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Hope M. Harrison Chruschtschow, Ulbricht und der Streit um die Berliner Mauer

Der Bau der Berliner Mauer, die mehr als 28 lange Jahre als düsteres Symbol deutsch-deutscher Teilung die Stadt zerschnitt, jährte sich jüngst zum 50. Mal. Spätestens 1953 lagen die ersten ostdeutschen Pläne für den Mauerbau vor. Be- reits kurz nach Stalins Tod bat in Moskau um Unterstützung für seinen Plan einer Abriegelung der DDR von West-, stieß aber auf Wider- stand der neuen Sowjetführung. Erst acht Jahre später lenkte der Kreml ein.

Nachdem die Grenzen zwischen BRD und Hope M. Harrison DDR im Sommer 1952 befestigt wurden, (*1963) ist Professorin für Geschichte und Internationale Beziehungen an der George war Berlin der einzige Ort in Deutschland, Washington University,Washington,D.C. an dem sich Deutsche frei zwischen Ost Bei Propyläen erschien 2011: Ulbrichts Mauer: und West bewegen konnten. Es war Ul- Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den brichts Idee, dieses »Loch« zu stopfen und Mauerbau brach. somit den Ostdeutschen die Flucht in den [email protected]

Westen via Berlin zu verwehren. Im März Raabia Shafi 1953 lehnten Stalins Nachfolger im Kreml Ulbrichts Wunsch einer endgültigen Grenz- nenpolitischen Kurs moderater gestalten schließung ab. Sie argumentierten, dass und aus der DDR einen attraktiveren Le- eine solche Zementierung der Grenze zwi- bensraum für seine Bürger machen. schen Ost- und West-Berlin »politisch un- annehmbar und allzu einfach« sei. Dieser Schritt würde »zur Störung der vorhande- Kreml-Widerstand gegen nen Ordnung des städtischen Lebens füh- Ulbrichts Führungsstil ren, die Wirtschaft der Stadt in Unordnung bringen« und »bei den Berlinern Bitterkeit Mitte der 50er Jahre leierte die Sowjet- und Unzufriedenheit hinsichtlich der Re- führung politische Reformen im eigenen gierung der DDR und der sowjetischen Land und in den sowjetischen Satelliten- Streitkräfte in Deutschland hervorrufen« staaten in Osteuropa an, um die kommu- (Außenpolitisches Archiv der Russischen nistischen Regime, unter anderem auch die Föderation).Auch würde er Zweifel an den DDR, neu zu beleben. Mit ihrem »Neuen Absichten der DDR und der UdSSR säen, Kurs« »zur Gesundung der politischen »für die Vereinigung Deutschlands« ein- Lage in der Deutschen Demokratischen zutreten und »die Beziehungen der Sow- Republik« im Juni 1953 und infolge der jetunion zu den USA, England und Frank- Geheimrede Chruschtschows 1956, in der reich [...] nur komplizieren, was wir ver- er mit der kompromisslosen Politik Stalins meiden können und müssen«. Die Sow- und dem stalinistischen Personenkult ab- jets waren sich darüber im Klaren, welch rechnete und eine friedliche Koexistenz schwerwiegende Konsequenzen für und mit dem Westen einforderte, beurteilte die Auswirkungen auf die internationalen Be- sowjetische Führung den harschen politi- ziehungen und die Reputation des Landes schen Führungsstil Ulbrichts sehr kritisch, eine solche Grenzschließung haben muss- sah sie in ihm doch einen der Gründe für te. Stattdessen bedrängten sie Ulbricht, er die Massenflucht vieler DDR-Bürger gen möge seinen bislang kompromisslosen in- Westen. Sie verlangte eine gründliche poli-

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tische Kurskorrektur und unterstützten gar Politik der Wiedergutmachung Schuld an den SED-Widerstand gegen Ulbricht um der miserablen Wirtschaftslage der DDR Rudolph Hernstadt und Wilhelm Zaisser trage. Demgegenüber sei in der BRD durch 1953 und um Karl Schirdewan und Ernst die »Milliardenhilfe der USA« eine deut- Wollweber 1956-1957. Beide Male aller- lich stärkere wirtschaftliche Entwicklung dings schwenkte die Sowjet-Führung in ausgelöst worden. Die resultierende wirt- letzter Minute um und stützte Ulbricht in schaftliche Ungleichheit sei »der Haupt- der Angst, dass seine Absetzung allen Be- grund dafür,dass im Verlaufe von zehn Jah- teiligten schaden und zur Instabilität der ren rund zwei Millionen Menschen unsere DDR beitragen würde. Republik verlassen haben«. Als Ausgleich Die Sowjets kritisierten Ulbricht wie- für diese ungleichen Startchancen forder- derholt, weil er das Problem der Republik- te Ulbricht von der Sowjetunion konkrete flucht nicht ernst genug nahm und sich in Hilfe, etwa stärkere Unterstützung im fi- ihren Augen zu sehr auf »administrative nanziellen bzw. wirtschaftlichen Bereich und repressive Maßnahmen« zur Problem- oder beim Bau der Berliner Mauer. Da lösung konzentrierte. Sie forderten ihn auf, Chruschtschow die negativen Auswirkun- nicht in Gänze über das Volk hinweg zu gen einer Grenzschließung abwenden woll- regieren und auf die SPD Westdeutsch- te, versuchte er das West-Berlin-»Problem« lands zuzugehen, um eine »Einheitsfront« dadurch zu lösen, dass er die Westmächte der Arbeiterklasse gegen Konrad Adenauer zur Aufgabe West- zwingen wollte. zu bilden, wie der sowjetische Botschafter 1958 entzündete Chruschtschow eine in Ost-Berlin, Georgiy Puschkin, im Früh- Berlin-Krise, indem er offen den Konflikt ling 1956 berichtete. Der stellvertretende mit den Westmächten suchte und die Trans- sowjetische Außenminister Sozin forderte formation des Westens Berlins in eine »freie wenige Tage nach dem XX. Parteitag der Stadt« forderte. Auf diese Weise hoffte KPdSU im Februar 1956 die DDR auf, Chruschtschow, den Anreiz des »Schau- ihre scharfe Kampagne gegen die Bundes- fensters West-Berlin« aus dem Weg zu republik zu mäßigen und eine Zusam- schaffen, der nach seinem Dafürhalten menarbeit mit der SPD anzustreben. Ul- DDR-Bürger zur Republikflucht ermunter- bricht hingegen war an keinem dieser Vor- te. Sollte der Westen einer »freien Stadt« schläge bzw. Forderungen interessiert und West-Berlins nicht zustimmen und kei- betonte auf dem 28. Plenum des ZK der nen Friedensvertrag mit einem vereinten SED: »Wir stehen an der vordersten Stelle. Deutschland oder den beiden Staaten eines Wir sind das am weitesten im Westen be- geteilten Deutschlands schließen, drohte findliche Land des sozialistischen Lagers. Chruschtschow mit einen Separatfrieden Wir können uns solche Dinge nicht erlau- mit der DDR und der Übertragung der vol- ben.« Das Risiko des Machtverlusts beur- len Souveränität über das DDR-Territo- teilte Ulbricht wahrscheinlich realistischer rium an die SED-Führung, die Hoheit über als Chruschtschow, und der Machterhalt die Zugangswege nach West-Berlin inklu- um jeden Preis stand stets im Zentrum sei- sive. Ulbricht dagegen glaubte nie an eine nes politischen Handelns. Einigung der Westmächte mit Chrusch- Ulbricht führte also seinen stalinisti- tschow in Bezug auf eine »freie Stadt« oder schen Führungsstil fort und offenbarte sei- einen Friedensvertrag. Der Erste Sekretär ne maßlose Arroganz nicht nur im Umgang des Zentralkomitees wurde zunehmend mit SED-Kollegen, sondern auch mit der ungeduldig mit der Kremlführung. Ihre Kremlführung. So teilte er Chruschtschow Art, das Flüchtlingsproblem der DDR zu in einem Brief vom 18.1.1961 mit, dass aus- lösen und ihre »unnötige Duldsamkeit« ge- schließlich die Sowjetunion durch ihre genüber dem Westen frustrierten Ulbricht.

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Im letzten Jahr vor dem Beginn des tenden Außenministers Johannes König an Mauerbaus begann Ulbricht zunehmend, Ulbricht vom 23. und 27.9.1960 belegen. die Vorgänge an der Sektorengrenze in sei- Der sowjetische Botschafter in Ost-Berlin, ne eigenen Hände zu nehmen. Sowjetische Mikhail Perwuchin, informierte Moskau in Diplomaten schickten streng geheime Be- seinem jährlichen Bericht über die DDR richte aus der Ost-Berliner Botschaft nach Ende 1960, dass die West-Berlin-Politik der Moskau, die vor einer von Ulbricht geplan- DDR nicht nur »in der Regel einseitig«, ten unilateralen Grenzschließung warnten. sondern »in erster Linie administrativer Die eigentliche Ost-West Krise über Berlin Art« sei, etwa »alle möglichen Beschrän- spiegelte sich in einer Krise zwischen den kungen des Verkehrs zwischen beiden Tei- kommunistischen Alliierten. len der Stadt« durchsetze. Ein anderer Offi- zieller der Sowjetischen Botschaft berich- tete, die DDR strebe »die Aufhebung der Grenzschließung gegen Bewegungsfreiheit über die Sektorengren- sowjetische Widerstände? ze« an und schlug vor, »auf entsprechender Ebene mit unseren Freunden über die Fra- Im September 1960 führte die DDR dann ge des Regimes an der Sektorengrenze in plötzlich strengere Einreisebedingungen an Berlin zu sprechen«. den Grenzübergängen nach Ost-Berlin für Infolge dessen unterrichtete Chrusch- West-Berliner, Zivilisten und Offizielle aus tschow Ulbricht per Brief am 24.10.1960 den USA, Frankreich und Großbritannien und auch persönlich, dass »keine Maß- ein. Die Sowjets waren im Vorfeld von die- nahmen durchgeführt werden, welche die ser Maßnahme nicht informiert worden Situation an der Grenze von West-Berlin und hätten dieser mit Sicherheit nicht zu- ändern würden«. Der Sowjetführer streb- gestimmt. Der Kreml zeigte sich »erstaunt« te ein Gipfeltreffen mit dem neugewähl- und »sehr besorgt« und bestand darauf, ten amerikanischen Präsidenten John F. wenigstens über zukünftige Schritte infor- Kennedy an, bei dem er hoffte, diesen von miert zu werden, wie Briefe des stellvertre- einem Friedensvertrag und der Transfor-

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mation West-Berlins in eine »freie Stadt« DDR und West-Berlin so bald wie möglich überzeugen zu können. Er bestand laut mit allen Mitteln zu unterbinden [...].« einer Zusammenfassung des Botschafters Perwuchin zum Treffen von Chruschtschow und Ulbricht am 30.11.1960 darauf, dass Chruschtschow schwenkt um Ulbricht im Vorfeld dieses angedachten Gipfeltreffens »keine einseitigen Schritte Beim Gipfeltreffen in Wien kam es dann [...] unternimmt [...]. Dies betrifft vor al- genau so, wie Ulbricht vermutet hatte: Ken- lem das Kontrollregime für die Überque- nedy stimmte weder Chruschtschows Plä- rung der Sektorengrenze in Berlin.« nen einer »freien Stadt« West-Berlin noch Nichtsdestotrotz verfolgte Ulbricht ver- einem Friedensvertrag zu. Im Zuge der Ber- stärkt den Plan,die Bewegungsfreiheit über linkrise, die infolge des gescheiterten Gip- die »offene Grenze« einzudämmen, vor al- fels weiter schwelte,machte sich Torschluss- lem die der ostdeutschen Flüchtlinge. Im panik breit, die den Druck auf Ulbricht, die Januar 1961 ernannte er eine Politbüro- Berliner Grenze endgültig zu schließen, nur Kommission, bestehend aus Sicherheitschef noch erhöhte. Waren im Mai 17.791 Ost- ,Innenminister Karl Maron deutsche geflohen, so stieg diese Zahl im und Stasichef , »die eine Reihe Juni auf 19.198, und in den ersten beiden Vorschläge macht, wie die Republikflucht Juliwochen lag sie bereits bei 12.578. Ul- entschieden eingedämmt wird [...].Sie muss bricht ließ laut Julij Kwizinskis Vor dem zum großen Teil abgestoppt werden.« Im Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten über März erklärte Ulbricht gegenüber den Al- Botschafter Perwuchinan Chruschtschow liierten der DDR während eines Treffens übermitteln: »Wenn die gegenwärtige Si- der Warschauer-Pakt-Staaten in Moskau: tuation der offenen Grenze weiter bestehen »West-Berlin stellt [...] ein großes Loch in- bleibe,sei der Zusammenbruch unvermeid- mitten unserer Republik dar, das uns jähr- lich.« lich mehr als eine Milliarde Mark kostet.« Ende Juli gab Chruschtschow schließ- Ungeachtet Chruschtschows Mahnung, lich Ulbrichts Forderungen nach, die vor seinem Treffen mit Kennedy Anfang Grenze nach West-Berlin zu schließen.Als Juni in Wien, keine weiteren aggressiven die beiden Staatsoberen Anfang August Maßnahmen gegen den Flüchtlingsstrom Details der Grenzschließung besprachen, zu ergreifen, wurde der auf Ulbricht las- war Chruschtschow überrascht, wie fort- tende Handlungsdruck immer größer.Am geschritten die Pläne Ulbrichts zur Grenz- 19. Mai teilte Botschafter Perwuchin Au- schließung bereits waren. Der Sowjetfüh- ßenminister Gromyko mit, dass die Ost- rer sicherte Ulbricht die geballte sowjeti- deutschen eine sofortige Schließung der sche Unterstützung zu, notfalls durch das Sektorengrenze verlangten und dem sowje- Militär.Obwohl Ulbricht nicht die nötigen tischen Kurs nicht folgten: »Unsere Freun- militärischen Ressourcen für die Berliner de würden gerne jetzt eine Kontrolle an Grenzschließung zur Verfügung standen der Sektorengrenze [...] einführen, [um] und er auf sowjetische Unterstützung an- ›die Tür in den Westen‹ zu schließen und gewiesen war, war es doch der Erste Sek- so die Abwanderung der Bevölkerung aus retär des Zentralkomitees der SED, der der Republik zu verringern [...]. [U]nsere den Bau der Berliner Mauer auf die Agenda deutschen Freunde [sind] manchmal un- setzte und lange für ihn kämpfte. Die Poli- geduldig und nehmen eine einseitige Hal- tik und Persönlichkeit Walter Ulbrichts wa- tung zu diesen Problemen ein [...]. Ein Be- ren für die Errichtung der Berliner Mauer weis dafür sind zum Beispiel ihre Anstren- von entscheidender Bedeutung. gungen, den freien Verkehr zwischen der (a. d. Englischen von Tobias Konitzer.)

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