Der KONGRESS Von SAINT-IMIER 1872 218 Kongress Der IAA in Den Haag Im Jahre 1872
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Der Kongress von Saint-Imier 217 1872: Verdichtungsmoment und Knotenpunkt der entstehenden anarchistischen Bewegung Considérant que la grande unité de l’Inter- * AIT [Fédéraliste], Résolution nationale est fondée non sur l’organisation ar- du Congrès Anti-Autoritaire tificielle et toujours malfaisante d’un pouvoir International tenu à Saint- Imier le 15 septembre 1872 centralisateur quelconque, mais sur l’identité […], S. 1, IISG, Int. 128/4. réelle des intérêts et des aspirations du prolé- tariat de tous les pays, d’un côté, et de l’autre sur la fédération spontanée et absolument libre des fédérations et des sections libres de tous les pays; […] Les délégués des Fédé- rations et Sections espagnoles, italiennes, jurassiennes, françaises et américaines réunis à ce Congrès ont conclu, au nom de ces Fédé- rations et Sections, et sauf leur acceptation et confirmation définitives, le pacte d’amitié, de solidarité et de défense mutuelle […].* Zwischen dem 15. und 16. September 1872 spielte sich in Saint-Imier ein Stück Globalgeschichte ab, auch wenn das wohl nur den allerwenigsten im Dorf bewusst war. Die Föde- rationen der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) hatten Delegierte geschickt, die sich im Zentrum Saint-Imiers trafen, genauer gesagt im Hotel de la Maison de Ville an der Place du Marché, wo sie zusammen mit „einheimischen“ Mitgliedern der IAA einen Kongress abhielten. Die dabei ver- abschiedeten Resolutionen füllten gerade einmal zweieinhalb DIN-A4-Seiten. Deren Inhalt entfaltet jedoch seine globale Wirkung noch heute. Der Kongress von Saint-Imier reihte sich in die Tradition der im Jahresrhythmus abgehaltenen Generalkongresse der IAA ein. Auf diesen versammelten sich seit dem Jahre 1866 Beschlüsse und begleit- Delegierte der einzelnen Landesföderationen, die Mitglieder schreides Kongresses der der IAA waren. Kongresse bildeten die zentralen Entschei- Antiautoritären Internati- dungsorgane der Internationalen und waren Diskussions- onalen in Saint-Imier vom 15. und 16. September plattformen zum Austausch zwischen den anarchistischen 1872. (SGB-B, Beilage in Föderationen. Es wurde dort heftig um Resolutionen gerun- BFJ Exemplar A. Schwitz- gen, gestritten und teils getrickst, wie am Fünften General- guébel, September 1872). Der KONGRESS von SAINT-IMIER 1872 218 kongress der IAA in Den Haag im Jahre 1872. Der Ausgang des Kongresses von Den Haag, bei dem mehrere bekannte Anarchisten aus der IAA ausgeschlossen wurden, bildete auch den Anlass, damit in Saint-Imier ein weiterer Kongress durchgeführt wurde, der die Rolle eines Gegenkongresses zum offiziellen Den Haag erlangte. In diesem Teil widmen wir uns jedoch weniger den Gründen, die zum Kongress von Saint-Imier führten. Wir analysieren diesen vielmehr in seiner Funktion als zentrales Verdich- tungsmoment und als Knotenpunkt der sich bildenden an- archistischen Bewegung. Daraus abgeleitet wird nach verän- derten Deutungsmustern der Beteiligten, insbesondere nach deren Zeit- und Raumvorstellungen und nach der Rolle von Kongressen wie demjenigen von Saint-Imier im Framing- Prozess der entstehenden anarchistischen Bewegung gefragt. Bei den internationalen Kongressen der Arbeiterbewegung wie demjenigen von Saint-Imier trafen Menschen und Ideen aus allen Ländern der Internationalen zusammen. Während einer kurzen Zeitspanne verdichtete sich somit an einem Ort die ganze Arbeiterbewegung bzw. die anarchistische Bewegung und manifestierte sich. Die Teilnehmer tauschten untereinander Wissen, Erfahrungen, Normen, kulturelle Praktiken usw. aus und knüpften neue Verbindungen. Die Ergebnisse der Kongresse wurden anschließend in die jeweiligen Herkunfts- oder späteren Aufenthaltsländer der Teilnehmer getragen und gestalteten damit die weitere Entwicklung der Bewegung. Kongresse eignen sich daher als Untersuchungsgegenstand, um die Weiträumigkeit, trans- lokale Struktur und globale Intention der Arbeiterbewegung und im vorliegenden Falle der anarchistischen Bewegung aufzuzeigen. Dies soll in der Folge exemplarisch anhand des Kongresses von Saint-Imier im Jahre 1872 geschehen. Dabei wird im ersten Schritt auf die Akteursnetzwerke, im zweiten auf die Resolutionen und schließlich auf deren Diffusion eingegangen. KONGRESSTEILNEHMER 219 Kongressteilnehmer: Saint-Imier als Knotenpunkt translokaler anarchistischer Netzwerke In meiner Weltanschauung ging im Laufe * Figner, Nacht, S. 53. dieses Züricher Jahres ebenso wie bei den 1 anderen eine große Umwälzung vor sich. Vgl. Guillaume, L’Internationale, Bd. III, Was früher das Ziel erschien, war jetzt zum S. 1-5; vgl. IISG, MABP, 181, Einträge 05.-13.09.1872. Mittel geworden; […] Wir wollten nicht die 2 Krankheitssymptome heilen, sondern die Die Zahlen beziehen sich auf die am Kongress der Fj * Ursachen beseitigen. in Locle vom 19. Mai 1872 gemachten Angaben. Vgl. Die Biographien der Kongressteilnehmer gewähren einen IISG, FJA, 45, Tableau de ersten Blick auf die Weiträumigkeit und auf den ansatzweise statistique générale de la globalen Charakter der anarchistischen Bewegung. Leider be- Fédération jurassienne, sitzen wir keine abschließende Teilnehmerliste. Aus den Me- présente au Congrès tenu à Neuchâtel le 27 et 28 Avril moiren von James Guillaume und den „Carnets“ von Michail 1873, S. 2. Bakunin lassen sich 43 Teilnehmer namentlich festhalten.1 Es ist ebenfalls zu beklagen, dass Guillaume und Bakunin in ih- ren Notizen nur die Namen der Delegierten und der aus dem Ausland stammenden Akteure erfassten. Die Mitwirkenden aus der Region wurden – abgesehen von den Delegierten, die im Kongressprotokoll aufgeführt sind – nicht namentlich erwähnt. Wir müssen somit von weitaus mehr Teilnehmern als den 43 namentlich bekannten ausgehen. Die Juraföderati- on, die unmittelbar vor dem internationalen Kongress ihren eigenen abgehalten hatte, zählte zu diesem Zeitpunkt neun Sektionen und knapp 300 Mitglieder, davon wohnten knapp 100 im Tal von Saint-Imier.2 Außerdem war zumindest bei den öffentlichen Veranstaltungen des Kongresses mit einer starken Präsenz der lokalen Arbeiterschaft zu rechnen. Somit müssen insgesamt mindestens 200 Kongressteilnehmer angenommen werden. Bei der weiteren Analyse wird jedoch ausschließlich auf die namentlich bekannten Teilnehmer eingegangen. Bereits die Herkunftsorte der Kongressteilnehmer verwei- sen auf den internationalen, genauer gesagt europäischen Charakter des Kongresses. Sie zeigen, dass die Teilnehmer aus sechs verschiedenen europäischen Ländern stammten: Italien, Spanien, Frankreich, England, Schweiz und Russ- land. Möchte man auf dieser Karte noch hinzufügen, wo sich die Teilnehmer vor dem Kongress aufgehalten hatten (soweit bekannt), benötigt man bereits eine Weltkarte, um die hohe Mobilität darzustellen. Der KONGRESS von SAINT-IMIER 1872 220 KONGRESSTEILNEHMER 221 Der globale Charakter der anarchistischen Bewegung in den 3 Folgejahren kommt unmissverständlich durch eine weitere Mittag/Unfried, Transnatio- nale Netzwerke, S. 10-11. Weltkarte zum Ausdruck. Auf dieser sind die bekannten Aufenthaltsorte der Kon- gressteilnehmer bis ins Jahr 1932 aufgeführt, das heißt für die 50 Jahre nach dem Kongress von Saint-Imier. Diese drei kartographischen Auswertungen lassen zwei Schlüsse zu. Erstens brachten die Kongressteilnehmer mit ihrer über Europa verstreuten Herkunft und infolge einer hohen Mobi- lität bereits viel internationale Erfahrung in den Berner Jura und zweitens potenzierte sich diese in den Jahren nach dem Kongress, um der anarchistischen Bewegung definitiv globale Dimensionen zu verleihen. Die soeben beschriebenen Graphiken könnte man auch als Netzwerke darstellen, wobei die Aufenthaltsorte der Akteure netzwerkanalytisch gesehen Knoten („knots“) wären. Bei einer Verbindung dieser untereinander durch Kanten („ties“) würde sich ein räumlich verstandenes Akteursnetzwerk ergeben. Würde nun ein Ort nacheinander von mehreren Personen besucht oder gar von verschiedenen Personen gleichzeitig, so würden sich dort Akteursnetzwerke überlap- pen und verbinden, der Ort würde damit im Gesamtnetzwerk eine Zentrumsfunktion einnehmen. Einer dieser Knoten- punkte wäre Saint-Imier. Es geht hier nicht darum, in einer Netzwerkanalyse die Rolle Saint-Imiers als Knotenpunkt innerhalb der anarchistischen Bewegung quantitativ zu erfas- sen. Die folgenden biographischen Skizzen der Kongressteil- nehmer sollen lediglich dabei helfen, sich vorzustellen, welch unterschiedliche und weitgesponnene Netzwerke im Jahre 1872 in Saint-Imier zusammenkamen und sich verbanden. Wenn wir von dieser Feststellung ausgehen und uns in Erin- nerung rufen, wie Mittag und Unfried ihre Netzwerkkonzep- tualisierung zusammenfassen, nämlich als „Transmissions- medien der grenzüberschreitenden Verbreitung von Wissen, Normen, Einstellungen, kulturellen Praktiken und Lebens- stilen“3, so bekommen wir eine Ahnung von der Vielfalt der Erfahrungen, die in Saint-Imier aufeinandertrafen, die sich zu etwas Neuem formierten und die sich dann ihren Weg a. Geburtsorte der Teil- über die Netzwerke weiter bahnten. In diesem Sinne wurde nehmer des Kongresses jeder Kongressteilnehmer ein Träger all der genannten ma- Saint-Imier 1871 teriellen und immateriellen Güter, die er während der zwei Kongresstage in Saint-Imier mit den anderen teilte, erweiter- b. Aufenthaltsorte der te, verband und anwandte. Jeder brachte seine individuellen Teilnehmer vor dem Erfahrungen aus seinem Netzwerk ein. Diese egalitäre Sicht- Kongress weise soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass einige Kongressteilnehmer wegen ihrer Reputation und ihres Alters c. Aufenthaltsorte der mehr Aufmerksamkeit