SWR2 Musikpassagen Inland, Ausland, Neuland Die Musikalische Welt Des Pyrolator
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SWR2 Musikpassagen Inland, Ausland, Neuland Die musikalische Welt des Pyrolator Von Thomas Groetz Sendung: Sonntag, 6. Januar 2019 Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Produktion: SWR 2019 SWR" Musikpassagen können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. 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Kurt Dahlke: Ich wollte immer einen Synthesizer haben. Ich konnte mir aber keinen leisten, und hab dann einfach meinen Eltern gesagt: Ich komm dieses Jahr nicht mit in Ferien. Ich hab (...) bei einer Warenhauskette (…) im Versand Waren ausgezeichnet und mir davon meinen ersten Synthesizer (...) leisten können. (…) Und später dann konnte ich mir einen weiteren Synthesizer kaufen, und (…) mit dem ist dann auch (…) meine erste Platte entstanden. Autor 2: Seine Platte veröffentlicht Kurt Dahlke unter einem Pseudonym: Pyrolator steht auf dem grauen Cover, auf dem auch ein Foto eines Anzugträgers zu sehen ist, der auf einer Rolltreppe abwärts fährt. Kurt Dahlke: Ich wollte gerne eine Instrumentalmusik machen, die trotzdem die Form eines Protestsongs hat. (…) Für mich ist das eigentlich ein Abbild dieser Situation in Deutschland – wie man heute diese Zeit bezeichnet: Deutschland im Herbst, also die Zeit des Nato-Doppelbeschlusses, der Stationierung der Pershing- Raketen, die Berufsverbote, das war alles so eine (…) graue, bleierne Zeit, und die habe ich versucht, mit dieser Platte auch darzustellen. Autor 3: Kurz vor Fertigstellung der LP stieß Kurt Dahlke in Wuppertal, wo er in einem heruntergekommenen Industrieviertel lebt, auf eine Initiative namens Art Attack. Diese erste Punk- bzw. New Wave-Galerie Deutschlands wurde von Frank Fenstermacher und Moritz Reichelt betrieben. Kurt Dahlke: Ich war von der ganzen Atmosphäre und von dem Ganzen, was da passierte in der Galerie so begeistert, dass sich daraus ne Freundschaft entwickelt hat. Ich hab zum Beispiel schon am ersten Tag gemerkt, die haben eine Band, damals hießen die Karman Ghias. (…) Und das Instrument hieß Micky-Orgel, das war so ne orangene Billig-Orgel, die sie gespielt haben mit Rhythmusgerät. Und gesungen haben sie über eine Gegensprechanlage. Und das fand ich so faszinierend, da habe ich gedacht: Wow, das möchte ich auch, da möchte ich auch Teil davon sein. Und so habe ich mich an beiden angeschlossen und daraus ist dann Der Plan geworden. Autor 4: Art Attack und Der Plan sind ohne die Aufbruchstimmung, die mit Punk und New Wave einher ging, nicht vorstellbar. Der aus England und Amerika stammende Punk war ein Signal der Selbstermächtigung – jeder konnte musizieren und Platten machen. Da sich Düsseldorf neben Hamburg und Berlin als Zentrum der Szene herausbildete, zog Der Plan in die Rhein-Metropole um. Dort gründeten die drei ein Plattenlabel, das in Abwandlung von Art Attack den Namen Ata Tak erhielt. Schon bald erschien die erste LP des Plan mit dem Titel Geri Reig. Kurt Dahlke: Moritz reiste als erster von uns dreien in die USA und kam völlig 2 begeistert aus Kalifornien wieder. Und letztlich ist der Titel Geri Reig von Der Plan in Kalifornien entstanden, nämlich to jerry reeg, aus wenig etwas machen, also beispielsweise wenn ein Auspuff kaputt geht, das man den einfach mal schnell mit Gaffer Tape klebt, das ist to jerry reeg. Autor 5: Musikalische Basis der LP war Kurt Dahlkes Synthesizer Korg MS 20, ein damals neues und vor allem erschwingliches Gerät, das bereits im ersten Stück der Platte mit dem Titel Adrenalin lässt das Blut kochen zu hören ist. Kurt Dahlke: Dieser MS 20 hatte die Möglichkeit, dass man mit äußeren Signalen, (…) zum Beispiel mit ner Gitarre oder mit irgendwelchen anderen Sounds in den Synthesizer rein ging, und dann den Synthesizer in seinen Möglichkeiten des Filters und der Modulation benutzen konnte. Und so ist dieses Stück auch entstanden, indem nämlich die (…) Rhythmusmaschine, die in dieser Micky-Orgel drin war, in den MS 20 umgeleitet wurde, und dadurch eben so ein Rhythmus entstanden ist. Musik 2: Der Plan: Adrenalin lässt das Blut kochen ( 0:00 – 3:11 ) Autor 6: Bald schon arbeitete Der Plan an einer zweiten LP, die den französischsprachigen Titel Normalette Surprise trägt. Der groteske Song Renate schildert brenzlige Situationen. Kurt Dahlke: Es gibt eine Textzeile in dem Stück, die heißt: Renate, im Toaster britzelts so komisch, oder so ähnlich. Und wir wollten dieses Britzeln nachstellen und irgendwie haben wir es nicht geschafft, (...), so, dass ich gesagt habe: Ach, guck mal, ich hab noch so einen alten Trafo von meiner Modelleisenbahn, und wenn ich da einfach einen Kurzschluss erzeuge, das britzelt wirklich schön! (...) Und wir kommen also dann mit den Bändern zum Überspielen in das Überspiel-Studio. (...) Und in dem Moment, wo dieser Sound – es britzelt so komisch im Toaster kommt, bricht dem armen Überspieler der Stichel ab, und er schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: „Her Dahlke, was haben sie da wieder gemacht?“ Musik 3: Der Plan: Renate ( 0:00 – 2:13 ) Autor 7: Nach Veröffentlichung der LP Normalette Surprise entstand die zweite Soloplatte des Pyrolator. Sie verhält sich antithetisch zur ersten: Nach dem Inland geht es jetzt ins Ausland. Kurt Dahlke: Wir haben dann Geld in die Hand genommen und haben ein Studio gemietet. (…) In diesem Studio habe ich dann alle möglichen Freunde eingeladen, eben Sänger, Frank singt ein paar Stücke, (…) Eberhard Steinkrüger, der kam damals gerade frisch aus Südamerika zurück, und sang dann über seine Erfahrungen (...). Es gibt eine Französin, die singt ein Lied in Französisch, es gibt ein Stück in Holländisch. (…) Und eben zum Beispiel der Fredric Nilsen von der Los Angeles Free Music Society. (…) Also, das war ein Anspruch, ne möglichst internationale Platte zu machen.(…) Also ich hab da versucht, so ein bisschen funky zu sein, und eben diese ganz stringente Synthesizer-Ästhetik aufzubrechen. Autor 8: Die LP Ausland dokumentiert nicht nur Einflüsse des Funk, der ab ca. 1981 in der internationalen New Wave eine Rolle spielt – zugleich finden sich Rap- Elemente. 3 Kurt Dahlke: Man sagt ja immer, der Rap hätte in den 80er Jahren so 82 / 83 erst stattgefunden, aber ich wage zu behaupten, (…) meine Platte ist ja 1981 rausgekommen, und (...) die beiden Stücke Max und auch Bacano Brothercito sind natürlich auch vom Elektrosound New Yorks beeinflusst, und auch von dem Hip Hop, den ich damals (…) in New York gehört habe. Musik 4: Pyrolator: Max ( 0:00 – 3:14 ) Autor 9: Mit der international ausgerichteten LP Ausland thematisiert Kurt Dahlke das Verhältnis zwischen Einheit und Vielfalt, und damit auch die Frage nach der Identität. Ein Pseudonym kam dabei wie gerufen. Kurt Dahlke: Als Pyrolator habe ich das tatsächlich so gemacht, dass ich den Namen mehr oder minder angenommen habe, weil ich selber nur schwerlich am Telefon sitzen (…) und sagen konnte: Ja, guten Tag, hier ist Kurt Dahlke, ich hab da ne ganz neue tolle Platte gemacht. Habt ihr die nicht Lust, in euren Laden aufzunehmen. Das klingt ziemlich doof. Insofern hab ich dann gedacht, ich bräuchte nen Künstlernamen, insofern kann ich mich einfach besser vertreten, wenn ich über ne dritte Person spreche. Autor 10: Identität in der Form von kultureller Identität wurde wiederum für den Plan und sein Label bedeutsam. Kurt Dahlke: Wir hatten damals Besuch von Boyd Rice. Boyd Rice ist ein ganz heftiger Avantgarde-Noise-Künstler aus Kalifornien gewesen (...). Und der hat uns damals gesagt: Mensch, ihr Deutschen habt ja echt ein Problem mit eurer Geschichte, ihr verweigert euch den großen Musikern eurer Vergangenheit nur aufgrund dieser ganzen Nazi-Geschichte. Es gibt doch so phantastische Operetten, Komponisten wie Robert Stolz, es gibt Hindemith, es gibt den deutschen Schlager, es gibt diese ganze Musik der 20er / 30er Jahre. Warum beruft ihr euch eigentlich immer nur auf (…) das Anglo-Amerikanische und diese ganze Pop- und Rockmusik, die aus England und den USA kommt, ihr habt doch selber so ne tolle Musiktradition! Autor 11: Ein weiterer Besucher im Ata Tak-Studio war ein Sechzehnjähriger, der spontan aus dem Norden der Republik angereist war. Kurt Dahlke: Ein junger Schüler aus Hamburg, der wiederum die Idee hatte, auf jedem deutschen Label ne Single zu machen (...) spielt uns ein Stück vor, und das heißt Fred vom Jupiter, (...) das war Andreas Dorau. Und mit diesem Ding im Hinterkopf von Boyd Rice, wir sollten doch mal uns dem deutschen Schlager auch öffnen, haben wir gesagt: Das ist eine gute Idee, das ist ein tolles Stück, das bringen wir jetzt einfach raus! (...) Und dass das so reinknallen würde und letztlich – kann man fast sagen die Neue Deutsche Welle ausgelöst hat,(...) das konnten wir damals natürlich nicht ahnen.