Plenarprotokoll 16/71

Deutscher

Stenografischer Bericht

71. Sitzung

Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Schaffung einer gesetzlichen Grund- neten Dr. ...... 7091 A lage für die Anti-Terror-Dateien un- ter Beibehaltung der Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten Tagesordnungspunkt 26: – zu dem Antrag der Abgeordneten a) – Zweite und dritte Beratung des von der Dr. , Gisela Piltz, Ernst Bundesregierung eingebrachten Ent- Burgbacher, weiterer Abgeordneter wurfs eines Gesetzes zur Errichtung und der Fraktion der FDP: Evaluie- gemeinsamer Dateien von Polizeibe- rung des Terrorismusbekämpfungs- hörden und Nachrichtendiensten gesetzes präziser gestalten des Bundes und der Länder (Ge- – zu dem Antrag der Abgeordneten meinsame-Dateien-Gesetz) Wolfgang Wieland, (Drucksachen 16/2950, 16/3292, (Köln), , wei- 16/3642, 16/3646) ...... 7091 B terer Abgeordneter und der Fraktion – Zweite und dritte Beratung des von der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bundesregierung eingebrachten Ent- Bessere Evaluierung der Anti-Ter- wurfs eines Gesetzes zur Ergänzung ror-Gesetze des Terrorismusbekämpfungsgeset- – zu dem Antrag der Abgeordneten zes (Terrorismusbekämpfungser- Wolfgang Wieland, Volker Beck gänzungsgesetz) (Köln), , weiterer Abge- (Drucksachen 16/2921, 16/3642, ordneter und der Fraktion des BÜND- 16/3646) ...... 7091 B NISSES 90/DIE GRÜNEN: Anti-Ter- b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- ror-Gesetze – Zeitliche Befristung nenausschusses beibehalten und Rechtsschutz der Betroffenen verbessern – zu dem Antrag der Abgeordneten , , , Kersten (Drucksachen 16/2624, 16/2071, 16/2671, Naumann und der Fraktion der LIN- 16/2072, 16/2081, 16/3642) ...... 7091 D KEN: Erhaltung des Trennungsge- bots – keine Errichtung gemeinsa- Ralf Göbel (CDU/CSU) ...... 7092 B mer Dateien von Polizeibehörden Gisela Piltz (FDP) ...... 7093 C und Nachrichtendiensten des Bun- des und der Länder Klaus Uwe Benneter (SPD) ...... 7095 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte (DIE LINKE) ...... 7097 B Wolfgang Wieland, Volker Beck Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ (Köln), Silke Stokar von Neuforn, wei- DIE GRÜNEN) ...... 7099 A terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Klaus Uwe Benneter (SPD) ...... 7100 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Clemens Binninger (CDU/CSU) ...... 7101 A d) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), , Irmingard Schewe- Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister Gerigk, weiterer Abgeordneter und der BMI ...... 7102 A Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Dr. Max Stadler (FDP) ...... 7103 D GRÜNEN: Gemeinsam gegen Aids – Verantwortung und Solidarität stärken Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) ...... 7104 D (Drucksache 16/3616) ...... 7113 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ e) Beschlussempfehlung und Bericht des DIE GRÜNEN) ...... 7105 D Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- Gisela Piltz (FDP) ...... 7106 B trag der Abgeordneten Dr. , Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 7108 A Hellmut Königshaus, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Sabine Leutheusser-Schnarrenberger der FDP: Den Südsudan beim Wieder- (FDP) ...... 7108 D aufbau unterstützen und vor AIDS be- Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) ...... 7109 B wahren (Drucksachen 16/586, 16/2364) ...... 7113 C (CDU/CSU) ...... 7110 A Dr. (SPD) ...... 7113 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 7115 B DIE GRÜNEN) ...... 7111 B Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) ...... 7116 A Clemens Binninger (CDU/CSU) ...... 7111 D Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 7116 D Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 7118 C Tagesordnungspunkt 27: Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, DIE GRÜNEN) ...... 7119 D Dr. Christian Ruck, Dr. , weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der , Parl. Staatssekretär CDU/CSU, der Abgeordneten Christel BMG ...... 7121 A Riemann-Hanewinckel, Dr. Wolfgang Detlef Parr (FDP) ...... 7121 B Wodarg, Dr. , weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD, der (CDU/CSU) ...... 7123 A Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Christian Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Ahrendt, (Münster), weiterer DIE GRÜNEN) ...... 7124 D Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Jens Spahn (CDU/CSU) ...... 7125 B Hoppe, Renate Künast, und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Christel Riemann-Hanewinckel (SPD) . . . . . 7126 A GRÜNEN: Welt-Aids-Tag 1. Dezember 2006 – Die besondere Verantwortung für Entwicklungsländer unterstreichen Tagesordnungspunkt 28: (Drucksache 16/3610) ...... 7113 A a) Antrag der Abgeordneten Rainder b) Antrag der Abgeordneten Jens Spahn, Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Annette Widmann-Mauz, , Nouripour, weiterer Abgeordneter und der weiterer Abgeordneter und der Fraktion Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE der CDU/CSU sowie der Abgeordneten GRÜNEN: Forderungen an die deutsche Peter Friedrich, Elke Ferner, Dr. Carola EU-Ratspräsidentschaft – Ratspräsi- Reimann, weiterer Abgeordneter und der dentschaft für eine zukunftsfähige EU Fraktion der SPD: Maßnahmen zur Be- nutzen kämpfung von HIV/Aids in Deutsch- (Drucksache 16/3327) ...... 7127 B land b) Antrag der Abgeordneten Hellmut (Drucksache 16/3615) ...... 7113 A Königshaus, Dr. Karl Addicks, , weiterer Abgeordneter und c) Antrag der Abgeordneten Dr. Karl der Fraktion der FDP: Die deutsche EU- Addicks, Hellmut Königshaus, Detlef Ratspräsidentschaft 2007 zur Reform Parr, weiterer Abgeordneter und der Frak- der Entwicklungszusammenarbeit der tion der FDP: Missfallen an der südafri- Europäischen Union nutzen kanischen Aids-Politik betonen und (Drucksache 16/2833) ...... 7127 C weitere deutsche Entwicklungszusam- menarbeit an Bedingungen knüpfen (Drucksache 16/3097) ...... 7113 B in Verbindung mit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 III

Zusatztagesordnungspunkt 4: Monika Grütters (CDU/CSU) ...... 7137 B Antrag der Abgeordneten Sabine Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . 7138 C Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 7139 B und der Fraktion der FDP: Justizpolitische Jörg Tauss (SPD) ...... 7140 B Agenda für die deutsche EU-Ratspräsi- dentschaft 2007 (Drucksache 16/3622) ...... 7127 C Tagesordnungspunkt 31: Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, DIE GRÜNEN) ...... 7127 D Kornelia Möller, Cornelia Hirsch, weiterer (Cottbus) (SPD) ...... 7129 A Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Ausbildungsplatzlücke schließen – Vor- Hellmut Königshaus (FDP) ...... 7130 B schlag des DGB aufgreifen (Drucksache 16/3540) ...... 7141 C (CDU/CSU) ...... 7131 D

Alexander Ulrich (DIE LINKE) ...... 7131 D Nächste Sitzung ...... 7141 D Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) ...... 7133 B

Anlage 1 Tagesordnungspunkt 29: Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7143 A a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Anlage 2 Gesetzes zur Änderung des Zweiten Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Buches Sozialgesetzbuch und des Finanzausgleichsgesetzes – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des (Drucksachen 16/3269, 16/3677, Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des 16/3678) ...... 7135 B Finanzausgleichsgesetzes – Zweite und dritte Beratung des von der – Beschlussempfehlung und Bericht: Bun- Bundesregierung eingebrachten Ent- desweite Mindeststandards für angemes- wurfs eines Gesetzes zur Änderung senen Wohnraum und Wohnkosten für des Zweiten Buches Sozialgesetz- Bezieherinnen und Bezieher von Arbeits- buch und des Finanzausgleichsgeset- losengeld II zes (Drucksachen 16/3572, 16/3677, (Tagesordnungspunkt 29 a und b) 16/3678) ...... 7135 B (CDU/CSU) ...... 7144 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 7144 D Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Angelika Krüger-Leißner (SPD) ...... 7145 C Bluhm, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Jörg Rohde (FDP) ...... 7146 B Fraktion der LINKEN: Bundesweite (DIE LINKE) ...... 7147 B Mindeststandards für angemessenen Wohnraum und Wohnkosten für Bezie- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ herinnen und Bezieher von Arbeitslo- DIE GRÜNEN) ...... 7148 A sengeld II Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär (Drucksachen 16/3302, 16/3677) ...... 7135 C BMAS ...... 7148 D

Tagesordnungspunkt 30: Anlage 3 Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (Frankfurt), Christoph Waitz, Jens des Antrags: National bedeutsames Kulturgut Ackermann, weiterer Abgeordneter und der wirksam schützen (Tagesordnungspunkt 30) Fraktion der FDP: National bedeutsames Kulturgut wirksam schützen Steffen Reiche (Cottbus) (SPD) ...... 7150 A (Drucksache 16/3137) ...... 7136 A Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 7136 B DIE GRÜNEN) ...... 7151 A IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Anlage 4 Patrick Meinhardt (FDP) ...... 7154 D Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung 7156 A des Antrags: Ausbildungsplatzlücke schlie- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ ßen – Vorschlag des DGB aufgreifen (Tages- DIE GRÜNEN) ...... 7156 C ordnungspunkt 31)

Michael Hennrich (CDU/CSU) ...... 7151 D Anlage 5 Dieter Grasedieck (SPD) ...... 7154 A Amtliche Mitteilungen ...... 7157 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7091

(A) (C) Redetext

71. Sitzung

Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Beginn: 9.02 Uhr

Präsident Dr. : Gisela Piltz Die Sitzung ist eröffnet. Dr. Max Stadler Ulla Jelpke Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie Wolfgang Wieland herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen. bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Heute feiert der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber sei- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung nen 71. Geburtstag. Er ist dennoch hier. – Drucksache 16/3646 – (Beifall) Berichterstattung: Lieber Kollege Riesenhuber, ich gratuliere Ihnen im Na- Abgeordnete Dr. Michael Luther men des ganzen Hauses und wünsche Ihnen alles Gute. (B) Ich vermute, dass bei den gestrigen Feierlichkeiten im Jürgen Koppelin (D) anderen Amt in der Parlamentarischen Gesellschaft schon eine ähnlich stattliche Anzahl von Kolleginnen und Kollegen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, Ihnen persönlich zu gratulieren. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf: – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Petra Pau, Jan Korte, Kersten Naumann und desregierung eingebrachten Entwurfs eines der Fraktion der LINKEN Gesetzes zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrich- Erhaltung des Trennungsgebots – keine tendiensten des Bundes und der Länder Errichtung gemeinsamer Dateien von Poli- (Gemeinsame-Dateien-Gesetz) zeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder – Drucksachen 16/2950, 16/3292 – – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang desregierung eingebrachten Entwurfs eines Wieland, Volker Beck (Köln), Silke Stokar von Gesetzes zur Ergänzung des Terrorismus- Neuforn, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN bekämpfungsgesetzes (Terrorismusbekämp- fungsergänzungsgesetz) Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für – Drucksache 16/2921 – die Anti-Terror-Dateien unter Beibehaltung der Trennung von Polizei und Nachrichten- aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- diensten ausschusses (4. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Max – Drucksache 16/3642 – Stadler, Gisela Piltz, , weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Berichterstattung: Abgeordnete Clemens Binninger Evaluierung des Terrorismusbekämpfungs- Klaus Uwe Benneter gesetzes präziser gestalten 7092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Udo Di Fabio setzen sich Freiheit und Sicherheit wech- (C) Wieland, Volker Beck (Köln), Silke Stokar von selseitig voraus und stärken sich, wenn beide angemes- Neuforn, weiterer Abgeordneter und der Frak- sen zur Entfaltung gelangen. In diesem Rahmen müssen tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN wir, um mit den Worten von Bundesminister Schäuble zu sprechen, das Menschenmögliche tun, um Anschläge Bessere Evaluierung der Anti-Terror- auf unser Land und die Menschen in unserem Land zu Gesetze verhindern. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang beiden Gesetzen den Rahmen der Verfassung beachtet Wieland, Volker Beck (Köln), Jerzy Montag, haben und bei der Gewährung des Schutzes für die Be- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des völkerung in unserem Land einen entscheidenden Schritt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN weiter kommen werden. Dies gilt insbesondere für die gemeinsame Datei. Anti-Terror-Gesetze – Zeitliche Befristung beibehalten und Rechtsschutz der Betroffe- Ich danke hier zu allererst Herrn Bundesminister nen verbessern Schäuble, – Drucksachen 16/2624, 16/2071, 16/2671, (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Zuallerst? Was 16/2072, 16/2081, 16/3642 – ist mit uns?) Berichterstattung: dem es nach langen Jahren des Streites gelungen ist, eine Abgeordnete Clemens Binninger gemeinsame Position der Innenminister zwischen Bund Klaus Uwe Benneter und Ländern zu erarbeiten. Dies hat die erfolgreiche Ar- Gisela Piltz beit erst ermöglicht. Dr. Max Stadler Ulla Jelpke (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wolfgang Wieland neten der SPD) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Mit der gemeinsamen Datei schaffen wir einen spe- die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich ziellen Informationsverbund der 38 Behörden des höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bundes und der Länder, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Und wann dan- der Kollege Ralf Göbel für die CDU/CSU-Fraktion. ken Sie uns, Herr Göbel?) (Beifall bei der CDU/CSU) deren Aufgabe die Bekämpfung des internationalen Ter- (B) rorismus ist. Unter sehr stark einschränkenden Voraus- (D) setzungen können weitere Behörden der Länder, denen Ralf Göbel (CDU/CSU): dauerhaft die Aufgabe zur Bekämpfung des internationa- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir len Terrorismus übertragen wird, an diesem Informa- debattieren heute abschließend über zwei wichtige Ge- tionsverbund teilnehmen. setze, die die Sicherheitsarchitektur in unserem Land verbessern werden. Zum einen ziehen wir die Konse- Ich denke, dies ist eine sachgerechte Lösung; denn sie quenz aus der Evaluierung des Terrorismusbekämp- lässt den Ländern Raum für konkrete Ausgestaltungen fungsgesetzes aus der vergangenen Wahlperiode und ihrer Organisationshoheit. Die Lösung ist auch angemes- verbessern die Möglichkeiten unserer Sicherheitsbehör- sen; denn die Bekämpfung des internationalen Terroris- den zur Bekämpfung des Terrorismus. Zum anderen ent- mus ist eine Aufgabe, die Bund und Länder nur gemein- scheiden wir heute über die Antiterrordatei, deren Auf- sam wahrnehmen können, aber auch wahrnehmen bau und Inhalte uns in diesem Hause schon seit Jahren müssen. Nur wenn diese Zusammenarbeit optimal orga- beschäftigt haben. nisiert ist, können wir erfolgreich sein. Die Gott sei Dank misslungenen Kofferbomben- Entscheidend für die verfassungsrechtliche Bewer- anschläge auf die Regionalzüge in Nordrhein-Westfalen tung ist auch, dass durch die gemeinsame Datei keine und Rheinland-Pfalz sowie der vereitelte Sprengstoff- neue Datenerhebung stattfindet. Die Personen, die in anschlag auf ein Verkehrsflugzeug am Flughafen Frank- diese Datei eingestellt werden, sind bereits aufgrund ge- furt zeigen, wie präsent die Bedrohung durch Terroristen setzlicher Vorschriften in den bestehenden Dateien der in Deutschland ist. Wir sind daher gegenüber der Bevöl- Polizeien und der Nachrichtendienste des Bundes und kerung in der Pflicht, ständig zu überprüfen, ob unsere der Länder erfasst. Mit der Antiterrordatei versetzen wir Sicherheitsbehörden die geeigneten und die erforderli- die Sicherheitsbehörden aber erstmals in die Lage, einen chen Kompetenzen haben, um bereits im Vorfeld solche schnellen bundesweiten Überblick über vorhandene Er- Planungen aufdecken und Verbrechen verhindern zu kenntnisse zu bestimmten Personen oder Vereinigungen können. zu erhalten. Die Kenntnis dieser Daten muss dabei für die Aufklärung oder Bekämpfung des internationalen Schon vor der Anhörung war uns klar, dass wir uns in Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland einem komplizierten Spannungsfeld zwischen Sicher- erforderlich sein. heit und Freiheit bewegen. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 Grund- gesetz verpflichtet den Staat, die Menschenwürde zu Mit einem sehr differenzierten System stellen wir si- achten und zu schützen. Nach dem Verfassungsrichter cher, dass die einstellenden Behörden Herr über ihre Da- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7093

Ralf Göbel (A) ten bleiben und dass die Persönlichkeitsrechte derjeni- verantwortungsvoll umgehen und die erforderlichen (C) gen, die in diese Datei eingestellt sind, gewahrt bleiben. Maßnahmen zum Schutz der Freiheit und zur Gewähr- So erhält die abfragende Behörde im Fall eines Treffers leistung der Sicherheit ergreifen. nur den Zugriff auf die Grunddaten. Will sie ergänzende Informationen, so genannte erweiterte Grunddaten zu Vielen Dank. dieser Person haben, muss sie mit der einstellenden Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hörde Kontakt aufnehmen. Diese einstellende Behörde entscheidet dann, ob die besonders sensiblen Daten übermittelt werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Gisela Piltz, FDP- Soweit besondere Geheimhaltungsinteressen oder Fraktion. – das ist ein Ergebnis der Anhörung – besonders schutz- würdige Interessen des Betroffenen dies ausnahmsweise (Beifall bei der FDP) erfordern, kann eine beschränkte oder verdeckte Spei- cherung erfolgen. Gisela Piltz (FDP): Kritisiert wurde in der Sitzung des Innenausschusses Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- die Eilfallregelung, wonach die abfragende Behörde un- legen! Um es gleich zu Beginn klarzustellen: Die FDP ter äußerst eng beschriebenen Voraussetzungen auf die ist für den verbesserten Datenaustausch zwischen den erweiterten Grunddaten zugreifen darf, wenn die er- Sicherheitsbehörden, wenn es um die Bekämpfung des suchte Behörde nicht rechtzeitig reagieren kann. internationalen Terrorismus geht. Ich vermag beim besten Willen nicht zu erkennen, wie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten man hier zu der Erkenntnis kommen kann, dass der Eilfall der SPD – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das in der Praxis zum Regelfall werden soll. Neben den be- musste einmal gesagt werden!) schriebenen materiellen Voraussetzungen für diesen be- – Es ist schön, dass wenigstens Sie mir Beifall klatschen. sonderen Zugriff haben wir im Gesetz noch erhebliche or- Die CDU schafft das nicht. – Die FDP unterstützt selbst- ganisatorische Hürden aufgebaut, die nach meiner verständlich die Sicherheitsbehörden im Kampf gegen langjährigen Erfahrung in Sicherheitsbehörden gewähr- den internationalen Terrorismus und hat sich schon seit leisten, dass ein Missbrauch nicht stattfindet. Ganz da- langem für eine reine Indexdatei zur Bekämpfung des von abgesehen gehe ich bis zum Beweis des Gegenteils internationalen Terrorismus eingesetzt. Dass diese In- davon aus, dass sich bundesdeutsche Behörden an Recht dexdatei weder in den vergangenen Jahren noch jetzt und Gesetz halten und ein solches Misstrauen gegenüber realisiert wurde, liegt nicht an uns, sondern an den Län- (D) (B) den Sicherheitsbehörden völlig unangebracht ist. derministern, die von CDU und SPD gestellt werden; (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das musste einmal gesagt werden. neten der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Nur am Rande will ich noch erwähnen, dass jeder, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wirklich jeder Zugriff auf diese Datei protokolliert wer- den muss und sowohl die Zugriffsregelungen als auch Wir haben bei dem vorliegenden Entwurf allerdings die Protokolldaten der Kontrolle durch die Datenschutz- auch rechtsstaatliche Bedenken. beauftragten des Bundes und der Länder unterliegen. Zuerst aber ein Wort zum Verfahren – das kann ich Insgesamt haben wir eine Regelung gefunden, mit der Ihnen nicht ersparen –: Es gab eine kurzfristig anbe- das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit an- raumte Anhörung. Diesem Vorgehen haben wir zuge- gemessen austariert wird. Die verfassungsrechtlichen stimmt, um diese Datei, von der wir einmal dachten, sie Anforderungen sind dabei, wie es die meisten wichtigen würde als Indexdatei ausgestaltet, schnell auf den Weg Experten bei der Anhörung dargestellt haben, eingehal- zu bringen. Die große Koalition hat dann drei Wochen ten. Auch das viel zitierte Trennungsgebot, das es nach gebraucht, um am Ende Änderungsanträge, die nicht ein- Meinung namhafter Rechtslehrer in der vor 1990 vertre- mal zwei DIN-A4-Seiten umfassen, vorzulegen. tenen Form gar nicht mehr gibt, wäre durch dieses Ge- (Zuruf von der SPD: In der Kürze liegt die setz nicht verletzt. Es wäre im Übrigen auch geradezu Würze!) widersinnig, wenn Nachrichtendienste und Polizei Infor- mationen über extrem gefährliche Personen nicht austau- Es wurden zwei Berichterstattergespräche angesetzt, die schen dürften. Damit würde ihr verfassungsrechtlicher nicht stattgefunden haben, weil Sie sich immer noch Auftrag zum Schutz der Bevölkerung ad absurdum ge- nicht geeinigt hatten. Besonders schön fanden wir es, führt werden. dass wir dann am späten Dienstagabend das entspre- chende Fax mit den Änderungsanträgen bekamen. So Abschließend will ich noch auf den Entschließungs- konnten wir uns damit in den Fraktionen überhaupt nicht antrag der großen Koalition hinweisen, in dem die Bun- auseinander setzen. desregierung aufgefordert wird, einen Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Interessant ist auch, was die Kollegen im Innenaus- Entscheidung zur Wohnraumüberwachung aus dem schuss zu diesem Gesetzentwurf gesagt haben. Herr Jahre 2004 für den Bereich der Nachrichtendienste vor- Wiefelspütz sagte zum Beispiel, er hätte noch nie so hart zulegen. Wir zeigen damit, dass wir mit der Verfassung an einem Gesetzentwurf gearbeitet wie an diesem. 7094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Gisela Piltz (A) (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das stimmt! sich um eine höchst subjektive Einschätzung, die den (C) Ich bin heute noch gezeichnet davon! Ich habe Professor mit drei verdächtigen Studenten oder mögli- ein Schlafdefizit!) cherweise einen hoch bezahlten Bankdirektor mit drei verdächtigen Mitarbeitern Herr Göbel hat gesagt, es handele sich eigentlich nur um kleinere Änderungen. Was stimmt denn nun? (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das sind die Klienten, die Sie vertreten?) Präsident Dr. Norbert Lammert: zum Anwärter für diese Datei macht. Von daher lehnen Herr Kollege Wiefelspütz, soll ich die Parlaments- wir das ab. ärztin unterrichten oder bekommen wir das noch so gere- gelt? (Beifall bei der FDP) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der Das Schlimmste aus unserer Sicht ist aber die so ge- SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜND- nannte Eilfallregelung. Gemeinsam mit dem Freitext- NIS 90/DIE GRÜNEN) feld birgt sie die Gefahr, dass ausländische Geheim- dienste uns ihre Informationen gar nicht mehr weitergeben. Bisher galt das Opportunitätsprinzip; sie Gisela Piltz (FDP): konnten selbst entscheiden, ob sie Informationen einstel- Herr Wiefelspütz, wenn das alles ist, was Sie zustande len oder nicht. Das gilt jetzt nicht mehr. Im Eilfall kann bringen, dann graut mir vor den nächsten drei Jahren. jede Behörde jederzeit auf die Daten zugreifen. Das (Beifall bei der FDP – Dr. Carl-Christian heißt, auch jede ausländische Behörde muss damit rech- Dressel [SPD]: Oh!) nen, dass eine Behörde, von der sie nicht möchte, dass sie auf diese Daten Zugriff hat, im Eilfall darauf zugreift. Unsere größten Kritikpunkte sind im Übrigen von den Sachverständigen bestätigt worden. Bezüglich des Zu- All das, was Sie, Herr Kollege Göbel, hier zum Eilfall griffs auf die erweiterten Grunddaten von aa) bis qq) gesagt haben, kann mich nicht überzeugen. Es gibt min- – so heißt es so schön – haben auch wir verfassungsmä- destens fünf unbestimmte Rechtsbegriffe in Ihrer Vor- ßige Bedenken; denn jede Speicherung und Weitergabe schrift, die man zunächst auslegen muss. Was da konkret von Daten ist ein Eingriff in das Recht auf informatio- und präzise geregelt sein soll, kann ich nicht erkennen. nelle Selbstbestimmung und jeder Eingriff bedarf einer Ganz im Gegenteil, Sie gefährden mit dieser Regelung Rechtfertigung. Wir können aber nicht erkennen, dass die internationale Zusammenarbeit. Für mich und meine dies hier in jedem Fall gegeben ist. Wir haben insbeson- Fraktion macht Terrorismus nicht an der Grenze halt und dere bei der Religionszugehörigkeit unsere Zweifel. hält sich übrigens auch nicht an unsere üblichen Büro- (B) Auch viele Praktiker haben – das haben sie in der Anhö- zeiten in den Behörden. Mit Blick auf die Eilfallregelung (D) rung bestätigt – ihre Zweifel an der Praktikabilität dieser frage ich mich, wie Sie den internationalen Terrorismus erweiterten Grunddaten. einschätzen. Es kann doch wohl nicht sein, dass Sie glauben, dass man einen Eilfall nicht bei allen Sicher- Auch die Anzahl der beteiligten Behörden sehen heitsbehörden rund um die Uhr bearbeiten könnte. wir kritisch. Wir hätten uns gewünscht, dass darüber ge- meinsam mit dem Bundestag entschieden wird. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Haben Sie überhaupt eine Ahnung von der Praxis?) (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Stimmen Sie dem Gesetz zu, Frau Piltz!) Terrorismus müssen wir rund um die Uhr bekämpfen und nicht nur, wenn der bayerische Verfassungsschutz- – Herr Wiefelspütz, es wird nicht besser, wenn Sie so präsident meint, dass er einen Notdienst fürs Wochen- laut rufen. – ende braucht. Ich glaube, so kann man den internationa- len Terrorismus nicht bekämpfen. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Dann kön- nen Sie es aber akustisch verstehen!) (Beifall bei der FDP) Was Sie jetzt vorgelegt haben, ist lediglich im Einver- nehmen mit dem Innenminister beschlossen worden. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das kann sich ein Parlament nicht bieten lassen. Frau Kollegin Piltz! (Beifall bei der FDP) Gisela Piltz (FDP): Auch zum Freitextfeld haben wir Kritikpunkte. Hier Ich komme zum Schluss – mit einem letzten Gedan- verlassen Sie aus unserer Sicht die ursprünglich vorgese- ken. Wirklich nachdenklich hat mich gestimmt, dass Sie hene Indexdatei; denn nun dürfen Bewertungen, Hin- unseren Änderungsantrag – mit dem Inhalt, dass Infor- weise und Bemerkungen hinsichtlich der Grunddaten mationen, bei denen Tatsachen die Annahme begründen, und der erweiterten Grunddaten weitergegeben werden. dass die unter offensichtlicher Verletzung der Menschen- Das ist erstens vom Aufwand her unpraktikabel – wer rechte erhoben wurden, nicht gespeichert werden – ab- soll das eingeben, wer soll das pflegen? –, zweitens für gelehnt haben. Es ist schön, wenn Sie sonntags davon re- den Betroffenen absolut unkalkulierbar – er kann die Da- den, dass wir auf das Folterverbot unbedingt Rücksicht ten nicht einsehen und weiß nicht, was an persönlichen nehmen müssen und unter Folter erhaltene Informatio- Bewertungen über ihn gespeichert wird – und hat drit- nen nicht verwendet werden dürfen. Wenn Sie das bei tens nichts mit Objektivität zu tun, sondern es handelt der Ausarbeitung eines Gesetzes aber nicht berücksichti- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7095

Gisela Piltz (A) gen, dann finde ich das sehr bedenklich. Das lässt tief Der internationale Terrorismus hat seine Vorgehens- (C) blicken auf den Zustand dieser großen Koalition. weise verändert. Deshalb müssen wir unsere Antwort darauf ändern. Es reicht nicht, alte Maximen um ihrer Aus all diesen Gründen können wir dieser Antiterror- selbst willen aufrechtzuerhalten. Statt Wunschdenken datei nicht zustimmen. Wir hätten es gerne getan. Wir sind hier knallharte, verlässliche Analysen und Bewer- haben Ihnen unsere Mitwirkung angeboten; aber Sie ha- tungen angebracht. Wir brauchen keine Spekulationen, ben davon keinen Gebrauch gemacht. Auch das hat mit sondern empirisch belastbare Bewertungen und Beurtei- parlamentarischem Brauch nichts zu tun. lungen. Vielen Dank. (Zuruf von der FDP: Lassen Sie doch mal (Beifall bei der FDP – Dr. Dieter Wiefelspütz hören!) [SPD]: Dann sind Sie selber schuld!) Es ist unsere Aufgabe, die Bürgerrechte zu gewähr- leisten und zu schützen. Das ist der Grund, warum wir Präsident Dr. Norbert Lammert: Terror bekämpfen. Klaus Uwe Benneter ist der nächste Redner für die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Clemens SPD-Fraktion. Binninger [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD – Dr. Dieter Wiefelspütz Es geht hier nicht nur darum, allgemeine Persönlich- [SPD]: Ich sage nur: qq! – Heiterkeit bei der keitsrechte und das Recht auf eine freie Entfaltung der SPD) Persönlichkeit zu schützen; (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE Klaus Uwe Benneter (SPD): GRÜNEN]: Aber auch!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ge- es geht nicht nur darum, die Informations- und Mei- sundheitlichen Befindlichkeiten des Kollegen nungsfreiheit zu schützen. Wiefelspütz haben wir ja schon erörtert. Aber, Frau Kol- legin Piltz, eine gute Speise muss eben heiß auf den (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tisch. Deshalb konnten wir Ihnen vorher nicht noch ein- NEN]: Aber auch!) mal die Gelegenheit geben, sich den Mund daran zu ver- – Ja, aber auch. – Aber erst recht muss das Recht auf brennen. Sicherheit geschützt werden. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) Abgeordneten der CDU/CSU) NEN]: Das gibt es so nicht! Das ist eine (D) Warum ist Deutschland bisher weitgehend von terro- Schily-Erfindung!) ristischen Anschlägen verschont geblieben? Wir hatten Es ist eines der vornehmsten und wichtigsten Bürger- sicherlich Glück. Es lag auch an einer klugen Außenpo- rechte, das der Staat zu garantieren hat; denn die Bürger litik, aber ebenso an der klugen und vorausschauenden selbst können es nicht. Der Staat ist also gefragt, wenn es Politik im Bereich der inneren Sicherheit in den letzten um das Recht auf Sicherheit geht. fünf Jahren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sieben Jahre!) der CDU/CSU – Gisela Piltz [FDP]: Können Sie mir mal den Paragrafen oder den Artikel An dieser Stelle sollte man ausdrücklich unseren Kolle- nennen, in dem das steht? – Weiterer Zuruf gen erwähnen. von der FDP: Wo steht das Recht auf Sicher- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) heit?) Man sollte ihm für das danken, was er für die innere Si- – Das Recht auf Sicherheit steht im gesamten Grundge- cherheit in Deutschland geleistet hat. Herzlichen Dank, setz. Otto Schily! (Zurufe von der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN: Ah! – Wolfgang Wieland GRÜNEN]: Das ist doch verlogen!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind so konkret, wie wir Sie kennen, Herr Kollege!) Es sind in der Vergangenheit sicher weit mehr als ein Das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz und Dutzend Anschläge in Deutschland durch rechtzeitige das Gemeinsame-Dateien-Gesetz sind die rechtsstaatli- Aufklärung verhindert worden. Deshalb ist die Frage zu che Grundlage dafür, dass wir verlässliche Informatio- stellen, was wir eigentlich mit einer rechtzeitigen Ter- nen für intelligente und rechtzeitige Analysen von Ge- rorbekämpfung im engeren Sinne leisten. Natürlich fährdungssituationen sammeln können. Das ist keine muss Terrorbekämpfung auch die Ursachen angehen und Wunderwaffe, aber Teil eines sensiblen und klugen die Rekrutierung von Terroristen in den Entwicklungs- Frühwarnsystems. ländern verhindern. Terrorbekämpfung im engeren Sinne bedeutet, dass man rechtzeitig, also wenn Terroraktionen Lassen Sie mich nun auf das Terrorismusbekämp- geplant werden, handelt und nicht hinterher, wenn es so- fungsergänzungsgesetz eingehen. Das Terrorismusbe- zusagen um das Aufräumen geht. kämpfungsgesetz war auf fünf Jahre befristet. Es ging 7096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Klaus Uwe Benneter (A) nun um die Frage, ob dieses Gesetz verlängert werden Insofern kann es kein Trennungsgebot für Informatio- (C) sollte oder ob es einfach auslaufen sollte. Es hat in die- nen geben, die die Nachrichtendienste und die Polizeien sem Zusammenhang eine Evaluierung stattgefunden, die betreffen. Das Einzige, was es geben muss – das haben allein vom Zeitablauf gesehen unseren Ansprüchen auf wir geleistet –, ist eine Trennung zwischen den offenen eine ausreichende Evaluierung nicht genügen kann. Grunddaten und den verdeckt gespeicherten, erweiterten Grunddaten. Da wurde eine klare Trennung durchge- (Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- führt; darauf kann nicht jede Polizeidienststelle einfach NIS 90/DIE GRÜNEN]) zugreifen. Gemäß dem Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz Auch der Eilfall muss geregelt sein, weil natürlich gibt es in fünf Jahren eine neue Evaluierung, aber dies- denkbar ist, dass jemand nicht zu erreichen ist. Frau Kol- mal – wenn ich das richtig verstanden habe, war das legin Piltz, es reicht eben nicht, dass beim Verfassungs- auch Ihr Anliegen, Herr Kollege Wieland – mit externem schutz der Pförtner oder sonst jemand den Bereitschafts- Sachverstand. dienst ausübt. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Gisela Piltz [FDP]: Herr Benneter, ist es nicht NEN]: Einem! Ein Alibisachverstand!) schlimm genug, dass das jetzt der Pförtner – Es wird kein Alibisachverständiger sein. Er wird vom macht?) Parlament bestimmt werden. Bei den Verfassungsschutzämtern ist es von der Natur (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Sache her so, dass die einzelnen Dienststellen ent- NEN]: Den sucht Schäuble aus!) sprechend voneinander abgeschottet und getrennt sind. Deshalb nützt es Ihnen nichts, einen 24-Stunden-Bereit- Das ist schon ein wesentlicher Fortschritt, der eigentlich schaftsdienst zu haben, wenn Sie die gerade Zuständi- Ihrem Anliegen gerecht werden müsste. gen, diejenigen, die Sie für eine verlässliche Information brauchen, nicht erreichen können. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Da gab es schon den Personalvorschlag (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Schily!) GRÜNEN]: Da weiß halt der eine nicht, was der andere macht!) Es gibt keine Ausdehnung auf den Extremismusbe- reich. Es bleibt dabei, dass es ein Terroristenbekämp- Es sollte Ihnen einleuchten, dass man hier eine Eilfall- fungsgesetz ist. Ich sage ganz deutlich, dass es sich um regelung benötigt. Aber auch diese Eilfallregelung ist so terroristische Bestrebungen handeln muss. Extremisti- abgesichert, dass sie nicht zum Regelfall wird und kein (B) sche Meinungsäußerungen, auch wenn sie einem nicht Missbrauch erfolgen kann. Nehmen Sie das doch endlich (D) passen, reichen nicht aus, um hier Auskünfte einholen zu einmal zur Kenntnis! können. Außerdem müssen immer tatsächliche Anhalts- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten punkte vorliegen, wenn dieses Gesetz in Anwendung der CDU/CSU – Gisela Piltz [FDP]: Gerade kommen soll. weil Sie das sagen, wird es nicht wahrer!) Uns ist es auch gelungen – darauf bin ich besonders Zu den Kontaktpersonen; davon haben Sie gar nicht stolz –, dass, wenn der Zweck der Maßnahme nicht mehr mehr gesprochen. gegeben ist, alle Betroffenen zu benachrichtigen sind. Es ist ein ganz wichtiger Punkt in der Demokratie, dass man (Gisela Piltz [FDP]: Sie haben ja auch zwölf das selber nachprüfen lassen kann. Minuten Redezeit!) (Beifall bei der SPD) Es war ja Ihre Forderung, deutlich zu machen, dass Kon- taktpersonen nur dann in eine solche Datei aufgenom- Was das Gemeinsame-Dateien-Gesetz angeht, wird men werden können, wenn es sich nicht um zufällige oft der Hinweis gegeben, hiermit werde das Trennungs- oder flüchtige Kontakte handelt. Das ist nun ausdrück- gebot verletzt. Egal ob es ein verfassungsrechtlich ge- lich in den Gesetzestext aufgenommen worden. Dies schütztes Trennungsgebot gibt oder nicht, eine Trennung stand schon vorher in der Begründung. Aber weil es Ihr zwischen Nachrichtendiensten und Polizei ist aus der Anliegen war, dies deutlicher festzulegen, haben wir Natur der Sache heraus erforderlich. Die Polizei arbeitet diese Regelung in den Gesetzestext aufgenommen. mit anderen Methoden und auf Basis anderer Rechts- grundlagen als Nachrichtendienste. Nachrichtendienste (Gisela Piltz [FDP]: Sie kannten doch unsere haben die Möglichkeit, sehr früh im Vorfeld Ermittlun- Änderungsanträge gar nicht! – Wolfgang gen zu führen und Informationen einzuholen. Die jewei- Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ligen Informationen haben unterschiedlichen Charakter Aber Sie haben die Probleme damit noch nicht und unterschiedliche Belastbarkeiten und stammen aus gelöst!) völlig unterschiedlichen Quellen. Polizeiquellen müssen Das sollte ein Grund mehr für Sie sein, zustimmen zu Quellen sein, die auch vor Gericht standhalten können, können. während die Quellen der Nachrichtendienste natürlich in der Regel nicht vor Gericht zu verwerten sind. Aber sie Eines ist ganz wichtig: In dieser gemeinsamen Datei sind im Kampf gegen den Terror wichtig. Daher ist es befinden sich keine neuen Daten. Es sind keine neuen bedeutsam, solche Informationen rechtzeitig einzuholen. Übermittlungsvorschriften geschaffen worden. Es bleibt Deutscher Bundestag – 16. 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Klaus Uwe Benneter (A) alles beim Alten. Was bisher von Nachrichtendienst zu droht sind, malen Bedrohungsszenarien an die Wand, (C) Polizei von Hand zu Hand und von Mund zu Mund wei- und erklären immer wieder, dass man neue Maßnahmen tergegeben werden konnte, wird jetzt in der Weise mo- braucht. Das ist ein offensichtlicher Widerspruch. dernisiert, dass dies auch automatisiert weitergegeben werden kann. Das ist der einzige Unterschied. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Michael (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Beides ist wahr!) Dem Abwehrkampf gegen den Terrorismus sind wir es schuldig, dass wir solche modernen Möglichkeiten nut- Nun zur Antiterrordatei. Ich glaube, dass das, was wir zen und entsprechend einführen. heute diskutieren, in den Gesamtkontext eingeordnet werden muss, um überhaupt kenntlich machen zu kön- Wer zielsichere, belastbare Einschätzungen und Be- nen, was Sie beabsichtigen. Der Kollege Göbel hat heute wertungen abgeben will, braucht diese von uns zu Recht Morgen etwas sehr Entscheidendes gesagt – das trifft geschaffenen rechtsstaatlichen Instrumente. Erfolgreiche den Kern –, Terrorbekämpfung braucht taugliche Mittel für eine er- folgreiche Recherche. Deshalb gibt es diese neuen Ge- (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Sogar setze. Sie bauen auf alten, bewährten Regelungen auf, etwas Richtiges!) führen sie weiter und entwickeln sie. nämlich dass Sie an einer völlig neuen Sicherheitsarchi- Dem Netzwerk der Terroristen stellen wir ein Netz- tektur arbeiten. Das Problem dabei ist, dass die Balance werk der Sicherheit entgegen. zwischen Freiheit und Sicherheit heute abermals zuun- gunsten der Freiheit gekippt werden soll. Das ist das ent- (Gisela Piltz [FDP]: Das um 16 Uhr schließt!) scheidende Problem Ihrer neuen Sicherheitsarchitektur. Es ist wichtig, die Informationen möglichst frühzeitig zu Es gilt, den Gesamtrahmen zu beachten. Ich erinnere an erhalten; denn nur so können wir bei der Terrorbekämp- das Programm zur Stärkung der inneren Sicherheit; ne- fung Erfolg haben. Die frühzeitige Information ist ein ben den Haushaltsberatungen wurde über diese hochgra- Grund dafür, dass wir in Deutschland von Terroranschlä- dig fragwürdige Angelegenheit abgestimmt. Ich erinnere gen bisher weitgehend verschont geblieben sind. an die Vorratsdatenspeicherung. Hochgradig problemati- (Gisela Piltz [FDP]: Ich dachte, das war sche Vorhaben werden von Ihnen durchgeprügelt. All Glück!) das bildet den Gesamtkontext. Sie bringen eine neue Si- cherheitsarchitektur zulasten der Freiheit auf den Weg. Meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Das ist wahrlich populistisch und für die Grundrechte (B) machen Sie den Menschen nicht länger Angst. gefährlich. (D) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN) NEN]: Nun ist aber Schluss!) Nun zu den heutigen Vorhaben. Wir gefährden keine Bürgerrechte, sondern wir wahren alle Bürgerrechte. Alle Bürgerrechte, auch das Bürger- Erstens. Selbstverständlich wird hiermit die Tren- recht auf Sicherheit, waren und sind bei uns in besten nung von Polizei und Geheimdiensten weiter aufgeho- Händen. Das wird so bleiben. ben. Das ist doch gar keine Frage. Danke schön. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: So ein Unfug!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Ich kann nicht oft genug wiederholen, warum es diese GRÜNEN]: Das ist ein reines Lippenbekennt- Trennung gibt: Sie beruht auf den Erfahrungen, die wir nis!) in der deutschen Geschichte gemacht haben. Dieses Thema ist aktueller denn je, weil es auch heute darum Präsident Dr. Norbert Lammert: gehen muss, eine unkontrollierbare Machtkonzentration Ich erteile das Wort dem Kollegen Jan Korte, Fraktion bei den Sicherheitsdiensten zu verhindern. Die Linke. (Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert LINKE]) Winkelmeier [fraktionslos]) Jede Woche gibt es einen neuen Skandal, weil die Situa- tion offensichtlich nicht mehr kontrollierbar ist. Das ist Jan Korte (DIE LINKE): unser Problem. Deswegen ist dieses Trennungsgebot ak- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tueller denn je. Nicht die Opposition verbreitet Angst, sondern Sie von Dazu hat der ehemalige BND-Präsident und Staats- der Koalition. Sie sind die wahren Sicherheitspopulisten. sekretär Geiger, der nun wahrlich nicht verdächtig ist, In Ihrer Argumentation gibt es nämlich einen Wider- Sozialist, geschweige denn Kommunist zu sein, Treffli- spruch: Auf der einen Seite stellen Sie Berichte vor, mit ches gesagt. denen Sie argumentieren, die Bundesrepublik sei eines der sichersten Länder auf der ganzen Erde; auf der ande- (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wieso? Keine ren Seite erzählen Sie aber ununterbrochen, dass wir be- Unterstellungen!) 7098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Jan Korte (A) Er hat in der Anhörung gesagt: Hier sollen personenbe- präzise zu sagen, nicht um eine Antiterrordatei, sondern (C) zogene Kenntnisse zusammengeführt werden, die von um eine Verdachtsspeicherdatei. Die lehnen wir ab. Behörden erhoben wurden, die organisatorisch zu Recht getrennt sind, die unterschiedliche Aufgaben und Befug- Zum Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz nisse haben. – Darüber gehen Sie einfach hinweg, ob- nur so viel: Nach dem 11. September konnte man ange- wohl das nicht irgendjemand, sondern der ehemalige sichts des Schreckens durchaus Verständnis für einige BND-Präsident gesagt hat. Recht hat er. Maßnahmen haben. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zweitens. Die erweiterten Grunddaten – Kennwort: NEN]: Das ist neu von der Linkspartei! Nun Religionszugehörigkeit – sind schon angesprochen wor- staunen wir aber!) den. Was soll das? Was hat diese Angabe in der Datei zu suchen? Hier wird wieder eine Stigmatisierung vorge- Allerdings wäre es jetzt, fünf Jahre später, an der Zeit, in nommen, die, wie immer, in erster Linie die Migrantin- sich zu gehen und zu überprüfen, ob die Verhältnismä- nen und Migranten in diesem Land trifft. Deswegen leh- ßigkeit gewahrt wurde. Es Evaluierung zu nennen, nen wir das ab. wenn das Ministerium sein eigenes Gesetz evaluiert, ist geradezu absurd. Das ist so, als ob sich Produzenten von (Beifall bei der LINKEN – Dr. Dieter Gammelfleisch ein Ökosiegel geben würden. Das ist Wiefelspütz [SPD]: Herr Korte, das sind doch keine Evaluierung. billige Vorurteile!) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- – Die Vorurteile schüren Sie, nicht wir. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert Drittens, das Freitextfeld: Es ist gerade schon einmal Winkelmeier [fraktionslos]) zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Polizei Hätte man eine unabhängige und kritische Evaluierung aufgrund von Tatsachen und Fakten ermittelt, während zugelassen, wären uns vielleicht die wöchentlichen Ge- Geheimdienste bekanntermaßen auch aufgrund von Ver- heimdienstskandale erspart geblieben. Auch das muss mutungen agieren und Gesinnungen nachspüren. Es ist angemerkt werden. doch völlig logisch, dass es zu Fehlschlüssen mit gege- benenfalls verheerenden Folgen für die Betroffenen (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die reden Sie kommen muss, wenn man beides zusammenrührt. Da- nur herbei!) rüber kann man nicht einfach hinweggehen. Ich fasse zusammen. Heute ist wieder einmal ein trau- Viertens, die Kontaktpersonen – auch dieser Punkt riger Tag für die Grund- und Freiheitsrechte in diesem ist schon genannt worden –: Da haben Sie eine kleine Land. Ich habe beim letzten Mal schon gefragt und frage (D) (B) Änderung vorgenommen. Sie ist aber so vage gehalten, heute wieder: Bis wohin wollen Sie gehen? Jede Woche dass das Kernproblem bleibt. Der Bundesdatenschutzbe- gibt es eine neue Verschärfung des Gesetzes und neue auftragte hat es an einem Beispiel gezeigt: Wenn ich Eingriffe in die Grundrechte. Wann soll damit Schluss meinen Nachbarn einmal am Kiosk treffe, ist es wohl sein? Das frage ich mich wirklich; denn das ist das Pro- kein Problem. Wenn ich ihn aber drei- oder viermal blem. Die Schreierei der SPD hier treffe und mit ihm vielleicht sogar noch einen Kaffee ( [SPD]: Ich habe nichts trinke, dann gerate ich ganz schnell in die Datei hinein. gehört!) Das ist das Kernproblem. täuscht nur darüber hinweg, dass auch Sie hochgradige Auch dazu hat Herr Geiger etwas Treffendes festge- Bedenken an dem haben, was Sie auf den Weg gebracht stellt: haben. Wie wird sichergestellt, dass insbesondere Unbetei- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ligte, ich denke an Kontaktpersonen, nicht allein neten der FDP – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: schon durch die Tatsache der Speicherung erhebli- Wer? Meinen Sie Benneter?) che Nachteile erleiden? Sie wissen ganz genau – seit langem wird das bei Ihnen Auch das haben Sie nicht beantwortet. Es ist ein Skan- gemunkelt –, dass das Gesetz vor dem Bundesverfas- dal, was Sie hier heute vorgelegt haben und wie Sie ein- sungsgericht landen wird. fach über die Probleme hinweggehen. Abschließend noch einmal kurz zum Verfahren; zum (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Inhalt wurde schon einiges gesagt. Dass die Kollegen in Winkelmeier [fraktionslos]) der CDU/CSU so etwas durchpeitschen, überrascht nicht, weil es dort durchaus einen Hang zu autoritärem Ein Verwendungsverbot von Daten, die unter Folter Verhalten gibt erlangt wurden – ich erinnere an den Fall Zammar in Syrien: die „Früchte der Folter“, die es offensichtlich (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) gibt –, wird von Ihnen nicht aufgenommen. Es gibt ja ei- nen Untersuchungsausschuss, der sich mit diesen Fragen – Etwas charmanter gesagt, weil ja bald Weihnachten ist: befasst. Sie haben einen Hang zu preußischer Disziplin. – Das will mich nicht überraschen. Aber dass das in der SPD in Das sind nur einige Gründe, warum die Linksfraktion dieser Art und Weise durchgepeitscht wird, verwundert Ihr Gesetz ablehnen wird. Es geht hier, um es einmal mich schon, obwohl mich nicht mehr vieles verwundert. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7099

Jan Korte (A) Man hat doch mitbekommen, dass Sie hochgradige Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) denken hatten. Sie sollten überlegen, ob Sie nicht wieder und bei der FDP – Dr. Dieter Wiefelspütz einmal Ihr Gewissen dem Koalitionszwang entgegen- [SPD]: Hätten Sie uns doch nur zugehört, Herr stellen. Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Das Wieland!) Gute an der Linksfraktion ist, dass dort die Fraktionsdis- ziplin mit dem Gewissen gleichgeht. Das ist das Schöne Sie stellen sich hierhin an der Linksfraktion. Deswegen lehnen wir diesen Ge- (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Nein! Wir setzentwurf ab. sitzen!) Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. und sagen: Hurra, data habemus! Jetzt haben wir die Da- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert tei. Das, was Rot-Grün in sieben Jahren nicht geschafft Winkelmeier [fraktionslos]) hat, haben wir in nur einem Jahr geschafft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Präsident Dr. Norbert Lammert: neten der SPD – Clemens Binninger [CDU/ Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wieland, CSU]: Ja! So ist es doch auch!) Bündnis 90/Die Grünen. – Lieber Kollege Binninger, wir sind stolz darauf, dass Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wir einen solchen Datenmoloch, wie Sie ihn planen, ver- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege hindert haben. Benneter hat eben das Spiel der Koalition mit der Angst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vor Terrorismus, Verbrechen und anderem vorgeführt. Auf eine Kurzformel gebracht bedeutet Ihre Datei: (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Der Opposition!) viel zu viele Daten von viel zu vielen Personen aus viel – Nein, in Wirklichkeit tut es die Koalition. Das ist das zu vielen Quellen mit viel zu vielen Zugangsberechtig- Problem. ten. Das ist der Inhalt dessen, was Sie uns vorlegen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Es sind doch die SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) alten Daten! Die bereits vorhandenen! Das wissen Sie doch!) Wir sind gerade hier ganz bedacht und folgen dem Präsidenten des BKA, Herrn Ziercke. Er sprach von fünf – Ja, eben. So viele Daten haben wir. verhinderten Terroranschlägen seit dem 11. September. (B) Wenn man Frankfurt am Main dazurechnet, muss man Stichwort: zu viele Daten. Die Nachrichtendienstli- (D) von sechs verhinderten Terroranschlägen sprechen. Die che Verbunddatei, NADIS, hat zurzeit einen Bestand von wurden durch gute Arbeit – auch ohne Antiterrordatei – 1 034 514 personenbezogenen Einträgen. verhindert. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Der Anschlag von Köln wurde nur durch einen Zufall GRÜNEN]: Genau!) verhindert. Nur die falsche Übertragung von Internet- bauplänen in die Realität hat dazu geführt, dass wir Köln Beim BKA umfasste allein die Datei „Innere Sicherheit“ heute nicht in einer Reihe mit Madrid und London nen- mit der Aufgabenstellung der Verhütung und Aufklärung nen müssen. Dieser Anschlag hätte auch durch eine An- von politisch motivierten Straftaten, die länderübergrei- titerrordatei nicht verhindert werden können. Daher fende, internationale oder erhebliche Bedeutung haben, muss über die Ausgestaltung einer solchen Datei ruhig, sage und schreibe 1 451 605 Datensätze. Solche Daten- ohne Hektik und ohne dieses Thema als „heiße Kiste“ zu berge sind bereits vorhanden. präsentieren, auf parlamentarischem Wege verhandelt Sie schlagen nun nicht etwa vor – was logisch wäre –, werden. Wir hatten dazu circa 20 Änderungsvorschläge dass wir diese Datenberge zunächst einmal entrümpeln gemacht, die FDP genauso viele. Diese Vorschläge ha- und überprüfen, anschließend entscheiden, welche Daten ben Sie nicht zur Kenntnis genommen. Sie lagen noch in die Datei aufgenommen werden, und sie dann zusam- nicht einmal auf Ihrem Verhandlungstisch. menfügen. Stattdessen wählen Sie ein Verfahren, das (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Na, na! Was eine gesetzliche Verpflichtung vorsieht: Es soll gespei- meinen Sie denn, warum das alles so lange chert werden, ohne dass zuvor eine Prüfung des Altbe- dauert?) standes stattgefunden hat. Das ist wirklich unsinnig. Das entspricht nicht dem Gebot der Datenknappheit. Auch Es gibt noch nicht einmal eine ablaufende Frist für diese hierzu können wir nur Nein sagen. Datei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Daher sage ich: Sie haben sich bewusst von der Op- sowie der Abg. Gisela Piltz [FDP]) position abgekoppelt. Nun kommen Sie mit dummen Schuldzuschreibungen an uns. Sie wollen dieses Thema Stichwort: zu viele Personen. Herr Fromm vom Bun- jetzt abschließen, diese Diskussion nicht mehr führen desamt für Verfassungsschutz hat die Hoffnung geäu- und die Flucht nach vorne antreten. Machen Sie das ru- ßert, dass der Umfang der Datei wohl nicht fünfstellig hig, glauben Sie aber nicht, dass wir als Opposition da- wird. Wir sagen: Angesichts dessen, dass diese Datei, bei mitmachen und Ihnen zustimmen. über deren Einführung wir jahrelang diskutiert haben, 7100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Wolfgang Wieland (A) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Diskutiert? ist das, was Sie heute hier schaffen, im Wesentlichen (C) Ihr wolltet sie doch nur verhindern!) eine Volltextdatei. Auch deswegen, Herr Benneter, kann man sie nur ablehnen. eine absolut stigmatisierende Wirkung haben wird – das ist gar nicht anders möglich; wer dort dringsteht, wird (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- als Terrorist gelten –, sollte man sich sehr genau überle- SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dieter gen, wen man in die Datei aufnimmt. Das tun Sie nicht. Wiefelspütz [SPD]: Quatsch!) Sie definieren noch nicht einmal entsprechende Krite- rien. Präsident Dr. Norbert Lammert: In der Sachverständigenanhörung kam es doch gera- Herr Kollege Wieland, gestatten Sie eine Zwischen- dezu zu einer Art heiterem Personenraten, wer wohl in frage des Kollegen Benneter? diese Datei aufgenommen wird: Kommt Peter Handke rein? Kommt Ahmadinedschad rein? Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Jan Korte [DIE LINKE]: !) Ja, gestatte ich gerne. – Ja. Von der Linksfraktion wurde auch der Name Klaus Uwe Benneter (SPD): Joschka Fischer genannt. – Herr Kollege Wieland, sind Sie in der Lage, zur (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ist notiert!) Kenntnis zu nehmen, Muss US-Präsident George W. Bush rein? (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: In der Lage!) (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie können dass es im Gesetzestext im Hinblick auf Kontaktperso- sich bewerben, Herr Wieland! – Silke Stokar nen ausdrücklich heißt: von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wäre es mit Otto Schily?) Personen, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme begründen, dass sie … Nach Ihrer Definition müsste jeder, der auf internationa- ler Ebene die Anwendung von Gewalt befürwortet, ge- mit Terrorverdächtigen schweige denn tatsächlich Gewalt anwendet, in die Datei in Verbindung stehen und durch sie Hinweise für aufgenommen werden. Das geht viel zu weit und ist viel die Aufklärung oder Bekämpfung des internationa- zu unbestimmt. len Terrorismus gewonnen werden können … Auch zu den Kontaktpersonen möchte ich Ihnen Das zusätzliche Erfordernis ist, dass (B) gerne etwas sagen. Ihr Versuch der Einschränkung ist (D) untauglich. Die Definition, die Sie zugrunde legen wol- die Kenntnis der Daten für die Aufklärung oder Be- len, umfasst das gesamte soziale Umfeld, sofern es dau- kämpfung des internationalen Terrorismus mit Be- erhaft ist. Die Ärztin, der Arzt, die Familienangehörigen, zug zur Bundesrepublik Deutschland erforderlich die Anwältin und der Anwalt – für alle besteht das Ri- ist. Satz 1 gilt nur für Daten, die die beteiligten Be- siko, in diese Datei aufgenommen zu werden. hörden nach den für sie geltenden Rechtsvorschrif- ten automatisiert verarbeiten dürfen. (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist doch Unfug! Grober Unfug!) Das ist die Definition von Kontaktpersonen in dem Ge- setzentwurf. Können Sie das zur Kenntnis nehmen? An die Stelle harter Fakten setzen Sie Gesinnungsele- mente. Ein nachdenklicher Sachverständiger hat darauf hingewiesen, dass es sich oftmals um Menschen handelt, Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die den Schritt vom Meinen zum Handeln noch gar nicht Ich nehme das zur Kenntnis. Doch ich habe von dem, vollzogen haben. Das alles hat in einer solchen Datei was ich ausgeführt habe, Kollege Benneter, nichts zu- wirklich nichts zu suchen. rückzunehmen. Denn in Ihrer Definition fehlt das Ele- ment, dass diese Personen irgendetwas wissen von den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) terroristischen Verflechtungen der anderen Person. Stichwort: zu viele Quellen. Der Streit, ob es eine (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Hinweise Volltextdatei oder eine Indexdatei sein soll, ist doch für die Aufklärung!) nicht umsonst erbittert geführt worden! Wir Grüne woll- ten die Datei – um das deutlich zu sagen –; aber wir Nein, dass sie etwas wissen müssen, ist keine Vorausset- wollten sie immer als Indexdatei, als Fundstellendatei. zung für eine Erfassung ihrer Grunddaten; da genügt es, Weil jetzt gesagt wird, in den Eilfällen unterstellten wir dass sie objektiv Kontakt haben zu dieser Person. als Opposition Missbrauch, stelle ich klar: Wir unterstel- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Stimmt len keinen Missbrauch. Aber der Eilfall ist vom Wesen doch nicht!) des Terrorismus her der Regelfall, da ist immer Eile an- gesagt, die gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben ist Dass sie Kenntnis von deren Gefährlichkeit haben, ist impliziert in der terroristischen Gefahr. Sie wollen doch keine Bedingung. Eine Kontaktperson kann also der nicht im Ernst behaupten, dass, wenn ein Name der Kof- Ehepartner sein, jeder, der nur nicht zufällig Kontakt zu ferbomber bekannt gewesen wäre, das kein Eilfall gewe- ihr hat, zum Beispiel auch eine Anwältin oder ein An- sen wäre! Natürlich, und so wird es immer sein. Daher walt, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7101

Wolfgang Wieland (A) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Völlig Stichwort: zu viele Zugriffsberechtigte. Natürlich (C) falsch!) hätten wir als Gesetzgeber – da hat die Kollegin Piltz doch völlig Recht – definieren müssen, wer da rein darf mit dem die Person in Geschäftsbeziehung steht. Weil es und wer mitmischen darf bei dieser Datei. Dies ge- hier um nachrichtendienstliche Daten geht, sind wir uns schieht nicht. Das überlässt man dem ehrenwerten Herrn doch wohl einig, dass auch viele undolose – wie Sie im Schäuble. In seinem Benehmen liegt es, zu sagen, ob die Ausschuss sagten –, also absichtslose Kontaktpersonen Polizeidienststelle im schwäbisch-alemannischen Raum, dort gespeichert sind. Gerade das Wissen eines Anwaltes in Lörrach oder wo auch immer, ebenfalls Zugriff auf die ist sehr interessant für nachrichtendienstliche Kreise. Datei hat. Das kann nicht befriedigend sein.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Genauso wenig befriedigend ist es, dass es für denje- Würden Sie vielleicht auch dem Kollegen Binninger nigen, dessen Daten in dieser Datei gespeichert wurden, die Freude machen? keine Möglichkeit gibt, seine Daten löschen zu lassen. Vor allen Dingen aber haben Sie unseren Vorschlag ver- worfen, dass nichts aus dieser Datei an unbefugte Stellen Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – insbesondere im Ausland – fließen darf. Gerade nach Ich bin ja zur Gleichbehandlung verpflichtet hier. den Erfahrungen im Fall el-Masri und in anderen Fällen Deswegen soll auch der Kollege Binninger fragen dür- wäre aber eine solche gesetzliche Sperre genauso drin- fen. gend nötig gewesen wie eine Klausel hinsichtlich des (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verbots der Verwertung von unter Folter erlangten Da- NEN]: Das hat die CDU beschlossen!) ten, die die FDP vorgeschlagen hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Clemens Binninger (CDU/CSU): und bei der FDP) Herr Kollege Wieland, Sie haben gerade behauptet, Das alles hätte diesem Hause gut zu Gesicht gestanden dass die Kontaktpersonen nicht wissen müssten über und die Umsetzung der praktischen Erfahrungen und der Terrorismus und deshalb nahezu jeder in diese Datei Erlebnisse des vergangenen Jahres bedeutet. kommen könnte. Wären Sie bereit, mir zuzugestehen, dass im Gesetz etwas anderes steht, nämlich Folgendes In einem geradezu gottvollen Entschließungsantrag – ich nehme nur den letzten Halbsatz –: appellieren Sie nun an die Bundesregierung, doch end- … und durch sie lich die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Tele- kommunikationsüberwachung umzusetzen. Warum haben (B) – es geht um die Kontaktpersonen – Sie das nicht selbst in Ihren Gesetzentwurf für ein (D) Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz eingearbei- Hinweise für die Aufklärung oder Bekämpfung des tet? Dies ist nicht nur ein Wortungeheuer, sondern auch internationalen Terrorismus gewonnen werden kön- ein Monstrum an sich und ein Etikettenschwindel: Mit nen. diesem Gesetz wird die Terrorismusbekämpfung nicht Sie müssen also etwas wissen, sonst kommen sie nicht in ergänzt; vielmehr gibt man sämtlichen Nachrichten- die Datei. Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen diensten alle Instrumente, die zur Terrorismusbekämp- und Ihre Aussagen zu revidieren? fung entwickelt wurden, für die ganz normalen nachrich- tendienstlichen Felder, den Kampf gegen den Rechts- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE und den Linksextremismus, an die Hand. Das hat mit GRÜNEN]: Nein! Wer entscheidet das denn?) Evaluierung nichts zu tun und das hat auch damit nichts zu tun, dass es nötig ist, gegen den Terror vorzugehen. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie wollen die Möglichkeiten einfach nur ausdehnen und Nein, das nehme ich nicht zur Kenntnis. Möglicher- die staatlichen Befugnisse ins Uferlose wachsen lassen. weise wollten Sie das zum Ausdruck bringen. Aber Sie Abschließend zitiere ich Peter Schaar, den Bundes- haben es nicht zum Ausdruck gebracht. beauftragten für den Datenschutz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Guter Mann!) sowie bei Abgeordneten der FDP) Es genügt, dass die Behörden sich vorstellen, dass sie – Ja, deswegen werden Sie dem, was er dazu gesagt hat, über die Kontaktpersonen in ihren Ermittlungen weiter- auch zustimmen. – Er sagte: Diese Gesetze atmen den kommen. Es steht nicht drin, dass die Kontaktperson ir- Geist der Überwachungsgesellschaft. – Damit hat er gendetwas wissen muss davon, dass der Hauptverdäch- seine Behörde korrigiert. tige in Terrorismus involviert ist. Diese Verbindung (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Er ist doch viel haben Sie nicht gewählt. Wir haben Ihnen eine entspre- vernünftiger als Sie!) chende Formulierung vorgeschlagen. Aber, Kollege Binninger, Sie waren ja wenigstens so ehrlich, zu sagen, – Warten Sie einmal ab, Herr Wiefelspütz. dass Sie die noch nicht einmal gelesen haben. Wie sich jetzt an Ihrer Zwischenfrage zeigt, rächt sich das. Für mich stellen diese Dateien weniger eine gesell- schaftliche Frage dar. Der Staat erstellt sie, wir beschlie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ßen sie. Deswegen präzisiere ich etwas: Leider atmen 7102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Wolfgang Wieland (A) diese beiden Gesetze den Geist des Überwachungsstaa- Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Generalbun- (C) tes. Wir lehnen sie ab. desanwältin muss dem Verdacht nachgegangen werden, dass vom Frankfurter Flughafen aus terroristische An- Präsident Dr. Norbert Lammert: schläge auf eine El-Al-Maschine geplant waren. Das Herr Kollege! Verfahren dauert an. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal konkret, was Es wäre möglich gewesen, eine gute und datenschutz- da wirklich war!) feste Regelung zu treffen. Die Vorschläge lagen auf dem Tisch. Was hier heute geboren werden soll, bedeutet – Das ist ein anhängiges Verfahren. gleich an zwei Stellen einen rechtsstaatlichen Damm- Das alles sind Nachrichten aus den letzten paar Wo- bruch. Dazu sagen wir: Nein. chen. Sie aber tun so, als gehe die Bedrohung von den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sicherheitsbehörden aus. Ich danke den Mitarbeiterin- und bei der FDP) nen und Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden, dass sie in schwieriger Zeit das Menschenmögliche leisten, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Bundesregierung hat nun der Bundesminister (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, das Wort. bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist zwar richtig, dass die Antiterrordatei die ge- planten Anschläge auf die Regionalzüge nicht verhindert Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des In- hätte. nern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Spricht das ge- den Sprechern der Opposition unvoreingenommen zu- gen die Datei?) hört, dann hat man das Gefühl, dass die eigentliche Be- – Das spricht nicht gegen die Datei. drohung in unserem Lande von den Organen der inneren Sicherheit ausgeht. Ich glaube, das ist eine etwas ver- Wir müssen ja auch nicht letzten Anschlagsversuch zerrte Wahrnehmung. verhindern, sondern versuchen, den nächsten zu verhin- dern. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (D) Ich bin mir auch ganz sicher, dass die Bundesrepublik der SPD) Deutschland, die Ordnung unseres Grundgesetzes mit ei- nem Überwachungsstaat nun wirklich nichts zu tun hat, Die Untersuchungen des amerikanischen Kongresses ha- ben ergeben, dass theoretisch alle notwendigen Informa- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tionen vor dem 11. September 2001 vorhanden gewesen sondern dass wir uns im Rahmen, in den Grenzen und wären, um die Planungen in Bezug auf das World Trade auf der Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Center zu erkennen; sie waren nur nicht miteinander ver- und rechtsstaatlichen Verfassung bemühen, in einer Zeit knüpft. Das ist keine Kritik. Aber man muss für die Zu- großer Bedrohungen und Gefahren das Menschenmögli- kunft daraus lernen. Deswegen haben wir uns nun fünf che an Sicherheit zu gewährleisten. Jahre bemüht, die notwendigen Informationen, über die 38 verschiedene für die innere Sicherheit verantwortli- Um nur die letzten Wochen in Erinnerung zu rufen: che Behörden und Dienststellen von Bund und Ländern Da sind zunächst die fehlgeschlagenen Sprengstoff- verfügen, so zu verknüpfen, dass wir effektiv präventive anschläge auf zwei Regionalzüge Ende Juli in Koblenz Arbeit leisten können. und Hamm. Es waren relativ kleine handwerkliche Feh- ler, die verhindert haben, dass schlimme Unglücksfälle Gerade derjenige, der sich für das Trennungsgebot passiert sind. Wenige Wochen danach wurde eine bzw. für unterschiedliche Aufgabenstellungen von Poli- Gruppe von Personen aus drei größeren Städten im zei und Nachrichtendienst einsetzt, darf nicht verhin- Ruhrgebiet festgenommen, die sich in unmittelbarer dern, dass die Nachrichtendienste die von ihnen be- zeitlicher und räumlicher Nähe zu einem Nena-Konzert schafften Informationen den Polizeibehörden zur so verdächtig verhalten haben, dass ein Anschlag auf das Verfügung stellen. Sonst bräuchten wir keine Nachrich- Konzert angenommen werden musste. tendienste. Das muss vernünftig geregelt sein. Vor ein paar Wochen hat die Polizei in Osnabrück ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nen Iraker festgenommen und seine Wohnung durch- sucht. Der Beschuldigte hat mutmaßlich vielfach Audio- Ich bin im Übrigen der festen Überzeugung, dass uns und Videobotschaften von Osama Bin Laden, al-Zawa- die föderale Ordnung unseres Grundgesetzes eine opti- hiri und Mussab al-Sarkawi über das Internet verbreitet male Voraussetzung für Schutz, Prävention und vorzüg- und dadurch den Terrorismus von al-Qaida unterstützt. liche Polizeiarbeit bietet. Vor zwei Wochen haben BKA und die Landespolizei (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Jetzt kann sie sich neun Wohnungen im Rhein-Main-Gebiet durchsucht. Im wieder bewähren!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7103

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) Wir haben das zuletzt bei der Fußballweltmeisterschaft – Herr Kollege, das ist keine Staatszielbestimmung. Das (C) erlebt, die nicht so hervorragend verlaufen wäre, wenn ist nun wiederum verfassungsrechtlich falsch. Es ist ge- die Polizeien der Länder und des Bundes nicht so erfolg- radezu konstitutiv. reich und effizient zusammengearbeitet hätten. Aus die- Ich sage Ihnen: Wenn Sie die freiheitliche Ordnung sem Grund muss man die Voraussetzung für eine effi- unseres Landes bewahren wollen – worüber wir uns alle ziente und vertrauensvolle Zusammenarbeit schaffen. hoffentlich einig sind –, dann muss der freiheitliche Eine solche Voraussetzung ist die Antiterrordatei, in der Rechtsstaat in der Lage sein, den Bürgerinnen und Bür- die Dienststellen, die Polizeien und Nachrichtendienste gern ein hinreichendes Maß an Sicherheit zu gewähr- von Bund und Ländern ihre Informationen einstellen – leisten. Sonst wird die freiheitliche Ordnung zerstört. unter Gewährleistung des notwendigen Datenschutzes, im Rahmen unserer Verfassung, auf einer einwandfreien (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gesetzlichen Grundlage! Wer das untergräbt und wer dafür die notwendigen Mit- Ich bin dankbar, dass wir das geschafft haben, und ich tel verweigert, gefährdet am Ende die Freiheit. Wenn wir bin froh, dass wir es im Einvernehmen mit den Ländern den Kampf gegen den Extremismus – links oder rechts – erreicht haben. Nur so ist es möglich; es würde sonst ernst nehmen, darf der Staat kein Nachtwächterstaat nicht mehr Sicherheit geben, sondern weniger. sein, sondern muss in der Lage sein, das Menschenmög- liche in einer sich verändernden Welt von Bedrohungen Deswegen möchte ich mich auch beim Bundestag ins- zu tun. Dafür sind die beiden Gesetze, die wir heute ver- gesamt und insbesondere bei den Mitgliedern des Innen- abschieden, ein wichtiger Baustein. ausschusses und den Kollegen der Koalitionsfraktionen Dazu gehört aber viel mehr. Deswegen haben wir das dafür bedanken, dass es gelungen ist, die Gesetze so Sicherheitsprogramm aufgelegt, wofür ich sehr dank- rechtzeitig zu beraten, dass sie rechtzeitig in Kraft treten bar bin. Dazu gehört aber auch, dass wir versuchen, da- können. Das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz für zu sorgen, dass möglichst viele Menschen nicht den muss in Kraft treten; sonst kommen wir in eine Situa- terroristischen Rattenfängern anheim fallen, und dass tion, die niemand verantworten kann. wir immer wieder dafür werben, dass unsere Ordnung Schon im September waren wir uns weitgehend einig, von Freiheit und Toleranz Raum für alle bietet. Aber dass die Antiterrordatei möglichst ab nächstes Jahr funk- eine Ordnung von Freiheit und Toleranz ist für die Men- tionsfähig sein soll. Dazu brauchen wir die gesetzliche schen nur überzeugend, wenn sie zugleich die notwen- Grundlage. Ich habe schon Anfang September mitgeteilt, dige Sicherheit gewährleistet. Dem dienen die beiden dass ich das Bundeskriminalamt beauftragt habe, sich Gesetze. Deswegen bitte ich um Zustimmung. (B) entsprechend vorzubereiten, sodass, wenn das Gesetz in Herzlichen Dank. (D) Kraft tritt, es funktionsfähig ist, das muss ja auch umge- setzt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich bin auch dankbar dafür, dass wir in den Haus- Präsident Dr. Norbert Lammert: haltsberatungen in der vergangenen Woche die notwen- Dr. Max Stadler ist der nächste Redner für die FDP- digen Mittel zur Verfügung gestellt haben. Denn auch Fraktion. das gehört zu den Voraussetzungen, die wir schaffen müssen. (Beifall bei der FDP)

Es ist, wie gesagt, richtig, dass es keine hundertpro- Dr. Max Stadler (FDP): zentige Sicherheit gibt. Wenn es aber keine hundertpro- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- zentige Sicherheit gibt, dann ist es umso wichtiger, dass ren! Herr Minister Schäuble, Sie haben hier völlig zu man bei einer anhaltenden, wahrscheinlich sich eher ver- Recht die Bedrohungslage eindringlich geschildert. Aber schärfenden Bedrohungslage durch den internationalen die FDP war zum Beispiel für eine praxisnahe Lösung Terrorismus das Menschenmögliche unternehmen muss, bei der Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste und für um so viel Sicherheit wie möglich zu gewährleisten. eine Indexdatei, wie sie auch Praktiker gefordert haben. Also führen wir doch bitte die Debatte hier nicht so, als Sie haben vorher mit dem Kollegen Benneter darüber ob denjenigen, die für rechtsstaatliche Lösungen eintre- diskutiert, wo das im Grundgesetz steht. Dass der Staat ten, die innere Sicherheit nicht am Herzen läge. Einen die Aufgabe hat, seine Bürgerinnen und Bürger zu schüt- solchen Gegensatz dürfen wir hier nicht aufbauen. zen, ist in der abendländischen Geschichte fast ein Stück weit konstitutiv gewesen. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Herr Minister Schäuble, es ist doch völlig unstreitig: Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wofür haben Der Staat hat selbstverständlich eine Schutzpflicht ge- wir denn sonst den Staaat? – Wolfgang genüber den Bürgerinnen und Bürgern. Aber bei den Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Methoden, die er anwendet, ist er an die Grundrechte ge- Grundrecht auf Sicherheit ist eine Staatszielbe- bunden. stimmung! – Gegenruf des Abg. Dr. Carl- Christian Dressel [SPD]: Art. 1 ist keine (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Staatszielbestimmung! Sie reden irre!) GRÜNEN]: So ist es!) 7104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Dr. Max Stadler (A) Deswegen ist sehr wohl über die Details zu diskutie- Sie regieren seit einem Jahr. Das Urteil des Bundesver- (C) ren. fassungsgerichts datiert vom März 2004 und gibt dem Gesetzgeber auf, dafür zu sorgen, dass der Bereich der (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ ganz privaten, intimen Lebensführung vom Staat nicht DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE beeinträchtigt wird. Und Sie fordern heute die Bundesre- LINKE]) gierung auf, dies künftig bei Gesetzen zu berücksichti- Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 haben gen. Wir sind doch die Volksvertreter. Wir sind der Ge- die Geheimdienste Befugnisse bekommen wie nie zuvor. setzgeber. Das war in gewissem Umfang sogar notwendig. Aber es (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ bleibt ein Grundproblem. Geheimdienste versuchen, DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE schon im Vorfeld Informationen zu gewinnen. Die Poli- LINKE] und des Abg. Gert Winkelmeier zeiarbeit setzt dagegen bei konkreten Gefahren bzw. [fraktionslos]) konkreten Verdachtsmomenten an. Geheimdienste erfas- sen notwendigerweise viele Unschuldige. Deswegen Sie hatten ein Jahr Zeit, dies in die heutigen Gesetze ein- muss ein Gegengewicht durch eine entsprechende Kon- zuarbeiten. Das haben Sie nicht gemacht. Ihr Entschlie- trolle der Geheimdienstarbeit gesetzt werden. Meine ßungsantrag zeigt, dass Ihnen diese Lücke bewusst ist. Damen und Herren von der Koalition, Sie wollen heute Sie machen folgende Politik: Heute beschließen Sie die Geltungsdauer der Schily-Gesetze, die 2002 sehr ei- ein Gesetz, das verfassungswidrig ist, weil es ein Urteil lig durch das Parlament gebracht wurden, verlängern. aus Karlsruhe nicht berücksichtigt; dann sagen Sie: Um (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: 2001, Herr den Grundrechtsschutz kümmern wir uns morgen oder Stadler!) übermorgen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, endlich eine bessere Meine Damen und Herren, Sie können nicht erwarten, Kontrolle der Geheimdienste als Gegengewicht einzu- dass die Opposition bei einem solchen Verfahren mit- führen. macht. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Es ist mir völlig unbegreiflich, warum Sie die Gele- genheit der heutigen Gesetzgebung nicht nutzen, endlich Präsident Dr. Norbert Lammert: auf unsere Vorschläge einzugehen, aus denen hervor- Nun erhält auch offiziell der Kollege Dr. Dieter geht, wie die Arbeit des Parlamentarischen Kontrollgre- Wiefelspütz für die SPD-Fraktion das Wort. (B) (D) miums besser und effektiver gestaltet werden könnte. (Beifall bei der SPD – Silke Stokar von Noch einmal: Wir von der FDP könnten notwendigen Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ne- Maßnahmen, die durchzuführen Sie den Geheimdiensten belkerzen gibt es jetzt!) erlauben wollen, durchaus zustimmen, wenn Sie auf der anderen Seite bereit wären, die Kontrolle zu verbessern. Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Das sind Sie leider nicht. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Herren! Es ist heute ein guter Tag für unser Land, es ist DIE GRÜNEN) ein guter Tag für die innere Sicherheit. Es ist schon gesagt worden, dass die Evaluierung, auf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Wi- die Sie sich bei der Verlängerung der Schily-Gesetze be- derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – rufen, nicht zureichend war. Dem stimme ich völlig zu; Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE denn diese Evaluierung, die die Frage betrifft, wie sich GRÜNEN]: Wir haben ein Türchen aufge- die Gesetze in der Praxis ausgewirkt haben, ging einzig macht! Heute gab es einen Schokoladenen- und allein vom Blickwinkel der Anwender aus und hatte gel!) überhaupt nicht im Blick, wie sich die neuen Vorschrif- Wir haben heute zwei sehr wichtige Gesetze auf der Ta- ten auf die Betroffenen auswirken, zum Beispiel, ob gesordnung, die die innere Sicherheit unseres Landes Menschen in Dateien aufgenommen worden sind, ohne nachhaltig verbessern. Ich danke den Kolleginnen und etwas davon zu wissen, und dann berufliche Nachteile Kollegen von den Koalitionsfraktionen, dass es uns ge- davon hatten. Das hätte evaluiert werden müssen, wenn lungen ist, heute zeitnah eine Punktlandung vorzuneh- Sie dies zur Grundlage einer Gesetzgebung machen wol- men. Zwei wichtige Gesetze werden zum 1. Januar des len. Auch deswegen können wir nicht zustimmen. kommenden Jahres in Kraft treten können. Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Die Koalitions- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE fraktionen bringen heute einen Entschließungsantrag GRÜNEN]: Das war eine Bruchlandung!) ein. Es lohnt sich, ihn wörtlich zu zitieren. Er hat folgen- den Text: „Die Bundesregierung wird aufgefordert, zeit- Wir würden heute Morgen eine ganz andere Debatte nah einen Gesetzentwurf vorzulegen...“ – jetzt fasse ich führen, wenn die Bomben von Köln und anderswo ex- zusammen –, der das Urteil des Bundesverfassungsge- plodiert wären. Wir haben hier in Deutschland keine richts zum großen Lauschangriff berücksichtigt. Meine Hysterikerdebatte, was innere Sicherheit angeht, aber Damen und Herren, das kann doch nicht Ihr Ernst sein. wir sind auch nicht naiv. Terrorismus ist keine Sache, die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7105

Dr. Dieter Wiefelspütz (A) nur jenseits unserer Grenzen stattfindet und bekämpft – Herr Ströbele, es ist sehr wichtig, dass wir den Terro- (C) werden muss. Terrorismus ist eine akute Gefahr in un- rismus strikt im Rahmen des Rechtsstaats bekämpfen. – serem Land, für Männer, Frauen und Kinder. Das ist kein Wir betreiben Terrorismusbekämpfung in der Kontinui- Irrsinnsszenario, sondern eine ganz konkrete Realität. tät der Sicherheitspolitik der vergangenen Jahre. Ich will niemandem Angst einjagen, aber wer kann in dieser Sekunde, in der wir zusammen beraten, eigentlich (Zuruf von der SPD: Sehr wahr! – Jan Korte ausschließen, dass in diesem Volk von 82 Millionen [DIE LINKE]: Das ist das Schlimme!) Menschen an der einen oder anderen Stelle Menschen Soeben ist ein früherer Innenminister erwähnt wor- beisammensitzen, die planen, Unschuldige in die Luft zu den. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, das segensrei- sprengen? che Wirken des Kollegen Ströbele in den vergangenen (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Legislaturperioden zu erwähnen. GRÜNEN]: Niemand!) (Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- – Niemand kann das ausschließen, das ist richtig. – Des- NIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. Klaus wegen haben wir die verdammte Pflicht, das Menschen- Uwe Benneter [SPD]) mögliche zu tun, um die Sicherheit unseres Landes und Wir haben heute Gesetze zu verabschieden, die auf dem unserer Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Das ist aufbauen, was in früheren Jahren verabschiedet worden doch eine selbstverständliche Pflicht. ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Ich verstehe gar nicht, wieso man überhaupt ernsthaft GRÜNEN]: Alles, was wir verhindert haben, daran zweifeln kann. Wofür haben wir den Rechtsstaat, kommt jetzt hinein!) wenn es nicht seine vornehmste Pflicht wäre, das Men- schenmögliche zu tun, damit seine Bürgerinnen und Präsident Dr. Norbert Lammert: Bürger in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben können? Herr Kollege Wiefelspütz, der Kollege Ströbele Das ist eine elementare staatliche Pflicht. möchte sich mit einer Zwischenfrage persönlich an der Würdigung seiner Arbeit beteiligen. (Jan Korte [DIE LINKE]: Bis wohin?) (Heiterkeit) Terrorismus wird in Deutschland im Rahmen des Rechtsstaates bekämpft. Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir in den letzten Jahren im Bereich der Terroris- Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): (B) musbekämpfung auch nur ansatzweise an die rote Linie Diese Gelegenheit sollten wir ihm geben. (D) – sie existiert in einem qualifizierten Rechtsstaat in die- sem Bereich immer – herangekommen wären. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Jan Korte [DIE LINKE]: Luftsicherheitsge- Bitte schön, Herr Kollege Ströbele. setz! – Gisela Piltz [FDP]: Haben Sie die letz- ten Urteile des Bundesverfassungsgerichts ge- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE lesen?) GRÜNEN): Man kann die rote Linie plakativ mit folgende Maßnah- Herr Wiefelspütz, Sie reden die ganze Zeit über die men benennen: Angriffskrieg, Irakkrieg, Guantanamo, Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Sie sagen, Folter, Rendition, das Verschwindenlassen von Men- das sei der Grund für dieses Gesetzeswerk. Können Sie schen. Das ist die rote Linie, die der bundesdeutsche mir sagen, was die gesetzlichen Vorschriften, die Sie Rechtsstaat nie auch nur ansatzweise berührt hat. Das jetzt einführen möchten, mit Terrorismus und Terroris- wird auch in Zukunft so bleiben. musbekämpfung zu tun haben? Entgegen alldem, was unter Rot-Grün gemacht worden ist, findet hier ein Ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Jan setz, das angeblich im Zeichen des Kampfes gegen den Korte [DIE LINKE]: El-Masri!) Terrorismus geschaffen wurde, Anwendung bei rechts- und linksradikalen Bestrebungen. Geben Sie mir Recht, Es gibt niemanden, der bei uns in Deutschland ernsthaft wenn ich sage: Das ist ein Missbrauch der Bedrohungs- Mittel und Methoden wählt, durch die der Rechtsstaat im lage in der Welt für ganz andere Zwecke? Kampf gegen Terrorismus beschädigt und deformiert wird. Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): (Jan Korte [DIE LINKE]: Das wird gerade Herr Ströbele, wenn es so wäre, wäre ich auf Ihrer untersucht!) Seite. Wir haben in einem sehr frühen Stadium, schon Wenn wir das täten, würden wir unsere eigenen Grundla- bei Einbringung der Gesetze, in der Koalition sehr inten- gen deformieren. siv darüber gesprochen. Es gab eine ganz klare Maß- gabe: Wir machen Terrorismusbekämpfungsgesetze und (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nichts anderes. Bei allen Abgrenzungsschwierigkeiten GRÜNEN]: In Deutschland gibt es das leider! gibt es einen großen Unterschied zwischen Extremismus US-Dienststellen in Deutschland!) und Terrorismus. 7106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Dr. Dieter Wiefelspütz (A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Sind Sie der Ansicht, dass die von Ihnen gewählte (C) GRÜNEN]: So ist es!) Formulierung eine Ausweitung aller bisherigen Defini- tionen ist und dass damit sogar ein vorübergehendes Un- Ich sage es mit meinen Worten: Das Spezifische für Ter- wohlsein gemeint sein kann? Das heißt, dass diese Datei rorismus ist die Bereitschaft, der konkrete Wille zur Ge- eben nicht nur zur Bekämpfung des allgemeinen Terro- waltanwendung. Diese Bereitschaft ist beim Extremis- rismus genutzt werden kann. mus nicht notwendigerweise vorhanden. Deswegen haben wir diesbezüglich eine klare Trennung vorgenom- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ men, mit einer einzigen Ausnahme – ich sage es summa- DIE GRÜNEN) risch –: Wir schaffen mit diesem Gesetz die Möglichkeit, mit nachrichtendienstlichen Mitteln gegen einen Hass- prediger vorzugehen, der in der Tat zur Gewaltanwen- Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): dung aufruft oder dessen Agitation dazu führen kann, Frau Piltz, schönen Dank für die Frage. Es ist völlig dass Menschen Gewalt anwenden. eindeutig. Ich will die Gelegenheit ergreifen, um auf et- was sehr Grundsätzliches einzugehen – Herr Benneter Wir legen großen Wert darauf, dass es sich bei unse- hat das schon einmal kurz angedeutet –: Was das Ge- ren Gesetzen nicht um Extremismusbekämpfung – den meinsame-Dateien-Gesetz angeht, war, ist und bleibt bekämpft man auf andere Weise – handelt, sondern um ganz wichtig, dass wir keine neuen Übermittlungsregeln Terrorismusbekämpfung. Schauen Sie sich die Gesetze schaffen. Diese Datei ist nur eine Datei; das ist nur eine bitte genau an! Wenn Sie Fragen haben, dann kommen „Computergeschichte“. Die materiellen Regelungen für Sie zu mir: Ich erläutere sie Ihnen. Polizei und Geheimdienste, wie sie Informationen zuläs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sigerweise übermitteln dürfen, werden durch das Ge- CDU/CSU) meinsame-Dateien-Gesetz um keinen Millimeter verän- dert. Schauen Sie sich dieses Gesetz und insbesondere Ich wiederhole: Es handelt sich ausschließlich um Ge- seine Begründung an! Das war uns ganz wichtig. setze zur Terrorismusbekämpfung und um nichts ande- res. Wenn man etwas hätte ändern wollen, beispielsweise in Bezug auf das Ausland, dann hätte man diese Rege- lungen ausdrücklich ändern müssen. Genau das haben Präsident Dr. Norbert Lammert: wir nicht getan. Folgendes ist ganz wichtig: Es dürfen Herr Kollege Wiefelspütz, Ihr Vorschlag, die Diskus- ausschließlich bei den Sicherheitsbehörden vorhandene, sion privat fortzusetzen, ist deswegen besonders liebens- legal gespeicherte Daten über die Antiterrordatei ver- (B) würdig, weil er uns hilft, die vereinbarten Redezeiten netzt weitergegeben werden. Das darf aber nur dann ge- (D) einzuhalten. Gleichwohl hat sich Frau Kollegin Piltz zu schehen, wenn das materielle Recht dies zulässt. Wir ha- einer Zwischenfrage gemeldet, die Sie vermutlich eben- ben daran nichts geändert. Haben Sie das verstanden, falls zulassen möchten. Herr Ströbele?

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf Selbstverständlich, aus Respekt vor der Kollegin. des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Gisela Piltz [FDP]: Möchte noch jemand eine Zwischenfrage stellen? Das war meine Frage!) (Heiterkeit) – Herr Ströbele wackelte so mit dem Kopf, Frau Piltz; deswegen habe ich ihn direkt angesprochen. Gisela Piltz (FDP): Herr Wiefelspütz, ich glaube nicht, dass Sie die Rolle Präsident Dr. Norbert Lammert: des Präsidenten einnehmen sollten. Aber das wollen Sie doch in einem privaten Gespräch (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Rolle des Präsi- vertiefen. denten einnehmen? Sehr guter Vorschlag!) Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): – Wenn Sie das möchten, dann müssen Sie das in der SPD-Fraktion demnächst anders als bisher regeln. Schon zu Beginn der Beratungen war mir sehr wich- tig, dass das völlig klar gestellt wird: Wir schaffen keine Sie haben auf die Frage des Kollegen eben geantwor- neuen Übermittlungsvorschriften, die das materielle tet, dass das, was Sie hier vorlegen, einzig und allein der Recht an dieser Stelle verändern. Terrorismusbekämpfung dient. Wenn es so wäre, dann wäre es schön. Ich frage mich, wie Sie das mit § 6 Kurz und gut, die Gesetze, die wir heute verabschie- – „Weitere Verwendung der Daten“ – des Gemein- den, haben Maß und Mitte. Sie bauen auf früheren Ge- same-Dateien-Gesetzes vereinbaren. Dort steht, dass setzen auf. Das Terrorismusbekämpfungsergänzungsge- diese Daten weitergegeben werden können, wenn „dies setz baut auf einem Gesetz auf, an dem im Jahre 2002 zur Verfolgung einer besonders schweren Straftat oder Kollegen wie Herr Ströbele mitgewirkt haben. Wir er- zur Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben, Gesundheit gänzen es, indem wir einige unwesentliche Lücken oder Freiheit einer Person geboten ist …“ schließen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7107

Dr. Dieter Wiefelspütz (A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Gisela Piltz [FDP]: Das ist jetzt der typische (C) NEN]: Unwesentlich? Das ist doch lächer- Wiefelspütz!) lich!) Bei unseren Debatten hat dann die Wand gewackelt. Wir Dieses Gesetz wird für weitere fünf Jahre in Kraft ge- haben gesehen: Dieses Urteil ist nun schon gut zwei setzt. Jahre alt. Wir haben im Bereich der Strafprozessordnung Veränderungen vorgenommen, aber in anderen Berei- Ich möchte noch einige Worte zum Gemeinsame-Da- chen noch nicht. Dieses Parlament und diese Bundes- teien-Gesetz verlieren. Herr Minister, mich stört eher, regierung, Herr Schäuble, haben allen Grund, das sehr dass wir diese Datei nicht schon seit zwei oder drei Jah- bald nachzuholen. ren haben. Nun will ich das hier nicht besserwisserisch kommentieren oder kritisieren. Ich bin froh, dass wir Ich will Sie aber auf Folgendes hinweisen, Herr dieses Gesetz heute verabschieden können. Ich lege Wert Stadler: Die Entscheidung des Bundesverfassungsge- darauf, hier auf Folgendes hinzuweisen: Diese Anti- richts gilt natürlich. Unsere Verfassungsschutzbehörden terrordatei ist gelebter funktionierender Sicherheitsfö- halten sich selbstverständlich – das ist völlig klar und deralismus. Sie funktioniert nur in konkretem vertrau- unzweifelhaft – an diese Entscheidung. Wir werden sehr ensvollem Zusammenwirken aller Sicherheitsbehörden bald Gelegenheit haben, zu den spezifischen Fachberei- auf der Bundes- und der Länderebene. chen, auch zu denen, über die wir heute reden, entspre- chende Vorlagen zu erarbeiten. Das ist dringend nötig. (Gisela Piltz [FDP]: Die hatten Sie nicht!) Zweitens. Die Nachrichtendienste gehören nicht an Wir versprechen uns davon eine erhebliche Verbesse- den Rand unserer Debatte. Sie gehören in das Zentrum rung der informationellen Zusammenarbeit, aber nicht in des Rechtsstaats und sie sind Teil der wehrhaften Demo- dem Sinne, dass neues Recht geschaffen wird, sondern kratie. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir auch in dem Sinne, dass eine neue Praxis eingeführt wird, so- hier im Parlament eher zu wenig über Nachrichten- dass es keine Informationspannen gibt, dass man in Bay- dienste reden. Ich denke, dass wir aus Gründen der Ta- ern das weiß, was man auch in Schleswig-Holstein in gesaktualität und deshalb, weil wir mit Tagesarbeit zuge- den Akten hat, und man in Berlin die Informationen hat, schüttet sind, nicht immer über den Tellerrand die auch im Saarland verfügbar sind. Das ist in der Zu- hinausschauen. Wir sollten das nächste Jahr nutzen, um kunft eine große Hilfe. unabhängig von tagesaktuellen Gesetzesvorhaben zu de- battieren: über den Stellenwert von Geheimdiensten im Wir haben es mit zwei Gesetzen zu tun, die mit sehr deutschen Rechtsstaat, über die Frage der Notwendigkeit viel Augenmaß erarbeitet worden sind, wobei rechts- von Diensten, (B) staatliche Kriterien eine ganz große Rolle gespielt ha- (D) ben. Deswegen waren die Beratungen auch außerordent- (Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist eine gute lich intensiv. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Idee!) mit diesen Gesetzen keine verfassungsrechtlichen Pro- aber insbesondere auch über Fragen von Bürgerrechten, bleme haben werden; ganz im Gegenteil: Es sind eher Kontrollen und Kontrollmechanismen im Parlament. zusätzliche Sicherungen eingebaut worden, von denen ich hoffe, dass sie in Zukunft auch in anderen Gesetzen Die Gesetze in diesem Bereich haben sich in vielen Standard werden. Wir befristen und evaluieren die Ge- Schichten über Jahre entwickelt. Ich bin ganz sicher, setze. Wir sehen im Bereich von Bürgerrechten Doku- dass es mancherlei Widersprüchlichkeiten und vielleicht mentationspflichten vor. Ich will an dieser Stelle dem auch Systemwidrigkeiten gibt. Es lohnt sich, das einmal Bundesdatenschutzbeauftragten Schaar noch einmal aus- auf Sinnhaftigkeit zu überprüfen. Das wollen wir vonsei- drücklich danken – wir haben ihn im Vorfeld der Bera- ten der SPD-Bundestagsfraktion uns vornehmen und tungen intensiv beteiligt –, auf dessen Anregung das eine hoffen auf gute Gespräche mit den Kollegen und Kolle- oder andere ins Gesetz aufgenommen worden ist. Kurz ginnen der Koalition, aber auch mit den anderen Fraktio- und gut: Die Sache ist, wie ich finde, rund und wichtig. nen im Parlament, denen das ein Anliegen ist. Ich denke, dass wir heute dem Deutschen Bundestag Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Gedanken gute, vernünftige Gesetze, die strikt rechtsstaatlich sind, ansprechen, die auch hier in der Debatte schon eine zur Beschlussfassung vorlegen. Das Grundgesetz wird Rolle gespielt haben. eingehalten, mehr als eingehalten. Die Gesetze tragen Erstens. Der Gesetzgeber hat bis heute eine außeror- dazu bei, dass es für unsere Bürger noch ein Stück weit dentlich wichtige Entscheidung des Bundesverfas- sicherer wird. Sie tragen auch dazu bei, dass die gute Si- sungsgerichts nicht berücksichtigt, Herr Dr. Stadler. cherheitsarbeit in Deutschland noch ein bisschen besser wird. (Dr. Max Stadler [FDP]: Warum?) Wir dürfen uns vor den Herausforderungen angesichts Sie haben die Lücke nicht selbst erkannt, sondern wir der Gefahren des internationalen Terrorismus nicht zu- sind – ich sage das durchaus selbstkritisch – in der An- rücklehnen. Diese Koalition nimmt ihre Verantwortung hörung von einigen Sachverständigen darauf aufmerk- im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger wahr. sam gemacht worden. Ich muss Ihnen sagen, dass ich Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. von mir selbst als Parlamentarier enttäuscht bin, dass uns das nicht schon früher aufgefallen ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 7108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) Vizepräsident Dr. : Die Regelung zu den Kontaktpersonen verstößt in er- (C) Das Wort hat nun der Abgeordnete Gert Winkelmeier. heblichem Maße gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dieses Recht ist ein hohes Gut in unserer Gesellschaft und sollte nicht leichtfertig aufs Gert Winkelmeier (fraktionslos): Spiel gesetzt werden. Die Angst vor möglichen terroris- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! tischen Anschlägen ist verständlich. Sie sollte uns aber Eine Auszeichnung haben die Innenminister des Bundes nicht blind machen für die Folgen, die ein solches Ge- und der Länder für den Gesetzentwurf zur zentralen setz für gemeinsame Dateien von Polizei und Geheim- Anti-Terror-Datei ja bereits erhalten, den „Big Brother diensten nach sich zöge. Award 2006“. Die beiden Hauptgründe für diese eher Die Innenministerkonferenz hat dieses Gesetz so ge- zweifelhafte Würdigung sind von Verfassungsrechtlern wollt. Die Bundesregierung hat sich dem angeschlossen. wie auch von Datenschützern immer wieder benannt Das heißt aber noch lange nicht, dass die Mitglieder des worden. Das ist zum einen das Trennungsgebot für Poli- Deutschen Bundestages dem folgen müssen. zei und Geheimdienste, das in den vergangenen Jahren bereits aufgeweicht worden ist. Dieses Trennungsgebot Meine Damen und Herren Abgeordneten, wenn schon hat historische Wurzeln. Eine unkontrollierte Machtkon- die Bundesregierung nicht auf ihre eigenen Fachleute zentration der Sicherheitsapparate und eine neue politi- hört, sollten zumindest wir sie ernst nehmen. Anlässlich sche Geheimpolizei sollten verhindert werden. der Anhörung im Innenausschuss am 6. November die- ses Jahres warnte der Bundesbeauftragte für Daten- Jetzt hat die Bundesregierung ein Gesetz auf den Weg schutz, Peter Schaar – Herr Wiefelspütz, Sie haben diese gebracht, mit dem im Eilfall sogar per Knopfdruck das Passage nicht zur Kenntnis genommen –: von Westalliierten aus gutem Grund festgeschriebene Trennungsgebot ausgehebelt werden kann. Ich sage Ih- Gegen diese Gesetzesvorhaben habe ich erhebliche nen schon heute voraus, dass dieses Gesetz, sollte sich verfassungs- und datenschutzrechtliche Bedenken. ein Kläger finden, vor dem Bundesverfassungsgericht Wenn die Entwürfe Gesetz würden, wäre dies ein keinen Bestand haben wird. Dem Gesetz zur zentralen weiterer Schritt auf dem Weg in eine Überwa- Anti-Terror-Datei wird es genauso ergehen wie dem Ge- chungsgesellschaft, in der auch solche Bürgerinnen setz zum großen Lauschangriff und dem Luftsicherheits- und Bürger als Risikofaktoren behandelt werden, gesetz. Es wird von den Bundesrichtern kassiert werden. die keinen Anlass dafür gegeben haben. Auch die kleinen vom Innenausschuss im Entwurf Der zweite schwerwiegende Grund, diesen Gesetzent- eingefügten Änderungen werden an diesen grundsätzli- wurf abzulehnen, ist der, dass auch die persönlichen Da- (B) chen Bedenken nicht viel ändern. Hier wächst zusam- (D) ten von so genannten Kontaktpersonen erfasst werden. men, was zumindest so nicht zusammengehört. Es ist Es reicht nicht aus, ins Gesetz zu schreiben: „flüchtige vielmehr wichtig, weiterhin am Gebot der Trennung von und zufällige Kontakte werden nicht erfasst“, denn letzt- Polizeibehörden und Nachrichtendiensten festzuhalten. endlich ist die Definition, was flüchtig und zufällig ist, Ermessenssache der Behörden und ist im Gesetz nicht Ersparen wir dem Bundesverfassungsgericht unnötige klar geregelt. Da gerät zum Beispiel ein Kioskbesitzer Arbeit und den Innenministern weitere fragwürdige Eh- ins Visier der Terrorfahnder, nur weil sich ein Verdächti- rungen. Stimmen wir gegen dieses Gesetz! ger jeden Morgen die Zeitung bei ihm holt. Oder: Ein Vielen Dank. Vermieter wird in die Antiterrordatei eingespeist, weil ein mutmaßlicher Terrorist in einer seiner Wohnungen (Beifall bei der LINKEN) lebt. Hier wird eine Kontaktkriminalisierung aufgebaut, die keine Grenzen mehr kennt. Ein wirksamer gesetzli- Präsident Dr. Norbert Lammert: cher Datenschutz findet nicht statt. Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger das Wort. Die Sammelwut der Bundesregierung und der Nach- richtendienste kennt keine Grenzen. Es gibt schon jetzt 160 Dateien, die dem Kampf gegen den Terrorismus Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): bzw. der Kriminalität gewidmet sind. Dort sind Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr 60 Millionen Datensätze über Personen oder Personen- Wiefelspütz, ich möchte zu dem Geständnis, das Sie hier gruppen gespeichert: 60 Millionen Datensätze in einem gerade abgelegt haben, eine Bemerkung machen. Land, in dem 80 Millionen Menschen leben. Das zeigt (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) die Überwachungshysterie in unserem Lande, die unter dem Deckmäntelchen der Terrorismusbekämpfung be- Ich fand es nicht nur bemerkenswert, sondern geradezu gründet wird. erschütternd, dass Sie hier gesagt haben, in der Anhö- rung sei zum ersten Mal überhaupt bekannt geworden, Es ist sehr einfach, zufällig und unwissentlich in eine dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem solche Datei zu geraten. Umso schwieriger dürfte es je- Jahre 2004 nicht nur Auswirkungen auf die Strafprozess- doch sein, aus dieser sinnlos aufgeblähten Datei wieder ordnung hat, sondern auch auf alle anderen Gesetze, in gestrichen zu werden. Zwar ist das im Gesetz geregelt, denen es um Überwachungstechnologien geht. Dass es aber es ist auch vor allem eine Ermessenssache der agie- sich sogar auf den Bereich der Gefahrenabwehr er- renden Behörden. streckt, hat ja das Verfassungsgerichtsurteil zum nieder- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7109

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) sächsischen Polizeigesetz, das kurz danach verkündet Ihre Fraktion ist nicht auf diese Idee gekommen. Wir ha- (C) wurde, unmissverständlich deutlich gemacht. ben das, nachdem wir es erkannt hatten, aufgegriffen und gesagt, es muss so rasch wie möglich geändert wer- Ihren Ausführungen war weiterhin zu entnehmen, den. Ich bitte, wenigstens dieses bei dieser Angelegen- dass Sie die Anträge zur Umsetzung des Urteils, die vor heit zu würdigen. den Beratungen zu diesem Gesetzentwurf und nach dem Urteil eingereicht wurden, nicht zur Kenntnis genom- Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Hinweis ge- men haben. In diesen Anträgen ging es nie um die Um- ben, auch wegen des Gebots der Ehrlichkeit und der setzung einer einzigen Regelung, sondern immer um Fairness. Deutsche Behörden dürfen nicht foltern. Es eine generelle Umsetzung dieses Urteils in allen Berei- darf auch kein augenzwinkerndes Einverständnis mit chen. Darüber wurde in den vergangenen zwei Jahren in Folterknechten im Ausland und kein Zusammenwirken allen Fachbereichen diskutiert. Hierzu gibt es eine Fülle geben. von Aufsätzen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vor diesem Hintergrund denke ich, dass die einfachen Aussagen, dieses Gesetz bewege sich voll im Rahmen Das ist unstreitig; ich glaube, das ist auch hier im Hause des Grundgesetzes, es werde alles beachtet und man sei völlig klar. Aber es gibt an einem Punkt einen Dissens sicher, dass nichts passieren werde, nicht zutreffend – wenn ich das richtig sehe, ist das, was ich Ihnen jetzt sind. Während der ganzen Debatte haben Sie ja eine Er- hier vortrage, auch die Auffassung von Herrn Schäuble; wähnung des Luftsicherheitsgesetzes tunlichst vermie- aber er mag dazu selber Stellung nehmen –: Wenn deut- den. Mit diesem Gesetz haben Sie nämlich die rote Li- sche Behörden aus dubiosen nachrichtendienstlichen nie, die Sie heute aufgezeigt haben, ganz bewusst und Quellen Erkenntnisse haben, die für die Gefahrenab- zielgenau übersprungen. wehr in Deutschland von überragender Bedeutung sind, spielt es keine Rolle, wie diese Erkenntnisse entstanden (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jan Korte sind. Vielfach weiß man das auch nicht. Sie sind dann [DIE LINKE]) nicht gerichtsverwertbar, völlig klar. Kein deutsches Ge- Es ist umso unverständlicher, dass Sie nun, wo Sie richt würde solche Informationen verwerten. Aber wenn eine Bürgerrechtsdebatte führen wollen, den Antrag der es in Deutschland Informationen gibt – möglicherweise FDP, die Vorschrift aus Art. 4 Abs. 4 Europol-Gesetz zu auch, ohne deutsche Beteiligung, auf schändlichem übernehmen, nicht angenommen haben. In dieser Vor- Wege gewonnene –, dann muss man sie zur Kenntnis schrift wird doch die rote Linie markiert, die Sie richti- nehmen. gerweise hier auch erwähnt haben, nämlich dass Daten, ( [CDU/CSU]: Richtig!) die unter Folter gewonnen wurden, nicht verwendet wer- (B) (D) den dürfen. Alles andere wäre völlig unverantwortlich, Frau Leutheusser-Schnarrenberger. All das ist der Hintergrund dafür, dass mich Ihr Ge- ständnis etwas erschüttert hat, lieber Herr Wiefelspütz. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Ich will Ihnen deutlich sagen – möglicherweise ist das ein Dissens zwischen Ihnen und mir; ich habe über die- sen Punkt häufiger auch mit Kollegen debattiert –: Bei Präsident Dr. Norbert Lammert: der Gefahrenabwehr in Deutschland wird, wenn es um Zur Erwiderung, Herr Kollege Wiefelspütz. Leib und Leben geht, jede Information auf den Tischen der deutschen Sicherheitsbehörden, die plausibel ist, na- Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): türlich verwertet. Wir sollten ehrlicherweise zugeben, Erschütterung hin oder her, Frau Kollegin dass darunter auch die eine oder andere Information sein Leutheusser-Schnarrenberger, ich bin dafür, dass man kann, von der wir nicht wissen, wie sie entstanden ist. Dinge, die uns im Rahmen der Gesetzgebungsberatun- Das ist nun einmal so in dieser Welt. Die deutschen gen aufgefallen sind, ehrlich anspricht. Behörden haben die Pflicht, Informationen, die sie be- Wir diskutieren seit vielen Jahren im Innenausschuss kommen haben, aus welchen Quellen auch immer, zu über Terrorismusbekämpfung, wie Sie ja wahrschein- analysieren und im Interesse der Sicherheit unserer Bür- lich auch im Rechtsausschuss. Ich kenne – ich spreche gerinnen und Bürger zu verwerten. Anderes wäre unehr- jetzt nur von mir – keinen einzigen Beitrag, wo das von lich. Insoweit gibt es möglicherweise zwischen Ihnen mir eben Gesagte angesprochen worden wäre. Ich stelle und mir einen Dissens. einfach fest: Wir haben uns viel zu viel Zeit genommen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Während das besagte Urteil Eingang in die Strafprozess- Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie rechtferti- ordnung gefunden hat, haben wir es in unserem Bereich gen damit Folter!) noch nicht umgesetzt. Es gilt allerdings und – das ist völ- lig klar – die Behörden halten sich daran. Ich lege des- Präsident Dr. Norbert Lammert: halb großen Wert darauf, dass wir nun so rasch wie mög- Da gerade dieser Disput sicher nicht nur für die Kol- lich zur Tat schreiten. Darauf hinzuweisen, ist ein Gebot leginnen und Kollegen, sondern auch für die anwesen- der Ehrlichkeit. den Zuschauer sehr informativ war, habe ich das in ei- Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn wir das unter- nem Zeitrahmen zugelassen, der, woran ich erinnern schlagen hätten, Frau Leutheusser-Schnarrenberger? möchte, über die Regelungen hinausgeht, die wir in der 7110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Geschäftsordnung für Kurzinterventionen und Erwide- In dem Luftsicherheitsgesetz gibt es einen Passus, in (C) rungen vorgesehen haben. dem beispielsweise die Überprüfung von Personen an Flughäfen geregelt wird. Eigentlich war eine Nachbe- Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt er- richtspflicht für alle Sicherheitsbehörden der Länder und hält der Kollege Clemens Binninger für die CDU/CSU- des Bundes vorgesehen. Sie haben nun Folgendes ge- Fraktion das Wort. macht: Sie haben die Nachberichtspflicht für die Länder gestrichen. Sie haben auch verhindert, dass die Landes- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ämter für Verfassungsschutz die Erkenntnisse über über- neten der SPD) prüfte Personen in einer gemeinsamen Datei speichern dürfen. Damit haben Sie der Sicherheit an deutschen Clemens Binninger (CDU/CSU): Flughäfen einen Bärendienst erwiesen. Was Sie im Rah- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen men der rot-grünen Sicherheitspolitik gemacht haben, und Kollegen! Lange haben wir in Deutschland ge- war grüner Murks und unverantwortlich. glaubt, wir seien nur Rückzugs- oder Ruheraum für Ter- (Widerspruch der Abg. Silke Stokar von roristen. Seit den gescheiterten Kofferbombenanschlä- Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – gen und den entdeckten Planungen für den Anschlag auf Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das war Ihre dem Frankfurter Flughafen wissen wir, dass Deutschland Blokkadepolitik im Bundesrat!) auch Zielgebiet für den Terrorismus ist. Die Bedrohung ist unmittelbar und real. Wir müssen dagegen etwas un- Wir schließen diese Lücke und tragen damit wieder in einem sehr hohen Maß zur Sicherheit an deutschen Flug- ternehmen. Die große Koalition unternimmt mit dem häfen bei. Sicherheitspaket, das wir heute verabschieden, etwas und gibt die richtige Antwort. Deshalb ist das ein guter (Beifall bei der CDU/CSU – Silke Stokar von Tag für die Sicherheit in unserem Lande. Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sprengen ja alle Grenzen! Bei Ihnen geht es (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) um keine Lücken!) Wir sind der Bedrohung nicht hilflos ausgeliefert. – Sie haben diese Lücke ganz allein verursacht und müs- Terroristen und ihre Helfer müssen sich im öffentlichen sen aushalten, dass man Ihnen das heute vorhält. Sie ha- Raum bewegen, sie müssen telefonieren, sie kommuni- ben aus rein ideologischen Motiven gehandelt und haben zieren im Internet, sie tätigen finanzielle Transaktionen; die Sicherheit an deutschen Flughäfen diesen Motiven sie hinterlassen also Spuren. Deshalb ist es umso wichti- zum Teil geopfert. Es ist gut, dass wir diese Lücke heute ger, dass unsere Nachrichtendienste Instrumente und schließen. (B) Befugnisse – und zwar alle Nachrichtendienste die glei- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut!) (D) chen – erhalten, mit denen sie genau diese Spuren auf- spüren können. Wir geben unseren Nachrichtendiensten, aber auch der Polizei Instrumente an die Hand, um Informationen Deshalb werden wir heute im Terrorismusbekämp- zu gewinnen. Die Sicherheitsbehörden brauchen aber fungsergänzungsgesetz den Nachrichtendiensten Befug- auch ein Instrument, mit dem sie diese Informationen nisse geben, dass sie bei Post, Bank, Luftfahrtunternehmen zusammenführen können. Es gibt eine föderale Sicher- und Telekommunikationsunternehmen Auskunftsrechte heitsarchitektur: 38 Sicherheitsbehörden befassen sich bekommen. Sie können zukünftig online Halterfeststel- mit dem Terrorismus. Wir brauchen deshalb, wie gesagt, lungen vornehmen und der Zoll kann Geld nicht nur bei ein Instrument, mit dem die Informationen über den Ter- Geldwäscheverdacht, sondern auch bei Terrorismusver- rorismus zielgenau, sehr schnell und präzise zusammen- dacht sicherstellen. geführt werden können: die Antiterrordatei. Ich bin überzeugt, dass diese Datei ein Quantensprung sein Wir werden den Personenkreis, auf den diese Instru- wird, was die Verbesserung der Zusammenarbeit zwi- mente angewandt werden können, auf eine Tätergruppe schen Polizei und Nachrichtendiensten angeht. erweitern, die man die dritte Generation nennt. Es sind Ich will das an einem konkreten Beispiel aus der Täter, wie wir sie in Madrid und London hatten, der so Sachverständigenanhörung deutlich machen. BKA-Prä- genannte Homegrown Terrorism. Das ist eine notwen- sident Ziercke hat auf meine Frage, wie lange eine Ant- dige Änderung, mit der wir der Bedrohungslage die rich- wort auf eine LKA-Anfrage dauert, ob irgendein Nach- tige Antwort entgegensetzen. Deshalb sind diese Ge- richtendienst in Deutschland irgendwelche Erkenntnisse setze so wichtig und notwendig und deshalb ist es gut, über eine terrorverdächtige Person hat, geantwortet: Das dass wir sie heute beschließen. kann schon einmal Tage, vielleicht sogar Wochen dau- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ern. – Tage oder Wochen! Wir reden hier aber über Ter- rorismusbekämpfung. Mit der Antiterrordatei wird es Wir schließen aber auch – daran will ich erinnern – keine Tage oder Wochen, sondern nur noch wenige Se- eine Sicherheitslücke, die uns die Grünen beim Luft- kunden dauern, bis ein LKA weiß, ob Erkenntnisse vor- sicherheitsgesetz eingebrockt haben. Sie haben damals liegen. Das ist nicht nur ein großer Gewinn für die Si- ihrem Koalitionspartner eine maßvolle Verfassungs- cherheit der Menschen in diesem Lande, sondern auch änderung verweigert und mussten dann aus dem Luft- ein großer Gewinn für die Zusammenarbeit der sicherheitsgesetz so viel streichen und es so zu- 38 Sicherheitsbehörden. Diese Zusammenarbeit ist un- rechtmurksen, muss man sagen, dass es nicht mehr verzichtbar. Deshalb ist es richtig, dass wir heute die An- zustimmungspflichtig war. titerrordatei beschließen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7111

Clemens Binninger (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Erstens. Die an dem zunächst vorgelegten Entwurf ei- (C) nes Luftsicherheitsgesetzes vorgenommenen Änderun- Die Antiterrordatei ist quasi das elektronisch gebün- gen sind seinerzeit nicht etwa von den Grünen gefordert delte Wissen von 38 – so könnte man sagen – Spe- worden. Das war kein Vorschlag der Grünen, keine Ge- zialeinheiten. Sie ist keine neue Datenerhebung, sondern die praxisgerechte Verwendung bereits erhobener Daten. setzesänderung der Grünen, sondern eine des damaligen Sie bedeutet keine Missachtung des Trennungsgebotes, Bundesinnenministeriums, sondern eine sinnvolle Zusammenführung von Wissen, (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE das bei den Nachrichtendiensten und bei der Polizei vor- GRÜNEN]: Genauso war es! – Clemens liegt. Die Antiterrordatei verhindert eine tagelange oder Binninger [CDU/CSU]: Wieder einmal der wochenlange Warteschleife. Sie gibt dringend benötigte Schily! Der war doch auch mal grün!) Antworten und wichtige Informationen in Sekunden- schnelle. dem die Grünen bekanntlich nicht vorstanden. Ich will auf einen Kritikpunkt, der vorhin genannt Zweitens. Der Grund für diese Änderungen war nicht, wurde, eingehen. Auf den Vorwurf der FDP, wir würden dass die Grünen oder die Koalition das so wollten; wir mit dieser Antiterrordatei die internationale Zusammen- hätten diese Änderungen gerne unterlassen. Der Grund arbeit zwischen Sicherheitsbehörden gefährden, muss war, dass die Länder, vor allem die von der Union domi- ich sagen: Ganz im Gegenteil! Wenn jemand in den letz- nierten Länderregierungen, klar erklärt haben, dass sie ten Wochen und Monaten die Arbeit unserer Sicherheits- die vorgesehene Evaluierung und Mitteilungspflicht behörden sehr gefährdet hat, indem er ihre Arbeit in der nicht unterstützen. Das heißt, wir haben, damit das Ge- Öffentlichkeit sezieren wollte, dann waren es Sie im setz nicht insgesamt infrage gestellt wurde, lediglich BND-Untersuchungsausschuss. Das müssen Sie sich darauf Rücksicht genommen, was die Länder damals ge- vorhalten lassen. fordert haben. Wenn irgendwo eine Schuld bestand, (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei dann lag diese bei den von der Union dominierten Län- der FDP) dern. Um die Empörung etwas abzukürzen, will ich sagen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich bin sehr dafür, dass Missstände aufgeklärt werden sowie bei Abgeordneten der SPD – Wider- und dass man Fehlern nachgeht. Aber Sie müssen schon spruch bei der CDU/CSU) zugeben, dass nach der mehrmonatigen Arbeit des Aus- Drittens. Auch nach Wegfall der Bestimmungen, die schusses nichts Wesentliches herausgekommen ist. Sie ursprünglich im Gesetzentwurf vorgesehen waren, war stören sich auch an der Tatsache, dass der Ausschuss es keineswegs so, dass die Länderverfassungsschutz- (B) häufig geheim tagt. Er tut dies aus guten Gründen; denn (D) die Information über die Arbeit der Sicherheitsbehörden ämter oder andere Länderbehörden daran gehindert wur- und der Nachrichtendienste muss geheim sein, ansonsten den, den Bundesbehörden ihre Informationen über die wären es keine Nachrichtendienste mehr. Ihre Kritik, wir Sicherheit an Flughäfen mitzuteilen und sie zu evaluie- würden die internationale Zusammenarbeit gefährden, ren. Sie sind nach den Ländergesetzen auch ohne dieses ist daher fehl am Platze. Gesetz dazu verpflichtet, alle Informationen, die etwas über eine Gefährdung der Sicherheitslage bzw. eine Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) fahr für die Bevölkerung aussagen, weiterzugeben. Die große Koalition schafft etwas, an dem sich Rot- Viertens. Sie verschweigen, dass das Beispiel, das Sie Grün, aber auch andere Innenpolitiker in den letzten fünf immer wieder nennen, der Vorfall auf dem Frankfurter Jahren vergeblich versucht haben: Wir werden heute Flughafen, nicht realistisch ist. Denn es lag Gott sei eine Antiterrordatei beschließen. Deshalb ist der heutige Dank keine konkrete Gefährdung vor. Das ergibt sich Tag nicht nur ein guter Tag für die Sicherheit in unserem schon daraus, dass von den zunächst Festgenommenen Land; er ist auch ein besonderer Tag für die Innenpoliti- alle bis auf einen inzwischen aus der Haft entlassen wor- ker – für Bundesinnenminister Schäuble, für die Landes- den sind. Der eine ist nicht etwa wegen dieses Vorwurfs innenminister und vor allen Dingen für die Innenpoliti- in Haft geblieben, sondern deswegen, weil er eine alte ker der großen Koalition –, die dieses Gesetz erarbeitet Strafe wegen einer ganz anderen Angelegenheit zu ver- haben. büßen hat. Herzlichen Dank. Das heißt, aus vier Gründen ist das, was Sie gesagt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) haben, völlig daneben gewesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun erhält für eine letzte Kurzintervention der Kol- lege Ströbele das Wort. Präsident Dr. Norbert Lammert: Möchten Sie noch erwidern? – Bitte schön, Herr Kol- lege Binninger. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, Sie haben versucht, den Grünen etwas Clemens Binninger (CDU/CSU): zuzuschieben, was den Grünen nicht zugeschoben wer- Herr Präsident, vielen Dank, dass Sie mir diese Gele- den darf. genheit geben. 7112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Clemens Binninger (A) Herr Kollege Ströbele, ich will festhalten, dass Sie Dritte Beratung (C) mit an der Regierung waren. – Das ist Fakt eins. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Fakt zwei. Sie haben das Gesetz hier beschlossen und Auch dieser Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehr- tragen insofern auch die Verantwortung. Zwischen der heiten angenommen. ersten und der zweiten bzw. dritten Lesung wurden in dem Entwurf eines Luftsicherheitsgesetzes Streichungen Tagesordnungspunkt 26 b. Wir setzen die Abstim- vorgenommen, die hinterher zu einer Sicherheitslücke mung zu der Beschlussempfehlung des Innenausschus- geführt haben. Sie haben mit zugestimmt. Sie haben die- ses auf Drucksache 16/3642 fort. ses Gesetz im Parlament verteidigt. Daher tragen Sie die Verantwortung. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss zweitens, eine Entschließung anzuneh- Fakt drei. Sie erzeugen immer den Eindruck, als ob men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer verhinderte Anschläge nur eine Lappalie seien; Sie ha- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Be- ben das gerade wieder versucht. Dazu muss ich an die schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen. Adresse der Grünen, falls Sie das immer noch nicht be- griffen haben, sagen: Die Menschen in diesem Land Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt haben keine Angst vor Datenbanken der Sicherheitsbe- der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion hörden; sie haben keine Angst vor Videokameras der Si- Die Linke auf Drucksache 16/2624 mit dem Titel „Er- cherheitsbehörden. Sie haben vielmehr Angst vor An- haltung des Trennungsgebots – keine Errichtung ge- schlägen. Wir tun etwas, um Anschläge zu verhindern, meinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrich- und Sie nicht. tendiensten des Bundes und der Länder“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung neten der SPD) mit breiter Mehrheit gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Ich schließe die Aussprache. Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der sache 16/2071 mit dem Titel „Schaffung einer gesetzli- (B) Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes chen Grundlage für die Anti-Terror-Dateien unter Beibe- (D) zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehör- haltung der Trennung von Polizei und Nachrichtendiens- den und Nachrichtendiensten des Bundes und der Län- ten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer der. Hierbei handelt es sich um die Drucksachen 16/2950 stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Be- und 16/3292. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 schlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3642, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- Unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in die- Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der ser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – FDP auf Drucksache 16/2671 mit dem Titel „Evaluierung Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – des Terrorismusbekämpfungsgesetzes präziser gestalten“. Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koali- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer tion gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen in stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die zweiter Beratung angenommen. Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Dritte Beratung Unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung wird die Ab- lehnung des Antrages der Fraktion des Bündnisses 90/ und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Die Grünen auf Drucksache 16/2072 mit dem Titel Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen „Bessere Evaluierung der Anti-Terror-Gesetze“ empfoh- zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist len. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer der Gesetzentwurf mit den gleichen Mehrheiten, mit den stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi- Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. tion, angenommen. Abschließend empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 7 Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antra- der Innenausschuss erstens, den Gesetzentwurf der Bun- ges der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf desregierung auf Drucksache 16/2921 zur Ergänzung Drucksache 16/2081 mit dem Titel „Anti-Terror-Gesetze – des Terrorismusbekämpfungsgesetzes in der Ausschuss- Zeitliche Befristung beibehalten und Rechtsschutz der fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Betroffenen verbessern“. Wer stimmt für diese Be- setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- hält sich der Stimme? – Damit ist die Beschlussempfeh- tungen? – Dann ist auch dies mit gleichen Mehrheiten in lung mit breiter Mehrheit gegen die Fraktion des zweiter Beratung so beschlossen. Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7113

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis e auf: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (C) Ausschuss für Bildung, Forschung und a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Technikfolgenabschätzung Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, wei- Haushaltsausschuss terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker CSU, der Abgeordneten Christel Riemann- Beck (Köln), Birgitt Bender, Irmingard Schewe- Hanewinckel, Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Sascha Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Raabe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN der SPD, der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, , Daniel Bahr (Münster), weite- Gemeinsam gegen Aids – Verantwortung und rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie Solidarität stärken der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, – Drucksache 16/3616 – Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion des Überweisungsvorschlag: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Gesundheit (f) Welt-Aids-Tag 1. Dezember 2006 – Die beson- Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss dere Verantwortung für Entwicklungsländer Ausschuss für Arbeit und Soziales unterstreichen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – Drucksache 16/3610 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Entwicklung Auswärtiger Ausschuss Haushaltsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Ausschuss für Bildung, Forschung und sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Haushaltsausschuss Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Spahn, Annette Widmann-Mauz, Peter Albach, der FDP weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Den Südsudan beim Wiederaufbau unterstüt- CDU/CSU sowie der Abgeordneten Peter zen und vor AIDS bewahren (B) Friedrich, Elke Ferner, Dr. Carola Reimann, wei- (D) terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD – Drucksachen 16/586, 16/2364 – Maßnahmen zur Bekämpfung von HIV/Aids Berichterstattung: in Deutschland Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen) Gabriele Groneberg – Drucksache 16/3615 – Dr. Karl Addicks Überweisungsvorschlag: Hüseyin-Kenan Aydin Ausschuss für Gesundheit (f) Auswärtiger Ausschuss Ute Koczy Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Vorab möchte ich eine kleine Regieanweisung geben: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Mit Blick auf das vereinbarte Ende der heutigen Plenar- Entwicklung debatte bitte ich darum, von nicht dringend erforderli- Haushaltsausschuss chen Zwischenfragen und Kurzinterventionen abzuse- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl hen, weil die vereinbarte Gesamtdebattenzeit sonst Addicks, Hellmut Königshaus, Detlef Parr, weite- schwer einzuhalten ist. rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst Missfallen an der südafrikanischen Aids-Poli- der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg für die SPD-Fraktion. tik betonen und weitere deutsche Entwick- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lungszusammenarbeit an Bedingungen knüp- fen Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): – Drucksache 16/3097 – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Überweisungsvorschlag: haben auf dieser Welt seit 25 Jahren ein neues Problem. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Heute denken wir daran besonders; denn heute ist Welt- Entwicklung (f) aidstag. Vor 25 Jahren begann alles sehr langsam und Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend keiner konnte so richtig ahnen, dass die Aidserkrankung, Ausschuss für Gesundheit die HIV-Infektion und ihre Folgen, heute eine der 7114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Dr. Wolfgang Wodarg (A) häufigsten Todesursachen auf einigen Kontinenten unse- medizinisches Problem, als Problem der einfachen medi- (C) res Globusses ist. In Afrika sterben die meisten 15- bis zinischen Prävention, gesehen werden. Es ist bekannt, 50-Jährigen an Aids. Wir haben in der Zwischenzeit viel dass viele Menschen in Entwicklungsländern nicht lesen darüber diskutiert. Wir haben viel unternommen. Es gibt können, ahnungslos sind und gar keine Chance haben, zu weltweit viele Anstrengungen, dieser Seuche Herr zu erfahren, wie sie sich anstecken könnten oder wie sie werden. sich schützen sollten. Dort ist es so, dass Menschen ver- hungern und es sich nicht leisten könnten, Präservative Aber Aids hat viele Gesichter. Dem müssen wir Rech- zu kaufen, weil sie vielmehr versuchen, von zum Teil nung tragen. Die Koalition hat deshalb zwei Anträge zu weniger als 1 Euro pro Tag eine ganze Familie zu ernäh- Aids eingereicht. Wir haben uns darüber unterhalten, ob ren. Das sind völlig andere Verhältnisse als bei uns. das denn der richtige Weg ist, ob wir uns nicht auf einen einzigen Antrag einigen können. Wir haben dann be- Ich glaube, dass es gut ist, dass wir dieses Thema, die schlossen: Nein, das entspricht dem Problem. Aids hat weltweite Ausbreitung der Seuche, international ange- eben zwei Gesichter. Diese sind unterschiedlich, zum hen. Deutschland kann einen Beitrag leisten. Aber unser Beispiel in Deutschland und in Afrika. Beitrag wird dann besser, wenn wir kooperieren, koordi- nieren und mit anderen Ländern gemeinsam diese Auf- Während sich in Deutschland überwiegend Männer gabe in Angriff nehmen. Wir werden eine wichtige Rolle infizieren – sie werden zum Glück bei uns behandelt, spielen. Wir werden innerhalb der EU Koordinierungs- trotzdem sterben noch viele; 600 waren es im letzten arbeit zu leisten haben. Wir werden auch innerhalb der Jahr –, so sind es in Afrika überwiegend Frauen, die Op- G-8-Staaten Verantwortung übernehmen müssen. fer von HIV/Aids werden und leider viel zu selten be- handelt werden können. Sie sterben in großer Zahl. Täg- Das sollte allerdings auch darin zum Ausdruck kom- lich sind es weltweit 8 000 Menschen, die durch Aids men, dass wir auf internationaler Ebene mehr Geld in- den Tod finden, die allermeisten in Afrika. Eine Trend- vestieren. Ich bin froh, Ihnen mitteilen zu können – das wende ist hier nicht zu erkennen. Während in Deutsch- ist einen Rückblick wert –, dass Deutschland seine Aus- land Aids überwiegend ein männliches Gesicht hat und gaben zur Bekämpfung von HIV/Aids von 30 Mil- mit Sexindustrie und Lifestyleelementen verknüpft ist, lionen Euro im Jahre 1998 auf gegenwärtig immerhin während in Deutschland jeder, der Behandlung benötigt, 400 Millionen Euro erhöht hat. behandelt wird, so geht Aids in Afrika mit Armut, Ah- nungslosigkeit, Gewalt gegen Frauen, Hilflosigkeit und Diese Ausgaben setzen sich wie folgt zusammen: Wir fehlendem Zugang zu Therapie einher. Sie bestimmen zahlen in den Global Fund ein und stützen ihn darüber dort das Gesicht dieser Seuche. hinaus durch Schuldenumwandlungen. Das macht insge- samt 137 Millionen Euro aus. In bilaterale und multilate- (B) Deshalb muss auch das, was wir dagegen unterneh- rale Projekte investieren wir weitere 263 Millionen (D) men wollen, in Deutschland und in Afrika verschieden Euro. Dabei handelt es sich um Projekte, die neben dem sein. Wir müssen völlig unterschiedliche Strategien ent- Global Fund existieren, um Projekte der Weltbank und wickeln. Das spiegelt sich eben in den beiden vorliegen- um andere multilaterale Projekte. den Anträgen wider. In Deutschland sahen wir bisher über viele Jahre eine etwa gleich hohe Infektionsrate. Je- Gott sei Dank gibt es inzwischen weltweit auch sehr des Jahr infizierten sich etwa 2 000 Menschen. Im letz- wichtige und potente private Spender. So leisten zum ten Jahr und auch im ersten Halbjahr dieses Jahres waren Beispiel die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung und die es etwa 13 Prozent mehr. Das heißt, es gibt erstmals wie- Clinton-Stiftung sehr segensreiche Beiträge nicht nur zur der eine Zunahme der HIV-Infektionen. Es wird mit Bekämpfung von Aids, sondern auch zur Bekämpfung Sicherheit auch zu einer Zunahme der Zahl der Aids- anderer Seuchen wie Malaria und Tuberkulose und erkrankten kommen. Wir werden uns auch in Deutsch- weiterer Erkrankungen, die in den Entwicklungsländern land im Kampf gegen Aids mehr anstrengen müssen. ebenfalls viele Todesopfer fordern. Ich bin froh, dass diesen Erfordernissen auch im Es wäre gut, wenn auch die deutsche Industrie, die Haushalt 2007 entsprochen wurde. Der Haushalt des Ge- nicht gerade schwach ist und von der weltweiten wirt- sundheitsministeriums wurde um 3 Millionen Euro auf- schaftlichen Zusammenarbeit lebt, mehr tun würde. Wir gestockt. Nachdem er viele Jahre entsprechend der Neu- sagen, dass wir Exportweltmeister sind, und klopfen uns infektionsrate bei 9,2 Millionen Euro lag, wurden jetzt auf die Schulter. Aber angesichts der international be- 13,2 Millionen Euro eingestellt. Ich denke, das ist not- deutenden Rolle Deutschlands muss man darauf auf- wendig. Wir müssen sehr gezielt, zum Beispiel in Ge- merksam machen, dass wir auch eine große Verantwor- fängnissen und dort, wo Sex gewerblich angeboten wird, tung tragen. wo man sich trifft und Lifestylesex gedankenlos betrie- Leider muss ich zugeben: Ich schäme mich ein biss- ben wird, mehr für Prävention tun. Wir müssen hier auf- chen, dass wir es nicht geschafft haben, die Entwick- klären und auch in Deutschland wieder aktiver werden. lungsländer mit der Quote zu unterstützen, die wir uns (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang vorgenommen hatten. Dieses Gefühl habe ich auch des- Thierse) halb, weil ich in der Nähe Skandinaviens wohne und mit Neid zur Kenntnis nehmen muss, wie viel mehr man in Weltweit ergibt sich jedoch eine völlig andere Per- diesen Staaten für die Entwicklungsländer tut; das gilt spektive. Denn Aids ist in Bezug auf Entwicklungslän- erst recht, wenn man die finanziellen Möglichkeiten die- der ein Querschnittsthema. Aids kann nicht nur als ser Länder mit unseren vergleicht. Wir dürfen also nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7115

Dr. Wolfgang Wodarg (A) locker lassen. Unser Kurs stimmt. Wir haben in diesem Aids inzwischen die Gestalt einer wahren Pest angenom- (C) Jahr mehr als bisher getan und uns für die Entwicklungs- men hat. Weltweit gibt es 40 Millionen Infizierte, davon länder eingesetzt. Aber es gibt noch sehr viel mehr zu fast 25 Millionen in Afrika. In diesem Jahr starben da- tun. ran 3 Millionen Menschen. Seit der Entdeckung von Aids vor 25 Jahren gab es insgesamt bereits fast 25 Mil- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie lionen Tote. bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das sollte uns deutlich vor Augen führen, dass unsere Wenn ein Mensch an einer Immunschwächekrankheit bisherigen Anstrengungen im Kampf gegen Aids nicht leidet, versucht sein Körper vergeblich, etwas abzuweh- ausreichen. Wir müssen noch mehr tun. Frau Ministerin, ren, was für ihn gefährlich werden könnte. Wenn diese mit den bescheidenen Mitteln, die in Ihrem Haushalt für Schädigung stärker wird, stirbt er daran. Auch unser die Bekämpfung von Aids im Rahmen der Entwick- Globus leidet an neuen Krankheiten wie Marktdomi- lungszusammenarbeit zur Verfügung gestellt werden, nanz, Desintegration und anderen Globalisierungsfol- können wir nicht zufrieden sein. gen. Diese Krankheiten müssen wir abwehren. Dafür (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten müssen wir zunächst ihre Ursachen erkennen. Wir müs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sen erkennen, dass dadurch auch die Erforschung und die Entwicklung neuer Medikamente eine Rolle spielen. In drei der acht MDGs geht es um Gesundheit. Aber wir Wir müssen sehr schnell sehr viel leisten. Wenn wir es geben gerade einmal 8 Prozent des Etats des Bundes- nicht schaffen, die Prozesse zur Abwehr dieser Seuche ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und zu organisieren, dann wird dieses Problem bald so groß Entwicklung für gesundheitsbezogene Ziele aus. Auch sein, dass es unbeherrschbar wird. im entwicklungspolitischen Teil der Koalitionsvereinba- Die Vereinten Nationen haben sich vorgenommen, bis rung kommen diese Ziele ganz klar zu kurz; deutlicher zum Jahr 2015 eine weltweite Wende herbeizuführen. will ich jetzt nicht werden. Doch eines ist klar: Das kann Dabei müssen wir helfen. Angesichts des Engagements, nicht so bleiben, vor allen Dingen weil immer noch erst das alle UN-Mitgliedstaaten in New York, Toronto und ein sehr kleiner Teil der Infizierten, insbesondere in Genf zum Ausdruck gebracht haben, bin ich zuversicht- Afrika, mit den überlebenswichtigen antiretroviralen lich, dass wir HIV/Aids besiegen können. Medikamenten behandelt wird. Ich danke Ihnen. Eine Heilung von Aids ist leider noch lange nicht möglich. An Impfstoffen wird geforscht; aber auch hier (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ist eine Intensivierung notwendig. In einigen Ländern (B) bei Abgeordneten der FDP) Afrikas ist durch Aids die Lebenserwartung stark gefal- (D) len, zum Beispiel in Namibia von früher einmal 65 Jahre Vizepräsident Dr. h. c. : auf heute 40 Jahre. Das ist eine der drastischsten Zahlen. Ich erteile das Wort Kollegen Karl Addicks, FDP- Die Feminisierung von Aids nimmt zu. Die Zahl der Fraktion. Aidswaisen in Afrika ist Legion. Wir hätten gerade vor der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands und der G-8- (Beifall bei der FDP) Präsidentschaft Deutschlands ein deutliches Zeichen set- zen können. Neben mehr Geld wäre auch ein effiziente- Dr. Karl Addicks (FDP): rer Einsatz der knappen Mittel sehr wichtig. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir behandeln heute, am Weltaidstag, verschie- An dieser Stelle möchte ich zu unserem Antrag zur dene Anträge, die sich mit der Bekämpfung von Aids be- südafrikanischen Aidspolitik kommen. Wir geben den fassen. Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, ei- Südafrikanern im Rahmen der finanziellen Zusammen- nen interfraktionellen Antrag zustande zu bringen. Das arbeit jedes Jahr 19 Millionen Euro für die Bekämpfung ist für mich über die Parteigrenzen hinweg ein wichtiges von Aids. Doch wir müssen hören, dass in Südafrika Zeichen der Verbundenheit im Kampf gegen Aids. 75 Prozent der 15- bis 24-Jährigen nicht wissen, wie sie sich vor Aids schützen sollen. Ein Minister sagt öffent- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie lich, dass er sich durch Duschen nach dem Sex schützt. bei Abgeordneten der SPD – Monika Knoche Statt eine umfassende Kampagne in den Medien zur [DIE LINKE]: Und was ist mit uns?) Aufklärung über Aids zu machen, hat die südafrikani- Zwar sind in Deutschland und in Westeuropa insge- sche Regierung zugelassen, dass die antiretrovirale The- samt Erfolge zu verzeichnen. Aber leider scheinen diese rapie diffamiert wird und dass den Leuten weisgemacht Erfolge bei einigen zu Sorglosigkeit zu führen. Die Zahl wird, mit Vitaminen und Mineralstoffen könne man sich der Neuinfektionen ist deutlich gestiegen. Deshalb vor Aids schützen. möchte ich an dieser Stelle alle auffordern, wieder mehr auf ihren Schutz zu achten. (Detlef Parr [FDP]: Unglaublich!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der – Ja! – Und so etwas finanzieren wir indirekt im Rahmen CDU/CSU) unserer finanziellen Zusammenarbeit! In Osteuropa breitet sich das Virus rasant aus, ganz (Zuruf von der SPD: Das ist aber nicht zu schweigen vom afrikanischen Kontinent, auf dem schlüssig!) 7116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Dr. Karl Addicks (A) Ich sage das hier und heute, weil die Bundesregierung Ich möchte an dieser Stelle noch einmal dazu aufru- (C) unser Missfallen an der südafrikanischen Aidspolitik fen, dass alle ihre Verantwortung im Kampf gegen Aids bisher nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht hat. übernehmen – auch die kirchlichen, die religiösen Auto- Deshalb sollten Sie unserem Antrag zustimmen. Ich ritäten. Ich begrüße die Überlegungen des Vatikans zur denke, wir müssen hier Klartext reden: Das kann so Verwendung von Kondomen. Ich fände es wirklich nicht bleiben, bei aller Liebe! gut, wenn man Kondome zum Schutz gegen Aids end- lich freigeben würde. Ich frage mich manchmal: Wo le- (Beifall bei der FDP) ben wir eigentlich? Das hätte schon lange passieren müs- Bitte, Herr Kollege Wodarg. sen! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- Ich darf noch einmal daran erinnern: Ursprünglich SES 90/DIE GRÜNEN) war im Interesse des Grünen-Parteitages vereinbart, bis Ich denke, dass die Tabuisierung und die Marginali- 13 Uhr mit der Tagesordnung zu Ende zu sein. Wir wer- sierung von Aidsinfizierten endlich aufhören müssen; den jetzt etwa bei 14.30 Uhr liegen. Es wird durch Zwi- denn ansonsten werden wir der Seuche nicht Herr. Aids schenfragen, Kurzinterventionen und Redezeitüber- wird nun einmal in erster Linie durch menschliche schreitungen deutlich verlängert. Sexualität und erst in zweiter Linie durch Körperflüssig- Ich erteile dem Kollegen Wodarg das Wort zu einer keiten übertragen. – So steht es leider in dem gemeinsa- Zwischenfrage. men Antrag. Das ist genau die Sprache der Tabuisierung, die wir nicht sprechen sollten. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich schließe heute mit einem Wort des Dankes an all NEN]: Das ist eine nette Geste!) diejenigen, die bisher ihr Scherflein zum Kampf gegen Aids beigetragen haben. Besonders möchte ich auch al- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): len danken, die in den NGOs diesen Kampf gegen Aids Herr Kollege Addicks, in Ihrem Antrag fordern Sie, führen. Ihnen gelten unser Dank und unsere Unterstüt- dass wir keine Unterstützung gewähren sollten, wenn die zung. südafrikanische Regierung nichts gegen die Kampagne Haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. von Herrn Rath unternimmt. Meinen Sie nicht, dass es falsch ist, die Leidenden, die jetzt noch von dem profitie- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD ren, was wir tun, zu Geiseln zu machen, auch wenn Sie und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) in der Sache Recht haben? (D) Sie haben unsere volle Unterstützung, wenn es darum Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: geht, diesen Herrn Rath zu verurteilen, der in Südafrika Ich erteile Kollegin Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU-Frak- sein Unwesen treibt und behauptet, er habe die allein tion, das Wort. mögliche Lösung gefunden, und der einfach alles miss- (Beifall) achtet, was in der Wissenschaft Konsens ist. Wir haben Flugblätter bekommen, auf denen die FDP Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): und auch Sie zum Ziel von Angriffen geworden sind, auf Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! denen Sie persönlich diffamiert und bedroht worden Aids ist keine Krankheit nur in den Entwicklungslän- sind. Auch deshalb habe ich mich zu Wort gemeldet: Wir dern. Aber keine anderen Länder leiden so unter Aids nehmen Sie in Schutz; ich drücke Ihnen ausdrücklich wie die Entwicklungsländer. Besonders betroffen ist der meine Solidarität aus. Ich finde es wichtig, dass wir hier afrikanische Kontinent. als Haus zusammenstehen und nicht zulassen, dass In diesem Zusammenhang möchte ich Ihre Aufmerk- Wahrheit so verdreht wird. Wir dürfen nicht zulassen, samkeit auf folgende dramatische Entwicklung lenken: dass mit Diffamierungen versucht wird, notwendige Waren vor zehn Jahren nur 12 Prozent aller Infizierten Hilfe zu verhindern. weltweit Frauen, so sind es heute fast 50 Prozent. In (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Subsahara-Afrika sind es sogar 60 Prozent. Mehr als BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 30 Prozent aller Schwangeren im südlichen Afrika sind mit HIV infiziert. Weltweit werden pro Jahr 2 Millionen HIV-positive Frauen schwanger. In den Entwicklungs- Dr. Karl Addicks (FDP): ländern hat eine schleichende Feminisierung stattgefun- Danke, Herr Kollege Wodarg, dass Sie darauf hinwei- den. Aids hat ein weibliches Gesicht bekommen. sen und mich in Schutz nehmen. Selbstverständlich ist dieser unser Antrag nicht gegen die Betroffenen in Süd- Einer der Gründe für diese schlimme Entwicklung afrika gerichtet. Wir wollen mit diesem Antrag nur errei- liegt meiner Meinung nach vor allem in der Tatsache be- chen, dass die Bundesregierung ihr Missfallen an dieser gründet, das HIV/Aids auch mit der sozialen und wirt- Politik öffentlich deutlich kundtut. schaftlichen Ungleichbehandlung von Frauen zu tun hat; denn HIV/Aids ist mehr als nur ein medizinisches (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Problem. Diese Krankheit umfasst gesellschaftliche, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) politische und kulturelle Dimensionen. Sie hat etwas mit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7117

Sibylle Pfeiffer (A) althergebrachten Strukturen und mit sexueller Gewalt zu Die eher technische Unterscheidung zwischen HIV/ (C) tun. Aids und reproduktiver Gesundheit wird mittlerweile – wie ich finde, völlig zu Recht – regional und interna- Ein wichtiges Potenzial der HIV/Aids-Bekämpfung tional stark kritisiert. wird nicht ausreichend genutzt. Ich denke an den Be- reich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Die- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ser Begriff umfasst weit mehr als nur die reine Familien- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE planung. Die sexuelle und reproduktive Gesundheit GRÜNEN) betrifft alle Aspekte des uneingeschränkten körperli- chen, seelischen und sozialen Wohlbefindens in Bezug Denn in der Praxis ist diese Unterscheidung kaum mög- auf Sexualität und Fortpflanzung. Der Gesundheit von lich: Ist ein Kondom für die Verhütung von HIV oder für Frauen wird dabei besondere Aufmerksamkeit ge- die Verhütung einer Schwangerschaft gedacht? Ich schenkt. denke, für beides. 1994 fand in Kairo zu diesem Thema die Konferenz Die Programme der reproduktiven Gesundheit sind in über Bevölkerung und Entwicklung, ICPD, statt. In An- vielen Städten und Dörfern der Entwicklungsländer be- wesenheit der Vertreter von mehr als 170 Staaten und reits lange etabliert, oft wesentlich länger als die Ein- über 3 000 Nichtregierungsorganisationen hat sich ein richtungen zur HIV-Bekämpfung. Sie haben in der Be- Paradigmenwechsel in der Bevölkerungspolitik vollzo- völkerung einen guten Ruf und werden akzeptiert. Ich gen. Es wurde ein Aktionsprogramm verabschiedet, mit finde, wir sollten diese Programme nutzen. dem neue Richtlinien für die internationale Bevölke- Maßnahmen der sexuellen und reproduktiven Ge- rungspolitik festgelegt wurden, die auch für den Kampf sundheit und Bekämpfung von HIV/Aids sind zwei Sei- gegen Aids enorm wichtig sind. ten einer Medaille. Bis zum Jahre 2015 soll dadurch allen Menschen der (Beifall bei der CDU/CSU) Zugang zur Aufklärung und Familienplanung, zur Ge- sundheitsversorgung rund um Schwangerschaft und Ge- Sogar die WHO betont mittlerweile, welche Bedeutung burt sowie zum Schutz vor HIV/Aids ermöglicht wer- die Vernetzung dieser Maßnahmen hat, um insbesondere den; denn das zentrale Problem war zu jener Zeit und ist die Weiterverbreitung dieser fürchterlichen Krankheit zu es auch heute noch, dass in vielen Entwicklungslän- verhindern. Ich glaube, diese Aussage dürfen wir nicht dern Frauen kein selbstbestimmtes Leben führen kön- ignorieren. nen: Sie können nicht frei entscheiden, ob sie schwanger HIV/Aids wird in den Entwicklungsländern zum werden, sie können nicht entscheiden, wie oft sie überwiegenden Teil durch heterosexuelle Kontakte über- (B) schwanger werden, sie haben keinen Zugang zu Verhü- (D) tragen. Die diesjährige Weltaidskonferenz in Toronto hat tungsmitteln und sie haben keinen Zugang zu Gesund- erneut die enorme Bedeutung der HIV-Prävention be- heitsdiensten. Das zu ändern, ist eine unserer wichtigsten legt. Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Aufgaben. Wenn wir dies nicht schaffen, können wir Ich bin sehr wohl für die Förderung von Behandlung. Ich auch den Kampf gegen HIV/Aids in den Entwicklungs- glaube, dass Prävention und Behandlung zusammenge- ländern niemals gewinnen. hören. Aber vor allem bei Aids gilt: Vorbeugen ist im- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem mer besser als Heilen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Es gibt einen engen wechselseitigen Zusammenhang BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- zwischen Gesundheit und Entwicklung in den armen geordneten der FDP und der LINKEN) Regionen dieser Welt: Ohne Gesundheit keine Entwick- Von ausschlaggebender Bedeutung ist, dass Frauen lung, ohne Entwicklung keine Gesundheit. Die repro- selbstbestimmt über die Prävention entscheiden können. duktive Gesundheit ist ein wesentlicher Teil der Gesund- Nur so sind sie nicht dem Willen ihres Partners ausgelie- heit. fert. Prävention darf nicht allein in den Händen der Män- Auch mit den Millenniumszielen wurde der sexuel- ner liegen. In diesem Zusammenhang sind Femidome len und reproduktiven Gesundheit eine zentrale Bedeu- von großer Bedeutung. Mikrobizide können von großer tung eingeräumt. Drei der acht Millenniumsziele betref- Bedeutung werden. Beides kann selbstbestimmt und fen direkt die reproduktive Gesundheit: Ziel 4 sieht die ohne die Zustimmung des Mannes genutzt werden. Senkung der Kindersterblichkeit vor, Ziel 5 die Senkung Die Marktreife von Mikrobiziden wird aber frühes- der Müttersterblichkeit und Ziel 6 die Bekämpfung von tens im Jahr 2010 erwartet. Es ist zu begrüßen, dass das HIV/Aids. BMZ die Mikrobizidforschung unterstützt. Zu Recht werden für die Eindämmung der schreckli- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie chen Entwicklung von HIV/Aids enorme Anstrengungen bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- unternommen. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass wir NISSES 90/DIE GRÜNEN) dadurch Vorhaben bei der reproduktiven Gesundheit ver- nachlässigen. Diese beiden Bereiche schließen sich nicht Kondome bleiben nach wie vor das wichtigste Verhü- aus. Im Gegenteil: Sie ergänzen sich nach dem Motto tungsmittel. Leider stehen Männern zum Beispiel in „Das eine tun und das andere nicht lassen“. Afrika nicht genügend Kondome zur Verfügung: Pro 7118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Sibylle Pfeiffer (A) Jahr sind es nur sechs bis acht Kondome pro Mann. Wer Monika Knoche (DIE LINKE): (C) sich in Afrika auskennt, weiß, was das bedeutet. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Da- (Zuruf von der SPD: Vielleicht auch in men! Aids ist keine Schande. Aids ist auch keine Seu- Deutschland!) che. In Deutschland kann man das auf jeden Fall sagen. Ich möchte an dieser Stelle einer Frau danken, der wir Ermutigend ist hingegen, was aus dem Vatikan zu hö- im Zusammenhang mit einer aufgeklärten, sehr zivili- ren ist. Kollege Addicks hat schon darauf hingewiesen. sierten und kulturvollen Aidspolitik viel zu verdanken Ich denke, es ist wichtig, dass dort offensichtlich eben- haben. Es ist Ihre Kollegin Frau Dr. Rita Süssmuth, die falls ein Umdenken begonnen hat. Die derzeit einzige als Gesundheitsministerin sehr viel dazu beigetragen hat, wirklich wirksame Vorbeugung gegen Aids ist das Wis- dass wir dieses aufgeklärte Verständnis haben. sen darüber, wie man sich vor Ansteckung schützen kann. Wissen rettet Leben. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich möchte Ihnen aber auch sagen, dass ich es in diesem Zusammenhang überhaupt nicht nachvollziehen kann, Sexualaufklärung umfasst immer auch Aidsaufklä- warum Sie in kleinkarierter Weise die Linke aus diesem rung und ist ein wichtiger Teil der Prävention. Gerade Diskurs heraushalten wollen und uns nicht zur Erarbei- junge Leute – insbesondere junge Frauen – müssen des- tung des gemeinsamen Antrages eingeladen haben. halb über Aids aufgeklärt werden. Ich fasse zusammen: Erstens. Gerade in Entwick- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ lungsländern hat Aids ein weibliches Gesicht. Besonders DIE GRÜNEN) der Schutz von Mädchen und Frauen muss im Kampf ge- Dass wir in Deutschland mit dieser Problematik sehr gen HIV/Aids eine noch größere Rolle spielen. gut zurechtkommen, führe ich maßgeblich auf das starke (Dr. Karl Addicks [FDP]: Sehr richtig!) zivilgesellschaftliche Engagement und insbesondere auf das Engagement der homosexuellen Gruppen zu- Zweitens. Wir müssen auf internationaler Ebene da- rück, die viel dazu beigetragen haben, dass wir einen rauf bestehen, dass die Rechte der Frauen gestärkt wer- sehr entwickelten Stand auch in der medizinischen Ver- den. Wir leisten dort mithilfe unserer Entwicklungs- sorgung und Forschung haben. Auch unser Gesundheits- ministerin Unterstützung. Ich halte es für den richtigen wesen hat bislang viel dazu beigetragen, dass alle HIV- Weg, in den einzelnen Ländern die Frauen stärker in Infizierten und Aidserkrankten die volle Sachleistung er- Aidsbekämpfungsprogramme mit einzubinden. halten, dass wir also ein sehr hohes Versorgungsniveau Drittens. Der Zugang zu Mitteln der Familienplanung haben. und zu finanzierbaren Medikamenten muss verbessert (B) Obwohl dem so ist und wir wissen, dass einigen HIV- (D) werden. Infizierten und Aidskranken, die spritzdrogenabhängig Viertens und letztens. Vor allem die Trennung von sind, sehr gut geholfen werden könnte, wenn weiterhin HIV/Aids-Bekämpfung und sexueller und reproduktiver Heroinsubstitution betrieben würde – auch ein wichtiges Gesundheit ist nicht zu rechtfertigen. Beide gehören zu- Thema, das wir heute nicht außen vor lassen sollten –, sammen. (Zustimmung bei Abgeordneten des BÜND- Lassen Sie mich zum Schluss noch allen Berichter- NISSES 90/DIE GRÜNEN) stattern im AwZ für die sehr konstruktive Zusammen- arbeit sowie meinen Vorstandskollegen aus dem Parla- bin ich der Auffassung, dass die Welt vor der Gefahr mentarischen Beirat der Deutschen Stiftung steht, den Kampf gegen Aids zu verlieren. In Europa ist „Weltbevölkerung“ danken. Ich denke, wir haben vor al- das nicht so, genauso wenig in Nordamerika. In Latein- lem bei diesem wichtigen Thema gezeigt, dass wir sehr amerika sind viele wichtige Initiativen gestartet worden. wohl in der Lage sind, gemeinsam anzupacken. Aber insbesondere in Afrika besteht die Gefahr, dass wir – ich sage bewusst „wir“, weil wir alle dafür Verant- (Zuruf von der LINKEN: Nur ohne die Linke!) wortung tragen – den Kampf gegen Aids verlieren. Bei der Erarbeitung des fraktionsübergreifenden An- In diesen Tagen wird darüber gesprochen, dass sich trags haben wir festgestellt, wie wichtig einerseits und der G-8-Gipfel des Themas HIV/Aids annimmt. Ich wie umfassend andererseits dieses Thema ist und wie wünsche mir eher, dass in diesen Fragen die UN und ins- wenig wir letztendlich auf den vielen Seiten unseres An- trags untergebracht haben. besondere die UNAIDS gestärkt werden und mehr Ver- handlungskompetenz bekommen und dass der Global Vielen Dank. Fund von deutscher Seite sehr stark finanziell gefeatured (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie wird. bei Abgeordneten der FDP und des (Beifall bei der LINKEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist leider nicht der Fall. Wenn wir aber schon beim G-8-Gipfel sind, möchte ich sagen: Dorthin gehört auch Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: die Frage, um die es im Hinblick auf Afrika zentral geht. Ich erteile das Wort Kollegin Monika Knoche, Frak- Es geht um das TRIPS-Abkommen, um die Verweige- tion Die Linke. rung des Zugangs zu Medikamenten. Noch immer un- (Beifall bei der LINKEN) terliegen über 70 Prozent der HIV-Medikamente und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7119

Monika Knoche (A) Aidsmedikamente dem Patentschutz. Es ist den betroffe- bleme sollten wir im Zusammenhang mit Afrika im (C) nen Menschen und den Regierungen nahezu unmöglich, Auge behalten. unter diesen Kautelen eine adäquate und vor allen Din- Eine tragische und üble Entwicklung findet in Ost- gen kostengünstige Aidsbehandlung durchzuführen. europa statt, insbesondere im Baltikum und in der Hier muss eine radikale Revision, ein Umdenken in der Ukraine. In Osteuropa gibt es einen regen männlichen Patentschutzpolitik stattfinden. Sonst kann das Pro- Sextourismus, der insbesondere von spritzdrogenabhän- blem Aids nicht bewältigt werden. gigen jungen Frauen profitiert. Diese werden Sexarbeite- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. rinnen und sind Opfer des organisierten Menschenhan- Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]) dels. In diesem Milieu breitet sich HIV massiv aus. Diesem Problem müssen wir Europäerinnen und Euro- Natürlich muss auch der IWF genannt werden, wenn päer uns stellen; denn das passiert nicht im fernen Russ- wir schon die Welt ins Auge fassen; denn vieles, was die land oder hinter einem eisernen Vorhang, sondern direkt betroffenen Staaten im Rahmen ihrer medizinischen In- hinter unseren Grenzen. Die gewissenlosen Praktiken frastruktur nicht leisten können, hat mit dem Staatszer- beim Sextourismus sind ursächlich für die Ausbreitung fall und der Deregulierungspolitik zu tun. Ich habe ins- der Infektionen in heterosexuellen Kreisen verantwort- besondere in einigen afrikanischen Ländern, die ich lich. Frauen, die sich nicht wehren können, sind hier die besucht habe – ich nenne nur Namibia als Beispiel, für Opfer. das Deutschland eine besondere historische Verpflich- tung hat –, gesehen, dass die NGOs, die oftmals die Ein- (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie zigen sind, die Maßnahmen ergreifen können, häufig ein bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Nebeneinander von Hilfsmaßnahmen pflegen und dass GRÜNEN) eine konzertierte staatliche Gesundheitspolitik und Machen wir uns die Dramatik bewusst. Es werden im- eine entsprechende Versorgungsinfrastruktur nicht mög- mer mehr heterosexuelle Menschen mit dem HIV-Virus lich sind. Auch in dieser Hinsicht sollten die Entwick- infiziert. In Deutschland sind es vorwiegend junge lungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker stärker schwule Männer, die aufgrund der guten medizinischen darauf achten, wie die NGOs im Rahmen der Entwick- Versorgung schon vergessen haben, dass es sich bei Aids lungszusammenarbeit unterstützt werden können, damit um eine tödliche Erkrankung handelt. Wir haben noch der staatlichen Gesundheitsversorgung die Priorität zu- einiges zu tun. Ich möchte Ihnen sagen: Lassen Sie die kommt, die sie haben sollte. ideologischen Barrieren beiseite! Schließen Sie emanzi- (Beifall bei der LINKEN) patorische linke Kräfte ein! Wir haben einen guten Draht auch zu jungen Menschen. (B) Die vielen HIV/Aids-Waisen – dazu ist schon vieles (D) gesagt worden, was ich nicht zu wiederholen brauche – (Jens Spahn [CDU/CSU]: Den haben wir zeigen, dass im Gegensatz zu Europa und Nordamerika, auch! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So wo die Krankheit im Wesentlichen homosexuelle Men- was Plattes!) schen und Spritzdrogenabhängige betrifft, in Afrika Aids Es ist gut, wenn wir alle im Hause zusammenstehen. hauptsächlich bei Heterosexuellen auftritt. Das hängt Lassen Sie uns das in Zukunft so handhaben. auch damit zusammen, dass die Stellung der Frau völlig anders ist als bei uns. Viele Sexualpraktiken, die zur Danke. Übertragung des Virus beitragen, sind in die Kultur inte- griert. Das darf bei der Aufklärung nicht tabuisiert wer- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: den. Die mitunter brutale männliche Sexualität im afri- Ich erteile das Wort Kollegin Ute Koczy, Fraktion des kanischen Raum muss zum Thema gemacht werden, Bündnisses 90/Die Grünen. damit Präventionsstrategien überhaupt greifen können. Wenn Frauen über sexuelle Praktiken nicht selbst ent- Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): scheiden dürfen, dann ist es schlichtweg nicht möglich, Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen dass sie sich schützen. und Kollegen! Weltaidstag, ein Tag, an dem die Welt ge- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem mahnt ist, nicht nur innezuhalten, sondern auch zu han- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- deln, gemeinsam zu handeln; denn Aids ist Gegenwart, geordneten der CDU/CSU und des Abg. Detlef jederzeit, überall. Deshalb ist es auch gut, dass es neben Parr [FDP]) vier weiteren einen interfraktionellen Antrag gibt, der die gemeinsame Verantwortung für Entwicklungslän- Darauf muss bei der Aufklärung besonderer Wert ge- der unterstreicht. Noch besser wäre es aber gewesen, die legt werden. Sonst können Präventionsstrategien nicht Linken einzubeziehen und angesichts der Sachlage groß- erfolgreich sein. Auch wenn wir den schwangeren koalitionäre Taktikspielchen hintanzustellen. Frauen mit Medikamenten helfen können, die Übertra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gung des Virus während der Geburt zu vermeiden, so be- und bei der LINKEN – Monika Knoche [DIE steht immer noch das Problem, dass die Frauen nicht die LINKE]: Danke schön!) Kraft und nicht die gesellschaftliche Stellung haben, ih- ren Schutz beim Sexualverkehr durchzusetzen. Die Ge- HIV/Aids ist eine Krankheit, deren Bekämpfung fahr der Reinfektion besteht nach wie vor, weil die mehr braucht als nur Information. Der Kampf gegen Frauen keine sexuelle Autonomie haben. Diese Pro- Aids kann nur da gewonnen werden, wo es gelingt, 7120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Ute Koczy (A) menschliche Verhaltensweisen zu verändern. Das ist die eine neue Richtung lenkt. Warum tut man das? Nicht aus (C) größte Herausforderung. Deshalb ist es so wichtig, ohne eigenem Antrieb, sondern auf Druck von Gebern, insbe- moralischen Zeigefinger und mit unverstelltem Blick sondere der USA. Die USA binden ihre Unterstützung quer zu patriarchalen, heterosexuellen Traditionen die für Prävention zunehmend an moralisch-religiöse Krite- Verbreitung von HIV/Aids zu bekämpfen. rien, leider mit Erfolg. 2004 hat das ugandische Gesund- heitsministerium in einer Rückrufaktion sämtliche von Wir haben gehört, welche enormen Schäden, welch der Regierung kostenlos verteilte Kondome zurückge- unermessliches Leid diese Krankheit anrichtet – und das holt. Wir sehen also, dass es in diesen Ländern auch mo- in einer so kurzen Zeit; erst vor 25 Jahren wurde das ralisch-religiöse Kriterien gibt, die nichts mit dem HIV-Virus entdeckt. Bitter ist: HIV/Aids ist inzwischen Kampf gegen Aids zu tun haben, sondern von einer an- weiblich geworden. In Afrika, südlich der Sahara, infi- deren Strategie zeugen. zieren sich überproportional viele Frauen und Mäd- chen mit dem Virus, zum einen, weil sie biologisch an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fälliger sind, und zum anderen, weil sie ganz einfach und bei der SPD sowie der Abg. Sibylle weniger Rechte haben, weil sie es schwer haben, sexu- Pfeiffer [CDU/CSU]) elle Praktiken einzufordern, die sie schützen, weil sie nicht sagen können: He, du, nimm ein Kondom! Dazu Darunter haben insbesondere auch Homosexuelle zu haben sie nicht die Rechte. Letztlich verweigert ihnen leiden, deren Menschenrechte ohnehin in vielen Ländern diese Rechtlosigkeit auch den Schutz gegenüber ihrer eingeschränkt und missachtet werden. In über 75 Län- Person oder gegenüber ihrer Familie. Deswegen müssen dern ist Homosexualität strafbar. Doch wenn Menschen wir daran arbeiten, dass sich das verändert. wegen ihrer Liebe ins gesellschaftliche Abseits gedrängt werden, wenn Homosexualität tabuisiert wird, dann ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine wirksame Aidsprävention unmöglich. Auch daran und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der müssen wir im internationalen Kampf gegen Aids arbei- CDU/CSU) ten. Weltweit liegt die Lebenserwartung von Frauen im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Durchschnitt circa fünf Jahre höher als bei Männern. In sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Simbabwe ist das anders. Dort hat das HIV/Aids-Virus SPD und der LINKEN) inzwischen zu einer der weltweit niedrigsten Lebenser- wartungen geführt; dort werden Frauen im Schnitt nur Ein weiterer Punkt. Es gibt seit zehn Jahren in den In- noch 34 Jahre alt, sie sterben drei Jahre früher als Män- dustrieländern antiretrovirale Medikamente. Diese ner. Medikamente können HIV/Aids nicht heilen, aber sie (B) (D) Wir müssen uns fragen: Berücksichtigen die Metho- verringern ganz deutlich das Leid der Krankheit und er- den der Aidsbekämpfung die Bedürfnisse von Frauen möglichen es Menschen mit HIV/Aids, weiterzuleben. und Mädchen? Nein, sie tun es zu wenig. Frauen brau- Gerade für Menschen in Entwicklungsländern wäre es chen einen besseren Zugang zu Informationen über die wichtig, dass sie Zugang zu diesen Medikamenten bekä- Krankheit und ihre Übertragungswege. Es gibt einfach men. Den haben sie aber nicht. Ja, es hat Verbesserungen zu wenig frauenkontrollierte Methoden der HIV/Aids- gegeben. Aber die Versorgungslücke bleibt immens. Prävention. Auch das muss geändert werden. Bestenfalls eine von zehn Afrikanerinnen bzw. Afrika- nern und eine von sieben Asiatinnen bzw. Asiaten erhiel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten letztes Jahr diese dringend benötigte Therapie. Der sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Grund war auch, dass diese Medikamente zu teuer sind. SPD und der LINKEN) Auch daran werden wir arbeiten müssen; denn das ist ein Skandal. Das Beispiel Kenia zeigt ja, dass es funktioniert. Dort sind die Prävalenzraten unter jungen, schwangeren Weiterer Handlungsbedarf besteht in der pharmazeu- Frauen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. tischen Forschung. Wir brauchen endlich einen Aids- Wie hat man das geschafft? Man hat Informationen wei- impfstoff und wir brauchen Medikamente, die in ihrer tergegeben; man hat dazu aufgefordert, das Sexualver- Form und in ihren Eigenschaften den Bedürfnissen von halten zu verändern. Jetzt kennen mehr junge Menschen Menschen in Entwicklungsländern gerecht werden, zum das Risiko; weniger junge Menschen gehen die Risiken Beispiel durch kindgerechte Dosierungen. ein; mehr junge Menschen benutzen Kondome. Also kann sexuelle Aufklärung viel bewirken. Ich komme zum letzten Punkt, zum Geld. Ja, es hat noch eine Steigerung im Haushalt gegeben. Kommen wir nun zu Uganda. Dort zeigt sich, dass es eine negative sexuelle Aufklärung geben kann. Es gab (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: So ist es!) einmal eine positive Entwicklung in Uganda; sie hat sich verändert. Jetzt deuten die Zahlen darauf hin, dass die Doch gemessen an den Bedürfnissen und an der Finan- Fortschritte, die dort festgestellt werden konnten, wieder zierungslücke sind solche kleinen Steigerungen noch verloren gingen, und zwar deswegen, weil sich die Nut- lange nicht ausreichend. zung von Kondomen im außerehelichen Geschlechtsver- (Dr. Karl Addicks [FDP]: Das ist richtig!) kehr verringert hat. Wie konnte es dazu kommen? Neue Studien von Menschenrechtsorganisationen verdeutli- UNAIDS und die WHO schätzen, dass zur Finanzierung chen, dass Uganda seine HIV-Präventionsstrategie in der unmittelbaren Maßnahmen der HIV/Aids-Bekämp- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7121

Ute Koczy (A) fung im Jahr 2007 noch eine Lücke von 8 Milliarden Die Bedingungen haben sich verändert. Das ist der (C) Dollar besteht. Grund dafür, dass die Bundesregierung ihr Gesamt- konzept bereits 2005 erweitert hat. Wir haben einen Nächstes Jahr gibt es besonders gute Gelegenheiten, Aktionsplan ausgearbeitet. Den nationalen Teil dieses den Kampf dagegen aufzunehmen. Deutschland wird die Aktionsplans haben wir mit den wichtigsten gesell- Präsidentschaft der G 8 haben. Die Staaten der G 8 ha- schaftlichen Akteuren, mit Experten, mit den Ländern ben das Versprechen abgegeben, einen universellen Zu- und mit den kommunalen Spitzenverbänden bereits ab- gang zu Medikamenten zu ermöglichen. Wir wollen hof- gestimmt. Eine interministerielle Arbeitsgruppe ist ein- fen, dass sie das auch tun. Deutschland ist nächstes Jahr gesetzt worden, die eine wichtige Rolle bei der Umset- auch Gastgeber einer Konferenz zur Wiederauffüllung zung und bei der Koordination dieses Aktionsplans des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuber- spielen wird. Wir werden den Aktionsplan im Frühjahr kulose und Malaria. Deutschland zahlt im Jahr 2007 nächsten Jahres, aller Voraussicht nach im Februar 2007, – das ist anzuerkennen – 87 Millionen Euro in diesen vorlegen und damit eine wichtige neue Etappe einleiten Fonds. Doch angesichts der Finanzierungslücke von können. 5,9 Milliarden US-Dollar und angesichts der wirtschaft- lichen Möglichkeiten ist das viel zu wenig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen mehr Gleichzeitig hat der Deutsche Bundestag in seinen tun. Packen wir es an! Wir haben dazu nächstes Jahr die Haushaltsberatungen entschieden – verschiedene Redner Chance. haben es angesprochen –, die Mittel für die Aidsaufklä- rung im Jahr 2007 um 3 Millionen Euro auf insgesamt Ich danke für die Aufmerksamkeit. 12,2 Millionen Euro aufzustocken. Ich sage ausdrück- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich noch einmal: Herzlichen Dank! Ich glaube, das ist sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und ein wichtiges und notwendiges Signal, das wir in der Tat der SPD) brauchen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Prävention steht für uns im Zentrum der Aidsbekämp- Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staats- fung. Neben den Jugendlichen der jeweils neuen Gene- sekretär Rolf Schwanitz. ration, für die man ganz offensichtlich immer wieder mit Prävention und Information tätig werden muss, bleibt Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- eine wichtige zentrale neue Gruppe, um die wir uns ministerin für Gesundheit: kümmern und der wir uns zuwenden müssen: die Gruppe (B) (D) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und der Migrantinnen und Migranten. Dort Prioritäten zu Herren! Ich möchte mich zunächst bei Ihnen allen herz- setzen, ist, glaube ich, richtig. Alle Menschen, die in lich dafür bedanken, dass Sie dem Thema HIV/Aids Deutschland leben, sollen unabhängig von ihrem kultu- nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen Jahren rellen Hintergrund den gleichen Zugang zu Information, im Deutschen Bundestag einen so hohen Stellenwert zu- Prävention und Beratung haben und müssen durch ge- kommen ließen. Das gilt auch im Hinblick auf die in die- eignete Strategien der Aufklärung erreicht werden. Not- ser Debatte vorgelegten Anträge. Ich glaube, dass das wendig ist übrigens ein besonderes Eingehen darauf in Zusammenstehen über Parteigrenzen, über gesellschaft- den Fortbildungsteilen für medizinisches Personal und liche Grenzen hinweg ein Stück weit den Erfolg der vor allem für Ärzte. Das muss in der nächsten Zeit ge- Strategie Deutschlands in den vergangenen Jahren aus- währleistet werden. gemacht hat. Ich möchte, dass das in der Zukunft so bleibt. In Deutschland sind vor allem Männer, die Sex mit Männern haben, von der Epidemie am stärksten betrof- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der fen. 70 Prozent der Neuinfektionen entfallen auf diese CDU/CSU) Gruppe. Wir müssen das sehr aufmerksam beobachten und darauf reagieren, dass hier eine gewisse Präven- Ende 2006 leben bei uns etwa 56 000 Menschen mit tionsmüdigkeit eingetreten ist und dass hier eine größere HIV und/oder Aids. 15 Prozent davon sind Frauen. Die Risikobereitschaft erkennbar ist. Deswegen will ich auch Zahl der Neudiagnosen in diesem Jahr liegt, geschätzt, anlässlich dieser Debatte noch einmal ausdrücklich beto- bei 2 700. Dieses Betroffenheitspotenzial ist im Hinblick nen: Trotz der großen Fortschritte, die wir im medizini- auf die internationale, auch auf die europäische Dimen- schen Bereich bei der Bekämpfung von HIV und Aids sion dieser Pandemie vergleichsweise niedrig. Ich will erreicht haben, ist dies keine normale chronische Krank- ausdrücklich sagen: Für uns ist jeder Einzelne, jede, die heit. Sie darf nicht als solche missverstanden werden. sich in Deutschland neu infiziert, eine Person zu viel. Der Anstieg der Anzahl der Neuinfektionen muss uns (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Anlass sein, unsere Anstrengungen nicht zurückzuneh- bei Abgeordneten der LINKEN und des men; vielmehr müssen wir uns auch auf nationaler BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ebene auf diese neuen Anforderungen einstellen. Jede Einschränkung bei Beratung und Thematisierung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der dieses wichtigen Problems in den Medien, ob privat oder CDU/CSU sowie der Abg. Ute Koczy öffentlich-rechtlich, ist falsch und hat negative Konse- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) quenzen im Schutzverhalten vieler. 7122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz (A) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) eine große Werbefläche ins Auge, die auf den ersten (C) Blick auf eine Fernsehserie hinzuweisen scheint: Die Bundesregierung ist sich der internationalen Ver- antwortung, die mit dem Thema HIV und Aids verbun- geliebt in Berlin – infiziert mit HIV – Täglich neue den ist, sehr wohl bewusst. Weltweit besteht die Gefahr Folgen! – verschiedene Redner haben bereits darauf aufmerksam gemacht –, dass die rasante Ausbreitung von HIV und Ein eindrucksvoller Hinweis auf wachsenden Leicht- Aids alle Anstrengungen, die zur Eindämmung dieser sinn in unserer Gesellschaft! Zunehmend werden die Ri- Seuche unternommen worden sind, wieder zunichte siken unterschätzt, die vor allem im intimen Umgang macht. Im Jahr 2005 betrug die Zahl der Aidstoten miteinander liegen, aber nach wie vor auch Drogen- 2,8 Millionen. Nicht nur im afrikanischen Bereich sind abhängige betreffen. Migranten kommen als neue, wach- die Zahlen besorgniserregend, sind die Todesraten sende Gruppe hinzu. erschreckend und mahnen zum Handeln; auch im ost- Die aktuellen Zahlen – ich will sie hier nicht wieder- europäischen und asiatischen Bereich ist das so. Bei- holen – belegen die Sorglosigkeit, die sich auch in spielsweise ist der Umstand zu nennen, dass die Behand- Deutschland eingeschlichen hat. Die Teilnahme an Bare- lungsrate der Infizierten in Osteuropa bei sage und backing-Partys zum Beispiel ist kein harmloses Spiel, schreibe nur 5 Prozent liegt. Wir müssen hier also mehr sondern bedeutet für manche Russisches Roulette. tun, meine Damen und Herren. Qualifikation des Perso- nals ist sicherlich eine richtige Reaktion. Der Kampf ge- Es ist eben nicht richtig, dass HIV-Infektionen mitt- gen Stigmatisierung und gegen Benachteiligung der Be- lerweile heilbar sind. Die Antiretroviraltherapie kann troffenen ist das zentrale Thema. nur mildernd wirken. Das muss über eine risikospezifi- sche Aufklärung vor Ort immer wieder deutlich vermit- Lassen Sie mich noch etwas zu dem sagen, was Sie telt werden, zum Beispiel in der Schule bei Kindern und vorhin ausgeführt haben, Herr Dr. Addicks. Ich stimme Jugendlichen, insbesondere bei Mädchen und in der Ihnen zu, was die Frage angeht, welche Erwartungen wir „Szene“, in Jugendtreffs, Diskos oder Bars. an die katholische Kirche haben. Es gibt auch Mut ma- chende Signale und wir hoffen, dass sie endlich umge- Ich möchte an dieser Stelle den zahllosen lokalen setzt werden. Bezogen auf die deutliche Ansprache der Aidshilfen danken, die ehrenamtlich einen unschätzba- Bundesregierung gegenüber Verantwortlichen in Süd- ren Dienst am Nächsten leisten, vorbildlich für eine Ver- afrika, gegenüber der dort ihr Unwesen treibenden antwortungs- und Teilhabegesellschaft, wie wir Libera- Dr. Rath Health Foundation usw. ist nichts zu bemän- len sie uns wünschen. geln. Sowohl die Ministerin Wieczorek-Zeul als auch das Auswärtige Amt und meine Ministerin lassen keine (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD (B) (D) Gelegenheit aus, in aller Deutlichkeit darauf hinzuwei- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sen, wie wir die Dinge sehen, und zu betonen, dass ein Wir begrüßen auch die Aufstockung der Finanzmittel Umsteuern dringend erforderlich ist. für Aufklärungsmaßnahmen der Bundeszentrale für ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie sundheitliche Aufklärung im Haushalt 2007. Damit setzt bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- die Bundesregierung ebenso richtige Akzente wie die NISSES 90/DIE GRÜNEN) privaten Krankenversicherungen, die die Bundeszentrale mit immerhin über 3 Millionen Euro jährlich unterstüt- zen, und viele andere private Initiativen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Meine Damen und Herren, dabei dürfen wir den Weg der informativen Aufklärung mit dem Ziel der Stärkung Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- der Eigenverantwortung nicht verlassen. Wer wie im An- ministerin für Gesundheit: trag der großen Koalition die Verschärfung des Straf- rechts bei ungeschütztem Sex bereits Infizierter fordert, Meine Damen und Herren, wir werden HIV/Aids zu setzt auf Repression und damit auf das am wenigsten ge- einem zentralen Thema unserer Präsidentschaft im eignete Mittel. Das lehnen wir Liberalen ab. nächsten Jahr machen. Es ist wichtig. Deswegen richtet man zu Recht Erwartungen an uns. Und wer wie die Grünen klammheimlich so ein wich- Herzlichen Dank. tiges Projekt wie die kontrollierte Heroinabgabe an Schwerstabhängige als Spiegelstrich zur Abstimmung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) stellt, kann auch nicht mit unserer Unterstützung rech- nen, ebenso wenig wie bei einem Bleiberecht für HIV- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Infizierte. Ich erteile das Wort Kollegen Detlef Parr, FDP-Frak- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ja herrlich!) tion. Jetzt sind wir gespannt, was aus dem von Herrn (Beifall bei der FDP) Schwanitz gerade beschriebenen Aktionsplan wird. Es ist schon etwas seltsam, wenn die Koalitionsfraktionen Detlef Parr (FDP): die Bundesregierung zur baldigen Umsetzung auffordern Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dem müssen. Wir schließen uns diesem Petitum aber sehr Weg zum Bahnhof Friedrichstraße fällt den Passanten gerne an. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7123

Detlef Parr (A) Gut, dass sich alle Fraktionen nicht nur am Welt- unserem Vorschlag, Herr Parr, zu prüfen, ob dagegen (C) aidstag einig sind, dass wir auch national den Kampf strafrechtlich vorgegangen werden kann, steht nicht die gegen diese heimtückische Immunschwächekrankheit Absicht – das sage ich ausdrücklich –, Einzelne zu kri- entschlossen weiterführen müssen. Nur im engen Schul- minalisieren oder strafrechtlich zu verfolgen. terschluss haben wir eine Chance auf Erfolg. Niemand von uns will und darf die Betroffenen im Stich lassen. (Detlef Parr [FDP]: Was denn sonst?) Und das ist auch gut so. Es geht vielmehr darum, wie in Österreich kommerzielle (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Christel Angebote von solchen Partys, für die mit dem Slogan Riemann-Hanewinckel [SPD]) „Sex ohne Kondom“, und zwar mit HIV-positiven und -negativen Partnern, geworben wird und für die auch Eintrittsgelder verlangt werden, zu unterbinden. Deshalb Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: hat die Koalition beschlossen zu prüfen, was da möglich Ich erteile das Wort Kollegen Jens Spahn, CDU/CSU- ist. Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bin nämlich nicht bereit zuzuschauen, wie über Ein- trittsgelder und auf andere Weise Geld mit der Ausrich- Jens Spahn (CDU/CSU): tung solcher Veranstaltungen verdient wird. Von daher Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin möchten wir prüfen, welche Handhabe es gibt, dagegen dankbar, dass es gelungen ist, dass wir heute am Welt- entsprechend vorzugehen. aidstag in der Debatte im Deutschen Bundestag deutlich machen, wie sehr wir gemeinsam – zum Teil auch mit Eine dritte Entwicklung, die wir zur Kenntnis nehmen unterschiedlichen Positionen; dazu komme ich gleich, müssen – auch diese ist schon angesprochen worden –, Herr Kollege Parr – dafür eintreten, in der Welt, in ist die Zunahme der Infektionszahlen bei Migranten Europa, aber auch in Deutschland mit Prävention und und insbesondere bei Migrantinnen, also Frauen, die guter Behandlung der Betroffenen das Bestmögliche für erst in Deutschland von ihrer Infektion erfahren. Hier alle zu erreichen. gibt es große Probleme vor allem deswegen, weil in dem kulturellen Umfeld, aus dem sie kommen, dieses Thema Dabei ist es so, dass wir zum ersten Mal seit Jahren oft tabuisiert ist. Da darf uns, Frau Kollegin Knoche im Deutschen Bundestag über die Entwicklung von – Sie sprachen ja überwiegend von der dramatischen HIV/Aids in Deutschland debattieren. Meine Kollegin Entwicklung in Afrika –, auch die Entwicklung in Ost- hat gerade schon die Position zur Entwicklungshilfe und europa und Russland nicht ruhen lassen. In manchen zur Situation in Afrika und Osteuropa thematisiert. Von (B) Ländern, die ja direkt vor unserer Haustür liegen, hat die (D) daher möchte ich mich auf die deutsche Situation kon- Entwicklung eine solche Dynamik angenommen, wie es zentrieren. sie in der Anfangszeit von Aids in Afrika gab. So hat die Wir können konstatieren, dass die Präventionsarbeit Infektionswelle vor 20, 25 Jahren auch in Afrika auf in Deutschland in den vergangenen 25 Jahren wie in niedrigem Niveau begonnen, aber dann sind die Infek- kaum einem anderen Land der Welt erfolgreich war. Wir tionszahlen in die Höhe geschnellt. Das Gleiche erleben haben mit die niedrigsten Infektionsquoten, die es gibt. wir leider im Moment auch in Russland und einigen an- Wir haben sehr gute, auch ehrenamtliche Arbeit vor Ort, deren osteuropäischen Ländern. Gerade deswegen, weil sehr gute Strukturen mit den Aidshilfen, der Aidsstiftung das direkt vor unserer Haustür geschieht, stehen wir in und den vielen Verbänden, die sich engagieren. der Verantwortung, gemeinsam mit den betroffenen Län- dern Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Nichtsdestotrotz müssen wir neue Entwicklungen – ich möchte auf einige eingehen – zur Kenntnis neh- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) men. Da ist zum Ersten das Risikobewusstsein meiner Eine vierte Entwicklung ist bei der Forschung zu eigenen Generation. Meine Generation hat das große verzeichnen. Die dort erzielten Erfolge sind zunächst Sterben der 80er-Jahre nicht mitgemacht, hat die Debat- einmal sehr positiv zu sehen. Es gibt kaum einen ande- ten Süssmuth, Gauweiler – all die Kontroversen, die es ren Bereich, in dem es innerhalb von 25 Jahren – man damals gegeben hat – nicht mitgemacht. In vielen Wer- überlege sich einmal, was seit Entdeckung des Virus al- bungen wird suggeriert, dass es Heilung gäbe, obwohl es les möglich geworden ist – so viele Erfolge in der Phar- am Ende nur Linderung gibt. Gerade diese Entwicklung maforschung gegeben hat. Das hatte im Übrigen auch macht sehr deutlich, dass Prävention immer wieder neu Auswirkungen auf andere Forschungsbereiche wie die ansetzen muss, immer wieder neue Gruppen und nach- Vakzineforschung, die Erforschung von Diagnostika wachsende Generationen erreichen muss. Darauf müs- usw. Es wurden da viele Erkenntnisse gewonnen und es sen wir unsere Arbeit ausrichten. fielen viele Nebenprodukte ab, die uns in anderen Berei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen weiterhelfen. neten der SPD und der LINKEN) Dass es gelungen ist, die Lebenserwartung von HIV- Zweitens haben wir die Entwicklung – das wurde Infizierten und Aidskranken zu erhöhen, stellt uns im schon angesprochen –, dass Infektionen auf entsprechen- Übrigen vor ganz neue Herausforderungen. Bei einem den Partys bzw. Veranstaltungen, die im Internet angebo- Gespräch mit Vertretern der Aidsstiftung, die ja unter an- ten werden, bewusst in Kauf genommen werden. Hinter derem auch das Ziel hat, Aidskranken eine letzte Reise 7124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Jens Spahn (A) zu finanzieren, wurde mir gesagt, manche hätten zum antwortung. Es gibt immer noch einige, auch bei den (C) zehnten Mal ihre letzte Reise beantragt, weil es die me- Aidshilfen, die, wie gesagt, gute Arbeit geleistet haben, dizinische Entwicklung möglich gemacht hat, länger zu die sich aber weigern, sich mit dem neuen Phänomen der leben. Das bringt aber auch neue Herausforderungen für Partys und der Internetportale, wo Entsprechendes ange- die Sozialarbeit und die medizinische Forschung mit boten wird, offensiv auseinander zu setzen, die meinen, sich. So gibt es jetzt ältere HIV-Infizierte, die seit zehn, das liege in der Verantwortung des Einzelnen und es sei 15 oder gar 20 Jahren mit dieser Infektion leben und da- schwer, da etwas zu unternehmen. Es geht nicht darum durch ganz neue Krankheitsbilder und soziale Situatio- – ich sage es noch einmal –, Menschen zu kriminalisie- nen erleben, mit denen wir uns auseinander setzen müs- ren oder zu stigmatisieren. Aber auch die Aidshilfen sen. müssen die Entwicklung anerkennen und sich bei ihrer Arbeit entsprechend offensiv damit auseinander setzen. Ich möchte die Erfolge, die die Pharmaindustrie in der Forschung erzielt hat, einmal mit Blick auf die sonst (Beifall der Abg. Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]) übliche Pharmaschelte – auch mir ist klar, dass da nicht Abschließend möchte ich noch zwei kurze Bemer- alles sauber läuft und es viele Bereiche gibt, über die wir kungen machen. Ich finde es richtig und wichtig, dass diskutieren müssen – hervorheben: Wenn es die Pharma- wir heute diese Debatte führen, weil HIV auch in forschung nicht gäbe, wären wir bei der Behandlung von Deutschland immer noch mit Stigmatisierung verbunden HIV und Aids bei weitem noch nicht da, wo wir heute ist. Es ist nun einmal eine andere Krankheit als etwa stehen. Auch das sollte man an der einen oder anderen Krebs, die auch mitten in der Gesellschaft ein Thema ist; Stelle in der Diskussion berücksichtigen. das sieht man daran, wie in den Medien damit umgegan- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der gen wird. Über HIV/Aids hingegen wird – natürlich weil FDP – Dr. Karl Addicks [FDP]: Das muss es infektiös ist, im Übrigen aber auch, weil es mit einer auch einmal gesagt werden!) Moral- und Schuldfrage, die leider oft reflexartig gestellt wird, verbunden ist – ganz anders diskutiert. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die For- schungsförderung des Bundes hinweisen, auf die auch Auf der Aidsgala hat einer der Redner berichtet, dass im Antrag der Koalitionsfraktionen eingegangen wird. er einen schwer kranken Aidskranken im Krankenhaus Zum einen geht es um Grundlagenforschung, zum ande- besucht und dessen Hand genommen hat, woraufhin der- ren aber um die Frage der Anwendungsforschung. Hier jenige sagte: Sie sind der Erste seit Wochen, der meine ist insbesondere ein Projekt zu nennen, das vom Bundes- Hand nimmt; alle anderen haben Angst, mich zu berüh- ministerium für Bildung und Forschung gefördert wird: ren. Das hat mich sehr berührt. Ich glaube, gerade eine Das Kompetenznetzwerk HIV/Aids hat eine Kohorte Debatte wie die heutige kann helfen, dass genau das (B) von 14 500 Patienten, die regelmäßig betreut werden, nicht mehr passiert. (D) bei denen geschaut wird, wie deren Entwicklung ver- Danke schön. läuft, und die entsprechend unterstützt werden. Gemein- sam müssen wir mit der Wirtschaft, die hier auch in der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Verantwortung steht, und der Wissenschaft schauen, wie FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- es gelingen kann, dieses Projekt, aus dem auch weltweit SES 90/DIE GRÜNEN) wichtige Erkenntnisse gewonnen werden können, fort- zuführen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem [SPD]) Kollegen Volker Beck. Die neuen Entwicklungen, die ich gerade genannt Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): habe, spiegeln sich – es ist schon gesagt worden – in den Herr Kollege, Sie haben gesagt, es gehe nicht um eine auch in Deutschland steigenden Zahlen wider. Das Kriminalisierung. Gleichzeitig spricht die Koalition in Ganze befindet sich natürlich noch immer auf einem ihrem Antrag von einem Prüfauftrag für strafrechtliche niedrigen Niveau; aber jede Zahl ist eine zuviel. Wir hat- Regelungen in dem Kontext von Bareback-Partys und ten im Jahr 2001 etwa 1 500 Neuinfektionen; im Jahr Bareback-Profilen im Internet. Ich glaube, der Erfolg der 2006 werden es etwa 2 700 Neuinfektionen sein, was deutschen Aidspräventionspolitik in der Vergangenheit – eine Steigerung von fast zwei Dritteln innerhalb kürzes- vorhin ist der Name Rita Süssmuth genannt worden – ter Zeit bedeutet. Wenn wir uns dieser Herausforderung lag gerade darin, dass wir auf Aufklärung, Information nicht stellen würden – was wir unter anderem durch eine und das verantwortliche Handeln der Bürgerinnen und Erhöhung der Mittel in dem Bereich um immerhin ein Bürger in unserem Lande gesetzt haben. Darauf sollten Drittel tun –, würde sich diese Dynamik fortsetzen und wir weiter setzen. dann kämen noch ganz andere Dimensionen auf uns zu. Deswegen ist es richtig, früh darüber zu reden und die- Wir haben gegenwärtig beim Thema Aufklärung und sen neuen Entwicklungen angemessen zu begegnen. Information natürlich Defizite. Wir haben in der Aids- prävention nicht nachvollzogen, was für die sexuelle (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Kontaktaufnahme, gerade in der Gruppe der Homo- FDP) sexuellen, heute das Internet bedeutet. Die Kontaktauf- Hinsichtlich der Entwicklung der Präventionsarbeit nahme hat sich von konkreten Bars an Orte in der vir- und der Frage, was zu tun ist, nehme ich alle in die Ver- tuellen Welt verlagert. Die Aidshilfen nutzen noch nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7125

Volker Beck (Köln) (A) die personalkommunikativen Möglichkeiten, die das hielt Zitate von Vertretern der Aidshilfe, es sei halt so, (C) Medium Internet bietet. dass es auf Partys Sex ohne Kondom gebe. Wir sind aber nicht bereit, dies zu akzeptieren. Wir müssen bei der Aufklärung dem Wandel entspre- chen. Es hat überhaupt keinen Sinn, dass wir bestimmte (Beifall bei der CDU/CSU) Phänomene durch Kriminalisierung in den Untergrund treiben und damit den Einfluss auf die Menschen und Wir wollen vielmehr, dass mit Prävention und Aufklä- den Zugang zu ihnen völlig verlieren. rungsarbeit dafür gesorgt wird, dass das nicht mehr der Fall ist. Herr Kollege, so lange es aus diesem Haus Interven- tionen gegenüber dem Bundesgesundheitsministerium Nun zum Thema Strafrecht. Ich habe vorhin deutlich und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gesagt: Es geht mir nicht darum, Einzelne zu kriminali- gegen die Verbreitung bestimmter Broschüren der Aids- sieren. Es geht vielmehr darum, gegen diejenigen vorzu- hilfen, auch über das Internet, gibt, die explizit über se- gehen, die damit Geld verdienen, dass sie gewerbliche xuelle Verhaltensweisen sprechen – die vielleicht nicht Angebote machen, bei denen sich Menschen infizieren jedem hier im Hause gefallen und nicht dem guten Ge- können. Wir wollen aber nicht gegen diejenigen vorge- schmack entsprechen – und die die Menschen, die das hen, die sich dabei infizieren. Diesen Unterschied habe praktizieren, aufklären, wie sie sich schützen können, so ich vorhin deutlich gemacht. lange uns der gute Geschmack mehr wert ist als die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Frage, wie die Menschen umfassende Kenntnis darüber erlangen, wie sie sich schützen können, so lange ist es Im Übrigen habe ich in den letzten Wochen heftige heuchlerisch, wenn wir gleichzeitig über Strafrecht re- Auseinandersetzungen unter anderem mit der Barmer den. Ersatzkasse geführt – die Frau Staatssekretärin weiß es –, was das Nachverfolgen angeht. In einem Zweizeiler an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) jemanden, der sich kurz zuvor mit HIV infiziert hatte, Die Koalition hat trotz des positiven Ergebnisses der wollte man von ihm wissen, bei wem er sich infiziert Studie über die Heroinabgabe an Schwerstabhängige habe. Wir sind vehement dagegen vorgegangen und set- nicht den Mut, endlich eine Regelversorgung auf den zen uns dafür ein, dass so etwas nicht mehr passiert. In- Weg zu bringen. Stattdessen lässt sie das Modellpro- sofern lasse ich mir von Ihnen an dieser Stelle nicht et- gramm praktisch auslaufen, indem keine Neuzugänge zu was anderes unterstellen. dem Programm mehr möglich sind, obwohl alle Fach- (Beifall bei der CDU/CSU) leute sagen, dieses Programm habe sich bewährt; es würde denjenigen Menschen, die HIV-positiv sind, hel- Zum Schluss zum Thema Heroinabgabe. (B) (D) fen, ihre Gesundheit zu stabilisieren, und es würde dieje- (Detlef Parr [FDP]: Jetzt wird es spannend!) nigen Menschen, die nicht HIV-positiv, aber schwerstab- hängig sind, davor schützen, sich mit HIV zu infizieren. Wir haben ein gutes Angebot für Schwerstabhängige. Ich finde es daher doppelt heuchlerisch, dass wir in die- Sie tun so, als gäbe es für Schwerstabhängige in diesem sem Zusammenhang gleichzeitig über das Strafrecht re- Land kein entsprechendes Angebot. den. (Jörg Tauss [SPD]: Es soll ja kaputtgemacht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ und bei der LINKEN) DIE GRÜNEN]: Es kommt keiner mehr rein!) – Ich rede von dem bestehenden regulären Angebot. – Es Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gibt Spritzentausch und eine Methadonversorgung auf Kollege Spahn. einem – richtigerweise – sehr hohen Niveau. Sie tun aber so, als gäbe es keine Angebote für Schwerstabhängige. Jens Spahn (CDU/CSU): (Detlef Parr [FDP]: Es gibt Besseres!) Herr Kollege Beck, man würde sich wünschen, Ihre Fraktion hätte Ihnen zu diesem Thema Redezeit zuge- Wir von der Union sagen: Wenn sich einige mit dem standen; denn Sie haben im Grunde genommen eine gleichen Engagement, mit dem sie für die Abgabe einer Rede gehalten, durch die alle Themen in diesem Zusam- der härtesten Drogen, die es gibt, kämpfen, für die menhang abgedeckt wurden. Methadonabgabe und für den Ausstieg aus der Sucht bei Schwerstabhängigen einsetzen würden, Zum Ersten. Wir erkennen in unserem Antrag die er- folgreiche Präventionsarbeit in Deutschland, die insbe- (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Es geht um die sondere von den Aidshilfen seit 25 Jahren geleistet wird, Wirksamkeit!) ausdrücklich an und wollen, dass ihre Arbeit weitergeht. dann würden wir in diesem Bereich wesentlich mehr er- Das habe ich in meiner Rede klar und deutlich gesagt. reichen können. Das würde ich mir von Ihnen wünschen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: neten der SPD) Ihr jüngeren CDU-Abgeordneten könntet euch Zum Zweiten. Es geht nicht um die Frage des guten ein bisschen mehr bewegen! – Dr. Wolfgang Geschmacks. Die einzige Broschüre, in der es, soweit Wodarg [SPD]: Da haben Sie einen blinden ich weiß, um das ging, worüber Sie geredet haben, ent- Fleck! – Zurufe von der CDU/CSU) 7126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Schutz und Begleitung brauchen, nicht nur als hilflose (C) Ich erteile das Wort Kollegin Christel Riemann- Opfer ansehen. Wir müssen sie langfristig und umfas- Hanewinckel, SPD-Fraktion. send unterstützen, damit sie sich selbst helfen und ihre eigene Lebenssituation verändern können. Dazu gehören Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): eben nicht nur Prävention und Aufklärung in Deutsch- land, sondern vor allen Dingen in den Ländern, wo es Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- schon Millionen verwaiste Kinder gibt. Bildung, Aufklä- gen! Ich bitte jetzt um Aufmerksamkeit für das, was ich rung und Prävention sind aus meiner Sicht für diese Ihnen sagen möchte. Gruppe die wichtigsten Wege, die eingeschlagen werden (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der müssen, um überhaupt eine Chance zu haben, aus dieser CDU/CSU) Krise herauszukommen. Ich möchte Sie bitten, mit mir einen Blick auf die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gruppen weltweit zu werfen, die in einer ganz besonde- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE ren Art und Weise von HIV/Aids betroffen sind. Wir ha- GRÜNEN) ben viel gehört über das Ausmaß und die Auswirkungen Bei allen Maßnahmen, die wir ergreifen, und bei allen der Aids-Pandemie. Ich möchte vor allen Dingen Ihren Verpflichtungen, die wir international eingehen und ein- Blick auf die Kinder und die Jugendlichen lenken. Sie gegangen sind, muss dieser Zusammenhang aus meiner wissen, dass vor allen Dingen junge Menschen auf die Sicht immer wieder im Mittelpunkt stehen. Schätzungen unterschiedlichste Art und Weise von Aids bedroht sind. zufolge wird die Zahl der Aidswaisen bis zum Jahre Junge Menschen, die Mutter oder Vater werden wollen 2025 auf rund 25 Millionen ansteigen. Wenn wir es so und die für die Kindererziehung einstehen wollen, sind weit kommen lassen, dann haben wir kaum noch Chan- für die soziale Sicherung und das wirtschaftliche Leben cen, wirklich etwas zu tun. Deshalb ist es jetzt an der in ihrem Land und in ihrer Gesellschaft unentbehrlich. Zeit und notwendig, mit entsprechenden Projekten, Pro- Wir haben schon gehört, dass die Frauen überdurch- grammen und Überlegungen einzusteigen. schnittlich stark betroffen sind – und das nicht nur in Das heißt im Moment, dass wir Verwandte und Fami- Afrika, sondern auch in Osteuropa und in Zentralasien. lien, vor allem aber auch die Großmütter, die Aidswai- Immer wieder sind sehr junge Frauen und sogar Mäd- sen aufgenommen haben bzw. für sie sorgen, stärken chen entweder durch bestimmte Sexpraktiken oder auch müssen. Wir müssen für einen universellen Zugang zu dadurch, dass ihnen Gewalt angetan wird, massiv von Pflege, Behandlung und Medikamenten sorgen, um die Aids betroffen. Lebenserwartung erkrankter Eltern zu verlängern. Wir (B) Wir verfügen inzwischen über ziemlich genaue Zah- müssen vor allen Dingen auch darauf drängen, dass, (D) len; sie sind dramatisch. Es gibt inzwischen weltweit wenn es um infizierte Kinder geht, endlich kindgerechte 14 Millionen verwaiste Kinder, deren Vater oder Mutter Aidsmedikamente entwickelt bzw. die Medikamente, die – oder beide Elternteile – an Aids gestorben sind. Diese wir jetzt haben, entsprechend weiterentwickelt werden. Zahl übersteigt die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Die Kinder, die für andere Kinder sorgen müssen – das Deutschland um 2 Millionen. Was das bedeutet, kennen ist der wichtigste Punkt –, haben in der Regel kein Geld wir aus verschiedenen Sendungen im Fernsehen und Be- zur Verfügung. Deshalb müssen diese Medikamente für richten in Zeitungen. Kinder zu angemessenen Preisen abgegeben werden. Da sind dann wirklich alle gefragt. Ich finde es in der heutigen Debatte besonders wich- tig, auf die Gruppe aufmerksam zu machen, die zum Teil (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem noch nicht aidsinfiziert ist, und zu sehen, was das für un- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sere Arbeit bedeutet. Denn auf Kinder und Jugendliche Jungen und Mädchen muss der Schulbesuch ermög- kommt nicht nur eine mögliche Aids/HIV-Infizierung licht werden und es muss altersgerecht über HIV/Aids zu. Sie werden vielmehr doppelt und dreifach eingeengt. aufgeklärt werden. Bis heute haben zwei Drittel aller Ju- Armut, Hunger, Gewalt, Stigmatisierung und Aids be- gendlichen in den so genannten Entwicklungsländern günstigen sich in diesen Ländern immer gegenseitig. kein Wissen darüber, wie sie sich vor Aids schützen kön- nen. Kinder und Jugendliche, denen die Eltern, Verwandte, Lehrerinnen und Lehrer sowie Ärztinnen und Ärzte und (Markus Löning [FDP]: Das ist ein Skandal!) andere Personen im medizinischen Bereich einfach weg- Mädchen und Frauen muss ihr Recht auf sexuelle sterben, verlieren jegliche Zukunft und jede Lebens- perspektive. Sie werden ausgegrenzt; sie können oft Selbstbestimmung vermittelt werden; das haben die nicht zur Schule gehen. Sie müssen Verantwortung über- Kollegin Pfeiffer und andere sehr deutlich ausgeführt. Sie brauchen politische Teilhabe, um mitentscheiden zu nehmen, der sie oft überhaupt noch nicht gewachsen sind, indem sie ihre Geschwister großziehen. Ihnen droht können, wie es in der Prävention und der Begleitung de- Kinderarbeit, weiterhin sexuelle Ausbeutung und dann rer, die betroffen sind, weitergehen kann. auch immer wieder die HIV-Infektion. (Beifall bei der SPD) Wenn wir Politikerinnen und Politiker heute in Sowohl Männer als auch Frauen brauchen Zugang zu Deutschland über dieses Thema reden, dann ist es mir Verhütungsmitteln, zu Diensten der Familienplanung besonders wichtig, dass wir diese Kinder, obwohl sie und der Schwangerschaftsvorsorge sowie zu Präventions- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7127

Christel Riemann-Hanewinckel (A) maßnahmen zur Verhinderung von Mutter-Kind-Über- Überweisungsvorschlag: (C) tragungen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Die Regierungen der betroffenen Länder brauchen Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Unterstützung, um ihre Verantwortung im Kampf gegen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Aids wahrnehmen zu können. Wir haben aber schon weltweite Vereinbarungen, die vor allem Kinder und Ju- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut gendliche schützen sollen. Ich erinnere an die UN-Kin- Königshaus, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann, derrechtskonvention, die auch Deutschland unterzeich- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP net hat. Diese Konvention schreibt fest, dass Kinder Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007 zur Rechte haben und nicht bloß Adressaten von Hilfeleis- Reform der Entwicklungszusammenarbeit der tungen sind. Europäischen Union nutzen (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Undine – Drucksache 16/2833 – Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/DIE Überweisungsvorschlag: GRÜNEN]) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Mehr als die Hälfte der 40 in dieser Konvention for- Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss mulierten Kinderrechte werden durch die Auswirkungen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie der Epidemie mit Millionen von Aidswaisen ganz unmit- Ausschuss für Gesundheit telbar verletzt. Wenn wir uns auf diese Rechte beziehen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und international entsprechend handeln, dann setzen wir ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention um, sondern Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen, lassen den betroffenen Kindern und Jugendlichen welt- Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und weit das zukommen, was ihnen zusteht: nicht nur Kin- der Fraktion der FDP derrechte, sondern vor allem das Recht auf Leben. Justizpolitische Agenda für die deutsche EU- Vielen Dank. Ratspräsidentschaft 2007 (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP – Drucksache 16/3622 – und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (B) Ich schließe die Aussprache. (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die den Drucksachen 16/3610, 16/3615, 16/3097 und 16/3616 Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist beschlossen. der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Tagesordnungspunkt 27 e: Abstimmung über die Be- Rainder Steenblock, Fraktion des Bündnisses 90/Die schlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Grünen, das Wort. sammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/2364 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Den Südsudan beim Wiederaufbau unterstützen und vor Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- AIDS bewahren“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag NEN): auf Drucksache 16/586 abzulehnen. Wer stimmt für Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – und Kollegen! Die Bundesregierung hat gestern Mittag Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den ihr Programm für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft Stimmen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der veröffentlicht. Die vorliegenden Anträge bieten eine Linksfraktion und der Grünen gegen die Stimmen der gute Gelegenheit, darüber zu diskutieren. FDP angenommen. Die bündnisgrüne Fraktion hat diesem Haus einen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und b sowie sehr umfassenden Antrag zur Beratung vorgelegt, der Zusatzpunkt 4 auf: die Anforderungen enthält, die nach unserer Auffassung erfüllt sein müssen, um die EU-Ratspräsidentschaft er- 28 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder folgreich gestalten zu können. Es ist ein bisschen traurig, Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, wei- dass der Zeitplan, den die Regierung gesetzt hat, dazu terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- führt, dass wir in diesem Hause, im deutschen Parla- NISSES 90/DIE GRÜNEN ment, in den Ausschüssen und im Plenum, im Grunde Forderungen an die deutsche EU-Ratspräsi- nicht genug Zeit haben, um die EU-Ratspräsidentschaft dentschaft – Ratspräsidentschaft für eine auch von der Seite des Parlaments her vorzubereiten. zukunftsfähige EU nutzen Das bedauern wir sehr. Wir finden das gerade vor dem Hintergrund der Vereinbarung zwischen Bundestag und – Drucksache 16/3327 – Bundesregierung kontraproduktiv, in der man sich da- 7128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Rainder Steenblock (A) rauf verständigt hat, dass man während der deutschen Energiebereich keinen Wettbewerb haben. Wer diesen (C) EU-Ratspräsidentschaft die Frage klären will, wie man Energiewettbewerb – auch im Interesse der Verbrauche- in Europa zu einer besseren Kooperation kommen kann. rinnen und Verbraucher – will, der muss die Marktmacht der Monopole begrenzen. Das ist die zentrale Herausfor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derung in der Wettbewerbspolitik. und bei der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich zu den Inhalten kommen – es sind vier Punkte –, die für uns wichtig sind: Abschließend zum Thema Energie: In diesem Jahr be- stehen nicht nur die Römischen Verträge seit 50 Jahren, Der erste, historisch vielleicht wichtigste Punkt ist, sondern auch Euratom. Dieser 50. Geburtstag wäre eine dass die Bundesregierung während ihrer Präsidentschaft sinnvolle Möglichkeit, den Euratom-Vertrag endlich zu einen Ausweg aus der Verfassungskrise weisen muss. beerdigen und ihn feierlich aufzulösen. Wir stehen vor dieser Verantwortung. Es zeichnet sich ab, dass die Bundesregierung den Weg der Geheimdiplo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) matie beschreitet und der Öffentlichkeit und dem Parla- Die Privilegierung von Atomenergie im Rahmen von ment keine Auseinandersetzung über die Verfassung und Euratom – es ist für Länder, die sich von der Atomener- über die Möglichkeiten, wie wir aus dieser Krise heraus- gie verabschiedet haben, zwingend, über ihre Beiträge kommen können, anbieten will. Ich will hier sehr deut- im Rahmen der EU immer noch den Ausbau der Atom- lich sagen, dass ich das für falsch halte. energie zu finanzieren – ist absurd. Wir wollen das been- Europa braucht mehr Öffentlichkeit und mehr Trans- den. Das ist für die deutsche Bundesregierung sicherlich parenz. Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger mitneh- ein wichtiger Punkt. men wollen, müssen wir mit ihnen diskutieren und nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – hinter verschlossenen Türen Lösungen erarbeiten, von Jörg Tauss [SPD]: Wir brauchen eine parla- denen wir glauben, dass sie gut sind. Wenn wir die Kom- mentarische Begleitung dafür!) munikation mit den Bürgern nicht schaffen, dann wird dieser Weg – genau wie Nizza – scheitern. Deshalb ap- – Ja, das machen wir gerne. pellieren wir an die Bundesregierung, sich zu öffnen und Der dritte Punkt ist die Außen- und Sicherheitspoli- eine öffentliche und transparente Debatte über die euro- tik. Nach den jüngsten Waffenstillstandsabkommen und päische Verfassung in diesem Lande zu führen. Vereinbarungen ist es gerade für Nahost wichtig, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die deutsche Bundesregierung ihre Verantwortung und sowie bei Abgeordneten der FDP) die historischen Chancen nutzt, um die Roadmap neu zu (B) beleben. Deshalb glauben wir, dass der Bereich Nahost (D) Der zweite für uns zentrale Punkt ist, dass Europa vor eine der großen Herausforderungen ist. dem Hintergrund des Klimawandels – er ist unbestritten und wir erhalten jeden Tag dramatische neue Meldungen Die zweite ist sicherlich die Ostpolitik. Hier brauchen dazu – dringend eine nachhaltige Energie- und Klima- wir eine kohärente Politik. Wir brauchen eine Zentral- politik braucht. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist asienstrategie und auch Verhandlungen mit Russland. gefordert, hier voranzugehen. Wir stellen fest, dass in Außerdem brauchen wir die Schwarzmeerkooperation. dem Programm zur EU-Ratspräsidentschaft wichtige Die Länder von der Ukraine über den südlichen Kauka- Punkte angesprochen sind. Aber es reicht nicht aus, zu sus bis Aserbaidschan müssen in das Konzept der drei den notwendigen, zentralen Punkten zu sagen, dass sie Räume der neuen Ostpolitik integriert werden. Wir sa- wichtig sind. Wenn man fragt, wie es umgesetzt werden gen auch: Es geht nicht nur um wirtschaftliche Interes- soll, erhält man die Antwort: Das ist wichtig. Wir brau- sen. Wenn man über diese Regionen spricht und mit ih- chen konkrete und ambitionierte, aber auch verbindliche nen Nachbarschaftsassoziationsabkommen abschließen Ziele hinsichtlich der erneuerbaren Energien. Wir brau- will, dann stehen für uns Fragen zu Demokratie und chen innerhalb der EU, wenn sie Vorreiter für den Kli- Menschenrechten genauso im Vordergrund wie die wirt- maschutz sein soll – das unterstützen wir alle –, die Ver- schaftliche Kooperation. pflichtung, bis 2020 30 Prozent der Treibhausgase (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einzusparen. Solche zentralen Ziele sind wichtig. Der vierte Punkt. Wir brauchen angesichts des Flücht- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lingsdramas an den Südgrenzen der EU eine verantwor- Es ist doch absurd, dass der Luftverkehr, der Klima- tungsvolle europäische Migrations- und Asylpolitik. schädling Nummer eins unter den Verkehrsmitteln, im- Dass im Atlantik und im Mittelmeer Hunderte von Men- mer noch steuerlich hoch subventioniert wird. Wir brau- schen beim Versuch, nach Europa zu kommen, ertrinken, chen die Einbeziehung des Luftverkehrs in Kioto II, in kann nicht hingenommen werden. Wir brauchen kon- den Emissionshandel. Auch das ist ein wichtiges ener- krete Lösungen für dieses Problem. Dafür muss die Bun- giepolitisches Ziel. desregierung Verantwortung übernehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir unterstützen die Bundesregierung sehr, wenn es darum geht, konkrete Ziele für die weitere Integration Wir brauchen Wettbewerb. Wir alle im deutschen Europas zu erreichen. Aber wir brauchen die Bundes- Parlament reden immer von Wettbewerb. Wenn wir uns regierung nicht – so stellt es sich hier dar – als zögerli- die Energiemärkte ansehen, erkennen wir, dass wir im chen Moderator eines Integrationsprozesses, sondern wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7129

Rainder Steenblock (A) brauchen eine kraftvolle Präsidentschaft mit konkreten Manch einer denkt, die Regierung gehe hier ein gro- (C) Zielen. Die Bürgerinnen und Bürger in Europa wollen, ßes Risiko ein. Das stimmt. Aber das Risiko, das damit dass man ihnen diesen Weg weist. Sie wollen an dieser verbunden wäre, wenn die Verfassung nicht ratifiziert Diskussion beteiligt werden. würde, ist für Europa noch größer und folgenreicher. Die Bundesregierung hat auf diesem Weg die Unterstützung Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: meiner Fraktion und, wie ich denke, auch die Unterstüt- zung aller anderen Fraktionen, die die Krise Europas re- Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit deutlich über- alistisch einschätzen. zogen. All das, was die PDS fordert – vieles davon durchaus (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist typisch für zu Recht –, ist nur mit der Verfassung möglich. Wir wis- die Grünen! Die überziehen immer!) sen das. Es ist mir ein Rätsel, wie man das nicht begrei- fen kann. Vielleicht ist es Zynismus: Es mag ja sein, dass Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie dieses Instrument deshalb nicht haben wollen, damit NEN): Sie weiterhin über das klagen können, was Sie ohne die- Ich komme zu meinem letzten Satz. – Ich glaube, un- ses Instrument nicht bekommen können. sere einzige Chance, die Menschen zurückzugewinnen, besteht darin, konkrete Wege aufzeigen und keine allge- Ein weiteres zentrales Thema der deutschen EU-Rats- meinen Wolkenkuckucksheime zu beschreiben. präsidentschaft wird die Energiefrage sein. Hier wün- sche ich mir eine größere Bereitschaft von Regierung Vielen Dank. und Parlament, Schritte in Richtung Binnenmarkt zu ge- hen. Die Entwicklung zur Europäischen Union begann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Montanunion. Die Kohle ist der Hauptenergieträger. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als Steinkohle reicht sie für 171 Jahre, als Braunkohle Ich erteile das Wort Kollegen Steffen Reiche, SPD- für 234 Jahre. Fraktion. Wir brauchen einen Energiebinnenmarkt und nicht 27 Teilmärkte. Die Entscheidung über den Energiemix Steffen Reiche (Cottbus) (SPD): – das ist ganz klar – verbleibt bei den Nationen. Das hat Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch der Präsident der Europäischen Kommission, Herr Selten ist eine EU-Ratspräsidentschaft so gut vorbereitet Barroso, in der gestrigen Ausschusssitzung deutlich ge- worden macht. Von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sollte (B) das klare Signal ausgehen: Deutschland ist bereit, im (D) (Lachen bei der LINKEN) Energiebereich Schritte in Richtung Integration zu ma- und selten gab es zugleich so hohe Erwartungen. Das chen und Kompetenzen an die Europäische Union abzu- zeigt zweierlei: das Vertrauen in Deutschland und die geben. Tiefe der Krise der Europäischen Union. Die Europäi- Die Ergebnisse des Berichts von Sir Nicholas Stern, sche Union ist nicht so weit, wie sie sein könnte und sein der über das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, müsste, um die Interessen der Europäer zu vertreten, ih- also auch mit europäischen bzw. deutschen Mitteln, ab- ren Wohlstand zu gewährleisten und ihn für die Zukunft gesichert worden ist, sollten uns in diesen Fragen zur zu sichern. Gäbe es auf europäischer Ebene und weltweit Vernunft bringen. Wir brauchen einen gemeinsamen weniger Probleme, dann könnten wir uns gewiss weni- Energiebinnenmarkt. ger Europa leisten. Da die Herausforderungen aber sehr groß sind, brauchen wir mehr Europa, als wir zurzeit ha- (Beifall bei der SPD) ben. Wer Europa gestalten will, muss wacher sein und tie- Ich bin dankbar dafür und habe großen Respekt da- fer träumen als andere. Deutschland ist von Freunden vor, dass die deutsche Regierung schon jetzt klar sagt, umzingelt. dass sie die Verfassung befürwortet, und dass sie Vor- schläge erarbeitet hat, wie sie auf den Weg gebracht wer- ( [DIE LINKE]: Das klingt ja den kann. wie eine Drohung!) (Beifall bei der SPD) Leider ist das Projekt der Europäischen Verteidigungs- union im Jahre 1954 gescheitert. Im Rahmen der EU- Lieber Kollege Steenblock, Sie wissen doch: Wenn man Ratspräsidentschaft haben wir jetzt, wie ich denke, die diese Vorschläge jetzt an die Öffentlichkeit bringen Zeit und die Möglichkeit, das Angebot zu machen, würde, dann würden sie zerredet. Es geht darum, sie mit Schritte in Richtung größerer militärischer Integration den Regierungen der anderen Länder abzustimmen, da- zu gehen, mit dem Ziel, die einzelnen nationalen Ar- mit sie dieser Roadmap im nächsten Halbjahr zustimmen meen durch eine europäische Armee zu ersetzen, über und sie mittragen. deren Einsatz natürlich das Europäische Parlament zu entscheiden hätte. (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht aber auch darum, sie mit (Markus Löning [FDP]: Und was wäre dann den Menschen abzustimmen!) mit unserem Parlamentsvorbehalt?) 7130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Steffen Reiche (Cottbus) (A) Aufgrund der neuen Struktur würde sich dann auch die (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ (C) Diskussion über die Wehrpflicht, die, wie ich finde, von CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist vielen falsch angegangen wird, erübrigen. nett!) Wenn man das Memorandum des belgischen Minis- Denn große Aufgaben stehen ihr bevor und es gibt große terpräsidenten Guy Verhofstadt liest, stellt man fest, dass Erwartungen. Herr Reiche, Sie haben angekündigt, dass dieser Vorschlag schon von verschiedenen Regierungen irgendwann noch Vorschläge kommen werden. Das ist gemacht worden ist. Einer seiner sechs Vorschläge zielt nicht ganz so schön. Wir hoffen, dass wir mit unseren ganz zentral auf dieses Thema. Handreichungen, mit unseren Anträgen ein bisschen be- hilflich sind. Unser Vorgehen ist schon etwas konkreter Es hat lange gedauert, bis in Europa eine gemeinsame als das, was Sie hier angekündigt haben und was wir von Währung eingeführt wurde. Die Währungsfrage gehört der Bundesregierung bisher gehört haben. nun wirklich zum Kernbestand der Rechte der Nationen. Es dauerte von Willy Brandts Vorschlag im Jahre 1970 (Beifall bei der FDP) bis zum Jahr 2002. Erst dann wurde der Euro eingeführt. Der Antrag der Grünen ist leider keine Hilfe. Allein Wir könnten auf einem solchen Weg viel Geld sparen ihn zu lesen, dauert schon relativ lang. Herr Steenblock oder mit dem gleichen Geld mehr Sicherheit für uns und hat ihn euphemistisch als „sehr umfassend“ bezeichnet. andere erlangen. Deshalb sollte auch über diese Frage Deshalb bin ich sehr froh, dass ihm von vornherein eine während unserer EU-Ratspräsidentschaft geredet wer- Minute mehr Redezeit zuerkannt wurde, als ihm eigent- den. lich zustand, damit er ihn erklären konnte. Jetzt haben wir wenigstens etwas zu einigen Schwerpunkten gehört. Europa ist auch, ja vor allem Kultur. Das ist die Seele Ansonsten war es nur ein Griff in den Wühltisch von Be- Europas. Doch diese Seele muss auch leben. Die Begeis- findlichkeiten. terung für Europa ist außerhalb Europas oft größer als bei uns. Deshalb brauchen wir eine bessere Präsentation (Heiterkeit des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Europas auf den anderen Erdteilen. Diese sollte nicht durch nationale Kulturinstitute, sondern durch europäi- Die Anträge der FDP zeigen konkrete Problem- und sche Erasmus-Institute, die die Kulturen Europas in der Handlungsfelder auf. Ich denke, das wird hier hilfreich Welt präsentieren, erfolgen. sein. Das gilt speziell für die justizpolitische Agenda. Die Kriminalitätsbekämpfung kann in Zukunft nicht Unsere Verantwortung in der und für die Welt können wie bisher nationalstaatlich angegangen werden. Wir ha- wir als weltweit größter Entwicklungshilfegeber besser ben durch den Wegfall der Grenzen eine Bewegungsfrei- wahrnehmen, wenn wir die Erfahrungen Europas aus heit der Kriminellen. Dieser haben wir noch nicht in (B) zwei Weltkriegen und einem Marshallplan zur Entwick- angemessenem Umfang eine Bewegungsfreiheit der Kri- (D) lung umsetzen, also tun, was Radermacher mit seiner minalitätsbekämpfung entgegengesetzt. Europäischer „Global Marshall Plan Initiative“ seit Jahren vorschlägt: Haftbefehl und Europäische Staatsanwaltschaft sind die Schritte zu mehr Integration gehen. Vielleicht gibt es Stichworte. Wir müssen dabei darauf achten, dass wir auch in dieser Richtung Anregungen vonseiten der deut- auch die Rechte der Beschuldigten auf dem gebotenen, schen EU-Ratspräsidentschaft. gewohnt hohen Niveau gewährleisten. Wir müssen ferner sicherstellen – leider ist das nicht selbstverständlich –, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass auch im Zeichen des internationalen Terrorismus der CDU/CSU) die Strafverfolgung im europäischen Rahmen Aufgabe der Justiz und der von ihr kontrollierten Polizei bleibt Ich hoffe und wünsche – und glaube auch –, lieber und nicht zur Aufgabe der Geheimdienste und anderer Herr Steenblock, dass wir eine starke, kraftvolle deut- Organisationen wird. sche EU-Ratspräsidentschaft und im Ausschuss eine gute Begleitung haben werden. (Beifall bei der FDP) Ich wünsche uns jetzt einen frohen ersten Advent! Ein zweiter wichtiger und drängender Punkt bleibt die Reform der europäischen Entwicklungspolitik. Hier (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben wir die größte Chance, etwas zu verändern, und der CDU/CSU) hier besteht auch großer Bedarf; darüber haben wir oft gesprochen. Die Entwicklungspolitik braucht eine kla- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: rere Zielbestimmung, als wir sie heute haben. Die euro- päische Entwicklungszusammenarbeit muss ihre Rolle Ich erteile das Wort Kollegen Hellmut Königshaus, innerhalb der verschiedenen bilateralen Aktivitäten der FDP-Fraktion. Mitgliedstaaten finden. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Der Europäischen Union steht für die Entwicklungs- Hellmut Königshaus (FDP): zusammenarbeit der unbegreifliche Betrag in Höhe von Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich 22 Milliarden Euro zur Verfügung, eine Summe, die man möchte für die FDP-Fraktion der Bundesregierung und sich kaum vorstellen kann. Nach unserem Eindruck – ich der Bundeskanzlerin eine glückliche Hand bei der EU- glaube, man kann das auch belegen – wird dieser Betrag Ratspräsidentschaft wünschen. vorrangig nach bisherigem Muster verteilt, nach Ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7131

Hellmut Königshaus (A) sichtspunkten der Besitzstandswahrung und konflikt- Den übermächtigen Drang der EU-Kommission zur (C) scheu gegenüber denen, die davon traditionell profitie- Budgethilfe müssen wir bändigen; denn der Anteil der ren. Das muss aufhören. Ich glaube, durch die Budgethilfe – das wurde bereits angekündigt – soll in Präsidentschaft haben wir die Möglichkeit, entspre- Zukunft steigen. Die Ministerin ist gerade leider nicht chende Weichenstellungen vorzunehmen. da. Welche katastrophalen Dinge mit der Budgethilfe be- (Beifall bei der FDP) wirkt werden, haben wir vorhin am Beispiel Südafrika gesehen. Die Ministerin hat sich darüber aufgeregt, dass Ich will einige Beispiele nennen: Der Europäische mein Kollege Addicks sagte, die Aidsstiftung von Entwicklungsfonds, über den wir schon mehrfach ge- Dr. Rath, die verheerende Wirkungen hat, werde mit sprochen haben, muss in den EU-Haushalt integriert und BMZ-Mitteln unterstützt. Das ist aber völlig richtig. Das damit der parlamentarischen Kontrolle des Europäi- Ganze wird nämlich über die Budgethilfe via südafrika- schen Parlaments unterstellt werden. nische Regierung finanziert. Das müssen wir beenden. (Beifall bei der FDP) Trotz verschiedener Gegenargumente – teilweise Schein- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: argumente – wie unterschiedliche Beitragsbemessungen Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. und Ähnliches müssen wir die parlamentarische Kon- trolle sicherstellen; denn es ist das Geld des Steuerzah- Hellmut Königshaus (FDP): lers. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) zu wenig getan, um all dies zu korrigieren. Die EU-Rats- präsidentschaft bietet jetzt Gelegenheit, das zu beenden Allein dafür zahlen wir in Zukunft über 700 Millio- und mit einer straffen Führung in die Zukunft zu gehen. nen Euro pro Jahr. Wie gesagt: Über die Vergabe wird nicht im Europäischen Parlament, sondern in Gremien Herr Präsident, erlauben Sie mir noch, den Grünen entschieden, wo wir kaum wirkliche Kontroll- und Ein- gute Beratungen in Köln zu wünschen, damit sie in Zu- flussmöglichkeiten haben. Wir haben festgestellt, dass kunft hier eine bessere Politik machen. das BMZ wechselnde Vertreter aus seinem Fachreferat – also aus einer unteren Fachebene – in diese Entschei- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dungsgremien entsendet. Das reicht bei einem solchen Wünschen dürfen Sie. Betrag nicht. Mitwirkung und Kontrolle müssen wieder die Rolle spielen, die sie immer dann spielen müssen, wenn mit dem Geld der Steuerzahler umgegangen wird. Hellmut Königshaus (FDP): (B) Ihnen, Herr Präsident, und uns allen wünsche ich ei- (D) Es ist somit auch kein Wunder, dass auf diesem Weg nen besinnlichen ersten Advent. auch Entwicklungsmaßnahmen in den überseeischen Ländern und Gebieten, also die territorialen Besitztümer Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. der EU-Mitgliedstaaten, mitfinanziert werden. EU-Kom- (Beifall bei der FDP) missar Louis Michel, der kürzlich im AwZ-Ausschuss darüber gesprochen hat, hat dies völlig zu Recht verur- teilt. Er sagte aber: Solange das politisch so beschlossen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ist, kann das nicht geändert werden. – Wir müssen poli- Ich erteile das Wort Kollegen Gunther Krichbaum, tisch beschließen, dass wir das ändern. CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben in diesem Bereich auch kein Problembe- wusstsein, weil alles unter das Primat der ODA-Quote Gunther Krichbaum (CDU/CSU): gestellt wird. Nach meinem Eindruck ist es im Wesentli- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- chen egal, was mit abfließendem Geld wirklich ge- nen und Kollegen! Wenn man den Antrag der Fraktion schieht, solange das ODA-anrechnungsfähig ist. Das des Bündnisses 90/Die Grünen in die Hand nimmt, dann kann aber nicht der Sinn sein. So kann man mit dem merkt man, dass es mit strammen Schritten auf Weih- Geld des Steuerzahlers nicht umgehen. nachten zugeht. Darin wurden nämlich 92 Punkte aufge- (Beifall bei der FDP) listet. Dies zeigt, dass die Erwartungshaltung bezüglich der deutschen Ratspräsidentschaft sicherlich sehr groß Das Problembewusstsein, das hier besteht, konnten ist. wir kürzlich erkennen, als ein leitender Mitarbeiter aus dem BMZ sagte: Was regen Sie sich eigentlich darüber (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE auf? Es geht hier doch schließlich nur um 300 Millionen GRÜNEN]: Intensive Auseinandersetzung mit Euro für diese überseeischen Gebiete. – Diese Grundhal- dem Thema!) tung müssen wir brechen und beseitigen. So geht das Hier ist jedoch Realismus gefordert; denn die Ratspräsi- nicht. dentschaft dauert keine sechs Jahre, sondern lediglich (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wer sechs Monate. hat das gesagt?) In enger Abstimmung mit den nachpräsidierenden – Das sage ich nachher. Ländern Portugal und Slowenien hat die Bundesregie- 7132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Gunther Krichbaum (A) rung hier die Schwerpunkte definiert und benannt. Ich besseren Rechtsetzung, der Förderung von Forschung (C) denke, wir sollten an dieser Stelle der finnischen Rats- und Innovation und der Weiterentwicklung des europäi- präsidentschaft Dank aussprechen, die sehr engagiert schen Sozialmodells die notwendigen Rahmenbedingun- gearbeitet hat und insbesondere im Bereich der Nachbar- gen schaffen. Selbstverständlich muss das auch von schaftspolitik und in der Politik für die nördliche Dimen- entsprechenden Maßnahmen zum Umwelt- und Klima- sion eigene Akzente setzen konnte. Wir werden am schutz begleitet werden. 1. Januar den Staffelstab übernehmen. Was die Fortschritte hinsichtlich der Europäischen Lassen Sie mich einige Aspekte der deutschen Rats- Union als Raum der Freiheit, Sicherheit und des präsidentschaft näher beleuchten. Ich halte es für eines Rechts angeht, hat die Bundesregierung ihre Schwer- der wichtigsten Ziele, dass wir die europäische Verfas- punkte benannt. Wir haben bereits heute Morgen eine, sung voranbringen. Sie muss gefördert werden; denn sie wie ich meine, gute Debatte zu diesem Thema geführt. ist letztlich die Gebrauchsanweisung für Europa, die wir Wir müssen bei unserem Ziel, innerhalb der Europäi- dringend benötigen. schen Union offene Grenzen zu schaffen, auch mehr Si- cherheit anstreben. Die alten Strukturen des Europa der Zwölf bieten uns keine Antworten für ein Europa der 27 bzw. – wenn es (Beifall des Abg. [CDU/ zu einem Beitritt Kroatiens und anderer Staaten kommt – CSU]) der 28 oder mehr. Deswegen brauchen wir eine vernünf- Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns. Des- tige Handlungsgrundlage. Notwendig sind die Neuord- wegen muss die polizeiliche Zusammenarbeit verstärkt nung der Institutionen und vor allem klare Kompetenz- und illegaler Migration wirksam begegnet werden. Zu- abgrenzungen. Wie das Ganze letztlich genannt wird dem muss die Rechtssicherheit der Bürgerinnen und – ob Vertrag, Verfassung oder Gesetz –, ist zweitrangig. Bürger weiter verbessert werden. Es geht vor allem darum, dass wir einen entscheidenden Schritt nach vorne kommen. Lassen Sie mich abschließend auf einen zentralen (Beifall bei der CDU/CSU) Punkt zu sprechen kommen, und zwar die Außen- und Sicherheitspolitik. Auch hierbei geht es um verschie- Ich kann Ihnen in keiner Weise beipflichten, Herr dene Aspekte. Bei der Entwicklung auf dem westlichen Kollege Steenblock, wenn Sie sagen, es finde keine Balkan ist es leider zu Stillständen gekommen. Ich öffentliche Auseinandersetzung über die europäische denke zum Beispiel an den Stillstand beim Reformpro- Verfassung statt. zess in Bosnien-Herzegowina. Hier brauchen wir drin- gend neue Impulse. Diese Länder brauchen unsere Un- (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE (B) terstützung. Sie werden es nicht alleine schaffen. Die (D) GRÜNEN]: Die findet nicht statt! Die Bundes- Kooperation Serbiens mit dem Internationalen Strafge- regierung hält sich völlig raus!) richtshof muss weiterhin angemahnt werden, damit wir Wir bekommen als Abgeordnete zu keinem anderen auch hier im Rahmen der Stabilisierungs- und Assoziie- Thema mehr Informationen und Positionspapiere von rungsabkommen weiterkommen. Verbänden, Bürgern und anderen zugeschickt. Es läuft Das neue Partnerschafts- und Kooperationsabkom- doch bereits eine rege öffentliche Diskussion. men mit Russland wurde schon angesprochen. Auch in (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Zusammenhang stehen bekanntlich zurzeit sehr NEN]: An der Regierung vorbei!) schwierige Verhandlungen an. Allerdings – ich denke, dass wir hier mit einer Stimme sprechen können – ist es Wer hier so auf die Bundesregierung schaut, der muss erforderlich, dass wir Solidarität mit Polen üben und im – damit hat der Kollege Steffen Reiche völlig Recht – Stillen auf Polen einwirken und uns um Kompromisse auch berücksichtigen, dass wir letztlich alle mit ins Boot bemühen. Aber wir dürfen auch nicht zulassen, dass bekommen müssen. Es reicht nun einmal nicht, wenn Russland die Europäische Union mit verschiedenen bila- nur 18 Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert haben – ei- teralen Abkommen diversifiziert. Wir wollen keine Auf- nige von ihnen durch Volksabstimmung –; letztlich müs- splitterung. Die Europäische Union muss im eigenen In- sen alle dem Vertrag zustimmen. Eventuell müssen noch teresse mit einer Stimme sprechen. hier und da Kompromisse gefunden werden, aber mit der europäischen Verfassung – ich denke, darin sind sich zu- (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) mindest die großen Parteien einig – ist im Grunde schon – Herr Kollege Tauss, ich widerspreche an dieser Stelle ein Kompromiss gefunden worden. nicht. Wie ich bereits sagte, müssen wir auch auf unsere Wir brauchen Akzente für die Wirtschaft und die so- polnischen Freunde und Partner einwirken; denn letzt- ziale, aber auch ökologische Zukunft. Auch das wurde lich muss man sich fragen, welcher Grund eine Verschie- völlig zu Recht festgestellt. Ein Schlagwort ist allerdings bung des gesamten Prozesses rechtfertigt. Hier bin ich wieder etwas in den Hintergrund getreten, und zwar die mit Ihnen sicherlich völlig einer Meinung. Lissabonstrategie. Hier müssen im Rahmen der EU- Ratspräsidentschaft wichtige Akzente gesetzt werden. In Wir brauchen eine Neuausrichtung der europäischen diesem Zusammenhang besteht Handlungsbedarf. Nachbarschaftspolitik. Ich denke hier insbesondere an unsere östlichen Nachbarländer. Die Grenzen werden Die Ziele sind ehrgeizig; es gibt kein Wenn und Aber. sich nach dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien ver- Ich denke, wir müssen mit Maßnahmen zugunsten einer ändern. Damit meine ich auch Länder, die manchmal ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7133

Gunther Krichbaum (A) wissermaßen im Schatten der öffentlichen Diskussion Die Erwartungen an die Bundesregierung sind riesen- (C) stehen, wie die Republik Moldau. Solche kleineren Län- groß; das wurde hier schon mehrmals erwähnt. Die Er- der brauchen unsere Unterstützung und Solidarität. wartungen an die große Koalition waren vor einem Jahr ebenfalls riesengroß. Was daraus geworden ist, wissen Am 1. Januar 2007 wird die EU um Bulgarien und wir alle. Angesichts der Vorbereitung der deutschen EU- Rumänien erweitert. Diese weitere Erweiterungsrunde Ratspräsidentschaft und der Diskussionen im Europa- ist – ich darf wohl sagen, dass wir uns darüber freuen – ausschuss können wir schon heute davon ausgehen, dass sicherlich erforderlich. Aber wir müssen darauf achten, die Völker Europas Mitte 2007, wenn der Stab an Portu- dass die Standards eingehalten werden. Wir haben be- gal weitergereicht wird, ähnlich enttäuscht feststellen reits in der letzten europapolitischen Debatte gefordert, werden, dass diese Ratspräsidentschaft keine großen dass die Schutzklauseln in den Bereichen konsequent Fortschritte erzielt hat. greifen, in denen die Voraussetzungen nicht erfüllt wer- den; das erwarten wir. Die Europäische Union befindet sich in einer schwe- (Beifall bei der CDU/CSU) ren Krise. Auch das wird nicht bestritten. Krisen haben aber auch etwas Positives. Man kann aus den Fehlern Die Schutzklauseln müssen mit dem 1. Januar 2007 wir- lernen und das Nein der Franzosen und Niederländer zur ken; denn es gibt noch immer bestimmte Defizite im Verfassung als Chance für eine soziale, friedliche und Justizbereich der Beitrittsländer. Man muss sich fragen, demokratische Europäische Union nutzen. Die wirt- was tatsächlich passieren muss, damit die Schutzklau- schaftlichen und sozialen Probleme finden ihren Aus- seln greifen. Wir dürfen vor diesem Hintergrund nicht druck in der Identitätskrise der EU. Die EU verfügt zulassen, dass deutsche Staatsbürger – wenn auch nur über kein gemeinsames Leitbild. Es dominiert leider theoretisch für eine juristische Sekunde – nach Bulgarien auch bei der deutschen Bundesregierung immer noch die ausgeliefert werden. Hier müssen wir um der Glaubwür- Vorstellung vom freien Markt, der alles regeln soll, als digkeit der Europäischen Union willen konsequenter Kern des ganzen Projekts. auftreten. Ich glaube, dass das verstanden wird. Das ist auch im Hinblick auf den Fortgang der Türkeidebatte Europa und die deutsche Ratspräsidentschaft stehen wichtig. Die CDU/CSU ist der Auffassung, dass wir hier jetzt vor einer strategischen Entscheidung von histori- eine Atempause brauchen, wenn sich abzeichnet – so scher Bedeutung. Der erste mögliche Weg besteht darin, sieht es im Augenblick aus –, dass das Ankaraprotokoll dem eingeschlagenen Weg in die Sackgasse weiter zu nicht implementiert wird. folgen; die Folgen wären ein weiterer Vertrauensverlust bei den Menschen und vermutlich ein Anstieg der Zahl (Beifall bei der CDU/CSU) sozialer Konflikte und politischer Spannungen. Der (B) Lassen Sie mich abschließend sagen: Die deutsche zweite und bessere Weg setzt die Kraft und Bereitschaft (D) Ratspräsidentschaft bietet die große Chance, die Akzep- zur Neuorientierung in der Europapolitik voraus. Er setzt tanz der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Euro- an den beiden Hauptmängeln des bisherigen Modells an, päischen Union zu fördern. Wir unterstützen die Bundes- der fehlenden sozialen Dimension und der Demokratie- regierung in ihren Bemühungen. Wir haben gerade vor lücke. Die Leitlinie einer solchen Strategie hieße mehr dem Hintergrund des markanten Datums „50 Jahre soziale Sicherheit und Verantwortung und mehr Beteili- Römische Verträge“ die Chance, die Europäische gung und Demokratie. Ein erster Schritt wäre ein alter- Union und ihre Bedeutung nach vorne zu bringen. Sie nativer Verfassungsvertrag, der die neoliberalen wirt- war in den letzten 50 Jahren ein Garant für Demokratie, schafts- und finanzpolitischen Vorgaben des jetzigen Friedenssicherung, Wohlstand, Freiheit und Recht. Entwurfs zurücknimmt. Diese alternative Verfassung Wenn ich sehe, was in den letzten 50 Jahren gelungen könnte man dann 2009 bei den Europawahlen in allen ist, dann ist mir vor den Fragen der Zukunft, insbeson- Ländern zur Abstimmung stellen. dere vor der Globalisierung, nicht bange. Hierauf ist die Europäische Union, ein integriertes Europa, die beste Herr Reiche, ich gehe davon aus, dass Sie in den Aus- und glaubwürdigste Antwort. schusssitzungen nicht nur körperlich anwesend sind. Deshalb wissen Sie, dass wir die Verfassung nicht als Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. solche ablehnen, sondern dass wir immer gesagt haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dass es darauf ankommt, was in der Verfassung steht. Deshalb wollen wir eine Alternative zum jetzigen Ver- fassungsentwurf. Zu sagen, die Linke sei gegen eine Ver- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: fassung, entspricht schlicht und einfach nicht der Wahr- Ich erteile das Wort Kollegen Alexander Ulrich, Frak- heit. tion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Zum Antrag der Grünen. Herr Steenblock, ich gehe Alexander Ulrich (DIE LINKE): davon aus, dass Sie selbst ein schlechtes Gewissen ha- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ben, weil Sie diesen Antrag unterschrieben haben. werden uns in der nächsten Sitzungswoche nochmals in- tensiv mit Europa und der deutschen Ratspräsidentschaft (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE befassen. Aber die Grünen brauchten heute 30 Minuten GRÜNEN]: Ich habe kein schlechtes Gewis- zum Warmlaufen. Wir wollen es ihnen gönnen. sen!) 7134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Alexander Ulrich (A) Wer in seiner Regierungszeit völkerrechtswidrige Kriege In der Entwicklungspolitik gibt es eine Reihe von (C) und einen Sozialabbau in einem bisher nicht gekannten Verlierern, die auch Verlierer der Handelsabkommen Ausmaß mitverantwortete, macht sich unglaubwürdig, sind. Wir wissen, dass wir uns wegen der Agrarförde- wenn er von einer friedlichen und sozialen Union schwa- rung der Europäischen Union eigentlich gegenüber den droniert. Entwicklungsländern schuldig machen! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE Den Antrag der Grünen könnte man als Antrag auf Auf- GRÜNEN]) nahme in die große Koalition verstehen. Ich gehe aber davon aus, dass weder die SPD noch die CDU/CSU die Wir wissen, dass wir hier etwas ändern müssen. Das Koalition um die Grünen erweitern möchten. Wir, die weiß die Bundesregierung auch. Ich freue mich sehr, Linke, wollen keinen weiteren Ausbau der militäri- dass sie ausdrücklich in ihr Programm geschrieben hat, schen Strukturen in Europa, wie es die Grünen wollen, dass sie in der Wirtschaftspolitik entwicklungspolitische sondern wir wollen die zunehmende Militarisierung Eu- Prioritäten setzen und ihre Verantwortung wahrnehmen ropas stoppen. Wir fordern deshalb die Abschaffung der will. schnellen Eingreiftruppe und der Battlegroups mit dem Ziel, auf eine strukturelle Nichtangriffsfähigkeit der EU Ich möchte auf einen Punkt, der mir sehr wichtig ist, hinzuwirken. zu sprechen kommen. Ich meine den Zugang zu Medi- kamenten. Auch in dieser Hinsicht hat die Europäische (Beifall bei der LINKEN – Jörg Tauss [SPD]: Union eine riesige Verantwortung. Es gibt den Plan Politikunfähigkeit!) – darüber bin ich sehr froh –, die Zeit bis 2016 zu nutzen Die Grünen sind von Ihrem Anspruch, eine Friedenspar- und in den Least Developed Countries, in den am we- tei zu sein, weit abgekommen, wie dieser Antrag be- nigsten entwickelten Ländern, Medikamente herzustel- weist. len, die nicht dem Patentschutz – Stichwort TRIPS – un- terliegen. Auf diese Weise darf man Medikamente Wir haben gestern die Chance gehabt, im Europaaus- herstellen und die Pharmaindustrie kann das nicht schuss mit dem Kommissionspräsidenten Barroso zu blockieren. Das ist gut so und das müssen wir nutzen. diskutieren. Was er zur EU-Verfassung gesagt hat, war Wir müssen Länder ausfindig machen, die das können; mehr als enttäuschend. Wenn Herr Krichbaum und Herr wir müssen sie fördern, damit überall Medikamente zur Reiche sagen, es sei Ausdruck der Zurückhaltung der Verfügung stehen. Diplomatie, jetzt keine Vorschläge zu machen, ist das nur das Eingeständnis, dass man keine Vorstellungen Wir haben über Aids gesprochen. Nur 1,6 Millionen (B) hat, wie die EU-Verfassung zu retten ist. Das ist ein Ar- Menschen bekommen Medikamente, aber 6 Millionen (D) mutszeugnis für die deutsche Bundesregierung. brauchen Medikamente. Mehr als 4 Millionen Kranke bekommen sie nicht und sterben – letztlich aus wirt- (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das stimmt schaftlichen Gründen. Ich will Ihnen ein Erlebnis, das nicht! Das ist doch Quatsch!) für mich ein Schlüsselerlebnis war, nicht vorenthalten. Vielen Dank. Ich war bei der Generalversammlung der Weltgesund- heitsorganisation in diesem Mai dabei. Da ging es um (Beifall bei der LINKEN) die Vogelgrippe und einen Impfstoff dagegen. Es gab ei- nen Antrag aus Kenia – unterstützt von Thailand –, der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: verlangte, dass dieser Impfstoff, wenn er denn herge- Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Wodarg, stellt werden könnte, keinen Patentschutz erhalten sollte. SPD-Fraktion. Denn wenn die Vogelgrippe tatsächlich käme, wäre es eine Seuche, die weltweit viele Menschen das Leben kosten würde. Da darf es keine Priorität für Monopole Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): geben; da darf es keine Blockaden geben. Ein Impfstoff Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss dann schnell von möglichst vielen produziert wer- möchte die Bundesregierung dazu beglückwünschen, den und er muss allen zur Verfügung stehen. dass sie eine klare Zielvorstellung formuliert hat und dass sie sehr wohl weiß, welche Ziele sie auch in Bezug (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der auf die europäische Verfassung verfolgen wird. Ich Abg. Monika Knoche [DIE LINKE]) denke, wir sind verpflichtet, das Mögliche so schnell wie Die Amerikaner saßen am Tisch und haben gesagt: No. möglich anzugehen. Es ist wichtiger, dass das Geschäft läuft und dass unsere (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten großen pharmazeutischen Unternehmen ihre Patent- der CDU/CSU und des Abg. Rainder rechte wahrnehmen können, als dass überall in der Welt Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Impfstoff hergestellt werden kann. – Das geht nicht; das können wir nicht tolerieren. Das ist Geschäftemachen Es ist richtig, dass die Bevölkerung in Europa mehr als mit dem Leben Tausender von Menschen. Wirtschafts- und Handelsregelungen erwartet. Es gibt ei- nen Konflikt zwischen Handelsregelungen und zum Bei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten spiel ethischen Werten in der Politik und der Entwick- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- lungspolitik. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7135

Dr. Wolfgang Wodarg (A) Zum Glück laufen jetzt bei der WHO entsprechende bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- (C) Verhandlungen. Da wird auch die Europäische Union schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung mit verhandeln. Ich bitte die Bundesregierung, in dem Sinne, wie ich das hier angedeutet habe, zu verhandeln. – Drucksache 16/3678 – Es ist klar: Erfinder müssen belohnt werden; Forschung Berichterstattung: muss sich lohnen. Mit guten Forschungsergebnissen soll Abgeordnete Steffen Kampeter man auch Geld verdienen dürfen. Aber es darf nicht zur Waltraud Lehn Bildung strategischer Monopole kommen, die dazu füh- Dr. Claudia Winterstein ren, dass Medikamente Menschen vorenthalten werden, Dr. Gesine Lötzsch die von diesen Medikamenten abhängig sind und die ohne sie sterben würden. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Abg. Monika Knoche [DIE LINKE]) (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Das gilt für Aids; das gilt aber auch für viele Armuts- , Katrin Kunert, Dr. Gesine krankheiten. Aufgrund der Forschungsförderung über Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Patente werden bestimmte Medikamente gar nicht mehr der LINKEN entwickelt; denn es lohnt sich nicht. Arme Leute können Bundesweite Mindeststandards für angemes- keine teuren Medikamente kaufen. Allerdings haben senen Wohnraum und Wohnkosten für Bezie- arme Leute andere Krankheiten als reiche Leute. Wenn herinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II wir hier Forschungsförderung betreiben wollen, wenn wir hier wirtschaftliche Regelungen aufstellen wollen, – Drucksachen 16/3302, 16/3677 – wenn wir geistiges Eigentum schützen wollen, dann müssen wir das so machen, dass auch an diesen Krank- Berichterstattung: heiten geforscht wird. Auch dafür haben wir eine große Abgeordneter Karl Schiewerling Verantwortung. Ich freue mich, dass die Erfahrungen aus Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat den Ge- der Entwicklungspolitik in unsere Programmatik für die setzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des EU-Ratspräsidentschaft einfließen. Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des Finanzaus- Ich danke für die Aufmerksamkeit. gleichsgesetzes nicht in seine Beschlussempfehlung mit einbezogen. Dieser Gesetzentwurf soll heute nicht ab- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schließend beraten werden. – Ich sehe, Sie sind damit (B) einverstanden. Dann verfahren wir so. (D) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ich schließe die Aussprache. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. den Drucksachen 16/3327, 16/2833 und 16/3622 an die Ich eröffne die Aussprache und teile mit, dass wegen in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- des Parteitages der Grünen die Rednerinnen und Redner schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der ihre Reden zu Protokoll geben. Es sind dies: Angelika Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Krüger-Leißner, SPD-Fraktion, Jörg Rohde, FDP-Frak- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b auf: tion, Karl Schiewerling, CDU/CSU-Fraktion, Katja Kipping, Fraktion Die Linke, der Parlamentarische a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Staatssekretär Franz Thönnes, Markus Kurth für die nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Max Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. Damit schließe Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des ich die Aussprache.1) Finanzausgleichsgesetzes Wir kommen zur Abstimmung über den von den – Drucksache 16/3269 – Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches So- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zialgesetzbuch und des Finanzausgleichsgesetzes, zur Änderung des Zweiten Buches Sozialge- Drucksache 16/3269. Der Ausschuss für Arbeit und So- setzbuch und des Finanzausgleichsgesetzes ziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 16/3677, den Gesetzentwurf in – Drucksache 16/3572 – der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- schusses für Arbeit und Soziales (11. Aus- men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- schuss) gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU – Drucksache 16/3677 – und SPD bei Ablehnung der Fraktion Die Linke und Berichterstattung: Abgeordneter Karl Schiewerling 1) Anlage 2 7136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Enthaltung der Fraktionen der FDP und des unserer Selbstverpflichtung aus den Washingtoner (C) Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Grundsätzen von 1998 ohne Wenn und Aber. Aber wir müssen auch – um den Gedanken der Restitution nicht in Dritte Beratung Misskredit zu bringen – Vorkehrungen gegen eine neu und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem entstandene Restitutionsindustrie – darunter sind einige Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – schwarze Schafe – treffen, die mit dem noblen Ansinnen Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- ziemlich ungeniert Geschäfte macht und damit den fai- entwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie ren und gerechten Interessenausgleich zwischen den zuvor angenommen. Museen und den Erben, den die Washingtoner Grund- sätze fordern, erschwert, wenn nicht gar hintertreibt. Tagesordnungspunkt 29 b: Beratung der Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf (Beifall bei der FDP) Drucksache 16/3677 zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bundesweite Mindeststandards für Was ist zu tun? Zuallererst ist die Provenienzrecher- angemessenen Wohnraum und Wohnkosten für Beziehe- che zu stärken. Die Zweifel und Verdächtigungen hin- rinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II“. Der Aus- sichtlich der Herkunft der Exponate müssen so schnell schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss- wie möglich beseitigt werden. Diese Unsicherheiten sind empfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/3302 der Humus professioneller Restitutionsforscher, die sich abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- von den Opfererben fürstlich entlohnen lassen, manch- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die mal mit mehr als 50 Prozent des Erlöses. Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/ Was viele übersehen, ist, dass bereits die Washingto- CSU, SPD und FDP bei Ablehnung der Fraktion Die ner Grundsätze als zentrale Forderung die Identifizie- Linke und Stimmenthaltung der Fraktion des Bündnis- rung der einschlägigen Kunstwerke, also die Proveni- ses 90/Die Grünen angenommen. enzforschung, enthalten. Doch dabei dürfen wir unsere Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Museen nicht länger allein lassen. Es geht um Zusatz- kosten von vielen Millionen Euro und es geht um spezi- Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- fische Kenntnisse, die nicht in jedem kleineren Haus Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Jens vorhanden sind. Ich begrüße es deshalb sehr, dass die Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Kulturstiftungen des Bundes und der Länder bereits kon- tion der FDP krete Projekte zur Förderung der Provenienzforschung in National bedeutsames Kulturgut wirksam Angriff genommen haben. Ich hoffe sehr, dass dieses schützen Projekt durch die Kürzungen, die in letzter Sekunde (B) durch den Haushaltsausschuss zulasten der Bundeskul- (D) – Drucksache 16/3137 – turstiftung für 2007 verfügt worden sind, nicht gefährdet Überweisungsvorschlag: wird. Ausschuss für Kultur und Medien (f) Auswärtiger Ausschuss (Beifall bei der FDP) Rechtsausschuss Ein ganz wichtiger Ansatzpunkt ist auch eine Stär- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die kung der so genannten Limbach-Kommission, die 2003 Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die zur Umsetzung der Washingtoner Grundsätze eingerich- Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre tet wurde. Dass deren Konstruktion nicht optimal ist, keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. zeigt schon die Tatsache, dass sie bisher überhaupt erst Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen einmal tätig werden konnte – bezeichnenderweise im Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion, das Wort. spektakulären Kirchner-Fall nicht. Der Fehler dieser Kommission liegt schon darin, dass sie nur im Falle ei- (Beifall bei der FDP) nes übereinstimmenden Antrags beider Seiten tätig wer- den darf. Sie können sich vorstellen: Manche haben kein Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Interesse daran, dass eine Kommission tätig wird. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als letz- Dass dies auch anders und besser gehen kann, haben ten Tagesordnungspunkt debattieren wir heute ein unsere Nachbarn, die Franzosen, gezeigt. Auch wenn ich Thema, dessen Bedeutung nicht nur den kulturpoliti- nicht verkenne, dass es in der Frage der NS-Raubkunst schen Bereich erfasst und sensibel gehandhabt werden natürlich fundamentale Unterschiede zwischen Deutsch- muss. Die Irritation, ja Empörung über die Umstände des land und Frankreich gibt, lohnt doch der Blick ins Verlustes der „Berliner Straßenszene“ von Ernst Ludwig Nachbarland, um zu sehen, wie man dort mit ähnlichen Kirchner reißen nicht ab. Die Furcht geht um, es könnten Fragen umgeht. Die Franzosen haben eine zentrale, mit zahlreiche weitere Exponate aus öffentlichen Sammlun- Fachleuten und Richtern besetzte Kommission einge- gen verschwinden. richtet, die nicht nur – wie bei uns in Deutschland – be- Lassen Sie mich eingangs eines klarstellen. Die mora- rät, sondern die alle in Frankreich gestellten Restitu- lische Verpflichtung Deutschlands, ungeachtet aller Ver- tionsanträge prüft und eine Empfehlung zur Rückgabe jährungsfristen NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kul- oder zur Zahlung einer Entschädigung ausspricht. Inte- turgut zu restituieren, darf von niemandem und in keiner ressanterweise lautet das Votum in den meisten Fällen Weise in Zweifel gezogen werden. Wir bekennen uns zu übrigens nicht „Herausgabe des Bildes“; vielmehr wer- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7137

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) den andere Lösungen wie Dauerleihgabe oder finan- tional bedeutende Kulturgut schützen – jetzt hört er nicht (C) zierte Entschädigung vorgeschlagen. Bei 2 500 Anträgen mal zu –, ist keine einzige Empfehlung in Zweifel gezogen wor- den; alle Empfehlungen sind akzeptiert worden. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Doch, er hört zu!) Sehr interessant ist die Tatsache – das hat mir der Prä- sident dieser Kommission, der sich gestern in Berlin auf- sondern ebenso schnell auf den fahrenden Zug der Ko- gehalten hat, gerade bestätigt –: Es gibt in Frankreich alition aufspringen. Gut gemacht, was die Taktik angeht; keinerlei Aktivitäten der Restitutionsindustrie. Das ist keine Frage. Aber viele Ihrer Ideen sind natürlich bereits für diese Herren und Damen dort offensichtlich nicht so entwickelt worden. Also beraten wir heute in klassischer attraktiv wie in Deutschland. Oppositionsmanier ein Thema, das von der Bundesregie- rung und natürlich auch im Parlament – Sie haben selbst Wir müssen das französische Modell nicht eins zu gesagt: Die UNESCO-Konvention ist bei uns schon eins übernehmen, aber es lohnt sich sehr, dieses Modell lange auf der Agenda – sehr wohl bearbeitet wird; genauer anzusehen, um möglicherweise einen Weg zu Hauptsache, wir haben auch hier noch einmal darüber finden, die deutsche beratende Kommission, die gesprochen. Limbach-Kommission, zu stärken. Sie haben natürlich in einem Recht. Es lohnt sich im- Wir müssen uns auch Gedanken über einen Feuer- mer, über national bedeutsames Kulturgut zu sprechen, wehrfonds machen, der es Museen ermöglicht, rasch besonders dann, wenn es bedroht ist oder zumindest be- und unkompliziert Geld für den Rückkauf eines resti- droht zu sein scheint. Damit es sich lohnt, Herr Otto, ha- tuierten Kunstwerks zu erhalten. ben Sie ganz viele Aspekte in Ihren Antrag hineinge- mischt: den Schutz ausländischen nationalen Kulturguts, Zum Abschluss möchte ich noch kurz auf einen wei- den Schutz unseres nationalen Kulturguts und die ak- teren Aspekt unseres Antrags eingehen, den Schutz na- tuelle Praxis der Restitution von NS-Raubkunst. Den tional wertvollen Kulturguts. Die Bundesregierung un- Verkauf von Kulturgütern haben Sie auch noch erwähnt. ternimmt alle Anstrengungen – das gilt jetzt auch für den Bundestag –, das national wertvolle Kulturgut anderer (Jörg Tauss [SPD]: Das alles in sechs Minu- Staaten zu schützen und die UNESCO-Konvention von ten!) 1970 in Musterschülermanier weit über das von der Konvention geforderte Maß hinaus in nationales Recht Ich finde, dass Ihr Gemisch aber manchmal ein wenig umzusetzen. Während das nationale Kulturgut anderer schal schmeckt. Staaten dann mustergültig geschützt sein wird, mehren Nun zur Sache, zu den drei Forderungen in Ihrem An- (B) sich leider die Fälle, in denen die Abwanderung unserer trag. Sie möchten das Verzeichnis national wertvollen (D) national bedeutsamen Kunstwerke droht oder schon er- Kulturguts aktualisieren und vervollständigen lassen. folgt ist. Es ist deshalb wichtig, dass künftig auch Kul- Unseres Erachtens ist das Verzeichnis aktuell; denn alle turgüter in öffentlichen Sammlungen in das Verzeichnis von den Ländern gemeldeten Eintragungen werden di- national wertvollen Kulturguts aufgenommen werden. rekt in das Gesamtverzeichnis national wertvollen Kul- Aber anders als im Ausführungsgesetz zum UNESCO- turguts übernommen. Abkommen – darüber müssen wir reden – sollte das et- was weitergehend sein. Ich finde, dass man auch dem (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Bisher Kulturstaatsminister ein Antragsrecht geben sollte. nur von den Privaten!) Wir müssen also den Grundgedanken der UNESCO- – Nein. Vollständigkeit kann nur erlangt werden, wenn Konvention auch innerhalb Deutschlands ernst nehmen, die Länder auch Kenntnis von dem Kulturgut haben, was nicht zuletzt gegenüber solchen Trägern öffentlicher Ge- bei Privatbesitz natürlich schwierig ist. walt, die national bedeutsames Kulturgut zur Sanierung (Zuruf des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- öffentlicher Kassen veräußern wollen. Leider, meine Da- furt] [FDP]) men und Herren, besteht hierfür zunehmend Veranlas- sung. – Nein, Auskunftsrechte der Länder gibt es nicht. Auch eine Offenbarungspflicht der Eigentümer ist mit dem Vielen Dank. Grundgesetz kaum in Einklang zu bringen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Außerdem möchten Sie, dass es eine Entschädigung der CDU/CSU) für die Wertminderung gibt, die mit der Eintragung in das Verzeichnis verbunden ist, weil die Verwertungs- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: möglichkeiten erschwert würden. Aber das ist kaum Ich erteile das Wort Kollegin Monika Grütters, CDU/ finanzierbar. CSU-Fraktion. Heikler finde ich da schon Ihre Forderung, die Hand- reichung und die Gemeinsame Erklärung in Bezug auf Monika Grütters (CDU/CSU): Restitutionsfragen zu überarbeiten. In der Tat – da haben Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Sie natürlich Recht – hat die Restitution des Kirchner- Herr Kollege Otto, mir drängt sich ein bisschen der Ver- Bildes „Berliner Straßenszene“ die Kunstwelt zu Recht dacht auf, als wollten Sie auf den letzten Drücker am aufgewühlt, weil das sehr strittig ist. Ob diese Rückgabe Freitag mit Ihrem Antrag noch schnell nicht nur das na- aber hätte verhindert werden können, wenn die Hand- 7138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Monika Grütters (A) reichung anders lauten würde, weiß ich nicht. Diese In- leute werden uns sicher wertvolle Hinweise für ein poli- (C) kunabel des Expressionismus in die Liste nationalen tisches Handeln liefern. Kulturguts der Bundesrepublik aufzunehmen – das über- legen Sie ja; wir haben das der Presse entnommen –, Ich danke Ihnen. wäre sehr fragwürdig. Man könnte es uns als Trick aus- (Beifall bei der CDU/CSU) legen, wenn wir das Depotgut in deutschen Museen in die Liste aufnehmen; man könnte meinen, wir täten dies, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nur um es vor dem Verlust zu schützen. Ich erteile das Wort Kollegin Lukrezia Jochimsen, Wir müssen uns meiner Meinung nach hüten – das ha- Fraktion Die Linke. ben Sie zu Recht gesagt –, diesem knallhart kommerzia- (Beifall bei der LINKEN) lisierten Restitutionshandel, an dem vor allem amerika- nische Anwaltskartelle zu verdienen scheinen, mit einer Einschränkung unserer moralischen Verpflichtung zu be- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): gegnen. Diese Gegenüberstellung ist natürlich außeror- Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Hinsicht- dentlich schwierig. Eine Aushöhlung der moralischen lich des Antrages, den die FDP eingebracht hat, müssen Verpflichtung darf es aber gerade in Deutschland nicht aus meiner Sicht zwei Probleme getrennt voneinander geben, so sinnvoll möglicherweise der Blick auf Nach- betrachtet werden: erstens die Rückgabeverpflichtung barländer ist. Deutschland hat hier natürlich eine singu- Deutschlands für Kunstgegenstände, die zwischen 1933 läre Stellung, weil wir das Volk der Täter waren. und 1945 ihren jüdischen Besitzern auf vielfältige Weise entzogen wurden, und zweitens das hässliche Geschäft Ob ein Feuerwehrtopf finanzierbar wäre, mit öffent- mit dem Erbe, sobald es in die Hände seiner rechtmäßi- lichen oder privaten Mitteln, ist angesichts der Summen, gen Besitzer zurückgelangt ist. die bei den Versteigerungen erzielt werden, schwer zu Im ersten Problemkreis wird uns nun auch die Dimen- beantworten; das wissen Sie. Eher sollte man meiner sion des NS-Unrechts vor allem im Bereich der Kunst Meinung nach ahnungslosen Staatssekretärinnen, die drastisch und deutlich vor Augen geführt. 50, 60 Jahre meinen, sie könnten jenseits der Öffentlichkeit solch lang haben wir gar nicht gewusst – und wissen es zum schwer wiegende Fälle meistern, das Handwerk legen. Teil immer noch nicht –, wie sehr wir uns gerade auch an Frau Kisseler hat die Limbach-Kommission nicht einmal der Kultur unserer jüdischen Bürger bereichert hatten. angerufen. Aber im Kabinett eines Herrn Wowereit wurde die Betreffende zu allem Überfluss auch noch zur Der zweite Problemkreis, lieber Herr Otto, geht uns Chefin der Senatskanzlei befördert. Politiker eigentlich gar nichts an. Wir können es zwar (B) bitter und sogar empörend finden, wenn Glanzstücke aus (D) Um derart unprofessionelles Treiben künftig zu unter- unseren Museen verschwinden und in London oder New binden, wäre eine bessere Dokumentation, also die Pro- York zu Schwindel erregenden Summen versteigert wer- venienzforschung, tatsächlich eine wichtige Vorausset- den, aber in diesem besonderen Fall ist Besitz eben Be- zung für einen sachgerechteren Umgang mit kritischen sitz und im Zeitalter der gerade von der FDP sonst so be- Restitutionsfällen. Deshalb hat der Staatsminister bereits grüßten Globalisierung müssen wir hinnehmen, dass die die Initiative ergriffen und Museumsfachleute zu einer Gier des Marktes nach Museumsware regiert. Konferenz über diese Fragen eingeladen. Ein Termin mit der Jewish Claims Conference wird folgen. Das ist der National bedeutsames Kulturgut wirksam zu schützen richtige Rahmen, um mögliche Verbesserungen der beginnt damit, dass Museen endlich in die Lage versetzt Handreichung – durch Experten und nicht durch die werden, Provenienzforschung zu betreiben; da haben Politik – zu erarbeiten. Sie vollkommen Recht. Jahrzehntelang ist das aber von uns versäumt worden. Nach der Washingtoner Erklä- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Hat sich rung, welche die Bundesrepublik immerhin vor acht Jah- der Bundestag damit nicht beschäftigt?) ren unterzeichnet hat, Für die Provenienzforschung müssen Gelder bereitge- … sollten alle Anstrengungen unternommen wer- stellt werden. Das, Herr Otto, ist in der Tat wieder unsere den, Kunstwerke, die als durch die Nationalsozia- Aufgabe, die des Parlaments. listen beschlagnahmt und in der Folge nicht zurück- erstattet identifiziert wurden, zu veröffentlichen, (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wir um so die Vorkriegseigentümer oder ihre Erben müssen uns auch hiermit beschäftigen!) ausfindig zu machen. – Ja, das tun wir auch. Auch sollten danach Vorkriegseigentümer und ihre Er- ben ermutigt werden, ihre Ansprüche anzumelden. – Von Sehr verehrter Herr Kollege, die CDU/CSU-Fraktion dieser Politik war eben in den letzten Jahren nichts zu wird Ihren Antrag trotzdem ablehnen. Erstens vermischt verspüren. Hätte zum Beispiel das Brücke-Museum er uns zu viele Sachverhalte zum Schutz nationalen Kul- rechtzeitig entsprechend gehandelt, hätten sich vielleicht turguts. Außerdem greifen wir den Ergebnissen der geldgierige Anwälte nicht auf den Weg gemacht, um den durch den Staatsminister initiierten Gespräche mit Fach- Deal zu drehen. leuten ungern vor, auch nicht mit einem solchen Antrag – bei allem Verständnis für die ein wenig im Im FDP-Antrag wird gefordert, die Handreichung, Schatten der Regierung stehende Opposition. Die Fach- die aufgrund der Washingtoner Erklärung für den Um- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7139

Dr. Lukrezia Jochimsen (A) gang mit Rückgabefällen erstellt wurde, zu überarbeiten, und die gesamte CDU/CSU-Fraktion der Inhalt des Ti- (C) um tels Ihres Antrags eine Selbstverständlichkeit. die Balance zwischen den Interessen der Alteigen- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Dann tümer und den Anliegen der Museen … neu zu jus- könnt ihr ja zustimmen!) tieren. Genauso ist es für uns aber eine Selbstverständlichkeit, Da werde ich sehr hellhörig; denn es gibt gleich einen dass Deutschland aufgrund der historischen Vergangen- Vorschlag dazu, wie zu justieren sei, beispielsweise heit gegenüber jüdischen Familien eine besondere Ver- durch eine Haltefrist von zehn Jahren. Was ist damit ge- antwortung hat und eine besondere Sensibilität beweisen meint? Dem rechtmäßigen Eigentümer wird zwar nun muss. Die Frage der Rückgabe von NS-verfolgungsbe- das Bild, das ihm vor 70 Jahren entzogen wurde, zurück- dingt entzogenem Kulturgut ist deshalb äußerst kompli- gegeben, aber dann soll er bitte schön noch zehn Jahre ziert. Diese Kunstwerke hängen häufig in Museen und warten, bis er es verkaufen kann. Das ist doch eine Zu- werden von zahlreichen Menschen täglich betrachtet. mutung sondergleichen. Im FDP-Antrag heißt es weiter, Wir alle können von diesen Kunstwerken viel über un- die neue Balance der Interessen sei im „Geiste der sere Geschichte lernen. – Herr Kollege Otto, wenn Sie Washingtoner Erklärung“ herzustellen. Ich habe keinen mir zuhören würden, würden Sie vielleicht auch verste- Satz über eine solche zehnjährige Haltefrist in der hen, wie wir uns im Anschluss an diese Debatte zu Ih- Washingtoner Erklärung gefunden. rem Antrag entscheiden werden. Der zweite Vorschlag, national wertvolles Kulturgut (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen in ein staatliches Verzeichnis aufzunehmen, welches ein [Bönstrup] [CDU/CSU]) Ausfuhrverbot enthält, kann doch nicht allen Ernstes Natürlich sind die Eigentumsansprüche zu respektie- für zurückzugebende Kunstgegenstände, die zwischen ren. Dazu gibt es die so genannte Washingtoner Erklä- 1933 und 1945 ihren Besitzern entzogen wurden, gelten. rung von 1998. Gleichzeitig besteht aber ein öffentliches Das hieße: Ja, es ist Ihr Bild, wir geben es Ihnen zurück, Interesse – ich würde sagen: unser aller Interesse –, diese es muss aber in Deutschland bleiben. – Auf die NS-Be- wertvollen Kulturgüter für die Öffentlichkeit zu erhalten schlagnahmung folgte die Ausfuhrsperre. und weiterhin zugänglich zu machen. Auch unsere Museen haben ein Interesse daran. Deshalb wurde unter der frü- Dann heißt es im FDP-Antrag: heren Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob Limbach, eine Kommission für die Rückgabe NS-ver- und inwieweit Privateigentümer für eventuelle folgungsbedingt entzogener Kulturgüter eingesetzt. Die- Wertminderungen zu entschädigen sind, die ihnen ses hochrangig besetzte Gremium, in dem unter anderem (B) durch die Eintragung in diese Verzeichnisse entste- Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, die Juristin (D) hen … Jutta Limbach und die ehemalige Bundestagspräsidentin Professor Rita Süssmuth sitzen, vermittelt im Falle einer Das ist mir, ehrlich gesagt, einfach zu viel des Zynismus. Uneinigkeit zwischen der Bundesregierung bzw. ande- Über diesen Antrag werden wir im Ausschuss wohl ren öffentlichen Institutionen der Bundesrepublik und noch kräftig streiten. Im Grunde genommen glaube ich, den ehemaligen Eigentümern der Kunstwerke oder deren dass uns gar nichts anderes bleibt, als ihn abzulehnen. Erben. Fernab der rechtlichen Frage allerdings entscheidet (Beifall bei der LINKEN) diese Kommission und nimmt die moralische Bewertung vor. Dies sind harte Entscheidungen, die umso härter Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: treffen, wenn wertvolle Gemälde mit hohem Preis auf Die Kollegen Steffen Reiche (Cottbus) und Katrin anderen Auktionen versteigert werden. Göring-Eckardt haben ihre Reden zu Protokoll gege- ben.1) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Die Kommission läuft doch völlig leer!) Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Dorothee Bär, Das sind Dinge, die man beklagen kann. Trotzdem müs- CDU/CSU-Fraktion. sen wir nach wie vor mit hoher Sensibilität mit diesem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Thema umgehen. neten der SPD) Wir müssen aber auch realisieren, Herr Kollege Otto, dass durch diese Regelung bereits mehr als 1 000 Kunst- Dorothee Bär (CDU/CSU): werke ohne große Diskussion geräuschlos zurückgege- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ben worden sind. Selbstverständlich werde ich meine Rede bei diesem (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Joachim wichtigen Thema nicht zu Protokoll geben. Otto [Frankfurt] [FDP]: Aber nicht von der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kommission!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wollen un- An zwei, drei spektakulären Fällen entzündet sich nun ser Kulturgut wirksam schützen. Deswegen ist für mich eine Diskussion. Diese Fälle stellen aber nicht das ge- samte Vorgehen infrage. 1) Anlage 3 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 7140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

Dorothee Bär (A) Wichtig ist für uns, dass solche Rückgaben besser nalen Kunstmarkt. Ich will das jetzt auf diesen Punkt (C) vorbereitet werden. Durch die Forschung nach der verkürzen; aber daran zeigt sich schon, wie spannend die Herkunft von Kunstwerken erkennt man die Probleme, Diskussion ist, die wir miteinander zu führen haben. die auf einen zukommen. Man löst das Problem dann im Einzelfall. In der Tat gibt es eine Reihe von Punkten – da möchte ich jetzt ausnahmsweise gar nicht so hässlich zur FDP Die FDP fordert eine Unterstützung dieser Forschung. sein, wie ich normalerweise geneigt bin –, die im Antrag Die Bundesregierung wird das prüfen. Sie fordern in Ih- der Bundesregierung bereits aufgegriffen sind – liebe rem Antrag, Frau Kollegin Grütters, Sie haben es angesprochen –, und andere Punkte, bei denen wir parteiübergreifend zu die Balance zwischen den Interessen der Alteigen- einer Einigung kommen könnten. Die Frage, ob wir hier tümer und den Anliegen der Museen ... neu zu jus- zu einer gemeinsamen Initiative kommen, ist für mich tieren. zunächst einmal offen; natürlich gilt das nicht für Ihren Diese Balance, Herr Kollege Otto, wird unter anderem Antrag, wie er heute aussieht. Aber wie gesagt, auf die- durch die Arbeit der Kommission hergestellt. ser Basis kann man sich sicherlich über das eine oder an- dere unterhalten. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sie läuft völlig leer, Frau Kollegin! Die wird nie Ich glaube, dass dem Schutz national bedeutsamen angenommen!) Kulturguts höchster Stellenwert eingeräumt werden muss; das ist klar. Einige Vorgänge sind angesprochen Sie fordern eine Überarbeitung der Handreichung worden. Aber es gibt ja auch einige andere Vorgänge, die für die Museen. Unser Kulturstaatsminister hat eine sol- uns – zumindest mich als Baden-Württemberger – im che Überarbeitung jedoch bereits angekündigt. Eine ei- Moment sehr beunruhigen. Ich weise an dieser Stelle gens dafür gegründete Arbeitsgruppe wird diese Arbeit darauf hin, dass wir in Baden-Württemberg gerade eine übernehmen. Diskussion darüber führen, dass Kunstgegenstände – es Ihr Antrag ist vielleicht in einigen Punkten richtig, handelt sich hier um den zentralen Schatz aus den Klös- aber doch überholt. Deswegen besteht für uns kein tern, den wir nicht nur in Baden, sondern aus ganz Grund zur Zustimmung zum jetzigen Zeitpunkt. Europa gesammelt haben – dem internationalen Kunst- markt zur Verfügung gestellt werden sollen, um einen Vielen herzlichen Dank. Beitrag zur Sanierung des Schlosses Salem des Hauses (Beifall bei der CDU/CSU) Baden zu leisten. In diesem Zusammenhang gibt es eine ganze Reihe von höchst merkwürdigen Vorgängen. (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Da (D) Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Tauss, SPD-Frak- sind wir uns einig!) tion. Unter anderem wollte die baden-württembergische Lan- (Beifall bei der SPD) desregierung ein Kunstwerk, das bereits im Besitz des Landes ist, für 8 Millionen Euro vom Haus Baden zu- Jörg Tauss (SPD): rückkaufen. Man bezahlt also für ein Kunstwerk, das ei- nem schon gehört, 8 Millionen Euro und gibt dieses Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr ver- Geld an Dritte weiter. ehrten Damen und Herren! Ich will mit derselben Ein- gangsbemerkung wie die Kollegin Bär beginnen: Auch Wir können also offensichtlich nicht mehr davon aus- ich halte es für richtig, dass wir diese Debatte führen. gehen – ich glaube daher, dass die Initiative des Kultur- Nichtsdestotrotz halte ich die Art und Weise, in der wir staatsministers an dieser Stelle richtig ist –, dass das, was es jetzt tun, für nicht in Ordnung. Wir haben die Verein- heute teilweise seit Jahrhunderten im öffentlichen Besitz barung getroffen – ich hoffe nicht, dass wir das einmal und Eigentum ist, noch geschützt ist. Können wir uns ei- wegen der FDP tun müssen –, dass mit Rücksicht auf gentlich noch darauf verlassen, dass das, was in öffentli- den Parteitag der Grünen heute um 13 Uhr Plenarende chen Museen vorhanden ist, tatsächlich dort bleibt, oder ist. müssen wir damit rechnen, dass diese Dinge Gegenstand (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: von Spekulationen werden? 14 Uhr war vereinbart!) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Da Wir haben darüber hinaus vereinbart, dass wir um sind wir uns völlig einig!) 13 Uhr mit dem Kulturausschuss nach Sachsenhausen Frau Kollegin Jochimsen, ich habe die FDP an dieser fahren. Aus diesem Grunde fühle ich mich unwohl, zu- Stelle in der Tat nicht so verstanden, dass sie den interna- mal mein Kollege Reiche seine Rede im Vertrauen auf tionalen Kunstmarkt nicht mehr wolle. Ich glaube, wir getroffene Absprachen zu Protokoll gegeben hat. Ich alle bekennen uns dazu. will das nur in aller Klarheit sagen; darüber sollten wir uns in aller Freundschaft noch einmal unterhalten. Ich war vor einiger Zeit in einem anderen Zusammen- hang an der Universität von Harvard. Das war sehr Ansonsten ist natürlich richtig, dass wir hier eine inte- spannend. ressante Debatte haben. Die Linke wird marktwirtschaft- lich radikal und die FDP stellt sich gegen den internatio- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Gut!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7141

Jörg Tauss (A) – Ein Neffe von mir hat dort gelehrt. Ich habe daher ganz Schönes Wochenende. (C) gute Beziehungen dorthin. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Reisen der CDU/CSU) bildet!) Nur wenige wissen, dass diese Universität ein unglaub- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lich faszinierendes Museum hat. Insbesondere befinden Ich schließe die Aussprache. sich dort Gegenstände der so genannten entarteten Kunst, die dadurch gerettet worden sind. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3137 an die in der Tagesordnung aufge- Ich habe aufgrund unserer Diskussion in Harvard ge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- fragt, ob man dort bereit wäre, Kunstgegenstände zu ver- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung kaufen. Man hat mir geantwortet, es sei völlig ausge- so beschlossen. schlossen, dass etwas, das im Bestand von Harvard ist, veräußert würde. Es ist eine unabänderliche Tatsache, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: dass diese Gegenstände dort bleiben. Das ist auch so fi- Beratung des Antrags der Abgeordneten xiert. Dr. Barbara Höll, Kornelia Möller, Cornelia Ich habe mich dann an unsere Debatte erinnert. Es ist Hirsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion meines Erachtens dringend erforderlich, dass wir uns der LINKEN auch über die Frage unterhalten, ob die Liste der ge- Ausbildungsplatzlücke schließen – Vorschlag schützten Kulturgüter, wie sie im Moment angelegt ist des DGB aufgreifen – in diesem Zusammenhang ist das Vorkommnis aus Ba- den-Württemberg ein trauriges Beispiel – noch ausrei- – Drucksache 16/3540 – chend ist. An dieser Stelle muss eine erweiterte Diskus- Überweisungsvorschlag: sion geführt werden. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Ich bin froh – wir haben entsprechende Vorbereitun- Technikfolgenabschätzung gen schon in der letzten Legislaturperiode getroffen –, Haushaltsausschuss dass der Kulturstaatsminister diese Diskussion aufge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die griffen hat. Ich denke, dass wir etwas Vernünftiges auf Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre den Weg bringen werden. Ich sage noch einmal: Ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. würde mich freuen, wenn dies parteiübergreifend mög- (B) lich wäre, auch unter dem Gesichtspunkt – ich zitiere Ich eröffne die Aussprache und teile mit, dass alle (D) einmal ausnahmsweise die „Frankfurter Allgemeine Zei- Reden zu Protokoll gegeben worden sind, und zwar die tung“ von heute –: „Kulturgut ist kein Spielzeug“. Dem Reden der Kollegen Werner Dreibus, Fraktion Die stimme ich ausdrücklich zu. Linke, , CDU/CSU-Fraktion, Patrick Meinhardt, FDP-Fraktion, Dieter Grasedieck, SPD- (Beifall bei der SPD) Fraktion, und Brigitte Pothmer, Fraktion des Bündnis- Es wird in diesem Lande zunehmend der Eindruck er- ses 90/Die Grünen.1) weckt, als sei Kulturgut – egal ob in Baden-Württemberg oder anderswo – beliebige Dispositionsmasse für die Sa- Damit kann ich die Aussprache schließen. nierung von Haushalten oder eines bankrotten Adelshau- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf ses. Diesen Eindruck darf Deutschland nicht vermitteln, Drucksache 16/3540 an die in der Tagesordnung aufge- zumal wir uns mit Blick auf Kriegsgebiete empören, wie führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- dort mit Kulturgütern umgegangen wird. Damit kein verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Missverständnis besteht: Selbstverständlich ist das, was so beschlossen. im Irak mit Kulturgütern geschieht, eine Katastrophe. Aber für mich ist es ebenso eine Katastrophe, dass bei Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- uns im tiefsten Frieden aufgrund fiskalischer Zwänge ordnung. mit Kulturgütern so umgegangen wird, als seien sie Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Spielzeug. destages auf Mittwoch, den 13. Dezember 2006, 13 Uhr, (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Lukrezia ein. Jochimsen [DIE LINKE]) Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein Ich freue mich auf die Diskussion. Ich will einmal freundliches Adventswochenende. nett zur FDP sein und betonen, dass sie einen kleinen (Schluss: 13.25 Uhr) Beitrag zu dieser Debatte geliefert hat. Den größeren Beitrag haben natürlich wieder wir geleistet. So ist es halt im Leben. Damit muss sich die FDP abfinden. 1) Anlage 4

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7143

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Altmaier, Peter CDU/CSU 01.12.2006 Heilmann, Lutz DIE LINKE 01.12.2006

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 01.12.2006 Hilsberg, Stephan SPD 01.12.2006 DIE GRÜNEN Hinz (Essen), Petra SPD 01.12.2006 Andres, Gerd SPD 01.12.2006 Hoff, Elke FDP 01.12.2006 Binder, Karin DIE LINKE 01.12.2006 Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 01.12.2006 von Bismarck, Carl CDU/CSU 01.12.2006 DIE GRÜNEN Eduard Irber, Brunhilde SPD 01.12.2006 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 01.12.2006 Jelpke, Ulla DIE LINKE 01.12.2006 Blumentritt, Volker SPD 01.12.2006 Dr. Jung, Franz Josef CDU/CSU 01.12.2006 Bollen, Clemens SPD 01.12.2006 Dr. Kofler, Bärbel SPD 01.12.2006 Brähmig, Klaus CDU/CSU 01.12.2006 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ 01.12.2006 Brand, Michael CDU/CSU 01.12.2006 DIE GRÜNEN (B) (D) Bülow, Marco SPD 01.12.2006 Kunert, Katrin DIE LINKE 01.12.2006

Dagdelen, Sevim DIE LINKE 01.12.2006 Lips, Patricia CDU/CSU 01.12.2006

Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 01.12.2006 Mattheis, Hilde SPD 01.12.2006

Dobrindt, Alexander CDU/CSU 01.12.2006 Meckel, Markus SPD 01.12.2006

Eichel, Hans SPD 01.12.2006 Meierhofer, Horst FDP 01.12.2006

Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 01.12.2006 Merten, Ulrike SPD 01.12.2006 DIE GRÜNEN Möller, Kornelia DIE LINKE 01.12.2006 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 01.12.2006 Müntefering, Franz SPD 01.12.2006 Friedhoff, Paul K. FDP 01.12.2006 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ 01.12.2006 Fritz, Erich G. CDU/CSU 01.12.2006 DIE GRÜNEN

Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 01.12.2006 Pflug, Johannes SPD 01.12.2006

Dr. Geisen, Edmund FDP 01.12.2006 Pronold, Florian SPD 01.12.2006

Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 01.12.2006 Reiche (Potsdam), CDU/CSU 01.12.2006 Katherina Glos, Michael CDU/CSU 01.12.2006 Reinke, Elke DIE LINKE 01.12.2006 Haßelmann, Britta BÜNDNIS 90/ 01.12.2006 DIE GRÜNEN Röring, Johannes CDU/CSU 01.12.2006

Heil, Hubertus SPD 01.12.2006 Röspel, René SPD 01.12.2006 7144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) Kommunen für Unterkunft und Heizung bei der Grund- (C) entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich sicherung für Arbeitsuchende. Das Gesetz ist ein weiterer eindrucksvoller Beweis Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 01.12.2006 dafür, dass diese Bundesregierung sich ihrer Verantwor- Claudia DIE GRÜNEN tung gegenüber den Kommunen bewusst ist. Schon im letzten Jahr war es ein besonderes Anliegen der CSU, Dr. Scheer, Hermann SPD 01.12.2006 dass ein fairer Ausgleich zwischen Bund einerseits und Ländern und Kommunen andererseits für die durch Schmidt (Nürnberg), SPD 01.12.2006 Hartz IV entstandenen Kosten geschaffen wird. Auch für Renate 2007 ist es uns gelungen, den gesetzlichen Vorgaben (§ 46 SGB II) in angemessener Weise Rechnung zu tra- Schneider (Erfurt), SPD 01.12.2006 gen. Statt der ursprünglich im Bundeshaushalt 2007 ver- Carsten anschlagten 2 Milliarden Euro, die zu niedrig angesetzt waren, haben wir es geschafft, dass der Bund sich mit Spanier, Wolfgang SPD 01.12.2006 4,3 Milliarden Euro auch 2007 in adäquater Weise an den Kosten für Unterkunft und Heizung beteiligt. Dr. Staffelt, Ditmar SPD 01.12.2006 Noch wichtiger ist aber, dass wir über das nächste Strobl (Heilbronn), CDU/CSU 01.12.2006 Jahr hinaus Planungssicherheit für Kommunen und Thomas Bund geschaffen haben. Durch die Anknüpfung an die Entwicklung der Bedarfsgemeinschaften auf Grundlage Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 01.12.2006 der – schon bisher – von der Bundesagentur für Arbeit DIE GRÜNEN erstellten Statistik wird zukünftigen Entwicklungen der Kostensituation in gerechter und unbürokratischer Weise Thiele, Carl-Ludwig FDP 01.12.2006 entsprochen.

Toncar, Florian FDP 01.12.2006 Lassen Sie mich nun noch ein paar Sätze zum Antrag der Linken, der hier mitbehandelt wird, verlieren. Sie Voßhoff, Andrea Astrid CDU/CSU 01.12.2006 wollen in zahlreichen Fällen von einer Prüfung der An- gemessenheit des Wohnraums abweichen – sowohl in Dr. Westerwelle, Guido FDP 01.12.2006 zeitlicher wie in personeller Hinsicht. Der Antrag reiht sich in die zahlreichen Bestrebungen der Linken hin zu (B) (D) Wissmann, Matthias CDU/CSU 01.12.2006 einer staatlichen Rundumversorgung von Hartz IV-Emp- fängern auf Kosten der übrigen Bürger nahtlos ein. Wie- Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 01.12.2006 der einmal lassen Sie die Finanzierung völlig offen. Auf Margareta DIE GRÜNEN diese Weise würden Sie die Situation der Hilfebedürfti- gen weiter verfestigen und diese Menschen dauerhaft zu Zeil, Martin FDP 01.12.2006 Bittstellern beim Staat machen. Sie fördern Abhängig- keit statt Unabhängigkeit. Dies passt zu Ihrer Partei und Zimmermann, Sabine DIE LINKE 01.12.2006 ist im höchsten Maße unsozial. Im Übrigen darf ich Sie zur Angemessenheit des Wohnraums auf die neueste Rechtsprechung des Bundessozialgerichts verweisen. Anlage 2 Im Gegensatz zum Antrag der Linken, den wir natür- Zu Protokoll gegebene Reden lich ablehnen, schafft unser Gesetzentwurf Planungs- sicherheit in der Zukunft und gibt den Kommunen aus- zur Beratung: reichende Finanzmittel an die Hand, um ihrer – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des sozialpolitischen Aufgabe zur Bereitstellung von Unter- Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des kunft im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsu- Finanzausgleichsgesetzes chende nachzukommen. Ich bitte Sie daher dafür um Ihre Zustimmung. – Beschlussempfehlung und Bericht: Bundes- weite Mindeststandards für angemessenen Karl Schiewerling (CDU/CSU): Der vorliegende Wohnraum und Wohnkosten für Beziehe- Gesetzentwurf zur Beteiligung des Bundes an den kom- rinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II munalen Kosten für Wohn- und Heizkosten für ALG-II- (Tagesordnungspunkt 29 a und b) Empfänger ist ein sehr fairer Kompromiss: für Bund, Länder und Kommunen. Max Straubinger (CDU/CSU): Wir behandeln heute Die harten Zahlen beweisen: Für seine Beteiligung an in zweiter und dritter Lesung den Entwurf eines Geset- den Kosten der Unterkunft wird der Bund nächstes Jahr zes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch 4,3 Milliarden Euro an Länder und Kommunen überwei- und des Finanzausgleichgesetzes. Dieser beschäftigt sich sen. Diese Summe ist immerhin mehr als das Doppelte mit dem Anteil der Bundesbeteiligung an den Kosten der von dem, was der Regierungsentwurf zum Bundeshaus- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7145

(A) halt ursprünglich dafür vorgesehen hatte. Der Bund hat gen Gebieten im Westen gestaltet sich der Arbeitsmarkt (C) also die Notwendigkeit zum Aufstocken eingesehen. Er besonders schwierig. Besonders strukturschwache Ge- verhält sich fair gegenüber den Kommunen und zeigt biete leiden unter Abwanderung, ganze Landstriche blu- seine Verlässlichkeit. Der Bund hält seinen Teil der be- ten aus. Auch diesen strukturschwachen Gebieten, in de- stehenden Zusagen vollends ein. Wir kommen mit dieser nen mehr als 20 Prozent der Menschen arbeitslos sind Summe unserer Pflicht und Verpflichtung redlich nach, und mehr als 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen wie es damals bei der Arbeitsmarktreform festgelegt von Sozialhilfe leben, müssen wir ein verlässlicher Part- worden war: Die Kommunen werden um jährlich ner sein. 2,5 Milliarden Euro bei den Wohn- und Heizkosten ent- lastet. Genau diese Verpflichtung erfüllen wir hier und Wie es insgesamt mit der Organisation unserer Grund- heute, auch wenn mancher Vertreter von kommunalen sicherung weitergeht, bleibt spannend. Wir warten auf Spitzenverbänden nach noch mehr Geld und noch mehr das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Dem SGB II Bundesbeteiligung ruft. liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Integration der Hilfebedürftigen vor Ort gelöst werden muss. Die Verant- Nun ist es nur fair, wenn auch der Bund die Frage an wortung liegt bei den Kommunen vor Ort. Können Sie die Kommunen stellen darf, wie es denn um die Einhal- das allein nicht schultern, haben sie Anrecht auf Unter- tung ihrer Zusagen steht. Ich kann in diesem Zusammen- stützung vonseiten des Bundes und der Länder. Das ist hang nur eindringlich daran appellieren, dass die Kom- Subsidiarität. munen ernst machen mit ihren zugesagten Aktivitäten für die Kinderbetreuung. 1,5 Milliarden wollten die Das Prinzip der Subsidiarität muss auch Maßstab der Kommunen investieren – ich hoffe, dass sie das auch tun zukünftigen Zusammenarbeit innerhalb des SGB II sein. werden. Familienpolitik von Bund, Länder und Gemein- Zentrale Vorgaben müssen deutlich reduziert werden. den muss niemanden greifen, sonst verfehlt sie ihr Ziel. Stattdessen müssen gemeinsam formulierte überprüfbare Ziele, die den vorhandenen Strukturen Rechnung tragen, Dieses Gesetz ist in besonderer Weise fair gegenüber erarbeitet werden. Bundesländern wie Baden-Württemberg und Rheinland- Pfalz. Bei ihnen wäre es bei einer einheitlichen Beteili- Wir stimmen dem vorliegenden Gesetz zu. gung des Bundes von 31,8 Prozent zu den bekannten „horizontalen Verwerfungen“ gekommen. An der bun- desweiten Entlastung von 2,5 Milliarden Euro hätten Angelika Krüger-Leißner (SPD): Ich glaube, bei dann vor allem Kommunen aus diesen beiden Bundes- den Kosten der Unterkunft brauchen wir vor allem eines: ländern nicht angemessen partizipieren können. Aus die- Planungssicherheit für die Kommunen. Das jährliche sem Grund wird ein horizontaler Ausgleich unter den Hin und Her bei den Verhandlungen, die Streitigkeiten (B) (D) Ländern geschaffen. Durch das einstimmige Votum im über die unterschiedliche Zahlenbasis, die jede Seite ver- Bundesrat wird die Bundesbeteiligung für Baden- wendet, und die damit verbundenen Unsicherheiten bei Württemberg auf 35,2 Prozent und für Rheinland-Pfalz den Haushaltsaufstellungen der Kommunen müssen ein auf 41 ,2 Prozent erhöht. Gleichzeitig haben sich die an- Ende haben. deren 14 Länder auf eine Bundesbeteiligung in Höhe Staatssekretär Thönnes hat schon darauf hingewiesen: von 31,2 Prozent geeinigt. Ich halte diese einstimme Der Bund hat den Kommunen ein großzügiges Angebot Entscheidung des Bundesrates für bemerkenswert. gemacht. Er ist ihren Forderungen sehr weit entgegenge- Von echter Fairness ist auch der Blick in die Zukunft kommen. Das sage ich auch angesichts der zusätzlichen geprägt: Ab 2008 entscheidet über die Höhe des Bundes- Haushaltsbelastung von 2,3 Milliarden Euro für den anteils der echte Bedarf in den Kommunen. Mehr Bund, die alles andere als unwesentlich ist. Bedarfsgemeinschaften bedeuten einen höheren Bundes- zuschuss und umgekehrt. Insgesamt ist diese Verläss- Mit der Bundesbeteiligung von 31,8 Prozent sichern lichkeit untereinander elementar wichtig. Denn nur ge- wir, dass alle Länder entlastet werden. Zugegeben: Die meinsam können wir die eigentliche Herausforderung, Entlastung ist von Land zu Land unterschiedlich; je die Beseitigung von Arbeitslosigkeit – insbesondere bei nachdem, wie hoch die Anzahl der Sozialhilfeempfänger Langzeitarbeitslosigkeit – meistern. Dass wir auf dem zuvor war. Aber die Bundesbeteiligung bei allen prozen- richtigen Weg sind, zeigen erneut die aktuellen Arbeits- tual gleichzusetzen ist eine faire Lösung. marktzahlen: Die positive Entwicklung der vergangenen Dass der Bund sich darüber hinaus nun bereit erklärt Monate hat sich fortgesetzt. Der Konjunkturaufschwung hat, die Länder Baden-Württemberg und Rheinland- hat die Zahl der Arbeitslosen unter die 4-Millionen- Pfalz zusätzlich zu entlasten, zeigt noch einmal, dass die Marke sinken lassen. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es Bundesregierung sehr an einer einvernehmlichen Lö- 536 000 Arbeitslose weniger. Die Quote liegt bei 9,6 Pro- sung interessiert ist. zent. Dass die anderen Länder dafür bereit sind, auf einen Zu unserer großen Freude schaffen nicht nur Men- Teil der Bundesbeteiligung zu verzichten, zeigt mir wie- schen aus dem Bereich des SGB III den Sprung aus der derum, dass die Entlastung durch die erhöhte Bundesbe- Arbeitslosigkeit, sondern vermehrt auch Menschen aus teiligung offenbar doch nicht so schlecht ausfällt, wie dem Bereich der Grundsicherung für Arbeitslose. die Länder und Kommunen immer wieder bemängeln, Allerdings: Nicht alle profitieren von diesem positi- Ich hatte bei den Stellungnahmen der Spitzenverbände in ven Trend. In großen Teilen Ostdeutschlands und in eini- der Anhörung zuvor anderes vernommen. 7146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) Ich sage ganz ehrlich: Verstehen tue ich diesen Vor- dann können wir einige gute und einige schwache (C) schlag nicht. Aber wenn die Länder das so wollen, wenn Punkte finden. die meisten sogar bereit sind, auf Geld zu verzichten, dann werden wir uns dem nicht entgegenstellen. Ich Fangen wir mit den positiven Punkten an. Endlich freue mich aber, dass es hier zu einer Einigung gekom- werden Konsequenzen daraus gezogen, dass sich die von men ist. der faktisch großen Koalition im Vermittlungsverfahren im Dezember 2003 beschlossene Revisionsklausel als Am Wichtigsten ist jedoch, dass nun der Prozess der undurchführbar erwiesen hat. Dies hat wiederholt dazu Umsetzung reibungslos laufen kann. Das ist auch zual- geführt, dass die Kommunen erst kurz vor Jahresende lererst für die Hilfebedürftigen von großer Wichtigkeit. Planungssicherheit bekamen und das weitgehend losge- löst von deren tatsächlichen Belastungen, sondern durch In diesem Zusammenhang war es mir besonders die Verständigung auf eine quotale Bundesbeteiligung an wichtig, dass der Ausgleich Ost durch die Sonderbe- den Kosten der Unterkunft. Jetzt soll die jährliche An- darfsabgabe bei den KdU bis 2010 verlängert wurde. passung durch eine Formel vereinfacht werden. Soweit Nur durch die Solidarität aller 16 Länder ist es möglich, so gut. Wir erkennen auch an, dass gegenüber dem ur- die Sonderbelastung der ostdeutschen Länder durch den sprünglichen Haushaltsansatz von 2 Milliarden Euro nun hohen Anteil ehemaliger Arbeitslosenhilfeempfänger zu 4,3 Milliarden Euro vom Bund an die Kommunen flie- kompensieren. ßen sollen. Die Forderung der Kommunen allerdings, die künf- Das war das Ergebnis eines Verhandlungskompromis- tige Entwicklung der Bundesbeteiligung nicht an den ses zwischen Bund und Ländern und hier kann ich dann Bedarfsgemeinschaften zu messen, sondern an den tat- zum ersten Teil unserer Kritik überleiten. Die kommuna- sächlichen Ausgaben, ist absolut kontraproduktiv. Wür- len Spitzenverbände haben bereits vor Wochen errech- den wir das, so wie der Bundesrat es gefordert hat, um- net, dass eigentlich 5,8 Milliarden Euro als Kostenanteil setzen, würde der Bund das komplette Risiko bei der des Bundes an den KdU notwendig wären. Hier haben Kostenentwicklung tragen. Und das kann nicht sein! Bund und Länder wieder einmal eine Verabredung zulas- ten Dritter getroffen. Die Kommunen stehen in der Verantwortung vor Ort, dass faire und gerechte – aber auch angemessene – Un- Das können wir nicht einfach so hinnehmen. Die FDP terkunftskosten bezahlt werden. Das klappt in der Regel steht zu der Zusage, die Kommunen im Rahmen der Zu- auch sehr gut, weswegen ich den vorliegenden Gesetz- sammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe um entwurf der Linken für nicht sachgemäß halte. insgesamt 2,5 Milliarden Euro zu entlasten. Jetzt bleibt also nach Berechnung der Kommunen und Länder mög- (B) Wenn der Bund aber das gesamte Risiko trägt, wird licherweise nur noch 1 Milliarde Euro an Entlastungen (D) letztlich das Interesse schwinden, die Kosten im Rahmen übrig. Sie wird nicht gleichmäßig an die Kommunen zu halten. Außerdem ist die Zahl der Bedarfsgemein- verteilt, sondern einige erhalten viel und andere zahlen schaften eine valide Grundlage und für die Bürgerinnen bei diesem Verfahren drauf. Ihr Gesetz ist hier sehr un- und Bürger transparent. gerecht, meine Damen und Herren von der Koalition. Wir bleiben bei der Orientierung an den Bedarfsge- Jetzt komme ich noch einmal auf die Berechnungsfor- meinschaften. Dann haben auch Länder und Kommunen mel für die zukünftige Kostenverteilung zurück. Ihre ein vitales Interesse daran, die Anzahl der Bedarfsge- Formel baut auf der Anzahl der Bedarfsgemeinschaften meinschaften zu senken. Im Klartext heißt das: Wir müs- auf. In der Anhörung letzte Woche haben wir gehört, sen gemeinsam für einen nachhaltigen Abbau der Lang- dass die Kommunen die tatsächlich entstehenden Kosten zeitarbeitslosigkeit kämpfen. Dieses Ziel sollten wir als maßgebende Berechnungsgrundlage für gerechter immer im Auge behalten. halten. Ich möchte Ihnen kurz einige Beispiele nennen: Zum Ersten ist es sicher nachzuvollziehen, dass eine Be- Es besteht kein Zweifel daran, dass die heutige Ent- darfsgemeinschaft mit zum Beispiel neun Personen mehr scheidung für die Kommunen von großer Bedeutung ist. Kosten verursacht, als ein Single. Sie schafft mittelfristige Planungssicherheit und gibt den finanziellen Rahmen für weitere wichtige Aufgaben, wie Zum Zweiten wissen Sie sicher aus Ihren Wahlkrei- den Ausbau der Kinderbetreuung. Ich bin sicher, dass sen, dass es sehr unterschiedliche Fälle gibt. So muss bei Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg mit den zu- mir im Wahlkreis der Landkreis Erlangen-Höchstadt für sätzlichen Geldern hier besondere Anstrengungen leisten nur fünf Familien circa 42 000 Euro jedes Jahr aufbrin- werden. Daher sollten wir alle diesem Gesetzentwurf zu- gen. Hier einfach nur die Bedarfsgemeinschaften zu zäh- stimmen und einen immer wiederkehrenden Streit zwi- len ist nicht fair. schen Bund, Ländern und Kommunen für die nächsten Zum Dritten möchte ich an die BAföG-Empfänger er- Jahre beenden. innern, deren Unterkunftskosten ab dem 1. Januar eben- falls von den Kommunen mitfinanziert werden müssen. Jörg Rohde (FDP): Heute befinden wir über eine In der Anhörung haben wir gehört, dass die Studenten Fortschreibung des Gesetzes zur Kostenverteilung der gar keine Bedarfsgemeinschaften bilden, da Sie ja zu- KdU, der Kosten der Unterkunft. Wenn wir den Gesetz- meist jünger als 25 Jahre sind. Bei diesem Beispiel stei- entwurf von Union und SPD genau prüfen – und dies ha- gen die Ausgaben für die Kommunen also, obwohl die ben wir in der FDP-Fraktion natürlich gründlich getan –, Anzahl der gezählten Bedarfsgemeinschaften konstant Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7147

(A) bleibt. Auch hier geht der Bund nicht fair mit den Kom- Menschen mit Behinderung und über 60-Jährige und (C) munen um. Alleinerziehende mit mindestens zwei Kindern auf jeden Fall in ihrer bisherigen Wohnung bleiben können. Um- Zum Vierten und Letzten möchte ich festhalten, dass züge bedeuten immer einem Aufwand, für diese Perso- die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften sich auch unab- nengruppen aber einen besonders großen, der oft nicht hängig von der Anzahl der in den Arbeitsmarkt integrier- im Verhältnis zu den Einsparungen für die Kommunen ten Langzeitarbeitslosen verändern kann. Wir haben im steht. Zudem schlagen wir vor, dass vor einem mögli- Ausschuss bereits festgestellt, dass die Anzahl der Be- chen Wohnungswechsel für jeden Einzelfall eine Wirt- darfsgemeinschaften sinkt, wenn sich Hilfeempfänger schaftlichkeitsprüfung zu erstellen ist. Mit einem Umzug zusammenschließen und zum Beispiel heiraten. Im Ge- sind viele Kosten verbunden: die Schönheitsreparaturen genzug kann bei Scheidungen die Anzahl der Bedarfs- in der alten Wohnung, die Transportkosten, die Kaution gemeinschaften steigen. Des Weiteren könnte die Defini- für die neuen Wohnung etc, etc. Wenn die Mietkosten tion der Zählweise bei der Ermittlung der Anzahl der für die neue Wohnung nur ein bisschen niedriger sind, Bedarfsgemeinschaften durch uns als Gesetzgeber geän- kann es passieren, dass die umzugsbedingten Kosten hö- dert werden. her sind als die Einsparungen bei der Miete. Wenn ein Wie Sie sehen, gibt es zu viele Stellschrauben und Pa- Umzug also in der Bilanz noch nicht einmal wirtschaft- rameter, die Einfluss auf die Anzahl der Bedarfsgemein- lich ist, dann sollte man die Menschen nun wahrlich schaften haben, ohne dass sich dabei die Kostenbelas- nicht noch dazu bringen, ihr gewohntes Lebensumfeld tung für die Kommunen entsprechend verändert. So ist verlassen zu müssen. eine echte Planungssicherheit für die Kommunen trotz langfristiger Festlegung einer Formel wieder nicht gege- Üblicherweise verweisen Sie ja zu gern darauf, dass ben. wir in Berlin mitregieren. In den bisherigen Ausschuss- debatten ist dieser Hinweis diesmal ausgeblieben. Wenigstens eine Bemerkung möchte ich zum Antrag Könnte es vielleicht daran liegen, dass die Ausführungs- der Linksfraktion machen: Sie bleiben die Antwort bestimmung Wohnen in Berlin für die Betroffenen deut- schuldig, wer Ihre Wünsche bezahlen soll. Wäre es der liche Vorteile bringt. Die Standards, die wir in unserem Bund, bitte ich vor der Diskussion um einen Deckungs- Antrag fordern, sind in Berlin vom rot-roten Senat be- vorschlag. Sollten Sie an die Kommunen gedacht haben, reits umgesetzt worden. Im Ergebnis dieser Regelungen so erinnere ich Sie an die Föderalismusreform; wir wol- bekamen in Berlin nur 1,8 Prozent der Bedarfsgemein- len doch keine Gesetze mit neuen Kostenbelastungen für schaften die Aufforderung, ihre Wohnkosten zu senken. die Kommunen diskutieren. Die FDP lehnt daher den Und nur 0,03 Prozent, das sind rund 100 Bedarfsgemein- Antrag der Linken ab. schaften, mussten aus Kostengründen umziehen. Was (B) Die Linke vorschlägt, ist also in Berlin Realität. Außer- (D) Zusammenfassend kann ich feststellen, dass es zwar dem wird unser Antrag vom DGB und vom Mieterbund gut ist, dass die Kommunen mehr Geld erhalten als ur- unterstützt. Sie können ihm also getrost zustimmen. Als sprünglich befürchtet, die FDP kann dem Gesetz aber Hartz IV eingeführt wurde, hieß es, die Kommunen sol- nicht zustimmen, vor allem da die vorgesehene Anpas- len dadurch um 2,5 Milliarden Euro entlastet werden, sungsklausel sich nicht an den tatsächlichen Kosten die sie dann in Kinderbetreuung investieren können. In- aufseiten der Kommunen orientiert. Daher wird sich die zwischen geht es vielen Kommunen nur noch darum, FDP-Fraktion bei diesem Gesetzesvorhaben der Stimme dass wenigstens die Haushaltsdefizite, die durch enthalten. Hartz IV entstehen, sich in Grenzen halten. Vor diesem Hintergrund ist es für mich völlig unverständlich, wie Katja Kipping (DIE LINKE): Den Job zu verlieren, die Bundesregierung ernsthaft im 1. Haushaltsentwurf auf Arbeitslosengeld II angewiesen zu sein, dass ist vorschlagen konnte, den Bundeszuschuss zu den Kosten schon schlimm genug. Wenn dann noch der Auszug aus der Unterkunft zu halbieren. der alten Wohnung erzwungen wird, dann stellt das eine besondere Katastrophe dar. Ist doch mit dem Wohnungs- Herr Müntefering hat ernsthaft vorgeschlagen, dass wechsel in einer billigeren Wohnung auch oft die Tren- der Bund künftig nur 15,5 Prozent der Kosten über- nung vom sozialen Umfeld verbunden. Besonders hart nimmt. Der Gesetzentwurf sieht nun vor, dass der Bund trifft dies Kinder, die für die die Arbeitslosigkeit der El- mehr als 31 Prozent übernimmt. Das ist zwar noch nicht tern einhergeht mit dem Wechsel in eine andere Schule die Summe, die die Kommunen für erforderlich halten, und der Trennung von Spielkameraden. Verschärfend aber immerhin das Doppelte von dem ursprünglichen kommt hinzu, dass für jemanden, der von Arbeitslosen- Ansatz. Ohne den Widerstand der Kommunen und der geld II leben muss, der Erwerb von Fahrkarten oft zum Linksfraktion im Bundestag wäre diese Verdopplung Luxus wird. Insofern sollten die Kommunen sehr sensi- wohl nicht zustande gekommen. Die Geschichte dieses bel sein bei der Festlegung der angemessenen Wohnkos- Gesetzentwurfes zeigt also, dass es sich lohnt, sich nicht ten. Die Fraktion Die Linke schlägt vor, bundesweit alles von der Bundesregierung gefallen zu lassen und Mindeststandards für die angemessenen Wohnkosten sich zu wehren! Um den alljährlichen Verhandlungsma- festzulegen. Dabei handelt es sich nicht um quantitative rathon um die Höhe des Bundeszuschusses zu be- Mindeststandards. Wir wollen natürlich nicht bundes- grenzen, wollen Sie eine Gleitklausel einführen. Nun, weit die gleiche Höhe, dafür sind die Mietkosten regio- darüber kann man reden. Völlig indiskutabel ist jedoch nal viel zu unterschiedlich. Uns geht es um qualitative für mich, dass Sie die Zahl der Bedarfsgemeinschaften Standards. So sieht unser Antrag beispielsweise vor, dass zum Indikator erheben. Die Sachverständigenanhörung 7148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) hat eindeutig ergeben, dass die Zahl der Bedarfsgemein- gen Ministerpräsidenten aus Rheinland-Pfalz und Baden- (C) schaften eben kein geeigneter Indikator für die tatsächli- Württemberg. Diese jedenfalls forderten, das Gesetz da- chen Kosten ist. So wird die entscheidende Kostenexplo- hin gehend zu ändern, dass der Bundesanteil für Baden- sion im Bereich der Energiekosten stattfinden. Alle Württemberg auf 35,2 Prozent und der für Rheinland- Sachverständigen außer dem Vertreter der Bundesagen- Pfalz auf 41,2 Prozent erhöht wird. Im Gegenzug – so die tur sprachen sich gegen Ihr Vorhaben aus. Und den Ver- Stellungnahme des Bundesrates – sollen die übrigen treter der Arbeitgeber musste die die CDU eine positive 14 Bundesländer statt der politisch vereinbarten 31,8 Pro- Aussage zu diesem Vorhaben geradezu abbetteln. Kein zent nur 31,2 Prozent Bundesbeteiligung an den Kosten Wunder, dass dann der so genötigte Sachverständige der Unterkunft erhalten. Diese Bundesratsentscheidung keine wirklich plausible Begründung dazu liefern hat auf dem Wege eines Änderungsantrags in einer leider konnte. inzwischen üblichen „Nacht-und-Nebel-Aktion“ den Weg in den hier zu beratenden Gesetzentwurf gefunden. Wenn Sie eine Gleitklausel wollen, dann orientieren Sie sich nicht an der Zahl der Bedarfsgemeinschaft, son- Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- dern an den tatsächlichen Kosten. Meine Damen und tion, scheinbar ist weder Ihnen noch den Kollegen im Herren von der CDU, wenn es Ihnen auch nur ein klein Bundesrat aufgefallen, dass nach einer solchen Regelung bisschen ernst ist mit ihrem Dresdner Parteitagsbe- der Bund mit einem Geldleistungsgesetz an unterschied- schluss zur besseren Kinderbetreuung, dann sorgen Sie liche Bundesländer unterschiedlich hohe Geldleistungen dafür, dass die Kommunen auch finanziell dazu in die zahlt. Dieses Auszahlungsverfahren ist meiner Auffas- Lage versetzt werden. Die Erhöhung des Bundeszu- sung nach nicht mit dem Grundgesetz Art. 104 a, Abs. 3 schusses zu den Kosten der Unterkunft wäre ein erster vereinbar. In Art. 104 a, Abs: 3 ist insbesondere durch Schritt dazu. Satz 2 klar festgestellt, dass in einem Geldleistungsge- setz nur eine für alle Bundesländer einheitliche Behand- lung durch den Bund zulässig ist. Sollte es politisch ge- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wünschte Verteilungen zwischen den einzelnen Ländern debattieren hier leider erneut ein Gesetz, das in einem geben, so wären diese auf anderem Weg zu regeln – etwa sehr zweifelhaften Eilverfahren durch die Gremien des durch Bundessonderergänzungszuweisungen, wie es sie Deutschen Bundestages gebracht wurde. Ich möchte es bereits derzeit in Bezug auf die besondere KdU-Belas- als ein weiteres „47,5-Stunden-Gesetz“ bezeichnen, tung der ostdeutschen Bundesländer gibt. Des Weiteren mehr Zeit wurde uns Parlamentariern nämlich nicht zu stünden alle Möglichkeiten im Rahmen des Länderfi- Debatte und Reflexion gelassen. Dass so qualitativ nur nanzausgleichs offen. sehr fragwürdige Ergebnisse entstehen, wird hier erneut (B) deutlich. Die im hier nun vorliegenden „Entwurf eines Geset- (D) zes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch Mit dem Gesetzentwurf soll gesichert werden, dass und des Finanzausgleichsgesetzes“ getroffene Aus- sich der Bund in 2007 und in den Folgejahre an den Kos- gleichsregelung hingegen erscheint vor dem Hintergrund ten der Unterkunft – KdU – ALG-II-Bezieher beteiligt, der Anforderungen des Artikels 104 a, Abs. 3 Grundge- um somit die zugesicherte Entlastung der Kommunen si- setz geradezu willkürlich und wenig durchdacht. Unab- cherzustellen. Durch die Bundesbeteiligung soll erreicht hängig von der möglicherweise verfassungsrechtlich un- werden, dass die Kommunen in Höhe von 2,5 Milliarden zulässigen Verfahrenslösung ist auch die vorgebliche Euro jährlich im Vergleich zur Situation von vor Hartz IV Mehrbelastung der beiden genannten Länder nicht hin- entlastet werden. Dafür stellt der Bund in diesem Jahr ins- reichend begründet. gesamt 4,3 Milliarden Euro zur Verfügung. So weit, so gut. Bis dahin unterstützen auch wir diese gesetzliche Re- Ich habe meine Bedenken daher noch gestern Abend gelung. in einem Schreiben an den Bundespräsidenten Horst Köhler formuliert. Sollte der Bundespräsident zu einer Welche Argumente dann aber in den Verhandlungen gleichen Einschätzung über die verfassungsrechtlichen zwischen Bundesrat und Bundesregierung die Regie- Mängel dieses Gesetzes kommen, würde ein finanzpoli- rungskoalitionen dazu gebracht haben, mit entsprechen- tisch überaus voluminöser Kompromiss zwischen den den Änderungsanträgen fünf Minuten vor der gestrigen Bundesländern und dem Bund ins Wanken geraten. Ausschusssitzung, die gesamte Finanzarchitektur zwi- Auch ist der politische Druck immens, das Gesetz zum schen Bund und Ländern aus den Angeln zu heben, ist 1. Januar 2007 in Kraft treten zu lassen. mir unerklärlich. Dennoch, wir können es nicht länger zulassen, dass Im Bundesrat forderten insbesondere die Bundeslän- die große Koalition mit ihrer breiten Mehrheit so ent- der Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz einen hö- scheidende Gesetze inhaltlich fehlerhaft und dann auch heren Anteil, da sie ihre Belastungen nicht angemessen möglicherweise nicht verfassungskonform formuliert. berücksichtigt sahen. Ursprünglich war auch das Bun- desland Nordrhein-Westfalen dazu aufgefordert, gegen den vereinbarten Verteilungsschlüssel vorzugehen, aber Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes- offenbar hat sich der dortige Ministerpräsident Jürgen minister für Arbeit und Soziales: Eine Zeit intensiver Rüttgers in den letzten Wochen lieber in andere Ausei- Gespräche und Verhandlungen zwischen Bund und Län- nandersetzungen eingemischt und die Interessen seines dern liegt zu dem heute diskutierten Gesetzentwurf hin- Landes nicht so wirkungsvoll vertreten, wie seine Kolle- ter uns. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7149

(A) Gemäß den Vorschriften des § 46 Abs. 5 SGB II sollen SGB II, die Anzahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (C) die Kommunen im Zuge der Umsetzung des Vierten Ge- durch Vermittlung in Arbeit bzw. die Anzahl der Be- setzes für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt darfsgemeinschaften im SGB II zu reduzieren. um insgesamt 2,5 Milliarden Euro entlastet werden. Um dies sicherzustellen, haben Bundestag und Bundesrat im Es ist deshalb gut, dass nunmehr einem ersten Vor- Vermittlungsausschussverfahren 2004 vereinbart, dass schlag aus dem Kreise der Länder gefolgt wird, der wäh- sich der Bund an den Kosten der Unterkunft von ALG-II- rend der politischen Abstimmungsgespräche vorge- Beziehern beteiligt. Im Dezember 2005 wurde für die bracht wurde und der eine unmittelbare Verknüpfung Jahre 2005 und 2006 die Bundesbeteiligung abschlie- dieses politischen Ziels mit der Festlegung der Höhe der ßend auf 29,1 Prozent festgelegt. Für die Jahre ab 2007 Bundesbeteiligung an den Leistungen für Unterkunft an- musste eine gesetzliche Neuregelung gefunden werden. regte. Wir unterstützen damit auch eine effiziente Arbeit Daran hat die Bundesregierung in den letzten Monaten der Träger vor Ort und setzen einen positiven Anreiz für gearbeitet Das Ergebnis liegt nun vor. die notwendige Prüfung der Angemessenheit der Wohn- kosten. Was wäre denn, wenn wir die Ausgaben für KdU Der Weg dahin war nicht leicht. Eine ganze Reihe von zum Maßstab machen würden? Diese Ausgaben werden Abstimmungsgesprächen mit den Ländern brachte zu- allein von den Kommunen gesteuert. Sie entscheiden nächst keine ausreichende Annäherung der Positionen. über die Angemessenheit der Wohnkosten und hier gibt Schließlich führte ein politisches Spitzengespräch am es durchaus regional unterschiedliche Handlungsweisen. 2. November zum vorliegenden Kompromiss: Erstens. Würden wir die Ausgaben nun zum Maßstab der Anpas- Der Beteiligungssatz für das Jahr 2007 wird – gegenüber sung machen, dann könnten regionale Meinungsver- 2006 – auf 31,8 Prozent angehoben. Zweitens. Der Betei- schiedenheiten zulasten des Bundes aufgelöst werden, ligungssatz in den Jahren 2008 bis 2010 orientiert sich an sie würden nicht mehr untereinander im Wettbewerb dis- der Entwicklung der Zahl der Bedarfsgemeinschaften. kutiert. Von den Kommunen zugelassene, nicht genü- Drittens. Der so genannte Ausgleich Ost über Sonderbe- gend eingedämmte Kostensteigerungen müssten vom darfs-Bundesergänzungszuweisungen wird um ein Jahr Bund getragen werden. Das können wir nicht akzeptie- damit ebenfalls bis 2010 verlängert. ren. Die Länder haben in der letzten Woche hierzu drei Insgesamt ist die Bundesregierung der Auffassung, Änderungsvorschläge vorgetragen. Zweien davon kann dass mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des der Bund entgegenkommen: Zum einen wird gefordert, Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des Finanzaus- in den Ländern eine unterschiedliche Höhe der Bundes- gleichsgesetz die politische Verständigung zwischen beteiligung an den Leistungen für Unterkunft und Hei- Bund und Ländern über die Gestaltung der Bundesbetei- (B) zung für Empfänger der Grundsicherung für Arbeitsu- ligung an den Leistungen für Unterkunft für das Jahr (D) chende für das Jahr 2007 festzulegen. Konkret: Die 2007 mit einer Beteiligungsquote von 31,8 Prozent so- Höhe der Bundesbeteiligung soll für 14 Länder auf wie die Folgejahre angemessen umgesetzt wird. Der 31,2 Prozent sowie aus Gründen des horizontalen Aus- Bund steht damit zu seiner Zusage, die Kommunen um gleichs für Baden-Württemberg auf 35,2 Prozent und für 2,5 Milliarden Euro jährlich zu entlasten. Nach den Be- Rheinland-Pfalz auf 41,2 Prozent festgeschrieben wer- rechnungen des Bundes wird dies jetzt vermutlich sogar den. Um das Gesetzgebungsverfahren noch in diesem deutlich mehr sein. Jahr abzuschließen und damit Planungssicherheit für die Kommunen ab Beginn des Jahres 2007 herzustellen, be- Zwei Feststellungen sind jedoch noch notwendig: Ers- grüßen wir die Entscheidung der Koalitionsfraktionen, tens. Die Bundesregierung verbindet mit ihrer Zusage an dem einstimmig gefassten Beschluss des Bundesrates die Kommunen die klare Erwartung, dass die Entlastun- hier zu folgen. gen – zumindest teilweise, mit 1,5 Milliarden Euro pro Jahr – für den Ausbau der Kinderbetreuung eingesetzt Zum Zweiten haben die Länder gefordert, dass die werden. Das mag an der einen oder anderen Stelle anders Bundesbeteiligung für die Zeit ab 2011 geprüft und gesehen werden. Für die Bundesregierung bestehen hier durch Bundesgesetz geregelt wird. Auch hier sind die jedoch eindeutige politische Absprachen. Wir werden sie Koalitionsfraktionen dem Bundesrat gefolgt. Eine Be- weiter einfordern! – Gerade vor dem Hintergrund, dass fristung der Bundesbeteiligung bis zunächst 2010 im Ge- entsprechendes Handeln der Kommunen gegenwärtig setzentwurf bedeutet nicht, dass sich der Bund in den nicht in ausreichendem Umfang erkennbar ist. Denn Jahren danach aus seiner Verantwortung zurückzieht. schließlich gilt es hier auch gute Voraussetzungen für die Vielmehr sollen rechtzeitig vor 2011 die erforderlichen Vereinbarkeit von Familie und Beruf und damit auch Ar- Entscheidungen vor dem Hintergrund der bis dahin ge- beitszugang für Alleinerziehende zu schaffen. wonnenen Erkenntnisse getroffen werden. Zweitens. Der Bund kann sicherstellen, dass die Kom- In einem dritten Punkt konnte man dem Bundesrat je- munen insgesamt um 2,5 Milliarden Euro entlastet wer- doch nicht zustimmen: In den Jahren ab 2008 sollte die den. Er kann aber nicht die Entlastung jeder einzelnen Anpassung nach der Entwicklung der Zahl der Bedarfs- Kommunen garantieren. Das unterbindet unsere Finanz- gemeinschaften erfolgen. An dieser Stelle – wie es der verfassung. Hier sind eindeutig die Länder gefragt. Sie Bundesrat fordert – die Höhe der Ausgaben für Leistun- müssen im Wege des kommunalen Finanzausgleichs für gen für Unterkunft zum Maßstab zu machen, lehnt die einen angemessenen Ausgleich sorgen. Die Beteiligung Bundesregierung ab. Und zwar aus gutem Grund: Es ist an den Kosten der Unterkunft in Höhe von 31,8 Prozent eines der vorrangigen politischen Ziele im Bereich des führt nun zu einer finanziellen Belastung des Bundes in 7150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) Höhe von 4,3 Milliarden Euro, das heißt Mehrausgaben die Verzeichnisse national wertvollen Kulturgutes und (C) gegenüber dem Ansatz im Regierungsentwurf zum Bun- national wertvoller Archive einzutragen. Dieses von der deshaushalt 2007 in Höhe von 2,3 Milliarden Euro. FDP gelobte Vorhaben der Bundesregierung bringt be- reits einen verbesserten Schutz der eigenen nationalen Dieses Gesamtergebnis mit seinen Werten ist Aus- wertvollen öffentlichen und kirchlichen Kulturgüter ge- druck guter Planungssicherheit für die Kommunen, ist gen deren unrechtmäßige Ausfuhr. eine gute Grundlage für Investitionen in die Kinderbe- treuung und damit in die Zukunft unseres Landes und ist Zudem wird die Problematik zu Kirchners „Straßen- für alle ein akzeptabler Kompromisse. szene“ berührt: Hier hat es eine ausführliche Prüfung der Restitutionsansprüche gegeben, infolge derer das Land Berlin – in dessen Zuständigkeit fällt dieses Problematik Anlage 3 nun einmal – das Bild an die Erben zurückgegeben hat. Zu Protokoll gegebene Reden Über die „Straßenszene“ und deren Versteigerungsver- kauf zu fast 30 Millionen Euro wurde in den letzten Ta- zur Beratung des Antrags: National bedeutsa- gen viel zu intensiv und zu laut diskutiert. Über die vie- mes Kulturgut wirksam schützen (Tagesord- len, die verzichtet haben, zugunsten der Menschen, die nungspunkt 30) heute in Deutschland leben und zugunsten unserer Gäste wird, wenn überhaupt, zu wenig geredet. Steffen Reiche (Cottbus) (SPD): Die FDP hat mit ihrem Antrag „National bedeutsames Kulturgut wirksam Dennoch ist es notwendig und richtig, im Allgemei- schützen“ ein wichtiges Thema aufgegriffen. Der Staats- nen auf diesen Vorgang hinzuweisen, insofern eine Pro- minister für Kultur und die Koalition arbeiten an der Lö- blematik entsteht, wenn der Kunstmarkt oder Dritte sung der hierin aufgeworfenen Probleme, was nicht zu- möglicherweise bestehende Defizite in der Provenienz- letzt das Treffen im Kanzleramt zeigte. Insoweit begrüße forschung sich zunutze machen wollen, um größtmögli- ich, dass wir heute die Gelegenheit nutzen, über den chen Profit daraus zu schlagen. Unbestritten muss es der Kulturgutschutz öffentlich zu diskutieren. Grundsatz sein und bleiben, der in den im Antrag ange- sprochenen Washingtoner Grundsätzen verankert ist, Es ist eine schwierige Herausforderung: Deutschland nämlich dass „alle Anstrengungen unternommen werden muss einerseits seine vertraglichen Verpflichtungen aus [sollten], Kunstwerke, die als durch die Nationalsozialis- dem Washingtoner Abkommen erfüllen und andererseits ten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet zugleich einen wirksamen und angemessenen Kulturgü- identifiziert wurden“, zu identifizieren und dann zu ver- terschutz für und in Deutschland finden. Nachvollzieh- öffentlichen, „um so die Vorkriegseigentümer oder ihre (B) bar dargelegtes und sogar vielleicht geschehenes Un- Erben ausfindig zu machen“, um in der Folge auch bei (D) rechts – es muss jedenfalls geprüft werden – wird nicht Nichtausfindung „eine gerechte und faire Lösung“ zu dadurch geheilt, dass neues Unrecht geschieht. Daher finden. Deshalb ist es erforderlich, die Museen und bedarf es hinsichtlich der Provenienz in Streit stehender Sammlungen noch besser als bisher zu befähigen, diesen Stücke einer besonders sorgfältigen Prüfung. Deshalb Grundsätzen zu folgen, das heißt die notwendigen Mittel werden weitere Anstrengungen des Bundes und der Län- an die Hand zu geben, Kunstwerke, die durch die Natio- der zur besseren Aufklärung der Kulturgüterherkunft zu- nalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zu- künftig notwendig sein. rückerstattet wurden, zu identifizieren. Selbstverständ- Der Antrag spricht ein sehr breites Spektrum in Fra- lich muss man auch die Belange der Museen und gen des Kulturgüterschutzes an. Zunächst sei hier die Kunstsammlungen berücksichtigen, die Rechtssicherheit Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens über Maß- hinsichtlich ihrer Bestände dringend und schnell benöti- nahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen gen. Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut vom 14. November 1970 genannt. Nach 36 Jahren großer Ein weiterer Problemkreis: Das Kulturgutschutzge- Ruhe kommen wir endlich einen großen Schritt voran. setz bzw. das Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes Hierzu hat es eine ausführliche Anhörung im Ausschuss vor Abwanderung, wie es korrekt heißt, hatte 1955 den für Kultur und Medien gegeben. Die dort erfolgten Hin- Verkauf aus Privatbesitz zu kontrollieren gedacht. Da- weise waren hilfreich und wertvoll und werden durch ran, dass der Staat selbst auf die Idee kommen könnte, entsprechende Änderungen aufgegriffen werden. Nach- seinen gar Jahrzehnte gehegten Besitz an Kunst und dem wir so lange auf die Umsetzung dieser Kulturgut- Schriften – Stichwort Haus Baden – zu privatisieren um schutz-Konvention der UNESCO gewartet haben, soll- seiner Kassen wegen, hat bis zur letzten Novellierung ten wir nun nach letzten und sinnvollen Veränderungen 2001 offenbar niemand gedacht. im Januar endlich hier im Hause den Weg für eine Einen umfassenden Kulturgutschutz haben wir dann schnelle Ratifizierung freimachen. Ich denke, spätestens gewährleistet, wenn wir möglichst umfassend erreichen, im Febrauar können wir hier auf einen Erfolg im Kultur- dass die Menschen in Deutschland keinen Zweifel daran gutschutz verweisen. haben und es zu Recht als selbstverständlich betrachten Der FDP-Antrag weist zu Recht darauf hin, dass können, dass in öffentlicher Hand befindliches und wert- durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung die Mög- volles Kulturgut wirksam und umfassend vor Zugriffen lichkeiten verbessert werden, im Eigentum der öffentli- jeglicher Art, egal ob von privater oder öffentlicher chen Hand befindliche, national wertvolle Kulturgüter in Hand, geschützt ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7151

(A) Hierzu aber bedarf es weitergehender Anstrengungen vollziehbare Gründe dafür gibt, dass viele Restitutions- (C) als der der FDP mit ihrem hier diskutierten Antrag. Ne- ansprüche erst in letzter Zeit vorgebracht werden: Bis ben dem so genannten Kulturgutschutzgesetz wäre an vor wenigen Jahren war eine entsprechende Auskunft Reformen im Denkmalschutzrecht zu denken, um um- schwierig, erst durch die Washingtoner Erklärung von fassenden Schutz zu gewährleisten. Denn einen Verkauf 1998, auf die sich auch Deutschland verpflichtet hat, in deutschen unzugänglichen Privatbesitz oder die Zer- wurde die Auffindung von während des Nationalsozia- streuung von Sammlungen kann das Kulturgutschutzge- lismus geraubten Kulturguts kontinuierlicher, transpa- setz allein nicht verhindern. Insbesondere müssen die renter und systematischer betrieben. Länder an einer Weiterentwicklung des Kulturgutschut- zes beteiligt werden. Zur Versachlichung der laufenden Debatte trägt der vorliegende Antrag der FDP aber leider wenig bei. Es Wir werden diesen Antrag heute an die Ausschüsse stimmt einfach nicht, dass die mit Rückgabeforderungen überweisen und möglicherweise zusammen mit dem von konfrontierten Sammlungen „überhaupt keinen Hand- der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur lungsspielraum mehr haben“ und die mit der Washingto- Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Kulturgüter- ner Erklärung angestrebte „gerechte und faire Lösung schutz beraten. Spätestens dann wird deutlich, dass ein immer zulasten der öffentlichen Sammlungen“ gingen. wesentlicher Teil der Forderung dieses Antrages bereits Auch die Forderungen, die Sie aus Ihrer Sicht der Dinge erfüllt wird, ein anderer Teil aus einer anderen Perspek- ableiten, sind wenig hilfreich: Weder kann es darum ge- tive und sicherlich nur gemeinsam mit den Ländern dis- hen, gleichsam vollendete Tatsachen zu schaffen, indem kutiert werden kann. man möglichst viele Kunstgegenstände, bei denen Resti- tutionsansprüche bestehen könnten, in das „Verzeichnis Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- national wertvollen Kulturgutes“ aufnimmt, noch ist es NEN): Der vorliegende Antrag der FDP kommt mir vor für die Erben hinnehmbar, dass bei Restitutionsansprü- wie ein seltsames Potpourri. Sie vermischen darin den chen an öffentliche Sammlungen eine zehnjährige Halte- geplanten Beitritt Deutschlands zur UNESCO-Konven- frist eingeführt wird. Allein dem Vorschlag, auf der tion von 1970 „über Maßnahmen zum Verbot und zur Grundlage der Washingtoner Erklärung die Rahmenbe- Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und dingungen für die Provenienzforschung der Museen zu Übereignung von Kulturgut“ mit der aktuellen Debatte verbessern – auch finanziell – kann ich zustimmen. über die Restitution während des Nationalsozialismus Anstatt die Debatte anhand einzelner Ausnahmefälle geraubter Kulturgüter. Der konkrete Zusammenhang zu führen, muss es generell darum gehen, die bisherigen zwischen beiden Themen wird in Ihrem Antrag nicht er- Vereinbarungen – etwa die Handreichung der Bundesre- kennbar, deshalb möchte ich mich im Folgenden auf die gierung, der Länder und Kommunen von 2001 – besser (B) Frage der deutschen Restitutionspraxis beschränken. (D) umzusetzen und die Ergebnisse der Provenienzfor- Lassen Sie mich zuerst etwas Grundsätzliches sagen: schung – auch an den kleinen Museen – noch besser zu An der Verpflichtung Deutschlands zur Rückgabe von koordinieren und hier mehr Transparenz herzustellen. Kunst- und Kulturgütern, die während des Nationalso- Auch die Museen selbst sollten bei Restitutionsanfragen zialismus entwendet und geraubt wurden, darf nicht ge- offener und transparenter agieren. Ziel dieser Verbesse- rüttelt werden. Daran kann und darf auch der umstrittene rungsmaßnahmen muss es sein, einen Backlash zu ver- Fall von Kirchners „Straßenszene“ nichts ändern – selbst hindern, der die Errungenschaften der Washingtoner Er- wenn hier der Berliner Kultursenator durch die man- klärung von 1998 aufgibt. Es muss im Sinne dieser gelnde Transparenz bei seinem Vorgehen Anlass zur Kri- Erklärung dabei bleiben, dass die Beweislast nicht bei tik gegeben hat. Die Hysterisierung der Debatte, wie sie den Anspruchstellern, sondern bei den derzeitigen Besit- sich in einigen Medien beobachten ließ, ist dadurch nicht zern, den Sammlungen, liegt. Dieser Grundsatz ent- zu rechtfertigen. Denn: Keineswegs droht ein „Ausver- springt der moralischen Verpflichtung Deutschlands. kauf“ der öffentlichen Sammlungen in Deutschland! Restitutionsansprüche bezüglich solcher berühmter und wertvoller Kunstwerke bilden immer noch die Aus- Anlage 4 nahme. In den meisten Fällen beziehen sich Restitutions- Zu Protokoll gegebene Reden klagen auf kleine Kulturgüter wie zum Beispiel Bücher. Diese bilden für die betroffenen jüdischen Familien zur Beratung des Antrags: Ausbildungsplatzlü- wichtige Erinnerungsstücke und sind oft die einzige Ver- cke schließen – Vorschlag des DGB aufgreifen bindung der Erben zu ihrer Familiengeschichte. Es ist (Tagesordnungspunkt 31) deshalb unangemessen, wegen einiger medial hochge- kochter Fälle die gesamte Restitutionspraxis infrage zu stellen. Unerträglich fand ich während der öffentlichen Michael Hennich (CDU/CSU): Heute debattieren Debatte die Unterstellung, wonach es den jüdischen Er- wir über den Antrag der Linken „Ausbildungsplatzlücke ben vor allem um Geldmacherei gehe. So etwas ist inak- schließen – Vorschlag des DGB aufgreifen“. Darin geht zeptabel. Ich denke, ich brauche hier niemandem zu er- es kurz gesagt um Folgendes: Die Überschüsse der Bun- klären, warum. desagentur für Arbeit sollen – nach einem Vorschlag des DGB – zur Finanzierung eines Sofortprogramms zur Solche Anschuldigen und verkürzten Analysen über- Schaffung von 50 000 Ausbildungsmöglichkeiten ver- sehen übrigens, dass es noch ganz andere, sehr gut nach- wendet werden. 7152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) Meine Damen und Herren von den Linken, als ich Ih- Bewerber, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Ma- (C) ren Vorschlag durchgelesen habe, habe ich mich gefragt: chen wir uns klar: Ohne Ausbildung drohen junge Men- Wie soll ich auf diesen Antrag angemessen reagieren? schen auf Dauer vom Ausbildungsmarkt ausgeschlossen zu werden. Von Ihrer Seite sind schon viele merkwürdige Vor- schläge in den Bundestag eingebracht worden. Ich denke Im Kern geht es uns um folgende Fragen. Kurzfristig: da zum Beispiel an die Debatte zum Thema General- Wie können wir das erhebliche Potenzial an ungenutzten streik. Darüber hinaus wollen Sie Wohltaten verteilen, Möglichkeiten nutzen? Mittelfristig: Wie schaffen wir ohne zu fragen, wie die Finanzierung aussieht – siehe Ih- mehr Ausbildungsplätze und wie organisieren wir unser ren Antrag „Nein zur Rente mit 67“ oder die Regel- Ausbildungswesen? Also: Welche Möglichkeiten haben satzerhöhung bei Hartz IV. Mit solchen Ideen bedienen wir, hierauf zu reagieren? Darauf gibt Ihr Antrag keine Sie üblicherweise blanken Populismus. Antworten. Ihre Antwort lautet lediglich: Die Über- schüsse der Bundesagentur sollen 50 000 Ausbildungs- Jetzt handeln Sie das Problem der hohen Jugendar- plätze finanzieren. beitslosigkeit auf einer Seite ab. Das zeigt, wie wenig Sie wirklich daran interessiert sind. Eine differenzierte Sie – bzw. der DGB – schlagen vor, einen stärkeren Auseinandersetzung mit der Ausbildungsplatzsituation staatlichen Akzent zu setzen. Dagegen spricht unter an- fehlt in Ihrem Antrag. Herr Bundeswirtschaftsminister derem auch eines: Auch Ihnen dürfte klar sein, dass die Glos hat hierzu ein umfangreiches Papier verfasst, des- angesprochenen Überschüsse der Bundesagentur von sen Lektüre ich Ihnen sehr empfehle. Beitragszahlern stammen. Ich frage Sie: Warum sollen die Beitragszahler als kleine gesellschaftliche Gruppe Aber bevor ich zur inhaltlichen Kritik Ihres Vor- für ein gesamtgesellschaftliches Problem bezahlen? schlags komme, drängt sich sicherlich nicht nur mir die Frage auf: Sind Ihnen die eigenen Ideen bereits nach ei- Unsere Antwort hingegen lautet: Wir brauchen ein nem Jahr ausgegangen? Müssen Sie nun auf die Ideen Bündel von Maßnahmen. anderer – hier des DGB – zurückgreifen? Erstens. Das beste Programm für junge Menschen ist Ihr Antrag geht – nebenbei gesagt, im Gegensatz zum eine gute Wirtschaftsentwicklung und eine gute Kon- DGB-Papier – oberflächlich mit der Problematik um. Es junktur. Gestern haben wir die Arbeitsmarktzahlen er- ist schwer, in Ihrem Antrag irgendeine Substanz zu er- halten: die Zahl der Arbeitslosen auf unter 4 Millionen kennen. Dennoch ist das Thema zu wichtig und zu ernst, verringert. Davon profitieren vor allem die jungen Men- als dass Ihr Vorschlag einfach im Papierkorb landen schen. Die gute Auftragslage sorgt für die Einstellung sollte. Ihren Antrag nehme ich daher zum Anlass, mich von mehr Mitarbeitern und auch von mehr Auszubilden- den. (B) mit der Problematik differenzierter auseinanderzusetzen. (D) Lassen Sie mich zunächst einmal klarstellen: In Zweitens. Wir müssen ein größeres Augenmerk auf die Deutschland gibt es knapp 500 000 Jugendliche unter schulische Qualifikation lenken. Wer einen guten Schul- 25, die keinen Job haben. Andererseits haben wir mit die abschluss hat, hat auch am Ausbildungsmarkt bessere geringste Jugendarbeitslosigkeit in der EU. Dabei ist Chancen. Berufsvorbereitende Maßnahmen wie EQJ- klar: Je geringer der Grad der Qualifizierung ist, umso Plätze und Praktika sind sinnvoll als begleitende Maß- schwieriger ist es, einen Arbeitsplatz zu finden. Eine ab- nahmen, sollten aber nicht die Regel sein. geschlossene Ausbildung wird mehr und mehr zu einem Drittens. Wir haben bereits gut funktionierende, staat- wesentlichen Kriterium, einen Arbeitsplatz zu finden. liche Programme, zum Beispiel: Die Lage für junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt Das Bundesministerium für Bildung und Forschung ist vielschichtig: Wir haben in diesem Jahr mehr unver- hat den Innovationskreis für berufliche Bildung gegrün- sorgte Bewerber, aber auf der anderen Seite mehr Aus- det: Darin werden maßgebliche Akteure zusammenge- bildungsverträge als im Vorjahr und mehr ungenutzte führt, um Handlungsoptionen für künftige Weichenstel- Angebote. Im Oktober standen 50 000 unversorgte Be- lungen in der Berufsbildungspolitik zu entwickeln. werber 60 000 Angeboten gegenüber. Der Kreis erarbeitet zurzeit Vorschläge zur Struktur- Worin liegen die Ursachen für diese Situation? Das verbesserung der Berufsausbildung, für Übergangsma- niedrige Niveau der Schulabschlüsse wird oft beklagt. nagement zwischen Schule und Beruf sowie zur Verbes- Die Kosten, die mit der Lehrlingsausbildung verbunden serung der Durchlässigkeit. sind, stellen gerade für kleine Betriebe ein Problem dar. Die wirtschaftliche Lage in den Ausbildungsbetrieben ist Das BMBF fördert flankierend mit dem Ausbildungs- immer noch angespannt. strukturprogramm Jobstarter: Es wurden 50 Projekte ge- startet und wir werden bis Ende des Jahres weitere Dazu kommen folgende Trends: Wir haben keine ein- 100 Projekte auf den Weg bringen, die passgenaue Ver- fache Situation am Arbeitsmarkt. Traditionelle Produk- mittlung der Auszubildenden und Einwerbung von Aus- tionszweige wandern ins Ausland ab. Es werden immer bildungsplätzen bei Betrieben zum Ziel haben. höhere Anforderungen an die Arbeitnehmer gestellt. Es Die Finanzmittel werden um 25 Millionen Euro auf besteht immer noch eine hohe Arbeitslosigkeit. Wir insgesamt 125 Millionen Euro aufgestockt. wandeln uns von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Auf diesem – sich übrigens auch Die Initiative „Aktiv für Ausbildungsplätze“ hat sich weiter verkleinernden – Markt versuchen immer mehr gemeinsam mit Partnern zum Ziel gesetzt, in den nächs- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7153

(A) ten fünf Jahren bei ausländischen Unternehmen rund ten werden, und solche, die staatlich gefördert werden – (C) 10 000 neue Ausbildungsplätze zu mobilisieren. bekommen. Viertens. Die Bundesagentur wird auch einen Beitrag Ich will mich aber nicht weiter mit Kritik beschäfti- leisten: Rund 218 Millionen Euro sollen gezielt zur För- gen und Ihnen lieber einen Weg aufzeigen, wie wir etwas derung Jugendlicher eingesetzt werden: Unter anderem bewegen. Wir nehmen auch Geld in die Hand – siehe sollen 12 500 Plätze für Berufsausbildungen in außerbe- oben –, aber wir haben einen breiteren Ansatz, die Pro- trieblichen Einrichtungen finanziert werden. bleme anzugehen: Uns ist wichtig, weiter auf die Verant- Sie sehen: Es wird bereits viel getan. Ich halte es für wortung der Unternehmer zu setzen und bei ihnen das sinnvoller, die staatlich geförderte Ausbildung zurückzu- Bewusstsein und weitere Anreize für noch mehr Ausbil- nehmen und die Ausbildung am Bedarf zu orientieren. dungsplätze zu schaffen. Der Regelfall muss bleiben: Ausbildung in den Betrie- Warum aber sollten wir nicht noch mehr auf staatlich ben und Unternehmen. geförderte Ausbildung setzen? Die Ausbildung in den Ihre Geisteshaltung ist von Misstrauen geprägt. Sie Betrieben ist eben immer noch die beste Alternative, für sagen, dass der Ausbildungspakt nicht funktioniert. Da die Qualität der Ausbildung und für die Unternehmen, muss ich Ihnen heftig widersprechen. Die Wirtschaft hat die sich Ihre zukünftigen Arbeitskräfte selbst und am ei- mit der Einwerbung von 55 800 neuen Arbeitsplätzen genen Bedarf orientiert heranziehen. Wenn wir hier mehr und 29 699 Plätzen für betriebliche Einstiegsqualifika- verstaatlichen, werden sich die Betriebe zu Recht fragen, tion die im Ausbildungspakt gegebenen Zusagen mehr warum sie noch ausbilden sollen. als erfüllt. Dass es sich lohnt, auf private Initiative zu setzen, will Machen wir uns bitte insbesondere bewusst: Hinter ich Ihnen anhand eines kreativen Beispiels aus meinem dem Ausbildungspakt stehen Anstrengungen einer Viel- Wahlkreis erläutern. In meinem Wahlkreis hat sich der zahl von Unternehmen und auch einer ganzen Reihe von Bund der Selbstständigen um das Thema „Ausbildungs- Mittelständlern, die sich dafür stark gemacht haben, plätze schaffen“ gekümmert und ein attraktives Ausbil- neue Ausbildungsplätze zu schaffen. Für sie haben Sie dungsmodell für den Mittelstand – der immer noch die kein Wort des Dankes übrig. Es grenzt schon an Hohn meisten Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt – ent- gegenüber den Unternehmen und Betrieben und vor al- worfen: Der BDS hat die Verbundausbildung zu einer lem auch gegenüber den Auszubildenden, die durch die Tandemausbildung weiterentwickelt. Was bedeutet das großen Anstrengungen einen Ausbildungsplatz gefunden im Einzelnen? Bei der Verbundausbildung finden sich haben, wenn Sie immer wieder sagen, dass der Ausbil- zwei Unternehmen zusammen, die gemeinsam einen dungspakt nicht funktioniert. Ausbildungsplatz anbieten. Ein Betrieb übernimmt dabei (B) die Leitfunktion. Das ist keine neue, aber eine gute Sa- (D) 50 Prozent der zur Verfügung gestellten Ausbildungs- che. Bei der Weiterentwicklung dieses Modells zur Tan- stellen kommen in Unternehmen zustande, die weniger dem-Ausbildung werden zwei Auszubildende abwech- als 50 Mitarbeiter beschäftigen. Wir müssen endlich ein- selnd in zwei Unternehmen ausgebildet. Das hilft mal anerkennen, dass es vor allen Dingen die freiwilli- kleineren Unternehmen, für die Ausbildung oftmals auch gen Leistungen der Menschen in unserem Lande sind, ein Kostenproblem ist. Beiden Unternehmen stehen am durch die die zukünftigen Lehrstellen geschaffen wer- Ende der Ausbildungsphase zwei Übernahmekandidaten den. Deshalb gilt mein Dank an dieser Stelle den Betrie- zur Verfügung. Sie partizipieren durch das breitere Fach- ben, dem Handwerk, den Mittelständlern und auch den wissen der vielseitiger ausgebildeten Mitarbeiter. oftmals verschmähten Konzernen, die Ausbildungs- plätze zur Verfügung stellen und sich für neue Ausbil- Zum Schluss noch einige Praxisbeispiele: Eine Spedi- dungsplätze engagieren. tion und eine Steuerberatungspraxis arbeiten so bei der Ausbildung von Bürokaufleuten zusammen. Selbst die Liebe Kolleginnen und Kollegen bei den Linken, was gemeinsame Ausbildung einer Bauzeichnerin bei einer wir brauchen, sind: neue Initiativen, Kreativität, Anreize Kommunalverwaltung und bei einem freien Ingenieur- für Ausbildungsplätze schaffen. Sie reden darüber hi- büro hat sich als problemlos machbar erwiesen. naus von Anschubfinanzierung und schreiben: „… da die öffentliche Hand nicht gewillt ist, den Unternehmen Sie sehen: Eine Verbundausbildung oder Tandem- etc. dauerhaft die Verantwortung für die Schaffung von Ausbildung bietet neue Ausbildungsplätze, breiteres Ausbildungsplätzen … abzunehmen“. Indem Sie Geld Fachwissen und einen ersten Schritt in eine neue Ausbil- verteilen, erreichen Sie aber genau das Gegenteil. Die dungswelt. Fachwissen ist das, worauf es für unseren Unternehmen werden aus ihrer Pflicht entlassen. Wirtschaftsstandort ankommt. Sie haben es diese Woche gehört: Wir stehen am Beginn eines neuen Zeitalters – Und noch eines am Rande: Die Bundesagentur ist dem Übergang zur Wissensgesellschaft. nicht die öffentliche Hand. Die Bundesagentur stellt im Jahr 2007 220 Millionen Euro in den Haushalt ein. Da- Lassen Sie mich einen kurzen Ausblick wagen: Die rüber, wie diese Gelder verwendet werden, darf und gute Konjunktur können und werden wir für weitere sollte diskutiert werden. Wir sind in jedem Fall verpflich- Strukturreformen nutzen, am Arbeitsmarkt, aber auch bei tet, mit den Beiträgen sorgfältig umzugehen. Mitnahme- der Ausbildung. Die Zunahme der Zahl der neu abge- effekte müssen verhindert werden. Wir müssen auch da- schlossenen Ausbildungsverträge in Industrie und Han- rauf achten, dass wir kein Zweiklassensystem von Aus- del – plus 4 Prozent – und im Handwerk zeigt aber auch bildungsplätzen – solche, die von Unternehmen angebo- jetzt schon: Die dynamische konjunkturelle Erholung ist 7154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) inzwischen auch am Ausbildungsmarkt angekommen. dere Industrievertreter: „Ohne qualifizierte Facharbeiter (C) Dabei ist auch klar: Unsere Unternehmen und unser Mit- kann es keinen leistungsstarken Maschinenbau und Au- telstand brauchen gute und qualifizierte Arbeitskräfte. tomobilbau in Deutschland geben. Der Arbeitskräfte- Eine gute Ausbildung ist unerlässlich für die Zukunftsfä- mangel droht zur Wachstumsbremse zu werden.“ Wenn higkeit deutscher Unternehmen im Markt. die Industrie diese Gefahr so deutlich erkennt, ist es ihre Pflicht und Schuldigkeit, den Jugendlichen noch mehr Machen wir uns noch einmal bewusst: Bei der Dis- Ausbildungsplätze anzubieten. Hier trägt die Industrie kussion um Lehrstellen geht es nicht nur um einen Aus- Verantwortung. Mehr Ausbildungsplätze, mehr Chancen bildungsplatz für junge Menschen. Vielmehr geht es für für Jugendliche und damit Zukunftschancen für die In- diese jungen Menschen um einen Platz in der Gesell- dustrie muss heute die Botschaft sein. schaft. Wir werden alles tun, um ihnen diesen Platz zur Verfügung zu stellen. Um dies zu verwirklichen, verfol- In dem Zeitungsartikel weist die IHK darauf hin, dass gen wir einen breiten Ansatz. Wir holen dafür alle Ak- schon heute 8 000 Ingenieure fehlen. Wir benötigen teure – insbesondere aber die Unternehmer – mit ins Elektro-, Maschinenbau- und Kfz-Ingenieure. 2006 ist Boot. die Zahl der Abiturienten um 9 Prozent gestiegen. Die Abiturienten verdrängen die Haupt- und Realschüler. Ihren Antrag lehnen wir daher ab, und an Sie richte Gefördert wird dieser Trend durch die Studiengebühren ich die Bitte, nicht nur ein Blatt beschriebenes Papier ab- der Länder. In NRW ist die Zahl der Studienanfänger zugeben, sondern sich inhaltlich mit den Themen ausei- wegen der Studiengebühr um fast 6 Prozent gefallen, an nanderzusetzen. der gebührenfreien Universität Düsseldorf hingegen um 33 Prozent gestiegen. Selbst FDP-Minister bemerken Dieter Grasedieck (SPD): Unsere jungen Menschen diese Probleme. Unsere jungen Menschen brauchen ei- brauchen eine Zukunftschance. Jeder Jugendliche, der nen Ausbildungsplatz und damit eine Zukunftschance. sich engagiert und arbeiten will, braucht einen Ausbil- dungsplatz. Die jungen Menschen dürfen nicht das Ge- Einige Industriebranchen übernehmen ihre Pflicht. So fühl haben, die Gesellschaft lässt uns allen. Wir brau- bildet der deutsche Steinkohlebergbau über 3 100 Ju- chen Euch, muss unsere Botschaft sein. gendliche in den modernsten Berufen aus. Mechatroni- ker werden ebenso ausgebildet wie Industriekaufleute Unsere große Koalition kämpft um jeden Ausbil- und der Elektroniker ebenso wie der IT-Kaufmann. Un- dungsplatz. Viele Maßnahmen und Programme sind ser Bergbau hat hier Vorbildfunktion. In meinem Wahl- längst verabschiedet. Wir sind hier auf dem richtigen kreis werden 400 junge Menschen ausgebildet. Eine Weg. Die Anregungen im Antrag der Linken werden Ausbildungsquote von fast 10 Prozent muss das Ziel längst realisiert. Einige Maßnahmen will ich nennen. (B) auch für andere Betriebe sein. (D) Erstens. So will unser Minister Franz Müntefering die Unsere Jugendlichen brauchen eine Zukunftschance. Zahl der Plätze für die Einstiegsqualifizierung für Ju- Wir sind nicht am Ziel, wir nehmen das Problem ernst. gendliche in diesem Jahr von 25 000 auf 40 000 in au- Deshalb fördert unsere große Koalition rund 140 000 ßerbetrieblichen Ausbildungsstätten anheben. Ausbildungsplätze. Wir sind somit auf dem rechten Weg. Zweitens. Ein neues Job-Bonus-Modell für 5 000 Aus- bildungsplätze erarbeitet das Arbeitsministerium. Patrick Meinhardt (FDP): Eine Ausbildung auf der Drittens. Behinderte Jugendlich in Ausbildungsplät- grünen Wiese lehnt die FDP ab! Der Antrag der Fraktion zen werden seit Jahren gefördert. DIE LINKE geht vollkommen an der Wirklichkeit und den Bedürfnissen junger Menschen vorbei! Viertens. Die Bundesagentur fördert außerdem jähr- lich rund 60 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze. Die Vorzüge der dualen Ausbildung liegen auf der Durch den Ausbildungspakt mit der Wirtschaft werden Hand: Nur durch die enge Zusammenarbeit von Schule zudem noch 30 000 neue Ausbildungsplätze geschaffen. und Arbeitswelt erhalten junge Menschen das Rüstzeug für ihren späteren Beruf. Die Kombination von betriebli- Fünftens. Berufsschulen können Jugendliche mit IHK- cher und schulischer Ausbildung hat sich bewährt und Prüfung ausbilden. In vielen Ländern wird dies Ausbil- kann durch nichts ersetzt werden, erst recht nicht durch dungsmöglichkeit mehr und mehr genutzt. die Schaffung von außerbetrieblichen Ausbildungsplät- zen. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen las- Sechstens. Unsere Ministerin Schavan will durch das sen: außerbetriebliche Ausbildung. Programm „Jobstarter“ 13 000 Ausbildungsplätze in Ost- deutschland mit einem Budget von 100 000 Millionen Denn die konkrete, praktische, unmittelbare Arbeit im Euro finanzieren. Betrieb mit dem Meister, das alltägliche Betriebsklima All das sind Maßnahmen, um unseren jungen Men- und die soziale Integration in eine Betriebsgemeinschaft, schen eine Zukunftschance zu bieten. Die Zukunfts- der Umgang mit Kollegen und nicht zu vergessen der chance für junge Menschen ist eine Zukunftschance für Umgang mit Kunden vom ersten Tag an, das sind prä- unsere Gesellschaft in Deutschland. gende, wichtige Erfahrungen, die die Jugendlichen nur innerhalb eines Betriebes sammeln können und die Der „Tagesspiegel“ schrieb am Sonntag: „Den Firmen durch nichts zu ersetzen sind, erst recht nicht durch das geht der Nachwuchs aus – Fachkräfte gesucht“. In die- Parken junger Menschen in einer verschulten Ausbil- sem Artikel sagt der Arbeitgeberpräsident Hundt und an- dungshalle auf der grünen Wiese! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7155

(A) Die Forderung, Unternehmen durch die Umlagenfinan- kämpfen haben, Lerndefizite aufweisen und schwer auf (C) zierung in die Pflicht nehmen zu wollen, ist grundfalsch! dem Ausbildungsplatzmarkt zu vermitteln sind. Im Pa- Denn: Wer schafft denn in Deutschland Ausbildungs- pier heißt es, dass „im Rahmen der theoretischen Ausbil- plätze? Wer bildet denn den Nachwuchs aus? – Die Un- dung beim Träger Sprachdefizite konzentriert behoben ternehmen! Gut ausgebildeter Nachwuchs ist im Inte- werden können“. resse eines jeden Unternehmers, ob nun mittelständi- Ein wahrhaft toller Vorschlag! Es ist jedoch grund- scher Betrieb oder Großunternehmen! falsch, Leistungsdefizite im Rahmen einer Ersatzausbil- Der Ausbildungspakt ist nicht gescheitert, wie es die dung beheben zu wollen. Sprachliche Defizite – die Grund- Fraktion Die Linke behauptet: Bei den Industrie- und lage schulischer Leistungsschwäche – müssen schon Handelskammern ist in der Lehrstellenbilanz ein Plus während der schulischen Ausbildung gezielt behoben von 4 Prozent zu verzeichnen, das Handwerk verzeich- werden und nicht auf den Schultern der Meister abgelegt net ein Plus von 1,6 Prozent. werden. Denn es kann nicht Inhalt einer außerbetriebli- chen Ausbildung sein, den Schülern im Schweinsgalopp Aber wenn ich diesen Antrag lese, der ja auf einem nebenbei ein schulisches Basiswissen vermitteln zu wol- DGB-Papier fußt, kommt mir das Grausen! Gerade der len. DGB soll sich doch mal an die eigene Nase fassen: Be- teiligt sich der DGB am Ausbildungspakt? Nein! Ist der Die Vermittlung von Lerninhalten muss Aufgabe der DGB ein Musterbeispiel, was die Zahl an Auszubilden- Schulen bleiben. Daher muss die Stärkung von Schulen den in den eigenen Reihen angeht? Nein! im Mittelpunkt des Interesses stehen. Viele Ausbil- dungsbewerber gelten als unvermittelbar. Diejenigen, Bevor man also solch abenteuerliche Papiere entwirft, die mit 14, 15 oder 16 Jahren auf den Ausbildungsmarkt sollte man doch lieber erst einmal im eigenen Haus auf- schwemmen, müssen zum Ende ihrer Schulzeit fit für räumen und zusehen, dass man annähernd eine akzep- die Ausbildung sein und nicht erst hinterher in irgend- table Ausbildungsquote erreicht, dann können wir wei- welchen verschulten Ausbildungsersatzprogrammen be- terreden! schäftigt werden. Der im Papier vorgestellte Ansatz, die fehlende Pra- Daher gilt: Hauptschulen müssen gestärkt werden! xis durch Praktika in den Betrieben auszugleichen, ver- Die Stärkung von Lehre und Lehrern ist der Schlüssel für fehlt in seiner Quintessenz das zentrale Ziel: Auszubil- einen fruchtbaren Lern- und Entwicklungsprozess junger denden das praktische Rüstzeug für die Ausübung ihres Menschen. Weniger Schüler pro Klasse heißt die Devise! späteren Berufes zu vermitteln. Kein Praktikum kann Nur in kleineren Klassen kann die individuelle Betreu- den Nutzen einer langfristigen Einbindung in einen Be- ung leistungsschwacher Schüler gewährleistet werden. trieb auch nur ansatzweise ersetzen! Praktika sind wich- (B) (D) tig – auch und gerade in der Hauptschule –, so früh wie Die Qualität der Lehrer ist das A und O, um die Qua- möglich, so regelmäßig wie möglich! Wir brauchen lität der schulischen Lehre sicherzustellen, nur gut aus- keine zweiwöchigen „Schnupperpraktika“. Wir brau- gebildete Lehrer können Lernfortschritte in den ent- chen eine langfristig angelegte Kooperation von Schulen scheidenden Hauptschuljahrgängen garantieren! und Betrieben. Darüber hinaus stellt sich aber die entscheidende Diese Zusammenarbeit von Schule und Betrieb erfor- Frage: Was ist die verschulte Ersatzausbildung generell dert Freiheit, erfordert Flexibilität vor Ort: Nur wenn wert? Welcher Chef stellt denn allen Ernstes frisch Aus- Schulen so flexibel wie nur irgend möglich handeln kön- gebildete ein, die quasi über null Praxiserfahrung verfü- nen, haben Jugendliche einen Vorteil für sich, haben Ju- gen? Welchen Mehrwert hat diese Form der Ausbildung, gendliche eine Perspektive, können Jugendliche und das „Parken“ Jugendlicher ohne Ausbildungsplatz ge- Ausbildungsplätze zusammengeführt werden. Richtig genüber der klassischen dualen Ausbildung? Keinen! Gas geben müssen wir bei der überbetrieblichen Ausbil- Die außerbetriebliche Ausbildung verfehlt ihr Ziel, dung. Projekte, wie die Initiative 5000 Plus des ZDH Chancen für diejenigen zu schaffen, die keinen Ausbil- zeigen ihren Initiativcharakter. Das ist tragfähig, die dungsplatz gefunden haben: Die außerbetriebliche Aus- Bundesregierung muss nur endlich zupacken! „Ausbil- bildung hängt diese Jugendlichen ab, mit dem Resultat, dung Betriebsfrei“ wie es die Fraktion Die Linke nun dass wir am Ende Ausgebildete haben, die das duale fordert, hilft hier niemanden, weder jungen Menschen System durchlaufen haben und jene, die in der Ersatz- noch Betrieben. ausbildung „geparkt“ worden sind! Auch die Bundesregierung sollte ihren blumigen For- 650 Millionen Euro aus dem Überschuss der Bun- derungen, überbetriebliche Ausbildungsprojekte zu stär- desagentur für Arbeit würden nicht nur zweckentfremdet ken, Taten folgen lassen: Es kann nicht sein, dass die werden. Das ist schon schlimm genug. Denn das Geld Fördermittel in diesem innovativen Bereich Jahr für Jahr gehört den Beitragzahlern. Aber es wird auch verteilt. zusammengestrichen werden! Wer eine Ausbildungsper- spektive schaffen will, muss Ausbildungsverbünde för- Machen wir uns nichts vor: Mit der außerbetriebli- dern. Machen wir es endlich! chen Ausbildung ist niemanden geholfen, weder den Schülern, noch den Betrieben! Zielgruppe der außerbetrieblichen Ausbildung sollen Jugendliche mit Migrationshintergrund sein – so das Ge- Wir wollen keine Ausgebildeten zweiter Klasse, son- werkschaftspapier –, da die Praxis zeigt, dass vor allem dern müssen alles daran setzen, das duale Ausbildungs- Jugendliche aus diesen Familien mit Sprachbarrieren zu system zu stärken, zu modernisieren, die überbetriebli- 7156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) che Ausbildung zu fördern, die Schulen fit zu machen tung für die Schaffung qualifizierter Arbeitskräfte abzu- (C) und neue Kooperationsmodelle zwischen Schulen und nehmen. Betrieben voranzutreiben! Die Koalition sollte den Mut dazu finden, im Sinne Von daher wird es mehr außerbetriebliche Ausbildung des Gemeinwohls ein wirkungsvolles Instrument zur mit der FDP nicht geben! Schließung der Ausbildungsplatzlücke einzuführen, auch wenn das den Widerstand der Wirtschaftslobbyis- Werner Dreibus (DIE LINKE): Die Situation auf ten nach sich zieht. Nach Lage der Dinge führt an der dem Ausbildungsstellenmarkt ist dramatisch und eine Ausbildungsplatzabgabe kein Weg vorbei. Besserung ist nicht in Sicht. Laut Bundesagentur für Ar- beit fehlen mittlerweile mindestens 140 000 Ausbil- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dungsplätze. Annähernd 50 Prozent der Bewerberinnen Getreu dem Motto „Es wurde schon alles gefordert, aber und Bewerber warten bereits mehr als ein Jahr auf einen noch nicht von jedem“ hat die Linke einen Antrag vorge- Ausbildungsplatz. Im Ausbildungsjahr 2005 wurden legt, dessen zentraler Punkt bereits Inhalt eines grünen bundesweit weniger Ausbildungsverträge geschlossen Antrags war. Über den wurde am vergangenen Mittwoch als in den Ausbildungsjahren seit der deutschen Vereini- im Ausschuss für Arbeit und Soziales abgestimmt und er gung. wurde mit den Stimmen der Linken abgelehnt. Vielleicht Einem wachsenden Kreis von jungen Leuten wird so wollen Sie, Kolleginnen und Kollegen der Linken, damit der Weg in die Zukunft versperrt. Die aktuelle Shell-Ju- die Aufmerksamkeit für das Thema Ausbildung verstär- gendstudie belegt, dass eine ungewisse berufliche Per- ken. Mehr Aufmerksamkeit für dieses Problem, darin spektive zu den größten Sorgen junger Menschen zählt. gäbe ich Ihnen auch Recht, ist dringend notwendig. Der DGB hält zutreffend fest – ich zitiere –: „Die gesell- Zu Beginn des laufenden Ausbildungsjahres waren schaftlichen Folgekosten einer ,verlorenen Generation fast 50 000 Jugendliche unversorgt. Jetzt laufen das so sind enorm und gehen noch weit über Hartz IV hinaus. genannte fünfte Quartal und die Nachvermittlung. Da- Die Mischung aus Perspektivlosigkeit, Hartz IV, Gele- von werden einige profitieren, aber viele eben nicht. genheitsjobs und eventuell Kriminalität birgt gesell- Nach den gestern veröffentlichten Zahlen halten sich die schaftlichen Sprengstoff.“ Nachvermittelten mit den neu gemeldeten Bewerberin- Die bisherigen Versuche, der Ausbildungsplatzmisere nen und Bewerbern fast die Waage. Wir sind also bis mit freiwilligen Zusagen der Arbeitgeber beizukommen, heute kaum vorangekommen. sind fehlgeschlagen. Bei Hunderttausenden Jugendli- chen ohne Ausbildungsplatz – und das Jahr für Jahr – Auch der Vorjahresvergleich gibt Anlass zur Sorge: (B) gibt es kein Deuteln: Der Ausbildungspakt ist geschei- Trotz günstigerer Voraussetzung – „nur“ 30 000 Jugend- (D) tert; so wie vor ihm das Bündnis für Arbeit nicht zum liche waren unversorgt – blieben im letzten Ausbil- Abbau der Arbeitslosigkeit geführt hat. dungsjahr 11 500 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz und ohne Angebot für eine Übergangsmaßnahme. Die Wenn Politik nur noch appelliert, aber nicht mehr ge- Zahl der Altbewerberinnen und Altbewerber steigt. staltet, nimmt sie sich selbst nicht mehr ernst. Politiker Denn auch viele derjenigen, die wir heute zum Beispiel brauchen sich dann nicht zu wundern, wenn auch die in eine Einstiegsqualifizierung vermitteln, stehen mor- Menschen sie nicht mehr ernst nehmen. gen wieder in der Schlange für einen Ausbildungsplatz. Gestaltung bedeutet in diesem Fall, die Unternehmen Um zu verhindern, dass Jahr für Jahr mehr Jugendliche durch eine Umlagefinanzierung in die Pflicht zu neh- in den Strudel der Perspektivlosigkeit gezogen werden, men, damit sie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung müssen wir handeln. Darum haben auch wir gefordert, zur Bereitstellung einer ausreichenden Zahl an Ausbil- dass die Bundesagentur für Arbeit aus ihren Überschüs- dungsplätzen nachkommen. Darüber hinaus müssen für sen ein Sonderprogramm auflegt, damit alle Unversorg- eine kurzfristige Linderung des Lehrstellenmangels alle ten eine Chance erhalten können. Angesichts der neuen aktuellen Möglichkeiten genutzt werden. Wir schließen Überschussprognosen von bis zu 11,5 Milliarden Euro uns deshalb dem Vorschlag des Deutschen Gewerk- sollten die maximal erforderlichen 650 Millionen Euro schaftsbundes an, noch in diesem Jahr ein Sofortpro- leicht finanzierbar sein. Wir müssen dieses Geld jetzt in gramm für 50 000 Jugendliche in Form von außerbe- die Hand nehmen; denn tun wir nichts, sind die Ausbil- trieblichen Ausbildungsplätzen zu starten. Für eine dungsverlierer von heute die fehlenden Fachkräfte von Anschubfinanzierung dieses Sofortprogramms können morgen. ein Teil der Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit und ein Teil der nicht verausgabten Mittel des Eingliede- Allerdings sehen wir auch die Gefahr, dass die Bun- rungstitels für das Sozialgesetzbuch II eingesetzt wer- desagentur zur Ausfallbürgin einer verfehlten Ausbil- den. Mit einem Betrag von 650 Millionen Euro könnten dungspolitik wird. Darum will ich betonen, dass diese 50 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze finanziert Forderung lediglich eine Notmaßnahme darstellt. Der ei- werden. gentliche Handlungsbedarf liegt an einer ganz anderen Stelle. Selbstverständlich sollte es sich dabei lediglich um eine Anschubfinanzierung für das laufende Lehrjahr Der Ausbildungspakt ist gescheitert. In seinem Rah- 2006/2007 handeln. Es nicht die Aufgabe der öffentli- men wurden zwar neue, aber keine zusätzlichen Ausbil- chen Hände, den Unternehmen dauerhaft die Verantwor- dungsplätze geschaffen. Dem jetzigen Gewürge müssen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7157

(A) wir darum ein Ende bereiten und uns der Problematik publik Deutschland und dem Internationalen See- (C) auch strukturell widmen. gerichtshof über den Sitz des Gerichtshofs Auch dafür haben wir Grünen detaillierte Vorschläge – Gesetz zu dem Protokoll vom 27. März 1998 über gemacht. Sie reichen von der besseren Anerkennung die Vorrechte und Immunitäten der Internationa- kleiner Qualifizierungsschritte über außerbetriebliche len Meeresbodenbehörde Ausbildungen bis hin zur Einrichtung von Produktions- schulen. Wir glauben, dass es einer Vielzahl von Lösun- – Gesetz zu dem Abkommen vom 30. September gen und Veränderungen bedarf, um der Vielzahl von 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland Problemen im Bereich Ausbildung gerecht zu werden. und der Republik Belarus zur Vermeidung der Allerdings glauben wir nicht an die Zauberkraft der Aus- Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern bildungsplatzumlage. Hier machen es sich die Kollegin- vom Einkommen und vom Vermögen nen und Kollegen der Linken aus meiner Sicht viel zu einfach. Sie erliegen dem Charme der einfachen Lösung – Gesetz zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2005 und scheuen die Mühen der konkreten, wenn auch klein- zwischen der Bundesrepublik Deutschland und teiligen Arbeit. Vielleicht können wir Sie ja während der der Kirgisischen Republik zur Vermeidung der Ausschussberatungen bekehren. Doppelbesteuerung und zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen auf dem Gebiet der Steu- ern vom Einkommen und vom Vermögen

Anlage 5 – Gesetz zu dem Abkommen vom 3. Mai 2006 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und der Amtliche Mitteilungen Republik Slowenien zur Vermeidung der Doppel- besteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- Der Bundesrat hat in seiner 828. Sitzung am 24. No- kommen und vom Vermögen vember 2006 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 – Gesetz zu dem Protokoll vom 1. Juni 2006 zur Än- des Grundgesetzes nicht zu stellen: derung des am 29. August 1989 unterzeichneten Ab- – Gesetz zur Anpassung von Rechtsvorschriften des kommens zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Bundes infolge des Beitritts der Republik Bulga- land und den Vereinigten Staaten von Amerika zur rien und Rumäniens zur Europäischen Union Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Ver- hinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet (B) – Gesetz zur Anspruchsberechtigung von Auslän- der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (D) dern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Un- und einiger anderer Steuern terhaltsvorschuss – Gesetz zu dem Abkommen vom 6. Februar 2006 – Gesetz zur Einführung einer Biokraftstoffquote durch zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und der Republik Kroatien zur Vermeidung der Dop- zur Änderung energie- und stromsteuerrechtlicher Vor- pelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom schriften (Biokraftstoffquotengesetz – BioKraftQuG) Einkommen und vom Vermögen – Zweites Gesetz zur Änderung des Aufbauhilfe- – Gesetz zu dem Rahmenabkommen vom 22. Juli fondsgesetzes 2005 zwischen der Regierung der Bundesrepublik – Gesetz zur Auflösung der Unabhängigen Kom- Deutschland und der Regierung der Französi- mission zur Überprüfung des Vermögens der Par- schen Republik über die grenzüberschreitende teien und Massenorganisationen der DDR Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich und zu der Verwaltungsvereinbarung vom 9. März 2006 – Gesetz zur Änderung des Überstellungsausfüh- zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit rungsgesetzes und des Gesetzes über die interna- der Bundesrepublik Deutschland und dem Minis- tionale Rechtshilfe in Strafsachen ter für Gesundheit und Solidarität der Französi- – Gesetz über die Weiterverwendung von Informatio- schen Republik über die Durchführungsmodalitä- nen öffentlicher Stellen (Informationsweiterver- ten des Rahmenabkommens vom 22. Juli 2005 wendungsgesetz – IWG) über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich – Gesetz zur Neuregelung des Versicherungsver- mittlerrechts – Jahressteuergesetz 2007 (JStG 2007) – Gesetz zur Errichtung einer „Bundesstiftung – Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Baukultur“ Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vor- – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 23. Mai 1997 schriften (SEStEG) über die Vorrechte und Immunitäten des Interna- tionalen Seegerichtshofs und zu dem Abkommen – Drittes Gesetz zur Änderung des Kraftfahrzeug- vom 14. Dezember 2004 zwischen der Bundesre- steuergesetzes 7158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) – Drittes Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteu- sowie auf eine neue Stimmengewichtung im Rat ge- (C) ergesetzen einigt (Erklärung Nr. 20). – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 25. Juni 1998 Erst durch den Beitrittsvertrag werden jedoch end- über den Zugang zu Informationen, die Öffentlich- gültig und rechtlich verbindlich die institutionellen keitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Bestimmungen geändert und damit der Kreis der Be- Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten fugten, die übertragene Hoheitsrechte ausüben, geän- (Aarhus-Übereinkommen) dert. Zudem wird auch die Höchstzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments gegenüber den Festle- – Gesetz über die Öffentlichkeitsbeteiligung in Umweltan- gungen des EGV sowie des Vertrags über eine Ver- gelegenheiten nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG fassung für Europa für die Aufnahme von Bulgarien (Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz) und Rumänien erhöht. Durch den Beitritt verschieben sich im Ergebnis Stel- – Gesetz über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehel- lung und Gewicht der Bundesrepublik Deutschland fen in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtli- im institutionellen Gefüge der EU. Das relative Stim- nie 2003/35/EG (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz) mengewicht Deutschlands insbesondere im Rat und – Gesetz zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über damit die Möglichkeiten seiner Einflussnahme bei den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäni- der Ausübung der auf die EU übertragenen Hoheits- rechte verändern sich. Dies stellt eine wesentliche ens zur Europäischen Union Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU dar, durch die das GG seinem Inhalt nach geändert bzw. Darüber hinaus hat er Folgendes beschlossen: ergänzt wird. Somit ist die Zustimmung des Bundes- rates mit zwei Dritteln seiner Stimmen erforderlich. 1. Der Bundesrat hat festgestellt, dass das vom Deut- 2. Der Bundesrat hat ferner zu dem Gesetz die nachste- schen Bundestag am 26. Oktober 2006 verabschie- hende Entschließung gefasst: dete Gesetz gemäß Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Artikel 79 Abs. 2 des Grundgesetzes seiner Zustim- Der Bundesrat nimmt Bezug auf seine Stellungnahme mung bedarf, und dem Gesetz einstimmig zustimmt. vom 7. Juli 2006 (Bundesratsdrucksache 360/06 [Be- schluss]) und begrüßt den Abschluss der fünften Er- Begründung: weiterungsrunde der EU, der nunmehr mit dem Bei- tritt von Bulgarien und Rumänien zum 1. Januar Gemäß Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 GG ist die Zustim- 2007 erfolgen wird. (B) mung des Bundesrates mit zwei Dritteln seiner Stim- (D) men erforderlich, wenn durch Änderungen der ver- Der Bundesrat nimmt die Analyse der Kommission traglichen Grundlagen der EU und vergleichbare in ihrem Bericht vom 26. September 2006 zur Bei- Regelungen das GG seinem Inhalt nach geändert trittsfähigkeit von Bulgarien und Rumänien zur oder ergänzt wird oder solche Änderungen und Er- Kenntnis. Er erwartet, dass beide Beitrittsstaaten alle gänzungen ermöglicht werden. Anstrengungen unternehmen, um die im Bericht an- gesprochenen Mängel, insbesondere im Justizwesen Der Beitrittsvertrag regelt erstmalig verbindlich für und bei der Korruptionsbekämpfung, bei der Verwal- Bulgarien und Rumänien die Zahl der Sitze im Euro- tung der EU-Agrarfonds, bei der Lebensmittelsicher- päischen Parlament, ihre Stimmenzahl im Rat sowie heit und im Bereich der Flugsicherheit bis zum 1. Ja- das künftig geltende Quorum für Entscheidungen mit nuar 2007 und darüber hinaus abzustellen. qualifizierter Mehrheit (Beitrittsakte zur Änderung Der Bundesrat bestärkt die Kommission in ihrer Po- der Rechtslage bis zum Inkrafttreten des Vertrags sition, die im Beitrittsvertrag enthaltenen Schutz- über eine Verfassung für Europa: Zweiter Teil „An- klauseln in vollem Umfang anzuwenden, wenn Bul- passungen der Verträge“, Titel I „Institutionelle Be- garien und Rumänien ihren europarechtlichen stimmungen“ sowie für die Übergangszeit bis zum Verpflichtungen nicht nachkommen. Er begrüßt die Beginn der Wahlperiode 2009 bis 2014 für die Sitz- von der Kommission vorgesehene fortlaufende Über- verteilung im Europäischen Parlament Artikel 24; wachung auch nach dem Beitritt, insbesondere die Beitrittsprotokoll zur Änderung der Rechtslage nach Überprüfung für den Bereich Justiz und Inneres. Inkrafttreten des Vertrags über eine Verfassung für Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kom- Europa: Vierter Teil „Bestimmungen mit begrenzter mission trotz weiter bestehender Mängel im wichti- Geltungsdauer“, Titel II „Institutionelle Bestimmun- gen Bereich des Justizwesens sowie bei der Korrupti- gen“). Insbesondere der geltende EGV wird durch onsbekämpfung in beiden Staaten vorerst von der diese Regelungen des Beitrittsvertrags entsprechend Anwendung der in Artikel 38 des Beitrittsvertrags angepasst. Die Mitgliedstaaten hatten sich bei der hierzu vorgesehenen Schutzklausel abgesehen und Regierungskonferenz von Nizza zwar im Hinblick sich konkrete Schutzmaßnahmen erst für den Fall der auf die Erweiterung der EU auf 27 Mitglieder poli- Verzögerung weiterer Reformen nach dem Beitritt tisch in einer Erklärung auf eine Neuverteilung der vorbehalten hat. Der Bundesrat erinnert daran, dass Sitze im Europäischen Parlament, im Wirtschafts- die konsequente Umsetzung der Beitrittskriterien der und Sozialausschuss und im Ausschuss der Regionen EU von hoher Bedeutung für die Glaubwürdigkeit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006 7159

(A) der Union nach innen wie nach außen sowie für die kenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsge- (C) Akzeptanz der Erweiterung in der Bevölkerung ist. setz – GKV-WSG) festgelegten Insolvenzregelung Er spricht sich daher dafür aus, diese Schutzklausel auseinandergerissen. Betrachtet man – wie sachlich ab dem 1. Januar 2007 anzuwenden, falls die Defizite geboten – beide Regelungen im Zusammenhang, so bis dahin nicht beseitigt sein sollten. ist davon auszugehen, dass ein zweistelliger Milliar- denbetrag erforderlich ist, um das Kassensystem auf Der Bundesrat bekräftigt seine Auffassung, wonach eine solide wirt-schaftliche Basis zu stellen, von der künftige Erweiterungen strikt vom Kriterium der aus ein fairer, chancengleicher Wettbewerb, wie ihn Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der EU abhän- die Einführung des Gesundheitsfonds im Rahmen gig gemacht werden müssen. Er fordert die Bundes- des GKV-WSG vorsieht, überhaupt erst möglich ist. regierung auf, die Debatte zum Strategiepapier der Die Einführung der Insolvenzfähigkeit der Kranken- Kommission zur EU-Erweiterung vom 8. November kassen bedingt zwingend die Vorlage einer Eröff- 2006, das erstmals auch Aussagen zur Aufnahmefä- nungsbilanz, um festzustellen, ob und inwieweit eine higkeit der Union enthält, aktiv in diesem Sinne zu Krankenkasse im Sinne der Insolvenzordnung über- begleiten. schuldet ist. Hierbei sind nicht nur die nach bisheri- – Gesetz zur Änderung des Vertragsarztrechts und an- gem öffentlich-rechtlichen Bilanzierungsrecht ausge- derer Gesetze (Vertragsarztrechtsänderungsge- wiesenen Schulden einzustellen, sondern auch die setz – VÄndG) aufgrund der bisherigen Bundesvorschriften nicht zu bilanzierenden Belastungen durch Versorgungsan- sprüche von DO-Angestellten, Betriebsrenten und Darüber hinaus hat er die nachstehende Entschlie- sonstige von den Kassen zugesagte Versorgungsleis- ßung gefasst: tungen. Bei einer Refinanzierung dieser Belastungen 1. Der Bundesrat begrüßt die Regelungen des Gesetzes innerhalb der durch das VÄndG festgesetzten kurzen zur Änderung des Ver-tragsarztrechts und anderer Zeit drohen für viele Kassen Beitragssatzsteigerun- Gesetze (Vertragsarztrechtsänderungsgesetz – VÄndG), gen in existenzvernichtender Höhe. Die Länder ha- die durch Liberalisierung und Flexibilisierung eine ben auch und besonders wegen der bislang durch den Verbesserung der ärztlichen Versorgung der Patien- Bund eröffneten Möglichkeit der Mittelschöpfung tinnen und Patienten bringen werden. Er weist jedoch durch Beitragssatzerhöhung ihre Kassen von der An- mit Nachdruck darauf hin, dass die nachträglich ein- wendung der Insolvenzordnung freigestellt. Wenn gefügte Entschul-dungsregelung in § 265a SGB V in nun der Bund diese Geschäftsgrundlage grundlegend zeitlicher Hinsicht nicht ausreichend ist, die Ent- ändert, so ist er verpflichtet, die aus dieser Konver- schuldungsproblematik zu lösen. sion resultierenden Belastungen, das heißt, die finan- (B) ziellen Altlasten, selbst zu tragen. Er kann und darf (D) 2. Der Bundesrat hält mithin folgende Änderungen des sie nicht auf die Länder abwälzen. § 265a SGB V für unab-dingbar notwendig: 4. Die Bundesregierung ist deshalb gefordert, ein – Bei dem in Absatz 1 Satz 3 des § 265a SGB V schlüssiges Entschuldungskonzept aufzulegen, das vorgesehenen Quorum ist von einer Zweidrittel- sich an den realen Belastungen vor dem Hintergrund mehrheit aller Mitglieder (und nicht nur der an- der Anwendung der Insolvenzordnung auf die Kran- wesenden Mitglieder) auszugehen, wobei das kenkassen orientiert. Stimmrecht entsprechend der Mitgliederzahl der jeweiligen Kassen zu gewichten ist. 5. Der Bundesrat behält sich daher weitere Schritte im Rahmen der Beratungen des Gesetzgebungsverfah- – Die Frist, bis zu der die Kassen ihre Verschul- rens zum GKV-WSG vor. dung abzubauen haben, ist generell (und nicht nur ausnahmsweise – wie in Absatz 4 des § 265a – Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfah- SGB V vorgesehen –) auf den 31. Dezember ren für Infrastrukturvorhaben 2008 zu verlängern. – Im Rahmen der Entschuldung sind vertraglich Darüber hinaus hat er die nachstehenden Entschlie- vereinbarte und bereits geleistete Struktur- und ßungen gefasst: Finanzmaßnahmen zu berücksichtigen. 1. Der Bundesrat schließt sich der Entschließung des – Es ist sicherzustellen, dass die Vorschrift des Deutschen Bundestages zur Änderung des Verwal- § 265a SGB V über den 31. Dezember 2008 hin- tungsverfahrensrechts in Nummer VI Abschnitte I, aus fortbesteht, soweit sie sich auf Strukturhilfe- II.1 sowie II.2 (vergleiche Bundesratsdrucksache zu maßnahmen in besonderen Notlagen oder zur Er- 764/06) an und fordert ebenfalls, die Änderungen aus haltung der Wettbewerbsfähigkeit bezieht. Die in den einzelnen Fachgesetzen in das Verfahrensrecht Artikel 8 Abs. 3 des VÄndG vorge-sehene Be- zu übernehmen. fristung des § 265a SGB V ist daher zu streichen. 2. Durch Artikel 7 Nr. 3 des Gesetzes zur Beschleuni- 3. Durch das Vorziehen der Entschuldungsregelung in das gung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorha- VÄndG wird zudem die inhaltliche Wechselbeziehung ben wird das Energiewirtschaftsgesetz geändert, in- zwischen Entschuldung und der im Gesetzentwurf zur dem nach § 17 Abs. 2 ein neuer Absatz 2a eingefügt Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Kran- wird, der die Übertragungsnetzbetreiber, in deren Re- 7160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Dezember 2006

(A) gelzone eine Offshore-Windenergieanlage betrieben Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und (C) wird, verpflichtet, für diese auf ihre Kosten einen Reaktorsicherheit Netzanschluss herzustellen und zu betreiben. Dabei – Unterrichtung durch die Bundesregierung soll hinsichtlich der Kosten ein horizontaler Aus- Bericht der Bundesregierung zur Lage der Natur gleich zwischen den Übertragungsnetzbetreibern ent- sprechend § 9 Abs. 3 des Kraft-Wärme-Kopplungs- – Drucksache 15/5903 – gesetzes erfolgen. Ausschuss für Kultur und Medien Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, die Frage einer weiteren Förderung der Offshore-Windenergie – Unterrichtung durch die Bundesbeauftragte für die Unterla- im Rahmen der ohnehin anstehenden Novellierung gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deut- des Erneuerbare-Energien-Gesetzes abschließend zu schen Demokratischen Republik klären. Ebenso ist die Frage des bundesweiten Aus- Siebenter Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema- gleichs der Kosten, die aus dem windenergiebeding- ligen Deutschen Demokratischen Republik – 2005 ten Ausbau der Hochspannungsnetze im Binnenland – Drucksache 15/5960 – resultieren, zu klären. Das Gesetz zur Beschleuni- gung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorha- ben ist gegebenenfalls entsprechend anzupassen. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 tung abgesehen hat. der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Finanzausschuss Drucksache 16/2555 Nr. 1.13 Drucksache 16/2555 Nr. 1.36 Innenausschuss Drucksache 16/2555 Nr. 1.42 Drucksache 16/2555 Nr. 2.1 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/2555 Nr. 2.13 Drucksache 16/2555 Nr. 2.19 Schlussbericht der Unabhängigen Kommission zur Drucksache 16/2555 Nr. 2.32 Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massen- Drucksache 16/2555 Nr. 2.56 organisationen der DDR Drucksache 16/2555 Nr. 2.57 (B) und Drucksache 16/2555 Nr. 2.61 (D) Stellungnahme der Bundesregierung Drucksache 16/2555 Nr. 2.67 – Drucksachen 16/2466, 16/2813 Nr. 1.1 – Drucksache 16/2555 Nr. 2.87 Drucksache 16/2555 Nr. 2.111 Drucksache 16/2555 Nr. 2.125 Drucksache 16/2555 Nr. 2.137 Haushaltsausschuss

– Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006 Drucksache 16/2555 Nr. 2.53 Drucksache 16/2555 Nr. 2.81 Außerplanmäßige Verpflichtungsermächtigung bei Ka- Drucksache 16/2555 Nr. 2.148 pitel 12 02 – Allgemeine Bewilligungen – Titel 532 51

– Einzug der streckenbezogenen Straßenbenutzungsge- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz bühren für Lkw durch Private – und Reaktorsicherheit – Drucksachen 16/3032, 16/3194 Nr. 1.2 – Drucksache 16/481 Nr. 1.5

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