Dr. Zum Gedenken

Staatsakt für Dr.Philipp Jenninger Präsident des Deutschen Bundestages von 1984 bis 1988 , 18. Januar 2018

6Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages Dr.Wolfgang Schäuble

14 Ansprache Seiner Eminenz Walter Kardinal Kasper, ehemaliger Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen

21 Musikalische Begleitung durch ein Ensemble der Kammermusikklasse des Artemis Quartetts

22 Curriculum vitae

Inhalt Herr Bundespräsident! Liebe Frau Jenninger! Liebe Familienangehörige! Frau Bundeskanzlerin! Herr Präsident des Bundesrats! Herr Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts! Eminenz! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Wirtrauern um Philipp Jenninger.Erist am 4. Januar im Alter von 85 Jahren verstorben. Philipp Jenninger hat die Politik der Bundes- republik Deutschland über viele Jahre mitge- staltet –als leidenschaftlicher Parlamentarier, in Regierungsverantwortung, als Präsident dieses Hauses. Unser Land verliert mit ihm einen verdienten Repräsentanten –und ich selbst einen langjährigen Wegbegleiter,dem ich politisch eng verbunden war und den ich als Menschen sehr geschätzt habe.

Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages Dr.Wolfgang Schäuble

6 In die Politik fand Philipp Jenninger Ende der 60er-Jahre als persönlicher Mitarbeiter zweier Bundesminister –zuerst beim einstigen CDU- Mitbegründer und langjährigen Fraktionsvor- sitzenden und ab 1966 als als Staatssekretär im Auswärtigen Amt und politischer Referent bei Bundesfinanzminister im Verteidigungsministerium, als Chef des Franz Josef Strauß. So sammelte Philipp Bundeskanzleramts. Im Parlament war er Jenninger in vorderster Reihe politische –wie ich –seit 1972, also Neuling. Er Erfahrung, und er erwarb sich das Vertrauen brauchte Philipp Jenninger,der in der beider.Sie blieben nicht die Einzigen, die Fraktion allseits Vertrauen genoss. Dieses seine Vertrauenswürdigkeit schätzten und die Vertrauen war besonders gefragt in den Jahren, von seinen Fähigkeiten profitierten. in denen als Parteivorsitzender Die Politik war ihm also vertraut, als er 1969 nach bitteren Auseinandersetzungen mit in den Deutschen gewählt wurde Franz Josef Strauß Kanzlerkandidat wurde, –imAlter von 37 Jahren, als direkt gewählter und erst recht nach der nur knapp nicht Abgeordneter in seinem württembergischen gewonnenen Wahl 1976 im Zeichen des CSU- Wahlkreis Crailsheim, später Schwäbisch Trennungsbeschlusses von Kreuth. Hall. Seine Popularität hielt über die 21 Jahre, Es spricht für Philipp Jenninger,dass auch die er dem Deutschen Bundestag angehörte, Kohl ihn als Ersten Parlamentarischen und darüber hinaus. Ich konnte das am Geschäftsführer vorschlug und dass er über vergangenen Freitag bei der Messe und bei der die Jahre bis 1982 in der Fraktion und danach Beisetzung in spüren. im Kanzleramt der engste Vertraute von Philipp Jenningers parlamentarisches Wirken Helmut Kohl war und zugleich immer auch begann im Haushaltsausschuss –nach seiner bei Franz Josef Strauß Persona grata blieb. Zeit im Bundesfinanzministerium nahelie- Philipp Jenninger hielt die Fäden in der Hand, gend. Als 1973 Vorsitzender der er organisierte und koordinierte in dieser CDU/CSU-Fraktion wurde, schlug er Philipp Vertrauensposition, nicht im Scheinwerfer- Jenninger als Parlamentarischen Geschäftsfüh- licht, mit der Pflicht, zu vermitteln, und mit rer vor.Carstens kannte den Bonner Betrieb der Pflicht und dem Recht, einzugreifen, aus seiner Erfahrung als Staatsrechtslehrer, damit die Dinge nicht aus dem Ruder laufen.

7 Philipp Jenninger half mit viel Geschick, das Machtzentrum um Kohl zu festigen –ein poli- Und er betrachtete es als Ehre, für den demo- tisches Lehrstück, das wesentlich Jenningers kratischen Rechtsstaat zu arbeiten, für Handschrift trug. Der Kohl-Biograf Hans-Peter „die freiheitlichste Republik, die es je auf Schwarz schrieb über diese Zeit: Dass Helmut deutschem Boden gab“. So hat er es gesehen, Kohl „in diesen kritischen Jahren“ nicht und dafür ist er eingetreten. gescheitert ist, sei „in erster Linie“ Philipp Im Kanzleramt war er für die deutsch- Jenninger zu verdanken. Das ist die Sicht des deutschen Beziehungen zuständig. Diese Historikers. Sie spricht für sich. Ich selbst Besonderheit war der deutschen Teilung kann bestätigen, dass Philipp Jenninger in der geschuldet. Die DDR war für die Bundes- Fraktion eine unbestrittene Autorität war. republik Deutschland nicht Ausland, und Ich erlebte ihn vor allem ab 1980 aus nächster umgekehrt akzeptierte die SED kein gesamt- Nähe. Ich habe viel von seiner politischen deutsches oder innerdeutsches Ministerium Erfahrung profitiert, und ich lernte seine in Bonn. immer grundanständige Art schätzen. Nach den Auseinandersetzungen um die Ost- Als enger Vertrauter von Helmut Kohl war und Deutschlandpolitik in den 70er-Jahren es folgerichtig, dass Philipp Jenninger mit und im Ringen um den Vollzug des NATO- dem Regierungswechsel 1982 ins Kanzleramt Doppelbeschlusses war die Deutschland- wechselte: als Staatsminister.Jenninger wollte politik in der Anfangsphase der Regierungs- gestalten. Er hatte als Kind die Diktatur erlebt zeit Kohl eine besonders delikate Aufgabe. und den Zweiten Weltkrieg. Macht war für Dafür war Philipp Jenninger der richtige Mann ihn kein Selbstzweck. Er trat engagiert für die –natürlich auch wegen seiner Vertrauensbasis Demokratie ein. Er wollte seine Überzeugung mit Franz Josef Strauß. teilen und andere dazu bringen, sich gleich- Zusammen mit dem DDR-Unterhändler Alex- falls einzusetzen. „Demokratie muss gelebt ander Schalck-Golodkowski haben sie den werden“, so hat er gerne Milliardenkredit vereinbart, mit dem das Eis zitiert. gebrochen wurde. Wirtschaftliche Leistungen Philipp Jenninger konnte unduldsam werden, gegen menschliche Erleichterungen, das war wo er die Grenzen des Zulässigen überschrit- die Grundformel für unsere Politik in den ten sah. Er kannte keine Berührungsängste, 80er-Jahren: solange Deutschland geteilt war, schon gar nicht, wenn es um die Verteidigung die Folgen für die Menschen zu lindern, die seiner Wertvorstellungen ging. Mauer wenigstens durchlässig zu machen,

Seite 1: Porträt Philipp Jenninger

Seite 2: Der Plenarsaal ist bereitet für den Staatsakt zu Ehren des ver- storbenen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger

Seite 4: „Wir würdigen Philipp Jenningers politisches Wirken, und wir würdigen seine bleibenden Ver- dienste um unser Land“ –Blick in den Plenarsaal während der Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble

Seite 7: „[...] er betrachtete es als Eh- re, für dendemokratischen Rechts- staatzuarbeiten,[...]“ –Bundestags- präsident Wolfgang Schäuble bei seiner Ansprache

8 Philipp Jenninger spricht im Deutschen Bundestag in Bonn, Juni 1981

9 DerAbschied aus der unmittelbaren Regierungsverantwortung ist ihm nicht um so auch an der Einheit der Deutschen leichtgefallen. Aber sein Pflichtgefühl, seine festzuhalten. Festigkeit in Grundsatzfragen Leidenschaft als Parlamentarier und eben und Bereitschaft zu pragmatischer Zusammen- das große Vertrauen über die eigene Fraktion arbeit, wann immer dies bei unterschiedlichen hinaus ließen ihn dem Ruf folgen. Er konnte Grundsatzpositionen möglich war. auch in diesem neuen Amt auf diesem Für Philipp Jenninger war die deutsche Vertrauen aufbauen. Er wurde mit großer Einheit nicht primär eine Frage der Grenzen, Mehrheit gewählt. Und das Vertrauen ist dank des Territoriums und der Bündnisse. In seinen seiner überparteilichen Amtsführung weiter Worten hieß das: „Sie ist fundamental eine gewachsen. Bei seiner Wiederwahl 1987 Frage der Menschenrechte, der Freiheit, der erhielt er noch weit mehr Stimmen. Selbstbestimmung und des Friedens.“ Die Arbeit des Deutschen Bundestages lag Mit seiner Prinzipientreue und mit seiner ihm am Herzen. Er konnte an seine Zeit als Verlässlichkeit gewann er auch schnell das Parlamentarischer Geschäftsführer anknüpfen. Vertrauen seiner Gesprächspartner in Ost- Philipp Jenninger wusste, wo er als Präsident Berlin. Damals hat niemand geahnt, dass nicht gefragt war,erbrachte Sachkunde mit, Inte- einmal sieben Jahre später die Mauer wieder grität und eben die Fähigkeit, zu vermitteln. verschwinden würde. Aber es wurde damals Die Belange des Parlamentsbetriebs und die selbst gegen Druck aus Moskau eine Eiszeit in Belange der Mitarbeiter lagen bei ihm in guten den deutsch-deutschen Beziehungen vermie- Händen. In seiner Zeit wurden die Arbeits- den. Es wurden Familienzusammenführungen bedingungen des Bundestages verbessert, die erleichtert, Selbstschussanlagen abgebaut, Effizienz der Parlamentsarbeit erhöht. Mitar- die Zahl der jährlichen Westreisen aus der beiter der Bundestagsverwaltung erinnern sich DDR im Laufe der 80er-Jahre auf über sieben daran noch heute. Millionen gesteigert –umnur einige Punkte Bei den in seiner Amtszeit angestoßenen zu nennen. Für all das hat Philipp Jenninger Reformen ging es um mehr Transparenz, den Grund gelegt. darum, die Rolle des Souveräns, die Rechte Nach dem Rücktritt von als des Gesetzgebers zu stärken, und auch darum, Bundestagspräsident war es der breite Wunsch der „Vertrauenskrise“ entgegenzuwirken. derCDU/CSU-Fraktion, dass Philipp Jenninger Mit diesem Wort hat Philipp Jenninger schon Bundestagspräsident werden sollte. damals den Zustand der Politik beschrieben.

Bundestagspräsident Philipp Jenninger im Gespräch mit dem Abgeordneten bei der konstituierenden Sitzung des 11. Bundestages, in seinem Rücken der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, Februar 1987

10 Er hat von seinem Vorgänger den Vorsitz der Ad-hoc-Kommission „Parlamentsreform“ übernommen. Der Bundestag verdankt ihm Sein Engagement für die Aussöhnung mit und dieser Kommission eine Reihe von Israel war groß –Initiativen zum deutsch- Vorschlägen. Sie zielten auf die Rechte der israelischen Jugendaustausch gingen auf ihn Abgeordneten gegenüber der Regierung, auf zurück. Das war damals alles andere als selbst- eine stärkere Lebendigkeit der Parlamentsde- verständlich. Er legte wichtige Fundamente. batten. Philipp Jenninger konnte als Präsident Er hatte sein Amtsverständnis als Parlaments- einige Veränderungen erreichen. Aber er hat präsident in seiner Antrittsrede formuliert: viel mehr gewollt, als durchgesetzt werden „Der Erste in diesem Hause zu sein bedeutet konnte –eine Erfahrung, die seine Amtsnach- für mich nicht besondere Würde und Glanz, folger teilen. sondern vorbildliche Arbeit und Dienst für AlsBundestagspräsident wirkte Philipp unser Volk.“ Jenningernach innen und auch nach außen. Demut –Verantwortungsgefühl –Pflichtbe- Sein Interesse ging über den eigentlichen wusstsein. Im selben Geist hat er später sein Parlamentsbetrieb hinaus, auchüberdie Amt niedergelegt. Sein Rücktritt bleibt ein Bundesrepublik,über Deutschland und politisches Drama. Westeuropa. Er hat Türen zu anderen Philipp Jenninger wollte in seiner Rede zum Parlamenten –auch jenseits desEisernen 50. Jahrestag der Pogrome an den deutschen Vorhangs–geöffnet.Erbaute Parlaments- Juden das Gedenken vom Ritual entkleiden. kontaktenachMittel-und Osteuropa auf. Die Er wollte über das Ende der Weimarer westliche Sicherheitsallianz stand allerdings Republik aufklären, die politische Sogwirkung für Philipp Jenninger nieinfrage. des Nationalsozialismus beschreiben, Macht- Und er engagierte sich mit Nachdruck für die mechanismen offenlegen. europäische Idee: Bis 1990 stand er als Präsi- Philipp Jenninger war immer ein entschiede- dent der Europäischen Bewegung Deutschland ner Gegner totalitärer Herrschaft. In seinem vor –und er blieb diesem bereits 1949 von katholischen Elternhaus war man in der Paul Löbe und Eugen Kogon gegründeten Nazizeit standhaft geblieben und hatte, wie überparteilichen Zusammenschluss europa- er das selbst ausdrückte, Nachteile in Kauf politischer Interessengruppen als Ehrenpräsi- genommen, Verfolgung riskiert. Er hatte zwei dent immer eng verbunden. Brüder im Krieg verloren.

11 Das war ein Grund für sein demokratisches Engagement und eben die qualvolle Frage, wie es dazu kommen konnte –diese Frage, auf die man umso weniger Antwort findet, je mehr man sich darin vertieft. Damit ringt er in dieser Rede. Wenn man allein den Text liest, Manche wollten ihn damals auch nicht verste- dann versteht man nicht, was sich an diesem hen. Der Zeithistoriker Andreas Wirsching 10. November 1988 im Bundestag ereignete. fragt im Rückblick, ob Jenninger vielleicht hat Jenninger später –dawar insofern einen Tabubruch begangen habe, Bubis Vorsitzender des Zentralrats der als er den Rahmen des an dem Gedenktag Juden in Deutschland –verteidigt. Und er allgemein Akzeptablen sprengte, nicht dem hat Passagen der Rede selbst vorgetragen, gewohnten Muster folgte. „Ich habe versucht, unangekündigt, nur leicht verändert –ohne die Wahrheit zu sagen. Das hat man mir übel dass irgendjemand Anstoß nahm. genommen. Aber ich stehe zu jedem Wort, das Simon Wiesenthal, selbst Überlebender des ich gesagt habe“, sagte er später einmal. Holocaust, der Jenninger als Freund der Juden Die Wucht der öffentlichen Erregung, die und Freund Israels würdigte, sprach von einer Maßlosigkeit, auch die verleumderische großen politischen Tragödie. Verdrehung vieler Vorwürfe verletzten Philipp In der dem Anlass geschuldeten gedrückten Jenninger tief –und auch, dass so wenige Atmosphäre entwickelte sich ein Unglück, das seiner Freunde ihm zur Seite standen. Im poli- hernach niemand wirklich mehr verstehen tischen Bonn war Philipp Jenninger damals konnte. Das geschriebene Wort und die einsam. Das bleibt eine schmerzliche Wunde, Wirkung des Gesprochenen fielen auseinan- gerade auch für uns, die wir ihm politisch und der.Man kann in Bildaufzeichnungen selbst persönlich nahestanden. sehen, dass sich für ihn etwas Unerklärliches Und es bleibt ein politisches Lehrstück, wie vollzogen hat. unbarmherzig die politische Welt sein kann, Philipp Jenninger wollte viel. Vielleicht wollte auch damals, als von sozialen Netzwerken in er für diesen Anlass im Ergebnis zu viel. den Medien noch gar keine Rede war.

Bundestagspräsident Philipp Jenninger im Gespräch mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel, März 1987

12 Ein politisches Leben, immer respektiert und integer,durch das Missverständnis dieser einen Stunde schwer verletzt. Philipp Jenninger zauderte in dieser Situation nicht, er bewies Haltung, wie immer.Ertrat am Tagnach seiner Rede vom Amt des Bundes- tagspräsidenten zurück. Kurz darauf zollten ihm dafür die Abgeordneten aller Fraktionen Respekt und im Plenum Beifall. Dass Philipp Jenninger drei Jahre nach seinem Rücktritt als Botschafter in Wien in den diplo- matischen Dienst unseres Landes wechselte, war keine Wiedergutmachung, konnte es auch nicht sein. Aber dass er schließlich in der Zeit des Pontifikats von Johannes Paul II. unser Land beim Heiligen Stuhl vertrat, das So gedenken wir heute seiner –seiner integren empfand der gläubige Katholik ausdrücklich Persönlichkeit. Wirerinnern daran, dass er als „Krönung“ seines politischen Lebens. sich stets leiten ließ von seiner Überzeugung, Eminenz, Sie werden gleich viel kundiger seinem Verantwortungsbewusstsein und daran erinnern können als ich, und ich danke seinem katholischen Glauben. Wirwürdigen Ihnen im Namen des ganzen Hauses dafür. seine Fairness, seine Haltung, seine Grad- Meine Damen und Herren, Philipp Jenninger linigkeit. Wirwürdigen Philipp Jenningers genoss unbestritten Autorität und Vertrauen politisches Wirken, und wir würdigen seine –das seiner Wähler,seiner Kollegen und bleibenden Verdienste um unser Land. derjenigen, für die er arbeitete und mit denen er zusammenarbeitete. Das Vertrauen war Der Deutsche Bundestag wird seinem verstor- verdient, Vertrauen, das auch heute Politikern benen Präsidenten Philipp Jenninger ein oft verwehrt bleibt. ehrendes Andenken bewahren.

13 Herr Bundespräsident! Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren Präsidenten! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und Herren! Verehrte, liebe Frau Jenninger!

Der Todvon Philipp Jenninger hat viele Menschen berührt. In erster Linie möchte ich Ihnen, verehrte Frau Jenninger,und Ihrer Familie mein tiefempfundenes Mitgefühl aussprechen. Der Todvon Philipp Jenninger hat auch viele berührt, die ihn als einen Politiker mit Herzblut und mit Herz kannten. Auch mich hat dieser Todbetroffen gemacht. Wirgehören fast aufs Jahr genau derselben Generation an, einer Generation, die während des Zweiten Weltkrieges aufgewachsen ist, die alt genug ist, um noch Erinnerungen zu haben an Krieg, Bombennächte, Vertreibung, den Verlust nächster Angehöriger.Zwei ältere Brüder von Philipp Jenninger sind im Krieg geblieben. Wirwaren zugleich jung genug, um nicht zum Dienst mit der Waffe herangezogen zu werden oder in die Verbrechen des damaligen Regimes persönlich einbezogen zu sein.

Ansprache Seiner Eminenz Walter Kardinal Kasper, ehemaliger Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen

14 Philipp Jenninger,am10. Juni 1932 geboren, ist aufgewachsen in einer Familie, die fest im christlichen Glauben verwurzelt ist. Das bedeutete für ihn nicht Enge, sondern sein Zuhause, Kompass, Orientierung im Leben. Er ist groß geworden im ostwürttembergischen Ellwanger Raum, einer Stadt europäischer Geschichte, die bis auf Karl den Großen Philipp Jenninger war der letzte Überlebende zurückgeht, die im Dreißigjährigen Krieg, des Ellwanger Kreises, in dem sich damals an dessen Ende wir in diesem Jahr erinnern, führende, heute den meisten kaum mehr schwer gelitten hat. Diese europäische und dem Namen nach bekannte Politiker über die deutsche Geschichte hat ihn schon früh Grundlagen einer neuen staatlichen Ordnung geprägt. Gedanken machten und das Grundgesetz von Nach dem Krieg haben wir uns als Gymnasias- 1949 mit vorbereiteten. In ihnen begegnete ten in der damaligen bündischen kirchlichen sich menschlich verkörperte und in den Jugendbewegung kennengelernt. Sie ist nach zwölf Jahren zuvor schmerzlich durchlittene dem Zusammenbruch der alten bürgerlichen Tradition. Ordnung Europas im Ersten Weltkrieg –dieses Navid Kermani hat an dieser Stelle vor einiger Jahr vor genau 100 Jahren –zwischen den Zeit daran erinnert, dass das Grundgesetz beiden Weltkriegen als Aufbruch zu einem nicht das Ergebnis von Umfragen oder neuen, natürlichen, naturverbundenen Stimmungen von damals war.Die Menschen Lebensstil entstanden. Im Dritten Reich hatten andere Sorgen; es galt, den schwierigen verboten, ist sie nach 1945 zu neuem Leben Alltag zu bewältigen. Das Grundgesetz haben erstanden. Dort haben wir Gemeinschaft wir Männern und Frauen zu verdanken, die erfahren und früh gelernt, Verantwortung für nach dem moralischen und politischen Ruin die Gemeinschaft zu übernehmen. aus tiefen Überzeugungen die Grundlagen für Viele Männer und Frauen, welche den geis- unsere Gesellschaft gelegt haben, auf denen tigen und moralischen Neuanfang nach 1945 wir bis heute aufbauen und auf die wir stolz gestaltet haben, gingen aus dieser und aus sein dürfen. Philipp Jenninger ist einer der ökumenisch verwandten Bewegungen hervor. Letzten dieser Generation.

15 Nicht alle Blütenträume gingen auf –einige schon. Die ökumenische Öffnung der Kirchen hat uns befeuert, und im soeben zu Ende gegangenen Jahr hat sie Früchte getragen, wenngleich noch längst nicht alle aufgegan- gen sind. Für uns Junge war der Aufbau der demokrati- Philipp Jenninger ging nach dem Studium der schen Institutionen, zunächst in den Gemein- Rechts- und Staatswissenschaften denWeg in den, dann in den Ländern und schließlich im die Politik.Von 1969bis 1990 war er Bund, faszinierende Staats- und Sozialkunde 21 Jahre im Bundestag, von 1984 bis 1988 live. Mit Spannung hatten wir am Radio die dessen Präsident. Diespäten 60er-und ersten Bundestagsdebatten verfolgt. Die im beginnenden 70er-Jahrebezeichnen dasEnde Grunde einzige neue, aber zukunftsträchtige der unmittelbarenNachkriegszeit.Die Studen- politische Nachkriegsidee, die europäische tenbewegung leitete einen gesamtgesellschaft- Einigung, erweckte in uns Begeisterung. lichen, bis heute fortwirkendenProzessein. Der Nationalismus hatte unsägliches Unglück Im politischen wie im akademischen Raum über Europa gebracht. Nun sollten aus war es dieZeitharter,leider auch gewalttätiger Feinden Freunde werden und in Europa eine Auseinandersetzungen und manchmal auch in dieser Art neue Friedensordnung entstehen. problematischer Idole. Ins Ausland reisen –damals mit dem Philipp Jenninger,der in der damaligen Bonner Fahrrad –war ein neues Erlebnis, das heute Republik vieleÄmter innehatte, hat damals für junge Menschen –Gott sei Dank –selbst- nicht zurück-,sondern nach vorne geschaut. In verständlich ist. diesen Jahren fielen wichtige Entscheidungen Es ging uns freilich auch das ganze Ausmaß für die Einheit Deutschlands, an denen Philipp des unfassbaren, grauenvollen Verbrechens Jenninger weitsichtig,vorausschauend und der Schoah auf. Die Versöhnung mit dem mit langem Atem maßgebend beteiligt war. Der Judentum prägte sich tief in uns ein. Sie hat langeAtemund die Weitsicht habensich 1989 die Politik, sie hat auch die Theologie verän- für uns alle gelohnt. dert –hoffentlich für immer. ErwinTeufel nannte PhilippJenninger Wirwären nicht jung gewesen, hätten wir einenchristlichen Demokraten ausinnerster nicht auch Sehnsüchte gehabt, und es wäre Überzeugung. Das Parlament warihm Forum schlimm um uns bestellt gewesen, hätten wir der Nation, in dem die wichtigsten Angele- nicht über die Realitäten hinaus geträumt. genheitender Nation erörtert werden. Er war

Seite 15: „Philipp Jenningers Fairness und Noblesse in noch so leidenschaftlicher Auseinander- setzung haben ihm über die Partei- grenzen hinweg Achtung und Ansehen verschafft“ –Walter Kardinal Kasper in seiner Trauer- ansprache

Seite 17: Ehrengäste auf der Besuchertribüne

16 Philipp Jenninger war ein solcher zupacken- der Konservativer, fleißig, tüchtig, rechtschaf- fen, geradlinig, verlässlich, bodenständig, heimatverbunden und zugleich weltoffen und Demokrat aus christlicher Grundüberzeugung. sehr wohl wissend, dass solcher Idealismus Für ihn war das Diktum von Ernst-Wolfgang Tapferkeit verlangt: Tapferkeit, die bereit ist, Böckenförde, 1983 bis 1996 Richter am um des Ideals willen Nachteile, Verletzungen Bundesverfassungsgericht, maßgebend: „Der und Wunden in Kauf zu nehmen. freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Er war ein leidenschaftlicher Demokrat. Voraussetzungen, die er selbst nicht garan- Demokratie lebt von Auseinandersetzungen, tieren kann.“ Die jüdisch-christliche und die die um der Sache des Lebens, der Freiheit, humanistische Tradition gehören dazu. der Gerechtigkeit willen gelegentlich Freiheit ist ein Funke und ein Abbild des leidenschaftlich sein müssen. Wenn das Absoluten, vom Schöpfer gegeben, sagten die Ringen um Positionen aber dazu führt, Väter der amerikanischen Unabhängigkeitser- Personen fertigzumachen, herabzusetzen und klärung. Der Staat kann und muss sie schüt- zu demütigen, dann wird die Grundvoraus- zen, ihr Raum geben und sie fördern. Aber setzung der Demokratie beschädigt, dass die dass Menschen frei sind, dass sie und wie sie Würde des Menschen unantastbar ist. Philipp von ihrer Freiheit verantwortlich Gebrauch Jenningers Fairness und Noblesse in noch so machen, kann er nicht machen. leidenschaftlicher Auseinandersetzung haben Philipp Jenninger war ein konservativer ihm über die Parteigrenzen hinweg Achtung Idealist. Konservativ und Idealist: Das scheint und Ansehen verschafft. ein Paradox zu sein. Doch man kann –nach Enttäuschungen und Missverständnisse blie- einer biblischen Parabel –das anvertraute ben ihm nicht erspart. Das gilt insbesondere Erbe nicht bewahren, indem man es im für jene Rede, die er am 10. November 1988 Boden vergräbt, sondern nur,indem man zur Erinnerung an 50 Jahre Reichspogrom- damit wuchert und es fruchtbar macht. Nur nacht 1938 im Bundestag gehalten hat. Ich wer weiß, woher er kommt, weiß, wo er steht habe sie nochmals gelesen und sie nochmals und wohin er gehen soll. Nicht wer wankt im Internet abgehört. Rhetorisch war sie und schwankt, wer vielmehr fest steht, kann ungeschickt vorgetragen. Daraus konnten aufbrechen und weitergehen. Missverständnisse entstehen.

17 Wirsollten vor allem junge Menschen nicht unterschätzen, nicht unterfordern. Wir sollten sie nicht überfordern, aber doch herausfordern, damit sie zeigen können, was in ihnen steckt, und das ist weit mehr,als wir oft denken. Nur durch Herausforderungen können sie wachsen. Aber inhaltlich war es eine große Rede. Dass Philipp Jenninger hat für seine Zumutung sie politisch korrekt war,hat Ignatz Bubis, von bezahlt. Er hat nicht lange gefackelt, sondern 1992 bis 1999 Vorsitzender des Zentralrats der sehr schnell Konsequenzen gezogen. Er wollte Juden in Deutschland, gezeigt. Er hat Passagen sein Amt nicht beschädigen. Das ist nicht aus der Rede in seine eigene Rede aufgenom- einfach normal. Das ist nobel. Er sagte, er habe men und dafür Beifall bekommen. das mit dem Herrgott ausgemacht. Für manche Die Rede war eine Zumutung. Sie hatte den mag das altväterlich klingen. Werjedoch Mut, Lebenslügen zu zerstören. So etwas hört jemals solche Situationen durchgestanden man ja nicht gerne. Sie ließ keinen Zweifel hat, weiß, in welche Tiefe das geht, und wird daran, dass es eine verbrecherische Clique jedem anderen, der solches ehrlich sagt, den war,welche 1933 die Macht in Deutschland Respekt nicht versagen. übernahm. Aber sie fragte: Wiekonnte es dazu Enttäuschungen und Verletzungen bleiben, bei kommen? Warum ließen sich so viele blenden Philipp Jenninger blieb jedoch keine Verbitte- und oft faszinieren? Warum gab es so viele rung. Auch das ist Größe. Mitläufer,soviel Wegschauen und so wenig Er hat Neues begonnen, ist in den Auswär- Widerstand? Das zu verstehen, heißt nicht im tigen Dienst gegangen, zuerst nach Wien, Geringsten, es zu entschuldigen, heißt aber, dann war er zwei Jahre als Botschafter beim demütig und wachsam zu werden. VorBefan- Heiligen Stuhl in Rom. Er bezeichnete diese genheit und Sich-gefangen-nehmen-Lassen zwei Jahre als die Krönung seiner Laufbahn. von Stimmungen ist auch heute keiner gefeit. Das war nicht naiv als Erfüllung eines Philipp Jenninger hat mit dieser Rede seinen Jugendtraums gemeint. Ich habe Ähnliches Zuhörern viel zugemutet, vielleicht auch sich von manchen Botschaftern beim Heiligen selbst. Aber sollte Politik nicht auch den Mut Stuhl gehört, die zuvor rund um die Welt auf haben, Zumutungen auszusprechen? wichtigen Posten waren und die mir sagten:

Blick in den Plenarsaal während der Rede von Walter Kardinal Kasper

18 Der Ruhestand war der friedliche Ausklang eines Lebens, das mit 85 Jahren die Geschichte und die Geschicke fast eines Jahrhunderts Das hier ist der interessanteste; hier werden –und was für ein Jahrhundert –umspannte. die Grundfragen der Politik der Welt disku- Man muss am Ende vieles lassen. Philipp tiert. Jenninger hat diese Gelassenheit gelernt, Rom ist eine Stadt, in der wie wohl in keiner aber er hat niemand verlassen. Er blieb den anderen europäische Geschichte präsent ist Menschen und blieb der Heimat treu und hat und in der zugleich deutlich wird: Europa war sich weiter um sie und um das Geschehen in in seiner ganzen Geschichte keine homogene der Welt gekümmert. Im Kreis der Familie, Einheit, sondern immer ein Kreuzungspunkt zusammen mit seiner Frau hat er auch den der Kulturen und ist es heute wieder.Kreu- letzten Wegbestanden. Tapfer,aufrecht und zungspunkt der Kulturen, das ist die Größe gläubig. Europas. Philipp Jenninger war angetan von der Ostpolitik von Johannes Paul II. Er kam Als Christ sage ich: Er möge ruhen in Frieden. aus Krakau. Krakau war bis 1918 Habsburg. Für alle aber sind sein Leben und sein Tod, Johannes Paul II. war ein polnischer Patriot, eben um Zukunft zu haben, Grund, die Erin- aber er war kein polnischer Nationalist. Er nerung an dieses dramatische, tragische und hatte die Vision eines respektvollen Zusam- dann doch wieder zur Hoffnung berechtigende menlebens von Völkern und Kulturen –gerade Jahrhundert wachzuhalten. Auch darum in Wien –inOst und West. Er war wie Philipp halten wir Philipp Jenninger in hochachtungs- Jenninger ein Europäer. voller,dankbarer und guter Erinnerung.

19 Bundesratspräsident Michael Müller,Walter Kardinal Kasper, die Witwe des Verstorbenen, Ina Jenninger,Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier,Bundes- tagspräsident Wolfgang Schäuble, Bundeskanzlerin , Vizepräsident des Bundesverfas- sungsgerichts Ferdinand Kirchhof (v.l.)

Seite 21: Ensemble der Kammer- musikklasse des Artemis Quartetts

20 Musikalische Begleitung durch ein Ensemble der Kammermusikklasse des Artemis Quartetts

Erste Geige: Seiji Okamoto Zweite Geige: Asuka Imajo Bratsche: Meguna Naka Cello: Christoph Heesch

Ludwig van Beethoven Streichquartett Nr.12Es-Dur,Opus 127 Erster Satz Maestoso –Allegro

Ludwig van Beethoven Streichquartett Nr.12Es-Dur,Opus 127 Zweiter Satz Adagio, ma non troppo emolto cantabile

Nationalhymne

21 Dr.Philipp Jenninger

Geboren am 10. Juni 1932 in Rindelbach/Jagst Verstorben am 4. Januar 2018 in

Mitglied des Deutschen Bundestages 1969 bis 1990

Parlamentarischer und Erster Parlamen- tarischer Geschäftsführer der CDU/CSU- Bundestagsfraktion 1973 bis 1982

Staatsminister im Bundeskanzleramt 1982 bis 1984

Präsident des Deutschen Bundestages 1984 bis 1988

Präsident des Deutschen Rates der Europä- ischen Bewegung (danach Ehrenpräsident) 1985 bis 1990

Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Österreich 1991 bis 1995

Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl in Rom 1995 bis 1997

22 Der Deutsche Bundestag wird seinem verstorbenen Präsidenten Philipp Jenninger ein ehrendes Andenken bewahren

23 Impressum

Herausgeber: Deutscher Bundestag, Referat IO 2Öffentlichkeitsarbeit Platz der Republik 1, 11011 Berlin www.bundestag.de Koordination: Tibor Pirschel, Thomas Karisch

Protokollierung: Deutscher Bundestag, Stenografischer Dienst Lektorat: Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) Gestaltung: Deutscher Bundestag, Referat ZT 5 Bundestagsadler: Urheber Prof. Ludwig Gies, Bearbeitung 2008 büro uebele Fotos: Seite 1Ulrich Wienke (Porträt); Seite 2, 4, 7, 15, 17, 19, 20, 21, 23 Florian Gaertner/photothek/Deutscher Bundestag; Seite 9, 11, 13 Presse-Service Steponaitis Druck: Druckhaus Waiblingen, Remstal-Bote GmbH, Waiblingen

Stand: März 2018 ©Deutscher Bundestag, Berlin Alle Rechte vorbehalten.

In der Mediathek des Deutschen Bundestages (www.bundestag.de/mediathek) findet sich ein vollständiger Mitschnitt der Gedenkstunde.

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