwartungen auch erfüllt? Auf der Ebene der Quellenrecherche und auf die Sowjetunion ab dem Sommer 1941 systematisch in die Tat folgende: Kann man die Geschichte der französischen und deutschen Nachrufen an verstorbene Angehörige, so auch 2003 an den ver- -analyse auf jeden Fall. Michael Mayer hat alle relevanten Dokumente umgesetzt und auf der sogenannten Wannsee-Konferenz im Janu- Ministerialbürokratie in der NS-Zeit ohne explizite Bezugnahme auf urteilten Kriegsverbrecher Franz Nüßlein: Der in der Tschechoslo- studiert, und zwar ausgiebig, zum einen im Archiv des französischen ar 1942 verwaltungstechnisch besiegelt. In Frankreich mit seinem eine politische Theorie schreiben? Vorstellbar wäre beispielsweise, wakei wegen seiner Mitwirkung an zahlreichen Todesurteilen zu Außenministeriums, im Nationalarchiv und im Jüdischen Doku- »autochthonen französischen Antisemitismus« radikalisierte sich die Ernst Fraenkels Unterscheidung zwischen Normen- und Maßnahme- einer Zuchthausstrafe Verurteilte ist 1955 in die Bundesrepublik mentationszentrum in Paris, zum anderen im Politischen Archiv des Exklusion der Juden innerhalb von nur zwei Jahren. Dennoch war staat aufzugreifen oder auch die Thesen von Hannah Arendt oder Raul abgeschoben worden. Er ist noch im gleichen Jahr in den Auswär- Auswärtigen Amtes, im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde und im man hier – egal ob im deutsch besetzten Norden oder im von Pétain Hilberg zum »Verwaltungsmassenmord«. Diese politischen Analysen tigen Dienst eingetreten und fungierte unter anderem von 1962 bis Institut für Zeitgeschichte, München. Er verweist auch auf Akten regierten Süden – geografi sch weiter weg vom Mordgeschehen. haben ja der Geschichtswissenschaft gute Beobachtungsraster an die zu seiner Pensionierung als Generalkonsul in Barcelona. Die durch der französischen Kriegsverbrecherprozesse aus der Nachkriegszeit, Der Zusammenhang zwischen den Deportationen aus dem Westen Hand gegeben. Kritisch angemerkt werden sollte, dass die Studien von diesen Fall ausgelösten Diskussionen über die NS-Vergangenheit eine spannende Quelle, die bislang selten genutzt wurde (S. 64/66). und der »Endlösung im Osten« konnte scheinbar umso einfacher Marc Olivier Baruch, die einen exzellenten Einblick in die Verwaltungs- des 1951 wiederbegründeten Auswärtigen Amtes veranlassten den Ausgewertet hat Mayer zudem amtliche Mitteilungen sowie Zeitun- verdrängt werden. Das entschuldigende Argument der räumlichen abläufe des Vichy-Regimes geben und eine gute Perspektivenergänzung damaligen Außenminister (Bündnis 90/Die Grünen) gen und Zeitschriften aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Distanz – »aus den Augen, aus dem Sinn« – schien auch die deutsche zum vorliegenden Thema darstellen, leider unberücksichtigt bleiben.1 2005 zur Einsetzung der »Unabhängigen Historikerkommission zur Kollaboration. Eine 40 Seiten umfassende Liste mit deutsch- und Ministerialbürokratie für sich geltend zu machen; im Unterschied Die antisemitische Politik des französischen Vichy-Regimes Erforschung der Geschichte des Auswärtigen Amtes in der Zeit des französischsprachiger Sekundärliteratur, darunter auch viele zeitge- zu den Mitgliedern der SS hatten tatsächlich nur wenig politische in ihrer Verschränkung mit der deutschen Verfolgung der Juden Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik«. Den Auftrag haben nössische Publikationen, zeugt von der intensiven Recherchearbeit Beamte in Schlips und Kragen direkte Erfahrungen mit dem grau- war bislang ein Desiderat der Geschichtsforschung. Michael May- die Herausgeber Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe des Autors. Die zeitliche Herkunft der Texte macht eine fundierte samen Kriegsgeschehen in Osteuropa. Aber heißt das auch, dass sie er hat diese Forschungslücke mit seiner Studie geschlossen. Der Zimmermann mithilfe einer Kommission von einem Dutzend aus- Quellenkritik notwendig. Michael Mayer hingegen nutzt die Quellen nichts von der »Endlösung« gewusst haben? Versuch jedoch, mithilfe des historischen Vergleichs die Rolle der gewiesener Fachleute in beeindruckender Weise erledigt. Die Studie relativ gleichwertig und unkommentiert, was insbesondere angesichts Möglicherweise führt die asynchrone Betrachtungsweise zu Ministerialbürokratie genauer auszuloten, überzeugt nicht ganz. nimmt »individuelles Verhalten, individuelle Handlungsspielräume der nach Ende des Zweiten Weltkriegs verbreiteten revisionistischen einer analytischen Unschärfe, da die spezifi sche Dynamik des Möglicherweise hätte ein stärker verschränkender Ansatz im Sinn und Handlungsmöglichkeiten« (S. 14) in den Blick und zerstört einen Geschichtsschreibung über Frankreich durch ehemalige Täter etwas Vernichtungsantisemitismus nicht wirklich nachvollzogen werden einer histoire croisée2 die differenzierte Entwicklungsdynamik des vom Auswärtigen Amt (AA) gepfl egten Mythos: »Das AA leistete riskant erscheint. Möglicherweise entgehen ihm auch dadurch inter- kann. So geht Mayer nicht der Frage nach, wie die staatsbürgerliche transnationalen Antisemitismus und dessen Verschränkung mit an- den Plänen der NS-Machthaber zähen, hinhaltenden Widerstand, oh- essante Hinweise auf den trotz nationaler Spezifi ka transnationalen Emanzipation der Juden in beiden Ländern zuvor verlaufen war und deren Diskursen gegen ›Fremde‹, ›Minderheiten‹ und ›Migranten‹ ne jedoch das Schlimmste verhüten zu können.« (S. 12) Tatsächlich Antisemitismus. Ein Beispiel dafür ist das Buch mit den Antworten welche Folgen sich daraus für die Etablierung der antijüdischen klarer in den Vordergrund treten lassen. fungierten viele Mitarbeiter des Amtes als »Vollstreckungsgehilfen von Julius Streicher und Adolf Hitler auf die Frage »Was soll mit Exklusions- und Verfolgungspraxis ergaben. Bei Michael Mayer des Judenmords« (S. 263). den Juden geschehen?«, das 1936 in deutscher Sprache im Verlag fi nden sich diesbezüglich nur schwer verständliche Aussagen wie: Anne Klein Das Werk besteht aus zwei großen Teilen zur NS-Vergangenheit Éditions du Carrefour in Paris erschienen ist (S. 64/66). »Die Weltkriegsniederlage von 1918 ist somit als wichtigster lang- Köln des Amtes und dem Umgang damit in der Bundesrepublik. Zunächst Mayer untersucht die Rolle der Ministerialbürokratie bei der Ju- fristiger Faktor für die Einführung der deutschen Rassengesetze zu werden die Traditionen und Strukturen zur Zeit der Errichtung der denverfolgung mit einem asynchronen Verfahren, das auch den Aufbau sehen.« (S. 73) Es stellt sich die Frage, ob es sich hier – wie auch im Diktatur dargestellt. Dazu gehören eine adelige Abstammung der der Arbeit strukturiert. Die Studie wird gerahmt von einer circa 20 folgenden Zitat – um eine sprachliche Nachlässigkeit handelt oder Diplomaten als »informelle Kompetenz« – nicht nur bei dem ersten Seiten langen Einleitung und einer ebenso langen Schlussfolgerung. um eine unzureichende Kontextualisierung der Ereignisse, wenn 1 Vgl. Marc Olivier Baruch, Das Vichy-Regime, Stuttgart 2000; ders., Servir l’État NS-Außenminister Constantin Freiherr von Neurath – und das Reser- Das Buch ist gegliedert in drei Teile. Im ersten Teil (A, circa 170 Seiten) Michael Mayer schreibt: »Bousquet, der mit massiven Problemen in français. L’administration en de 1940 à 1944, Librairie Arthème Fayard, 1997. veoffi zierspatent als selbstverständliche Zugangsvoraussetzungen. 2 Vgl. Michael Werner, Bénédicte Zimmermann, »Vergleich, Transfer, Ver- wird die erste Phase der Segregation der Juden in NS-Deutschland den überfüllten Lagern der zone non occupée zu kämpfen hatte, sah fl echtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Trans- Als erste antijüdische Maßnahmen erfolgen Versetzungen in den 1933–1935 und in Vichy-Frankreich 1940/41 dargestellt. Im Teil B geht hierin wohl eine Möglichkeit, diese zu ›leeren‹.« (S. 278) nationalen«, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28 (2002) H. 4, S. 607–636. Ruhestand und Entlassungen, ergänzt durch Neueinstellungen von

78 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 79 NS-Parteigenossen. Die Jahre bis zum Beginn des Zweiten Welt- und Kollegen zu belasten, die entweder tot oder verschollen sind. Studie über den »doppelten Klopfer«s Die Beamtenlaufbahn schreitet rasch voran und zeigt sich in krieges sind durch Bemühungen der Diplomaten gekennzeichnet, die Insbesondere die Amerikaner sind bereit, »sich bei der Behandlung zahlreichen Beförderungen: Oberregierungsrat, Ministerialrat, Mi- NS-Politik gegen Kritik von außen abzuschirmen und die Führungen deutscher Diplomaten von ersten Eindrücken, gefälligen Geschich- nisterialdirigent, Ministerialdirektor; 1942 wird er schließlich Staats- anderer Staaten zu beruhigen. Ausführlich und mit vielen Beispielen ten und demonstrativer Kooperationsbereitschaft leiten zu lassen.« sekretär in der zur Parteikanzlei der NSDAP umbenannten Behörde. werden die Veränderungen der Personalstruktur, persönliche Bezie- (S. 330) Die Kollegen helfen sich gegenseitig: »Die Entnazifi zie- Markus Heckmann Nach dem England-Flug von Heß wird Martin Bormann sein neuer hungsgefl echte (Netzwerke) und Mitgliedschaften in NSDAP, SS rung des Auswärtigen Dienstes war das Ergebnis eines gigantischen NS-Täter und Bürger der Bundesrepublik. Chef. Klopfers Beamtenkarriere ergänzt sein Aufstieg in der SS, die und SA dargestellt: »Der Anteil von Parteimitgliedschaften unter Entlastungswerks.« (S. 353) Bei der Entlastung fungiert der »Freun- Das Beispiel Dr. Gerhard Klopfer 1935 als Untersturmführer beginnt und 1944 den Rang eines SS- den Spitzendiplomaten ging vor allem auf die NSDAP-Beitritte der deskreis ehemaliger höherer Beamter des Auswärtigen Dienstes« Hrsg. und eingeleitet von Silvester Lech- Gruppenführers erreicht. altgedienten Laufbahnbeamten zurück.« (S. 140) als Netzwerk. Im »Wilhelmstraßen-Prozess« – das Auswärtige Amt ner und Nicola Wenge In der Parteikanzlei befi ndet sich Klopfer in einer einfl ussrei- Im Laufe des Zweiten Weltkrieges wird der Propagandaapparat und andere Ministerien residierten bis 1945 in der Wilhelmstraße Ulm: Verlag Klemm & Oelschläger, 2010, chen Position. Diese Institution hat eine hohe Dominanz bei Ge- des Amtes »beständig personell erweitert und organisatorisch aus- in Berlin-Mitte – wird 1947 gegen mehrere Diplomaten verhandelt, 116 S., € 19,80 setzgebungsverfahren und besonders bei der Umsetzung von Füh- gedehnt« (S. 146). Allein drei Abteilungen bearbeiten Kommuni- ohne dass es aber zu einer wirklichen Bestrafung kommt. rererlassen. Er nimmt erst als Heß- und dann als Bormann-Vertreter kationsfragen, darunter die Nachrichten- und Presseabteilung unter Der Aufbau des »neuen« Auswärtigen Amtes wird von einer regelmäßig an interministeriellen Sitzungen und Staatssekretärsbe- dem SS-Obersturmbannführer Paul Karl Schmidt. Dieser Diplomat »Reihe kleinerer Skandale und Skandälchen« (S. 470) begleitet. 1950 Der Lebensweg von Gerhard Klopfer repräsentiert einen der vielen sprechungen teil. So gehört er auch am 20. Januar 1942 zum Teil- ist direkt in die Vernichtung ungarischer Juden involviert gewesen. gehörten von den Mitarbeitern des höheren Dienstes 42,2 Prozent der vergangenheitspolitischen Skandale der westdeutschen Republik. nehmerkreis der Wannsee-Konferenz. Dort trifft er viele Bekannte: Während des Krieges hat sich das Amt, »wo antisemitische NSDAP an. »Das Bonmot, nach dem Krieg habe es mehr Pgs im Amt Dies verdeutlicht die Fallstudie von Markus Heckmann, die 2006 »Mit den sieben anwesenden Vertretern aus den Ministerien kam Stereotypen und Einstellungen stark ausgeprägt waren« (S. 178), gegeben als vorher«, hat eine reale Grundlage. Erst die Ausbildung als Magisterarbeit entstanden ist. Sie geht über eine biografi sche Klopfer regelmäßig zu Besprechungen zusammen.« (S. 38) Da die auf vielfältige Weise an der »Endlösung der Judenfrage« beteiligt. des diplomatischen Nachwuchses führt langsam zu einer »Demo- Skizze hinaus auf den historischen Kontext ein und hellt die gesell- Parteikanzlei auch bei der Kontrolle des Staatsapparates eine »he- Bis zum Verbot der Emigration 1941 ist es Teil des bürokratischen kratisierung der Außenpolitik« (S. 531). Ein schwieriges Kapitel ist schaftlichen Hintergründe auf. rausragende Stellung« (S. 46) innehat, ist sie maßgeblich an allen Apparats der antijüdischen Politik und entwickelt sich »zu einer die »verweigerte Wiedergutmachung« (S. 547 ff.) – unter anderem Der 1905 geborene Jurist gehört zur »Generation des Unbeding- Entscheidungen für die politische, soziale und wirtschaftliche Aus- Institution, die Initiativen ergriff und eine leitende Rolle in der Ju- demonstriert anhand des Falles Rudolf von Scheliha. Dieser 1942 ten« und daher dient dieses Buch von Michael Wildt (2002) – neben schaltung der jüdischen Bevölkerung beteiligt. Der ungewöhnlich denpolitik zu spielen begann« (S. 183). Dies zeigt die Mitwirkung bei hingerichtete Regimegegner war 1954 mit dem Vorwurf des Verrats der Studie von Ulrich Herbert über (1996) – als akade- schnelle Aufstieg von Klopfer, der bei seinem Wechsel zum Stab des der Besatzungspolitik, der Ausplünderung der okkupierten Gebiete (»Rote Kapelle«) von der Ehrung bei einer Gedenkfeier ausgegrenzt mische Orientierung. Weiterhin ist die Stadt Ulm ein regionaler Be- Stellvertreters des Führers gerade 30 Jahre alt war, liegt an seinen und dem Genozid in der Tschechoslowakei, Polen, Frankreich, den worden. Seine Rehabilitierung erfolgt erst 1995 mit der Enthüllung zugspunkt, wo Klopfer von 1956 bis zu seinem Tod 1987 als Rechts- besonderen Eigenschaften: Er gilt als ein zuverlässiger und hoch Niederlanden, Belgien, Dänemark, Norwegen, Serbien, Griechen- einer Erinnerungstafel in den damaligen Bonner Amtsräumen. anwalt gearbeitet hat. Heckmann erwarb in dieser Stadt 1998 das qualifi zierter NS-Funktionär, der die Interessen der Partei bis zum land und Ungarn. Die Vergangenheit des Amtes stellte eine ständige außenpoliti- und bekam Kontakt zum Dokumentationszentrum Oberer Schluss durchzusetzen weiß. Das Selbstverständnis des Auswärtigen Amtes ist ein halbes sche Herausforderung dar, sei es bei den 1952 abgeschlossenen Ver- Kuhberg. Dessen früherer Leiter, Silvester Lechner, hat den Band 1945 taucht er zunächst unter und lebt mit falschen Papieren Jahrhundert von dem Mythos geprägt gewesen, es hätte in der NS- handlungen um das deutsch-israelisch-jüdische Wiedergutmachungs- mit einer ausführlichen Einleitung versehen und gemeinsam mit sei- – nach eigenen Angaben – in Zell am See. Dort will er in der Land- Zeit zwei unabhängig voneinander vorhandene Ämter gegeben: abkommen, den DDR-Kampagnen gegen ehemalige NS-Diplomaten ner Nachfolgerin, Nicola Wenge, herausgegeben. Diese hebt hervor: wirtschaft und im Bergbau gearbeitet haben. 1946 wird er vom Auf der einen Seite das traditionelle Amt, das zunächst gegen die um 1960, der Suche nach Adolf Eichmann und dem Prozess 1961 »Markus Heckmanns Studie über den ›doppelten Klopfer‹ […] Counter Intelligence Corps festgenommen und interniert. Während Nazifi zierung der Außenpolitik und des diplomatischen Dienstes in Jerusalem, dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung kommt das Verdienst zu, ein zentrales Forschungsgebiet bearbeitet der Vernehmungen verhält er sich sehr geschickt, seine Strategie ist, gekämpft habe und angesichts der außenpolitischen Erfolge schließ- oder der dem Bundeskanzler und Ex-Pg. 1968 zu haben, das bisher in der Geschichte Ulms kaum Berücksichtigung »nichts zu bestreiten, was die Ermittler ohnehin aus den von ihnen lich aufgeben musste. Andererseits hätten sich Hitler, NSDAP und von verabreichten Ohrfeige. fand.« (S. 11) gefundenen Akten erfahren konnten« (S. 51). Er behauptet sogar, SS sukzessive aller wichtigen Posten bemächtigt. Tatsächlich las- Die Aufarbeitung der NS-Geschichte des Auswärtigen Amtes ist Der in Schreibersdorf in Niederschlesien als Sohn eines Land- er sei 1933 aus Idealismus in die NSDAP eingetreten und gegen sen sich Spuren von Resistenz und Verbindungen zum Widerstand mit der Veröffentlichung dieses Buches nicht abgeschlossen. Dies wirts geborene Gerhard Klopfer schließt sich früh dem völkischen seinen Willen zum Stab des Stellvertreters des Führers abgeordnet des 20. Juli 1944, der »Roten Kapelle« und zu zwei Außenseitern war auch nicht die Absicht der an diesem Werk Mitarbeitenden. Großdeutschen Jugendbund und als Student dem antisemitischen worden. Als er nach der Wannsee-Konferenz befragt wird, spielt er fi nden: Fritz Kolbe – ein Beamter des mittleren Dienstes – und Ger- Ihnen ist es gelungen, ein fundiertes und häufi g mit biografi schen Deutschen Hochschulring an. Nach dem Studium der Staats- und den Ahnungslosen und bestreitet die Authentizität des Protokolls. hard Feine: Kolbe fälschte im Konsulat von Kapstadt Reisepässe Details aufwartendes Werk zu erarbeiten. Es ist nicht nur spannend Rechtswissenschaften in Jena und Breslau promoviert er 1927. Er Sein Verhalten hat Erfolg: Tatsächlich schaffen es die Ermittler nicht, für Verfolgte und informierte den US-Geheimdienst OSS. Feine zu lesen und gut lesbar, sondern hat auch – nicht immer nachvollzieh- besteht in diesem Jahr das erste sowie 1931 das zweite Staatsexa- den Juristen unter Druck zu setzen. So erlebt er die Nürnberger Pro- weigerte sich, der NSDAP beizutreten, und trug 1944 dazu bei, die bare – publizistische Reaktionen in der Historikerzunft ausgelöst. Für men. 1933 erfolgt mit 28 Jahren der Eintritt in die NSDAP und die zesse nicht als Angeklagter, sondern wird nur als Zeuge vernommen. Deportation ungarischer Juden zu verhindern. Beide Fälle zeigen die Fortsetzung der Diskussion bietet es zahlreiche Ansatzpunkte. SA. Nach kurzer Tätigkeit als Staatsanwalt und Richter in Düssel- Es gelingt Klopfer, die zur »Mitläuferfabrik« (Lutz Niethammer) aber auch: »Individueller Nonkonformismus, oppositionelle Ge- dorf im November/Dezember 1933 wechselt der Jurist ins preußi- gewordene Entnazifi zierung 1949 und ein strafrechtliches Ermitt- sinnung, aktiver Widerstand und vorsätzlicher Landesverrat gingen Kurt Schilde sche Landwirtschaftsministerium und wird dort 1934 zum Regie- lungsverfahren 1960/62 zu überstehen. fl ießend ineinander über. Ebenso können zwischen Mitwisserschaft, Siegen/Potsdam rungsrat befördert. Noch im gleichen Jahr geht er zur Geheimen Bis zu seiner Zulassung 1956 als Rechtsanwalt in Ulm übt er Mitläufertum, Tatbeteiligung und Täterschaft kaum klare Grenzen Staatspolizei, bis er 1935 endgültig in den Stab des Stellvertreters verschiedene Tätigkeiten aus, zuletzt als Steuergehilfe. Er ist ein gezogen werden.« (S. 315) des Führers Rudolf Heß wechselt. 1937 heiratet er das erste Mal und typischer Nutznießer der vergangenheitspolitischen Entwicklungen Im zweiten Teil geht es um die Aufl ösung des alten Dienstes und lebt bis 1945 mit seiner Familie in der »NS-Mustersiedlung für Par- in der frühen Bundesrepublik. Zwar kann er von seinem Antrag auf den Neuanfang. Die von den Alliierten internierten Diplomaten ver- teibeamte«. Diese »Reichssiedlung Rudolf Heß« hat 1956 der Bun- Versorgungsbezüge nicht mehr selbst profi tieren, doch nach seinem folgen in Verhören die Strategie, die eigene Unschuld herauszustellen desnachrichtendienst übernommen. Tod 1987 erhält seine zweite Frau eine Witwenrente.

80 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 81 Wenige Tage nach dem Ableben erscheint in einer Ulmer Zei- Nur oberfl ächliche Ähnlichkeiten Auch als Machthaber unterschieden sich Hitler und Stalin vonein- multiethnische Imperien bildet in dieser Hinsicht eine auffällige tung eine Todesanzeige seiner Familie, die um ihn trauerte »nach ander sehr, eine Tatsache, die sich in den unterschiedlichen politi- Ausnahme. Es fällt aus mehreren Gründen aus dem Rahmen: Nicht einem erfüllten Leben zum Wohle aller, die in seinem Einfl ussbereich schen Ordnungen der beiden Staaten widerspiegelte. Während Stalin einmal der Versuch einer vergleichenden Analyse fi ndet statt; die waren« (S. 13). Unterzeichnet haben die Annonce die (zweite) Ehe- ein fl eißiger Bürokrat und in den politischen und wirtschaftlichen beiden Teile des Beitrages stehen lediglich nebeneinander. Darüber frau, die Schwester, vier Töchter und Schwiegersöhne sowie 19 En- Michael Geyer, Sheila Fitzpatrick (Hrsg.) Strukturen bewandert war, lag die Bedeutung Hitlers in erster Linie hinaus ähnelt der Schreibstil eher dem eines historischen Romans; es kelkinder. Deren Namen hat Heckmann unkenntlich gemacht. Dies Beyond Totalitarianism: Stalinism and in seiner Rolle als begabter öffentlicher Redner. In Bezug auf ihre fehlt völlig das Erläuternde. Abgesehen von diesem Mangel ist der erstaunt, da die Namen der Verwandten im Text mehrfach genannt Nazism Compared Einstellung zur Arbeit und ihrem Gefolge waren Hitler und Stalin »at von Michael Geyer und Sheila Fitzpatrick herausgegebene Band ein werden. Die Todesnachricht löst eine Reihe von Zeitungsartikeln Cambridge: Cambridge University Press, polar ends of an imaginary dictatorship leadership spectrum« (S. 66). Gewinn für die Geschichtsschreibung und daher nur zu empfehlen. über die Vergangenheit Klopfers aus, der drei Jahrzehnte in Ulm 2009, IX, 536 S., € 71,99 Organisatorische Arbeit war Hitler hauptsächlich eine Last, während gelebt hatte, »ohne groß aufzufallen« (S. 13). Stalin sich in der Welt der verschiedenen Komitees hervortat. Alex J. Kay Heckmanns ausgezeichnete und gut lesbare Studie des NS-Ju- Christian Gerlach und Nicolas Werth untersuchen vergleichend Frankfurt am Main risten endet mit den Wahrnehmungen Klopfers in Ulm. Den befrag- in ihrem Beitrag Aspekte der Staatsgewalt und die gewalttätigen ten Zeitzeugen ist der zurückgezogen lebende Mann wegen seiner Vergleichende Studien zu den nationalsozia- Gesellschaften anhand dreier Opfergruppen: sogenannte »Asozi- »merkwürdigen Höfl ichkeit« (S. 88) in Erinnerung geblieben. Er listischen und stalinistischen Diktaturen sind ale«, Opfer ethnischer Umsiedlungen und Kriegsgefangene. Im wird als »angenehmer Gesprächspartner« (S. 89) geschildert, der seit einigen Jahren in Mode. Qualität und Wert jener Studien sind letzten Fall erkennen die Autoren den Hauptunterschied der jewei- auf gesunde Ernährung achtete. »Sein betont höfl iches, ja unterwür- gewiss unterschiedlich. Der hier besprochene Sammelband gehört ligen Behandlung der feindlichen Kriegsgefangenen in der Rolle Zur Erweiterung der Perspektive in der fi ges Auftreten mag ein Zeichen dafür gewesen sein, dass er nicht zu den besten Werken auf dem Gebiet. Dies liegt nicht zuletzt am der politischen und militärischen Führung. Nur im deutschen Fall gedenkstättenpädagogischen Praxis in den Verdacht geraten wollte, ein alter Nationalsozialist zu sein.« neuartigen Ansatz, jedes Kapitel gemeinsam von einem Experten der existierte die Absicht auf hoher Ebene, eine große Zahl an (sowje- (S. 92) Allerdings zeichnet der Historiker Dieter Rebentisch, dem es NS-Geschichte und einem Experten der Geschichte des Stalinismus tischen) Kriegsgefangenen zu töten, und ein Programm, das dieses gelungen ist, Klopfer zu einem Interview zu bewegen, ein anderes schreiben zu lassen. Neben der Einleitung besteht der Band aus neun Ziel erreichen sollte und der Aufrechterhaltung eines komfortablen Bild: »Seine negativen Urteile über das Versagen der Demokratie, auf vier Teilbereiche – »Governance«, »Violence«, »Socialization«, Konsumniveaus für die eigene Bevölkerung (hier die Deutschen) die erkennen lassen, dass er von seinem ultrareaktionären Stand- »Entanglements« – verteilten Beiträgen. diente. Die sowjetischen Behörden versuchten viel öfter als ihre Jana Jelitzki, Mirko Wetzel punkt der 30er Jahre nicht abgegangen ist und durch die Katastrophe Der Titel des Bandes Beyond Totalitarianism (Jenseits des To- deutschen Gegenspieler, das Lagersystem und die Lebensbedin- Über Täter und Täterinnen sprechen. des Nationalsozialismus nichts hinzugelernt hat, wirkten auf mich talitarismus) ist passend, da in den Beiträgen immer wieder betont gungen der Gefangenen durch organisatorische Veränderungen und Nationalsozialistische Täterschaft peinlich, […]« (S. 91) wird, dass das Konzept des Totalitarismus als Modell der histo- die Bestrafung von sowjetischen Soldaten, die exzessive Gewalt in der pädagogischen Arbeit von Mit dem Lebensweg von Gerhard Klopfer hat Heckmann die rischen Analyse in vielen Fällen nur bedingt anwendbar ist. Wie ausübten, zu verbessern. Ein weiterer grundlegender Unterschied lag KZ-Gedenkstätten beispielhafte Integration eines hohen NS-Funktionärs in die west- Michael Geyer in seiner sehr aufschlussreichen Einleitung auch darin, dass bei allen behandelten Fallbeispielen Pläne in Deutschland Berlin: Metropol Verlag, 2010, 280 S., deutsche Gesellschaft dargestellt. Sein Leben kann zudem als ty- schreibt, »the totalitarian presumption of sameness is gone« (S. 19). existierten, die in ihren Ausmaßen sogar die tatsächlich angewandte € 19,– pisch für die Mentalität und das Verhalten hoher NS-Funktionäre In der Tat ist es das Hauptargument des vorliegenden Bandes, dass Gewalt der Nationalsozialisten bei Weitem übertrafen. Die geplante angesehen werden. Der 1945 vierzig Jahre alte Jurist und ehemalige die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Regimes und den beiden Größenordnung der Gewalt machte NS-Deutschland daher zu einer Mit Über Täter und Täterinnen sprechen NS-Staatssekretär hat sich ins Private zurückgezogen und konnte Gesellschaften nur oberfl ächlich waren; vielmehr überwogen die »unique threat« (S. 176). liegt eine Publikation zur Annäherung an die ab 1956 drei Jahrzehnte in Ulm als Rechtsanwalt den Unterhalt Unterschiede die Ähnlichkeiten. Das fängt natürlich bei den un- Auch im kulturellen Bereich überwogen die Unterschiede, wie gedenkstättenpädagogische Thematisierung von Täterschaft vor. Ei- für seine Familie verdienen. »Dieser Rückzug aber wurde ihm von terschiedlichen Betonungen auf Klasse – und, später, zunehmend Katerina Clark und Karl Schlögel in ihrem Beitrag zeigen können. ne Veröffentlichung, die sich mit Täterschaft im Nationalsozialismus Politik und Justiz und nicht zuletzt von der Gesellschaft, in der er auf Nation – in der sowjetischen Ideologie und auf Rasse bei den Für die Sowjets bedeutete Kultur in erster Linie das Geschriebene. beschäftigt, ist an sich schon eine Besonderheit. Die Mehrzahl der lebte, leicht gemacht.« Nationalsozialisten an, hört hier aber längst nicht auf. Schriftliche Texte nahmen in der stalinistischen Kultur eine deutlich pädagogischen Ansätze und didaktischen Konzepte in der außer- In ihrem Beitrag zur jeweiligen politischen Ordnung der beiden größere Bedeutung ein als in der nationalsozialistischen Kultur, in schulischen historisch-politischen Bildung und der Gedenkstätten- Kurt Schilde Regimes arbeiten Yoram Gorlizki und Hans Mommsen die Unter- der vor allem Architektur und Bildhauerei hervorgehoben wurden. pädagogik ist bemüht, sich der Geschichte des Nationalsozialismus Siegen/Potsdam schiede zwischen sowohl der Stellung der NSDAP und der KPdSU Für Hitler – den großen Redner – selbst waren verbale Äußerungen über dessen Opfer anzunähern. Sowohl aus erinnerungspolitischer innerhalb des Staates als auch dem Hitler’schen und dem stalinisti- immer reiner und wirkungsvoller als schriftliche; daher benötigte aus Perspektive als auch in pädagogischer Hinsicht gibt es gewichtige schen Regierungsstil sehr wirkungsvoll heraus. In der Sowjetunion seiner Sicht die Welt der schriftlichen Texte eine Säuberung. Es war Gründe dafür, die Perspektive der Opfer in die Auseinandersetzung war die Partei vom Staat nicht zu trennen, und diese verlieh den eine solche Einstellung, die die Bücherverbrennung im Jahr 1933 mit dem Nationalsozialismus zentral einzubeziehen. Staatsstrukturen eine Einheit, die sie sonst nicht besessen hätten. Im möglich machte. Die Autoren stellen fest: »Nazis regarded written Dabei besteht allerdings die Gefahr, eine Auseinandersetzung Gegensatz dazu war die NSDAP, die deutlich mehr Mitglieder hatte culture with suspicion, the Soviets with extraordinary veneration« mit den Ursachen des Holocaust und der anderen NS-Massenverbre- als die KPdSU, in erster Linie schon immer ein Vehikel der poli- (S. 430). chen aus dem Blick zu verlieren, wenn die Beschäftigung sowohl mit tischen und propagandistischen Mobilisierung gewesen und besaß Der Platz hier reicht nicht aus, um jeden Beitrag einzeln zu den strukturellen Bedingungen wie auch mit den Täterinnen und Tä- kaum eine zentralisierte, entscheidungsfähige Parteiorganisation. behandeln. Es genügt aber festzustellen, dass die Beiträge durchweg tern ausgeklammert wird. An dieser Problematik setzen Jana Jelitzki Für seinen Zusammenhalt war das NS-Regime sehr von der cha- gründlich recherchiert, überzeugend aufgebaut und fl üssig geschrie- und Mirko Wetzel mit ihrer vorliegenden Publikation an. Ausdrück- rismatischen Autorität Hitlers abhängig, der eine in der Verfassung ben sind. Das Kapitel von Jörg Baberowski und Anselm Doering- lich begreifen sie die Auseinandersetzung mit NS-Täterschaft als verankerte Stellung innehatte, die Stalin zu keinem Zeitpunkt besaß. Manteuffel über den Nationalsozialismus und den Stalinismus als »Erweiterung der Perspektive« (S.14) und nicht als konkurrierendes

82 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 83 didaktisches Modell zur Einbeziehung der Opferperspektive oder zur und gesellschaftlichen Verbindungen, die zwischen ihnen und den Ein Mythos der nationalen Geschichts- Beziehungen zu Israel verbesserte. Das »Buchenwaldkind« lebte Auseinandersetzung mit den Herrschaftsstrukturen oder der Ideo- nationalsozialistischen Tätern und Täterinnen in den meisten Fällen politik und Erinnerungsbildungen fortan als Wahrheitsbeweis der Legende, die ihn ein Leben lang logie des NS-Staates. bestehen, durchaus erkennen« (S. 262). Um sich einem komplexen begleitete und belastete. Hier setzt Bill Niven ein, der wohl von Jelitzki und Wetzel greifen die Darstellung von Täterschaft in Täterbild (S. 234) anzunähern, braucht es einen multiperspektivi- Beginn an nicht weniger vorhatte, als den Schleier zu lüften und Ausstellungen der KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Neuengam- schen Ansatz, der auch die Sicht und Aussagen der Opfer integriert, Stefan Jerzy Zweig, das »Buchenwaldkind«, von seiner Last zu me auf und fragen nach der diesbezüglichen gedenkstättenpäda- denn »die Verfolger sprachen selten über ihre Taten« (S. 265), und befreien. Dieses persönliche Engagement für den Überlebenden des Bill Niven gogischen Praxis in den beiden Einrichtungen. Das Material dafür quellenkritisch auch die Aussagen ehemaliger Häftlinge untersucht. Holocausts, das sein Werk durchzieht, unterscheidet es von manchem Das Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion beruht im Kern auf Interviews mit den Ausstellungskuratorinnen So kann die subjektive und ausschnitthafte Perspektive der Häft- deutschen Text. Es brachte seinem Buch seit dem Erscheinen große und Propaganda Simone Erpel und Christl Wickert und mit den Pädagogen Matthias linge aufgegriffen werden und auch die Handlungsspielräume von Sympathie. Doch nicht allein dies macht das Besondere dieser Ab- Aus dem Englischen von Florian Bergmeier Heyl, Jens Michelsen und Wolf Kaiser, welche die beiden Autoren Täter/-innen angesprochen werden. Dabei können und sollten auch handlung aus. Bill Niven blickt von außen auf eine »innerdeutsche« (Saale): Mitteldeutscher Verlag, für ihre Arbeit geführt haben. Wolf Kaiser, der in der Gedenk- und Genderperspektiven untersucht und benannt werden. Geschichte. Dieser Abstand ermöglicht ihm einen moderierenden 2009, 327 S., € 24,90 Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz arbeitet, hat in diesem Die konkrete Antwort auf die Frage nach einer methodischen Ton und ein Heranführen bis an die Gegenwart. Solcherart kritische Setting eher die Rolle eines »kommentierenden Experten« (S. 176), Umsetzung kann die vorliegende Studie notgedrungen nur kursorisch Begleitung der nationalen Geschichtspolitik und Erinnerungsbildung da sich die Pädagogik an einem Ort, der an die Verwaltung des beantworten. In Anlehnung an den Ansatz von Saul Friedländer, der Nackt unter Wölfen, der Roman des Buchen- ist in höchstem Maße wünschenswert. Massenmordes an den europäischen Juden erinnert, von manchen eine »integrierte Geschichte des Holocaust« (S. 273) erzählen will, waldhäftlings , gehörte in der Seinen theoretischen Ansatz findet der Autor bei Maurice Ansätzen innerhalb der KZ-Gedenkstätten unterscheidet. schlagen Jelitzki und Wetzel vor, »Geschichte in Form von Geschich- DDR zu den aufwendig inszenierten, populären Erzählungen über Halbwachs, dessen Texte er als gemeinsame Grundlage eines eu- Aus der Sicht von Jelitzki und Wetzel stellt der Verzicht auf ten« (ebd.) zu erzählen und dazu die unterschiedlichen Perspektiven die Welt der Konzentrationslager. Seine Anziehungskraft hielt auch ropäischen Dialogs über Geschichtskulturen anbietet. In sechs Ka- Simplifi zierungen und das Zulassen von Komplexität die größte und Entstehungsgeschichten von Fotos der Ausstellungen zu nutzen, nach dem Ende der DDR an. Sie beruhte auf einer Konstellation, piteln untersucht er das, was Halbwachs die »Umbildungsarbeit Herausforderung für das historische Lernen dar, denn es gälte zu die NS-Täter/-innen thematisieren. die dem wirklichen Geschehen in den Lagern fern, sinnstiftenden an der Vergangenheit« nannte. Dabei ist – so viel Selbstrefl ektion zeigen, wie vielgestaltig, widersprüchlich und nicht linear Geschich- Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es sich bei Auswegen daraus allerdings nahe steht: Eine Gruppe von Männern, muss sein – auch Kapitel 1, das sich der wirklichen Geschichte te verlaufe (S. 245). Dieser hohe Anspruch ist sicherlich vor allem Über Täterinnen und Täter sprechen um ein gut zugängliches Buch selbst permanent bedroht, rettet aus unbedingter moralischer Über- in der Annäherung an Täterschaft gegeben, wenn diese aufzeigen mit hoher Praxisrelevanz handelt. Die einführenden Kapitel bieten zeugung, die gegen Zweifl er und Funktionäre die Oberhand gewinnt, will, dass die Täterinnen und Täter ebenso wie Zuschauer/-innen einen Überblick über die in den Fokus genommenen historischen Or- ein verlorenes Waisenkind; die unbedingte Überzeugung ist eine und Gleichgültige »aus der Mitte der Gesellschaft kamen und sie te, zur Entwicklung der Forschung zu Täterschaft und zur Entstehung kommunistische und wird durch diese Tat für die Zukunft legitimiert. in der Gesamtheit einen Durchschnitt der Bevölkerung darstellten« der KZ-Gedenkstätten und nachfolgend zu pädagogischen Kon- Sie geht bis zur Selbstaufopferung des Einzelnen, um die Gruppe (S. 248). Dies führe »weiter zu der Frage, wie die gewöhnliche zepten. Der Band bietet nicht nur Gedenkstättenpädagoginnen und und das Kind zu retten. Befreit von der wirklichen Geschichte mit Weltanschauung dieser Zeit aussah und welche Vorurteilsstrukturen -pädagogen Anregungen und Refl exionsmöglichkeiten in der eigenen ihren schwer erzählbaren, nicht aufzulösenden Gegensätzen und Christlich-jüdischer Dialog und Feindbilder gesellschaftlich hegemonial waren«, da sonst der Arbeit. Auch Lehrkräfte, die sich mit komplexen und zeitgemäßen Erfahrungen, wird aus der widersprüchlichen nationalsozialistischen Medien - Materialien - Informationen Eindruck entstehen könne, »die Akteure wären aus reinem Zufall Zugängen zum historischen Lernen über den Nationalsozialismus be- Lagerwelt ein klarer normativer Ertrag für die Gegenwart gewonnen. ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis zu Verbrechern und Verbrecherinnen geworden« (S. 248 f.). Für das fassen, können einen Zugewinn aus der Lektüre erhoffen. Ein Manko Der Roman zählte zu den Leitmythen des staatlichen Antifaschismus für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau www.ImDialog.org historische Lernen – nicht nur innerhalb der Gedenkstättenpädagogik der Studie wird von Jelitzki und Wetzel selber benannt: Der Fokus der DDR und gab dem symbolischen Ort Buchenwald, der 1958 mit – gilt es also, den Begriff von Normalität und seine gesellschaftli- auf KZ-Gedenkstätten setzt »eine Art Schräglage in der Erinnerungs- einem Nationaldenkmal besetzt wurde, die Legende. che Bedingtheit zu refl ektieren und aufzuzeigen. In der heutigen kultur fort«, nämlich »die Nicht- oder Unterrepräsentation anderer Historiker, Germanisten und nicht zuletzt die Gedenkstätte Bu- BlickPunkt.e Bewertung von Normalität im NS-Staat und der daraus folgenden Verbrechenskomplexe, wie beispielsweise der ›Euthanasie‹ oder chenwald in ihrer ständigen Ausstellung sind in den vergangenen MATERIALIEN ZU CHRISTENTUM, JUDENTUM, ISRAEL UND NAHOST Verfolgung kann ein Gegenwartsbezug für Jugendliche liegen, des Massenmords an sowjetischen Kriegsgefangenen« (S. 15). Für zwei Jahrzehnten verschiedenen Aspekten dieses Mythos nachgegan- der für »diskriminierende Strukturen der heutigen Gesellschaft« eine Ausweitung der komplexen Sichtweise und für eine integrierte gen. Bill Niven, Professor of Contemporary History an der Notting- Gottesdienst in Israels Gegenwart (S. 255) sensibilisiert, so Jelitzki und Wetzel, die ansonsten demo- Geschichtserzählung im historischen Lernen wäre noch zu ergänzen, ham Trent University, nahm es nun auf sich, diese sowie eine Anzahl MATERIALHEFTE ZUR GOTTESDIENSTGESTALTUNG kratiepädagogischen Übertragungen gegenüber zu Recht skeptisch dass eine Thematisierung von Kollaboration und Mittäterschaft in noch nicht untersuchter Fragen in einer Abhandlung zusammenzu- sind. Ein methodischer Zugang, der vorgeschlagen wird, liegt in der von der deutschen Wehrmacht besetzten oder in scheinbar neutralen führen. Dafür hat er nicht nur Archive gründlich durchforstet, son- Schriftenreihe Verbindung von Auseinandersetzung mit Täterbiografi en und der Ländern wie der Türkei als Ergänzung wünschenswert wäre. dern auch die Orte besucht und mit Wissenschaftlern, Pädagogen und THEMEN ZU THEOLOGIE, GESCHICHTE UND POLITIK Strukturgeschichte, der die Möglichkeit bietet, unter Jugendlichen Betroffenen gesprochen. Wie der Titel schon ankündigt, geht es ihm »eine Diskussion über individuelle Tatbeteiligung und Motivationen Ingolf Seidel um mehr als Ideologiekritik. Zur Wirkungsgeschichte des Romans Ausstellungen zu verleihen anzuregen« (S. 261). Berlin gehört seine erdrückende normative Hypothek für die Erinnerung JÜDISCHE FESTE UND RITEN • ANTIJUDAISMUS • Als Problematiken und Gefahren in der Auseinandersetzung mit der Überlebenden, ein enger, zu enger Rahmen, um ihre Erfahrung HOLOCAUST UND RASSISMUS • DIE BIBEL NS-Täter/-innen werden im Buch vor allem die distanzlose Übernah- zu verarbeiten. Das Kind, im Roman eher Objekt der Anstrengungen me von Täterperspektiven im biografi schen Arbeiten und die Faszi- politischer Häftlinge als von erkennbarer Subjektivität, bekam erst ImDialog • Robert-Schneider-Str. 13a • 64289 Darmstadt nation der Machtentfaltung genannt. Eine anzustrebende Haltung für während der Inszenierung des Mythos eine Biografi e. Seine jüdische Tel. 06151- 423900 • Fax 06151 - 424111 die Auseinandersetzung läge zwischen »Distanzierung und Identi- Identität, im Roman verschleiert, wurde nicht zufällig gelüftet, als Email [email protected] • Internet www.imdialog.org fi kation«, denn die Jugendlichen sollen »die familienbiografi schen die DDR im Gefolge des Eichmann-Prozesses vorübergehend die

84 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 85 der Kinderrettung widmet, Rekonstruktion in diesem Sinne. Sein in Kapitel 4 gezeigt wird, der öffentlichen Verbreitung der Erzäh- Der Preis eines geretteten Lebens über den tatsächlichen Bestimmungsort der Deportationen informiert Anliegen, »einen ausgewogenen Überblick über die Geschichte des lung den entscheidenden Schub. Teil dieser Medieninszenierung, die gewesen wäre, sie Widerstand gegen die Deportation entfaltet, sich kommunistischen Widerstandes in Buchenwald zu geben« (S. 59), den Namen Propaganda verdient, war nunmehr auch Stefan Jerzy versteckt oder die Flucht ergriffen hätte. Zusätzlich wurde Kasztner gelingt nur in dem Rahmen, der ihm aufgrund anderer Forschungen, Zweig selbst. Er war seinen Rettern dankbar. Sie und andere brachten auch wegen seiner entlastenden Aussage zugunsten Kurt Bechers die er zitiert, gesetzt ist. Diese Texte aus den beginnenden 1990er ihn auf die Bühne dieser Aufführung, die nicht seine wird und von kritisiert, woraufhin dieser einer gerichtlichen Verfolgung nach dem Jahren über den »Buchenwald-Mythos« und die »roten Kapos von der er nur wieder entkam, indem er die DDR nach reichlich einem Ladislaus Löb Krieg entkommen konnte. Höhepunkt der Auseinandersetzung um Buchenwald« brachten einen entscheidenden Schub zur Aufklärung, Jahrzehnt verließ. Als er ging, war der Roman Teil des obligatori- Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie die Rolle Kasztners war der Prozess zwischen Kasztner und Malkiel doch notwendige weiterführende Publikationen lassen seit fast zwei schen Lehrplans der DDR-Schulen. Seine Familiengeschichte, die des Judenretters Rezső Kasztner. Grünwald, der Kasztner der Kollaboration mit den Nationalsozia- Jahrzehnten auf sich warten. Insbesondere die so wichtige Unter- in so Vielem anderen Geschichten jüdischer Familien ähnelt, fand Bericht eines Überlebenden listen bezichtigte. suchung der inneren Dynamik des Konzentrationslagers während niemals Platz im »Gedächtnisrahmen« der DDR-Geschichtspolitik. Köln u.a.: Böhlau-Verlag, 2010, 277 S., Der emeritierte Germanistikprofessor Ladislaus Löb strengt des letzten Jahres seines Bestehens, des konkreten wie auch spezi- Bill Niven zeichnet in Zweigs Leben in der DDR, im Kapitel 5, die € 24,90 in seinem Buch nun eine Rehabilitation der Person Kasztner an ellen Rahmens der Rettungsgeschichte, steht aus. Ebenso fehlt eine Erfahrung zunehmender Fremdheit nach. Eine Entfremdung, die und stellt den Anspruch »die Geschichte eines Juden [zu erzählen], wissenschaftliche Untersuchung zur Rettung der Jugendlichen und zahlreiche jüdische Überlebende mit ihm teilen mussten. Am 19. März 1944 besetzten deutsche Trup- der den Mut und die Geisteskraft hatte, den nationalsozialistischen Kinder. Niven verweist wiederholt auf die »Komplexität«, kann Kann man einen Mythos fair dekonstruieren? Bill Niven redet pen Ungarn. Zwei Monate später begann Mördern die Stirn zu bieten und Tausende vor einem elenden Tod zu das Defi zit jedoch nur zum Teil kompensieren. Mitunter greift er zu in Kapitel 6 von der Chance, die es nach dem Ende der DDR dafür die Massendeportation der ungarischen Juden. Ihr Bestimmungsort bewahren, bevor er selbst ermordet wurde« (S. 11). Diese Ambition Pauschalisierungen, die später, am Ende des Buches, als einfacher gegeben hätte (S. 254), führt aber nicht aus, worin diese bestand. war Auschwitz-Birkenau, wo der Großteil der Deportierten kurz verwundert nicht, verdankt doch der Autor des Buches der Rettungs- Paradigmenwechsel vom kommunistischen zum »antikommunis- Umfassendes Wissen über das Geschehen und genaue Kenntnis nach ihrer Ankunft im Lager in den Gaskammern ermordet wurde. aktion von Kasztner höchstwahrscheinlich sein Leben. tischen Märchen« angeprangert werden. Oder er fl üchtet sich auf der »Gedächtnisrahmungen«, wie er sie in seinem Buch entfaltet, Von den bis zum Juli 1944 deportierten über 400.000 ungarischen Ein besonderes Verdienst des Buches ist der Versuch, drei Er- Allgemeinplätze über die »Mischung aus Egoismus und Uneigen- sind Voraussetzung dafür. Die Totalität vergangener Ereignisse, so Juden entgingen lediglich zwei Gruppen einer direkten Verschlep- zählstränge miteinander zu vereinen. Neben der Rekonstruktion nützigkeit, die den kommunistischen Widerstand kennzeichnete« , kann man »nur unter der Voraussetzung zusam- pung nach Auschwitz: 18.000 Menschen gelangten in das Lager der schwierigen Verhandlungen Kasztners mit der SS, lenkt das (S. 59). Die Kommunisten, die in Buchenwald jüdische Kinder rette- menstellen, dass man sie vom Gedächtnis jener Gruppen löst, die sie Strasshof/Nordbahn. Sie wurden anschließend im Raum Wien als Buch die Sicht auch auf den Gegenstand der Verhandlungen und ten, gehörten (auf S. 67 nur angedeutet) nicht zum Kopf der kommu- in Erinnerung behielten, dass man die Bande durchtrennt, durch die Zwangsarbeiter eingesetzt. Eine zweite, viel kleinere Gruppe von schildert den Alltag der »Kasztner-Gruppe« aus der Perspektive der nistischen Geheimorganisation – das wäre durchaus ein Thema ge- sie mit dem psychologischen Leben jener sozialen Milieus verbun- etwa 1.670 Personen kam am 9. Juli 1944 im Konzentrationslager Geretteten. Das dritte Thema, das im Buch Eingang fi ndet, ist die wesen, denn es tangiert die Legende unmittelbar. Zwei neue Aspekte den waren, innerhalb deren sie sich ereignet haben, und dass man Bergen-Belsen an, wo sie als »Vorzugsjuden« in gesonderten Bara- Nachgeschichte und damit das Gerichtsverfahren gegen Kasztner bringt Niven zur Rettungsgeschichte ein, die bislang unterbelichtet ihr chronologisches und räumliches Schema zurückbehält.« Jähe cken untergebracht wurden. Sie waren zuvor bei Verhandlungen mit bzw. dessen Ermordung. Löb skizziert ausführlich die vielfältigen waren: die Perspektive eines Mitglieds des jüdischen Widerstands gesellschaftliche Wenden sind diesem Prozess eher unzuträglich. den Deutschen – allen voran mit Adolf Eichmann und Kurt Becher Vorwürfe gegen Kasztner und bezieht auch selbst Stellung. Dabei sowie das Handeln und die Erzählung des Vaters von Stefan Jerzy Sie schaffen neue Rahmen, gehen notwendig mit rasantem Loslösen – vom Budapester Rettungsausschuss unter der Führung von Otto ordnet der Autor den Gerichtsprozess in die konfl iktreiche Geschich- Zweig. Dass er diese zwei Erfahrungsebenen zum Maßstab der wah- und schnellem Durchtrennen einher, das im günstigen Fall in eine Komoly und Rezső Kasztner freigekauft worden. Wenige Wochen te des frühen israelischen Staates ein und lenkt den Blick auf die ren Geschichte macht, ist unübersehbar. Jedoch bedarf es weiterer sorgfältige Gesamtsichtung mündet − ein längerer Weg, auf dem bzw. Monate nach ihrer Ankunft in Bergen-Belsen wurden sie in Instrumentalisierung des Prozesses im politischen Kampf rund um Forschungen zur Geschichte der Lagergesellschaft des Konzentrati- Bill Nivens Studie einen Markstein setzt. zwei Transporten in die Schweiz gebracht. Unter dieser Gruppe die Mapai-Partei sowie auf die Bedeutung des Verfahrens bei der onslagers Buchenwald, um das Handeln zur Kinderrettung, das nicht Es ist eine Qualität des Buches, dass der Autor mit seiner Mei- befanden sich Aktivisten der zionistischen Bewegung, Rabbiner, öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Israel in auf diese eine Geschichte beschränkt blieb, zu erhellen. nung wie auch seinen moralischen Bewertungen, immer erkennbar Künstler und Intellektuelle mit ihren Familienmitgliedern – darunter den 1950er Jahren. Das Buch ist damit sowohl als autobiografi scher In den Kapiteln 2 bis 5 untersucht Bill Niven, ohne Halbwachs’ als persönliche Intervention, nicht hinter dem Berg hält. Er schreibt auch der damals elfjährige Ladislaus Löb, der sich nach der Flucht Erlebnisbericht als auch als historische Abhandlung zu verstehen, Konzept der »Gedächtnisrahmen« dezidiert zu benennen, die ver- in einer klaren und eleganten Sprache, der die in einigen Belangen mit seinem Vater aus dem Ghetto Kolozsvár (Cluj) diesem Transport die jedoch aufgrund der ausdrücklich erklärten Voreingenommen- schiedenen Phasen der »Umbildungsarbeit« an der Legende vom dahinter zurückbleibende deutsche Übersetzung wenig anhaben anschließen konnte. Mehr als 60 Jahre nach den Ereignissen erinnert heit des Autors nicht gänzlich sachlich sein kann. Doch genau diese »Buchenwaldkind«. In Kapitel 2, »Die Erschaffung des Mythos kann. Fehler des deutschen Lektorats wie der Vorname von Brecht sich Löb in seinem Buch an jene Rettungsaktion, über deren histo- subjektive Sichtweise macht den Wert dieses Buches aus. Indem der von Buchenwald«, setzt er Mythen- und Symbolbildung in Bezug. (S. 74) oder eine Jahreszahl (S. 21) können bei der Nachaufl age rische Bewertung bis heute Uneinigkeit herrscht. Autor seinen Anspruch, Kasztner zu rehabilitieren, offenlegt und Die Symbolik des Nationaldenkmals, so arbeitet er heraus, enthält problemlos korrigiert werden. Bereits unmittelbar nach dem Krieg wurde Kritik laut, die auch seine eigenen Erlebnisse ins Buch einwebt, macht er nicht nur seine nur marginale Zitate der Kinderrettung. Dass diese zur populären nach der Ermordung Kasztners im Jahr 1957 und mit seiner anschlie- eigene Subjektivität explizit, er lenkt den Blick auch auf jene Gruppe Legende werden würde, war bei Erscheinen des Romans 1958, zeit- Harry Stein ßenden Rehabilitierung von fast allen Vorwürfen durch den Obersten von Menschen, deren Leben durch die Aktion Kasztners gerettet und gleich mit der Einweihung des Mahnmals, noch nicht abzusehen. Gedenkstätte Buchenwald Gerichtshof Israels kein Ende fand. Ausgangspunkt der Kritik bildete die bei der hitzigen Diskussion um die Person Kasztner oft vergessen Vielmehr hatte der Schriftsteller Bruno Apitz, wie in Kapitel 3 ein- die Bevorzugung von Zionisten und prominenten Personen sowie wurde. Denn durch die vielfältige Kritik an Kasztner – vor allem drucksvoll rekonstruiert wird, zunächst eine Menge Schwierigkeiten die Begünstigung von Mitgliedern der Familie von Kasztner bei der durch den Vorwurf, er habe durch die verstärkte Bemühung um mit dem Buch. Die Charakterisierung des Romans als »eigentlich Zusammenstellung der Listen für den »Kasztner-Transport«. Ein den »Kasztner-Transport« die Rettung weiterer Juden verabsäumt – […] reaktionäres Werk« (S. 140) ist, mit Blick auf die sofort ein- weiterer Vorwurf richtete sich dahingehend, dass Kasztner Infor- wurde zu einem gewissen Grad auch eine Rettungsaktion diffamiert, setzende Popularität in der DDR an der Wende der 1960er Jahre, mationen über Auschwitz-Birkenau, die ihm und dem Budapester die immerhin etwa 1.670 Personen das Überleben gesichert hatte. überraschend – oder vielleicht doch nicht? Die Einbeziehung der Rettungsausschuss seit Mai 1944 vorlagen, nicht an die jüdische Ergebnisse der DDR-Forschung hätte hier manches weiter erhellen Bevölkerung weitergegeben habe. Diesem Kritikpunkt lag die An- Regina Fritz können. Jedenfalls gab die mediale Präsentation im Spielfi lm, wie nahme zugrunde, dass, wenn die ungarische jüdische Bevölkerung Wien

86 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 87 Widerstandskämpfer aus Individualismus sowjetische Armee und das Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit. »Aus dem Nichts wird in schwerster Zeit in der Gemeinschaft soziale Unterstützung zu leisten, Bildungs- In diese Periode fallen die zunehmend diskriminierende judenfeind- ein Etwas erkämpft« angebote zu erweitern, Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen und vor liche Gesetzgebung durch den ungarischen Staat, die schnellste und allem die menschliche Würde und Selbstachtung zu wahren. »Aus brutalste Deportation von 440.000 Juden aus der Provinz durch Adolf dem Nichts wird in schwerster Zeit ein Etwas erkämpft«, schrieb Eichmann und die Massenmorde an Juden in der Hauptstadt durch der Dirigent und Regisseur Hermann Geiger im November 1933 Seef Eisikovic die Pfeilkreuzler. Dabei fällt auf, wie häufi g die Opfer aus Angst und in einer Mitteilung über »Kulturelle Bestrebungen in Frankfurt« Erinnerungen eines ehrbaren Fälschers Verzweifl ung die Augen vor der nahenden Katastrophe verschließen. Joachim Carlos Martini (Bd. 2, S. 44: Frankfurter Israelitisches Gemeindeblatt, Nov. 1933). Wien: Picus Verlag, 2010, 199 S., € 21,90 Einer, der die Augen nicht verschließt, ist Seef Eisikovic. Er ge- Musik als Form geistigen Widerstandes. Unterstützung und Auftrittsmöglichkeiten erhielten die Musiker hört zu den relativ wohlhabenden Juden von Bockov. Sein Vater hat Jüdische Musikerinnen und Musiker von der Israelitischen Gemeinde, der Gesellschaft für jüdische Volks- bis zur Wirtschaftskrise ein gutes Einkommen als Bierlieferant, seine 1933–1945 bildung, von den jüdischen Schulen und auch von den Rabbinern und Mutter danach als Lebensmittel- und Schnapsschmugglerin über die Band 1: Texte, Bilder, Dokumente, 312 S., Kantoren der Synagogen. Die Jüdischen Tonkünstler Frankfurts, ein rumänische Grenze. Mit 17 Jahren verlässt Eisikovic das Städtchen, Band 2: Quellen, 493 S., Frankfurt am Zusammenschluss von Musiklehrerinnen und Musiklehrern, boten »Ich war felsenfest davon überzeugt, nicht um sich in Budapest zum Elektriker auszubilden. Als der Holocaust Main: Brandes & Apsel 2010, je € 29,90 Privatunterricht und Hauskonzerte an und führten zwischen 1933 und mit dem Leben davonzukommen, und dank Ungarn erreicht, entdeckt er in sich die Gabe, äußerst exakt Doku- 1938 mehr als 50 »Mittwochskonzerte« mit Musik- und Wortbeiträ- dieser Einstellung verspürte ich auch so gut wie keine Angst.« mente zu fälschen. Diese Gabe macht ihn im Lauf der nächsten Jahre Seit mehr als zwanzig Jahren recherchiert gen auf. Sie wollten ein breites Publikum erreichen und bei Kindern, (S. 199) So charakterisiert Seef Eisikovic im Rückblick seine Grund- zu einem wichtigen Mitglied des jüdischen Widerstands. Sie bringt der Musikforscher, Dirigent und Leiter der Jugendlichen und auch Erwachsenen Interesse an der Musik wecken, stimmung als junger Widerstandskämpfer während des Holocausts ihn wiederholt in Lebensgefahr, aber sie ermöglicht ihm auch die Jungen Kantorei in Frankfurt am Main, Joachim C. Martini, das ihnen eine andere Welt eröffnen außerhalb der furchtbaren Alltags- in Ungarn. In Wirklichkeit starb er als 84-jähriger Unternehmer Rettung zahlreicher Verfolgter. Seine eigenen Angehörigen kann er Leben und Wirken jüdischer Musikerinnen und Musiker, die 1933 erfahrung. Unterstützt wurden sie von bekannten Komponisten wie und Familienvater »abseits von Illegalität und Politik« (ebd.) in allerdings nicht retten. Sein Vater wird von ungarischen Polizisten aus Frankfurter Opernhäusern, Konservatorien und Musikschulen Rosy Geiger-Kullmann und Herbert Fromm, die sich zunehmend Wien. Diese posthum veröffentlichte Autobiografi e verhilft dem umgebracht, seine Mutter stirbt in Auschwitz. entlassen wurden. Einigen von ihnen gelang die Auswanderung, mit jüdischen Themen beschäftigten, dem jüdischen Volkslied und Leser zur Bekanntschaft mit einem bemerkenswerten Menschen Was Eisikovic von der passiven Masse der Juden unterscheidet, andere wurden deportiert und ermordet. Viele haben nur geringe der Vertonung von alttestamentarischen Erzählungen und Psalmen und gleichzeitig zu einem Einblick in die radikalen Verwandlungen ist sein Wille, sich zu wehren, und sein Individualismus. Da er weiß, Spuren hinterlassen, und entsprechend mühsam und langwierig war und eine jüdische Rückbesinnung bewirkten. mitteleuropäischen Lebens im Laufe des 20. Jahrhunderts. dass er im Alleingang den Krieg nicht überleben kann, beteiligt er die Recherche. In einer Ausstellung hatte Joachim C. Martini bereits Gehobenen Ansprüchen entsprach das Berufsorchester des 1934 Geboren wurde Seef Eisikovic 1924 in Bockov, einer karpato- sich an Aktionen der Widerstandsbewegung, die »ausschließlich 1990 erste Ergebnisse vorgestellt. in Frankfurt durch Hans Wilhelm Steinberg gegründeten »Kultur- ukrainischen Kleinstadt, die bald zu Ungarn, bald zur Tschecho- von den zionistischen Gruppen« (S. 107) getragen wird. Aber er ist Was aus anderen Bereichen bekannt ist, ereignete sich auch in bund Deutscher Juden«. Es erhielt begeisterte Kritiken und trat mit slowakei, bald zur Sowjetunion gehörte. Er verbringt seine Kind- kein Zionist. Er wandert nach Israel aus, aber er will immer nach der Frankfurter Musikkultur nach der Machtübergabe an die Nati- Konzertreisen auch außerhalb von Frankfurt auf. Obwohl es eben- heit in einer beinahe noch vorindustriellen Umgebung, in der die Europa zurückkehren. Der jüdische Staat ist für ihn keine Heimat, onalsozialisten: Unverzüglich wurden Juden entlassen, und es gab falls großzügig von der Israelitischen Gemeinde unterstützt wurde, Mehrheit der Bevölkerung in einstöckigen Hütten mit Lehmboden sondern nur ein »Ausweg«, als ihm »in Budapest, Prag und Wien kaum Widerstand dagegen, eher eine aktive Unterstützung durch hatte es mit fi nanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, weil doch und Plumpsklos wohnt, mangels Elektrizität und Wasserleitungen der Boden zu heiß« (S. 171) wird. Überhaupt lässt er sich nicht von Denunziationen oder das »Misstrauensvotum« des Opernpersonals weniger Juden als erwartet Mitglieder im Kulturbund wurden. Auch Kerzenlicht und Ziehbrunnen benützt, Waren und Personen auf unas- Ideologien oder Refl exionen leiten, sondern reagiert instinktiv auf gegen den Intendanten Dr. Herbert Graf (einen getauften Juden). das Kulturbundorchester wandte sich zunehmend Musik von jüdi- phaltierten Straßen mit Fuhrwerken statt Autos befördert, Krankhei- die jeweils sich einstellende Situation – handle es sich um Flucht Vakant gewordene Stellen wurden gern eingenommen, da der Kon- schen Komponisten und Musik mit jüdischen Themen zu. ten mit althergebrachten Kräutern behandelt und sich mit Produkten vor Gendarmen, Auftritte in faschistischer Uniform, schweigendes kurrenzkampf sehr hart war. Auch in den Feuilletons der Zeitungen Musik als Form geistigen Widerstandes ist ein gewagter Titel, aus dem eigenen Garten ernährt. Ein herausragendes Merkmal dieser Ertragen von Folter, lukrative Geschäfte, Plünderungszüge zwi- und beim Publikum äußerte sich kein Protest, selbst nicht bei der der sich aber beim Lesen klärt. Es handelte sich um Widerstand rustikalen Gesellschaft ist Toleranz. Die Obrigkeit ist geneigt, gegen schen den Ruinen, die Avancen attraktiver Kameradinnen oder die Entlassung des noch im Dezember 1932 mit dem Goethe-Preis der gegen Erniedrigung und Verleumdung, gegen Disqualifi zierung Naturalien kleine Vergehen zu übersehen. Die verschiedenen ethni- Liebe zu seiner Kindheitsfreundin und späteren Frau Jaffa. Seine Stadt Frankfurt ausgezeichneten Dirigenten der Frankfurter Oper, und Verarmung. Ein Widerstand, der sicher Akteuren und Zuhö- schen Gruppen kommen ohne nennenswerte Konfl ikte miteinander Haupteigenschaften sind Selbsterhaltungstrieb, Abenteuerlust und Hans Wilhelm Steinberg. rern sehr geholfen hat, in Selbstachtung weiterzuleben und nicht zu aus. Unter insgesamt 10.000 Einwohnern genießen die 1.200 Juden, Draufgängertum. Immerhin verrät er auch ein soziales Gewissen, Die Entlassungen riefen neben fi nanziellen Schwierigkeiten verzweifeln. Ein eigenständiges reiches kulturelles Leben entstand, die wie gewöhnlich den Handel vorantreiben, Gleichberechtigung etwa wenn er sich freut, dass seine »Tätigkeit einigen Menschen auch Identitätskrisen der als deutsche Juden mit der deutschen Kul- das außerordentlich vielfältig war (außer der Musik gab es Theater- mit ihren griechisch-orthodoxen, russisch-orthodoxen oder römisch- eine Chance zum Überleben bot«. (S. 107) tur verbundenen Musiker hervor. Viele von ihnen fanden sich bald aufführungen, Kunstausstellungen und Filmvorführungen), und dem katholischen Mitbürgern. Pogrome sind unbekannt. Der Antisemi- Solche dramatischen Erlebnisse hätten Eisikovic beim Schrei- zusammen, um nach Möglichkeiten zu suchen, ein eigenes mu- kaum anzumerken war, in welchem durch die nationalsozialistische tismus hält sich in Grenzen. ben leicht zu Sensationalismus, Wehleidigkeit, Moralpredigten oder sikalisches Leben aufzubauen. Künstler taten sich zu ganz unter- Gesetzgebung und Kontrolle engmaschigen Netz es sich bewegte: Aber diese friedliche Welt fällt unweigerlich der Weltwirt- pseudo-tiefsinnigen Spekulationen verleiten können. Indem er die schiedlichen Auftritten zusammen, Unterhaltungsabenden, Kabarett, Die Programme mussten durch die Gestapo genehmigt werden, die schaftskrise, dem Aufstieg des Faschismus und den Verwüstungen Tatsachen ohne Selbstlob oder Selbstmitleid, ohne Klagen oder Em- leichter Muse, ernster Musik. Sie folgten ihren eigenen Interessen Auftritte wurden überwacht, Zuhörer mussten sich ausweisen. Auf des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Entscheidende Ereignisse in Un- pörung sparsam und nüchtern für sich sprechen lässt, überzeugt er und Fähigkeiten, wollten aber auch den sehr unterschiedlichen immer wieder vorkommende Schikanen gegen Musiker geht Martini garn sind der Verlust von zwei Dritteln des Landes durch den Vertrag mehr. Erwartungen der jüdischen Bevölkerung entsprechen, die, ausge- leider nicht ein. Man muss sich fragen, wie groß die Musikkenntnisse von Trianon, die Rückgabe der verlorenen Territorien durch Hitler, schlossen von öffentlichen Veranstaltungen, für sich selbst sorgen der Gestapo-Verantwortlichen waren. Immerhin konnte im Januar das Bündnis mit Nazi-Deutschland, Horthys heimliche Absprung- Ladislaus Löb musste. Erstaunlich groß ist die Anzahl der Orchester, Ensembles und Februar 1938 das Händel-Oratorium Belsazar aufgeführt wer- pläne, die deutsche Besetzung vom 19. März 1944, der Staatsstreich University of Sussex, Brighton und Chöre und der von ihnen angebotenen Konzerte. Sie wurden den, in dem der Jude Daniel dem babylonischen Reich den Untergang der Pfeilkreuzler, die blutige Eroberung von Budapest durch die Teil der umfangreichen Maßnahmen der jüdischen Selbsthilfe, um und den Juden die Befreiung aus der Gefangenschaft voraussagt.

88 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 89 Mit dem Novemberpogrom 1938 kamen die kulturellen Akti- Diese verrückte Liebe zum Leben lebensgefährlichen Sonnenbrand endete. Lanzmann beschreibt auch Streckenweise ermüdet der Autor mit Namedropping und allzu vitäten zum Erliegen. Es gab kein Geld mehr. Die Musiker wurden seine Leidenschaft fürs Fliegen, die er während der Dreharbeiten für detaillierten Schilderungen der großen Hindernisse beim Drehen wie die anderen Männer verhaftet und nach Buchenwald und Dachau seinen Film TSAHAL über die israelische Armee heldenhaft befrie- von SHOAH oder wenn es um den Widerstand etwa vieler Polen oder gebracht. Einigen gelang noch die Auswanderung, sehr viele wurden digen konnte. Er schwärmt von Stierkämpfen und Verbrüderungen so mancher Konkurrenten gegen sein Werk geht. Er beschwört die ab Oktober 1941 deportiert und ermordet. mit den Aufständischen im Algerienkrieg 1954 gegen die Franzosen: Bedeutung seines Films, fast als hinge die Erinnerung an die Vernich- Den ersten Band beschließen ausgewählte Biografi en in Frank- Claude Lanzmann »Ich war der erste Franzose, der dorthin kam … Sie erzählten mir tung der Juden allein an ihm. Auf Kritik oder Missinterpretationen furt wirkender Musiker. Der zweite Band ist ein Quellenband, in Der patagonische Hase. Erinnerungen von Kämpfen und Hinterhalten, brutale Geschichten über die Grau- reagiert der Autor mitunter überheblich und überzogen gekränkt – die dem aus dem Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatt Konzertan- Hamburg: Rowohlt Verlag, 2010, 682 S., samkeit und Barbarei der Unterdrückung.« (S. 447) unausgesprochene Forderung, von seinem Publikum bedingungslos kündigungen, Auftritte von Musikensembles, Anzeigen über die € 24,95 Mitunter ist der Leser an Ernest Hemingway erinnert, es sind geliebt zu werden, teilt er vielleicht mit seiner Schwester, die, fragil Erteilung von Musikunterricht, Artikel über das Selbstverständnis Geschichten von Tapferkeit und Abenteuerlust. »Die Frage nach Mut wie sie seit Kindertagen wohl war, letztlich am Abbruch einer Lie- und die kulturellen Aktivitäten des Kulturbundes und der Frankfurter und Feigheit ist der rote Faden, der dieses Buch und mein Leben besbeziehung zugrunde ging. »Vergangenheit ist ganz entschieden Tonkünstler sowie aufschlussreiche Rezensionen und musiktheoreti- durchzieht« (S. 47), sagt Lanzmann. Schon als Jugendlicher war er in nicht meine Stärke« (S. 61), sagt ausgerechnet der, der zu deren sche Beiträge zusammengestellt sind. Die Darstellung von Joachim Hasen haben riesige Ohren, um den Schall der französischen Résistance aktiv, und doch fragt er sich: Hätte ich Vergegenständlichung in der Gegenwart und für die Zukunft einen C. Martini im ersten Band erlebt hier eine ungeheure Verdichtung. zu orten, und lange, zum Springen geeignete gehandelt wie mein Freund – der sich erschoss, als ihn die Gestapo beträchtlichen Beitrag geleistet hat. In seinem bewegten Leben hat Für die Juden in Frankfurt wurde das monatlich erscheinende Is- Hinterbeine. Sie sind stets auf der Hut vor ihren Jägern. Im Vernich- verhaftete? Auch er entging nur knapp der Verhaftung. Seine lebens- Lanzmann viele Haken geschlagen und große Sprünge gemacht, er raelitische Gemeindeblatt das wichtigste Informationsorgan, für tungslager Birkenau gab es viele Hasen, sagt Claude Lanzmann, und lange Angst, feige zu sein, bekämpfte er offenbar durch immer wei- ist oft dem Tod entronnen, hat sich immer wieder mit ihm konfron- diejenigen, die kulturelle Veranstaltungen anboten, der einzige In- sie waren so klug, unter dem Stacheldrahtzaun hindurchzuschlüpfen tere Mutproben und neue Herausforderungen, denen er sich stellte. tiert und ihm trotzig die Stirn geboten: »Ich bin von der Welt weder formations- und Werbeträger. und zu fl iehen, so wie einer der Helden in seinem Film SHOAH. Wenn Dazu gehört vor allem sein Lebenswerk, der neunstündige Film übersättigt noch ermattet, und hundert Leben, das weiß ich nur zu Erstaunlich sind nicht nur die Vielzahl der kulturellen, insbe- er wählen könnte, würde er am liebsten als Hase wiedergeboren SHOAH (1985) über die Vernichtung der Juden, dessen Entstehen gut, würden mich nicht müde machen.« (S. 245) sondere der musikalischen Angebote und die hohe Zahl der Mitwir- werden: »Ich mag den Gedanken, dass viele der Meinen sich ent- Lanzmann im letzten Teil des Buches intensiv und mitreißend be- kenden, sondern auch die Veranstaltungsvielfalt. Deutlich wird über schieden haben, wie ich es täte, in ihnen wiedergeboren zu werden« schreibt. Er wollte damit »die nichtexistierenden Bilder vom Tod Alexandra Senfft die vielen Konzertankündigungen – es gab nahezu jede Woche die (S. 327), so der weltbekannte Dokumentarfi lmer. Die Hasen verkör- in den Gaskammern« (S. 539) ersetzen, »das Unbenennbare benen- Hagenheim/Hofstetten Möglichkeit, ein Konzert zu besuchen – weiterhin, dass bis 1938 pern in seiner Wunschvorstellung das eigene Vorhandensein und das nen« (S. 641). Er bekennt, vom Tod »besessen« gewesen zu sein. geeignete Räume in ausreichender Zahl zur Verfügung standen, vor Überleben derjenigen, die den KZs entronnen sind. Sie tragen die Schließlich sei er selbst ein Zeitgenosse der Shoah gewesen, »ich allem die Lazarushallen (vorher Toynbee-Halle) in der Quinckestra- Seelen der Toten in die Außenwelt, das Erinnern ins Leben hinein. hätte ihr Opfer sein können« (S. 530). Dass er es nicht geworden ße (Königswarter Straße), das Jugendheim, die Aulen der Samson- Lanzmanns Memoiren, die angelehnt an ein argentinisches ist, war vermutlich stets eine seiner Triebfedern. Raphael Hirsch-Schule und des Philanthropin, das Vereinshaus der Kinderbuch unter dem Motto des Hasen stehen, sind dominiert Während der Dreharbeiten zu SHOAH starb 1980 Sartre und kurz Frankfurt-Loge und der große Saal der Saalbau. vom Topos Tod – der Tod ist die Klammer, die dieses Buch voll nach Erscheinen des Films 1986 Simone de Beauvoir. »Der Film«, In der Quellenzusammenstellung zeigen sich aber auch Proble- praller Lebenserzählungen zusammenhält. Lanzmann beginnt mit hatte sie gesagt, »ist ein Monument, das es den Menschen generati- Von antikem Vergessen und deutschem me, mit denen die Akteure sich auseinanderzusetzen hatten: Wider- Beschreibungen von Hinrichtungen durch die Guillotine, ein be- onenlang ermöglichen wird, einen der düstersten und rätselhaftesten Erinnern sprüche zwischen sozialen und künstlerischen Interessen mussten fremdlicher Auftakt für eine Autobiografi e. Doch noch bevor man Augenblicke ihrer Geschichte zu verstehen.« (S. 344) Das Paar, mit gelöst werden; Spannungen zwischen dem allgemeinen Wunsch, als den dicken Band frustriert beiseitelegt, ist man auch schon gebannt dem er seit 1952 Les Temps Modernes herausgegeben hatte – er leitet deutscher Jude deutsche Musik zu spielen und zu hören, und der von von bildhaften, auch humorvollen Berichten über die Kindheit des die Zeitschrift bis heute –, hat ihn auf seinem Lebensweg entscheidend der Gemeindeleitung gesehenen Notwendigkeit, eine jüdische Iden- 1925 in Paris geborenen Sohnes jüdischer Eltern. Da die Mutter, die geprägt. Er stellt die beiden voller Respekt und Liebe dar. Eher blass, Christian Meier tität auch durch ein eigenes kulturelles Bewusstsein zu entwickeln, »geheimnisvolle Unbekannte« (S. 100), ihren Mann und ihre drei aber bewusst dezent gehalten, scheinen da seine ehemaligen Ehefrauen Das Gebot zu vergessen und die traten auf. Finanzielle Schwierigkeiten mussten überwunden werden Kinder schon früh verließ, wuchs Lanzmann bei seinem Vater und auf, darunter die Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff, der er in Jeru- Unabweisbarkeit des Erinnerns. und durch Auswanderung entstehende Lücken in den Ensembles dessen neuer Frau auf. Es war für ihn und seine beiden jüngeren salem begegnete und sofort ihrem Intellekt und ihrer Stimme verfi el; Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer immer wieder geschlossen werden. Von großem Interesse sind die Geschwister vermutlich eine Zeit emotionaler Entbehrungen, auch von seinem Sohn, dem er das Buch gewidmet hat, erfährt man nichts. Vergangenheit zahlreichen zitierten Rezensionen sowie die inhaltlichen Beiträge wenn er seine Eltern und deren Partner als schillernde, weltoffene Lanzmann nennt sich einen »zufälligen, keineswegs ›ange- München: Siedler Verlag, 2010, 158 S., über die kulturellen Bestrebungen. und zugleich zugewandte Bezugspersonen beschreibt. stammten‹ Franzosen« (S. 303) – doch gerade Israel habe ihm gezeigt, € 14,95 Man muss Martini sehr dankbar sein für seine umfangreiche Seine Schwester, die schöne Schauspielerin Évelyne, nahm sich dass er unwiderrufl ich nach Frankreich gehöre. Seine Ausführungen Forschungsarbeit und den intensiven Blick auf einen bedeutenden später das Leben. »Claude, schwör mir, dass Du so etwas nie tun zu Israel sind zwar mitunter etwas verklärt, im Großen und Ganzen Teil des Kulturlebens in der Zeit des Nationalsozialismus, der damals wirst« (S. 238), bat ihn sein Bruder, was Lanzmann, damals schon jedoch differenziert. Auch wenn dieses Land Teil seiner Identität ist, Bundespräsident Roman Herzog erklärte von keinem Nichtjuden wahrgenommen wurde und auch bis heute als erfolgreicher Journalist in der ganzen Welt unterwegs, zutiefst wofür er kämpft, ist Lanzmann durch und durch Europäer, vor allem am 27. Januar 1997 anlässlich des inter- in den Darstellungen über die Zeit des Nationalsozialismus wenig überraschte. Er gesteht indes, nicht nur immerzu mit Frauen, sondern jedoch ein Einzelgänger und Individualist. »Meine Heimat ist mein nationalen Holocaust-Gedenktags: »Die Erinnerung darf nicht en- Beachtung fi ndet. auch oft mit dem Tod »gefl irtet« zu haben. In Israel ertrank er beinahe Film« (S. 311), sagt er – die Filme TSAHAL oder WARUM ISRAEL hätte den; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mah- bei einem leichtsinnigen Schwimmausfl ug. Mit seiner langjährigen er als Israeli nie gedreht. »Ich hätte auch niemals zwölf Jahre meines nen.« Christian Meier, emeritierter Althistoriker an der Universität Helga Krohn Partnerin Simone de Beauvoir in einer ménage à trois mit Jean- Lebens damit verbringen können, ein Werk wie Shoah zu schaffen, München, stellt dem ein Diktum Ciceros von 44 v. Chr. entgegen: Frankfurt am Main Paul Sartre begab er sich auf eine Bergwanderung, die mit einem wenn ich selbst im Konzentrationslager gewesen wäre.« (S. 310) »Omnem memoriam discordiarum oblivione sempiterna delendam

90 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 91 (alle Erinnerung an die Zwieträchtigkeiten sei durch ewiges Verges- unter ihnen, den Holocaust keineswegs als Genozid explizit gegen Gründliche Forschung als Grundlage komplexe Datei angelegt und diverse Suchstrategien angewandt. Das sen zu tilgen)« – so der Philosoph zwei Tage nach der Ermordung die Juden verstehen. Dies läuft dem deutschen Erinnern, das dem des Gedenkens Material reicht von örtlichen Behörden- und Gestapo-Unterlagen bis zu Caesars (S. 9 f.). Genozid an den Juden nicht nur an zwei Tagen, dem 9. November Original-Aufzeichnungen aus den zahlreichen konsultierten Archiven, Zwischen diesen Polen, der Notwendigkeit des Vergessens wie sowie dem 27. Januar, gedenkt, sondern den Holocaust auch als eine insbesondere aus dem Staatsarchiv Łódź, von Postkarten aus dem Getto der des Erinnerns, analysiert Christian Meier die Weltgeschichte. Art negativen »Staatsgründungsmythos« (Dan Diner) versteht, fun- bis zu Interviews mit den wenigen Überlebenden. Vernetzt wurden die Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Dem ersten Teil (»Erinnern damental entgegen. Die neuen deutschen Juden entstammen einem Erkenntnisse mit den Ergebnissen aus den Studien der letzten Jahre – Verdrängen – Vergessen«, S. 7–127) liegt ein Aufsatz von 1997 System des staatlich erzwungenen und (zumindest auf ideologischer Angela Genger, Hildegard Jakobs (Hrsg.) – sowohl was die Situation der jüdischen Bevölkerung ab November zugrunde; der zweite (»Mentalitätsprobleme der deutschen Verei- Ebene) erfolgreich durchgesetzten Internationalismus. Bei diesem Düsseldorf. Getto Litzmannstadt. 1941 1938 im Deutschen Reich, hier Rhein-Ruhrgebiet, angeht als auch die nigung«, S. 127–156) wurde neu verfasst. Die kürzeste Formel, um wurde »Auschwitz« zu einem allgemeinen Symbol des Bösen; das Essen: Klartext Verlag, 2010, 436 S., umfangreichen Forschungen über das Getto Łódź von seinen Anfän- den Inhalt des Buches wiederzugeben, könnte lauten: Das Unrecht Vergessen des Holocaust hatte letztlich nicht mit einem Verzeihen, zahlr. Abb., € 29,95 gen bis zu den letzten Überlebenden. Die Getto-Chronik und andere in der Geschichte sollte vergessen werden, um Rache und die mit sondern mit machtpolitischen Motiven des Sowjetregimes zu tun. Aufzeichnungen der »Lagerleitung« wurden teilweise auf Polnisch, ihr verbundene Gewaltspirale zu vermeiden; Auschwitz und der Der Transfer dieses Geschichtsverständnisses nach Deutschland »Die Journalistin und Schriftstellerin Anne teilweise auf Deutsch verfasst. Sie wurden von deutschen Historikern Holocaust hingegen dürfen nie in Vergessenheit geraten. bringt hier manche politische Selbstverständlichkeit ins Wanken. Ranasinghe Katz hat viele Seiten des Lebens erst in den letzten Jahren bearbeitet und sind seit 2007 zugänglich1. Erinnern – Verdrängen – Vergessen: Diese Trias bildet den Das Dilemma des kundigen Buches ist, dass Meier eine Kon- ihrer Familie unter dem Nationalsozialismus in ihren in englischer Durch die Beschränkung auf die »kleine« Personenzahl gelingt Rahmen für die Überlegungen Meiers zu insgesamt 3.000 Jahren stante der Weltgeschichte skizziert, diese dann aber am Ende durch Sprache verfassten Erzählungen und Gedichten betrachtet. Immer es, sehr nahe an das Schicksal jedes Einzelnen zu gelangen, dabei aber Weltgeschichte. Angesichts einer unendlich langen Reihe von Ver- ein Ereignis negiert; der Leser steht damit am Ende wieder genau blieben für sie Fragen offen: […] Und was war im Getto passiert? Nach gleichzeitig die Herkunftsorte sehr genau in den Blick zu nehmen. Die treibungen, Genoziden und Kriegen, vor allem im 20. Jahrhundert, dort, wo er am Anfang stand. Denn das Vergeben und das Verzei- dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sie […] drei Postkarten aus Einbeziehung der Landkreise entlang der niederländischen Grenze und drehen sich Meiers Gedanken letztlich aber um die Frage nach der hen, zentrale moralische Komponenten des Vergessens, sind im dem Getto Litzmannstadt erhalten. Eine davon hatte ihre Mutter, Aenne den verschiedenen Großstädten im Rhein-Ruhr-Gebiet ermöglicht es Singularität des Holocaust. Politischen – hier behält Hannah Arendt nach wie vor völlig recht – Katz, im Juni 1944 geschrieben, also 32 Monate nach ihrer Deportati- dem Leser, einerseits die regionalen und örtlichen Unterschiede zu Die Geschehnisse in Auschwitz übersteigen die menschliche niemals ernst genommen worden, weil sie eher einem religiösen, ja on. Wie hatte die Mutter so lange überleben können? Und wo und wie verstehen und andererseits die vorhandenen Lücken in den Quellen Fassungskraft. Deswegen, so Meier, sei der Umgang mit dieser einem sakralen Zusammenhang zuzuschreiben sind.1 Das Vermögen, waren ihre Eltern gestorben? Als Anne Ranasinghe Katz im Jahr 1983 zu überwinden. Zum Beispiel ist unterschiedlich differenziert zu bele- Erinnerung unzulänglich (S. 72). Doch ist dem wirklich so? Und ein zuverlässiges politisches Handeln an den Tag zu legen und das erstmals wieder in ihre Geburtsstadt Essen zurückkehrte, stellte sie gen, welche Behörden an der Erfassung, Festnahme und Verbringung wenn ja – warum? Meier gibt – wie zahlreiche andere Bücher und Zukünftige nicht durch nebulöse moralisch-religiöse Feststellungen, dem damaligen Vorsitzenden der Essener jüdischen Gemeinde, einem der Deportierten nach Düsseldorf beteiligt waren. Erst in der Zusam- Essays über den Holocaust auch – keine Antwort hierauf. Vielmehr sondern durch die Macht des gegenseitigen Tolerierens zu sichern, polnisch-jüdischen Lodz-Überlebenden, ihre Fragen und erhielt die für menschau bekommt man ein umfassendes Bild der Situation vor und verlässt er an dieser Stelle sein Koordinatensystem und stellt die wäre eine Option, bei der das Vergessen indes nicht zusätzlich glo- sie schockierende Antwort: ›Ihre Eltern können 1944 nicht mehr gelebt während der Deportation. Ähnliches gilt dann auch für die Ankunft, Erinnerung an Auschwitz als Teil deutscher Identitätsgeschichte rifi ziert werden sollte. Die »Rache« wäre dann nicht eine dunkle, haben. Die Westjuden sind alle sofort zugrunde gegangen!‹ …« (S. 11) Unterbringung und das weitere Überleben im Getto. Kurzzeitig bestand dar. Eine solche Konstellation resultierte aus der Betroffenheit der wenn auch mit der Autorität der Antike versehene Entität, sondern Hier möglichst viel aufzuklären, den Überlebenden und den folgen- reger Postverkehr mit Angehörigen oder Bekannten in der Heimat. Trotz Deutschen als Kollektiv. Die Wiedergutmachung der Nachkriegszeit eine klare juristische und politische Handlungsangelegenheit. An- den Generationen Auskunft zu geben, war die entscheidende Motivation Sperren und Zensur liest man ergreifende Versuche, Kontakte aufrecht- stehe in keiner Relation zu dem Getanen. Die Strafen seien – bei derenfalls wären wir ein – obgleich historisch geschultes – Opfer für das Düsseldorfer Gedenkbuch – es ist den jüdischen Bürgerinnen zuerhalten. Einige Persönlichkeiten spielten eine besondere Rolle, so Weitem nicht in allen Fällen – die Sache der deutschen Gerichtsbar- unserer selbst.2 Diese die historischen Unterscheidungen betonende und Bürgern gewidmet, die im Oktober 1941 aus dem damaligen Gesta- musste der Düsseldorfer Rabbiner Klein als »Transportleiter« fungieren; keit gewesen. Und sehr bald werde keiner da sein, den man mehr und im Heute verankernde Linie ist auch bei unserem Erinnern an pobezirk Düsseldorf in das Getto Litzmannstadt/Łódź deportiert wurden Dokumente aus dem Getto belegen, dass er sich auch als Seelsorger bestrafen könnte (S. 74 f.). Man hätte hier ergänzen können: Und Auschwitz notwendig. Eine Sakralisierung dieser Erinnerung im Un- und dort umkamen oder im Vernichtungslager Chełmno, in Auschwitz, weiterhin um die Düsseldorfer Juden bemühte. Für das Getto werden der eine Klage erheben könnte. terschied zu anderen – angeblich vergessenswürdigen – Kriegen und Stutthof oder anderen Konzentrationslagern ermordet wurden. Die Ver- außerdem wenig erforschte Spezialthemen wie das Verhältnis zwischen An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Wird es aus diesen Massenverbrechen der Weltgeschichte bietet hingegen keine Lösung. öffentlichung basiert auf einem neuartigen Ansatz, weil sie einerseits polnischen und deutschen Juden, die besondere Situation der Ostjuden Gründen bald eine Art reine historische Erinnerung geben? Dies die regionale Perspektive für das »Düsseldorfer Kollektiv« einnimmt unter den Deportierten und der »nichtarischen« Christen behandelt. wäre die logische Folge der Überlegungen Meiers. Er wechselt indes Dmitrij Belkin und andererseits die Biografi en und die Lebensbedingungen im Getto Dieser Band ist als Gedenkbuch konzipiert und enthält daher das Thema und befasst sich mit dem »Erinnern bzw. Nichterinnern Fritz Bauer Institut für möglichst viele einzelne Deportierte sehr spezifi sch nachzuzeich- auch etliche Tabellen und Listen, die im laufenden Text inhaltlich in der DDR«. Christian Meier refl ektiert über die Notwendigkeit nen versucht. Sie beeindruckt schon durch ihr Format, ihre sorgfältige sinnvoll sein mögen, aber das eindrucksvolle Layout stören. Für den einer globalen Aufklärung im Osten Deutschlands, die der Situation Edition und die Fülle von Originalfotos und Dokumenten. Ihr liegen allgemein interessierten Leser wären sie besser am Ende des Bandes im Westen des Landes 20 Jahre nach 1945 ähneln würde (S. 96 f.). Forschungen aus über acht Jahren zugrunde: Durch die beharrlichen platziert. Angekündigt, aber noch nicht erschienen ist eine CD-ROM Die geografi sche Verlagerung des Diskurses innerhalb Deutsch- Anstrengungen der beiden Herausgeberinnen von der Mahn- und Ge- mit allen Biografi en, die dann vermutlich auch die tabellarischen lands hilft wenig, die zentrale Frage des Buches zu beantworten: denkstätte Düsseldorf und die Einbeziehung zahlreicher Historikerinnen Zusammenstellungen enthalten wird, die hier schon abgedruckt sind. Kann Auschwitz vergessen werden? Und: Gibt es eine »jüdische und Historiker in Deutschland und Polen wird dem Leser ein ganz Amnesie«, durch die der Holocaust umcodiert bzw. verdeckt wird? ungewöhnlicher Einblick in das Schicksal dieser 1.003 Menschen ge- Dorothee Lottmann-Kaeseler Diese gibt es in der Tat – auch wenn Meier darüber nichts zu schrei- geben, die am 28. Oktober 1941 im Getto Łódź eintrafen. Es war der Wiesbaden ben vermag und dieser Aspekt sein Konzept völlig durcheinander- 13. Transport nach Łódź, aber der erste aus dem nördlichen Rheinland. bringen würde. Indes besteht die jüdische Gemeinschaft in Deutsch- Die einleitenden Kapitel geben Aufschluss über die vielfältigen land heute zu mehr als 90 Prozent aus nach 1989 aus der ehemaligen 1 Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1994, S. 239. Schwierigkeiten beim Zusammentragen der Informationen, viele Hin- 1 Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1944, hrsg. von Sascha Feuchert, Sowjetunion eingewanderten Juden, die zumeist, zumal die Älteren 2 Ebd., S. 232. dernisse mussten überwunden werden. Die Autoren haben sehr früh eine Erwin Leibfried und Jörg Riecke. 5 Bde., Göttingen 2007.

92 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 93 Lexika zu Nationalsozialismus, Holocaust Die Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte beeinfl usst hat (und es Shoah nicht eine Grenze am Rande der Unterkomplexität erreicht und deren Wirkungsgeschichte nach 1945 haben die Herausgeber in sechs Zeitabschnitte unterteilt. weiter tut), bekommt mit diesem Nachschlagewerk ein Werkzeug wird, sei an dieser Stelle jedoch zu bedenken gegeben. Unterhalb dieser Einteilung fi nden sich wiederum drei bis vier the- an die Hand. Wenig verständlich bleibt außerdem, warum die Sprache der matische Kapitel, die zeittypische Diskurse um den Nationalsozialis- Ein herausragendes Merkmal des Lexikons der Vergangenheits- Täter fast durchgehend ohne Distanzierung Einzug in das Lexikon

mus bündeln, und schließlich die jeweiligen lexikalischen Einträge. bewältigung liegt in der Wissensvermittlung und somit -weitergabe erhalten hat. Zwar schreibt der Herausgeber Wolfgang Benz, dass Diese haben einen Umfang von ein bis vier Seiten und schließen mit an jüngere Generationen von Wissenschaftler/-innen, Studierenden sich die Autor/-innen selbstverständlich von Begriffen wie Arisie- Torben Fischer, einer kurzen Liste verwendeter und weiterführender Literatur ab. und Schüler/-innen. Mithilfe der vorliegenden Wiedergabe prägen- rung oder Judenfrage distanzieren, doch auf eine Schreibweise mit Matthias N. Lorenz (Hrsg.) Wer sich mit Themen wie Erinnerungskultur(en) und Vergangen- der zeitgenössischer Debatten können die Leser/-innen verstehen, Anführungszeichen habe man aus Gründen der besseren Lesbar- Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« heitspolitik beschäftigt, mag etwas verwundert sein angesichts des wodurch unsere Erinnerungs- und Gedenkkultur in den vergangenen keit verzichtet. Das leuchtet nur bedingt ein, denn schließlich dient in Deutschland. Debatten- Reizwortes »Vergangenheitsbewältigung« im Buchtitel. Der nahelie- Dekaden geprägt wurde. Dabei legten die Herausgeber bewusst Wert ein solches Lexikon auch stets der historischen Bildung der jungen und Diskursgeschichte des genden Kritik, der aus der Psychologie stammende Begriff erwecke darauf, sowohl bedeutendere als auch weniger wirkungsmächtigere Generation. Ob sie sich die distanzierenden Zeichen beim Lesen Nationalsozialismus nach 1945 den Eindruck, die Vergangenheit lasse sich endgültig bewältigen, Diskurse zu berücksichtigen. Einziger Wermutstropfen des Lexikons mitdenken, bleibt stark zu bezweifeln. Hier wäre etwas mehr Mut Bielefeld: transcript Verlag, 2007, 395 S., haben die Herausgeber nichts entgegenzusetzen. Dass sie dennoch ist das komplette Fehlen der DDR-Diskursgeschichte. Diese in vie- zur sprachlichen Genauigkeit wünschenswert gewesen. € 31,80 den etwas irreführenden Terminus im Titel des Lexikons verwenden, lerlei Hinsicht abweichende Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe begründen sie mit dem Fehlen eines präziseren Begriffes. Natürlich, auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges hätte mit Sicherheit Die vom Washingtoner United States Holocaust Memorial und Lexikon des Holocaust so Fischer und Lorenz weiter, lasse sich die Vergangenheit nicht eine aufschlussreiche Ergänzung bedeutet. Schließlich haben auch Geoffrey P. Megargee herausgegebene Encyclopedia of Camps and Hrsg. von Wolfgang Benz »bewältigen« und im Sinne einer »Enttraumatisierung« abschließen, die in der DDR geführten Debatten ihre Spuren in der Gegenwart Ghettos 1933–1945 ist ein auf sieben Bände angelegtes Großpro- München: Verlag C. H. Beck, 2002, doch umfasse der Begriff ungleich mehr Ebenen als beispielsweise hinterlassen. Vielleicht entsteht ja in Zukunft ein Lexikon der »Ver- jekt. Vergleichbar mit der neunbändigen Serie Der Ort des Terrors. 264 S., € 12,90 die verwandten Bezeichnungen wie Erinnerungs-, Vergangenheits- gangenheitsbewältigung« in beiden deutschen Staaten nach 1945. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager (Hrsg. oder Geschichtspolitik. Akzeptiert man diese Bezeichnung aber erst Zu wünschen wäre es. von Wolfgang Benz und Barbara Distel, München: C. H. Beck, The United States Holocaust Memorial, einmal als »behelfsmäßigen Oberbegriff« (Fischer/Lorenz), eröffnet 2005–2009) soll hier jeweils ein Band einem Themenkomplex ge- Geoffrey P. Megargee (Ed.) sich eine wahre Schatztruhe an Informationen. Das Lexikon zum Völkermord an den europäischen Juden, heraus- widmet werden. Die bisher vorliegenden ersten beiden Bände der Encyclopedia of Camps and Ghettos In seinem Vorwort weist der Frankfurter Erziehungswissen- gegeben von Wolfgang Benz, bietet in knapper Form 200 Artikel Reihe nehmen die Ghettos unter deutscher Verwaltung in den Blick. 1933–1945 schaftler Micha Brumlik zu Recht darauf hin, dass »Erfahrungen, zu wichtigen Ereignissen, Begriffen, Institutionen, Orten der Ver- Die geplanten folgenden fünf Ausgaben behandeln dann Ghettos Vol. I: Early Camps, Youth Camps, and Erinnerungen und Erzählungen nur bedingt ein Eigenleben [führen], nichtung und des Terrors sowie weitere 200 Einträge mit Biografi en unter deutscher Verwaltung, Kriegsgefangenenlager, die Lager und Concentration Camps and Subcamps als kulturelle Konstrukte mit Wahrheitsanspruch sind sie allemal da- zentraler Personen. Ghettos unter der Verwaltung kollaborierender Staaten, die La- under the SS-Business Administration rauf angewiesen, von sich erinnernde und erzählenden Menschen je Das Lexikon versteht sich als Nachschlagewerk zu verschie- ger unter der Aufsicht des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Main Offi ce (WVHA). Part A and B. und je wieder aufgerufen, debattiert, umgedeutet, umgeschrieben und denen Facetten des Holocaust. Neben begriffsgeschichtlichen Zwangsarbeitslager und schließlich solche Stätten, die in keine der Bloomington/Indianapolis, neu erzählt zu werden« (S. 9). Die Deutung der NS-Vergangenheit Stichwörtern wie Antisemitismus, Holocaust oder Shoah stehen genannten Kategorien passten. University Press, 2009. XXXX, XX, Deutschlands nimmt sich hierbei natürlich nicht aus. Sie unterlag ereignisbezogene Artikel zur Wannsee-Konferenz, zur Aktion Ern- Diese Einteilung erfolgte, so die Herausgeber, entlang der je- 1.659 S., $ 295,– seit 1945 diversen Veränderungen, Umformungen und Richtungs- tefest oder zu den Novemberpogromen. Weitere faktenorientierte weiligen Funktion, welche die Orte im nationalsozialistischen Re- änderungen, deren Effekte wir heute in unterschiedlichem Maße Einträge widmen sich den Konzentrations- und Vernichtungslagern, gime zu erfüllen hatten. Die vorliegenden ersten beiden Bände zu beobachten können. Im internationalen Vergleich, beispielsweise Ghettos und Mordstätten. Doch auch die Wirkungsgeschichte des Konzentrationslagern unter deutscher Verwaltung gliedern sich auf mit Russland, Kambodscha oder Spanien, nehme die deutsche Aus- Holocaust in Literatur und Film, Politik und internationalem Recht in (a) die frühen KZs, die von den neuen Machthabern bereits 1933 Jede Generation stellt ihre eigenen Fragen einandersetzung mit der eigenen NS-Geschichte eine herausragende wird berücksichtigt. eingerichtet wurden; und (b) jene KZs und Nebenlager unter der an die Vergangenheit. Im Falle der Ausein- Rolle ein, so Brumlik. Um zu verstehen, wie es dazu kam, dass etwa Die sehr kurzen Artikel, in der Regel von einer halben bis ma- Verwaltung des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes (WVHA) andersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus erleben die Nachfahren der Täter ein Denkmal zum Gedenken an die ermor- ximal zwei Seiten Länge, geben wesentliche Informationen wieder. sowie (c) die Jugendlager. Vor der alphabetischen Aufl istung der wir seit einiger Zeit, wie die vierte und fünfte Generation heran- deten Juden Europas im Zentrum ihrer Hauptstadt errichten, ist die Zahlen getöteter Menschen, Geburts- und Sterbedaten, Orts- und Lager stellen einführende Essays die Geschichte und gemeinsamen wächst und ihre Fragen an die Zeit von 1933–1945 fi nden muss. Kenntnis der vielschichtigen Diskurse zum Nationalsozialismus nach Personennamen werden in stark zugespitzter Form benannt. Für Charakteristika der verschiedenen Lagertypen dar. Doch endet das immer wiederkehrende Erschrecken darüber, wie 1945 unverzichtbar. Warum derartige (vergangenheitspolitische) vertiefende Lektüre bietet jeder Beitrag eine Literaturliste. Aller- Trotz eines ungleich größeren Umfangs im Vergleich zum Lexi- der Faschismus in Deutschland so breiten Zuspruch fi nden und die Diskurse seit nunmehr über sechs Jahrzehnten nach Kriegsende noch dings mag hier die Frage erlaubt sein, ob nicht der Umfang des kon des Holocaust beispielsweise versteht sich auch die Enzyklopä- Welt in den größten Krieg der Menschheitsgeschichte stürzen konnte, immer virulent seien, begründet Brumlik mit der engen Verfl echtung Lexikons erweitert werden sollte. Sicher, wer sich zum ersten Mal die der Lager und Ghettos als eher einführendes Nachschlagewerk, nicht beim Jahr 1945. Das Gegenteil ist der Fall, wie das Lexikon von NS-Verbrechen und persönlicher Verantwortung eines großen mit wenig oder keinem Vorwissen dem Thema Holocaust nähert, als »state of research« des bestehenden Wissens zum Lagersystem. der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland, herausgegeben Teils der deutschen Bevölkerung am Massenmord. Fast jede Fami- fi ndet erste basale Informationen zum Thema. Dem Dilemma eines Als Grundlage für die einzelnen Artikel dienten sowohl Dokumente von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz, eindrucksvoll belegt. lie in Deutschland sei auch in der vierten und fünften Generation jeden Lexikons, mitunter sehr komplexe Vorgänge in wenigen Sät- der Täter als auch Berichte und Erinnerungen der Opfer. Die Texte Das Lexikon stellt sich der Herausforderung, den komplexen Ge- in irgendeiner Weise persönlich verbunden mit den NS-Täterinnen zen zusammenzufassen ohne Wesentliches außer Acht zu lassen, orientierten sich entlang von Fragen nach spezifi schen Eigenheiten genstand der (bundes-)deutschen Auseinandersetzung mit der NS- und -tätern. Es ist deshalb besonders der individuelle Bezug zur sieht sich selbstverständlich auch das vorliegende Nachschlagewerk der Stätten, ihrer Existenzdauer, Zusammensetzung der Häftlinge Geschichte zwischen 1945 und 2002 in übersichtlicher und präziser eigenen Vergangenheit, der einem Lexikon wie dem vorliegenden gegenüber. Ob bei Artikeln von wenigen Zeilen zu Themen wie An- und des Wachpersonals sowie nach der (Nicht)Verfolgung der Tä- Form darzustellen. seine Berechtigung verleiht. Wer verstehen will, was die deutsche tisemitismus, , Adolf Hitler, ja selbst Holocaust und ter. Auf diese Weise sind die einzelnen Beiträge gut miteinander

94 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 95 vergleichbar. Die Herausgeber verstehen die Enzyklopädie als Zu- als Aufgabe verstanden worden, im Nachhinein »Widerstand« gegen Augen als ein deutscher Politiker geoutet, der vor nationalistischen zurückführt, ist – salopp formuliert – eine Konstruktion Marke Ei- sammenfassung des Forschungsstandes. Sie wollen aber auch zu die Bundesrepublik zu organisieren. Untertönen nicht zurückschreckte. Das Konzept des »Deutschen genbau. Dafür gibt es keinen anderen Beleg als Fischers Selbstin- weiterer Forschung anregen, weshalb sich am Ende eines jeden Etwas von dieser monströsen Gleichsetzung einer Nachkriegs- Weges« rufe die berüchtigte Vorstellung von einem deutschen »Son- terpretation im Jahre 2008. In seinen Artikeln aus der jeweiligen Beitrages eine Beschreibung der konsultierten Quellen und Literatur demokratie mit dem »Dritten Reich« war noch beim Machtantritt derweg« in Erinnerung. Fischer will, wie er Kundnani später erklärt, Zeit, in der sich der Umbruch von einem militanten Gegner der par- fi ndet. der Regierungskoalition unter Kanzler Gerhard Schröder 1998 in völlig verblüfft gewesen sein, als er von Schröders Rede und seinem lamentarischen Demokratie zu einem machtpolitisch ausgebufften Die »Enzyklopädie der Lager und Ghettos« besticht durch ihre Berlin zu spüren. In Kundnanis Augen waren die Aktivisten der affi rmativen Bezug auf einen »Deutschen Weg« erfahren habe. Aus Befürworter vollzog, lässt sich keinerlei Spur davon fi nden. Internationalität (über 100 Wissenschaftler/-innen aus Dutzenden Studentenbewegung, die sogenannten »68er«, genau 30 Jahre später Gründen der Regierungsräson hätte er seine Missbilligung jedoch Ganz unzweifelhaft stellt Kundnanis Verknüpfung zweier bis- Ländern). Im Vergleich zur deutschen Serie von Wolfgang Benz an die Macht gekommen. Mit Bundesaußenminister Joschka Fischer nicht zum Ausdruck bringen können. lang weitgehend getrennt behandelter Komplexe – der geschichts- und Barbara Distel verfolgt die Enzyklopädie in stärkerem Maße und Bundesinnenminister Otto Schily seien sogar zwei Kabinettsmit- Kundnani kommt zu dem Schluss, dass Deutschland unter der politischen Rolle der Nazi-Vergangenheit in der 68er-Bewegung mit einen populärwissenschaftlichen Anspruch. Auf diese Weise bietet glieder unmittelbar in die Ereignisse von 1968 involviert gewesen. Führung von Schröder und Fischer unzweifelhaft einen historischen der in der rot-grünen Regierungskoalition – einen eigenen, aus der sie sich auch für den Einsatz außerhalb der verhältnismäßig engen Kundnanis Schlüsselfi gur ist der Erstere der beiden. Mit keinem Schritt in Richtung auf eine »Normalisierung« vollzogen habe. Aber Perspektive eines britischen Journalisten besonders akzentuierten wissenschaftlichen Kreise an, zum Beispiel in der schulischen und anderen ehemaligen »68er« lässt sich der Wandel von einem Anti- hinter dieser Vokabel würden sich zwei ganz unterschiedliche Vi- Ansatz dar. Es ist jedoch nicht klar, ob die von ihm hergestellten außerschulischen Bildungsarbeit, in Gedenkstätten oder auf inter- parlamentarier zu einem überzeugten Anhänger der Bundesrepublik sionen von Deutschlands Zukunft verbergen: Fischers Vision, die Verbindungen auch einleuchtend sind. nationalen Jugendbegegnungen, die stärker auf englischsprachige so gut thematisieren wie mit ihm. Nach dem im Juli 1995 eines von deutsche Außenpolitik müsse sich auf den von Theodor W. Adorno Die entscheidende Voraussetzung für seine Grundargumentation Materialien angewiesen sind. Für das wissenschaftliche Fachpub- den Serben an der Zivilbevölkerung des vor allem von Muslimen formulierten kategorischen Imperativ gründen, eine Wiederholung stellt eine Gegenüberstellung dar – die einer »Auschwitz-Genera- likum stellt die vorliegende Enzyklopädie dagegen eine hilfreiche bewohnten bosnischen Ortes Srebrenica begangenen Massakers gab von Auschwitz zu verhindern, und Schröders Vision, die Deutschen tion« mit der einer »68er-Generation«. Beide Begriffe sind jedoch Ergänzung zur Reihe Der Ort des Terrors. Geschichte der national- es für ihn nur eine Alternative: Rückzug oder Widerstand. Wenn man seien nicht schuldiger als irgendeine andere Nation, unter die deut- zweifelhafter Natur. Von einer »Auschwitz-Generation« zu sprechen sozialistischen Konzentrationslager dar. sich gegen den dort praktizierten Terror nicht erheben und künf- sche Vergangenheit müsse deshalb ein Schlussstrich gezogen wer- ist in zweierlei Hinsicht irritierend. Erstens, weil die Subsumtion al- tige Opfer vermeiden wolle, argumentierte Fischer, dann würde den. Während Fischer trotz seiner Ablehnung des Irakkrieges ein ler im Nationalsozialismus lebenden Deutschen unter den Holocaust Markus Nesselrodt die eigene Generation moralisch und politisch genauso versagen Atlantiker geblieben sei, für den die Beziehungen zu den Vereinigten einer Negativpauschalisierung gleichkommt, und zweitens, weil Berlin wie die der Eltern und Großeltern in den 1930er Jahren. Auf einer Staaten die zentrale Säule für Frieden und Sicherheit im 21. Jahr- niemand, der einer solchen »Generation« zugerechnet wird, jemals Pressekonferenz erklärte er: »Ich habe nicht nur gelernt ›Nie wieder hundert darstellten, habe man es bei Schröder mit einem Politiker in der ersten Person Plural davon gesprochen und sich entsprechend Krieg‹. Ich habe auch gelernt ›Nie wieder Auschwitz‹.« (Süddeut- zu tun, der im Zweifel bereit sei, das Prinzip der Bündnistreue über selbst etikettiert hat. sche Zeitung vom 7. April 1999) Diese Begründung löste seinerzeit Bord zu werfen, und sich für seine antiamerikanische Rhetorik nicht Im Verhältnis dazu ist die Redeweise von der »68er-Generation« eine Welle der Empörung aus. Auch wenn Fischer die Gräueltaten zu schade sei. zwar verbreitet, empirisch aber kaum aufrechtzuerhalten. Die »68er« Utopie oder Auschwitz? im ehemaligen Jugoslawien nicht unmittelbar mit Auschwitz habe Ohne seine Zentralfigur Joschka Fischer, die die 68er am waren innerhalb der für sie infrage kommenden Geburtsjahrgänge vergleichen wollen, so Kundnani, so habe seine Überzeugung für zwingendsten mit dem rot-grünen Regierungsprojekt verbinden, (1938–1950) eine ziemlich kleine Kohorte, deren Anteil nicht im die in der »68er-Generation« verbreitete Tendenz gestanden, die müsste man um den Zusammenhalt des gesamten Buches fürchten. Prozent-, sondern im Promillebereich zu veranschlagen ist. Sie wa- Rettung in einer entlastenden Projektion zu suchen. Bei Fischers »Entebbe-Schock«, der für Kundnanis Argumentati- ren eine Bewegung mit einem generationsspezifi schen Echo, das Erheblich anders fi el die Befürwortung des NATO-Militäreinsat- on eine ausschlaggebende Rolle spielt, handelt es sich jedoch um sich allerdings – je größer der zeitliche Abstand anwuchs – medial Hans Kundnani zes durch Kanzler Schröder aus. Dieser berief sich auf die Verteidi- eine nachträgliche Konstruktion zur Rechtfertigung seines Regie- immer mehr verstärkt hat. Bei Kundnani selbst fi ndet sich keinerlei Utopia or Auschwitz. Germany’s 1968 gung der Menschenrechte, nicht aber auf Auschwitz. Im Nachhinein rungshandelns. In Wirklichkeit dürfte er im Mai 1976 durch seine Problematisierung des Generationenbegriffs. Es gibt in seinem Text Generation and the Holocaust erklärte er, dass er Fischers Begründung für falsch gehalten habe. Festnahme nach der sogenannten Ulrike-Meinhof-Demonstration ohnehin weder eine methodische noch eine selbstrefl exiv ausge- New York: Columbia University Press, Es sei ein Unterschied zwischen dem, was in Serbien, und dem, schockiert worden sein. Er musste befürchten, wegen seiner mut- richtete Dimension. Utopia or Auschwitz ist ein in der Wahl seiner 2009, 374 S., € 24,99 was während des Holocausts geschehen sei. Dahinter stünden, so maßlichen Mitverantwortung für den Wurf von Molotowcocktails Perspektive anregend aufgemachter Titel, jedoch mit Schwächen in Kundnani, ganz unterschiedliche Visionen: »Fischer’s attempt to auf ein Polizeifahrzeug, bei dem ein Beamter lebensgefährliche seiner argumentativen Umsetzung. base German foreign policy on responsibility for Auschwitz, and Brandverletzungen davontrug, zur Rechenschaft gezogen zu wer- In den 1960er Jahren haben viele Studen- Schröder’s quest for ›normalisation‹ that drew a line under the Nazi den. Damals machte er einen scharfen biografi schen Schnitt, zog Wolfgang Kraushaar ten von einer besseren Welt geträumt. Das past«. (S. 258) sich aus der Spontiszene zurück, wurde Taxifahrer und stieg für ein Hamburg war in Deutschland nicht weniger als in anderen Ländern der Fall. Schröder hatte im August 2002 in Hannover erklärt, dass die halbes Jahrzehnt aus der Politik aus. Dies hatte nichts mit Entebbe, Die westdeutsche Nachkriegsgeneration war jedoch zwischen dem Ära, in der man auf Amerika und andere als Modell für die Ökonomie sondern alles mit der Meinhof-Demo und ihren Folgen zu tun. Erst Traum von einer sozialistischen Utopie und dem Albtraum des Ho- geschaut habe, vorüber sei. Zu dem von den Vereinigten Staaten ein- 1981 begann sich Fischer den Grünen anzunähern und mit einer locaust zerrissen. In ihr spielte sich ein existenzieller Kampf um die geschlagenen Weg, das Militärregime Saddam Husseins durch eine konventionellen Karriere als Parlamentarier und Minister zu lieb- Frage ab, was es bedeute, ein Deutscher nach Auschwitz zu sein. Militärintervention im Irak zu beseitigen, sagte er wörtlich: »Das ist äugeln. Indem Kundnani sich Fischers Rhetorik ungeprüft zu eigen Hans Kundnani, ein 38-jähriger britischer Journalist, der ein knappes nicht der deutsche Weg, den wir für unser Volk haben wollen.« (Mar- macht, gerät einer der Hauptpfeiler seiner gesamten Argumentation Jahrzehnt lang für den Observer als Berlin-Korrespondent gearbeitet kus Deggerich, »Wähler, hört die Signale!«, SPIEGEL-Online vom ins Schwanken. hat, formuliert ihr Problem so: »It was an all-or-nothing-choice: Uto- 5. August 2002) Er werde sein Land nicht in Abenteuer hineinführen. Auch Fischers Wandlung von einem Antiparlamentarier zu pia or Auschwitz.« (S. 12) Da sich die Eltern der deutschen Studenten Druck auf Saddam Hussein ja, aber keine militärische Intervention, einem überzeugten Anhänger der Bundesrepublik, die Kundnani dem Widerstand gegen die Nazis versagt hätten, sei es nun von ihnen davor könne er nur warnen. Damit hatte sich Schröder in Kundnanis vor allem auf den theoretischen Einfl uss von Jürgen Habermas

96 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 97 Fotografi en als visuelle Kommunikation Aus der in den letzten Jahren wachsenden Zahl der Publikatio- »visuellen Kommunikation zweier Gesellschaften im Konfl ikt« – als 0SYCHOSOZIAL 6ERLAG im Zweiten Weltkrieg nen zur Fotografi egeschichte des Nationalsozialismus ragt zweifellos auch konkrete (und überaus ausführliche) Anwendungsfelder aufzeigt. Miriam Yegane Aranis Promotionsschrift »Fotografi sche Selbst- und Dies reicht von der nationalsozialistischen Pressepropaganda in Bezug Fremdbilder von Deutschen und Polen im Reichsgau Wartheland auf den sogenannten »Bromberger Blutsonntag«1939, weiteren Poli- Ruth Koren 1939–1945« heraus, und zwar nicht nur ihres Umfanges, sondern zeibildern, Fotografi en zahlreicher anderer deutscher Dienststellen, auch ihrer Verdienste wegen, für die die Autorin 2010 mit dem Prix der Inszenierung von Gauleiter Greiser über private Aufnahmen der Der kleine Vogel Miriam Y. Arani de la Fondation Auschwitz in Brüssel ausgezeichnet worden ist. In Polen, denen seit 1941 der Besitz von Kameras untersagt war, bis hin heißt Goral Fotografi sche Selbst- und Fremdbilder vieljähriger Arbeit hat Arani insgesamt ein fotografi sches Quellen- zu Fotografi en der polnischen Widerstandsbewegung. von Deutschen und Polen im Reichsgau material recherchiert, das in seinem Umfang beeindruckt. In seinem Entgegen der landläufi gen Auffassung sprechen Fotografi en nicht Eine jüdische Familien- Wartheland 1939–45. Unter besonderer Vorwort zu den Fotografi en Joe J. Heydeckers aus dem Warschauer für sich. Aranis Stärken liegen zweifellos in den interpretatorischen geschichte Berücksichtigung der Region Wielkopolska Getto konnte Heinrich Böll 1983 noch fragen: »Wo sind diese Au- Passagen, wenn sie von einem konkreten Bildbestand ausgeht. Sie be- 2 Bände, Hamburg: Verlag Dr. Kovač, genzeugen, wo ihre Fotos? Werden sie möglicherweise beim Treffen tont dabei zu Recht, dass die jeweilige Interpretation sich nicht auf die »Die Autorin lässt ihre Figuren, als 2008, 988 S., € 128,– ›alter Kameraden‹ heimlich und grinsend rumgereicht?«4 Mittlerwei- Bildbeschriftungen allein verlassen darf, sondern auch und unbedingt Kronzeugen jüdischen Schicksals, le ist die Quellengrundlage und die Erschließung erhaltener Bestände das dargestellte Motiv der Ausgangspunkt sein muss: In diesem Zusam- über weite Passagen selbst zu Wort In der Darstellung der Geschichte des Natio- sehr viel besser geworden, gleichwohl steht Aranis Untersuchung mit menhang sind der Blickwinkel und das Interesse der fotografi erenden kommen, montiert gleichsam O-Töne nalsozialismus und seiner Massenverbrechen unzähligen reproduzierten Bildern praktisch einmalig dar. Person zu problematisieren, denn es ist nicht selten der verächtliche, unter dem Stichwort ›mein Vater er- sind Fotografi en bislang überwiegend als Illustration geschichtswis- Die leitende Fragestellung der Untersuchung lautet, wie foto- mitunter auch voyeuristische Blick auf die Not, das Elend und die Ent- 3EITEN zählte / meine Mutter erzählte / Oma "ROSCHURÀ`  erzählte‹ zu einer Vergegenwärtigung senschaftlicher Texte oder zum Zwecke emotionaler Appelle ver- grafi sche Quellen aus der nationalsozialistischen Besatzungszeit in würdigung der »Fremdvölkischen«, der Juden, der die Kameraführung )3".     von Vergangenheit, die auf bestür- 1 wendet bzw. präsentiert worden. Sehr viel seltener hingegen werden Polen »angemessen beschrieben, analysiert und interpretiert wer- und die Bildauswahl mitbestimmt. Konsequent beachtet Arani hierbei zende Weise präsent ist.« Fotografi en als eine besondere Form historischer Quellen untersucht den können« (Vorwort). Es geht hierbei um nicht weniger als eine jedoch nicht nur die zeitgenössische Kontextualisierung, sondern hat Badische Zeitung und vorgestellt. Dies hängt damit zusammen, dass wesentliche Teile komplette Bestandsaufnahme der fotografi schen Quellen des be- auch einen (in der Forschungsliteratur) nicht selbstverständlichen der Geschichtsschreibung entweder auf offi ziellen Dokumenten des völkerungspolitischen Experimentierfeldes der Nationalsozialisten Blick auf Besonderheiten in der archivalischen Bildüberlieferung nach nationalsozialistischen Regimes oder auf Aussagen von Zeugen und im besetzten Westpolen.5 Für die allgemeine Besatzungspolitik im 1945, die an der »Konstruktion nationaler Selbst- und Fremdbilder« Überlebenden beruhen. Dennoch sind Fotografi en für viele Aspekte Reichsgau Wartheland liegt in der Forschung eine gute faktografi sche (S. 128 ff.) durchaus ihren Anteil hatte. Das führt zu einer Fülle höchst und Facetten der nationalsozialistischen Herrschaft überliefert – vom Grundlage als Ausgangspunkt vor. ertragreicher Fragestellungen, beispielsweise nach einer »Ikonogra- Brigitte Gensch, Alltag eines mitteldeutschen Dorfes nach 1933 bis hin zur Leichen- Das von Arani präsentierte Panorama ist vor diesem Hintergrund phie der Menschendarstellung in der NS-Fotopublizistik« oder auch Sonja Grabowsky (Hg.) verbrennung im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.2 Die Kamera umso eindrucksvoller, als sie für ein klar umrissenes Terrain erstmals nach den sich im Kriegsverlauf verändernden Produktionsbedingun- Der halbe Stern kam selbst da zum Einsatz, wo ihre Verwendung explizit auch für sowohl eine Interpretationstheorie bzw. -methodik der Fotografi en gen von Fotografen im Reichsgau Wartheland. Allerdings erhält der Deutsche untersagt war. Im Warschauer Getto notierte Michael Zyl- vorstellt – von der Echtheitsprüfung und detaillierten Quellenkritik Band auch eine Vielzahl unnötiger Längen, weil Arani auch dort auf Verfolgungsgeschichte berberg in sein Tagebuch, dass auf dem Jüdischen Friedhof stets einige bis hin zu ihrer sozialwissenschaftlichen Auswertung als Quellen einer ausführliche Vollständigkeit setzt, wo sie dem Forschungsstand – et- und Identitätsproble matik Hundert deutsche Soldaten anwesend waren: »Sie photographierten wa zu den Grundlinien der nationalsozialistischen Besatzungspolitik von Personen und Familien gutgelaunt die Toten und begleiteten Angehörige und gingen sogar so im Warthegau – nicht wirklich etwas Neues hinzufügen kann. teiljüdischer Herkunft weit, Schnappschüsse von den Toten zu machen, die in der Leichen- Ein äußerst nützlicher Anhang mit Listen tätiger Fotografen, izing the Holocaust. Documents, Aesthetics, Memory, Rochester 2008, S. 38–61. halle aufgebahrt waren. Besonders eifrig waren die Nazis in dieser überlieferter Kontaktbögen etc. runden die beiden Bände ab. Im »Der halbe Stern« ist das Ergebnis Hinsicht an Sonntagen, wenn sie den Friedhof mit ihren Freundinnen 4 Joe J. Heydecker, Das Warschauer Getto. Foto-Dokumente eines deutschen Sol- Ergebnis hinterlässt Aranis Untersuchung einen etwas ambivalenten daten aus dem Jahr 1941, München 1983, S. 7. Vgl. Ulrich Keller, »Einführung«, der Tagung »Sag bloß nicht, daß du 3 aufsuchten. Mehr als das Kino war dies ein Ort der Unterhaltung.« in: ders. (Hrsg.), Fotografi en aus dem Warschauer Getto, Berlin 1987, S. 7–34; Eindruck. Insgesamt hat sie einen unschätzbaren Quellenfundus jüdisch bist«. Erstmals rücken darin Günther Schwarberg, Im Ghetto von Warschau. Heinrich Jösts Fotografi en, mit einfühlsamen Kommentaren und Interpretationen vorgelegt und 3EITEN diejenigen in den Blick, die aufgrund Göttingen 2001. dabei eine Reihe grundlegender hermeneutischer Schneisen geschla- "ROSCHURÀ`  ihrer teiljüdischen Herkunft oder der 5 Arani lässt mit guten Gründen, vor allem wegen der prinzipiellen Handhabbarkeit gen. So konkurrenzlos die Arbeit ist und vorerst bleiben wird, so sehr )3".     ihrer Eltern bzw. Großeltern in das 1 Vgl. Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Foto- der Thematik, die fotografi sche Darstellung von Juden und Holocaust im Netz rassistischer Verfolgung gerie- grafi en aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998. Warthegau außer Acht. Hierzu gibt es namentlich zum Ghetto Litzmannstadt stellt sie sich einer systematischeren Lektüre durch streckenweise ten. Die Autorinnen und Autoren des 2 Klaus , Philipp Springer, Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalso- einige wenige Vorarbeiten. Vgl. Ingo Loose (Bearb.), Das Gesicht des Gettos. fehlende Kohärenz, unnötige Längen und einen insgesamt nicht Bandes nähern sich der Thematik auf höchst unterschiedliche zialistischen Terrors in der Provinz, Essen 2002; Janina Struk, Photographing the Bilder jüdischer Photographen aus dem Getto Litzmannstadt 1940–1944/The immer glücklichen Aufbau der gesamten Arbeit entgegen. An dieser Weise: biografisch, historisch, kirchengeschichtlich, psychothera- Holocaust. Interpretations of the Evidence, London 2004; Georges Didi-Huber- Face of the Ghetto. Pictures taken by Jewish Photographers in the Litzmannstadt Stelle hätte man sich seitens des Verlags ein Lektorat gewünscht, peutisch und theologisch. man, Bilder trotz allem, Paderborn 2006, München 2007. Ghetto 1940–1944. Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Stiftung Topographie 3 Michael Zylberberg, A Diary 1939–1945, London 1969, S. 31. Vgl. Miri- des Terrors, Berlin, 22. Juni–3. Oktober 2010. Berlin 2010; Tanja Kinzel: das auch den anderen Qualitäten des Bandes zugutegekommen wä- am Yegane Arani, »Abbild oder Trugbild? Deutsche Fotografi en von Juden in »Zwangsarbeit im Fokus. Drei fotografi sche Perspektiven aus dem Ghetto re; ein unverzichtbares und zu Recht international ausgezeichnetes Walltorstr. 10 · 35390 Gießen Warschau 1939–1944«, in: Im Objektiv des Feindes. Die deutschen Bildberichter- Litzmannstadt«, in: Im Ghetto 1939–1945. Neue Forschungen zu Alltag und Standardwerk zum Thema bleibt das Buch aber allemal. statter im besetzten Warschau 1939–1945. W obiektywie wroga. Niemieccy fotore- Umfeld. Hrsg. von Christoph Dieckmann und Babette Quinkert, Göttingen 2009, Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 porterzy w okupowanej Warszawie 1939–1945, Warszawa 2008, S. 48–57; Daniel S. 171–204; Lodz Ghetto Album. Photographs by Henryk Ross. Selected by [email protected] H. Magilow, »The Interpreter’s Dilemma: Heinrich Jöst’s Photo- Martin Parr and Timothy Prus. Text by Thomas Weber. London 2004; Mendel Ingo Loose www.psychosozial-verlag.de graphs«, in: David Bathrick, Brad Prager, Michael D. Richardson (Hrsg.), Visual- Grossman, With a Camera in the Ghetto, Ramat-Gan 1970. Berlin

98 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 99 Vom Weitergeben der der Arbeit als Begleiter von Reisegruppen, die Jerzy Hronowski Es ist also gut, dass diese Biografi e Jerzy Hronowskis ganzes Le- Frauen, deren Familien verfolgten Juden halfen bzw. die heute zur Erinnerung an Auschwitz erneut mit Deutschen zusammenführte und nach Auschwitz brachte, ben zeigt (soweit dies für einen nahestehenden Menschen erfahrbar Erinnerung an Juden in Ungarn im 20. Jahrhundert beitragen. damals bereits Gedenkstätte. wurde und anderen dargestellt werden sollte und kann). Denn Jerzy Beim Lesen wird klar, dass mit den politischen Veränderungen Damit beginnt eine zweite wichtige Frage, die das Buch stellt: Hronowskis Lebensweg seit 1945 verdeutlicht, dass Auschwitz für 1989 günstigere Bedingungen für die Erinnerung an jüdisches Schick-

Wie kann die Erfahrung von Auschwitz an andere weitergegeben die Überlebenden nie aufhörte und auch neuere Versuche fehlgehen, sal entstanden (ein Beispiel ist diese Anthologie), jedoch antijüdische werden? Jerzy Hronowski war seit Mitte der 1960er Jahre einer die gesundheitlichen Auswirkungen und Folgeschäden der Haft in Einstellungen in der ungarischen Gesellschaft weiter virulent sind. Katarina Bader der früheren Häftlinge nationalsozialistischer Konzentrationslager, den nationalsozialistischen Konzentrationslagern in ein allgemeines Wahrscheinlich war zunächst Zeit nötig, um die Abwehr der Jureks Erben. Vom Weiterleben nach unter ihnen mehrere in der Leitung der Gedenkstätte Auschwitz, die PTSD-Syndrom einzuordnen. Denn in Auschwitz und den vielen schmerzenden Erinnerung, was immer sie persönlich bewirkt hat, dem Überleben bereit waren, ja es sich zum Anliegen machten, jungen Deutschen anderen derartigen Orten wurde der ganze Mensch getroffen, und aufzubrechen. Auch die Initiatorin und Herausgeberin Katalin Pécsi Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010, bei der schwierigen Konfrontation mit dieser deutschen Hinterlas- die Überlebenden ließ dies nie mehr los. sagte in einem Interview mit der Budapester Zeitung (4.5.2010): »Ich 376 S., € 19,95 senschaft zu helfen (angesprochen ist im Buch auch das Engagement selbst stamme aus einer Familie, in der nicht über den Holocaust der bereits jüngeren Mitarbeiter der Gedenkstätte, zum Beispiel des Jochen August gesprochen wurde, obwohl wir sowohl väterlicher- als auch mütterli- damaligen Leiters des Archivs des Auschwitz-Museums, Tadeusz Berlin/Oświęcim cherseits betroffen waren.« Aber ob sie es wollten oder sich dagegen Iwaszko). Die von der Verfasserin wahrgenommene und problema- sperrten, die Überlebenden und ihre Nachkommen leb(t)en mit der Es war ein glücklicher Umstand, dass tisierte Veränderung des Erzählens, eines der Motive ihrer Recher- Erinnerung, und die Enkelinnen suchen danach und versuchen zu Katarina Bader 1998 Jerzy Hronowski chen, hat jedoch aus der Sicht des Rezensenten nicht allein damit fragen, was häufi g nicht (mehr) möglich ist, wie zum Beispiel die kennenlernte und es nicht bei einer eindrucksvollen Begegnung mit zu tun, dass Jerzy Hronowski, unter anderem durch Lektüre und bereits in den USA geborene Irene Reti, anknüpfend an von ihrer einem Zeitzeugen beließ, sondern ihn zu sich nach Hause einlud und Gespräche beeinfl usst, mit der Zeit seinen Berichten einen opti- Endlich gehörte Berichte Urgroßmutter und ihrer Großmutter ererbte Spitzendeckchen, in für noch siebeneinhalb Jahre eine lebenslange Freundschaft begann. mistischen Ausgang geben wollte. Hier wirkte sich wahrscheinlich jüdischer Frauen aus Ungarn ihrem die Anthologie einleitenden Text erzählt. Am Anfang stand also eine menschliche Begegnung, ein Aufeinan- ebenso aus, dass die schließlich häufi gen Gespräche die Situation, Beklemmend, aber auch erhellend sind die Erzählungen der derzugehen, dann folgte die Öffnung der jungen Deutschen für ein in der Erinnerung nachgefragt wurde, nachhaltig veränderten (dass 1937 geborenen Vera Szöllős über die den Zurückkehrenden gezeigte Land, das der frühere Auschwitz-Häftling ihr erschloss, und mit der dies nicht zwangsläufi g so war, zeigt gerade dieses Buch). Ablehnung, die verweigerte Rückgabe der von anderen angeeigneten Zeit ein Verstehen, was diesen Überlebenden, anders als die, denen Dass Jerzy Hronowski seit April 1965 als geheimer Mitarbeiter Salziger Kaffee. Unerzählte Geschichten Habe der Deportierten und die Präsenz des Vernichtungslagers und solche Lebenserfahrungen erspart blieben, gezeichnet hat. Dies er- für den damaligen polnischen Geheimdienst Berichte über die von jüdischer Frauen der ermordeten Angehörigen in Träumen sowie von Anna Kun über möglichte Katarina Bader schließlich, mit der in ihrer Freundschaft ihm begleiteten deutschen Gruppen schrieb (wie die Verfasserin kurz Zusammengestellt, bearbeitet und mit die Heimkehr in eine Stadt, wo keine Bleibe mehr war. Für Klári gewachsenen Empathie und der dadurch auch möglichen, zuweilen nach seinem Tod aufgrund ihrer Recherchen in Akten des früheren einem Vorwort versehen von Katalin Pécsi. László, 1947 geboren, deren Großmutter, Mutter und Tante Ausch- allerdings schmerzlichen Beharrlichkeit Jerzy Hronowskis Lebens- Geheimdienstes feststellte), weist darauf hin, unter wie schwierigen Aus dem Ungarischen und Englischen witz und andere Lager überlebten, war das Schicksal ihrer Familie weg nachzugehen und jetzt für Außenstehende, also die Leserinnen Verhältnissen die sich für Verständigung mit Polen einsetzenden übersetzt von Krisztina Kovács unter durch deren Erzählungen, aber auch abgebrochene Geschichten, und Leser ihres Buchs, vorzustellen. westdeutschen Organisationen und Gruppen damals agieren mussten. Mitarbeit von Andreas Korpás. Redaktion bereits in ihrer frühen Kindheit lebendig: »Ich bin als Kind des Katarina Baders Buch wäre eine Parabel über das schwierige Mit der Möglichkeit solcher Beobachtung nicht zu rechnen wäre der deutschen Ausgabe Ute Stiepani. Holocaust aufgewachsen. Ich ging in verschiedenen Lagern ein und deutsch-polnische Verhältnis nach Auschwitz, wenn sein Thema naiv gewesen; das gehörte zur damaligen Realität, in der die Aktion Berlin: Novella Kiadó und Gedenkstätte aus und fühlte mich dort heimisch.« nicht die realen Verhältnisse wären. So zeigt es exemplarisch (und Sühnezeichen ihre auch blockübergreifende Arbeit entwickelte. Der Deutscher Widerstand, 2009, 236 S., € 7,– Die in der Titelerzählung thematisierten Erfahrungen von Vera es ist wohltuend, dass die Verfasserin dies einfühlsam und zugleich Rezensent, der von Jerzy Hronowskis Engagement 1969 aus den Meisels deuten jedoch nach Ansicht des Rezensenten darauf hin, dass dezidiert festgehalten hat), dass das historische Faktum Auschwitz Berichten beeindruckter Mitschüler erfuhr, ihn persönlich jedoch Katalin Pécsi, die Leiterin der Pädagogischen und Kulturabteilung dem Konfl ikt mit dem bereits in Israel geborenen Ehemann auch eine (oder Sachsenhausen, Dachau, Ravensbrück, Treblinka, Majdanek, erst Anfang der 1990er Jahre kennenlernte, wusste von dem im Buch des Holocaust Gedenkzentrums Budapest, begann vor zehn Jahren damals in der israelischen Gesellschaft noch verbreitete Einstellung Stutthof …) auch für ungezählte Menschen in Polen nicht eine zu erwähnten Bruch zwischen Aktion Sühnezeichen und ihm 1970, gemeinsam mit Kolleginnen Erinnerungen jüdischer Frauen aus drei zu den survivors zugrunde lag (vgl. Tom Segev, The Seventh Million. Jahrestagen usw. hervorgeholte Parole war und ist, sondern Bedeu- es hat ihn jedoch nie überzeugt, wie es dazu gekommen sein soll. Generationen über Leben und Verfolgung der Juden in Ungarn auf- The Israelis and the Holocaust, New York 1993, S. 153 ff.). tung für ihren persönlichen Alltag hat. Das Buch zeigt erneut, durch den im Mittelpunkt stehenden zuschreiben und zu sammeln. Entstanden ist daraus eine Anthologie Der Anstoß für die Entstehung dieser Geschichten war, dass die Dies alles zunächst zu recherchieren (mit zum Teil ungeahnten Polen Jerzy Hronowski, dass Auschwitz bereits Mitte 1940 begann, zuvor meist unerzählter Geschichten jüdischer Frauen, die zunächst Autorinnen eine sie persönlich motivierende Fragestellung haben, näm- und erschreckenden Ergebnissen) und dann aufzuschreiben erfor- nicht erst als die Nationalsozialisten dieses Konzentrationslager seit 2007 auf Ungarisch und Englisch und jetzt auch in einer deutsch- lich die Suche nach den in der ungarisch-jüdischen Literatur fehlen- derte auch eine Systematik und Chronologie, verwoben mit Jerzy Ende 1941/Anfang 1942 zu einem der Hauptorte für den Massenmord sprachigen Edition erschien. Das Buch stellt Berichte von 31 Frauen den, ihren Bezug zum Judentum thematisierenden Erzählungen von Hronowskis eigenen Geschichten über Situationen in Auschwitz an den Juden machten. Katarina Bader beschränkt sich jedoch nicht vor: damals jungen Erwachsenen bzw. noch Kindern über Verfolgung Frauen. Gerade für Auschwitz, den Hauptzielort der Züge mit den seit seit seiner Einlieferung im Juni 1940 (die erste Schicht der Darstel- auf diese fünf Jahre seines Lebens, so wie sie ihn bereits bei ihrem bereits vor der Besetzung Ungarns im März 1944, die Deportation Mai 1944 aus Ungarn deportierten Juden, ist jedoch festzuhalten, dass lung, die zugleich die Frage nach der sich verändernden Präsentation ersten Zusammentreffen nicht lediglich als Quelle für historische nach Auschwitz und in andere Konzentrationslager bzw. das Über- die ersten Bücher mit Erinnerungen früherer jüdischer Häftlinge dieses der eigenen Erinnerung thematisiert). Das Buch stellt zugleich die Informationen sah. Sie fragte und schloss in ihren Recherchen weitere leben im Versteck, die schwierige Situation nach der Rückkehr, das Vernichtungslagers von Frauen verfasst wurden, unter ihnen Krystyna Frage, wie der Erzählende zu dieser Art der Geschichtsvermittlung Schichten auf. Vor allem das Nachleben von Auschwitz im persön- Aufwachsen der nach dem Krieg geborenen Kinder mit der Erinne- Zywulska (1946), Jenny Spritzer (1946) und die aus Ungarn deportier- kam und was er den Zuhörenden damit vermitteln wollte. Katarina lichen Alltag, in der eigenen Familie. Das ist zwar grundsätzlich rung ihrer Familien und schließlich die Erfahrungen und Refl exionen ten Olga Lengyel (1947) und Gisella Perl (1948). Ana Novac (Pseudo- Bader zeichnet also seinen Lebensweg und seine sich verändernden bekannt, der Bericht über das Zusammentreffen mit Jerzy Hronowskis von Enkelinnen über das Schicksal ihrer Familien und ihre jüdische nym), die allerdings 1965 Rumänien und Ungarn verließ, veröffentlich- Lebensumstände nach. Eine Weichenstellung war dabei der Beginn Sohn, mit dem das Buch endet, hält dies jedoch hautnah fest. Identität. Aufgenommen wurden auch mehrere Texte nichtjüdischer te ihre Aufzeichnungen erst später. Nichtjüdische Mithäftlinge, deren

100 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 101 Erinnerungen bereits früh erschienen, waren unter anderen Seweryna sind, ein gelingendes Leben aufbauen können. Der Baseler Professor dennoch steht insgesamt, mit Ausnahme von Ruth Hepner, das Werk jedwede Einheit von Zeit und Raum in der Narration zu vermeiden Szmaglewska (1945) und Ella Lingens-Reiner (1948). Ebenso sollte für Jüdische Geschichte und Kultur der Moderne zeichnet auf der der Männer im Vordergrund. und multiple Zugangsverfahren zu fi nden. In seinen biografi schen daran erinnert werden, dass die heute weltbekannten Bücher der Män- Basis von intensiven Archivrecherchen und persönlichen Gesprä- An dieser Stelle setzt die einzige Kritik an, die die von Picard Skizzen verschweigt Picard deshalb die Brüche nicht. Seine Erzäh- ner Miklós Nyiszli (1947) und Primo Levi (1947) zunächst kaum Leser chen die Lebenswege von vier jüdischen Paaren nach. Gemeinsamer und noch mehr vom Ammann Verlag selbst in der Covergestaltung lung ist fragmentarisch, nur teilweise chronologisch, und versucht, fanden. Der erste Spielfi lm über Auschwitz, DIE LETZTE ETAPPE, wurde Fluchtpunkt ist die Schweiz, »die trotz eines Versagens gegenüber vorgenommene Betonung des problematischen Topos der Außeror- nicht zu homogenisieren. Es gilt, »gebrochene Zeit« nachzuzeichnen. von zwei überlebenden Frauen gedreht, Wanda Jakubowska (Regie) Flüchtlingen für viele der Schutzsuchenden entscheidend lebenser- dentlichkeit betrifft. Es besteht kein Zweifel, dass Picards sorgsame Doch ist es Picard wichtig, nicht nur die Brüche, sondern ebenso und Gerda Schneider (Drehbuch) und seit 1949 auch in Ungarn ge- haltend wirkte« (S. 9). Rekonstruktion der acht Lebensläufe und ihrer Errungenschaften die »Brücken« aufzuzeigen. Das heißt, ebenso die Momente eines zeigt; im Mittelpunkt stehen Geschehnisse im Frauenlager Birkenau. Am Anfang steht die Geschichte eines Überlebenden. Léon sehr verdienstvoll ist. Dennoch ist es gleichzeitig fraglich, gelingen- gelingenden Lebens zu schildern: Phasen von Glück, das »kreative, In einer Studie über Ilona Karmel wies die Krakauer Soziologin Reich, Uhrmacher aus chassidischer Familie, überlebte Auschwitz des Überleben (vgl. S. 7) so explizit an das »Außerordentliche«, das initiatorische, unternehmerische Moment« (S. 9). Damit möchte er und Feministin Katarzyna Czerwonogóra kürzlich darauf hin, dass und stieg zum Erfi nder in der schweizerischen Uhrenproduktion erreicht wurde, zu koppeln. Ist nicht auch ein gelungenes (Über-) seine Protagonistinnen und Protagonisten aus dem Status des Opfers diese ihren autobiografi schen Roman An Estate of Memory, das erste auf. Seine Frau Ruth Reich-Stul, 1942 von der französischen Seite Leben unterhalb der Messlatte »bemerkenswerter Dinge« (S. 6) oder eines Objektes von Politik oder Geschichtsschreibung heraus- auf der Erfahrung von Frauen während des Holocaust beruhende der Grenze in die Schweiz gefl ohen, wird zur »betriebswirtschaftli- denkbar und würde dabei nicht gleichfalls die Perspektive von nicht holen. Ohne diesen Aspekt zu berücksichtigen, sei die Geschichte Buch, in dem sie den Kampf von vier Frauen um das Überleben in chen Drehscheibe« der eigenen Firma. Die weiteren drei Biografi en geisteswissenschaftlich oder künstlerisch tätigen Frauen deutlicher des 20. Jahrhunderts nicht zu schreiben. einem nationalsozialistischen Konzentrationslager im besetzten Po- berichten von Menschen, die sich der Vernichtung durch Flucht in den Blick rücken? Insgesamt liegt hier eine sehr lesenswerte und angemessene len beschreibt, bereits 1969 veröffentlichte (deutsch 1997), also zu entziehen konnten und deren intellektuelles Wirken von den damit Am Ende des Buches fi ndet sich ein an methodischen und theo- Annäherung an gebrochene und dennoch gelungene Lebensläufe einer Zeit, als es in den Forschungen über den Holocaust noch keine verbundenen Erfahrungen entscheidend geprägt wurde. riegeleiteten Fragen orientierter Essay, in dem Picard über die Mög- im Exil vor, in der es Picard gelingt, »den Zeugen, soweit wir deren genderorientierte Perspektive gab. Ilona und Henryka Karmels schon Mary Bollag engagierte sich in der schweizerischen jüdischen lichkeiten und Grenzen biografi schen Schreibens heute refl ektiert. Alphabet lesen können, noch einmal Rede und Schrift zu verleihen« 1947 in New York publizierten Gedichte gehören zu den dann für Flüchtlingshilfe. Ihr Ehemann Hermann Levin Goldschmidt fl oh Nach einem Durchgang durch die Kritik, die dekonstruktivistische, (S. 333). mehrere Jahrzehnte vergessenen Zeugnissen jüdischer Frauen, die na- 1938 aus Berlin und konnte sich nach langem Kampf gegen das systemtheoretische und Bourdieu’sche Ansätze formuliert haben, tionalsozialistische Verfolgung und Konzentrationslager überlebten. Schweizer Transitgebot und das Arbeitsverbot durchsetzen. Er stellte sucht er nach Möglichkeiten für ein Erzählen, das weiterhin dem Birgit M. Körner Mit dem persönlichen Motiv der Autorinnen wird die Anthologie sein Philosophieren in die Tradition der zerstörten jüdischen Welt Zeugen und dem Zeugnis verpfl ichtet ist. Als Maßstab gilt dabei, Frankfurt am Main Salziger Kaffee auch für andere Länder zum Modell, und es ist zu und gründete 1951 in Zürich ein Jüdisches Lehrhaus. hoffen, dass Katalin Pécsi und ihre Kolleginnen Nachfolgerinnen Ruth und Simche Schwarz-Hepner lernten sich in einem Schwei- und Nachfolger fi nden. Das Buch hat auch eine überzeugende Dra- zer Flüchtlingslager kennen. Im April 1945 setzten sie sich mit ihrem maturgie der Texte: von bis in die 1920er Jahre zurückreichenden avantgardistischen, jiddischen Puppentheater »Hakl-Bakl« (Misch- Erzählungen zu den Refl exionen der Enkelinnen über ihre Familien masch) nach Paris ab und arbeiteten mit Marc Chagall zusammen. und jüdische Identität heute. 1952 ging das Paar nach Argentinien. Hier fand Simche Schwarz Vor 50 Jahren, im April 1961, eröffnete das Jerusalemer Bezirksgericht zur bildenden Kunst zurück und gestaltete Skulpturen zur jüdischen das Verfahren gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer und Leiter Jochen August Mystik. Ruth Hepner wurde Psychoanalytikerin, überlebte die Zeit des ›Judenreferats IV B 4‹ im Reichssicherheitshauptamt Adolf Eichmann. Berlin/Oświęcim der Militärjunta und beteiligte sich am Demokratisierungsprozess. Die Verhandlung wurde zu einem großen Medienereignis. Im Licht der In ihren Forschungen gewinnt Heilung eine politische Dimension. Öffentlichkeit stand dabei nicht nur ein Täter des Holocaust. Erstmals Lotte und Herbert A. Strauss fl ohen 1943 aus dem Berliner erhielten auch die Schilderungen der Opfer weltweite Aufmerksamkeit: Untergrund in die Schweiz, gingen 1946 nach New York und kamen In Jerusalem begann die Ära der Zeitzeugen. 1983 zum Aufbau des Zentrums für Antisemitismusforschung für Auf den Spuren gelingenden Überlebens acht Jahre nach Berlin zurück. Picard zeichnet den intellektuellen Der Prozess – Adolf Eichmann vor Gericht Weg des Historikers im Detail nach, um die Grundlagen des von ihm entwickelten Konzepts von »Akkulturation« herauszuarbeiten. Facing Justice – Adolf Eichmann on Trial Picard nähert sich seinen Protagonisten und Protagonistinnen Jacques Picard behutsam und respektvoll. Da er auf seine Frage nach dem Überle- Der Ausstellungskatalog enthält sämtliche Texte und Abbildungen Gebrochene Zeit. Jüdische Paare im Exil ben, »eine aufs erste sich verweigernde Sprache« (S. 332) vorfi ndet, der Ausstellung sowie Essays von David Cesarani, Gerhard Paul, Zürich: Ammann Verlag, 2009, 448 S., wählt er ein besonderes Verfahren. Er lässt zentrale Denkfi guren oder Ulrich Baumann und Annette Wieviorka. € 19,95 Konzepte der Beschriebenen als Bilder sprechen, wie zum Beispiel Léon Reichs Suche nach Gott in der Uhr. So kann er die Lebensläufe und das künstlerische, wissenschaftliche, erfi nderische oder soziale Katalog zur gleichnamigen Ausstellung Engagement der vier Paare als »Ausdrucksweisen des Überlebens« Erscheinungsdatum: 6. April 2011 Eine Ausstellung der Stiftung Topographie des Terrors, der Stiftung Denkmal für die (S. 6) deuten und stellenweise poetisch anmutende »Alphabete« der ca. 235 Seiten, Broschur ermordeten Juden Europas und der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Jacques Picard geht in seinem Buch der Erinnerung aufzeigen. Dabei ist Picard bemüht, die Perspektiven der 15,– Euro im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors, Berlin, 6. April bis 18. September 2011 Frage nach, wie Menschen überleben und Frauen auf das gemeinsam Erlebte und deren schöpferisches Wirken ISBN 978-3-941772-09-0 www.topographie.de wie sie, nachdem sie der akuten Bedrohung der Shoah entkommen gleichberechtigt darzustellen. Dies gelingt ihm im Detail sehr gut;

102 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 103 Halbierte Aufklärung Trennung von religiöser und politischer Ebene ist darin Voraussetzung Die Schatten der Shoah für einen Bremer schrieb ein Begegnungsbuch. Von Kapitel zu Kapitel für religiösen Pluralismus und dafür, dass sich die Ethiken aller Religi- Deutschen in Israel wechselt er hin und zurück von den politischen Treffen, die er als onen entfalten können. Der jüdischen Religion wird innerhalb dieses Historiker immer in den geschichtlichen Kontext setzt, zu den privaten Pluralismus eine Vorreiterrolle zugesprochen und dem Christentum Begegnungen, die die Stimmung in Israel genau wiedergeben. Manch-

empfohlen, »zu seinen ethischen Wurzeln zurückzukehren« (S. 144). mal entzweit die Politik auch enge Freunde. So verbrachte er seine Michael Brocke, Margarete Jäger, Und Gerechtigkeit sei, so der damalige optimistische Standpunkt, ersten Stunden in Jerusalem zu Beginn des ersten Golfkriegs 1991 im Siegfried Jäger, Jobst Paul, Iris Tonks mit der Nation verknüpft, wenn der Rechtsgedanke nur einmal zum Jörg Bremer versiegelten Raum einer Wohnung, die dem ehemaligen israelischen (Hrsg.) »Nationalwillen« geworden sei (S. 140). Unheiliger Krieg im Heiligen Land. Botschafter bei den Vereinten Nationen, Yehuda Blum, gehörte. Dort Visionen der gerechten Gesellschaft. Bekanntlich entwickelte sich die Nation, und insbesondere die Meine Jahre in Jerusalem konnte er während des Krieges immer einen sicheren Hort fi nden. Der Diskurs der deutsch-jüdischen deutsche, anders. Als Überlegung, wie soziale und politische Gerech- Berlin: Nicolai Verlag, 2010, 256 S., € 24,95 Auch später waren Bremer und seine Familie fast jeden Samstag zum Publizistik im 19. Jahrhundert tigkeit zu erreichen wären, wurde dieser Diskurs von der deutschen Abendmahl bei der national-religiösen Familie Blum zu Gast. Zum Köln: Böhlau-Verlag, 2009, 200 S., € 24,90 Mehrheitsgesellschaft »zur Seite geschoben« – nach Einschätzung Dieses Buch hatte Jörg Bremer geschrie- Programm gehörten Blums scharfe und direkte politische Ansichten. der VerfasserInnen eine »geschichtliche Hypothek«, deren Folgen ben, um das »Kapitel Israel«, dem Land, in Den 1993 beginnenden Oslo-Prozess verurteilte Blum, während Bre- Das 19. Jahrhundert ist in vieler Hinsicht weiter von Bedeutung für die bis in die Gegenwart reichten (S. 144). In diesem Sinne fragt das dem er 18 Jahre lang als Korrespondent der mer Gegenargumente fand und daher vom Gastgeber in die israelfeind- Gegenwart. Viele der damals begonnenen Auseinandersetzungen wer- letzte Kapitel des Bandes nach der gegenwärtigen Relevanz; vor Frankfurter Allgemeinen Zeitung gearbeitet hatte, in seinem Leben liche Ecke getrieben wurde. Er solle lieber nach Palästina gehen, wo den heute noch geführt, so die zwischen biologistisch-homogenisie- allem danach, ob die »›Halbierung‹ der Aufklärung«: im »kulturellen abzuschließen. Das sei ihm jedoch gründlich misslungen, schreibt er, er besser hinpasse, so Blum. Schließlich zerbrach die Freundschaft renden und politisch-relationalen Weltverständnissen. Der vorliegende Kosmos der Judenfeindschaft« verblieben zu sein (S. 145 f.), mit der nicht zuletzt aufgrund der Judenvernichtung: Er benutzt den Begriff kurz vor der Ermordung Yitzhak Rabins. Der renommierte Journalist Band widmet sich einem Diskurs jener Zeit, der diese Fragen in Inhalt, Verankerung von Grundrechten und Gleichberechtigung im Grund- »Shoah«, bevorzugt ihn gegenüber »Holocaust«. Dem ewigen Schat- David Witzthum wollte, obwohl politisch eher auf Bremers Seite, mit Form und Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft in paradigmatischer gesetz wirklich überwunden sei. Angesichts der »Unsicherheit und ten der Shoah widmet er ein ganzes Kapitel in seinem neuen Buch, ihm gar nicht über Politik sprechen, sondern vielmehr über Mozart. Weise verkörpert: deutsch-jüdische Beiträge zu Staat, Nation und Befangenheit« gegenüber der neuen jüdischen Community, wie die in dem er seine persönlichen Erfahrungen in Israel mit politischem, Sieben israelische Ministerpräsidenten erlebte Bremer in Jerusa- Gesellschaft. Den meisten Juden im deutschsprachigen Mitteleuropa VerfasserInnen die Einstellung der heutigen Mehrheitsgesellschaft historischem und religiösem Hintergrund verbindet. lem, auch zwei palästinensische Regierungschefs. Rabin und Fayad brachte das 19. Jahrhundert nicht nur soziale und rechtliche Gleich- und ihrer Eliten leicht euphemistisch nennen, und angesichts des eu- Es ist kein Buch über die Shoah, aber für Bremer ist die Erinne- beeindruckten ihn am meisten. Ein richtig inniges Verhältnis hatte er stellung, sondern auch das Versprechen politischer Teilhabe an der ropaweit dominanten Geredes von »›christlichen‹ Grundwerten« und rung daran auch ein Schlüssel, um Israel zu verstehen. So stellt er fest, wohl mit keinem Regierungschef, aber als aufmerksamer Zuhörer Gestaltung der künftigen Gesellschaften. In diesem Klima setzten sich »›christlicher‹ Leitkultur« fragen Brocke et al., ob die alte »christli- dass er durch bloßes Zuhören von Berichten israelischer Überlebender gelang es ihm dennoch, ihnen einige politisch wichtige Äußerungen jüdische Gelehrte, Journalisten und Schriftsteller damit auseinander, che Übertrumpfungsmentalität« nicht noch am Ruder sei (S. 146). zu einem intensiven, offenen und ehrlichen Kontakt mit ihnen gekom- zu entlocken. So verriet ihm Rabin, warum er sich so beeilt hätte, wie die industriell-moderne, nationale Gesellschaft verfasst sein sollte. Allerdings bleiben Zweifel an Einzelaspekten der Studie. So ist men ist. In Israel ist es ihm nur einmal passiert, dass ihn ein Tischnach- die Oslo-Verträge mit der PLO zu unterzeichnen, die doch später so Im Gegensatz zu bisher unternommenen Einzelfallstudien hat sich der nicht ausreichend begründet, warum der Untersuchungszeitraum mit bar bei einem Essen etwas erschrocken gestand, er habe noch nie mit viele Fehler aufwiesen. Rabin antwortete, er habe dem Erstarken der vorliegende Band zum Ziel gesetzt, diesen Diskurs in seiner ganzen dem Jahr 1871 endet. Die »Chance der bürgerlichen Aufhebung des einem Deutschen gesprochen. Weil die Begegnung mit diesem jungen Islamisten zuvorkommen wollen, die sonst einen politischen Konfl ikt Breite zu erfassen. Die AutorInnen versuchen nachzuweisen, dass christlich-jüdischen Religionskonfl ikts« war nach Ansicht promi- amerikanischen Juden, dessen Familie immer noch deutsche Produkte in einen religiösen hätten verwandeln können. Und Ehud Olmert sagte jüdische Autoren »einen couragierten und ausdifferenzierten Diskurs nenter Vertreter des deutschen Judentums mit der Reichsgründung boykottiert, bei befreundeten religiösen Juden stattfand, setzte er das Bremer, es sei ein großer historischer Fehler, dass Rabin die jüdischen hervorbrachten, der eine kulturelle Grundsatzdebatte von historischer keineswegs »vertan« (S. 18), sondern lag näher als je zuvor. Gerade Gespräch mit Bremer fort. Manche Palästinenser verglichen im Ge- Siedler nicht aus Hebron ausgewiesen hatte. Haidar Abdel Schafi , der Dimension und gegenwärtiger Bedeutung darstellt« – ein Diskurs, der die erste Dekade des Reichs war für viele eine Zeit der Hoffnung spräch mit Bremer zwischen den Verbrechen der Deutschen an den Ju- wichtigste palästinensische Verhandlungsführer bei der Friedenskon- »demokratisch-republikanische Vorstellungen und Entwürfe von Zi- und der stolzen Beteiligung am nationalen Projekt. Auch bleibt an den und dem, was Israelis den Palästinensern antäten. Diesen Vergleich ferenz in Madrid 1991 (damals boykottierte Israel die PLO noch), vilgesellschaft« vertrat (S. 8). Die Studie führt damit jene Forschungen einigen überinterpretierten Stellen die Verbindung zwischen Quelle weist er als töricht ab und erläutert zudem klar die aus der Vergangen- erzählte Bremer, Jassir Arafat hätte ihm verboten, einen Siedlungsstopp weiter, die den hierzulande lange negierten Anteil deutscher Juden an und Schlussfolgerung unklar. Etwas anstrengend ist es auch, am heit resultierende besondere Verantwortung Deutschlands für Israel. als Vorbedingung für Friedensverhandlungen mit Israel zu fordern. der Konstitution der Gesellschaft untersucht. Ende des Buches manches Quellenzitat zum vierten Mal gelesen zu Bremer ist überzeugt, dass das Kennenlernen der Geschichte des an- Zwanzig Jahre später sind die Palästinenser gerade wegen der Für das Themenfeld innovativ ist ihr methodischer Zugang der his- haben. Das Kapitel zur »Feinanalyse« zweier Beispieltexte schließ- deren Volkes einschließlich der Shoah die Voraussetzung für eine Ver- Zerstückelung des Westjordanlandes durch Siedlungen, Sperranla- torischen Diskursanalyse. Gegenstand der Untersuchung sind zwischen lich fällt im Vergleich zum Rest des Buches aufgrund redundanter söhnung zwischen Israelis und Palästinensern sei. Im gleichen Kapitel gen, Checkpoints und getrennte Straßen für Israelis Gefangene im ei- 1847 und 1872 erschienene Separatdrucke deutsch-jüdischer Autoren, Aussagen und semantischer Unklarheiten deutlich ab. verteidigt er seine differenzierte Berichterstattung (eigentlich ergreift genen Land, stellt Bremer fest. Diese physische Trennung verringert die auf Staat, Nation, Gesellschaft im Titel Bezug nehmen. Brocke Diese einzelnen Schwächen ändern jedoch nichts an der großen er Partei für beide Seiten) und erwähnt, dass einige Leser ihm Antise- auch die Chancen einer friedlichen Lösung des Konfl iktes. Kaum et al. erfassten circa 800 solche Titel. Daraus ergab sich ein Corpus Leistung dieses Buches, die Aufmerksamkeit auf die in diesem Dis- mitismus vorgeworfen hätten. Auch der frühere israelische Botschafter ein Palästinenser über vierzehn darf nach Israel, jüdische Israelis von 94 »zentralen« Texten zu vier Hauptthemen: »Kirche/Religion kurs angelegte alternative Entwicklungsmöglichkeit der Moderne Shimon Stein hätte sich über seine Berichterstattung bei der Redaktion wiederum dürfen nicht in die Palästinensergebiete. Sogar die ganz und Staat«, »deutsche Nation«, »Diskriminierung/Emanzipation von gerichtet zu haben. Dem Band gebührt ein wichtiger Platz nicht der FAZ vergeblich beschwert. Man fragt sich, welche Folgen dies wenigen palästinensischen Gruppen, die die Holocaust-Gedenkstätte Juden« und »Recht«, denen sechs Unterthemen zugeordnet wurden: nur in der Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte, sondern bei einem anderen Reporter gehabt hätte, der nicht eine solche Rü- Yad Vashem in Jerusalem besuchen wollen, bekommen in der Regel »Antisemitismus«, »Judentum und Christentum«, »Universalismus«, auch in den gesellschaftstheoretischen Diskussionen um Aufklärung, ckendeckung seiner Redaktion genießt. Nun wendet sich Bremer an von Israel keine Einreisegenehmigung. Die Sicherheit verhindert »Fortschritt«, »Juden in der Gesellschaft« und »Jüdische Ethik« Moderne und Gerechtigkeit. die vermeintlichen Freunde Israels in Deutschland, die ihr Israel-Bild das Kennenlernen und somit auch den Ausgleich im Heiligen Land. (S. 27). Zusammengefasst knüpfen die Aussagen im Kern des Dis- nicht durch Fakten gestört sehen wollen. Er will sie aufrütteln, damit kurses an die Ideale der französischen Revolution und der Aufklärung Mathias Berek sie begreifen, dass Israel manchmal den Einspruch seiner Freunde Igal Avidan an, binden sie jedoch stets an eine jüdische (als religiöse) Ethik. Die Leipzig brauche, auch deutscher Freunde, um eine Demokratie zu bleiben. Berlin

104 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 105 Antisemitismus in Polen 1968 herauszuhalten. Gelegentlichen antisemitischen Bemerkungen in Hallo, mein Großer! kreisen um das Verlieren. So, wie die Oma Benis Bild verloren hat, ihrer Umgebung maß sie keine große Bedeutung zu. Sie wusste nicht, verlegt sie vieles, hat vieles verloren. Die erzwungene Flucht aus dass sie jüdischer Herkunft war, denn wie viele assimilierte polnische ihrer Heimatstadt, das Leben unter falscher Identität mit fremdem Juden hatte ihr Vater ihr nichts von der jüdischen Herkunft erzählt. Namen, die Ermordung ihrer Mutter, all das ist im Durcheinander Mit Beginn der antisemitischen Kampagne im März 1968 en- ihres Lebens gegenwärtig. Viktoria Korb det ihr fröhliches Studentenleben (S. 310): »Die ›Märzereignisse‹ Eva Lezzi Das Bündnis zwischen der unwürdigen Alten – die anders als … kein polnischer Staatsbürger schubsten mich blitzartig ins Erwachsenenleben«, resümiert Korb. Beni, Oma und ihr Geheimnis Brechts unwürdige Greisin nicht einfach auf die Meinung der Sippe Autobiographischer Roman Sie begann zu ahnen, dass auch ihr Vater Jude ist, und durchsuchte Mit Illustrationen von Anna Adam pfeifen kann – und dem braven Jungen, die Anrufung der Kinderwelt, Berlin: trafo-Verlag, 2010, 344 S., € 18,80 eines Tages, als sie allein zu Hause war, seinen Schreibtisch, in dem Berlin: Hentrich & Hentrich, 2010, 32 S., die Beschreibung jener speziellen Mischung zwischen Geborgenheit sie seine Geburtsurkunde fand, und las, dass er in der jüdischen € 17,90 und Langeweile bei den Großeltern, der Geruch nach Oma, trägt die Im März 1968 inszenierten die kommunis- Gemeinde zu Lemberg registriert worden war. Geschichte. Doch ein formal kaum sichtbarer Perspektivenwechsel tischen Machthaber Polens eine massive Von nun an begannen sich die Ereignisse zu überschlagen. Das Wochenende bei Oma und Opa. Eva Lezzi erzählt von einer bricht sie. Auch erzählt Eva Lezzi (mindestens) für zwei Zielgrup- Hetzkampagne gegen Juden: In den Medien, Auch in ihrem Freundeskreis waren viele Menschen Juden, wie vertrauten Kindheitssituation. Doch schnell wird in diesem Kinder- pen. In die Innensicht einer Familie, in der die Bedrohung der Shoah auf Parteiversammlungen und auf Massen- sich plötzlich herausstellte, und ihnen allen wurden immer mehr buch klar, dass das scheinbar bekannte Thema Ungewöhnliches birgt. lebendig ist, ist die Erzählung für ein außen stehendes Lesepublikum kundgebungen wurde den polnischen Juden vorgeworfen, Drahtzie- Probleme bereitet. Ein Professor der Wirtschaftshochschule weigerte Die doppelseitige Illustration, die der Erzählung vorangeht, setzt gefl ochten. So erzählen – für eine reine Binnensicht mehr als nötig her der Warschauer Studentenunruhen zu sein sowie sich seit dem sich, Viktoria Korb zu prüfen, und somit erschien es fraglich, ob sie den Betrachter auf die Spur: Wie in einem Wimmelbild sind in der einführend – Oma und Opa von ihrer Kindheit im nationalsozi- Sechstagekrieg 1967 illoyal gegenüber Polen verhalten zu haben. in Polen einen Hochschulabschluss würde erwerben können. Ihre fotografi erten Installation mehr oder weniger plakative Marker ver- alistischen Deutschland, von der lebensrettenden Flucht zu einer Zahlreiche polnische Juden wurden an den Rand der Gesellschaft Schwester verfehlte in der gleichen Zeit die Aufnahmeprüfung zum steckt, die das Durcheinander als jüdisch kennzeichnen. Neben dem französischen Tante bzw. mit einem Kindertransport nach England gedrängt, Parteimitglieder aus der Partei ausgeschlossen, Studenten Germanistik-Studium, obwohl sie sehr gut Deutsch sprach. prominent positionierten Fläschchen mit dem handgemalten Etikett und liefern so dem unwissenden Leser die notwendigen Hinter- von der Universität relegiert; Arbeiter und Funktionäre verloren ihre Als Viktoria Korb eines Abends das Haus verließ, wurde sie so »Duft von gestern« fi nden sich zwischen Kerzen, Äpfeln, Postkarten, grundinformationen. Das Buch gewinnt einen doppelten Charakter, Arbeitsplätze. Bis zu 15.000 Menschen wurden so zur Emigration auffällig beschattet, dass ihr klar wurde, es ging weniger darum, sie Blumen, Kartoffelschäler und Salzstreuer, hebräische Schrift, Magen als privates Vorlesebuch, in dem ein jüdischer Junge als mögliche aus Polen getrieben. zu beobachten, als sie spüren zu lassen, dass sie beobachtet wird. Ihre David, Mazze … Alltags- und Feiertagsgegenstände, Kinder- und Identifi kationsfi gur gestaltet ist, und als pädagogisches Material, in Neben einigen wissenschaftlichen Arbeiten erschienen in den Situation war bedrückend, alle Familienangehörigen waren nervös, Oma-Dinge, Vertrocknetes und Frisches, Erinnerungsobjekte und dem die biografi sche Erzählung als Einführung für Kinder in die letzten Jahren in Polen mehrere autobiografi sche Erinnerungen zu und die Atmosphäre war zunehmend angespannt. Gemeinsam mit Spielzeug stehen und liegen hier gleichberechtigt durcheinander. Geschichte der Shoah dienen kann. Diesem Zweck dient auch ein diesem Thema. Viktoria Korbs Buch ist eines der ersten, das nun Eltern und Schwester entschied sie sich schließlich zur Emigration Der Text beginnt mit dem Kapitel »Schabbat« und konturiert so beigefügtes Glossar, das – wiederum in doppelter Erzählperspekti- auch auf Deutsch vorliegt.1 Die in Berlin lebende Autorin, die 1968 aus Polen. Doch obwohl die Antisemiten in der Partei- und Staats- das Folgende auch literarisch dezidiert als eine jüdische Kindheit im ve – Schlüsselbegriffe leicht verständlich erklärt. aus Polen emigrierte, schreibt in zwei Sprachen und veröffentlichte führung die polnischen Juden gerne loswerden wollten, mussten die heutigen Deutschland. Erzählt wird eine Generationengeschichte, in Beni, Oma und ihr Geheimnis ist auf dem deutschsprachi- ihre Erinnerungen bereits 2006 in Polen, wo das Buch sehr positiv Korbs wie andere polnische Juden einen Antrag auf Emigration nach der die Großeltern »Child Survivors« sind. Der kindliche Protagonist gen – nicht übersetzten – Kinderbuchmarkt ein Pionier. Entspre- aufgenommen und besprochen wurde. Auch wenn sie ihre Erinne- Israel stellen und gleichzeitig auf die polnische Staatsbürgerschaft Beni ist gleichzeitig kindlich und erwachsen, umweht vom »Duft chend schwer ist abzuschätzen, wer sich das Buch aneignen, welche rungen in Form eines Romans verfasste, hielt sie sich doch eng an verzichten. Sie erhielten ein Reisedokument, das nur zur einmaligen von gestern«. Er schenkt der Oma ein selbst gemaltes Bild und ist Lesarten es evozieren wird. Es platziert sich in einem Raum, in dem die erlebte Realität, und so ist ihr Buch eine wichtige historische Ausreise aus Polen gültig war und in dem geschrieben stand, dass traurig, dass sie es verlegt; er spielt mit Spielzeugautos, schlüpft nach bislang vor allem Übersetzungen von Kinderbüchern aus Israel oder Quelle zur Alltagsgeschichte der antisemitischen Kampagne. der Inhaber kein polnischer Staatsbürger sei. einem schlechten Traum zu den Großeltern ins Bett. Und er nimmt aus Flucht- und Exilländern der europäischen Juden vertreten wa- In amüsanter Weise beschreibt sie das Warschauer Studenten- Es war nicht einfach, sich zur Emigration zu entscheiden. Vikto- die Oma an die Hand, wenn diese von den Erinnerungen eingeholt ren. Verwiesen sei hier zum Beispiel auf das aus dem Hebräischen leben am Ende der 60er Jahre und schildert hervorragend den auf- ria Korb ließ ihren Lebensgefährten und ihre Mutter in Polen zurück, wird, wenn sie keine Ruhe fi ndet und öffentlich peinlich wird. Die übersetzte Papa nervt, in dem Meir Shalev ohne expliziten Verweis ziehenden Antisemitismus, der den polnischen Juden die Luft zum beide sollten später nachkommen. Zugleich war es ungewiss, ob der Großmutter singt – auch im Frühling – in sechs Sprachen Chanukka- auf die Shoah mit größerer Leichtigkeit das Ringen der Familie mit Atmen nahm. Korb hatte eine fröhliche und unbeschwerte Jugend; Ausreiseantrag wirklich genehmigt werden würde. Aber die Korbs Lieder und sagt »Macht nichts!«, wenn Beni Unfug macht. Wie dem Unsichtbaren als gereimte Komödie inszenieren kann. sie schildert, wie sie an der Warschauer Wirtschaftshochschule stu- sahen nach den jüngsten Ereignissen für sich keine Zukunft mehr sollte sie ihm auch Vorwürfe machen, sie, die in dieser Familie am Der Buchhandel bewirbt Beni, Oma und ihr Geheimnis als »ei- dierte und ihr Studentenleben in vollen Zügen genoss: Die Studenten in Polen. Kurz vor ihrer Ausreise ging Viktoria Korb noch einmal wenigsten funktioniert und bei Pippi Langstrumpf Zufl ucht suchen ne unbeschwerte und witzig-freche, aber auch nachdenkliche und feierten gern, tranken so manche Flasche Wein und liebten sich zu ihrer Hochschule, um ihr Studienbuch zu kopieren, schließlich muss, um das eigene Verhalten zu erklären. Doch auch das stärkste geheimnisvolle Geschichte für alle ab 6« und blendet damit das bis zur Erschöpfung, um dann wieder nächtelang vor den Prüfun- wollte sie im Westen nicht von vorne anfangen zu studieren. Der Mädchen der Welt kann Beni und seine Großmutter nur kurz trösten. Gewicht, das dieses Kinderbuch in sich trägt, aus. Eva Lezzi zeichnet gen zu lernen. Die politischen Verhältnisse konnten die Stimmung Dekan erlaubte ihr, das Studienbuch auszuleihen, und ermunter- Auf Benis kleinen Schultern liegt große Last. ihre Figuren liebevoll und doch mit der Schwere, die diese prägen. der jungen Studentin nicht trüben. Zwar gab es die Zensurbehörde, te sie unter vier Augen, es gar nicht erst wieder zurückzubringen Schnell wird Beni an diesem Wochenende, das mit dem Kochen Mit dem Generationenbündnis zwischen Großeltern und Enkel bie- vor der sie sich bei ihrer Arbeit für eine Studentenzeitung in Acht (S. 300): »Hm, wenn Sie damit wegfahren, können wir Sie lange für den Schabbat beginnt, mit der Vergangenheit seiner Großeltern tet sie den Lesern einen literarischen Weg, mit der Vergangenheit nehmen musste, aber Viktoria Korb versuchte sich aus der Politik damit in der Welt suchen … Es ist immer besser, das Original zu konfrontiert. Kaum gegessen, kommt der Kummer. Wieder und umzugehen. haben.« So gab es auch viele Menschen, die anständig blieben. wieder, und beim erstbesten Anlass muss die Großmutter in die Vergangenheit eintauchen. Und so muss sich Beni – gefühlt ewig – Isabel Enzenbach Hans-Christian Dahlmann erst einen Brief von einer alten Freundin der Oma anhören, bevor er Berlin 1 Daneben gibt es auf Deutsch die Erinnerungen Michael Checinskis, der hoher Funktionär im militärischen Geheimdienst war. Michael Moshe Checinski, Der Warschau eine Runde »Mensch ärgere Dich nicht« mit den Großeltern spielen traurige Frühling, Frankfurt 2002. kann. Die Erinnerungen und die Alltagshandlungen der Großmutter

106 Rezensionen Einsicht 05 Frühjahr 2011 107 Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main

sekonferenz wurde der Kooperationsvertrag Gedenkstätten zu diskutieren und mithilfe Heimatorten in der Zeit »vor dem Holo- nach Israel emigrierte Erna Goldmann zu besiegelt. Das Pädagogische Zentrum wird die von Übungen zu refl ektieren. In vertrau- caust«. Es dient als pädagogisches Arbeits- produzieren. Mit dem gemeinsam produ- Schule in vielfältiger Weise bei der Beschäfti- ensvoller Atmosphäre können schwierige mittel für die Vermittlung jüdischen Lebens zierten Film wird eine Lebensgeschichte aus gung mit jüdischer Geschichte und Gegenwart Situationen besprochen und gegebenenfalls und der Verfolgung der Juden in der NS- Frankfurt in die »Bibliothek der geretteten sowie bei der Annäherung an Geschichte und verändertes Verhalten erprobt werden. Dabei Zeit, aber auch der historischen Forschung Erinnerungen« eingebracht, die der Gründer Nachgeschichte des Holocaust unterstützen. stehen pädagogische Aspekte der Vermitt- zur deutsch-jüdischen Geschichte. von Centropa, Edward Serotta, mit einem Da sich diese Themen in vielen Schulfä- lungstätigkeit im Vordergrund: das eigene Näheres unter Neuerscheinungen auf Team von Historikern, Journalisten, Foto- chern wie in Geschichte, Politik und Wirt- Selbst- und Rollenverständnis, der Kontakt S. 15 in diesem Heft. Das Portal im Internet: grafen und Webdesignern zusammenträgt. schaft, Religion, Ethik, Deutsch und Kunst zu Teilnehmenden und Gruppen sowie der www.vor-dem-holocaust.de »Wie die Juden gelebt haben, nicht wie sie fi nden, eröffnen sich neue Perspektiven für Umgang mit Vermittlungsmedien. gestorben sind«, will diese Sammlung do- beide Seiten. Die Kooperationsvereinbarung Nähere Informationen auf der Website: Kontakt kumentieren. Dieser Zugang passt genau umfasst Beratungen für Schüler(innen) und www.verunsichernde-orte.de Monica Kingreen zu der didaktischen Konzeption des Päda- Lehrer(innen) sowie Workshops und themen- [email protected] gogischen Zentrums. Mit diesem Film und bezogene Führungen im Jüdischen Museum. seiner Einbindung in das Internetportal von Es ist geplant, diese Form der Zusam- Centropa (http://at.centropa.org/) wird das Pädagogisches Zentrum menarbeit mit weiteren Schulen – auch Neues Internetportal Pädagogische Zentrum ein Angebot zur des Fritz Bauer Instituts und außerhalb Frankfurts – zu vereinbaren. Zeitzeugenprojekt Annäherung an die jüdische Geschichte des Jüdischen Museums Frankfurt Interessenten können sich gern beim PZ Vor dem Holocaust machen können, das für projektorientiertes melden. Die bestehenden Kooperationen Fotos zum jüdischen Centropa Lernen, aber auch für die individuelle Re- mit Schulen, wie zum Beispiel der Anne- Alltagsleben in Hessen Bibliothek der geretteten cherche am PC geeignet ist. Mit zwei Themenfeldern be- anbieten. Begleitend zu den Ausstellungen Frank-Schule in Frankfurt am Main, werden Erinnerungen schäftigt sich das neue Päd- des Jüdischen Museums Frankfurt gibt es selbstverständlich fortgeführt. agogische Zentrum des Fritz Bauer Instituts Fortbildungen mit der besonderen Eröffnung Das Internetportal präsen- und des Jüdischen Museums Frankfurt (PZ): von Perspektiven für den Unterricht. Das PZ Kontakt tiert eine große Zahl kom- Das Pädagogische Zentrum Angebote jüdisches Leben heute und in der Geschichte vereinbart mit einzelnen Schulen enge Ko- Manfred Levy mentierter Fotos aus dem Alltagsleben jüdi- hat »Centropa« beauftragt, einerseits und Erinnern an die Verbrechen operationen, was eine regelmäßige Beglei- [email protected] scher Menschen in mehr als 250 hessischen einen Film über die aus Frankfurt am Main Studientage/Workshops des nationalsozialistischen Deutschland so- tung von Projekten, freie Museumsbesuche wie ihre Nachgeschichte andererseits. Der bzw. Studientage einschließt. Studientage bieten Ein- enge Zusammenhang beider Themen birgt führung oder Vertiefung in eine Vielfalt an Lernchancen, aber nicht Weiterbildungsangebot Themen aus dem gesamten Spektrum der Kontakt zuletzt auch problematische Implikationen. Pädagogisches Zentrum jüdischen Geschichte und Gegenwart ei- Das Bild von den Juden als Opfer der Ge- des Fritz Bauer Instituts und »Verunsichernde Orte« nerseits und des Nationalsozialismus ande- schichte ist eines der dominanten Stereo- des Jüdischen Museums Frankfurt rerseits. Sie können von Schulklassen und type, mit denen die Vermittlung jüdischer Seckbächer Gasse 14 Reflexion pädagogischer außerschulischen Bildungsträgern genutzt 60311 Frankfurt am Main Geschichte und Gegenwart regelmäßig kon- Tel.: 069.212 742 37 Praxis an Erinnerungsorten werden. Es gibt die Studientage in drei For- frontiert ist, die ihr im Wege stehen und sie [email protected] für – feste und freie – Mitarbeiter(innen), maten: immer wieder beeinfl ussen. www.pz-ffm.de Lehrer(innen) und andere Engagierte. › Einführung in das Thema (2 Stunden, Das PZ verbindet unter pädagogischer Das Weiterbildungsangebot wird seit auch als Besuch im Unterricht). Ein(e) Perspektive die Themenfelder deutsch-jüdi- Januar 2011 am PZ koordiniert. Es ist das Mitarbeiter(in) des PZ referiert mit an- sche Geschichte im europäischen Kontext Ergebnis einer Kooperation des Fritz Bauer schaulichen Quellen zum Schwerpunkt- und jüdische Gegenwart mit der Geschichte Bildungspartnerschaft Instituts mit dem Max-Mannheimer-Studi- thema. Ziel ist die Vermittlung von Ori- und Nachgeschichte des Holocaust. Dazu bie- enzentrum Dachau und der Akademie für entierungswissen und die Motivation tet es Lehrerfortbildungen, Workshops und Louise-von-Rothschild-Schule Führung und Kompetenz an der Ludwig- zur intensiveren Beschäftigung mit dem Studientage an. Mit der Beratung von Lehr- Maximilians-Universität München. In en- Thema. kräften, Lehrerteams, Fachkonferenzen und Mit der Louise-von-Roth- ger Zusammenarbeit mit Praktikerinnen › Workshop (4 Stunden an einem außerschu- Studienseminaren – aber auch Geschichts- schild-Schule, einer Real- und Praktikern der pädagogischen Arbeit lischen Lernort). Nach einer Einführung initiativen oder außerschulischen Bildungs- schule im Frankfurter Stadtteil Bornheim, an Gedenkstätten wurden Methoden ent- werden im Museum, im Archiv, dem IG trägern möchte es eine Unterstützung für wurde im Januar 2011 eine erste Bildungspart- wickelt, um zentrale Fragen der Praxis his- Farben-Haus, dem Bunker an der Fried- verschiedene pädagogische Arbeitsfelder nerschaft vereinbart. Im Rahmen einer Pres- torisch-politischer Bildung (nicht nur) an Studierende bei einem Seminar im Pädagogischen Zentrum. Foto: Manfred Levy berger Anlage oder einem anderen thema-

108 Pädagogisches Zentrum Einsicht 05 Frühjahr 2011 109 Nachrichten und Berichte Information und Kommunikation

tisch passenden Ort in Kleingruppenarbeit der Entfernung von Frankfurt am Main. Für Öffentliche Führungen Nachdem er die Todesmärsche Anfang Objekte und Quellen erschlossen. Ziel hessische Schulen fi nden Beratungen und In der Regel an jedem 3. Samstag im Monat, Treff- 1945 überstanden hatte, wurde Imo Mosz- ist neben einem Überblickswissen ein schulinterne Fortbildungen kostenfrei statt. punkt 15.00 Uhr am Norbert Wollheim-Pavillon auf kowicz im Mai 1945 in Liberec/Reichenberg dem Gelände vor dem IG Farben-Haus, Grüneburg- Erstkontakt mit Originalen und Ausstel- platz 1, Zugang Fürstenberger Straße von der Roten Armee befreit. Er ging zurück lungen. Samstag, 16. April 2011, Guide: Patrick Schwendke nach Westfalen und begann als Schauspieler › Projektorientierter Workshop (6 Stunden). Samstag, 21. Mai 2011, Guide: Céline Wendelgaß in Warendorf und Gütersloh. Es folgte eine An einem außerschulischen Lernort wird Angebote Samstag, 18. Juni 2011, Guide: Patrick Schwendke Schauspielausbildung in Düsseldorf, wäh- in Kleingruppen mit Ausstellungen, Ar- Website rend der er sich bereits der Regie zuwandte. chivgut, Video-Interviews usw. gearbeitet. Beratungsangebote www.wollheim-memorial.de Moszkowicz lernte als Regieassistent bei Ziel sind neben einem Überblickswissen Gustav Gründgens in Düsseldorf und bei die Vermittlung von Kompetenzen zum › Beratung bei der Auswahl von Unterrichts- Anmeldung Fritz Kortner am Schillertheater, Berlin. Gottfried Kößler Erschließen von Zusammenhängen zwi- material, vor Fahrten zu Gedenkstätten, [email protected] Zeitlebens blieb sein Theaterverständnis schen unterschiedlichen Materialien und bei der Planung von Unterricht, bei Re- vom Begriff der Werktreue und der Achtung die Präsentation am Objekt oder in der cherchen zur Regionalgeschichte und in gegenüber den Texten der Dichter, die er Ausstellung. der Vorbereitung von Projekttagen inszenierte, geprägt. Die genaue Planung erfolgt in Zusammenar- › Unterstützung bei der Thematisierung von Führungen und Studientage zur Geschichte Aus dem Institut In den 1950er Jahren arbeitete Mosz- beit zwischen der Lehrkraft bzw. pädagogi- Konfl iktfeldern im Bereich des Rechts- und Nachgeschichte des Holocaust kowicz mehrmals als Regisseur und Schau- schen Fachkraft und dem/der Mitarbeiter/-in extremismus und des Antisemitismus im Nachruf spieler an Bühnen in Südamerika, wo er des PZ. Ein Überblick zu den Themen fi ndet Unterricht »Selbstaufklärung in den Imo Moszkowicz sel. A. auch seine Frau, Renate Dadieu, kennen- sich auf der Website des PZ: › Kontaktvermittlung von Zeitzeugen, Hil- Bahnen des Rechts« (1925–2011) lernte. 1961 inszenierte er Zeit der Schuld- www.pz-ffm.de festellung bei der Gesprächsvorbereitung losen von Siegfried Lenz am Habima Nati- › Bereitstellung eigener Unterrichtsmateri- Der Frankfurter Auschwitz- onaltheater in Tel Aviv, das erste Stück eines alien und Zeitzeugen-Videos Prozess 1963–1965 Imo Moszkowicz wurde am zeitgenössischen deutschsprachigen Autors › Nutzung der Bibliotheken des Fritz Bauer 27. Juli 1925 in Ahlen gebo- in Israel. In den folgenden Jahrzehnten ver- Angebote Instituts und des Jüdischen Museums Die Geschichte des Konzen- ren. Seinem Vater gelang es noch 1938, nach wirklichte Moszkowicz über hundert The- Details zu den Beratungsangeboten fi nden trations- und Vernichtungs- Argentinien auszuwandern, doch konnte der ater- und Operninszenierungen an großen Lehrer(fort)bildungs- sich unter: www.pz-ffm.de lagers ist der Hintergrund für die Beschäfti- Rest der Familie nicht mehr nachkommen. deutschsprachigen Häusern. veranstaltungen gung mit der Nachgeschichte des Holocaust, Frau und Kinder mussten nach Essen über- Zeitgleich entwickelte sich das Fernse- wie sie am Auschwitz-Prozess und seiner siedeln, damit Ahlen »judenrein« sei, und hen mit über 200 Regiearbeiten für Spielfi l- Sie fi nden das breit gefä- Rezeption exemplarisch deutlich wird. dort Zwangsarbeit leisten. Die Mutter und me und Serien zu seinem zweiten Schwer- cherte Angebot an Fortbil- Führungen und Studientage zur Geschichte Methodisch basiert dieser Studien- vier der Geschwister wurden 1941 nach punkt. Hier erwies sich Imo Moszkowicz dungsveranstaltungen für Lehrkräfte auf der und Nachgeschichte des Holocaust tag auf handlungsorientierter Kleingrup- Auschwitz deportiert und ermordet, ebenso als ein Pionier des Fernsehspiels, der die Website des PZ: www.pz-ffm.de. Sie können penarbeit mit historischem Quellenma- der Bruder David nach einer Denunziation. neuen technischen Möglichkeiten erprobte. auch in je spezieller Absprache in den Schu- Norbert Wollheim Memorial terial, Interviews, Presseartikeln sowie Imo Moszkowicz und sein Bruder Hermann Zu seinen Arbeiten zählen Komödien und len durchgeführt werden. eigenständigen Recherchen. Die genaue wurden 1942 als Letzte der Familie nach Krimis, aber auch Kinderserien wie KLI- Das Pädagogische Zentrum ist beim Das Norbert Wollheim Me- Schwerpunktsetzung wird vor dem Studi- Auschwitz deportiert, wo Imo Moszkowicz Imo Moszkowicz beim Treffen der Überlebenden von KLA-KLAWITTER (1973–76) und PUMUCKLS Buna/Moniwitz, Frankfurt am Main im Oktober 1998. Hessischen Institut für Qualitätsentwicklung morial auf dem Campus entag mit den Gruppen abgesprochen. Das ins KZ Buna/Monowitz kam und Zwangs- ABENTEUER (1999). Daneben schuf er mehre- als Anbieter für Fortbildungs- und Qualifi - Westend der Goethe-Universität Frankfurt, Angebot richtet sich an Schulklassen oder arbeit für die I.G. Farben verrichten musste. re Kinofi lme, wie MAX, DER TASCHENDIEB mit zierungsmaßnahmen akkreditiert. Es ist als dem ehemaligen Verwaltungssitz des IG Gruppen ab circa 15 Jahre, sie können auch Gerade dort machte er bei einem »bunten Heinz Rühmann und WENN IHR WOLLT, IST ES Träger der Arbeitnehmerweiterbildung nach Farben-Konzerns, ist ein Denkmal für die als schulinterne Lehrerfortbildung und in Abend« zur Unterhaltung der Lager-SS Ich schlüpfte in andere Charaktere, ich KEIN MÄRCHEN über Theodor Herzl. Eine sei- dem HBUG anerkannt. Verfolgten, Ermordeten und Überlebenden der Erwachsenenbildung genutzt werden. und der Häftlingsprominenz seine ersten schlüpfte in andere Schicksalsstränge und ner letzten Arbeiten, das Drehbuch zu UNTER Das Pädagogische Zentrum ist täglich des KZ Buna/Monowitz am Ort der Täter. Der Studientag wird unter Verwendung Schauspielerfahrungen. In einem Interview konnte damit meinen eigenen zudecken und BAUERN – RETTER IN DER NACHT (2009), ließ zwischen 10.00 und 16.00 Uhr erreichbar. Es steht für die Auseinandersetzung der der Dauerinstallation zum 1. Frankfurter beschrieb er im Januar 2008, was das The- somit in den Hintergrund drängen; damit ihn in die Zeit des Nationalsozialismus in Für längere Beratungsgespräche können Überlebenden mit den Tätern, für ihren Auschwitz-Prozess im Saalbau Gallus und aterspiel im KZ Buna/Monowitz für ihn be- konnte ich viele Jahre leidlich gut leben.«1 Westfalen zurückkehren. Termine vereinbart werden. Schulinterne Kampf um Entschädigung als ausgebeutete der im Fritz Bauer Institut vorhandenen Do- deutete: »Auf diese Weise war ich meinen In seiner Autobiografi e Der grauende Fortbildungen können ebenfalls indivi- Zwangs- bzw. Sklavenarbeiter in der Bun- kumente angeboten. Drillich, meine Häftlingskleidung für ein Morgen, zuerst erschienen 1996, verfl icht duell vereinbart und geplant werden. Die desrepublik Deutschland. paar Stunden los: Ich konnte in eine andere Moszkowicz in eindringlicher Weise den Anmeldung 1 http://www.br-online.de/content/cms/Universalsei- Kosten für Lehrgänge richten sich nach Die Führungen und Studientage richten Gottfried Kößler Figur schlüpfen. Das, was später, also nach te/2008/03/20/cumulus/BR-online-Publikati- Bericht seiner Zeit im KZ Buna/Monowitz Gruppengröße, Teamer-Anzahl und nach sich an Schulen, Studierende und Erwachsene. [email protected] dem Krieg, mit mir geschah, war ähnlich: on--102738-20080320122530.pdf [28.2.2011]. mit seiner Nachkriegsbiografi e am Theater

110 Pädagogisches Zentrum Einsicht 05 Frühjahr 2011 111 und Fernsehen, darauf refl ektierend, wie ihn Gegensatz zu als auch in ihren Rückwirkun- › Jacob S. Eder, »Holocaust-Erinnerung als deutsch- »Das Herbeiführen einer die Erinnerung im Nachkriegsdeutschland gen mit der Geschichtswissenschaft sowie amerikanische Konfl iktgeschichte« Aussöhnung zwischen Ju- › Jörg Osterloh, »Fotografi en und Feldpostbriefe von immer wieder heimsuchte, wie er vergessen der Geschichts- und Erinnerungskultur zu Wachmannschaften als Quellen für die Geschichte den und Deutschen« und »die Unterstützung wollte und es nicht konnte. Imo Moszkowicz erforschen. Dabei fragt er unter anderem der Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht« der Lebensrechte des israelischen Volkes« sprach in öffentlichen Auftritten, in Vorträ- nach den Strategien der Negationisten so- (öffentlicher Abendvortrag) sind für die Redakteure des Axel Springer gen und Diskussionen über den Holocaust, wie den sich im Laufe der Zeit verändernden › Christian Mentel, »Holocaustleugnung als Historio- Verlags per Arbeitsvertrag verbindliche grafi e« als er als Regisseur bereits namhaft und be- Argumentationsstrukturen bzw. Präsentati- › Susanne Bressan, »Gudrun Ensslin. Die Biografi e ei- Ziele. Zwanzig Jahre nach dem Holocaust kannt war. Eindrücklich im Gedächtnis blieb onsformen der Holocaustnegation. Susanne ner RAF-Terroristin im Kontext des öffentlichen Um- verschrieb sich Axel Springer (1912–1985) seine Rede auf dem Treffen der Überleben- Bressan (Berlin) befasst sich mit der Bio- gangs mit dem nationalsozialistischen Erbe in dieser pro-israelischen Haltung, die ein per- den des KZ Buna/Monowitz in Frankfurt grafi e der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin Deutschland« sönliches Anliegen für ihn wurde. Wie kam › Martin Modlinger, »Approaching Something that re- am Main 2004. Zur Eröffnung des Norbert im Kontext des privaten und öffentlichen pels: The History of the Terezín Ghetto Artists in Post- er dazu und wie war seine Haltung zu Israel Wollheim Memorials2 auf dem Gelände des Umgangs mit dem nationalsozialistischen Holocaust Literature« und den Juden? ehemaligen IG Farben-Hauses (heute Sitz Erbe in Deutschland. Martin Modlinger Eine internationale Konferenz des Fritz der geistes- und kulturwissenschaftlichen (Cambridge) stellte seine Untersuchung Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Fachbereiche der Goethe-Universität Frank- der Transformation von Geschichte zu Li- Frankfurt am Main soll die Position Axel furt am Main) im November 2008 konnte er teratur am Beispiel Theresienstadts vor. Er Aus dem Institut Springers und seines Konzerns in der deut- schon nicht mehr nach Frankfurt kommen. Jörg Osterloh gemeinsam mit Ole Jantschek anderem als zentraler des untersucht unter anderem, wie es den Gefan- schen Nachkriegsgesellschaft beleuchten. Am 11. Januar 2011 verstarb Imo Mosz- (Arnoldshain) und Sybille Steinbacher (Je- Auswanderervermögens diente und für des- genen im Ghetto gelang, ihren Leiden zum Axel Springer Prominente Wissenschaftler, Politiker, Jour- kowicz nach langer Krankheit in Ottobrunn na/Frankfurt am Main). Sybille Steinbacher sen Verwaltung, Transferierung und Einsatz Trotz beachtliche kulturelle Leistungen zu Juden, Deutsche und Israelis nalisten und Medienexperten gehen dabei bei München. Er war langjähriges Mitglied eröffnete die Veranstaltung mit einem öf- im Namen der deutschen Wirtschaft sorgte. vollbringen, und analysiert die dort entstan- den folgenden Fragen nach: Wie kam es zu im Rat der Überlebenden des Holocaust am fentlichen Abendvortrag zum Thema »Ge- Merle Funkenberg (Kassel) befasst sich mit denen kulturellen Artefakte im Hinblick auf dem Nebeneinander von Juden und ehe- Fritz Bauer Institut. Die Mitarbeiterinnen sellschaftsordnung durch Gewalt. Überle- den Zeugen in NSG-Verfahren als Akteure und die historische Realität des Lagers. Internationale Konferenz, Sonntag, 27. und Montag, maligen Nazis in der Führungsetage des 28. März 2011, Museum Judengasse, Kurt-Schuma- und Mitarbeiter, Freunde und Freundinnen gungen zu einer vergleichenden Geschichte richtet den Fokus einerseits auf die psychisch Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer cher-Straße 10, und Goethe-Universität Frankfurt am Springer-Verlags? Was waren die Positio- des Fritz Bauer Instituts werden ihn in eh- der Lager im 20. Jahrhundert«. Die Dar- wie physisch belastende Situation der Über- des Seminars diskutierten ihre Vorhaben in Main – Campus Westend, IG Farben-Haus, Grüne- nen der Achtundsechziger und der RAF in render Erinnerung behalten. stellung konzentrierte sich auf das »Dritte lebenden vor Gericht, andererseits auf deren einer sehr konstruktiven Arbeitsatmosphä- burgplatz 1. Veranstalter: Fritz Bauer Institut in Bezug auf Axel Springer und Israel? Welche Reich«, die stalinistische Sowjetunion sowie Betreuung durch ehrenamtliche Helfer. Gerd re; im Mittelpunkt standen Fragen nach der Kooperation mit dem Jüdischen Museum Frankfurt Rolle spielte BILD in der pro-jüdischen Po- am Main, gefördert durch die Kulturstiftung des Matthias Naumann das faschistische Italien. Kühling (Jena) untersucht den Umgang mit Quellenlage und den methodischen Zugän- Bundes und die Gerda Henkel Stiftung. Organisation: sitionierung des Springer-Verlages, und was Berlin An den folgenden beiden Tagen stellten acht der NS-Vergangenheit in Ost- und Westberlin gen der einzelnen Projekte. Das nächste Dok- Dr. Dmitrij Belkin (Fritz Bauer Institut) ist die Position der BILD in der heutigen Doktorandinnen und Doktoranden von deut- und lenkt den Blick auf die Auswirkungen torandenseminar wird vom 7. bis 9. Juni 2011 schen, englischen und amerikanischen Uni- von Kaltem Krieg, deutsch-deutschem Sys- in Arnoldshain stattfi nden; die Ko-Moderati- versitäten in einer geschlossenen Veranstal- temkonfl ikt und der jahrzehntelangen Teilung on übernimmt in diesem Jahr Dr. Andrea Löw Aus dem Institut tung ihre geplanten bzw. laufenden Arbeiten auf die Gedenkpolitik in der Stadt in vom Institut für Zeitgeschichte in München. zur Diskussion. Den Auftakt machte Susanne den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten. Jacob Doktorandenseminar Beer (Essen), die sich mit der Hilfe für Ju- S. Eder (Pennsylvania) analysiert westdeut- Jörg Osterloh Neue Forschungen zu den im »Dritten Reich« befasst. Bis heute sche kultur-, geschichts- und bildungspoli- Fritz Bauer Institut sind nur etwa 3.600 Helfer/innen namentlich tische Initiativen in den USA im Zeitraum Geschichte und Wirkung Vorträge bekannt, ihre Gesamtzahl wird auf mehrere zwischen 1977 und 1990: Insbesondere die des Holocaust › Sybille Steinbacher, »Gesellschaftsordnung durch Ge- Zehntausend Menschen taxiert. Das Projekt Regierung Kohl bemühte sich um die Ver- walt. Überlegungen zu einer vergleichenden Geschich- geht der Frage nach, wie diese Wenigen da- mittlung eines positiven Deutschlandbildes te der Lager im 20. Jahrhundert« Vom 13. bis 15. September zu kamen, sich abweichend gegenüber den vor dem Hintergrund eines stetig wachsenden (öffentlicher Abendvortrag) 2010 fand in Arnoldshain nationalsozialistischen Normen zu verhal- Interesses der amerikanischen Bevölkerung an › Susanne Beer, »Hilfe für Juden im Nationalsozialismus. Soziologische Untersuchung der Entscheidungssitua- das zweite interdisziplinäre Doktoranden- ten. Auf Basis von narrativen Interviewse- der Geschichte des Holocaust. Den Tag schloss tionen und Karrieren von sogenannten Judenrettern« seminar des Fritz Bauer Instituts in Ko- quenzen mit Helfern und Untergetauchten Jörg Osterloh mit einem Abendvortrag über › Christine Schoenmakers, »Täternetzwerke – Die Deut- operation mit der Evangelischen Akademie sollen konkrete Hilfesituationen analysiert Fotografi en und Feldpostbriefe von Wach- sche Golddiskontbank als Umschlagplatz für geraub- Arnoldshain statt. Die Veranstaltung leitete und die erinnerten Entscheidungssituatio- mannschaften als Quellen für die Geschichte tes jüdisches Vermögen und dessen Verwertung für den Krieg« nen möglichst dicht beschrieben werden. von Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht. › Merle Funkenberg, »Die Betreuung von Zeugen der Christine Schoenmakers (Oldenburg) stellte Den letzten Block eröffnete Christian NS-Prozesse« ihre Arbeit zur Deutschen Golddiskontbank Mentel (Berlin), der sein Vorhaben vorstell- › Gerd Kühling, »NS-Erinnerung in Berlin. Gedenkpo- Spaziergang durch die Altstadt von Jerusalem, 10. Juni 1967 (Bürgermeister Teddy Kollek, Axel Springer und litik im Zeichen des Ost-West-Konfl ikts« 2 http://www.wollheim-memorial.de [28.2.2011]. vor, einer Tochter der Reichsbank, die unter te, die Holocaustnegation sowohl in ihrem deren Begleiter). Foto: Sven Simon, mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Axel Springer AG

112 Nachrichten und Berichte Einsicht 05 Frühjahr 2011 113 medienpolitischen Landschaft? Wie nahmen ger, Dr. Diether Hoffmann, Klaus Schilling der Vorstand weitere Veranstaltungen. Der Dr. Matthias Lutz-Bachmann. Die Berufung Projekt ist die Beteiligung an der Kritischen Theologie, in deren Rahmen die Martin- die Israelis die Person Axel Springer wahr? und David Schnell als Beisitzer. Die wie- Förderverein unterstützt die Initiative, eine wurde mit 100.000 Euro durch das Programm Gesamtausgabe des Werks des Philosophen Buber-Professur eine Tradition des Dialo- In welchem Verhältnis standen der »Anti- dergewählten Vorstandsmitglieder danken Straße – möglichst in der Innenstadt – nach »Rückkehr deutscher Wissenschaftler aus Hans Jonas – in Frankfurt werden allein vier gischen verkörpert und – so Wiese – »dies zionismus« der DDR und die pro-jüdische für das ihnen entgegengebrachte Vertrauen. Fritz Bauer zu benennen und ihm damit auch dem Ausland« der Alfried Krupp von Bohlen der geplanten zwölf Bände ediert. In frü- entspricht meinem ausgeprägten Interesse Haltung des Springer-Verlags zueinander? Im Anschluss an die Mitgliederver- in Frankfurt die ihm gebührende Ehre zu und Halbach-Stiftung gefördert. heren Arbeiten hat Wiese sich bereits mit am gegenwärtigen jüdisch-christlichen und Die Konferenz steht im Zusammen- sammlung stellten Monica Kingreen, Gott- erweisen. Das Frankfurter Forschungsumfeld hat dem Verhältnis von jüdischer Religions- jüdisch-islamischen Gespräch«. hang mit einem Ausstellungsvorhaben fried Kößler, Dr. Wolfgang Geiger und Man- Unser Dank gilt allen Vereinsmitglie- den 49-jährigen Wissenschaftler zur Rück- philosophie und allgemeiner Philosophie Martin Buber (1878–1965), nach dem des Fritz Bauer Instituts. Die Ausstellung fred Levy anschaulich und überzeugend die dern und Freunden für ihre nachhaltige Un- kehr nach Deutschland bewogen: »Aus- im Spannungsfeld von Religion und Säku- diese 1989 von der Evangelischen Kirche in wird im März 2012 im Jüdischen Muse- Arbeit und die Projekte des Pädagogischen terstützung im vergangenen Jahr. schlaggebend war für mich die Aussicht auf larismus beschäftigt: »Hans Jonas, der sich Hessen und Nassau gestiftete und zunächst um Frankfurt am Main eröffnet werden. Zentrums des Fritz Bauer Instituts und des intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit selbst nie als jüdischer Philosoph gesehen auch fi nanzierte Professur für jüdische Phi- Die Konferenz ist öffentlich, die Teilnah- Jüdischen Museums Frankfurt am Main vor. Brigitte Tilmann (Vorsitzende) innerhalb des Fachbereichs evangelische hat, hat dennoch eine Fülle von Anregun- losophie benannt wurde, war der erste Leh- me kostenlos. Das vollständige Konfe- Die anschließende Diskussion zeigte, wie Für den Vorstand Theologie mit der Philosophie, mit den Is- gen für eine jüdische Religionsphilosophie rer für jüdische Theologie an der Frankfur- renzprogramm ist zu fi nden unter: www. groß das Interesse der Fördermitglieder an lamischen Studien und vor allem mit der Ju- gegeben«, so Wiese. Geplant sind weitere ter Universität. Von 1924 bis 1929 zunächst fritz-bauer-institut.de/fileadmin/down- dieser Arbeit ist. Näheres zum Pädagogi- daistik und dem Fritz Bauer Institut für Ho- Projekte zum Verhältnis jüdischer und nicht- Lehrbeauftragter, wurde er 1930 zum Hono- loads/2011-03-27_axel-springer_fl yer.pdf. schen Zentrum fi nden Sie auch in diesem locaustforschung. Darüber hinaus sehe ich jüdischer Elemente im Denken prominenter rarprofessor für Religionswissenschaft er- Ein ausführlicher Bericht über die Konfe- Heft (S. 108) oder unter www.pz-ffm.de. Aus Kultur und Wissenschaft mit dem Jüdischen Museum und der Univer- Philosophen des 20. Jahrhundert, zu denen nannt, weil er Leiter eines interreligiösen In- renz erscheint in Einsicht 06. Ein immer wiederkehrendes Thema sitätsbibliothek mit ihrem Sondersammelge- auch die Frankfurter Theodor W. Adorno stituts werden sollte. Die Nationalsozialisten – nämlich die Suche nach Möglichkeiten Neue Impulse für den Dialog biet Judaica vielfältige Anknüpfungspunk- und Max Horkheimer zählen. vereitelten 1933 die Weiterentwicklung des TeilnehmerInnen: Michael Behrent, Dmitrij Belkin, zur Werbung neuer Mitglieder – stand auch der Religionen und Kulturen te für wissenschaftliche Kooperationen.« Wiese, der nach seinem Studium in fortschrittlichen Projekts an der Frankfurter Daniel Cohn-Bendit, Norbert Frei, Raphael Gross, diesmal im Zentrum der Mitgliederver- Seine bisherigen Forschungsprojekte und Tübingen, Jerusalem, Bonn und Heidelberg Universität, wo fast zehn Jahre unter dem Georg M. Hafner, Michael Hochgeschwender, Christian Wiese übernimmt sammlung. Zwar hat erfreulicherweise im umfangreichen Publikationen widmen sich 1993 an der Goethe-Universität zum Thema Dach der Philosophischen Fakultät jüdische, Christina von Hodenberg, Klaus Kocks, Werner Martin-Buber-Professur Konitzer, Wolfgang Kraushaar, Gudrun Kruip, Erik letzten Jahr die Zahl der Neueintritte die der Themen der deutsch-jüdischen und europä- »Wissenschaft des Judentums und protes- katholische und protestantische Theologen Lindner, Christian Plöger, Avi Primor, Ulrich W. Austritte überstiegen, dennoch müssen wir isch-jüdischen Geschichte seit der Aufklä- tantische Theologie im Wilhelminischen und Religionswissenschaftler gemeinsam Sahm, Esther Schapira, Thomas Schmid, Jochen mit Besorgnis feststellen, dass die Mitglie- Die traditionsreiche Mar- rung, der jüdischen Geistesgeschichte und Deutschland. Ein ›Schrei ins Leere‹?« pro- gelehrt und geforscht hatten. Staadt, Stefan Wolle derzahl – auch altersbedingt – zurückgeht. tin-Buber-Professur für Religionsphilosophie der Moderne und der movierte, will zudem in der Ausbildung von Deshalb die dringende Bitte an Sie als Mit- jüdische Religionsphilosophie an der Goe- amerikanisch-jüdischen Geschichte. Nachwuchswissenschaftlern neue Akzente Kontakt glieder und Förderer, aktiv zu werden und the-Universität Frankfurt am Main sucht Darüber hinaus erforscht Wiese intensiv setzen; er plant unter anderem eine Summer Prof. Dr. Christian Wiese jedes Jahr zumindest ein neues Mitglied zu an deutschen Universitäten ihresgleichen; die geistigen Grundlagen des jüdischen Na- School für Promovenden zum Thema »Jü- Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie Aus dem Förderverein werben. Wir wissen, wie schwer es ange- lediglich an der Hochschule für Jüdische tionalismus und der Auseinandersetzungen dische Geschichte in Europa«, an der auch Fachbereich Evangelische Theologie sichts wirtschaftlich instabiler Zeiten ist, die Studien in Heidelberg gibt es einen ähnlich zwischen Judentum und Christentum seit junge Wissenschaftler anderer Universitäten Tel.: 069.798 333 13 Mitteilungen Bereitschaft zu wecken, sich dauerhaft in ausgerichteten Lehrstuhl. Seit Beginn des dem Mittelalter. »An einigen dieser Themen teilnehmen können. Außerdem wird er sei- [email protected] Bericht des einem Förderverein zu engagieren – trotz Wintersemesters 2010/11 lehrt und forscht werde ich auch in den kommenden Jahren ne internationalen Forschungskooperatio- Vereinsvorstands eines moderaten Jahresbeitrags. Aber die nun der Religionswissenschaftler, Theologe weiterarbeiten. Ein Beispiel: Ich plane Bio- nen mit europäischen, amerikanischen und Mühe lohnt! Die Arbeit des Fritz Bauer In- und Judaist Prof. Dr. Christian Wiese am grafi en zu wichtigen Vertretern des von Mar- israelischen Universitäten einbringen, um stituts ist nach wie vor hoch aktuell und das Fachbereich Evangelische Theologie; er tin Buber beeinfl ussten ›Prager Kreises‹, zu Drittmittelprojekte einzuwerben und um Aus Kultur und Wissenschaft In der diesjährigen Mitglie- Interesse an den aufgegriffenen Themenbe- wurde bereits im vergangenen Jahr auf die dem jüdische Studierende – unter ihnen auch Nachwuchswissenschaftler in das interna- derversammlung am 29. reichen – gerade auch bei jungen Menschen Martin-Buber-Professur berufen. Der inter- Franz Kafka – gehörten und die mit ihrem tionale Forschernetz einzubeziehen. Wieses Online-Module Januar 2011 im IG Farben-Haus auf dem – erfreulich intensiv. Das Fritz Bauer Institut national renommierte Forscher wird dem Konzept des Kulturzionismus und des ›heb- Lehrveranstaltungen an der Goethe-Univer- Jüdisches Leben in Campus Westend der Goethe-Universität verdient und benötigt unsere kontinuierliche Dialog der Religionen und Kulturen, wie ihn räischen Humanismus‹ eine Erneuerung des sität sind für Studierende aus unterschied- Deutschland nach 1945 Frankfurt am Main stand turnusmäßig die Unterstützung. die Stiftungsuniversität seit der Gründung Judentums in Europa anstrebten«, erläutert lichen Disziplinen offen. »Das Frankfurter Wahl des Vorstandes an. Alle Vorstands- Der Vorstand hat sich im letzten Jahr pfl egt, weitere Impulse geben. Wiese. Zurzeit beschäftigt er sich beson- Konzept in den Theologien und der Religi- mitglieder hatten sich bereit erklärt, erneut vielfältig engagiert, um die Arbeit des Fritz »Wir können uns sehr glücklich schät- ders mit dem umfangreichen Nachlass des onswissenschaft kommt meinem interdis- Jüdisches Leben wird in zu kandidieren, weitere Vorschläge gab es Bauer Instituts in der Öffentlichkeit bekannt zen, dass wir mit Professor Wiese einen ex- Journalisten und Historikers Robert Weltsch ziplinären Verständnis sehr entgegen, die Deutschland häufi g nur im nicht. Alle Kandidaten wurden wiederge- zu machen und für den Förderverein zu wer- zellenten Wissenschaftler für unsere Univer- (1891–1982), der auch enge Beziehungen zu jüdische Religionsphilosophie kann hier Zusammenhang mit dem Nationalsozialis- wählt. Dem Vorstand gehören somit wie ben. Anfang Februar 2010 besuchten zwei sität gewinnen konnten, der bisher am Centre Martin Buber unterhielt. »Im Spiegel von einen wichtigen Part übernehmen«, sagt der mus und dem Holocaust gedacht. Dabei gab bisher an: Brigitte Tilmann als Vorsitzende, Vorstandsmitglieder zusammen mit Werner for German-Jewish Studies an der Universität Weltschs Leben lassen sich entscheidende Theologe. Nicht zuletzt überzeugte ihn bei es ein vielfältiges und reichhaltiges kulturel- Gundi Mohr als stellvertretende Vorsitzende Renz den Demjanjuk-Prozess in München, Sussex wirkte und in den vergangenen Jah- historische Entwicklungen des deutschen seinem Wechsel von Sussex nach Frankfurt les jüdisches Leben vor dem Beginn der sys- und Schatzmeisterin, Prof. Dr. Eike Hennig außerdem wurden Vorträge gehalten und an ren vielfältige internationale Kontakte ge- Judentums und des deutsch-jüdischen Exils die stark auf Religionsdialog ausgerichtete tematischen Ausgrenzung und Verfolgung als Schriftführer sowie Dr. Rachel Heuber- Podien teilgenommen. Für dieses Jahr plant knüpft hat«, freut sich Vizepräsident Prof. im 20. Jahrhundert schildern.« Ein weiteres Orientierung des Fachbereichs Evangelische ab 1933 – und gibt es auch heute wieder.

114 Nachrichten und Berichte Einsicht 05 Frühjahr 2011 115 Ausstellungsangebote Wanderausstellungen des Fritz Bauer Instituts

»Lernen aus der Geschichte« möchte mit Aus Kultur und Wissenschaft stätte Wolfenbüttel). Dabei knüpft er nicht einem Online-Modul die Vielfalt jüdischen nur ideell an das Werk Fritz Bauers an. 1984 Lebens in Deutschland nach 1945 aufzeigen. Dr. Helmut Kramer veröffentlicht er seinen wohl folgenschwers- Das Modul gliedert sich insgesamt in vier Fritz-Bauer-Preisträger 2010 ten Aufsatz über die Beteiligung von Juristen Bausteine: an der »«, dem nationalsozialisti- › Jüdische Displaced Persons schen Programm zur Vernichtung »unwerten › Jüdisches Leben in der DDR Der Fritz-Bauer-Preis 2010 Lebens«. Aufbauend auf Voruntersuchungen › Jüdische Einwanderung nach 1989 wurde am 9. Oktober 2010 Bauers – das Verfahren wurde nach dessen › Jüdische Identitäten in der NS-Dokumentationsstätte der Stadt Tod still beendet – dokumentierte Kramer, In jedem dieser Bausteine fi nden sich Köln an den Richter und Rechtshistoriker wie 1941 alle OLG-Präsidenten und Gene- Einführungs- und Hintergrundtexte, Au- Dr. Helmut Kramer verliehen. Mit dem ralstaatsanwälte dabei halfen, die massen- diointerviews, Aufgaben, Link- und Buch- Fritz-Bauer-Preis würdigt die Humanisti- hafte Verschleppung und den Mord behin- tipps. Für die pädagogische Arbeit gibt sche Union herausragende Verdienste um derter Menschen juristisch abzusichern. es zusätzliches Material und Anleitungen die Humanisierung, Liberalisierung und Die Beschäftigung mit früherem Unrecht ist sowie Weiterbildungsangebote zur Einbin- Demokratisierung des Rechtswesens. Den für Helmut Kramer keine Frage der Vergan- dung der Module in den Unterricht oder zum Preis erhalten Menschen, die sich unerschro- genheit, sondern immer auf die Gegenwart Legalisierter Raub Einsatz in Workshops und bei Projekttagen. cken für eine gerechte und humane Gesell- ausgerichtet. 15 Jahre lang leitet er die Som- Der Fiskus und die Ausplünderung Manfred Levy vom Pädagogischen Zentrum schaft eingesetzt haben, deren Zivilcourage mertagungen der Deutschen Richterakade- der Juden in Hessen 1933–1945 des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Vorbild und Ansporn für bürgerrechtliches mie zur NS-Justiz, gründet 1999 sein Forum Museums Frankfurt ist mit einem Beitrag Engagement ist. Er wird im Gedenken an Justizgeschichte. Zu den Lehren aus der Ver- zum Baustein »Jüdische Identitäten« in dem Dr. Fritz Bauer, den 1968 verstorbenen hes- gangenheit gehört für Helmut Kramer auch Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Rundfunks, weitverbreitete antisemitische Klischees Modul vertreten. sischen Generalstaatsanwalt und Mitbegrün- ein solidarisches Verständnis des Rechts. Mit mit Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen zurückgreifen, insbesondere auf das Bild Das Internetportal »Lernen aus der der der Humanistischen Union verliehen. einer Selbstanzeige und einem Verfahren bis und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst vom »mächtigen und reichen Juden«, der Geschichte« plant, die bisher vorliegenden Bauer war es, der die Verfolgung national- vor das Bundesverfassungsgericht erreicht er sein Vermögen mit List und zum Scha- vier thematischen Bausteine sukzessive zu sozialistischer Verbrechen ermöglichte und 2008 schließlich die Aufhebung des Rechts- den des deutschen Volkes erworben ha- ergänzen und weitere Aspekte, wie zum Bei- gegen zahlreiche Widerstände in der jungen beratungsgesetzes. Er öffnet damit den von 1. September bis 30. November 2011 Die Ausstellung gibt einen Einblick in die be. Vor diesem Hintergrund zeichnet das spiel die Zeit in der BRD zwischen 1949 Bundesrepublik durchsetzte. ihm beratenen Totalverweigerern, vielen Main-Kinzig-Forum Geschichte des legalisierten Raubes, in die 2. Kapitel die Stufen der Ausplünderung und und 1989, aufzunehmen. Die Online-Mo- Für seine Initiativen zur Aufarbeitung Minderheiten und sozialen Bewegungen ei- Barbarossastr. 24, 63571 Gelnhausen Biografi en von Tätern und Opfern. Die ein- die Rolle der Finanzbehörden in den Jahren dule wurden ermöglicht durch die fi nanzi- der jüngeren Justizgeschichte, für sein En- nen leichteren Zugang zum Recht. leitenden Tafeln stellen Franz Soetbeer, Wal- von 1933 bis 1941 nach. Im nachgebauten elle Förderung des Leo Baeck Programms gagement gegen das Rechtsberatungsgesetz Unter den bisherigen Fritz-Bauer-Preis- Öffnungszeiten, Führungen, Begleitprogramm ter Mahr, Artur Lauinger, Paul Graupe, Alex- Zimmer eines Finanzbeamten können die Aus- und der Brandenburgischen Landeszentrale und nicht zuletzt in Anerkennung seiner frie- trägern sind: Helga Einsele (1969), Gustav Ausführliche Informationen zur Ausstellung ander Fiorino, Fritz Reinhardt, Martin Buber, stellungsbesucher in Aktenordnern blättern: fi nden Sie auf unserer Website: für politische Bildung. Das Webportal wird denspolitischen Bemühungen vergibt die Hu- Heinemann (1970), Birgitta Wolf (1971), www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html Waldemar Kämmerling sowie die Familien Sie enthalten unter anderem Faksimiles jener durch die Stiftung »Erinnerung, Verantwor- manistische Union in diesem Jahr ihre höchs- Peggy Parnass (1980), Günter Grass (1997), Guthmann, Cahn, Grünebaum, Reinhardt, Vermögenslisten, die Juden vor der Depor- tung und Zukunft« gefördert. te Auszeichnung an den früheren Richter am Dieter Schenk (2003), Burkhard Hirsch Bisherige Ausstellungsstationen Pacyna und Goldmann mit ihren Lebens- tation ausfüllen mussten, um den Finanzbe- Link zu den Online-Modulen: www. Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig. (2006) und Klaus Waterstradt (2008). Rotenburg an der Fulda, Korbach (2010) geschichten bis zum Jahr 1933 vor. Ihnen hörden die »Verwaltung und Verwertung« Limburg (2008) lernen-aus-der-geschichte.de/Online-Ler- Helmut Kramer hat sich der Aufhebung Felsberg/Schwalm-Eder-Kreis (2007) allen begegnet der Ausstellungsbesucher im ihrer zurückgelassenen Habseligkeiten zu nen/Online-Module/all. Abonnement des nationalsozialistischen Unrechts auf allen Helmut Kramer, geb. 1930, Dr. jur., Rich- Hanau, Groß-Gerau, Friedberg (2006) Hauptteil wieder, der – ausgehend von den erleichtern. Weitere Tafeln beschäftigen sich Magazins »Lernen aus der Geschichte«: Ebenen verschrieben: Sein Name steht glei- ter am Oberlandesgericht i.R., Studium Berlin, Offenbach am Main (2005) Biografi en und zu ihnen zurückkehrend – auf mit den kooperierenden Interessengruppen http://lernen-aus-der-geschichte.de/drupal/ chermaßen für die Rehabilitierung der Opfer der Geschichte und Rechtswissenschaft in Wiesbaden, Wetzlar, Kassel, Fulda (2004) Tafeln und in Vitrinen erzählt, wie sich die in Politik und Wirtschaft, aber auch mit Darmstadt, Gießen (2003) Lernen-und-Lehren/Magazin/Abonnieren (Wiederaufnahmeverfahren Erna Wazinski), Göttingen und Freiburg, 1984–1989 Vertre- Frankfurt am Main, Marburg (2002) Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung dem »deutschen Volksgenossen« als Profi - für die lokalhistorische Dokumentation der tungsprofessur an der Universität Bremen, vollzog, was sie für die Opfer bedeutete und teur. Schließlich wird nach der sogenannten Kontakt Verbrechen (Ausstellung »Braunschweig Mitbegründer und bis 2006 Vorsitzender des Weitere Ausstellungsstationen wer die Täter waren. Wiedergutmachung gefragt: Wie ging die Lernen aus der Geschichte e.V. unterm Hakenkreuz«), für die Aufdeckung Forums Justizgeschichte e.V. Vom 27. Januar bis zum 5. April 2012 wird die Die Tafeln im Hauptteil der Ausstel- Rückerstattung in Hessen und Berlin vor c/o Institut für Gesellschaftswissenschaften Ausstellung in Eschwege gezeigt. und historisch-politische Bildung personeller Kontinuitäten in der bundesdeut- Voraussichtlich ab April bis Ende Juni 2012 wird lung entwickeln die Geschichte der Täter- sich, wie erfolgreich konnte sie angesichts Technische Universität Berlin schen Justiz (Affäre Puvogel), die Aufhebung Kontakt sie in Butzbach zu sehen sein. gesellschaft, die mit einem Rückblick auf der gesetzlichen Ausgangslage und der weit- Ingolf Seidel (Redakteur) des NS-Unrechts (Rehabilitierungsgesetze Humanistische Union e.V. die Zeit vor 1933 beginnt: Die Forderung gehend ablehnenden Haltung der Bevölke- Franklinstraße 28/29, 10587 Berlin 1998 und 2009) und die rechtshistorische Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin nach einer Enteignung der Juden gab es rungsmehrheit sein? Tel: 030.314 731 43 Tel.: 030.204 502-56, Fax: -57 [email protected] Bildungsarbeit (Fortbildungen der Richter- [email protected] nicht erst seit der Machtübernahme der Na- Im Zentrum der Ausstellung stehen Vit- www.lernen-aus-der-geschichte.de akademie, Forum Justizgeschichte, Gedenk- www.humanistische-union.de tionalsozialisten. Sie konnten vielmehr auf rinen, die die Geschichten der Opfer erzählen:

116 Nachrichten und Berichte Einsicht 05 Frühjahr 2011 117 von Erich Ochs aus Hanau, von Frieda, Ju- Die IG Farben und das Ein Leben aufs neu lius, Leopold und Johanna Kahn aus Groß- Benno Hafeneger KZ Buna/Monowitz Das Robinson-Album Benno Hafeneger Gerau, von Familie Popper aus Kassel, von Strafen, prügeln, Wirtschaft und Politik DP-Lager: Juden auf deut- Strafen, Familie Grünebaum aus Espa und vielen an- missbrauchen Gewalt in der Pädagogik prügeln, deren. Manche Vitrinen zeigen neben Doku- im Nationalsozialismus schem Boden 1945–1948 missbrauchen menten und Fotografi en kleine Objekte wie Gewalt etwa den Klavierauszug, der Gertrud Lands- Das Konzentrationslager Die Ausstellung porträtiert in der Pädagogik berg gehört hat. Sie sind durch Zufälle, der IG Farbenindustrie AG das tägliche Leben und die dramatische und gelegentlich wundersame in Auschwitz ist bis heute ein Symbol für die Arbeit der Selbstverwaltung eines Lagers Umstände erhalten geblieben oder auch Kooperation zwischen Wirtschaft und Poli- für jüdische Displaced Persons in der ame- Brandes & Apsel Jahrzehnte später wiedergefunden worden. tik im Nationalsozialismus bis hinein in die rikanischen Besatzungszone: das DP-Lager Die Ausstellung wandert seit dem Jahr Vernichtungslager. Die komplexe Geschichte Frankfurt- Zeilsheim. Der Fotograf Ephraim 148 S., Pb., € 14,90, ISBN 978-3-86099-703-1 2002 sehr erfolgreich durch Hessen. Da für dieser Kooperation, ihre Widersprüche, ihre Robinson, der selbst als DP in Zeilsheim Der Autor nimmt die aktuellen Gewalt- jeden Präsentationsort neue regionale Vitri- Entwicklung und ihre Wirkung auf die Nach- war, fertigte nach seiner Einwanderung in und Missbrauchsphänomene in pädago- nen entstehen, die sich mit der Geschichte kriegszeit (die Prozesse und der bis in die Ge- die USA ein Album an. Über das vertraut gischen Einrichtungen auf und setzt sich des legalisierten Raubes im Ausstellungsort genwart währende Streit um die IG Farben in scheinende Medium des Albums führt die mit ihnen systematisch auseinander. Er beschäftigen, »wächst« die Ausstellung. Wa- Liquidation), wird aus unterschiedlichen Per- Ausstellung in ein den meisten Menschen zeigt kultur- und erziehungshistorische Ideologien einer Pädagogik, die züchtigt, ren es bei der Erstpräsentation 15 Vitrinen, spektiven dokumentiert. Strukturiert wird die unbekanntes und von vielen verdrängtes straft und sexuell misshandelt. die die Geschichten der Opfer erzählten, Ausstellung durch Zitate aus der Literatur der Kapitel der deutschen und jüdischen Nach- sind es heute weit über 60. Sie entstehen auf Menschenmenge bei einer Versteigerung von enteignetem Hausrat deportierter Juden in der Gegend von Hanau, Überlebenden, die zu den einzelnen Themen kriegsgeschichte ein: Fotografi en von Fa- der Basis weiterer Recherchen und an man- ca. 1942. Der Fotograf, Franz Weber, war von 1935 bis 1966 Leiter der Hanauer Bildstelle. Foto: Bildstelle Hanau die Funktion der einführenden Texte überneh- milienfesten und Schulunterricht, Arbeit in Helga Krohn chen Orten in Zusammenarbeit mit Schüle- men. Als Bilder werden Reproduktionen der den Werkstätten, Sporttourneen, Zeitungen Helga Krohn rinnen und Schülern. Für die Präsentation im Fotografi en verwendet, die von der SS anläss- und Theater, Manifestationen eines »lebn »Es war richtig, »Es war wieder anzufangen« richtig, wieder Deutschen Historischen Museum in Berlin Publikationen zur Ausstellung lich des Besuchs von Heinrich Himmler in afs nay«, das den Schrecken nicht vergessen Burk und Dietrich Wagner, Hessischer Rundfunk, Juden in Frankfurt am Main seit 1945 anzufangen« wurden neben dem neuen regionalen Vitri- › Legalisierter Raub – Katalog zur Ausstellung 2002. DVD, Laufzeit: 45 Min., € 14,99 Auschwitz am 17. und 18. Juli 1942 ange- macht. Reihe selecta der Sparkassen-Kulturstiftung Hes- Der Film ist in der Ausstellung und über den Juden in Frankfurt nen-Schwerpunkt auch Ausstellungstafeln fertigt wurden. Die Bildebene erzählt also Ein gemeinsames Projekt des Fritz am Main seit 1945 zu den Berliner Finanzämtern sowie zum sen-Thüringen, Heft 8, 3. Aufl . 2008, 72 S., € 5,–. hr-Shop im Hessischen Rundfunk erhältlich: durchgängig die Tätergeschichte, der Blick Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Der Katalog ist in der Ausstellung zu erwerben. www.hr-shop.de Thema »Wiedergutmachung« hinzugefügt. › Legalisierter Raub – Materialmappe zur Vor- und auf die Fabrik und damit die Technik stehen München (Maximilianstr. 36, 1989–1998). Nachbereitung des Ausstellungsbesuchs. Ausstellungskonzept im Vordergrund. Die Text ebene hingegen Zur Ausstellung erschienen: Jacqueli- Hrsg. von der Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung zu Dr. Bettina Leder-Hindemith (Hessischer Rundfunk), wird durch die Erzählung der Überlebenden ne Giere, Rachel Salamander (Hrsg.), Ein Brandes & Apsel Lich und dem Fritz Bauer Institut. Gießen: Book- Dr. Susanne Meinl, Katharina Stengel und bestimmt, wenn auch häufi g ein Thema aus Leben aufs neu. Das Robinson-Album. 360 S., Frz. Br., € 29,90, ISBN 978-3-86099-691-1 xpress-Verlag der Druckwerkstatt Fernwald, 2002, Stephan Wirtz (Fritz Bauer Institut) € 8,50. Einzelexemplare können (zzgl. € 1,30 der Sicht von Überlebenden und Tätern be- DP-Lager: Juden auf deutschem Boden »Es war richtig, wieder anzufangen«, Versand) bezogen werden über: Bookxpress-Verlag Pädagogische Begleitung handelt wird. Die gesamte Ausstellung ist als 1945–1948. Schriftenreihe des Fritz Bauer sagte Ignatz Bubis bei der Einweihung der Druckwerkstatt Fernwald, Hauptstraße 26, Gottfried Kößler und Katharina Stengel Montage im fi lmischen Sinn angelegt. Der Instituts, Band 8, Verlag Christian Brand- des Jüdischen Gemeindezentrums 1986. 35463 Fernwald, [email protected], Betrachter sucht sich die Erzählung selbst stätter, Wien 1995, 128 S., 133 Abb. (leider Erst Jahrzehnte nach der Vertreibung und www.druckwerkstatt-fernwald.de Ausstellungsausleihe aus den Einzelstücken zusammen. Um die- vergriffen). Vernichtung in der NS-Zeit wagten Juden, Die Materialmappe kann von Schulen unentgeltlich Die Ausstellung kann weiter ausgeliehen werden. ihre Zukunft in Deutschland wieder als angefordert werden: Ernst-Ludwig Chambré-Stif- Sie besteht aus circa 60 Rahmen (Format: 100 x 70 se Suche zu unterstützen, werden in Heftern gesichert anzusehen. Frankfurts jüdischer tung, c/o Dr. Klaus Konrad-Leder, Birkenstraße 37, cm), 15 Vitrinen, 6 Einspielstationen, 2 Installationen Quellentexte angeboten, die eine vertiefen- Gemeinde und ihren einflussreichen 35428 Langgöns, [email protected] und Lesemappen zu ausgesuchten Einzelfällen. Für Ausstellungsausleihe de Lektüre ermöglichen. Daneben bietet das Persönlichkeiten kam eine besondere › Susanne Meinl, Jutta Zwilling: Legalisierter Raub. jede Ausstellungsstation besteht die Möglichkeit, Unsere Wanderausstellungen können gegen Gebühr Fritz Bauer Institut einen Reader zur Vorbe- Rolle beim Wiederbeginn zu. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialis- interessante Fälle aus der Region in das Konzept zu ausgeliehen werden. Das Institut berät Sie gerne bei mus durch die Reichsfi nanzverwaltung in Hessen. übernehmen. reitung der Ausstellung an. der Organisation des Begleitprogramms und bei der Reichhaltig illustriert und mit Auszügen Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Die Ausstellung besteht aus 57 Rahmen Suche nach geeigneten Referenten. Weitere Informati- aus Erinnerungen und Interviews versehen, Band 10, Frankfurt am Main, New York: Campus Kontakt (Format: 42 x 42 cm) sowie einem Lageplan onen und ein Ausstellungs angebot senden wir Ihnen wendet sich Krohn an eine historisch inter- Verlag, 2004, 748 S., € 44,90 Fritz Bauer Institut, Katharina Stengel auf Anfrage zu. essierte Öffentlichkeit. › Katharina Stengel (Hrsg.): Vor der Vernichtung. Tel.: 069.798 322-40, [email protected] des Lagers Buna/Monowitz und der Stadt Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalso- Hessischer Rundfunk, Dr. Bettina Leder-Hindemith Auschwitz/Oświęcim. zialismus. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Tel.: 069.155-403 8, [email protected] Konzeption: Gottfried Kößler, Recher- Kontakt Besuchen Sie uns auch im Bauer Instituts, Band 15, Frankfurt am Main, che: Werner Renz, Gestaltung: Werner Lott. Fritz Bauer Institut Internet mit weiteren Titeln New York: Campus Verlag, 2007, 336 S., € 24,90 Weitere Informationen Dr. Katharina Rauschenberger zum jüdischen Leben: www.brandes-apsel-verlag.de › D ER GROSSE RAUB. WIE IN HESSEN DIE JUDEN www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html Unterstützt von: Conference on Jewish Ma- Tel.: 069.798 322-26, Fax: 069.798 322-41 AUSGEPLÜNDERT WURDEN. Ein Film von Henning www.legalisierter-raub.hr-online.de terial Claims Against Germany, New York. [email protected]

118 Ausstellungsangebote Einsicht 05 Frühjahr 2011 119 Impressum Fördern Sie mit uns das Nachdenken

Kontakt: über den Fritz Bauer Institut Grüneburgplatz 1 Holocaust D-60323 Frankfurt am Main Telefon: +49 (0)69.798 322-40 Telefax: +49 (0)69.798 322-41 [email protected] www.fritz-bauer-institut.de

Bankverbindung: Frankfurter Sparkasse Generalstaatsanwalt Fritz Bauer BLZ: 500 502 01, Konto: 321 901 Foto: Schindler-Foto-Report IBAN DE91 5005 0201 0000 3219 01 BIC/SWIFT Code: HELADEF1822 Steuernummer: 45 250 8145 5 - K19 Einsicht 05 Finanzamt Frankfurt am Main III Bulletin des Fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist am 13. Vorstand des Fördervereins Direktor: Raphael Gross (V.i.S.d.P.) Januar 1995 in Frankfurt am Main die Stiftung »Fritz Bauer Institut, Brigitte Tilmann (Vorsitzende), Gundi Mohr (stellvertretende Vor- Fritz Bauer Instituts Redaktion: Werner Konitzer, Werner Lott, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung sitzende und Schatzmeisterin), Dr. Diether Hoffmann (Schriftführer), Jörg Osterloh, Katharina Rauschenberger, des Holocaust« gegründet worden – ein Ort der Ausein-andersetzung Prof. Dr. Eike Hennig, Dr. Rachel Heuberger, Herbert Mai, Klaus Frühjahr 2011 Werner Renz unserer Gesellschaft mit der Geschichte des Holocaust und seinen Schilling, David Schnell 3. Jahrgang Anzeigenredaktion: Dorothee Becker Auswirkungen bis in die Gegenwart. Das Institut trägt den Namen ISSN 1868-4211 Lektorat: Gerd Fischer, Renate Feuerstein Fritz Bauers, des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalts und Fördern Sie mit uns das Nachdenken über den Holocaust Gestaltung/Layout: Werner Lott Initiators des Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965 in Frankfurt am Der Förderverein ist eine tragende Säule des Fritz Bauer Instituts. Titelbild: Grafi sches Konzept: Surface – Main. Ein mitgliederstarker Förderverein setzt ein deutliches Signal bürger- Adolf Eichmannn vor Gericht. Gesellschaft für Gestaltung mbH schaftlichen Engagements, gewinnt an politischem Gewicht im Stif- Der Prozess in Jerusalem Herstellung: Druckerei Otto Lembeck Aufgaben des Fördervereins tungsrat und kann die Interessen des Instituts wirkungsvoll vertreten. Blick in den Gerichtssaal (1961): GmbH & Co. KG, Frankfurt am Main Der Förderverein ist im Januar 1993 in Frankfurt am Main gegrün- Zu den zahlreichen Mitgliedern aus dem In- und Ausland gehören Im Glaskasten der Angeklagte Eichmann; Erscheinungsweise: zweimal jährlich det worden. Er unterstützt die wissenschaftliche, pädagogische und engagierte Bürgerinnen und Bürger, bekannte Persönlichkeiten des in der unteren Reihe v.l.: der deutsche (April/Oktober) dokumentarische Arbeit des Fritz Bauer Instituts und hat durch das öffentlichen Lebens, aber auch Verbände, Vereine, Institutionen und Verteidiger Dr. Robert Servatius und der Aufl age: 5.500 ideelle und fi nanzielle Engagement seiner Mitglieder und zahlrei- Unternehmen sowie zahlreiche Landkreise, Städte und Gemeinden. israelische Generalstaatsanwalt Gideon cher Spender wesentlich zur Gründung der Stiftung beigetragen. Hausner (das Foto ohne Beschnitt sehen Manuskriptangebote: Er sammelt Spenden für die laufende Arbeit des Instituts und die Werden Sie Mitglied! Sie auf Seite 35). Textangebote zur Veröffentlichung in Erweiterung des Stiftungsvermögens. Er vermittelt einer breiten Jährlicher Mindestbeitrag: € 60,– / ermäßigt: € 30,– Foto: Süddeutsche Zeitung Photo Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts Öffentlichkeit die Ideen, Diskussionsangebote und Projekte des In- Unterstützen Sie unsere Arbeit durch eine Spende! bitte an die Redaktion. Die Annahme stituts, schafft neue Kontakte und sorgt für eine kritische Begleitung Frankfurter Sparkasse, BLZ: 500 502 01, Konto: 319 467 von Beiträgen erfolgt auf der Basis einer der Institutsaktivitäten. Für die Zukunft gilt es – gerade auch bei Werben Sie neue Mitglieder! Begutachtung durch die Redaktion. Für zunehmend knapper werdenden öffentlichen Mitteln –, die Arbeit Informieren Sie Ihre Bekannten, Freunde und Kollegen über die unverlangt eingereichte Manuskripte, und den Ausbau des Fritz Bauer Instituts weiter zu fördern, seinen Möglichkeit, sich im Förderverein zu engagieren. Fotos und Dokumente übernimmt das Bestand langfristig zu sichern und seine Unabhängigkeit zu wahren. Fritz Bauer Institut keine Haftung. Gerne senden wir Ihnen weitere Unterlagen mit Informationsmaterial Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust zur Fördermitgliedschaft und zur Arbeit des Fritz Bauer Instituts zu. Copyright: Seit 1996 erscheint das vom Fritz Bauer Institut herausgegebene © Fritz Bauer Institut Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust im Campus Stiftung bürgerlichen Rechts Verlag. In ihm werden herausragende Forschungsergebnisse, Reden Förderverein Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur und Kongressbeiträge zur Geschichte und Wirkungsgeschichte des Fritz Bauer Institut e.V. mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Holocaust versammelt, welche die internationale Diskussion über Einsicht erscheint mit Unterstützung des Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Massenverbrechen Grüneburgplatz 1 Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. refl ektieren und bereichern sollen. 60323 Frankfurt am Main Vorzugsabonnement: Mitglieder des Fördervereins können das ak- Telefon: +49 (0)69.798 322-39 tuelle Jahrbuch zum Preis von € 23,90 (inkl. Versandkosten) im Telefax: +49 (0)69.798 322-41 120 Impressum Abonnement beziehen. Der Ladenpreis beträgt € 29,90. [email protected] !NGELIKA"ENZ Jakub Poznański Wolfgang Benz E@=K>8J Der Henkersknecht UNDÂ)SLAMKRITIK± ?`jkfi`jZ_\9\[\lkle^#k\Z_e`jZ_\

4AGEBUCH AUSDEM'HETTO ,ITZMANNSTADT

wolfgang benz günter morsch · bertrand perz (Hrsg.) angelika benz jakub poznaski Antisemitismus und „Islamkritik“ Neue Studien zu nationalsozialistischen Der Henkersknecht Tagebuch aus dem Ghetto Litzmannstadt Bilanz und Perspektive Massentötungen durch Giftgas Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in München Herausgegeben und aus dem Polnischen ISBN 978-3-86331-012-7 Historische Bedeutung, technische Entwicklung, ISBN 978-3-86331-011-0 übersetzt von Ingo Loose ca. 200 Seiten · 19,– € revisionistische Leugnung ca. 200 Seiten · 19,– € ISBN 978-3-86331-015-8 Der weltweit renommierte Antisemitismus- ISBN 978-3-940938-99-2 Von November 2009 bis April 2011 steht 340 Seiten · 24,– € forscher zieht Bilanz aus seiner langjährigen XXXIV und 446 Seiten · 24,– € John (Iwan) Demjanjuk in München vor Ge- Im Ghetto Litzmannstadt waren über Beschäftigung mit aktueller Judenfeindschaft Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der richt – angeklagt der 27 900-fachen Beihilfe 200 000 Menschen eingesperrt. Die meis- und ihren historischen Wurzeln. Thema sind ersten umfassenden Studie zu NS-Massen- zum Mord, begangen 1943 im Vernichtungs- ten von ihnen wurden in Kulmhof und die vielfältigen Erscheinungsformen des An- tötungen durch Giftgas, verfasst u. a. von lager Sobibór. War der in einem Kriegsgefan- Auschwitz ermordet. Mit den Tagebüchern tisemitismus von der Holocaustleugnung bis den KZ-Überlebenden Eugen Kogon und genenlager rekrutierte -Mann wil- Jakub Poznańskis liegt nun eines der wich- zur Israelkritik. Von hier aus wird der Bogen Hermann Langbein, legen international aus- liger Handlanger der SS oder Massenmörder tigsten Zeugnisse zum Leben und Sterben in zur vergleichenden Vorurteilsforschung ge- gewiesene Wissenschaftler ihre Forschungen aus eigenem Antrieb? Angelika Benz hat den Litzmannstadt in deutscher Übersetzung vor. spannt. Damit gilt das Forschungsinteresse über die historischen Hintergründe und tech- Prozess beobachtet. Sie rekonstruiert die Ver- Für die Jahre 1941 bis 1945 protokolliert der auch der Diskriminierung von Sinti und nischen Voraussetzungen der Massenmorde handlungen, diskutiert die Frage der Verant- Autor Ghettoalltag, Zwangsarbeit, die De- Roma und der als „Islamkritik“ auftretenden und ihre konkrete Durchführung im Deut- wortung und zeigt Momentaufnahmen aus portationen in die Vernichtungslager und die Feindschaft gegen Muslime. schen Reich und den besetzten Gebieten vor. dem Gerichtssaal. Befreiung der wenigen Überlebenden.

(ANNES(EERÀ3VEN&RITZÀ(EIKE$RUMMERÀ*UTTA:WILLING Eva Szepesi

helmuth bauer Ein Mädchen Innere Bilder wird man nicht los Verstummte Stimmen Die Frauen im KZ-Außenlager Daimler-Benz Genshagen Emil Büge allein auf der $IE6ERTREIBUNGDERÂ*UDEN±UNDÂPOLITISCH5NTRAGBAREN± Flucht AUSDENHESSISCHEN4HEATERNBIS 1470 KZ-Geheimnisse Ungarn – Slowakei – Polen

Heimliche Aufzeichnungen aus der (1944–1945) Politischen Abteilung des KZ Sachsenhausen Dezember 1939 bis April 1943

ÜberLebenszeugnisse

Metropol helmuth bauer emil büge eva szepesi hannes heer · sven fritz · heike Innere Bilder wird man nicht los 1470 KZ-Geheimnisse Ein Mädchen allein auf der Flucht drummer und jutta zwilling Die Frauen im KZ-Außenlager Heimliche Aufzeichnungen aus der Ungarn – Slowakei – Polen (1944–1945) Verstummte Stimmen Daimler-Benz Genshagen Politischen Abteilung des KZ Sachsenhausen ISBN 978-3-86331-005-9 Die Vertreibung der „Juden“ und „politisch Untrag- ISBN 978-3-940938-88-6 Dezember 1939 bis April 1943 159 Seiten · 16,– € baren“ aus den hessischen Theatern 1933 bis 1945 Herausgegeben von Winfried Meyer 704 Seiten · 39,90 € Als die Deutschen im Frühjahr 1944 in Un- ISBN 978-3-86331-013-4 In der Genshagener Heide südlich von ISBN 978-3-86331-001-1 garn einmarschieren, beginnen Verfolgung ca. 380 Seiten · 24,– € Berlin wurde im Herbst 1944 der national- 480 Seiten · 24,– € und Ermordung der ungarischen Juden. Der Kampf des Bildungsbürgertums gegen sozialistische Kriegsmusterbetrieb Daimler- Als Häftling im KZ Sachsenhausen nutzt Die elfjährige Eva wird von ihrer Mutter in die verhasste Kunstmoderne und deren „art- Benz Genshagen zum KZ für 1100 Frauen Emil Büge seine Hilfstätigkeit in der Poli- die vermeintlich sichere Slowakei geschickt. fremde“ Träger machte 1933 die Massenver- aus Ravensbrück. Helmuth Bauer stellt den tischen Abteilung der KZ-Kommandantur: Von nun an lebt sie auf der Flucht. Gutwillige treibung von „Juden“ und „politisch Untrag- Dokumenten zur Unternehmensgeschich- Er macht heimlich Abschriften aus den Menschen verstecken das Mädchen, den- baren“ an deutschen Bühnen erst möglich. te Biografien, Fotos und Erinnerungen von Akten. Sie dokumentieren die Brutalität von noch wird sie gefasst und nach Auschwitz Durch das Zusammenspiel von Nationalso- Überlebenden gegenüber. Eine besondere Gestapo und SS, Einzelschicksale von Häft- verschleppt. Nach dem Krieg versucht Eva zialisten mit Konservativen gingen die „Säu- Würdigung erfahren Edit Kiss und der Zy- lingen und die Vernichtung ganzer Häftlings- Szepesi, das Erlebte zu verdrängen. Erst Jahr- berungen“ effektiv vonstatten. Am Beispiel klus Deportation, den die ungarische Bild- gruppen. Mehr als sechs Jahrzehnte nach den zehnte später bricht sie ihr Schweigen. Es be- von sechs hessischen Theatern zeigen die hauerin unmittelbar nach ihrer Befreiung Ereignissen werden Büges Aufzeichnungen ginnt ein mühevoller Prozess des Erinnerns Autoren erstmals die Vertreibungspraxis und gemalt hat. nun erstmals veröffentlicht. und des Niederschreibens. die Konsequenzen für die Opfer.

Ansbacher Straße 70 D–10777 Berlin Metropol Verlag Telefon (030) 23 00 46 23 Telefax (030) 2 65 05 18 www.metropol-verlag.de [email protected]