Plenarprotokoll 15/63

Deutscher

Stenografischer Bericht

63. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Inhalt:

Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag Zusatztagesordnungspunkt 1: der Abgeordneten ...... 5283 A Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage Benennung des Abgeordneten Martin im Irak ...... 5304 C Hohmann zum stellvertretenden Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss gemäß Art. 53 a des in Verbindung mit Grundgesetzes ...... 5283 A Erweiterung der Tagesordnung ...... 5283 B Tagesordnungspunkt 20: Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 5284 B Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Begrüßung des Präsidenten des tunesischen Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Ab- Parlaments M’Bezaa ...... 5310 C geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Den politischen Neubeginn und Aufbau des Irak mitgestalten Tagesordnungspunkt 2: (Drucksache 15/1011) ...... 5304 C Abgabe einer Erklärung durch die Bun- Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 5304 D desregierung zu den Ergebnissen der Dr. CDU/CSU ...... 5307 C Europäischen Bildungsministerkonfe- renz am 18./19. September 2003 in Ber- Dr. Ludger Volmer BÜNDNIS 90/DIE lin ...... 5284 B GRÜNEN ...... 5310 C , Bundesministerin Dr. FDP ...... 5313 C BMBF ...... 5284 C Heidemarie Wieczorek-Zeul, CDU/CSU ...... 5288 B Bundesministerin BMZ ...... 5315 A SPD ...... 5289 D Dr. Guido Westerwelle FDP ...... 5316 C Ulrike Flach FDP ...... 5293 A Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin BMZ ...... 5317 B Jörg Tauss SPD ...... 5294 B fraktionslos ...... 5317 C Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 5295 B Dr. Christian Ruck CDU/CSU ...... 5318 C Marion Seib CDU/CSU ...... 5296 B Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 5298 A Tagesordnungspunkt 24: Dr. SPD ...... 5298 D a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. CDU/CSU ...... 5301 D Gesetzes zur Förderung der Steuer- Anna Lührmann BÜNDNIS 90/DIE ehrlichkeit GRÜNEN ...... 5303 D (Drucksache 15/1521) ...... 5320 D II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

b) Erste Beratung des von der Bundesre- i) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gierung eingebrachten Entwurfs eines gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Gesetzes zu dem Internationalen zur Änderung der Abgabenordnung Übereinkommen der Vereinten Na- (Drucksache 15/904) ...... 5321 C tionen vom 9. Dezember 1999 zur Bekämpfung der Finanzierung des j) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Terrorismus gebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Drucksache 15/1507) ...... 5320 D zur Änderung des Sozialgesetzbu- ches – Achtes Buch – (SGB VIII) c) Erste Beratung des von der Bundesre- (Drucksache 15/1406) ...... 5321 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer k) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Übergangsregelung zum Kind- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes schaftsrechtsreformgesetz für nicht zur effektiveren Nutzung von Da- miteinander verheiratete Eltern teien im Bereich der Staatsanwalt- (Drucksache 15/1552) ...... 5320 D schaften d) Erste Beratung des von der Bundesre- (Drucksache 15/1492) ...... 5321 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom l) Antrag der Abgeordneten Johannes 29. April 2003 zwischen der Bundes- Kahrs, Eckhardt Barthel (Berlin), wei- republik Deutschland und dem Kö- terer Abgeordneter und der Fraktion nigreich der Niederlande über die der SPD sowie der Abgeordneten Durchführung der Flugverkehrs- (Köln), kontrolle durch die Bundesrepublik (Augsburg), weiterer Abgeordneter Deutschland über niederländischem und der Fraktion des BÜNDNIS- Hoheitsgebiet und die Auswirkungen SES 90/DIE GRÜNEN: Denkmal für des zivilen Betriebes des Flughafens die im Nationalsozialismus verfolg- Niederrhein auf das Hoheitsgebiet ten Homosexuellen des Königreichs der Niederlande (Drucksache 15/1320) ...... 5321 C (Gesetz zu dem deutsch-niederländi- schen Vertrag vom 29. April 2003 m) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer über den Flughafen Niederrhein) (Hamburg), , weiterer (Drucksache 15/1522) ...... 5321 A Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Wirtschaftliche und or- e) Erste Beratung des von der Bundes- ganisatorische Strukturen der Deut- regierung eingebrachten Entwurfs schen Flugsicherung dauerhaft ver- eines Gesetzes zu dem Abkommen bessern vom 18. September 2002 zwischen (Drucksache 15/1322) ...... 5321 D der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, den Vereinten Natio- n) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer nen und dem Sekretariat des Über- (Hamburg), Klaus Brähmig, weiterer einkommens zur Erhaltung der Abgeordneter und der Fraktion der wandernden wild lebenden Tierar- CDU/CSU: Sicherheit im Busver- ten über den Sitz des Sekretariats kehr des Übereinkommens (Drucksache 15/1528) ...... 5322 A (Drucksache 15/1473) ...... 5321 A f) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- o) Antrag der Fraktionen der SPD, der gebrachten Entwurfs eines Gesetzes CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ zur Änderung rehabilitierungsrecht- DIE GRÜNEN und der FDP: Deutsch licher Vorschriften als Arbeitssprache auf europäischer (Drucksache 15/1467) ...... 5321 B Ebene festigen – Verstärkte Förde- rung von Deutsch als erlernbare g) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Sprache im Ausland gebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Drucksache 15/1574) ...... 5322 A zur Änderung luftverkehrsrechtli- cher Vorschriften (Drucksache 15/1469) ...... 5321 B Zusatztagesordnungspunkt 2: h) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines a) Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Gesetzes zur Modernisierung des In- Paziorek, Ulrich Petzold, weiterer Ab- vestmentwesens und zur Besteue- geordneter und der Fraktion der CDU/ rung von Investmentvermögen (In- CSU: Vorsorgender Hochwasser- vestmentmodernisierungsgesetz) schutz im Binnenland (Drucksache 15/1553) ...... 5321 B (Drucksache 15/1561) ...... 5322 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 III

b) Antrag der Abgeordneten Hans- dem Königreich Thailand über Michael Goldmann, Dr. Christel die Förderung und den gegensei- Happach-Kasan, , tigen Schutz von Kapitalanlagen weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksachen 15/1054, der FDP: Gleiche Nachweispflichten 15/1366) ...... 5 .323 . . . D, 5324 A für Apotheken und Tierärzte bei der – Zweite Beratung und Schlussab- Abgabe von Tierarzneimitteln stimmung des von der Bundesre- (Drucksache 15/1568) ...... 5322 B gierung eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. August 2002 zwischen Tagesordnungspunkt 25: der Bundesrepublik Deutsch- b) Zweite und dritte Beratung des von land und der Islamischen Repu- der Bundesregierung eingebrachten blik Iran über die gegenseitige Entwurfs eines Gesetzes zur Reform Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen des Zulassungs- und Prüfungsver- (Drucksachen 15/1055, fahrens des Wirtschaftsprüfungs- 15/1366) ...... 5. 323. . . D, 5324 B examens (Wirtschaftsprüfungsexa- mens-Reformgesetz – WPRefG) – Zweite Beratung und Schlussab- (Drucksachen 15/1241, 15/1585) . . . . 5322 C stimmung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines c) Zweite Beratung und Schlussabstim- Gesetzes zu dem Abkommen vom mung des von der Bundesregierung 30. März 1998 zwischen der eingebrachten Entwurfs eines Geset- Bundesrepublik Deutschland und zes zu dem Übereinkommen vom Brunei Darussalam über die För- 9. September 1996 über die Samm- derung und den gegenseitigen lung, Abgabe und Annahme von Ab- Schutz von Kapitalanlagen fällen in der Rhein- und Binnen- (Drucksachen 15/1057, 15/1366) 5324 A, B schifffahrt (Drucksachen 15/1056, 15/1580 . . . . . 5322 D h)–l) d) Zweite und dritte Beratung des von der Beschlussempfehlungen des Petitions- Bundesregierung eingebrachten Ent- ausschusses: Sammelübersichten 55, wurfs eines Ausführungsgesetzes zu 56, 57 und 59 zu Petitionen (Drucksachen 15/1533, 15/1534, 15/ dem Übereinkommen vom 9. Sep- 1535, 15/1537) ...... 5324 B, C tember 1996 über die Sammlung, Abgabe und Annahme von Abfällen in der Rhein- und Binnenschifffahrt Zusatztagesordnungspunkt 3: (Drucksachen 15/1061, 15/1581) . . . . 5323 A Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frak- e) Zweite Beratung und Schlussabstim- tion der CDU/CSU: Haltung der Bundes- mung des von der Bundesregierung ein- regierung zu Rufen aus der Koalition gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu nach personellen Konsequenzen ange- dem Vertrag vom 25. Februar 2002 sichts immer neuer Finanzausfälle und über die Änderung des Grenzvertra- Verzögerungen bei der LKW-Maut . . . 5324 D ges vom 8. April 1960 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU ...... 5324 D dem Königreich der Niederlande Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister (Drucksachen 15/1053, 15/1577) . . . . 5323 B BMVBW ...... 5326 A f) Zweite Beratung und Schlussabstim- (Bayreuth) FDP ...... 5327 D mung des von der Bundesregierung Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ eingebrachten Entwurfs eines Geset- DIE GRÜNEN ...... 5329 B zes zu dem Vertrag vom 29. Juni 2000 über ein Europäisches Fahr- Eduard Oswald CDU/CSU ...... 5330 D zeug- und Führerscheininforma- SPD ...... 5332 A tionssystem (EUCARIS) (Drucksachen 15/1058, 15/1578) . . . . 5323 C Joachim Günther (Plauen) FDP ...... 5333 B Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ g) – Zweite Beratung und Schlussab- DIE GRÜNEN ...... stimmung des von der Bundesre- 5334 B gierung eingebrachten Entwurfs ei- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 5335 C nes Gesetzes zu dem Vertrag vom Reinhard Weis (Stendal) SPD ...... 5337 A 24. Juni 2002 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 5338 B IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Georg Brunnhuber CDU/CSU ...... 5338 D Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Gunter Weißgerber SPD ...... 5340 A Fraktion des BÜNDNISSES 90/ CDU/CSU ...... 5341 B DIE GRÜNEN: Lasten gerecht verteilen – Mehr Unternehmen SPD ...... 5342 D für Ausbildung gewinnen – zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 3: Katherina Reiche, , weiterer Abgeordneter und der a) Antrag der Abgeordneten Katherina Fraktion der CDU/CSU: Ausbil- Reiche, Thomas Rachel, weiterer Ab- dungsplatzabgabe zerstört Aus- geordneter und der Fraktion der CDU/ bildungsmotivation CSU: Stärkung der dualen Berufs- ausbildung in Deutschland durch – zu dem Antrag der Abgeordneten Novellierung des Berufsbildungs- , Christoph rechts Hartmann (Homburg), weiterer (Drucksache 15/1348) ...... 5344 A Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ausbildung belohnen statt b) Beschlussempfehlung und Bericht des bestrafen – Ausbildungsplätze in Ausschusses für Bildung, Forschung Betrieben schaffen statt Warte- und Technikfolgenabschätzung: schleifen finanzieren – zu der Unterrichtung durch die (Drucksachen 15/1090, 15/925, Bundesregierung: Berufsbildungs- 15/1130, 15/1304) ...... 5344 C bericht 2003 Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BMBF 5344 D – zu dem Antrag der Abgeordneten , Jörg Tauss, weiterer Dagmar Wöhrl CDU/CSU ...... 5347 A Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Jürgen Koppelin FDP ...... 5348 B Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 5349 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ (Homburg) FDP ...... 5351 A DIE GRÜNEN: Offensive für Nicolette Kressl SPD ...... 5352 C Ausbildung – Modernisierung der beruflichen Bildung CDU/CSU ...... 5354 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Pau fraktionslos ...... 5356 B Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Heinz Schmitt (Landau) SPD ...... 5357 B Fraktion der CDU/CSU: Refor- CDU/CSU ...... 5358 C men in der beruflichen Bildung vorantreiben – Lehrstellenman- Willi Brase SPD ...... 5360 C gel bekämpfen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 4: Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer Erste Beratung des von der Bundesregie- Abgeordneter und der Fraktion der rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- FDP: Für die Stärkung der dua- zes gegen den unlauteren Wettbewerb len Berufsausbildung in Deutsch- (UWG) land – mehr Chancen durch (Drucksache 15/1487) ...... 5362 B Flexibilisierung und einen indivi- , Bundesministerin BMJ . . . . 5362 C duellen Ausbildungspass (Drucksachen 15/1000, 15/741, 15/653, CDU/CSU ...... 5364 A 15/587, 15/1302) ...... 5344 B Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 5365 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des FDP ...... 5367 A Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung: Dirk Manzewski SPD ...... 5367 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Julia Klöckner CDU/CSU ...... 5369 B Willi Brase, Jörg Tauss, weiterer Jella Teuchner SPD ...... 5370 D Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 5371 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 V

Tagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Beschlussempfehlung und Bericht des In- Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Ab- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- geordneter und der Fraktion der CDU/ ordneten Ralf Göbel, , CSU: Konsequente Abschiebung aus- weiterer Abgeordneter und der Fraktion ländischer Extremisten sicherstellen der CDU/CSU: Ausschreibung des (Drucksache 15/1239) ...... 5372 B BOS-Digitalfunks im Jahr 2003 ein- leiten Hartmut Koschyk CDU/CSU ...... 5372 C (Drucksachen 15/816, 15/1260) ...... 5396 B Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD ...... 5374 A Hans-Peter Kemper SPD ...... 5396 C Dr. FDP ...... 5375 D Ralf Göbel CDU/CSU ...... 5397 C Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 5377 A DIE GRÜNEN ...... 5400 A CDU/CSU ...... 5377 C FDP ...... 5401 A CDU/CSU ...... 5378 B Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI ...... 5402 A Michael Grosse-Brömer CDU/CSU ...... 5379 A CDU/CSU ...... 5403 A , Bundesminister BMI ...... 5381 B Hartmut Koschyk CDU/CSU ...... 5384 B Tagesordnungspunkt 8: Otto Schily, Bundesminister BMI ...... 5384 D Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- Tagesordnungspunkt 6: ten Gesetzes zur Änderung des Filmför- derungsgesetzes a) Unterrichtung durch die Bundesregie- (Drucksache 15/1506) ...... 5403 D rung: Tierschutzbericht 2003; Be- richt über den Stand der Entwick- Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . 5404 A lung des Tierschutzes (Bremen) CDU/CSU . . . . . 5405 A (Drucksache 15/723) ...... 5385 D SPD ...... 5407 A b) Antrag der Abgeordneten , Peter H. Carstensen Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/ (Nordstrand), weiterer Abgeordneter DIE GRÜNEN ...... 5407 D und der Fraktion der CDU/CSU: Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 5408 D Wirksamere Tierseuchenbekämp- fung ermöglichen Gisela Schröter SPD ...... 5409 D (Drucksache 15/1210 ...... 5385 D

c) Beschlussempfehlung und Bericht Tagesordnungspunkt 9: des Ausschusses für Verbraucher- schutz, Ernährung und Landwirt- Erste Beratung des von den Abgeordneten schaft zu dem Antrag der Abgeord- Jörg van Essen, Rainer Funke, weiteren neten Hans-Michael Goldmann, Abgeordneten und der Fraktion der FDP Dr. Christel Happach-Kasan, weite- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes rer Abgeordneter und der Fraktion zur Errichtung einer „Magnus-Hirsch- der FDP: EU-Richtlinie zur Haltung feld-Stiftung“ von Nutztieren in nationales Recht (Drucksache 15/473) ...... 5411 A umsetzen (Drucksachen 15/226, 15/1035) . . . . . 5385 D Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . . 5386 A Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des CDU/CSU ...... 5388 A Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Dr. Wilhelm Priesmeier SPD ...... 5390 A der Abgeordneten Lothar Mark, Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer Abgeordne- Hans-Michael Goldmann FDP ...... 5391 C ter und der Fraktion der SPD sowie der Gabriele Hiller-Ohm SPD ...... 5393 A Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Dr. Ludger Volmer, weiterer Abgeordneter Gitta Connemann CDU/CSU ...... 5394 D und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

DIE GRÜNEN: Wiederbelebung des Tagesordnungspunkt 13: Friedensprozesses in Kolumbien Antrag der Abgeordneten Wolfgang (Drucksachen 15/742, 15/1136) ...... 5411 B Börnsen (Bönstrup), Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion in Verbindung mit der CDU/CSU: Deutschen Schiffbau aus der Schlechtwetterlage in sicheres Fahrwasser leiten Zusatztagesordnungspunkt 4: (Drucksache 15/1101) ...... 5419 B

Beschlussempfehlung und Bericht des in Verbindung mit Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Peter Weiß (Em- Zusatztagesordnungspunkt 5: mendingen), Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit CSU: Neue Initiative zur Wiederbele- Wetzel, Klaus Brandner, weiterer Abge- bung des kolumbianischen Friedens- ordneter und der Fraktion der SPD sowie prozesses international unterstützen der Abgeordneten (Berlin), (Drucksachen 15/203, 15/1559) ...... 5411 C Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion des BÜNDNIS- Lothar Mark SPD ...... 5411 D SES 90/DIE GRÜNEN: Sicherung von Standort und Know-how des deutschen Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU ...... 5413 D Seeschiffbaus (Drucksache 15/1575) ...... 5419 C Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 5415 A

Harald Leibrecht FDP ...... 5416 B Tagesordnungspunkt 14: Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . 5417 B Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Modernisierung der Justiz (Jus- Tagesordnungspunkt 11: tizmodernisierungsgesetz – JuMoG) (Drucksache 15/1508) ...... 5419 D Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Gesetzes zur Sicherung der Hilfsmit- BMJ ...... 5419 D telversorgung von Pflegebedürftigen Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (Hilfsmittelsicherungsgesetz – HSG) CDU/CSU ...... 5421 A (Drucksachen 15/308, 15/1314) ...... 5418 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 5423 B

Tagesordnungspunkt 12: Rainer Funke FDP ...... 5424 C Christoph Strässer SPD ...... 5425 C a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi Wright, Reinhard Tagesordnungspunkt 16: Weis (Stendal), weiterer Abgeordneter a) Antrag der Abgeordneten Klaus und der Fraktion der SPD sowie der Haupt, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneten Franziska Eichstädt- Abgeordneter und der Fraktion der Bohlig, Volker Beck (Köln), weiterer FDP: Für eine schnelle rechtsstaatli- Abgeordneter und der Fraktion des che Information betroffener Rent- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: ner über die fehlerhafte maschinelle Ergänzung der Fahrerlaubnisver- Vergleichsrentenberechnung der ordnung BfA nach § 307 b SGB VI (Drucksachen 15/1093, 15/1397) . . . . 5419 A (Drucksache 15/839) ...... 5426 D b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- b) Antrag der Abgeordneten Klaus gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Haupt, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer zur Änderung des Straßenverkehrs- Abgeordneter und der Fraktion der gesetzes FDP: Für eine gerechte Versor- (Drucksache 15/1496) ...... 5419 A gungsregelung für das ehemalige Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 VII

mittlere medizinische Personal in Anlage 5 den neuen Ländern (Drucksache 15/842) ...... 5426 B Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung – Beschlussempfehlung und Bericht: Klaus Haupt FDP ...... 5427 A Wiederbelebung des Friedenspro- Erika Lotz SPD ...... 5428 A zesses in Kolumbien CDU/CSU ...... 5429 A – Beschlussempfehlung und Bericht: Neue Initiative zur Wiederbelebung BÜNDNIS 90/ des kolumbianischen Friedenspro- DIE GRÜNEN 5430 C zesses international unterstützen Silvia Schmidt (Eisleben) SPD ...... 5431 B (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesord- nungspunkt 4) ...... 5439 C Nächste Sitzung ...... 5432 C Petra Pau fraktionslos ...... 5439 D

Berichtigung ...... 5432 C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Anlage 1 über den Entwurf eines Gesetzes zur Siche- rung der Hilfsmittelversorgung von Pflege- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5433 A bedürftigen (Hilfsmittelsicherungsgesetz – HSG) (Tagesordnungspunkt 11) ...... 5440 B Dr. Erika Ober SPD ...... 5440 B Anlage 2 Matthias Sehling CDU/CSU ...... 5441 D Nachträglich zu Protokoll gegebene Ant- wort des Parlamentarischen Staatssekretärs Petra Selg BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 5443 C Dr. Gerald Thalheim: Aussage über den Agrarbereich hinsichtlich Subventionen (Münster) FDP ...... 5444 B und geringen Zukunftsperspektiven ...... 5433 C

MdlAnfr 32 Anlage 7 Dr. (CDU/CSU) (62. Sitzung) ...... 5433 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht: Ergänzung der Fahrerlaubnisver- Anlage 3 ordnung Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung – Entwurf eines Gesetzes zur Ände- über den Entwurf eines Vierten Gesetzes zur rung des Straßenverkehrsgesetzes Änderung des Filmförderungsgesetzes (Ta- gesordnungspunkt 8) ...... 5433 D (Tagesordnungspunkt 12 a und b) ...... 5445 A Heidi Wright SPD ...... 5445 A Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 5433 D CDU/CSU ...... 5445 C Klaus Hofbauer CDU/CSU ...... Anlage 4 5446 B Peter Hettlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 5447 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung über den Entwurf eines Gesetzes zur Errich- Horst Friedrich (Bayreuth) FDP ...... 5447 D tung einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ (Tagesordnungspunkt 9) ...... 5434 B Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMVBW 5448 B Sabine Bätzing SPD ...... 5434 B Johannes Kahrs SPD ...... 5435 B Anlage 8 Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU ...... 5436 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung über die Anträge: Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 5438 C – Deutschen Schiffbau aus der Schlechtwetterlage in sicheres Fahr- Jörg van Essen FDP ...... 5439 A wasser leiten VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

– Sicherung von Standort und Know- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) how des deutschen Schiffbaus CDU/CSU ...... 5451 D (Tagesordnungspunkt 13 und Zusatztagesord- (Zingst) CDU/CSU ...... 5453 B nungspunkt 5) ...... 5449 B BÜNDNIS 90/ Johannes Kahrs SPD ...... 5449 B DIE GRÜNEN ...... 5454 B Dr. SPD ...... 5450 C Hans-Michael Goldmann FDP ...... 5455 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5283

(A) (C) Redetext

63. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Sitzung ist eröffnet. Haltung der Bundesregierung zu Rufen aus der Koalition nach personellen Konsequenzen angesichts immer neuer Zunächst möchte ich der Kollegin Ilse Falk im Na- Finanzausfälle und Verzögerungen bei der LKW-Maut men des Hauses nachträglich zu ihrem am vergangenen 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- Sonntag begangenen 60. Geburtstag herzlich gratulieren. schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Sodann teilt die Fraktion der CDU/CSU mit, dass für Weiß (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert den ausgeschiedenen Kollegen nunmehr der Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Kollege stellvertretendes Mitglied im CSU: Neue Initiative zur Wiederbelebung des kolumbiani- Gemeinsamen Ausschuss gemäß Art. 53 a des Grundge- schen Friedensprozesses international unterstützen setzes werden soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich – Drucksachen 15/203, 15/1559 – (B) höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Berichterstattung: (D) Hohmann als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsa- Abgeordnete Karin Kortmann men Ausschuss bestimmt. Peter Weiß (Emmendingen) Hans-Christian Ströbele Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Markus Löning Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, führten Punkte erweitert werden: Klaus Brandner, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz 1 Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage im Irak (Berlin), Volker Beck (Köln), Anja Hajduk, weiterer Abge- 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Ergänzung zu TOP 24) NEN: Sicherung von Standort und Know-how des deut- schen Seeschiffbaus a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Ulrich Petzold, Dirk Fischer (Hamburg), weite- – Drucksache 15/1575 – rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Vor- Überweisungsvorschlag: sorgender Hochwasserschutz im Binnenland Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) – Drucksache 15/1561 – Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Ausschuss für Bildung, Forschung und heit (f) Technikfolgenabschätzung Innenausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Finanzausschuss Entwicklung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union wirtschaft Haushaltsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten , Rainer Ausschuss für Tourismus Brüderle, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und Haushaltsausschuss der Fraktion der FDP: Neuordnung der Bundesanstalt für b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Arbeit Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Angelika – Drucksache 15/1576 – Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gleiche Nachweispflichten für Apotheken und Überweisungsvorschlag: Tierärzte bei der Abgabe von Tierarzneimitteln Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss – Drucksache 15/1568 – Sportausschuss Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Finanzausschuss 5284 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie- (C) Landwirtschaft rung Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu den Ergebnissen der europäischen Bil- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen dungsministerkonferenz am 18./19. September Ausschuss für Bildung, Forschung und 2003 in Berlin Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Dazu liegen ein gemeinsamer Entschließungsantrag Entwicklung der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- Ausschuss für Tourismus nen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss FDP vor. 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ressortfor- schungseinrichtungen des Bundes regelmäßig im Hinblick rung eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen auf internationale Qualitätsanforderungen an das deut- Widerspruch. Dann ist so beschlossen. sche Forschungssystem evaluieren Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat – Drucksache 15/222 – die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Überweisungsvorschlag: Edelgard Bulmahn. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und DIE GRÜNEN) Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und Forschung: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Meine sehr geehrten Herren und Damen! Sehr geehr- Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- ter Herr Präsident! In der letzten Woche haben in Berlin weit erforderlich – abgewichen werden. 40 Minister aus 40 europäischen Staaten, Hochschulprä- sidenten, Vertreter der europäischen Hochschulorganisa- Des Weiteren ist vereinbart worden, die Tages- tionen und Vertreter der Studierendenverbände gemein- ordnungspunkte 15 – ERP-Wirtschaftsplangesetz 2004 –, sam über die Zukunft der Hochschulen in Europa 23 – Wehrpflicht aussetzen – und 25 a – Entschädi- (B) beraten und sie haben wichtige Entscheidungen getrof- (D) gungsrechtsänderungsgesetz – abzusetzen. fen. Die Tagesordnungspunkte 18 – Energiepolitik – Die Bologna-Konferenz in Berlin war ein Erfolg. und 19 – Arbeitsmarktpolitik – am Freitag sollen ge- tauscht und der Tagesordnungspunkt 20 soll bereits (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heute mit der vereinbarten Debatte zur Lage im Irak auf- DIE GRÜNEN) gerufen werden. Wir sind einen großen Schritt vorangekommen: von gu- Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überwei- ten Wünschen zu konkreten Maßnahmen und Selbstver- sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: pflichtungen. Wir haben mit dieser Konferenz einen wichtigen Grundstein für ein Europa des Wissens gelegt, Der in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages aber auch die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum, überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- für internationale Wettbewerbsfähigkeit und für unsere lich dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zur Mit- kulturelle Entwicklung in Europa geschaffen. beratung überwiesen werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Ände- Hochschulen sind der Ort, an dem neue wissenschaft- rung des Tabaksteuergesetzes und anderer liche Erkenntnisse gewonnen werden. In Hochschulen Verbrauchsteuergesetze wird leistungsstarke Forschung betrieben, exzellent aus- gebildet und das Fundament für die Innovationsfähig- – Drucksache 15/1313 – keit einer Gesellschaft gelegt. Ohne leistungsfähige überwiesen: Hochschulen, in denen hervorragend ausgebildet, neues Finanzausschuss (f) Wissen generiert und die Umsetzung der Forschung mit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft hohem Engagement betrieben wird, werden wir weder Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung unseren Wohlstand sichern – das gilt für Deutschland ge- Haushaltsausschuss nauso wie für Europa – noch die Herausforderungen be- gemäß § 96 Geschäftsordnung wältigen können, vor denen wir stehen. Deshalb bestim- Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – men heute Hochschulen in zunehmendem Maße über die Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung unserer Ge- sellschaft, über ihren Fortschritt und über ihren Wohl- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: stand. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5285

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Gerade heute, im Zeitalter schnellen Wissenszuwach- Deutschland wird und muss hierbei eine Vorreiterrolle (C) ses, weltumspannender Kommunikation und globaler spielen. Das ist einer der Gründe, warum wir vonseiten Märkte haben Hochschulen mehr denn je eine strategi- der Bundesregierung seit 1998 die für Investitionen in sche Bedeutung für unsere Zukunft. Sie nehmen im in- die Hochschulen vorgesehenen Ausgaben um knapp ternationalen Wettbewerb eine entscheidende Rolle ein. 24 Prozent erhöht haben. Sie stellen die entscheidenden Schnittstellen zwischen Bildung, Forschung und Innovation dar. Sie sind gleich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zeitig Zentren des grenzüberschreitenden Austausches DIE GRÜNEN) und der internationalen Verständigung. Sie sind der Ort, Diese Anstrengungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, an dem sehr viele Menschen im In- und Ausland, nicht werden und müssen wir fortsetzen. Die Länder haben nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ihre be- übrigens im gleichen Zeitraum ihre Investitionen um rufliche Laufbahn beginnen und hoffentlich erfolgreich 12 Prozent erhöht. Deshalb sage ich ausdrücklich: Bund fortsetzen, egal ob in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und Länder müssen ihre Anstrengungen fortsetzen. oder in den Parlamenten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es ist daher unsere Aufgabe, alle Anstrengungen zu DIE GRÜNEN) unternehmen, um die Leistungsfähigkeit unserer Hoch- schulen zu steigern und die Qualität von Lehre und For- Wir wollen unseren Hochschulen echte Perspektiven ge- schung zu verbessern. ben für exzellente Forschung und hervorragende Ausbil- dung. Das sind wir den Jugendlichen, uns selber und un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ serem Land schuldig. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Genau das war und ist das Anliegen der europäischen DIE GRÜNEN) Forschungs- und Bildungsminister. Hierzu muss Europa seine geistigen, kulturellen und intellektuellen Energien Wir wollen unsere Hochschulen für die Studierenden mobilisieren und diese Kräfte zielgerichtet und strate- und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland attraktiv gisch richtig einsetzen. Europa soll auf dem Weg in ein machen. Nur wenn uns das gelingt, können von den Zeitalter der Wissenschaft und Technologie den Takt der Hochschulen auch die notwendigen Impulse ausgehen, Entwicklung mitbestimmen. Wir wollen ein Europa die wir für den wirtschaftlichen und kulturellen Fort- schaffen, in dem wissenschaftliche Forschung, technolo- schritt unseres Landes brauchen. gische Entwicklung und konsequente Innovationsförde- rung zu zentralen strategischen Elementen für die Ent- Bildung und Forschung haben für diese Bundesregie- (B) wicklung Europas, für mehr Wachstum, mehr rung Priorität. Das haben wir in den vergangenen Jahren (D) Beschäftigung und sozialen Ausgleich werden. durch viele Entscheidungen immer wieder deutlich ge- macht. Wir haben die notwendigen Strukturreformen Kulturgeschichtlich betrachtet ist dieses Vorhaben üb- durchgeführt und die entsprechenden finanziellen Priori- rigens keineswegs etwas Neues, sondern teilweise sogar täten gesetzt. Mit der Ausrichtung der Bologna-Konfe- eine Rückbesinnung auf eine Gemeinsamkeit, die die renz in Berlin haben wir diese Bedeutung einmal mehr Entwicklung der europäischen Länder über viele Jahr- unterstrichen. Damit haben wir auch gezeigt, dass wir hunderte geprägt hat. Europa war über viele Jahrhun- Verantwortung übernehmen, wenn es darum geht, derte ein einheitlicher geistiger und kultureller Raum. Europa voranzubringen. Genau das stand auch im Mittelpunkt der Bologna-Kon- ferenz. Europa muss ein Kontinent werden, der nicht nur einen Markt für Millionen von Menschen darstellt, son- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dern auch ein Ort ist, in dem hervorragende Wissen- DIE GRÜNEN) schaft betrieben wird, die Menschen exzellent In einer Zeit, in der weltweit um die besten Köpfe ge- ausgebildet werden, neue Erkenntnisse gewonnen und worben wird, ist die Internationalisierung, also die Forschungsergebnisse zügig umgesetzt werden. Schaffung eines europäischen Hochschulraums, ein drin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gend notwendiges Desiderat, das wir zügig und konse- DIE GRÜNEN) quent umsetzen müssen. Deshalb haben die Bildungsmi- nister von mittlerweile 40 europäischen Ländern ganz Mit der Errichtung des europäischen Hochschul- konkrete Vereinbarungen für den europäischen Hoch- raums leisten wir dazu einen wichtigen Beitrag. An un- schulraum geschaffen. In Bologna sind 1999 von zu- seren Hochschulen können wir besser als irgendwo sonst nächst 29 Ministern dafür die Weichen gestellt und ist den Grundstein für mehr europäische Zusammenarbeit der so genannte Bologna-Prozess eingeleitet worden; legen. Mit der bei der Berlin-Konferenz beschlossenen seither befinden sich die europäischen Hochschulen in Aufnahme von Albanien, Serbien, Montenegro, Bos- einer Phase größter Veränderungen. So etwas hat es in nien-Herzegowina und Mazedonien sowie von Russ- den letzten Jahrzehnten nicht gegeben. In vielen Staaten land, Andorra und dem Vatikan geht die Zusammenar- finden umwälzende, radikale Veränderungen von Stu- beit im Hochschulbereich weit über die aktuellen dium und Forschung statt. Überall geht es um eine Neu- Grenzen der EU hinaus. Damit setzen wir nicht nur ein ausrichtung hin zu mehr Qualität und Leistungsfähig- Signal für den Bologna-Prozess, sondern geben auch der keit, mehr Internationalität und mehr Wettbewerb. europäischen Einigung neue Dynamik. 5286 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Die Berlin-Konferenz war ein ganz wichtiger Meilen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) stein. Sie zeugt auch – das halte ich für genauso ent- DIE GRÜNEN) scheidend – von der politischen Kraft Europas, die es Alle 40 Länder verpflichten sich, bis 2005 die neuen möglich gemacht hat, dass 40 Staaten reines Wunsch- Bachelor- und Masterstudiengänge als Regelstudien- denken überwunden und sich auf die Eckwerte einer sehr gänge einzuführen. Die Bundesregierung hat die Ent- tief greifenden Hochschulreform geeinigt haben, wicklung und Einführung der neuen Bachelor- und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Masterstudiengänge bereits seit 1999 massiv unter- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stützt. Wir haben im Bundesrahmengesetz die rechtli- chen Voraussetzungen dafür geschaffen. Ich hoffe, dass die konkrete Selbstverpflichtungen beinhaltet. die Länder jetzt auch in ihren Landeshochschulgesetzen zügig die Voraussetzungen schaffen. Aber noch etwas möchte ich an dieser Stelle deutlich machen: Die Schaffung eines europäischen Hochschul- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des raumes ist ohne die engagierte Mitwirkung der Studie- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) renden und Universitäten nicht möglich. Nur durch das Das ist leider noch nicht überall der Fall. Wir haben aktive Engagement von Hochschulen, Studierenden und gleichzeitig die Hochschulen bei der Einführung dieser der politisch Verantwortlichen wird dieses Ziel erreich- neuen Bachelor- und Masterabschlüsse mit rund bar sein. Deshalb war es so wichtig, dass in die Bologna- 42 Millionen Euro finanziell unterstützt. Konferenz nicht nur die Regierungen, sondern auch die Hochschulen und die Studierendenverbände selber ein- Gleichzeitig haben wir in Deutschland mit der Akkre- gebunden waren. ditierung wichtige Grundlagen für die Qualitätssiche- rung der neuen Studiengänge geschaffen. Ich sage aus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ drücklich: Die Akkreditierung der neuen Studiengänge DIE GRÜNEN) ist unabdingbar. Sie ist zwingend notwendig, weil wir So wünsche ich mir Europa: nicht nur als Europa der Re- sonst nicht die internationale Leistungsfähigkeit errei- gierenden, sondern als Europa der Menschen, die dort le- chen, weil wir sonst nicht die Vergleichbarkeit sicher- ben. stellen und weil wir sonst sträflich vernachlässigen wür- den, dass B. A. und M. A. nicht nur neue Namen Wir haben uns auf ein sehr ehrgeiziges Kommuniqué bedeuten. verständigt. Mit der Ausrichtung wesentlicher Reform- schritte auf das Jahr 2005 haben wir im Übrigen das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Reformtempo deutlich erhöht; denn bisher galt als DIE GRÜNEN) (B) (D) Zielmarke immer das Jahr 2010. Alle 40 Länder ver- Es geht also nicht darum, alten Wein in neue Schläuche pflichten sich, für die Hochschulen auf nationaler und zu füllen, sondern darum, die Studiengänge zu verän- institutioneller Ebene, das heißt auf Hochschulebene, ein dern, sodass sie ein qualitativ hohes Niveau haben und umfassendes Qualitätssicherungs- und Qualitätsentwick- die Chancen, die sie darstellen, von den Studierenden lungssystem zu verankern. Hohe Qualität, attraktive Stu- wahrgenommen werden können. dienbedingungen und attraktive Wissenschaftsbedingun- gen – das muss das Aushängeschild des europäischen Die Akzeptanz der Bachelor- und Masterabschlüsse Hochschulraums sein. Ich sage noch einmal ausdrück- bei den Hochschullehrern, bei den Studierenden und am lich: Nur so wird es uns gelingen, auch international at- Arbeitsmarkt ist eine Schlüsselfrage der Internationali- traktiv zu sein. sierung. Sie hängt in hohem Maße von der Akkreditie- rung und damit von transparenter Anerkennung von Alle 40 Länder verpflichten sich dem Ziel einer ge- Leistung und Qualität ab. Dann werden diese Ab- genseitigen Anerkennung von Studien- und Prüfungs- schlüsse nachgefragt und gefördert. Dann haben wir leistungen. auch international damit die besten Möglichkeiten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bisher sind 18 Prozent der neuen Studiengänge ak- DIE GRÜNEN) kreditiert. Ich sage ausdrücklich: Das ist nicht ausrei- chend. Das europäische Kreditpunktesystem ECTS wird nun flächendeckend umgesetzt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Hochschulen selber wie auch die Länder müssen Zusätzlich haben wir die Einführung eines einheitli- ihre Anstrengungen verstärken, damit wir hier zu einem chen fremdsprachigen Diploma Supplement beschlos- guten Ergebnis kommen. Dabei muss es eine klare Pro- sen, welches eindeutigen Aufschluss über die im Stu- filbildung beider Abschlüsse geben, um den unterschied- dium erworbenen Qualifikationen geben kann. Damit lichen Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Hoch- schaffen wir die Grundlage für mehr Transparenz und schulen gerecht zu werden. Vergleichbarkeit. Mit der vereinbarten wechselseitigen Anerkennung von Hochschulabschlüssen, der Akkredi- Um die Chancen dieses neuen Systems zu eröffnen, tierung von Studiengängen und der Einführung des Euro- brauchen wir grundlegende Veränderungen in den Stu- pean Credit Transfer Systems schaffen wir die wichtigs- diengängen. Die Chancen sind gewaltig, weil die Ent- ten Voraussetzungen für Mobilität, Leistungssteigerung scheidungsmöglichkeiten der Studierenden erweitert und Vergleichbarkeit. werden. Das neue System gibt den Studierenden die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5287

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Chance, durch Kombination attraktiver Qualifikationen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) ein für die eigene Karriere maßgeschneidertes Studium DIE GRÜNEN) zu wählen. Es gibt die Chance weltweiter Beweglichkeit, weil sie nicht mehr um die Anerkennung der Abschlüsse Egal ob in der Wirtschaft oder in der Politik: Wir können kämpfen müssen, sondern diese vereinbart und gewähr- auf diese wichtigen Partner nicht verzichten. Deshalb leistet wurde. Es gibt unseren Studierenden die Chance, war es so fahrlässig, dass diesem wichtigen Gesichts- jünger als bisher in den Beruf einzusteigen. Es gibt die punkt der Internationalisierung über viele Jahrzehnte Chance kürzerer Ausbildungszeiten und die Chance, die zu wenig Augenmerk geschenkt worden ist. Wir haben Abbrecherquote, die in unserem Land in vielen Fächern das geändert. viel zu hoch ist, deutlich zu senken. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Wir müssen nicht nur das Studium, sondern auch die Meine sehr geehrte Damen und Herren, alle 40 Län- Forschung internationaler und leistungsfähiger gestalten. der haben sich darauf geeinigt, die Mobilität von Studie- Deshalb bin ich froh darüber, dass nunmehr das Dokto- renden und Wissenschaftlern in Europa zu fördern. Eine randenstudium als dritte Stufe in das europäische Stu- hinreichende soziale Absicherung, also eine hinrei- dienkonzept aufgenommen wurde. Wir stellen damit chende Studienfinanzierung, wie wir sie in Deutschland zwei Dinge sicher: Erstens können wir dem wissen- mit dem BAföG geschaffen haben, ist eine wichtige schaftlichen Nachwuchs eine dritte exzellente wissen- Voraussetzung dafür, dass junge Menschen die Chancen schaftliche Karrierestufe anbieten. Zweitens stellen wir eines Studiums wirklich nutzen können. In einem geein- mit dem Doktorandenstudium eine enge Verknüpfung ten Europa ist zwingend notwendig, dass diese Studien- des europäischen Hochschul- und Forschungsraums si- finanzierung in jedes andere europäische Land mitge- cher; denn beide gehören zusammen und spiegeln zwei nommen werden kann. Seiten eines Europas des Wissens wider. Wir brauchen also einen europäischen Forschungsraum und einen eu- (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) ropäischen Hochschulraum. Wir haben mit der BAföG-Reform die Voraussetzung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dafür geschafften, dass nach einem zweisemestrigen Stu- DIE GRÜNEN) dium in Deutschland jeder Studierende seine Studienför- derung in jedes andere EU-Land mitnehmen kann. Beide tragen dazu bei, die Bedingungen für Spitzenleis- tung in Forschung und Innovation zu verbessern. Aber diese Entscheidung darf nicht nur einseitig sein. (B) Wir wollen einen europäischen Hochschulraum, in (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dem Studierende und Wissenschaftler ganz selbstver- ständlich zwischen den Hochschulen verschiedener Län- Vielmehr müssen alle anderen Kolleginnen und Kolle- dern wechseln können, in dem sie wegen der guten Stu- gen in Europa ebenfalls ihre Studienfinanzierungen ent- dienbedingungen gerne studieren und in dem sie gute sprechend verändern. Die skandinavischen Länder ha- berufliche Möglichkeiten haben. ben dies im Übrigen schon geleistet. Aber hier gibt es noch eine ganze Menge zu tun. Die deutsche Hochschulpolitik steht mit dem Bolo- Derzeit verbringen rund 14 Prozent der deutschen gna-Prozess im Einklang. Für die Bundesregierung ist Studierenden einen Teil ihres Studiums im Ausland. die Internationalisierung von Wissenschaft, Forschung, Diese Quote auf 20 Prozent zu steigern ist ein ganz Hochschule und Ausbildung auch weiterhin ein zentraler wichtiges Ziel dieser Regierung. Denn Auslandserfah- Punkt. Wir haben in den letzten Jahren vonseiten des rung, Austausch und Zusammenarbeit zwischen Studie- Bundes viele Initiativen gestartet. Eine Initiative will ich renden aus den verschiedenen europäischen Ländern ausdrücklich hervorheben: die Initiative zur Internatio- – das sage ich ausdrücklich – sind wichtige Faktoren für nalisierung der Hochschulen. Wir haben hierfür rund die Entwicklung eines Europas des Wissens. 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt – ebenfalls mit Erfolg. Unsere Hochschulen sind heute mit Unter- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stützung meines Ministeriums weltweit mit Studienan- DIE GRÜNEN) geboten präsent. Am 5. Oktober werden der Bundes- kanzler und der ägyptische Staatspräsident Mubarak die Sie sind heute auch wichtige Voraussetzungen für den „German University“ in Kairo eröffnen. Erfolg im Beruf. Deutsche Hochschulen nehmen inzwischen unter dem Das Gleiche gilt umgekehrt. Wir haben in den vergan- Logo „Hi! Potentials“ einen gewichtigen Platz auf gro- genen drei, vier Jahren erfolgreich sehr viele Anstren- ßen internationalen Messen ein. Mit der 2001 gestarteten gungen unternommen, die Zahl der ausländischen Marketingoffensive bauen wir die Präsenz auf dem inter- Studierenden in Deutschland zu erhöhen. Die Steige- nationalen Bildungsmarkt kontinuierlich aus und werben rungsraten liegen inzwischen bei 15 Prozent pro Jahr. gezielt für den Studien- und Forschungsstandort Auch das ist notwendig. Denn jeder, der in Deutschland Deutschland. gute Erfahrung gemacht hat, hier gern studiert und ge- lebt hat und der hier Freunde gewonnen hat, ist zukünf- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista tig ein wichtiger Partner für uns. Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 5288 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Die eingeleiteten Initiativen haben greifbare Erfolge Der gemeinsame Hochschulraum Europa ist ein weiterer (C) gebracht. Die Zahl der ausländischen Studierenden und Schritt im europäischen Einigungsprozess. Angeschoben die Zahl der ausländischen Wissenschaftler an unseren hat ihn die Bundesregierung unter Helmut Kohl. Die Hochschulen und in unseren Forschungseinrichtungen Schaffung eines europäischen Hochschul- und For- sind gestiegen. Wir sind in Europa und weltweit inzwi- schungsraumes ist traditionelle christlich-demokratische schen ein anerkannter Hochschulstandort, auf den man Politik. schaut und wohin man gerne geht. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich sage aber auch ausdrücklich, dass wir bei weitem Die ehrgeizigen Ziele des Bologna-Prozesses sind noch nicht das erreicht haben, was notwendig ist. Startschuss für mehr Freiheit, für Autonomie, Deregulie- (Ulrike Flach [FDP]: Wohl wahr!) rung und Wettbewerb. All das, Frau Ministerin, kam in Ihrer Rede nicht vor. Dabei heißt es bereits in der gemein- Wir sind zwar einen wichtigen Schritt vorangekommen; samen Erklärung der europäischen Bildungsminister: aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Deshalb werden wir unsere neuen internationalen Preise – wie beispiels- Die Vitalität und Effizienz jeder Zivilisation lassen weise den Sofja-Kovalevskaja-Preis –, die dazu beitra- sich an der Attraktivität messen, die ihre Kultur für gen, dass hervorragende junge Wissenschaftlerinnen und andere Länder besitzt. Wir müssen sicherstellen, Wissenschaftler nach Deutschland kommen, weiterhin dass die europäischen Hochschulen weltweit verleihen. ebenso attraktiv werden wie unsere außergewöhnli- chen kulturellen und wissenschaftlichen Traditio- Europa wird nur als leistungsfähiger Wissenschafts- nen. standort mit modernen und international ausgerichteten Hochschulen attraktiv bleiben können. Die Berlin-Kon- Frau Bulmahn, was haben Sie eigentlich seit 1999 für ferenz hat dafür ein Zeichen des Aufbruchs gesetzt und die Attraktivität der deutschen Hochschulen getan? – Sie den Weg, den wir gehen müssen, klar aufgezeigt. Ich haben es ihnen in erster Linie schwer gemacht. wünsche mir dafür Ihre Unterstützung und wünsche vor (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) allen Dingen uns allen viel Erfolg. Der Staat muss die Hochschulen in die Freiheit ent- Vielen Dank. lassen, damit sie sich im Wettbewerb bewähren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das hat bereits Professor Klaus Landfried bei seinem DIE GRÜNEN) Abschied als Präsident der Hochschulrektorenkonferenz gefordert. (B) Präsident Wolfgang Thierse: (D) Zentralismus und Gängelung, das sind die Kennzei- Ich erteile das Wort Kollegin Katherina Reiche, CDU/ chen Ihrer Politik. Ziel muss ein wettbewerbliches CSU-Fraktion. Hochschulsystem sein. Was tun Sie? – Die Universitäten und die Länder werden mit einem Studiengebührenver- Katherina Reiche (CDU/CSU): bot überzogen – und das, obwohl die Sicherung der Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Qualität des Studiums durch Studienbeiträge in allen ren! Die Stanford University hat einen klassisch-deut- führenden Nationen bis hin zur Schweiz und Australien schen Leitspruch und der heißt: „Die Luft der Freiheit ein zentrales hochschulpolitisches Thema ist. weht.“ Sie führen die Juniorprofessur als Regelvorausset- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zung für den Beruf des Professors ein. Sie schaffen die der FDP) Habilitation faktisch ab. Warum lassen Sie keinen Wett- bewerb zu? Das ist auch die politische Kernbotschaft der Bologna- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Folgekonferenz. Auch im europäischen Hochschulraum neten der FDP) soll die Luft der Freiheit wehen. Sie lehnen es ab, das Auswahlrecht der Hochschulen Bis zum Jahr 2005 soll das zweistufige System von zu stärken und einen Wettbewerb um die qualifiziertes- Bachelor- und Masterabschlüssen vollständig eingeführt ten Studenten zu ermöglichen. Für Sie gilt der Satz, den sein. Ein dritter Studiengang ist beschlossen: das Dokto- einmal ein ehemaliger Präsident der Westdeutschen Rek- randenstudium. Studierende und Wissenschaftler sol- torenkonferenz, Professor Gerd Roellecke, gesagt hat: len, ohne bürokratische Hürden überwinden zu müssen, zwischen den Ländern wechseln können. Der rasante Jede Organisation entscheidet über die Aufnahme Wettbewerb um die besten Köpfe und Talente ist voll im ihrer Mitglieder. Davon gibt es zwei Ausnahmen: Gange. Europa wächst hochschulpolitisch zusammen. die Gefängnisse und die Universitäten. Dazu gibt es keine Alternative. Die Unionsfraktion begrüßt ganz ausdrücklich die Frau Ministerin, zur Wahrheit gehört auch, dass es Länderinitiative von Baden-Württemberg und Bayern, Jürgen Rüttgers war, der 1998 diesen Prozess mit der das Recht der Hochschulen, die qualifiziertesten Bewer- Sorbonne-Erklärung initiiert hat. ber auswählen zu können, zu stärken. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5289

Katherina Reiche (A) Auch SPD-geführte Länder wie Rheinland-Pfalz oder auf sich halten, verlassen sich übrigens nicht auf dieses (C) Nordrhein-Westfalen und sogar das rot-rote Mecklen- System, sondern überprüfen die Fähigkeiten der Studi- burg-Vorpommern möchten dies. Was tun Sie? – Sie leh- enbewerber zusätzlich selbst. nen diese Initiative mit fadenscheinigen Argumenten ab. Die Umstellung auf die Bachelor- und Master-Ab- Wir brauchen dringend eine Strategie für eine ganz- schlüsse ist zweifelsohne ein ganz wichtiger Baustein. heitliche Hochschulentwicklung und kein Klein-Klein Wichtig ist, dass sich diese Umstrukturierung von unten mehr. Unser Ziel muss es sein, dass auch aus den inter- entwickelt. Die Hochschulen wollen und müssen in die- national führenden Wissenschaftsländern, insbesondere sen Prozess eingebunden sein. Ich kann die Bundesre- aus den USA, mehr Studierende zu uns kommen. Frau gierung nur ausdrücklich davor warnen, diesen Prozess Bulmahn, Sie haben ausgeführt, dass die Quote der Stu- mit zusätzlichen staatlichen Reglementierungsmaßnah- dierenden, die aus dem Ausland kommen, gestiegen ist. men zu überziehen. Das ist richtig. Dabei handelt es sich vor allem um Chi- nesen, Polen und Russen. Sie alle sind herzlich willkom- Deutschland gibt im Zuge des Bologna-Prozesses men. Aber junge US-Amerikaner stehen an Stelle 16. aber auch Traditionen auf, die sich bewährt haben. So Junge Briten und junge Schweizer sind unter den ersten ist der deutsche Diplom-Ingenieur weltweit anerkannt. 20 nicht zu finden. Das ist kein Zufall. Er ist ein Markenzeichen für Qualität. Der große Vorzug des deutschen Studiums ist auch die breite Bildung. Ich verstehe die Verwunderung von Hans-Olaf Henkel, der nach einem Vortrag an der London School (Ulrike Flach [FDP]: Das meinen Sie aber of Economics in eine Diskussion verwickelt wurde und nicht ernst, Frau Reiche?) dem in bestem Deutsch Fragen gestellt wurden. Auf die Der Magister mit einem Hauptfach und zwei Nebenfä- Frage, warum die Briten so gut deutsch sprechen, wurde chern vermittelt durchaus eine Bildung weit über den ihm geantwortet: Das sind doch alles Deutsche. Tellerrand eines Faches hinaus. Somit hat unser deut- Ihre Rechnung, Frau Bulmahn, geht nicht auf: Sie sches Hochschulsystem auch Vorteile. Ich finde, auch wollen 40 Prozent eines Altersjahrgangs an die Hoch- hier ist Wettbewerb angesagt. schulen holen. Den Universitäten werden aber im glei- Von den Studierenden, von den Hochschulen, aber chen Atemzug mehr Aufgaben übertragen, und Sie fah- auch von der Wirtschaft werden enorme Anpassungs- ren die finanzielle Ausstattung der Hochschulen leistungen verlangt. Das betrifft insbesondere die Wirt- zurück. Der Etat für den Hochschulbau wird beispiels- schaft, die die neuen Studiengänge und die neuen Ab- weise um 135 Millionen Euro gekürzt. Das ist ein schlüsse anerkennen muss. schlechtes Signal an den Bologna-Prozess. (B) Frau Bulmahn, ich sage Ihnen noch einmal: Entlassen (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie die Hochschulen in die Freiheit! Nutzen Sie Ihre Ge- neten der FDP) staltungsmöglichkeiten, damit der Bologna-Prozess ein Das Korsett des Hochschulrahmengesetzes muss Erfolg wird. Weniger ist oftmals mehr. dringend gelockert werden. Wir setzen uns für eine ra- (Beifall bei der CDU/CSU) sche Novelle, für eine Hochschulreform aus einem Guss ein. Wir brauchen mehr Autonomie für die Hoch- Die Union wird diesen Prozess mit einer entsprechenden schulen. Das gilt ebenso für das im 6. HRG verankerte Initiative zur Novelle des Hochschulrahmengesetzes be- Verbot von Studiengebühren. Es muss weg. Auf Dauer gleiten. Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen: Die wird in Deutschland niemand an Studienbeiträgen vor- Luft der Freiheit ist nicht aufzuhalten. beikommen. Vielen Dank. (Jörg Tauss [SPD]: Ah, ja!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Entwicklung des europäischen Hochschulraumes ist kein Selbstläufer. Sie haben gesagt, man müsse die Präsident Wolfgang Thierse: Studenten integrieren. Einer der Studenten, die Sie ange- Ich erteile der Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion, das sprochen haben, bemerkte etwas kritisch, dass dabei Wort. möglicherweise nichts als heiße Luft herauskommen würde. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt in der Tat noch viel zu tun: Wir haben in Deutschland 15 000 Studiengänge. Davon sind bisher 1 900 auf das Bachelor- und Master-Studium umge- Ute Berg (SPD): stellt worden. Davon sind nur 400 akkreditiert. Stellen- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! weise hat man schlicht Vordiplom und Zwischenprüfung Frau Reiche, leider haben Sie sich in Ihren Ausführun- in Bachelor umfirmiert und Studiengänge nur mit einem gen wieder darauf beschränkt, das Haar in der Suppe zu neuen Namen versehen. finden, und haben nur pathetische Aufforderungen for- muliert, aber keine konstruktiven Gestaltungsvor- Auch das European Credit Transfer System ist noch schläge gemacht. weit von seinen optimalen Möglichkeiten entfernt. Es geht nicht, dass das bloße Ansammeln von Punkten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nachher nicht akzeptiert wird. Hochschulen, die etwas DIE GRÜNEN) 5290 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Ute Berg (A) Aber das kennen wir bei Ihnen. formulierten: Bis 2010 soll Europa zum größten wis- (C) sensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden. Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Ungeachtet dessen, dass Bildung einen Eigenwert be- Das hat der ausgewiesene Pragmatiker und frühere Bun- sitzt, gilt die bereits im 19. Jahrhundert von Alfred deskanzler Helmut Schmidt vor vielen Jahren einmal ge- Nobel formulierte Einsicht, Wissen zu verbreiten sei sagt. Ich widerspreche ihm an diesem Punkt nachdrück- Wohlstand zu verbreiten. Diesen Zusammenhang hat die lich; in der letzten Woche veröffentliche OECD-Studie „Bil- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wenn in Ih- dung auf einen Blick“ eindrucksvoll unterstrichen. Sie rer Suppe wenigstens Haare wären!) macht deutlich: Investitionen in Köpfe lohnen sich für den Einzelnen und für die Volkswirtschaft insgesamt. denn ich bin der festen Überzeugung, dass Politik beides Wenn wir das Bildungsniveau unserer Gesellschaft er- braucht: Pragmatismus und Visionen. höhen, fördern wir damit auch das Wirtschaftswachs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tum. Daran sollte uns gelegen sein. DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Helmut (Beifall bei der SPD) Schmidt meinte Halluzinationen!) Daher müssen wir als Politikerinnen und Politiker aus In einem langwierigen Prozess müssen Schritte auf ein sozialem wie aus ökonomischem Interesse heraus die angestrebtes politisches Ziel, auf ein für die Zukunft ent- Grundlage dafür legen, dass die Verbreitung von Wissen worfenes Bild hin unternommen werden. In diesem Pro- reibungslos und dynamisch erfolgen kann. Das gilt für zess wird das Bild immer klarer, gewinnt die Vision den nationalen Bereich genauso wie für den europäi- Konturen. schen Raum. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist ja Diese Bundesregierung hat entsprechend gehandelt. fantastisch konkret!) Frau Reiche, Sie fragten vorhin, was sie denn getan Eine solche Vision haben die europäischen Bildungs- habe. Ich werde Ihnen einige Punkte nennen: Seit ihrem minister gehabt, als sie 1999 die Bologna-Erklärung Amtsantritt hat diese Bundesregierung die Ausgaben verfassten. Sie riefen darin zur Schaffung eines gemein- des Bundes für Bildung und Forschung um insgesamt samen europäischen Hochschulraumes und zur Stärkung 25 Prozent erhöht; das dachte ich jedenfalls, Frau der Wettbewerbsfähigkeit des Bildungsstandortes Eu- Bulmahn dagegen hat von 23 Prozent gesprochen. ropa auf. Die konkrete Zielsetzung des Bologna-Prozes- (Ulrike Flach [FDP]: 11,7 Prozent! Sie dürfen ses lautet: Die Studierenden Europas sollen die Möglich- nicht immer die Ganztagsschulen hineinrech- (B) keit bekommen, in allen Ländern Europas zu studieren. nen!) (D) Sie sollen dabei vergleichbare Studienbedingungen vor- finden. Daher müssen Qualitätsstandards vereinbart wer- – Das gehört dazu. – Gleichzeitig hat sie mit Ministerin den, die von allen europäischen Hochschulen anerkannt Bulmahn durch strukturell notwendige Veränderungen werden. Konsequenterweise muss es dann auch ein die Internationalisierung des deutschen Hochschul- transparentes, wechselseitig anerkanntes System von wesens vorangetrieben. Sie hat den Reformprozess zum Studienabschlüssen geben. Teil initiiert, zum Teil unterstützt und begleitet. Vorausgegangen war der Bologna-Erklärung der Bil- (Zuruf von der CDU/CSU: Von welcher dungsminister ein historischer Prozess, der eine un- Ministerin reden Sie?) glaubliche Dynamik entfacht hatte. Die politischen Um- So hat die Novellierung des Hochschulrahmenge- brüche Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre – ich setzes zur internationalen Attraktivität des Hochschul- nenne als Stichwort den Fall der Mauer – verstärkten den standortes Deutschland beigetragen. Wunsch nach einem vereinten Europa. Diese Entwick- lung veränderte auch die Hochschulen nachhaltig und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten führte zu einer zunehmenden Mobilität der Studieren- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg den. So hat sich zum Beispiel zwischen 1991 und 2001 Tauss [SPD]: Das ist die Wahrheit!) die Zahl ausländischer Studierender an deutschen Durch die Einführung gestufter Studiengänge haben Stu- Hochschulen mehr als verdoppelt: dierende die Möglichkeit bekommen, mit einem berufs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten qualifizierenden akademischen Abschluss, dem Bache- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lor, frühzeitig in die Berufspraxis einzusteigen und, wenn sie das Interesse haben, nach längeren Praxisphasen eine 1991 waren es nur gut 53 000 Studierende, 2001 bereits Studienphase, nämlich den Master, anzuschließen. über 117 000. (Zuruf der Abg. Katherina Reiche [CDU/ Ein Jahr nach Unterzeichnung der Bologna-Erklärung CSU]) der Bildungsminister trafen sich die europäischen Regie- – Auf den Bereich Qualifikation werde ich gleich noch rungschefs in Lissabon. Ihnen war bewusst, dass Euro- zu sprechen kommen. Sie müssen so qualifiziert sein, et- pas Zukunft in der Wissensgesellschaft liegt und dass was warten zu können. nur diejenigen, die in diesem Bereich Vorreiter sind, auch wirtschaftlich stark bleiben werden. Deshalb erwei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des terten sie die Zielsetzung der Bologna-Erklärung und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5291

Ute Berg (A) Eine weitere Strukturveränderung, die wir eingeführt (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der (C) haben, betrifft die Lehrenden an den Hochschulen. Mit Abg. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Einführung leistungsbezogener Elemente in die Be- NEN]) soldungsstruktur und der Einrichtung von Juniorprofes- Das Ergebnis: Die Zahl ausländischer Studierender an suren stärken wir die Wettbewerbsfähigkeit unseres deutschen Hochschulen steigt stetig. Hochschulsystems. Speziell die Juniorprofessur ist notwendig, damit wir im internationalen Wettbewerb um In der eben bereits zitierten OECD-Studie „Bildung die besten Nachwuchswissenschaftler bestehen können; auf einen Blick“ wird das bescheinigt, was gerade gesagt wurde, dass nämlich der Anstieg der Zahl ausländischer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Studierender hier in Deutschland extrem hoch war. Im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Vergleich zu allen anderen Ländern mit einem höheren Ulrike Flach [FDP]: Dann müssen Sie aber Anteil ausländischer Studierender handelte es sich um noch viel tun!) die dynamischste Entwicklung. Umgekehrt ist dasselbe denn so erhalten junge Forscherinnen und Forscher früh- zu verzeichnen: Auch deutsche Studierende gehen ver- zeitig die Gelegenheit, selbstständig zu arbeiten. Das alte stärkt ins Ausland. Ich denke, das ist genau das, was wir System der Habilitation steht diesem Ziel entgegen und erreichen wollten, nämlich eine Internationalisierung ist international nicht konkurrenzfähig. und ein verstärktes Streben von deutschen Studierenden in andere Länder und umgekehrt. Entgegen den Hiobsbotschaften der Kollegin Flach Die vor wenigen Tagen beendete Berlin-Konferenz von der FDP-Fraktion hat den Prozess dieser Internationalisierung weiter (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Qualifika- gefördert und war ein zusätzlicher entscheidender Mei- tion als Schaden – das ist sozialdemokratische lenstein auf dem Weg zu einem europäischen Hoch- Bildungspolitik!) schulraum; denn im Unterschied zu den bisherigen Kon- ferenzen wurden in Berlin Ziele vorgegeben, die mittels wird durch die jüngsten Zahlen des BMBF unterstrichen: fest vereinbarter Umsetzungsstrategien bis zur nächsten Die Juniorprofessur war und ist ein Erfolg. Auf eine Konferenz im Jahre 2005 in Bergen erreicht werden kön- Stelle bewerben sich durchschnittlich 7,3 Personen. Für nen. Ich nenne nur noch einmal die wichtigsten drei 15 Prozent der bisher besetzten Stellen konnten Nach- Punkte: wuchskräfte aus dem Ausland gewonnen werden und Erster Punkt. In allen 40 Bologna-Staaten soll bis zu (Ulrike Flach [FDP]: Die jüngsten Zahlen un- diesem Zeitpunkt die Einführung des zweistufigen Graduierungssystems in Angriff genommen werden. (B) terstreichen das leider nicht!) (D) Laut Hochschulrektorenkonferenz sind bei uns bis jetzt – auch das ist bemerkenswert – die Juniorprofessur ist 1 764 solcher Studiengänge geschaffen worden. Es ein Beitrag zur Frauenförderung an den Hochschulen; wurde schon darauf hingewiesen, dass der Prozentsatz der akkreditierten Studiengänge natürlich unbedingt (Ulrike Flach [FDP]: Auch das stimmt nicht!) weiterhin erhöht werden muss; denn bisher gibt es erst denn der Frauenanteil beträgt hier 25 Prozent, während 338 dieser Studiengänge. er bei den „normalen“ Professuren nur 11,11 Prozent be- Zweiter Punkt. Die Entwicklung und Durchsetzung trägt. von vergleichbaren Qualitätsstandards soll auf euro- päischer und nationaler Ebene forciert werden. Frau (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Reiche, jetzt komme ich noch einmal ganz explizit auf DIE GRÜNEN – Katherina Reiche [CDU/ die von Ihnen angesprochene Qualität: Dazu wurde das CSU]: Nur können sie dann keine Kinder mehr European Network of Quality Assurance – das ist ein bekommen, Frau Berg!) Zusammenschluss von Qualitätssicherungsagenturen – Aber auch verschiedene Förderprogramme haben zur ins Leben gerufen. Es wird in Abstimmung mit den eu- Internationalisierung der deutschen Studiengänge beige- ropäischen Hochschul- und Studentenverbänden Verfah- tragen; die Ministerin hat eben schon einige genannt. ren und Leitlinien für die europäische Qualitätssicherung Hier sind das Modellprogramm „International ausgerich- entwickeln. Am Ende muss man – salopp formuliert – tete Studiengänge“, das „Master-Plus“-Programm, durch sagen können: Ein Hochschulstudium „Made in Europe“ das die Mobilität deutscher und ausländischer Studieren- ist ein weltweit anerkanntes Gütesiegel. der mit einem ersten Hochschulabschluss unterstützt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird, und das Bund-Länder-Kommissions-Modellver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der suchsprogramm „Neue Studiengänge“ zu nennen. Abg. Ulrike Flach [FDP]) Auch das professionelle Hochschulmarketing mit Dritter Punkt. Die kostenlose Ausstellung eines Di- werbewirksamen Hochschulauftritten auf internationa- ploma Supplement zu jedem Studienabschluss ist wich- len Messen unter dem Motto „Hi! Potentials – Interna- tig, weil damit die Abschlüsse erst richtig vergleichbar tional careers made in Germany“ hat zu einem Erfolg ge- werden. In dieser Ergänzung zum Abschlusszeugnis führt und dafür gesorgt, dass der Hochschul- und wird genau festgehalten, welche Leistungen während Forschungsstandort Deutschland noch stärker als bisher des Studiums erbracht wurden und über welche Qualifi- wahrgenommen wurde. kationen der Absolvent verfügt. Das Endziel lautet: Wo 5292 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Ute Berg (A) Master draufsteht, ist auch Master drin – und zwar euro- Wenn wir international erfolgreich sein wollen, sind (C) paweit. Wir streben diesem Endziel Schritt für Schritt wir gut beraten, die Vereinbarungen, die auf der Berlin- mit einer Geschwindigkeit entgegen, die bisher von kei- Konferenz getroffen wurden, auf nationaler Ebene jetzt ner anderen Regierung in Deutschland vorgegeben zügig umzusetzen. Für ein kooperatives und planvolles wurde. Vorgehen sind dabei drei Schritte besonders wichtig: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Bundesregierung muss zeitnah zu einer nationa- DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Oh len Umsetzungskonferenz einladen. Länder, Hochschu- doch!) len, ihre Verbände und Vereine und weitere hochschul- politische Akteure müssen dort eine Strategie für die Ich komme nun auf zwei weitere Aspekte, die sicher- Umsetzung der gemeinsam definierten Ziele erarbeiten lich im Laufe der nächsten Phase noch an Bedeutung ge- und festlegen, bis wann diese Ziele erreicht werden sol- winnen werden. Die Unterzeichnerstaaten betonen in len. Der Zeitrahmen ist ganz wichtig. dem Abschlusskommuniqué die Notwendigkeit lebens- langen Lernens in einem europäischen Hochschulraum Darüber hinaus ist die Einrichtung einer ständigen na- und fordern, die Bedingungen dafür zu schaffen. Ein er- tionalen Bologna-Task-Force sinnvoll. Bund, Länder, weiterter Hochschulzugang und flexible Bildungswege Hochschulen und Studierende – es wurde ja schon be- bieten hier Möglichkeiten. tont, wie wichtig auch die Integration der Studierenden Der zweite Punkt ist die Verknüpfung des europäi- in diesen Prozess ist – sollen hier vertreten sein, um die schen Hochschulraums mit dem europäischen For- Umsetzung der Ziele zu begleiten und zu kontrollieren. schungsraum. In diesen Zusammenhang gehört auch Damit der Deutsche Bundestag an dem Reformpro- die Integration der Doktorandenausbildung in den Bo- zess beteiligt wird, fordern wir die Bundesregierung auf, logna-Prozess als dritte Stufe des Graduierungssystems. das Parlament rechtzeitig vor den anstehenden Bologna- Ich persönlich hätte mir an dieser Stelle noch etwas mehr Folgekonferenzen über die Erfolge, die auf nationaler gewünscht, nämlich die Forderung nach der strukturier- Ebene erzielt wurden, zu unterrichten. ten Doktorandenausbildung. In jedem Fall muss aber Exzellenz ein herausragendes Markenzeichen des euro- (Ulrike Flach [FDP]: Das ist schön! Hoffent- päischen Hochschulraums sein. lich gibt es die dann auch!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bologna, die Hauptstadt der norditalienischen Region des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Emilia Romagna, steht für den Ausgangspunkt des euro- (B) Vergleicht man den Bologna-Prozess mit der Ge- päischen Universitätswesens im 12. Jahrhundert. Der (D) schichte eines Hausbaus, so können wir den jetzigen Bologna-Prozess zu Beginn des 21. Jahrhunderts, der Stand wie folgt beschreiben: Das Fundament ist gelegt, nicht von ungefähr in dieser italienischen Stadt seinen der Termin der Endabnahme ist bestimmt und wir bauen Ursprung nahm und nach ihr benannt wurde, kennzeich- zurzeit Stockwerk für Stockwerk auf und haben die De- net eine Entwicklung hin zu einem gemeinsamen euro- tailgestaltung und den Zeitrahmen für die Erstellung der päischen Hochschulraum. Dieser europäische Hoch- Gewerke festgelegt. Wer schon einmal gebaut hat, der schulraum zeichnet sich durch Transparenz und weiß: Man muss immer wieder Zwischenabnahmen ver- vergleichbare Standards aus. In ihm werden sich Leh- abreden, wenn es nicht zu bösen Überraschungen kom- rende und Lernende ohne Einschränkungen bewegen men soll. Diese Verabredungen bzw. Bestandsaufnah- und arbeiten können. Dieser internationale Hochschul- men, das so genannte „stock taking“, wurden in Berlin raum wird sich im internationalen Wettbewerb erfolg- am 18. und 19. September beschlossen. reich behaupten. Er wird einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass Europa sich bis zum Jahr 2010 tatsäch- Bis zur Endabnahme im Jahr 2010 gibt es zugegebe- lich zum größten wissensbasierten Wirtschaftsraum der nermaßen noch viel zu tun. Dabei wird auch der Koordi- Welt entwickelt. nations- und Kooperationsbedarf von Bund und Län- dern enorm groß sein. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten sich überlegen, ob Sie in diesem Prozess zu den (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) Architekten oder zu den Blockierern zählen wollen. Die Aufkündigung der Zusammenarbeit, wie insbeson- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dere von den CDU/CSU-regierten Ländern angekündigt, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wäre genau das Gegenteil dessen, was bildungspolitisch jetzt geboten ist. Ich werbe dafür, dass wir gemeinsam dafür eintreten, dass dieser Prozess im vorgesehenen Zeitraum zu einem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach Erfolg für den Wissens- und Bildungsstandort Europa [FDP]) wird. Nur so können wir in einem rohstoffarmen Land international konkurrenzfähig bleiben. Dafür, meine ich, Wenn es dazu überhaupt noch eines Beweises bedurft lohnt es sich, engagiert zu streiten. hätte, der Bologna-Prozess liefert ihn, Frau Reiche. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5293

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Nun gehört aber – Frau Berg, in diesem Punkt bin ich (C) Ich erteile der Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion, anderer Meinung als Sie; dies hat nichts damit zu tun, das Wort. immer das Haar in der Suppe zu finden – zu dieser Be- wertung auch eine realistische Betrachtung des deut- schen Standortes. Ulrike Flach (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bo- der CDU/CSU) logna-Erklärung war ein erster Schritt zu einem quali- tätsorientierten, transparenten und einheitlichen euro- Dabei verliert die Vision leider sehr deutlich und schnell päischen Bildungsraum. Liebe Frau Berg, diese an Kraft. Entwicklung wurde von denjenigen eingeleitet, die Sie eben als Blockierer bezeichnet haben. Ich glaube, wir Wie sieht es aus? Von den bereits angeführten circa sind uns alle einig, dass dies in den 90er-Jahren ein 15 000 Studiengängen sind erst 338 akkreditiert, Frau wichtiger und entscheidender Schritt war. Reiche. Wir sind bei der Akkreditierung wirklich deut- lich zu langsam und zu bürokratisch. Wenn Sie sich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten überlegen, dass wir irgendwann einmal fertig werden der CDU/CSU) wollen, dann müssen wir eine geradezu raketenartige Geschwindigkeit vorlegen, damit wir diese Akkreditie- Es war eine Art bildungspolitische Zielvereinbarung der rung endlich auf den Weg bringen. EU-Partner. Die Berliner Vereinbarungen – auch darin sind wir Deutsche Hochschulen – diesen Vorwurf muss man uns völlig einig – gehen darüber hinaus. Es ist wichtig, leider erheben – neigen zum Etikettenschwindel. Dass dass man jetzt endlich konkret wurde, Termine setzte Diplomstudiengänge einfach nur umbenannt werden und gemeinsam erklärte, was man wirklich will. Für uns – sozusagen alter Wein in neuen Schläuchen –, darf nicht Liberale sind dabei einige Meilensteine besonders wich- sein. Wir haben damals eine wirkliche Studienreform tig: die interne und externe Qualitätssicherung an den auf den Weg gebracht. Wir wollen etwas anderes, etwas Hochschulen bis 2005 und die vollständige Einführung Neues. Gerade wir Liberalen erwarten von den Hoch- der Bachelor- und Masterstudiengänge bis 2010. Da- schulen, dass sie diesen Weg mitgehen. rin unterscheiden wir uns grundsätzlich von der CDU/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten CSU, liebe Frau Reiche. Wenn wir jetzt anfangen, der SPD und der CDU/CSU – Jörg Tauss Diplom-, Bachelor- und Masterstudiengänge gegenein- [SPD]: Das erwarten wir alle!) ander auszuspielen, haben wir schon verloren. Ich hoffe, (B) (D) ich habe Sie in diesem Punkt missverstanden. Das ist Es gibt nach wie vor kein deutschlandweit einheitliches nicht in unserem Sinne. Wir wollen diesen Übergang. transparentes Punktebewertungssystem. Manche Uni- Wir alle sollten gemeinsam an einem Strang ziehen. versitäten haben dieses Punktesystem überhaupt noch nicht umgesetzt, manche bewerten Seminare mit mehr (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Punkten, manche Vorlesungen. Das ist nicht die Transpa- der SPD) renz, die wir uns wünschen. Das ist an vielen Stellen Wichtig ist für uns das fremdsprachige Diploma Sup- nach wie vor Kuddelmuddel. plement. Meine Kollegen haben mich gebeten, diesen Hinzu kommt, dass die Verhältnisse an unseren Uni- Begriff zu übersetzen. Es handelt sich um eine fremd- versitäten oft schlechter als in den anderen EU-Staaten sprachige Ergänzung; dies für diejenigen, die es bisher sind. Bei uns rangeln Studenten nach wie vor um Labor- noch nicht wussten. Wichtig ist ein hoch stehendes, plätze. Es fehlt naturwissenschaftliches Instrumenta- möglichst interdisziplinäres Doktorandenstudium. Ganz rium. In England ist das anders. In England geht das ein- wichtig – das sehen Sie an unserem Antrag, der Ihnen fach schneller. Damit haben wir unterschiedliche heute vorgelegt wurde – ist die Mitnahme nationaler Wettbewerbsbedingungen in den europäischen Staaten. Ausbildungsförderung ins Ausland. Da muss ich das Gleiche sagen, was ich in der letzten Die Berliner Konferenz – Frau Ministerin, das er- Sitzungswoche an dieser Stelle auch gesagt habe, Frau kennen wir gerne an – war vom internationalen Stand- Bulmahn: Wenn Sie die Hochschulbaufördermittel redu- punkt her ein Erfolg; das ist gar keine Frage. Die Auf- zieren, sind wir auf dem genau entgegengesetzten Weg. nahme zusätzlicher Staaten wie Russland gibt dem Dann werden wir unsere Verhältnisse nicht verbessern. Bologna-Prozess eine wirkliche europäische Dimension. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Der europäische Bildungsraum ist damit endlich wieder der CDU/CSU) eine kraftvolle Vision, die gerade zu Beginn des Wahl- kampfes für die Europawahl im nächsten Jahr auch Wir müssen im Gleitflug hoch, nicht runter. junge Leute in diesen Integrationsprozess mitnimmt. Wir haben außerdem Probleme mit dem Übergang Der Bologna-Prozess kann mehr Qualität und Wett- vom Bachelor zum Master. Deshalb kommt es zu bewerb bringen. Das hat die bürgerliche Regierung un- schon abstrusen Vorschlägen wie der Quotierung der ter Kohl in den 90er-Jahren bewegt, diesen Prozess über- Übergänge vom Bachelor zum Master, wie es die von haupt in Gang zu setzen. Die Berliner Konferenz nimmt uns so geliebte Kultusministerkonferenz vorgeschlagen diesen roten Faden jetzt wieder auf. hat. An dieser Stelle möchte ich ganz deutlich sagen: 5294 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Ulrike Flach (A) Das ist die zweite wichtige Debatte, bei der kein wichti- Tarifverträge werden immer noch zwischen Tarifver- (C) ger Ländervertreter anwesend ist. tragsparteien geschlossen, aber leider oder Gott sei Dank – man kann das bewerten wie man will – nicht hier im (Beifall bei der FDP) Deutschen Bundestag verabschiedet. Dürfen wir damit Das ist ein Skandal, denn wir müssen alle zusammen et- rechnen, dass von den Ländern, in denen die FDP mitre- was für diesen Bildungsstandort tun. giert, in den nächsten Tagen und Wochen – so habe ich Ihre Ankündigung verstanden – Initiativen auf den Weg (Beifall bei der FDP) gebracht werden, beispielsweise über die Tarifgemein- Ein Hemmnis für mehr Internationalität ist auch das schaft der Länder, mit den Forschungsorganisationen verkrustete deutsche Beamtenrecht. Bislang verhindern und den anderen Beteiligten zu wissenschaftstarifver- gesetzliche oder bürokratische Vorgaben, dass ein deut- traglichen Regelungen zu kommen? Ich würde das übri- scher Professor nach Frankreich berufen wird. Das hat gens sehr begrüßen. Haben Sie das schon auf den Weg Herr Professor Gaehtgens sehr richtig als absurd be- gebracht? Hier hilft uns das relativ wenig. zeichnet. An dieser Stelle möchte ich ein Zitat vorlesen: Ich hoffe, meine zarte Stimme ist rübergekommen. Die Überprüfung und Reform des Dienstrechtes und der Personalstruktur ist überfällig ... bis jetzt Ulrike Flach (FDP): sind die Vorschläge der Regierung in dieser Frage Lieber Herr Tauss, meine Sympathie für Sie nimmt eine Nullnummer. gerade ruckartig ab. Liebe Frau Bulmahn, das haben Sie am 13. Februar 1998 (Jörg Tauss [SPD]: Das ist schade!) diesem Bundestag mitgeteilt. Das war ein Vorwurf an Das Problem ist, dass wir uns hier im Bundestag befin- die alte Regierung Kohl. Aber seitdem hat sich nichts den und dass wir Bundesminister haben. Ich bin übri- verändert, Frau Bulmahn. gens froh, dass Frau Zypries und Herr Schily anwesend (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt aber!) sind, denn sie sind diejenigen – das wissen Sie genauso gut wie ich –, die das Problem für die Bundesebene – Es hat sich nichts verändert, lieber Herr Tauss. Wir schaffen. Wir müssen den Schritt auf Bundesebene ge- warten alle voll Spannung auf das Wissenschaftstarif- hen. Wir müssen einen eigenen Spartentarifvertrag zu- vertragsrecht. Die Liberalen werden entsprechende lassen. Herr Schily tut unserer zuständigen Bildungsmi- Vorschläge in den nächsten Wochen machen. Wir wer- nisterin einiges an. Ich erwarte vom Innenminister, dass den hier an dieser Stelle über den Wissenschaftstarifver- er endlich den Weg für das freimacht, was die Wissen- trag endlich diskutieren und nicht nur theoretische De- schaftsorganisationen und wir Liberalen seit vielen Jah- (B) (D) batten führen. ren fordern. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Es ist ja auch sehr schön, dass jetzt Russland Teil des [CDU/CSU]: Sehr richtig! Und Bologna-Vertragswerkes ist. jetzt: Setzen, Tauss!)

Präsident Wolfgang Thierse: Präsident Wolfgang Thierse: Darf Herr Tauss nachfragen? Frau Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Tauss? (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)

Ulrike Flach (FDP): Ulrike Flach (FDP): Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass Herr Jetzt kommt der Augenblick, wo ich meine Sympa- Tauss stimmgeschwächt ist. thie völlig auf Null herunterfahre. Lieber Herr Tauss, jetzt möchte ich nichts mehr hören, sondern weiterreden. (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Das ist Liebesentzug!) Präsident Wolfgang Thierse: – Ja, es ist Liebesentzug, wirklich! Heißt das nun Ja oder Nein? Ich möchte jetzt noch etwas über Russland sagen. Un- Ulrike Flach (FDP): ser Antrag bezieht sich darauf, dass Ich liebe Herrn Tauss. Bitte schön. (Jörg Tauss [SPD]: Dazu hätte ich auch eine Frage!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Geschmacksver- irrung!) das Auslands-BAföG endgültig reformiert werden muss. Jörg Tauss (SPD): (Beifall bei der FDP) Ich danke Ihnen. Wegen der Stimmschwäche, liebe Frau Bulmahn, Sie haben das Auslands-BAföG als einen Frau Kollegin, benutze ich das Mikrofon. der Hauptschwachpunkte bezeichnet. Unser Vorschlag Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5295

Ulrike Flach (A) liegt auf dem Tisch. Ich erwarte Ihren Vorschlag, damit In dieser Hinsicht lässt das Kommuniqué zu meiner gro- (C) wir gemeinsam an der Überwindung dieses schweren ßen Freude keinen Zweifel aufkommen. Diese Haltung Mankos arbeiten können. Es kann nicht sein, dass je- wird uns auch im weiteren GATS-Prozess helfen. Bil- mand erst in Russland anfangen muss zu studieren, wenn dung ist nun einmal keine Ware wie jede andere, sondern er Auslands-BAföG beziehen möchte, dass es nur für ein muss gesondert be- und verhandelt werden. Jahr gewährt wird und so viel Bürokratie damit verbun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den ist. Hier stößt die schöne Vision eines einheitlichen sowie bei Abgeordneten der SPD) Bildungsraumes wirklich sehr schnell an harte EU- Außengrenzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie mich nicht missverstehen: Auch wir wollen neue internationale An- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne gebote und Ansätze im deutschen Bildungssystem er- Kastner) möglichen. Das darf aber nur unter der Maßgabe hoher Nun komme ich leider zum Schluss meiner Rede, Qualitätsstandards geschehen und das öffentliche Bil- meine Damen und Herren. Frau Bulmahn hat auf der dungssystem nicht gefährden. Berliner Konferenz in der vergangenen Woche gesagt: Die Qualitätssicherung europaweit schon bis zum Wir dürfen den Schwung gerade angesichts zahlrei- Jahr 2005 zu etablieren ist eine ehrgeizige, aber völlig cher zu bewältigender Aufgaben nicht verlieren. richtige Zielsetzung dieser Konferenz. Alle Beteiligten sollten hier im Interesse der deutschen Hochschulen Ich will Ihnen, Frau Bulmahn, an dieser Stelle ganz deut- konstruktiv zusammenarbeiten, um diesem Projekt der lich sagen: Sie haben unsere Mitarbeit angefordert. Wir Qualitätssicherung zum Erfolg zu verhelfen. als Liberale sind auf diesem schwierigen europäischen Weg an Ihrer Seite, und zwar ganz dezidiert auch im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hinblick auf den Kampf mit den Ländern, mit den Uni- sowie bei Abgeordneten der SPD) versitäten und hinsichtlich der Umsetzung in der Wirt- Ein zweiter wesentlicher Punkt: Die Konferenzteil- schaft; sie ist nämlich der dritte, sehr schwierige Partner. nehmerinnen und -teilnehmer betonen an vorderster Wir wollen diese Entwicklung und wir sind in keiner Stelle die soziale Dimension des Bologna-Prozesses. Weise bereit, konservativ zurückzugehen. Damit werden die richtigen Prioritäten für die politische (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Agenda gesetzt. Die wirklichen Grenzen für die Studie- renden liegen heute nämlich immer noch in ihrer finan- Wir wollen nach vorn und wir sind dabei! ziellen und sozialen Absicherung für ihr jeweiliges Aus- landsstudium. (B) (Beifall bei der FDP) (D) Die Berliner Konferenz hat nun begonnen, diese Bar- rieren niederzureißen. Denn nur so kann es wieder Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ebenso selbstverständlich werden, in Krakau oder Prag Die nächste Rednerin ist die Kollegin Grietje Bettin, zu studieren wie in Madrid oder Paris, in Budapest ge- Bündnis 90/Die Grünen. nauso wie in London oder Stockholm. Wir müssen diese Mobilität von europäischer Ebene aus für alle Studieren- Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den sichern, egal aus welchem Land sie kommen. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Die Bundesregierung hat mit der BAföG-Reform in legen! Eine Vorbemerkung zu Frau Flach und zum Wis- der letzten Legislaturperiode die Weichen hierzu bereits senschaftstarifvertrag: Auch wir Grünen stehen hier richtig gestellt. Deutsche Studierende können viel leich- aufseiten unserer Wissenschaftsministerin und hoffen, ter als früher ihr BAföG mit ins Ausland nehmen. dass nun endlich Bewegung in die Sache kommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, der Zugang zur akademi- Wir halten das für ein notwendiges Mittel, um in der schen Bildung je nach individueller Leistungsfähigkeit Wissenschaft entsprechend flexibel weiterzukommen. ist eine weitere, besonders wichtige gemeinsame Ver- pflichtung. Genau hierin besteht in Deutschland noch ein Nun aber zu dem eigentlichen Thema, zur Bologna- erheblicher Nachholbedarf. Wir müssen endlich die so- Konferenz. Eines ist Ende letzter Woche deutlich gewor- ziale Auslese im Bildungssystem beseitigen und den Ta- den: Für den Stellenwert von akademischer Bildung in lenten aller Menschen in Deutschland – nicht nur der Europa war die Konferenz der Bildungsminister in Ber- Besserverdienenden – die Möglichkeit bieten, sich zu lin ein voller Erfolg. Das Abschlusskommuniqué steckt entwickeln. in deutlicher Weise den Rahmen ab, wie ein Studium in Europa in naher Zukunft aussehen wird. Dabei werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wichtige Punkte hervorgehoben. sowie bei Abgeordneten der SPD) Erstens. Bildung ist ein öffentliches Gut, das auf kei- In Deutschland müssen endlich so viele Akademike- nen Fall Marktinteressen untergeordnet werden darf. rinnen und Akademiker ausgebildet werden, wie dieses Land braucht. Wenn wir weiter hinterherhinken, dann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kann das deutsche Bildungssystem zur Belastung für den 5296 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Grietje Bettin (A) europäischen Einigungsprozess werden. Wir wollen die- keit für Studierende in Europa. Dieses Anliegen ist von (C) ses Problem nicht kleinreden, wie es die ansonsten von größter Bedeutung und deshalb unterstützenswert. mir durchaus geschätzte Frau Staatsministerin Wolff zu- letzt versucht hat. Die europäischen Bildungsminister haben sich über die Schaffung eines europäischen Hochschulraums Der Antrag der Koalition greift notwendige Schritte bis 2001 verständigt. Dieses Ziel soll unter Beachtung auf. Wir wollen im europäischen Hochschulraum Ver- der institutionellen Kompetenzen, der nationalen Bil- gleichbarkeit und Transparenz schaffen, ohne die Viel- dungssysteme und vor allem der Autonomie der Hoch- falt akademischer Bildungsmöglichkeiten einzuschrän- schulen umgesetzt werden. ken. Wir brauchen eine bundesweite Koordination der durch Bologna, Lissabon, Prag und Berlin angestoßenen Auf der Nachfolgekonferenz in Berlin sollten über die Prozesse an den deutschen Hochschulen. Allein die Ein- Fortschritte Bilanz gezogen sowie Richtung und Priori- führung des so genannten Europäischen Kreditpunkte- täten festgelegt werden. Positiv zu vermerken ist zu- Systems macht noch an vielen Hochschulen Schwierig- nächst, dass das Doktorandenstudium als weiteres Ziel keiten. Wir müssen dringend auf Kompatibilität achten. des Bologna-Prozesses festgelegt wurde. Lassen Sie mich abschließend noch etwas zum Wegen der Tragweite der Entscheidungen und der Thema Kompatibilität und Akzeptanz ausführen. Mit der Tatsache, dass wir in vielen Positionen Neuland betreten, gesellschaftlichen Anerkennung der neuen Bachelor- sei auf kritische Punkte der Bologna-Nachfolgekon- und Masterstudiengänge ist es in Deutschland bislang ferenz hingewiesen. Diese Kritik betrifft sowohl inhalt- nicht so weit gediehen, wie wir alle uns das wünschen. liche Fragen als auch Verfahrensfragen. Diese Innovation braucht ihre Zeit, um bei den Studie- Ich möchte mich dabei auf drei Schwerpunkte kon- renden, aber vor allem auch bei der Wirtschaft Vertrauen zentrieren: erstens das fehlende Verständnis bei den zu gewinnen. Die Beteiligten in Politik und Wissen- Adressaten des Bologna-Prozesses, zweitens die Akkre- schaft müssen ihren Beitrag leisten, um dieses Vertrauen ditierung und Qualitätskontrolle und drittens die Erwei- zu rechtfertigen. Die Studienpläne sind in vielen Fächern terung des Bologna-Prozesses. reformbedürftig. Es ist keineswegs damit getan, den Ma- gister durch den Master zu ersetzen und ansonsten alles Die Umsetzung des Bologna-Prozesses wird nur von beim Alten zu belassen. Erfolg gekrönt werden, wenn die Adressaten – also die Universitäten, Studenten und späteren Arbeitgeber – von Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Prozess der In- den Zielen überzeugt sind. tegration der europäischen Hochschulen ist eine riesige Chance für alle deutschen Hochschulen und für alle (Beifall bei der CDU/CSU) (B) deutschen Studierenden. Wenn wir die Dynamik in die- (D) sem Prozess nutzen, gelangen wir im europäischen Ver- Eines der Kernelemente des Bologna-Prozesses ist bund wieder zurück an die Weltspitze. Lassen Sie uns die Umstellung unseres Studiensystems auf eine zwei- diese Chance gemeinsam ergreifen! Die heutige Debatte stufige Struktur. Die letzte Erhebung der Hochschulrek- lässt uns hoffen. torenkonferenz weist für das laufende Wintersemester in Deutschland fast 1 800 Bachelor- und Masterstudien- Vielen Dank. gänge aus. Im Zeitraum 2002/03 entschieden sich aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur 2 Prozent der Studierenden für das neue System. Das und bei der SPD) ist doch eine recht kleine Anzahl. Mit anderen Worten: Die Universitäten, die Studenten und die Arbeitgeber stehen noch vor einem gewaltigen Umsetzungs- und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Verständnisprozess. Alle schönen Worte auf den Konfe- Das Wort hat die Kollegin Marion Seib, CDU/CSU- renzen werden umsonst sein, wenn sich insbesondere die Fraktion. Lehrenden an den Hochschulen nicht konsequent und (Beifall bei der CDU/CSU) hoch motiviert daran beteiligen. (Beifall bei der CDU/CSU) Marion Seib (CDU/CSU): Die Einführung der Bachelor- und Masterstudien- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen gänge darf nicht mit der einfachen Umwandlung der und Herren! Im Mittelalter ging von Bologna – einer der Vordiplome in Bachelorabschlüsse und der Diplome in ältesten Universitätsstädte der Welt – in Sachen Bildung Masterabschlüsse verwechselt werden. Gerade die Ein- eine Initialzündung mit Auswirkungen auf die gesamte führung des Bachelor wird die Hochschullehrer bei der europäische Wissenschaftslandschaft aus. Betrachten Konzeption der neuen Studiengänge zwingen, sich auf wir den heutigen Bologna-Prozess als Synonym für eine die wesentlichen Kernbereiche der beteiligten Fächer zu Initialzündung zur Weiterentwicklung der Bildungssys- einigen, ohne die Berufsbefähigung der Bachelor- teme in Europa. Der Bologna-Prozess hat das Bewusst- abschlüsse aus den Augen zu verlieren. sein für die Notwendigkeit eines einheitlichen Hoch- schulraums in Europa geschärft. Eine wichtige Rolle bei der Motivation der Lehrenden spielt insbesondere der finanzielle Entscheidungsspiel- Ziel ist – darin sind wir uns alle einig; das hat auch je- raum. Hier gibt der Bund ein schlechtes Vorbild ab. der meiner Vorredner betont – die größtmögliche Flexi- bilität, Mobilität und internationale Wettbewerbsfähig- (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5297

Marion Seib (A) Im nächsten Jahr will er beim Hochschulbau 135 Mil- rungsstau nicht so leicht abbauen lässt. Selbst wenn es (C) lionen Euro – das sind rund 13 Prozent der bisherigen zu Gruppenakkreditierungen kommt und mehrere Stu- Mittel – sparen. Durch das Studiengebührenverbot ver- diengänge in einem Verfahren zusammengefasst werden, baut er darüber hinaus den Hochschulen weitere Einnah- frage ich: Woher sollen die für die Akkreditierungsver- memöglichkeiten. Dies führt auf Dauer zu Frust und De- fahren erforderlichen Gutachter kommen? Schon jetzt motivation bei den Entscheidungsträgern an den klagen die Agenturen über einen Mangel an Gutachtern. Hochschulen und kann unserem gemeinsamen Anliegen nicht dienlich sein. Frau Flach, wir müssen – bundesweit – noch einmal über Folgendes reden: Auch wenn Bachelor und Master (Beifall bei der CDU/CSU) in Zukunft die wichtigsten Abschlüsse im Hochschulbe- reich darstellen werden, dürfen sie Diplomstudiengänge Der Bologna-Prozess mit all seinen Chancen ist noch nicht völlig verdrängen. Die Kultusministerkonferenz nicht in den Köpfen der jungen Menschen angekommen. hat dies als richtig erkannt und sich in ihren zehn Thesen Die katastrophale Arbeitsmarktlage – das gilt auch in zur Bachelor- und Masterstruktur in Deutschland für die steigendem Maße für Akademiker – zwingt junge Men- Beibehaltung bewährter Diplomabschlüsse über das Jahr schen verstärkt auf die berufliche Perspektive eines 2010 hinaus ausgesprochen. Dies betrifft vor allem die Hochschulabschlusses zu achten, zumal deutsche Studie- weltweit anerkannten deutschen Ingenieurdiplome. Hier rende mit 16 Millionen Studierenden europaweit in Kon- sollte man Bewährtes nicht fahrlässig aufgeben und über kurrenz um Lohn und Brot stehen. Neue Abschlüsse Bord werfen. ohne Rückschluss auf die Tauglichkeit im Berufsalltag entwickeln unter diesen Umständen nur wenig Anzie- (Beifall bei der CDU/CSU) hungskraft. Bei der Umsetzung der Qualitätsabsicherung dürfen Mit ihrer Verunsicherung stehen die Studenten aber wir nicht vergessen, dass wir es nicht nur mit dem EU- nicht alleine da. Auch ein Großteil der potenziellen Ar- Raum zu tun haben; die internationalen Entwicklungen beitgeber ist vielfach noch nicht hinreichend über die im Bereich der Hochschulen, die zum Teil gegenläufig neuen Abschlüsse und deren Möglichkeiten informiert. sind – wie in den USA –, dürfen wir nicht aus den Augen Damit meine ich nicht die internationalen Großkon- verlieren. Der Erfahrungsaustausch in den supranationa- zerne. Ich spreche vielmehr vom deutschen Mittelstand, len Netzwerken wird und muss auf die europäische von dem Rückgrat unserer Wirtschaft. Der Mittelstand Hochschullandschaft zurückwirken. Der Bologna-Pro- sind 3 Millionen Unternehmen mit 20 Millionen Be- zess umfasst nicht nur EU-Staaten oder zukünftige EU- schäftigten. Diese Unternehmen beschäftigen zwei Drit- Mitglieder, sondern auch viele weitere Länder; beispiels- (B) tel aller Arbeitnehmer in Deutschland. Die Mehrheit der weise gehören so unterschiedliche Staaten wie Norwe- (D) Hochschulabsolventen findet hier ihren ersten Arbeits- gen oder die Türkei zu den Teilnehmern am Bologna- platz. Prozess. In Berlin wurden weitere Länder aufgenom- men, darunter Albanien, Bosnien-Herzegowina, Russ- (Beifall bei der CDU/CSU) land und der Vatikan. Damit ist die Anzahl auf 40 gestie- gen. Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Errichtung eines europäischen Hochschulraums ist die Qualitätssiche- Ganze Regionen, wie die Karibik oder Lateinamerika, rung der einzelnen Studiengänge. Die beiden Instru- sind an einer engeren Zusammenarbeit mit den Ländern, mente zur Qualitätssicherung – Evaluation für die in- die am Bologna-Prozess teilnehmen, interessiert. Bei terne Qualitätsverbesserung und Akkreditierung zur dieser Entwicklung sei die Frage erlaubt, ob der Bolo- Einhaltung extern vorgegebener Standards – stehen im gna-Prozess nicht über das Ziel hinausschießt. Ist eine Vordergrund der Diskussion. Auch das Berliner Kom- Bildungslandschaft von Lissabon bis Wladiwostok oder muniqué der Ministerkonferenz geht auf die Qualitäts- von Berlin bis Rio noch überschaubar? Ziel des Bolo- sicherung ein. Bis zum Jahr 2005 sollen in allen Ländern gna-Prozesses war und ist es, die weltweite Ausstrah- entsprechende Strukturen geschaffen werden, danach lungskraft und die Wettbewerbsfähigkeit des europäi- sollen die internationalen Qualitätssicherungssysteme in schen Hochschulraums zu stärken. In der Bologna- ein europäisches Netzwerk für Qualitätssicherung einge- Erklärung von 1999 heißt es ausdrücklich: bunden werden. Nur ein solches Netzwerk kann die Vielfalt kultureller Traditionen der verschiedenen Län- Das Europa des Wissens kann seinen Bürgern die der widerspiegeln. notwendigen Kompetenzen für die Herausforderun- gen des neuen Jahrtausends ebenso vermitteln wie Bei der hochschulübergreifenden Qualitätssicherung ein Bewusstsein für gemeinsame Werte und ein Ge- hat sich Deutschland für die Einrichtung eines Akkre- fühl der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen so- ditierungsrates entschieden. Dieser Rat hat inzwischen zialen und kulturellen Raum. sechs Agenturen zugelassen, die wiederum Studien- gänge akkreditieren. Auf den ersten Blick sind wir vo- Durch die Erweiterung des Bologna-Prozesses über rangekommen. Aber ein genauer Blick auf die Zahlen den europäischen Kontinent hinaus sehe ich das Grund- trübt das Bild. Wir haben bis jetzt nur 338 akkreditierte verständnis der Bologna-Idee gefährdet. Die Idee eines Studiengänge. Bei gut 11 000 Studiengängen an deut- gemeinsamen europäischen Hochschulraums wird da- schen Hochschulen ist das ein verschwindend geringer durch eher verwässert als vorangebracht und kann zu Anteil. Es bleibt zu befürchten, dass sich der Akkreditie- herben Enttäuschungen bei allen Beteiligten führen. 5298 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Marion Seib (A) Sehr geehrte Frau Ministerin, am Ende des Rück- Die Diskussion über Studiengebühren ist doch nur ein (C) blicks auf die Berliner Ministerkonferenz möchte ich Sie Vorspiel für diejenigen, die Bildung als Geld bringende auffordern: Dienstleistung auf den Markt bringen wollen. Es besteht die reale Gefahr, dass mit den GATS-Verhandlungen ein Erstens. Wecken Sie das Verständnis bei den Adressa- Wettbewerb um die tertiäre Bildung entfesselt wird, der ten des Bologna-Prozesses in Deutschland, damit die für unsere Gesellschaft nicht gut ist. Die Vermarktung Motivation verbessert und die Kommunikation zwischen der Bildung wird zwangsläufig die Einschränkung frei Absolventen, Hochschulen und der Wirtschaft fortge- zugänglicher Bildung für bestimmte Bevölkerungsgrup- setzt wird! pen bedeuten. Die Bildungschancen werden wieder vom Zweitens. Stärken Sie unsere eigenen Qualitätssiche- Geldbeutel der Eltern abhängig sein. rungssysteme! Fördern Sie aktiv die Zusammenarbeit zwischen den zentralen Akkreditierungsorganisationen Meine Damen und Herren, ich möchte Sie an dieser in Europa! Stelle an den Sputnikschock von 1957 erinnern. Der Schock darüber, dass die Sowjetunion es geschafft hatte, Drittens. Behalten Sie bei der Neuaufnahme weiterer vor den Vereinigten Staaten von Amerika quasi den Mitglieder den Grundansatz der Bologna-Idee im Blick! Weltraum zu erobern, hatte für die USA eine heilsame Wirkung. Sie erkannten, dass ihr Bildungssystem, insbe- Wir werden Sie wohlwollend, aber sicher auch kri- sondere das Hochschulsystem, viel zu elitär war. Es ist tisch begleiten. zwar schon fast 50 Jahre her, aber trotzdem können wir Vielen Dank. uns daran erinnern, dass die USA in der Weise reagier- ten, dass sie ein Gesetz verabschiedeten, das die Hoch- (Beifall bei der CDU/CSU) schulen und Universitäten für breitere Bevölkerungs- schichten öffnete. Dieses Gesetz zeigte schnell Wirkung. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Vereinigten Staaten konnten damals im Bildungsbe- reich schnell aufholen. Nächste Rednerin ist Dr. Gesine Lötzsch. Warum dieser geschichtliche Rückblick? Wenn wir in Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Europa die Gefahren der Kommerzialisierung der Bil- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und dung nicht erkennen, wenn wir nicht erkennen, was mit Herren! Ich möchte den Gästen sagen: Ich bin Abgeord- den GATS-Verhandlungen auf dem Bildungssektor ge- nete der PDS. schehen kann, dann können wir in der Wissensgesell- schaft nur verlieren; denn für die moderne Wissensge- (B) Frau Bulmahn, Sie haben auf Ihrer Internetseite die- sellschaft braucht man nicht nur die Eliten, dafür braucht (D) ses Thema mit „Studieren ohne Grenzen“ überschrieben. man die ganze Gesellschaft, dafür braucht man freien Diese Idee ist uns sehr sympathisch. Doch es gibt Be- Zugang zur Bildung und dafür sollten sich alle einsetzen. fürchtungen, die – soweit ich weiß – auch Sie teilen, dass wir zwar bald eine gemeinsame europäische Hoch- Vielen Dank. schullandschaft ohne Grenzen haben werden, aber im- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) mer weniger Studierende über die finanziellen Mittel verfügen werden, um diese Grenzen wirklich zu über- schreiten. Ich meine, wir dürfen uns in dieser Debatte Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht nur über die Angleichung von Abschlüssen unter- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ernst Dieter halten, sondern wir müssen uns auch mit der sozialen Si- Rossmann, SPD-Fraktion. tuation von Studierenden beschäftigen.

Großbritannien ist nur ein Beispiel, das zeigt, dass Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): nach der Einführung von Studiengebühren die Bedin- gungen für die Studierenden immer schlechter geworden Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sind: Die Gebühren sind gestiegen und Freibeträge für Kollegen! Frau Reiche, Frau Flach, am Anfang möchte ärmere Studierende sind gesenkt worden. Eine Verbesse- ich Ihnen darin Recht geben, dass das ein gemeinsamer rung der Studienbedingungen an den staatlichen Hoch- Prozess ist, also ein Prozess, der nicht erst mit einer so- schulen und Universitäten konnte selten festgestellt wer- zialdemokratisch-grünen Regierung begonnen hat. Wenn den. man anerkennt, dass der Ausgangspunkt Sorbonne, Pa- ris, war, dann erkennt man auch an, dass es schon damals Auch in Deutschland wird das Thema Studiengebüh- einen Konsens gab und dass Herr Rüttgers an dem ersten ren heiß diskutiert. Die Rednerin der CDU/CSU meinte Schritt mitgewirkt und dort Einfluss genommen hat. unbedingt betonen zu müssen, dass Studiengebühren Wenn das so ist, dann kann man genauso anerkennen, eingeführt werden müssen. Ich denke, es ist ein Irr- auch ausdrücklich, dass eine sozialdemokratisch-grüne glaube, dass Studiengebühren die Situation in den Uni- Regierung mit einer Bildungsministerin Bulmahn in die- versitäten und Hochschulen verbessern und die Studen- sem Prozess ungemein konstruktiv, wirkungsvoll und tinnen und Studenten damit zu nachgefragten Kunden tief greifend positiv verändernd mitgewirkt hat. werden. Ich kann nur hoffen, dass man in Deutschland nicht die gleichen Fehler wie in Großbritannien machen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5299

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) Die Anerkennung des ersten Schritts von Herrn Rüttgers Es ist fast ein Wunder, welche Länder hierbei mitma- (C) führt dazu – hoffe ich –, dass das ganze Haus fair die chen. Dabei müssen wir immer wissen, welche Unter- Anerkennung für das ausspricht, was in vier Jahren da- schiede zwischen Ländern wie England, den Niederlan- rauf aufgebaut worden ist. den oder Deutschland als den reichsten Ländern und einem Land wie Albanien, einem der ärmsten Länder, (Ulrike Flach [FDP]: Noch freundlicher konnte es bestehen und wir müssen uns klar machen, dass wir uns nicht werden, Herr Rossman!) in diesem Prozess nicht überfordern dürfen. Ich meine wohl, dass es da auch Differenzierungen gibt. Es ist gut und wichtig, dass diese Erweiterung über Wenn wir jetzt eine Parlamentsdiskussion dazu füh- den engeren EU-Rahmen hinausgeht. Die Karibik und ren, dann müssen wir kritisch reflektieren, dass wir nach andere Staaten, die hier angesprochen wurden, sollen 1998, Sorbonne, glaube ich, keine große Parlamentsde- – so habe ich es jedenfalls verstanden – zwar nicht Teil batte zu diesem Thema gehabt haben, dass wir auch Bo- des europäischen Hochschulraums werden, aber es wäre logna ohne große Parlamentsdebatte haben vorbeigehen gut, wenn der Prozess, der sich jetzt in Europa vollzogen lassen – wir haben uns gefreut, aber wir haben das nicht hat, auch zum Vorbild für andere Regionen wird und sie zum parlamentarischen Gegenstand gemacht – und dass auf diese Weise auch am Prozess teilhaben können. für Prag das Gleiche gilt. In Berlin nun sind wir endlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ parlamentarisch beteiligt. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Ich glaube, auf dieser Ebene können wir zusammenfin- Selbstkritisch müssen wir aber sagen: Wir sind nach den, ohne dass irgendwelche Ressentiments geweckt Berlin dabei. In Zukunft muss es so sein, dass wir vor werden. der nächsten Konferenz in Bergen, vor dem nächsten Ein weiterer Punkt, der den Blickwinkel betrifft, ist Schritt, und vor den weiteren Schritten beteiligt werden. mir aufgefallen: Wir haben hier im Parlament immer (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) wieder schnell Europa und die USA verglichen und lange darüber diskutiert. Wir haben also das US-ameri- Das ist die Selbstverpflichtung, die wir als Parlamenta- kanische Hochschul- und Forschungssystem als Bezugs- rier haben. punkt für uns gewählt. Wir haben jetzt aber die Chance, Der Antrag, den wir von den Koalitionsfraktionen einen eigenen europäischen Bezugspunkt herzustellen. eingebracht haben, ist einer, der vieles nur begrüßen Das gibt neues Selbstbewusstsein und schafft Identität. kann, der aber in manchem Perspektiven aufzeigt. Trotz- Dadurch kann man junge Menschen gewinnen und Tra- (B) dem bitten wir darum, dass er nach Beratung im Aus- dition und Moderne verbinden. Ich glaube, es tut uns (D) schuss möglichst von allen Fraktionen hier im Parlament gut, wenn wir in Zukunft häufiger fragen, wie es die Nie- mitgetragen wird. derländer, die Norweger oder die Russen machen, statt immer nur zu fragen, wie es die USA machen. Bei der (Ulrike Flach [FDP]: Dann müssen die Abge- Gestaltung dieser Dinge geht es auch ein wenig um eine ordneten aber auch zu der Konferenz zugelas- Emanzipation Europas. sen werden! Das wäre eine deutliche Verbesse- rung!) Frau Ministerin, Sie haben am Anfang gesagt, Wettbe- werb, Flexibilität und Freiheit sollen ebenfalls wachsen. – Den Wunsch der Parlamentarierin Frau Flach, dass die Gleichzeitig geht es ja auch darum – ich möchte noch Abgeordneten zugelassen werden sollten, mögen wir als einmal einen Aspekt verstärken, den ich in Ihrer Rede überzeugte Parlamentarier mittragen; gleichzeitig wissen wahrgenommen habe –, festzuhalten, wie die europäi- wir aber, dass es dabei auch um pragmatische Fragen sche Hochschulidee aussieht. Als Erstes nenne ich die geht. Bologna ist mittlerweile zu einem so großen Pro- Verbindung bzw. die Einheit von Forschung und zess geworden – es gibt so viele Beteiligte, zum Beispiel Lehre. Diese gibt es nicht in allen anderen Hochschul- Studenten und Vertreter der Hochschulen aus den jewei- räumen der Welt, aber sie ist seit den Hochschulgründun- ligen Staaten –, dass wir einen Weg der Parlamentarisierung gen von Bologna und Prag bis in die Gegenwart ein Teil finden müssen, so wie wir das im EU-Bereich erreicht ha- unserer Tradition. Hinzu kommt der freie Zugang zu den ben, wenn es um einen europäischen Bildungsraum geht. Hochschulen. Dies muss auch bei der Debatte um Hoch- Die Reflexion über das, was eigentlich passiert ist, schulgebühren beachtet werden, wenn man anfängt, ver- möchte ich an einer Stelle zuspitzen: beim europäischen schiedene Maßstäbe für Erst- und Zweitstudium anzule- Bildungs-, Forschungs- und Wissenschaftsraum. Frau gen und festzulegen, wann ein Erststudium ungebührlich Bulmahn hat gesagt, dass die Hochschulen dort eine überzogen wird. Weiterhin nenne ich die Eigenständig- Schlüsselrolle einnehmen. Frau Berg hat von einer Vi- keit von Hochschulen. Diese muss als Maßstab für die sion gesprochen. Ich will mich mit dem auseinander set- Bestimmung des Verhältnisses zwischen staatlicher Re- zen, was Frau Seib gesagt hat. Frau Seib, ich teile Ihre glementierung und Autonomie in Form von eigener Einschätzung, dass es gut und, ich glaube, auch in unser rechtlicher Gestaltungsfähigkeit der Hochschulen ange- aller Interesse ist, dass Russland in diesen europäischen legt werden. Außerdem nenne ich die Vielfalt und nicht Bildungsraum mit einbezogen ist, selbst wenn Russland zuletzt auch als demokratische Komponente die Beteili- bis Wladiwostok reicht. gung von Professoren, Lehrenden und Lernenden an der Gestaltung der Hochschulen. Wenn man all dieses zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sammennimmt, gewinnt der europäische Hochschulraum 5300 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) auch eine eigene Qualität und man unterwirft ihn nicht schulbereich: Wie kann dort, im Curricularen, in der (C) der rein ökonomischen Betrachtung des einheitlichen Verbindung von Forschung und Lehre für mehr Qualität Wirtschafts- und Arbeitsraums. gesorgt werden? Wie findet man Menschen, die bei der Qualitätssicherung mitwirken können? Diese Fragen Peter Glotz, früherer Vordenker der SPD, sagte vor ei- sind nicht hinreichend beleuchtet. Wenn wir den Prozess niger Zeit einmal auf die Frage, wie man Bildung in Zu- von Bologna fortführen wollen, dann muss Hochschul- kunft definieren könne: Sie muss humanistisch, ökolo- forschung ein Schwerpunkt sein, der parallel aufgebaut gisch und europäisch sein. Ich glaube, dieser 15 Jahre wird. Sonst bleibt Qualitätssicherung eher eine formale alte Ausspruch von Peter Glotz findet unter anderem im Frage. Berlin von heute eine Entsprechung und Erfüllung. Eine Anmerkung in Bezug auf das in Bachelor und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Master gestufte Graduierungsverfahren. Man darf nicht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) alles als Konsens erscheinen lassen; sonst wird nicht Der Prozess – das haben Frau Seib und andere ange- mehr deutlich, dass es im Parlament verschiedene Auf- sprochen – beinhaltet einen sehr ehrgeizigen Fahrplan. fassungen gibt. Deshalb, Frau Reiche, müssen Sie sich Es ist ja gut, wenn man schnell vorankommen will, aber an dieser Stelle zwei Kritikpunkte gefallen lassen. man darf sich dabei nicht verhaspeln. Wir müssen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die die einzelnen Den Abgeordneten und auch den Hochschulen ist teil- beteiligten Länder vorlegen, berücksichtigen. Wir müs- weise noch bekannt, wie wir das Hochschulrahmenge- sen diesen Prozess sicherlich in manchen Punkten be- setz novelliert haben und dass es damals eine Auseinan- schleunigen, wir müssen uns aber zugleich auch auf be- dersetzung über die Frage gab: Soll dort verbindlich stimmte Fragen konzentrieren, denn man kann nicht geregelt werden, dass die Bachelor- und Masterstudien- alles zur gleichen Zeit anfassen. Die Bildungsminister gänge eingeführt werden, oder soll die Einführung aus- der beteiligten Staaten haben sich deshalb auch auf drei schließlich freiwillig geschehen? Die CDU/CSU war für Schwerpunkte konzentriert: Qualität, Stufung des die Freiwilligkeit. Wir haben parlamentarisch die Ver- Studiums und Transparenz, also gegenseitige Aner- bindlichkeit durchgesetzt. Wie stünden wir heute im Bo- kennung von Studienleistungen. logna-Prozess da, in dessen Rahmen die Einführung bis 2005 beschlossen worden ist, wenn wir uns damals nur Sie, Frau Bettin, sagten, einen weiteren Schwerpunkt auf Freiwilligkeit geeinigt hätten? An dieser Stelle haben stelle die soziale Dimension dar. Wenn man ehrlich ist, Sie die historische Entscheidung verpasst. muss man dazu sagen, dass dies kein primärer Schwer- punkt ist. Ich möchte hier auch einmal kritisch fragen, ob (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dieser Frage eine solche Rolle in einem Hochschulraum, DIE GRÜNEN) (B) (D) der von Russland über Albanien bis zu den Niederlanden Der zweite Kritikpunkt. Sie haben von der „Luft der reicht, zukommen könne. Wenn wir die soziale Dimen- Freiheit“ gesprochen; ich dachte immer, es hieße „Wind sion an den Anfang aller Fragen setzen und mit ihrer der Freiheit“. Sie meinten damit, die Hochschulen soll- Hilfe einen europäischen Hochschulraum konstituieren ten in die Freiheit entlassen werden, was die Auswahl wollten, besteht am ehesten die Gefahr, dass man sich der Studenten angeht. Sie haben aber doch schon die verhaspelt, die Hochschulen überlastet bzw. mit zu ho- Freiheit, 25 Prozent der Studierenden selbst auszu- hen Ansprüchen belastet, weil die sozialen Bedingun- wählen. Sie nutzen diese Freiheit aber nicht, können es gen, also die Lebensbedingungen, in dieser Vielzahl von vielleicht auch nicht, weil Auswahlgespräche eine zu- Ländern so unterschiedlich sind. Das heißt nicht, dass sätzliche Last bedeuten. Sie können uns in diesem Zu- man nicht in einigen Schlüsselfragen dieses Thema an- sammenhang nicht vorwerfen, wir würden die Freiheit geht. Aber die soziale Dimension gleich an die erste der Hochschulen beschneiden wollen. Es besteht eher Stelle der Schwerpunkte zu setzen, birgt aufgrund der die Gefahr, dass von Ihren Vorstößen nichts als heiße Verschiedenartigkeit der Länder in sich die Gefahr der Luft bleibt. Überforderung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ DIE GRÜNEN) CSU und der FDP) Eine Frage bleibt: Wo sind Schlüsselstellen, an denen Man muss sich darüber austauschen. Wenn es dann an wir wirklich aktiv werden können? Frau Flach, Sie spra- anderer Stelle um bestimmte Schlüsselpunkte geht, wird chen den Wissenschaftstarifvertrag an. Das ist natürlich das hoffentlich Ihre Unterstützung finden. eine Frage der Tarifpartner, aber seien wir ehrlich: Wenn Ich will nicht auf alles Positive eingehen. In Bezug Unternehmen nicht wissen, wie sie mit Bachelor- und auf die Qualität möchte ich nur erwähnen, dass die Ak- Masterabschlüssen umgehen sollen, dann müssen Bund, kreditierung ein komplexer Prozess ist und Zeit braucht. Länder und Kommunen deutlich machen und als Vorbild Wir von der SPD-Fraktion fragen uns, ob zur Akkredi- dienen, wie damit umgegangen werden kann. tierung, zur Qualitätssicherung nicht auch gehört, dass (Ulrike Flach [FDP]: Es geht dabei auch um man bei der Bildungsforschung, bei der wissenschaftli- die Anerkennung!) chen Betrachtung, nicht nur in den Blick nimmt, was sich an den Schulen vollzieht – siehe PISA – und wie Es geht auch um die Anerkennung und die Gleichwertig- das Thema Ganztagsschulen – eine aktuelle Debatte – keit von Bachelor- bzw. Masterabschlüssen im Fach- anzugehen ist, sondern auch das Geschehen im Hoch- hochschul- und Hochschulbereich. Das könnte eine Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5301

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) Schlüsselstelle sein, bei der wir die FDP nachdrücklich 50 Prozent der Mittel des europäischen Haushaltes (C) darum bitten: Sorgen Sie in den Ländern, in denen Sie einen europäischen Agrarraum zu konstituieren, wäh- der CDU in die Hacken treten können, dafür, dass sie rend man in Bezug auf den Forschungsraum mit 2,5 Mil- dort richtig in Fahrt kommen. Im Moment ist es so, dass liarden Euro einen bescheidenen Fortschritt macht und die CDU- bzw. CSU-geführten Länder eher bremsen. Bildung mit unter 1 Milliarde Euro eine marginale Größe ist? Oder können wir zu Umgewichtungen kom- Den Arbeitgebern müssen wir sagen: Wer auf kür- men, sodass der Prozess europäischer Hochschulraum zere Studienzeiten drängt, wer einen ersten berufsorien- materiell unterfüttert wird? tierenden Abschluss in Form von Bachelor fordert, der darf nicht erwarten, dass das mit einem „Diplom in kur- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zer Zeit“ gleichzusetzen ist. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Diese Vorstellungen bringen wir in die Debatte ein. Abg. Ulrike Flach [FDP]) Es gibt viel Übereinstimmung. Es muss jetzt ein konzen- Man darf nicht glauben, man könne plötzlich mit einem triertes Zusammenwirken von Bund und Ländern mit geringeren Aufwand zum gleichen Preis ein besseres Er- Folgekonferenzen und Koordinierung geben. Wenn der gebnis bekommen. Zusätzlich zum Bachelorabschluss Bund sich über das zehnte Ziel – Doktorandenstudium – müssen in den Unternehmen Weiterbildungspläne zur freut, muss er selber Vorschläge machen. Er muss sich Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf- auf die soziale Dimension, die Mitnahme von Studien- gestellt werden. Denn dieser Abschluss alleine reicht förderung nach dem BaföG, konzentrieren. nicht aus. Das müssen wir ganz klar und hart sagen. Ich freue mich, dass die Konferenz in Berlin stattfin- Meine vorletzte Bemerkung bezieht sich auf Ihren den konnte. Jedenfalls mir geht es noch so. Von der kon- Antrag, Frau Flach, den Sie bezüglich der Mitnahme servativen Seite wird häufig suggeriert, Sozialdemokra- von BAföG in den gesamten europäischen Hochschul- ten seien geschichtslos und gefühllos. Für mich ist es raum eingebracht haben. Wir sind mit der BAföG-No- immer noch etwas Besonderes, durch das Brandenburger velle weit vorangekommen. Auch wir denken darüber Tor zu gehen. Als Schüler habe ich an der Mauer gestan- nach, aber man muss wirklich gründlich darüber nach- den und konnte nach Ostberlin nur hinüberschauen. Dass denken. eine solche Konferenz in Berlin stattfinden kann, hat nicht nur Symbolwert, sondern bedeutet auch eine Ver- (Ulrike Flach [FDP]: Nehmen Sie diesen pflichtung: Antrag als Anstoß!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Dabei gibt es viele Probleme. Ich möchte Ihnen einige DIE GRÜNEN) (D) nennen. Brücke zu sein zwischen Ost und West in einem Hoch- Bisher gibt es Zuschlagssysteme. Wenn man diese ni- schulraum Europa, in dem qualitative Hochschulbildung velliert und auf das BAföG-Niveau bringt, dann stehen ein gemeinsames und selbstbewusstes Ziel ist. sich viele schlechter. Wollen wir das? Bisher ist nicht geregelt, ob Angehörige von in Deutschland lebenden Ich bedanke mich. Ausländern BAföG erhalten können. Wie ist es in Grenzregionen? Wie wirkt sich die neueste Rechtspre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chung des Europäischen Gerichtshofs aus? DIE GRÜNEN) Wir nehmen diese Fragen auf; aber wir beantworten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sie nicht in einem solchen Schnellschussverfahren, wie Sie es mit Ihrem Antrag vorsehen. Haben Sie dafür bitte Nächster Redner ist der Kollege Christoph Bergner, Verständnis. CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Auf den Konferenzen von Bologna bis Bergen wird Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch über den europäischen Hochschulraum gesprochen. Da- ich bekenne mich zu Beginn meiner Ausführungen gerne bei dürfen wir nicht vergessen, dass der Prozess in der zur Gemeinsamkeit der Zielvorstellungen und zur Konti- EU mit wegweisenden Programmen wie SOKRATES nuität im Bemühen um das Ziel eines europäischen und ERASMUS begonnen wurde. Es ist die finanzielle Hochschulraumes. Wir wollen einen Hochschulraum, Seite, auf der sich die Kernregion für einen europäischen in dem Studierende und Wissenschaftler ganz selbstver- Hochschulraum engagieren kann, damit Studierende in ständlich von einer Hochschule eines Landes zu einer den Austausch einsteigen können. Mittlerweile haben Hochschule eines anderen Landes wechseln können. Es wir, glaube ich, den millionsten von ERASMUS Geför- soll keine bürokratischen Hemmnisse geben. Studien- derten. Das ist eine große Zahl, aber im Vergleich zu und Prüfungsleistungen sollen anerkannt werden kön- 16 Millionen noch zu wenig. nen. Wer mit jungen Leuten spricht, die solche Hoch- schulwechsel, zum Teil durch EU-Programme gefördert, Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, die Finanzde- absolvieren, weiß, dass wir an dieser Stelle durchaus batte nach Europa zu tragen. Ist es wirklich gut, mit über noch manches zu tun haben. 5302 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dr. Christoph Bergner (A) Aber bei aller Gemeinsamkeit in der Zielstellung gibt Kosten der Diplomstudiengänge, die gestrichen werden (C) das Thema doch auch Anlass zu Debatten und Kontro- sollen, als politisches Oktroi durchzusetzen. versen. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Ich möchte mit dem Selbstverständnis der Politik Wer will das denn?) bei der Schaffung eines europäischen Hochschulraumes – Entschuldigung, ich habe Frau Flach in ihrer Erwide- beginnen. Sie, Frau Bulmahn, haben – wie ich finde, zu rung auf die Äußerungen von Frau Reiche so verstanden, Recht – darauf verwiesen, dass wir mit der Schaffung dass jetzt den herkömmlichen Studiengängen der Kampf eines europäischen Hochschulraumes eigentlich ein angesagt werden soll. Stück Rückbesinnung vornehmen. Es ist in der Tat so: Wissenschaft war schon immer grenzüberschreitend. Die (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt muss ich Frau Flach Scientific Community hat selbst die Widerstände des Ei- in Schutz nehmen!) sernen Vorhangs überwunden. Das heißt, wir als Politi- Davor kann ich nur warnen. Es wäre schön, wenn wir in ker haben hier nicht die Schulmeister zu spielen und die diesem Punkt übereinstimmen würden. Dann würden Wissenschaft in Richtung Internationalität zu drängen. wir vielleicht auch in einem anderen Punkt Einigkeit er- Vielmehr haben wir an Internationalität in der For- reichen, auf den ich jetzt zu sprechen komme. schungskommunikation anzuknüpfen und dabei Konse- quenzen für Studium, Lehre und Ausbildung des wissen- Wir wissen seit PISA, welche Defizite im Bereich der schaftlichen Nachwuchses zu ziehen. schulischen Bildung auftreten. Ich kann nur davor war- nen, die Lehrerausbildung gewissermaßen schockartig (Beifall bei der CDU/CSU) und flächendeckend auf ein zweigestuftes System umzu- Warum sage ich das? Ich sage das, weil ich möchte, stellen, da die Auswirkungen noch nicht absehbar sind. dass in diesem Prozess die Hochschulautonomie und die Ich bin der Meinung – in diesem Punkt unterscheiden Wissenschaftsfreiheit weitestgehend respektiert werden. wir uns, Frau Flach –, dass der Arbeitsmarkt und nicht Damit knüpfe ich genau an das an, was Kollegin Reiche der grüne Tisch der Bildungsbürokratie über die Zukunft gesagt hat. Wie wichtig es ist, Wissenschaftsautonomie der Diplomstudiengänge entscheiden sollte. Das ist der zu betonen, wird gerade dann deutlich, wenn wir uns Punkt, auf den es uns ankommt. dem Problem der Studiengänge zuwenden. Ich weiß, (Beifall bei der CDU/CSU) dass dieser Prozess nur erfolgreich sein kann, wenn die Politik Auflagen macht. Ich nenne beispielsweise die Was den Arbeitsmarkt betrifft, so nehme ich zur Einführung des Credit-Punktsystems und das Diplom- Kenntnis – das steht übrigens ein wenig im Widerspruch Supplement. zu offiziellen Verlautbarungen des BDA –, dass Perso- (B) nalchefs die breite theoretische Grundbildung, wie sie (D) Ich bin auch dafür, ein zweistufiges Graduierten- im Rahmen von Diplomstudiengängen gegeben ist, sehr system einzuführen. Aber ich halte es für problematisch, wohl zu schätzen wissen, weil sie für die Einsatzmög- wenn wir aus politischer Perspektive die Realisierung lichkeiten und Flexibilität im späteren Berufsleben wich- des europäischen Hochschulraums allein an der Quote tig ist. Auch dies ist ein Gesichtspunkt, den wir nicht der eingeführten Bachelor- und Masterstudiengänge ignorieren sollten. messen wollen. Zweiter Punkt. Es geht nicht um Etikette, sondern um (Beifall bei der CDU/CSU) die Qualität der Abschlüsse. Auch darin scheinen wir Ich finde es geradezu abenteuerlich, Frau Flach, wenn übereinzustimmen. Welche Schlussfolgerungen sind da- wir als politisches Oktroi die Streichung herkömmlicher raus zu ziehen? Es war wichtig, dass auf der Berliner Studiengänge als Maßstab für den Erfolg bei der Schaf- Konferenz das Akkreditierungssystem – hoffentlich ver- fung eines europäischen Hochschulraums machen wol- bindlich – für den gesamten europäischen Raum verein- len. bart wurde. Aber damit ist natürlich neben der internen Evaluierung nur ein Teil der Qualitätssicherung gege- (Ulrike Flach [FDP]: Das tut doch keiner!) ben. Deshalb bin ich der Kultusministerkonferenz sehr dank- Wir sollten uns darüber klar sein, dass der Bachelor- bar, dass sie betont, dass es auch über das Jahr 2010 abschluss strukturell in der Gefahr steht, zu einem Ab- hinaus gute Gründe für die Beibehaltung bewährter Di- brecherzertifikat zu werden, das zwar die Statistik der plomabschlüsse gibt. Abbrecherquote verbessert, den jungen Menschen aber Ich will auf wenigstens einen dieser Gründe eingehen. im Grunde genommen nicht das mitgibt, was sie auf dem Wir beklagen in unserem Land – wie ich finde, zu Arbeitsmarkt tatsächlich brauchen. Recht – eine Schwäche beim naturwissenschaftlichen (Zuruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann und ingenieurwissenschaftlichen Ausbildungspotenzial [SPD]) und einen Mangel an entsprechenden Abschlüssen. Wenn wir dies tun, sollten wir aber auch zur Kenntnis – Ich wende mich nicht gegen diesen Abschluss, Herr nehmen, dass die akademische Bildung im Bereich der Rossmann, Natur- und Ingenieurwissenschaften in ganz besonderer (Zuruf von der SPD: Doch!) Weise auf Diplomstudiengängen beruht. Ich halte es vor diesem Hintergrund geradezu für leichtfertig, die sondern versuche, uns vor Augen zu führen, wie wichtig Einführung von Bachelor- und Masterstudiengänge auf die Beachtung der Qualität ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5303

Dr. Christoph Bergner (A) Wenn wir europäisch denken, kommen wir an dem Ich fasse kurz zusammen: Wir sind für eine Europäi- (C) Umstand nicht vorbei, dass der Abschluss in den Her- sierung des Hochschulraumes. Dies ist ein lohnendes kunftsländern des Bachelor- und Masterabschlusses, im Ziel. Es ist prinzipiell richtig, dabei die Grenzen der EU angelsächsischen Raum, je nach Hochschule, an der er zu überschreiten. Aber ebenso wie meine Kollegin Seib erreicht wird, ein ganz unterschiedliches Gewicht und muss ich auf Folgendes hinweisen: Wenn es uns um die eine ganz unterschiedliche Bedeutung hat. Frau Ausstrahlung des europäischen Hochschulraumes geht, Bulmahn, ich hätte mir gewünscht, dass auf der Konfe- müssen wir unsere Kräfte kalkulieren und dürfen unsere renz auch hierzu einmal Stellung genommen wird, damit Ambitionen nicht bis Wladiwostok ausdehnen. es nicht so aussieht, als ob nur bei uns Hausaufgaben er- ledigt werden müssten. Auch in diesem Bereich brau- Zweiter Punkt. Eine Europäisierung kann keine Uni- chen wir eine entsprechende Anpassung und bestimmte formisierung der Studiengänge bedeuten. Veränderungen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir brauchen eine selbstbewusste Haltung zu gewach- senen und erfolgreichen Studiengängen in der Bundes- Beim Gesichtspunkt der Qualität gibt es eine unge- republik Deutschland. löste Strukturfrage. Es wundert mich, dass dies bisher keiner angesprochen hat. Der Ruf nach verkürzten, pra- Letzter Punkt. Hauptakteur in diesem Prozess müssen xisnahen Studiengängen, der uns bei der Forderung nach nach unseren Vorstellungen die Wissenschaft, die Fach- der Einführung eines Bachelorabschlusses begegnet, ist bereiche und die Hochschulen selbst, sein. Die Politik zumindest in der alten Bundesrepublik Deutschland hat lediglich die Aufgabe der Rahmensetzung. Diese Be- nicht neu. Die Antwort, die die alte Bundesrepublik scheidenheit sollten wir in der Diskussion zum Ausdruck Deutschland darauf gegeben hat, war die Gliederung bringen. des Hochschulwesens in Fachhochschulen und Univer- Vielen Dank. sitäten. (Beifall bei der CDU/CSU) Nun legen wir auf dieses gegliederte Hochschulsys- tem eine weitere Gliederung in Gestalt gestufter Studien- abschlüsse. Wie kritisch dies für uns als Rahmengesetz- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: geber ist und welcher Klärungsbedarf sich an dieser Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Stelle ergibt, wird bei der Lektüre der Kleinen Anfrage Anna Lührmann, Bündnis 90/Die Grünen. der FDP zu laufbahnrechtlichen Konsequenzen der Ab- schlüsse deutlich. Dabei ist hervorgegangen, dass der Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) Masterabschluss an Fachhochschulen einer weiteren Ak- (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kreditierung bedarf, damit er laufbahnrechtlich dieselben Die europäische Einigung wird nur Wirklichkeit, wenn Konsequenzen hat, wie es ein vergleichbarer Abschluss auch unsere Lebensentwürfe wirklich europäisch wer- an den Universitäten ermöglicht. Das heißt, wir werden den. Deswegen wollen wir ein Europa des Wissens, ei- in nächster Zeit, wenn wir die Europäisierung der Stu- nen europäischen Hochschulraum, schaffen: vernetzt, diengänge ernst nehmen, über die Frage „Profilierung vergleichbar und vor allen Dingen verfügbar für alle Stu- unterschiedlicher Hochschultypen versus zweistufige dierenden. Studienabschlüsse“ – diese Frage wurde bisher ver- drängt – sprechen müssen. Diese ungeklärte Frage will Der europäische Bildungsgipfel in der letzten Wo- ich zumindest in den Raum stellen, um uns deutlich zu che hat uns diesem Ziel ein gutes Stück näher gebracht. machen, dass die Verkündung von Bildungszielen allein Der Bologna-Prozess ist der richtige Weg. Doch die Bo- nicht ausreicht. logna-Ziele müssen jetzt schnell umgesetzt werden. Nur dann kann Europa binnen sieben Jahren zu einem Raum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – des Lernens werden. Jörg Tauss [SPD]: Machen Sie bei der Aner- kennung mit?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) – Herr Kollege Tauss, ich kann in den wenigen Minuten Redezeit, die mir noch bleiben, nicht darauf eingehen. Ich gebe zu: Noch bin ich skeptisch. Ich bin skep- Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass gute tisch, ob wir es beim jetzigen Umsetzungstempo wirk- Gründe für eine Gliederung des Hochschulwesens spre- lich schaffen, bis 2005 europaweit zweigliedrige Stu- chen. Ihr Finanzminister wird Ihnen das bestätigen. dienzyklen einzuführen, sprich: den Bachelor und den Master. Noch skeptischer bin ich, ob das wirklich dazu (Jörg Tauss [SPD]: Ich meinte die Anerken- führt, dass Studierende bald problemlos beispielsweise nung der Abschlüsse!) von der Uni in Heidelberg an die Uni in Mailand oder Wien wechseln können. Wenn gute Gründe für eine Gliederung des Hochschul- wesens sprechen, dann werden wir nicht leichtfertig mit Nach meinen persönlichen Erfahrungen mit den der Frage umgehen können, ob die Abschlüsse je nach Neuerungen im deutschen Hochschulsystem – das kann Hochschule gleichwertig beurteilt werden können. Dies ich Ihnen aus erster Hand berichten – bin ich da eher er- ist meine persönliche Meinung. Ich hoffe, wir haben nüchtert: So war es mir diesen Sommer nicht möglich, noch Gelegenheit zur Diskussion über diese Frage. meine European Credit Transfer Points aus meinem 5304 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Anna Lührmann (A) Bachelorstudiengang an der Berliner Humboldt-Univer- sche Bildung, dafür brauchen wir europäische Köpfe. (C) sität an die Fernuni in Hagen zu übertragen – und das, Nur so hat Europa eine Chance; nur so kann eine euro- obwohl die Kurse inhaltlich nahezu identisch sind. Wenn päische Identität entstehen. Die Weichen sind nach dem also die Anerkennung erbrachter Studienleistungen noch Treffen in Bologna gestellt. Jetzt muss der Zug endlich nicht einmal in Deutschland klappt, frage ich mich doch, an Fahrt gewinnen. wie das europaweit funktionieren soll. Vielen Dank. Klar ist: Der Hochschulwechsel muss einfacher wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den. Das ist mehr als notwendig, aber nicht nur auf dem und bei der SPD) Papier, sondern auch in der Praxis. Also arbeiten wir da- ran: in Deutschland und in Europa. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich schließe die Aussprache. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ Die Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD CSU]) und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1579 und 15/1582 sollen zur Lesen Sie manchmal Stellenanzeigen? Wenn ja, dann federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, wissen Sie, dass internationale Erfahrung und inter- Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mit- kulturelle Kompetenz heute in vielen Arbeitsbereichen beratung an den Auswärtigen Ausschuss und an den ganz selbstverständliche Voraussetzungen sind. Diese Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen gelten als wesentliche Soft Skills. Doch so selbstver- Union überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan- ständlich ist diese Qualifikation gar nicht. Nur rund den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so 10 Prozent aller deutschen Studierenden studieren im beschlossen. Ausland. Dafür gibt es viele Erklärungen. Die Bundesre- gierung hat das Problem erkannt. Sie hat das Auslands- Ich rufe Zusatzpunkt 1 sowie Tagesordnungspunkt 20 BAföG entsprechend reformiert. auf: Ich glaube aber, ein wesentlicher Punkt ist, dass Stu- ZP 1 Vereinbarte Debatte dierenden stärker vermittelt werden muss, dass Europa zur aktuellen Lage im Irak für sie wichtig ist: sowohl als Bürgerinnen und Bürger als auch in ihrem späteren Beruf. Deshalb muss die euro- 20. Beratung des Antrags der Abgeordneten päische Dimension obligatorischer Bestandteil eines je- Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion den Studienfaches werden. (D) (B) der CDU/CSU Etwas mehr Europa in jedem Studium würde auch helfen, ein weiteres Problem des europäischen Hoch- Den politischen Neubeginn und Aufbau des schulraumes zu beheben. Es entsteht eine Zweiklassen- Irak mitgestalten mobilität: Die Studienplätze in der alten EU sind heiß – Drucksache 15/1011 – begehrt, wohingegen nur wenige im europäischen Osten Überweisungsvorschlag: studieren wollen. Man muss halt nicht unbedingt Slowe- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und nisch sprechen, um international Karriere machen zu Entwicklung (f) können. Englisch und Französisch sind da hilfreicher. Auswärtiger Ausschuss Deswegen ist auch Deutschland als Studienland kein Fa- Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe vorit. Die Europäisierung des Studiums kann also die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Lösung dieser Probleme sein. Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Dazu mache ich drei konkrete Vorschläge, die teil- weise von Frau Bulmahn schon umgesetzt werden: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Erstens. Wir brauchen europaweite Netzwerke von höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Hochschulen und grenzübergreifende Studiengänge. Der Transfer von Wissen, von Studierenden und Ressourcen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- kann so wesentlich vereinfacht werden. kanzler Gerhard Schröder. Zweitens. Vor allem müssen wir die Studienangebote (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch sprachlich europäisieren. Das heißt ganz konkret: DIE GRÜNEN) mehr Seminare und Vorlesungen auf Englisch. Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Drittens. Jedes Studium muss thematisch die europäi- sche Perspektive im Blick haben. Nur dann werden die Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und jungen Leute die Chancen Europas erkennen und auch Herren! Anlass der Reise nach New York war der ergreifen. 30. Jahrestag des Beitritts Deutschlands zu den Verein- ten Nationen, besser gesagt: der Wiederaufnahme Die Europäische Union hat sich in Lissabon als strate- Deutschlands in die Vereinten Nationen. Ich hatte dort gisches Ziel die Verwirklichung eines wissensbasierten deutlich zu machen, was Kern unseres Selbstverständ- Wirtschaftsraumes gesetzt. Dafür brauchen wir europäi- nisses in dieser internationalen Organisation ist. Meine Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5305

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) zentrale Aussage war: Unser Land nimmt im Bewusst- Beitrag Deutschlands insbesondere in Afghanistan (C) sein seiner Geschichte Verantwortung für kooperative schätzen. Friedenspolitik wahr – mit wirtschaftlichen und politi- schen, aber, wo erforderlich, auch gemeinsam mit den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Partnern in der NATO und der Europäischen Union mit DIE GRÜNEN) militärischen Mitteln. Ich hatte Gelegenheit, ein ausführliches Gespräch mit 9 000 Soldatinnen und Soldaten aus Deutschland sind dem afghanischen Präsidenten Karzai zu führen, der be- für unterschiedliche Friedensmissionen legitimiert, richten konnte – es wird von anderen bestätigt –, dass es durch die Vereinten Nationen und natürlich durch dieses ihm gelungen ist, zu einer Stabilisierung in seinem Land Hohe Haus. Gerade deswegen wollen wir deutlich ma- beizutragen. Er hat deutlich gemacht, dass es Anzeichen chen, dass sich unser Sicherheitsbegriff nicht in militä- für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und rischen Fragestellungen erschöpft, sondern dass wir bei natürlich auch für eine verbesserte Sicherheitslage gibt. den Ursachen der Konflikte, die zu lösen anstehen, an- Genauso klar muss indessen allen sein, dass diese posi- setzen und immer wieder ansetzen wollen. tive Entwicklung in sich zusammenbrechen würde, wenn die internationale Staatengemeinschaft ihre Hilfe (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einstellte. Besser wäre es, wenn beschlossen würde – das DIE GRÜNEN) werden wir tun –, diese internationale Hilfe als Beitrag zur Gewährleistung von mehr Sicherheit und verbesser- Ich lege Wert darauf, dass deutlich wird: Armuts- ten Aufbaubedingungen in diesem Land auszuweiten. bekämpfung in einem sehr umfassenden Sinne ist Teil Deswegen haben wir sehr intensiv über verbliebene Pro- vernünftig verstandener Sicherheitspolitik. bleme gesprochen. Mir liegt daran, dass auch hier deut- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich wird, dass insbesondere die Situation im Süden und DIE GRÜNEN) Südosten Afghanistans nicht der Sicherheitslage ent- spricht, die nötig ist, um auch dort von einer umfassen- Genauso deutlich muss werden, dass angesichts neuer den Sicherheit sprechen zu können, soweit man das in Bedrohungen eine effektivere multilaterale Zusammen- diesem Land überhaupt tun kann. arbeit mehr denn je notwendig ist. Das ist der Grund, Mit den Partnern in der NATO und der EU werden warum wir uns in New York für eine Stärkung der Ver- wir dafür sorgen müssen, dass insbesondere der pakista- einten Nationen und für eine Verbesserung ihres Instru- nische Präsident und seine Regierung alle Möglichkeiten mentariums eingesetzt haben. Wir unterstützen die Re- der Taliban, sich jenseits der Grenze zwischen Afghanis- formvorschläge, die der Generalsekretär der Vereinten tan und Pakistan aufzuhalten, unterbinden werden. Es Nationen, Kofi Annan, gemacht hat, Reformvorschläge, (B) wird wichtig sein, dass die pakistanische Regierung in (D) die zu einer noch besseren Legitimation des Sicherheits- dieser Frage noch besser als in der Vergangenheit koope- rates führen sollen und – wir sind optimistisch, was die riert. Umsetzung angeht – auch führen werden. Es wurde auch anerkannt – das ist keine Überra- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schung –, dass wir uns entschlossen haben, unser En- DIE GRÜNEN) gagement in Afghanistan auf Kunduz auszuweiten. Ich Dabei geht es insbesondere um die Erweiterung des Si- kann anmerken, dass es dazu einer Ausweitung des cherheitsrates, und zwar durch Staaten der Dritten Welt, ISAF-Mandats bedarf und dass die Wahrscheinlichkeit, aber unter Umständen auch – das ist in den Diskussionen dass dies positiv gesehen wird, sehr groß ist. Wir haben und Wortbeiträgen aller deutlich geworden – durch eine in dieser Frage sowohl die Zustimmung der Vereinigten stärkere Einbeziehung Deutschlands bzw. Japans. Ich Staaten von Amerika als auch die Frankreichs und Russ- habe immer wieder deutlich gemacht, dass wir bereit lands, sodass ich davon ausgehe, dass in sehr kurzer Zeit sind, zusätzliche Verantwortung zu übernehmen, dass eine entsprechende Ausweitung des Mandats der Verein- dies aber im Rahmen des Reformprozesses, um den es ten Nationen erfolgt. dabei geht, geschehen sollte und geschehen wird. Selbstverständlich hat die Situation im Irak ebenso Selbstverständlich haben im Mittelpunkt dessen, was im Mittelpunkt der Gespräche gestanden und großen diskutiert worden ist, unterschiedliche internationale Raum eingenommen. Mir liegt deswegen daran, hier Fragestellungen gestanden. Diese waren auch Thema der noch einmal die Position der Bundesregierung zur weite- bilateralen Gespräche, die ich sowohl mit dem amerika- ren Entwicklung im Irak deutlich zu machen. Wichtig ist nischen Präsidenten als auch den Präsidenten Russlands die gemeinsame Überzeugung, dass unabhängig von der und Frankreichs sowie den Staats- und Regierungschefs Frage, wie man zur Notwendigkeit des Krieges stand anderer betroffener Länder geführt habe. – ob zustimmend oder nicht zustimmend –, die Staaten- gemeinschaft insgesamt – inklusive Europa und naturge- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto mäß auch Deutschland – ein dringendes Interesse daran Solms) hat, dass es zu einem freien, demokratischen und in sei- nen Strukturen natürlich auch stabilen Irak kommt. Im Mittelpunkt stand zum Beispiel die Entwicklung der Situation in Afghanistan. Ich denke, es ist richtig und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wichtig, dass auch in diesem Hause deutlich wird, wie DIE GRÜNEN sowie des Abg. Thomas sehr unsere Partner in der internationalen Politik den Rachel [CDU/CSU]) 5306 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Ich glaube, dass ein stabiler Irak in der Region ein siert werden, um sie für den Wiederaufbau einzusetzen. (C) wichtiger Beitrag sein könnte, um auch zu mehr Stabili- Gleichwohl gilt, dass die mittelfristig zu erwartenden tät in der Region zu kommen. Auch das war Gegenstand Öleinnahmen eingesetzt werden müssen, um den Wie- der Gespräche. Dabei ist in Bezug auf den Nahostkon- deraufbauprozess voranzubringen und zum Erfolg zu flikt klar geworden, dass es zu der Roadmap, die das führen. Quartett vereinbart hat, keine rationale Alternative gibt Erst nach Auswertung dieser Analyse macht eine Ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ berkonferenz, um die es geht, wirklich Sinn. Erst dann DIE GRÜNEN) kann konkret bestimmt werden, was gebraucht wird und wer was zu leisten imstande ist. Bezogen auf den Beitrag und dass es ungeachtet all der schrecklichen Schwierig- Deutschlands will ich sehr klarmachen, dass wir nicht keiten, die es in der Region gibt, unsere gemeinsame daran denken, uns im Irak militärisch zu engagieren. Pflicht ist, immer wieder dafür zu sorgen, dass versucht wird, das, was in der Roadmap festgeschrieben worden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist, zu implementieren. DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ganz neu!) Der Wiederaufbau Iraks – das ist gemeinsame Auf- fassung – ist in erster Linie eine Angelegenheit der Ira- Angesichts unseres Engagements im Übrigen verstehen ker selbst. Es ist Aufgabe der internationalen Staatenge- die Partner diese Haltung Deutschlands durchaus. Wir meinschaft, verkörpert durch die Vereinten Nationen, haben darüber hinaus klargemacht, dass wir bereit sind, ihnen dabei mit allen zur Verfügung stehenden Möglich- die gegenwärtig durch uns geleistete humanitäre Hilfe keiten zu helfen. – die ist beachtlich, auch im Vergleich zu anderen – wei- terzuführen. Es wird in der nahen Zukunft darum gehen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ob und gegebenenfalls welche konkreten Projekte mit DIE GRÜNEN) deutscher Hilfe durchgeführt werden können. Einige un- Aus diesem Grund ist es wichtig, die irakische Souve- serer Fachleute vom THW sind bereits im Irak im Ein- ränität so rasch wie möglich und natürlich auch prak- satz. Natürlich achten wir dabei strikt darauf, dass die Si- tisch erfolgreich wiederherzustellen. Hierzu ist nach un- cherheit dieser Experten garantiert wird. Die serer Auffassung ein realistischer Fahrplan nötig, der internationalen Finanzinstitutionen sind in erster Linie einige zentrale Wegmarken enthalten muss. Zum einen berufen, Leistungen für den Wiederaufbau bereitzustel- geht es um die Ausarbeitung einer Verfassung und zum len. Darüber hinaus wird es um Hilfen von der Europäi- anderen um die Durchführung freier und demokratischer schen Kommission gehen. Wahlen, naturgemäß unter der Ägide der Vereinten Nat- Ich habe zudem deutlich gemacht, dass Deutschland (B) (D) ionen. Dabei ist ein pragmatisches Vorgehen wichtig. bereit ist, beim Aufbau von irakischem Sicherheits- Man muss vermutlich trennen zwischen der Übertragung personal selbst konkrete Hilfe zu leisten. Meine persön- von Souveränität in der eben erläuterten Weise und der liche Überzeugung ist – sie wird von vielen geteilt –, dass Übertragung administrativer Regierungsgewalt an eine es in der jetzigen Phase eben nicht in erster Linie darum notwendigerweise zu schaffende provisorische Regie- geht, die Anzahl der im Irak eingesetzten Soldaten zu er- rung des Irak. höhen, sondern dass zusätzliche Sicherheit vor allem Wir haben die Hoffnung, dass in diesen Eckpunkten dann hergestellt werden kann, wenn irakisches Sicher- auch im Weltsicherheitsrat Gemeinsamkeit hergestellt heitspersonal in ausreichender Zahl zur Verfügung steht; werden kann. Das erscheint deshalb möglich, weil es in denn ausschließlich diese Menschen haben die Fähigkeit, dieser Frage prinzipiell keine Unterschiede gibt zwi- mit der Bevölkerung umfassend zu kommunizieren, und schen denen, die im Weltsicherheitsrat zu entscheiden ausschließlich diese Menschen verfügen über die not- haben. Sowohl Frankreich als auch wir, aber eben auch wendigen Kenntnisse von Kultur und Mentalität, um auf die Vereinigten Staaten von Amerika, sind der Auffas- Dauer erfolgreich Sicherheit garantieren zu können. sung, dass es einer Souveränitätsübertragung bedarf. Ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ genwärtig verhandeln die Außenminister über die Frage, DIE GRÜNEN) wie der Zeitplan beschaffen sein sollte. Darüber müsste man Einigkeit erzielen können. Das wird Sache der lau- Hier liegt der Grund, warum wir angeboten haben, bei fenden Verhandlungen in New York, aber auch der Ge- der Ausbildung von Polizei mit bei uns gegebenenfalls spräche, die die Außenminister zu führen haben, sein. vorhandenen Kapazitäten und Fazilitäten hilfreich zu sein. Klar ist, dass die internationale Staatengemeinschaft auch materiell wird helfen müssen. Dazu bedarf es na- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Fazilitäten – was türlich zunächst einmal einer präzisen Bedarfsanalyse. für ein Wort!) Sie wissen, dass diese Bedarfsanalyse gegenwärtig von Wir können das in durchaus beachtlichem Maße, nicht der Weltbank und vom IWF erstellt wird. Es geht um die zuletzt in Deutschland, machen. Wir sind aber auch be- Frage, was gebraucht wird, um den Wiederaufbau realis- reit, dies in einem anderen Land in Zusammenarbeit mit tischer anzugehen. Dabei muss man berücksichtigen, unseren Partnern zu erwägen. dass der Irak nach Wiederaufnahme seiner Erdölförde- rung und Wiederherstellung und Absicherung der ent- Mein Eindruck ist, dass der angebotene Beitrag sprechenden Ölpipelines ein potenziell reiches Land ist. durchaus Beachtung findet, weil insgesamt gesehen Natürlich müssen die notwendigen Mittel erst mobili- wird, dass vor allen Dingen die Ausbildung von iraki- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5307

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) schem Sicherheitspersonal, sei es schwerpunktmäßig Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): (C) Polizei, sei es aber auch Militär, geeignet ist, einen Si- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor cherheitszuwachs herzustellen. Damit wird deutlich, 30 Jahren, anlässlich des Beitritts der Bundesrepublik dass der Beitrag Deutschlands hinsichtlich seiner inter- Deutschland zur UNO, hat Bundeskanzler Willy Brandt nationalen Verpflichtungen und seiner Bereitschaft, mit- vor der Vollversammlung sinngemäß gesagt: Ich komme zuhelfen, durch den Wiederaufbau und das Herstellen aus einem Land mit zwei Staaten, aber einem Land, das von Demokratie im Irak Stabilität in der Region zu sich als eine deutsche Nation versteht. schaffen, als beachtlich gewürdigt wird. So sollten wir das auch miteinander vertreten. Sie, Herr Bundeskanzler, haben gestern anlässlich des 30. Jahrestages der deutschen Mitgliedschaft wieder vor (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der UNO gesprochen. Sie kamen als Bundeskanzler DIE GRÜNEN) einer deutschen Nation, die heute in einem Land wieder- In den unterschiedlichen bilateralen Gesprächen sind vereint ist. Ich glaube, nichts kennzeichnet besser das, über diese beiden Problembereiche hinaus insbesondere was sich in diesen 30 Jahren vollzogen hat: eine großar- zwei Themen zutage getreten, bei denen es innerhalb der tige Entwicklung. Das sage ich ganz bewusst kurz vor NATO und anderen internationalen Organisationen große dem 13. Jahrestag der deutschen Einheit. Übereinstimmung gibt. Der erste Punkt ist: Wie schafft Eine solche Entwicklung der Bundesrepublik Deutsch- man es, in Zukunft besser – ich könnte auch sagen: noch land war nur möglich auf dem Fundament der Arbeit besser – dafür zu sorgen, dass Massenvernichtungswaf- eines Bundeskanzlers wie Konrad Adenauer, der die fen nicht weiterverbreitet werden? Dabei hat sich ge- Westbindung Deutschlands verankert hat, trotz aller Wi- zeigt, dass nicht nur die Europäer, sondern auch die Ver- derstände und großer Debatten, eines Bundeskanzlers einigten Staaten von Amerika bereit sind, dem VN- wie Willy Brandt, der die Öffnung Richtung Osten Sicherheitsrat in dieser Frage eine neue Bedeutung zu ge- durchgesetzt hat, gegen viele Widerstände und mit gro- ben. Dies ist meiner Meinung nach ein positiver Ansatz, ßen Debatten, und eines Bundeskanzlers Helmut Kohl, der dem entspricht, was Deutschland in den unterschied- der die Vision der deutschen Einheit und der europäi- lichsten Zusammenhängen immer vertreten hat, und den schen Einigung nicht aus den Augen verloren und sie wir deswegen begrüßen und unterstützen können. weiter verfolgt hat, was uns heute in den Zustand bringt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass wir hier in Berlin im wiedervereinten Deutschland DIE GRÜNEN) diese Debatte führen. Der zweite Punkt ist die Sorge um die Entwicklung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (B) im Iran gewesen. Hier wird anerkannt, dass der Brief (D) der Außenminister Englands, Frankreichs und Deutsch- Was diese Tradition deutscher Außenpolitik immer lands klar gemacht hat, dass die Europäer, aber auch an- geeint hat, ist, dass sie eine Richtung und einen Kompass dere vom Iran erwarten, mit der Internationalen Atom- hatte. Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern nach 16 Mo- energiebehörde umfassend zu kooperieren. Ich denke, naten den amerikanischen Präsidenten wieder getroffen. dass das ein Feld wichtiger Gemeinsamkeiten innerhalb Wenn ein solches Treffen, bei dem, wie im Fernsehen ge- Europas ebenso wie im transatlantischen Verhältnis ist. zeigt wurde, der deutsche Bundeskanzler – vorsichtig Wir haben alle ein Interesse daran, deutlich zu machen, formuliert: leicht verkrampft – mit dem amerikanischen dass wir gemeinsam die Erwartung haben, dass diese Präsidenten, getrennt durch einen runden Tisch, erfreuli- Kooperation umfassend geleistet wird und dass Erfolg cherweise zusammen sprechend zu sehen war, dieser Kooperation einen umfassenden Verzicht auf die Herstellung von Massenvernichtungswaffen durch den (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Iran bedeuten muss. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zum Ereignis des Jahres hochstilisiert wird, dann muss DIE GRÜNEN) ich zumindest fragen, ob dieser Kompass zeitweise ver- loren gegangen ist. Ich glaube, etwas schon. Deswegen sind wir auf einem guten Weg, insbeson- dere was den Reformprozess der Vereinten Nationen an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geht, was unsere Rolle als Teil der Vereinten Nationen angeht und was die deutsche Rolle in den internationalen Für die Opposition, für die CDU/CSU-Bundestags- Konflikten, über die hier zu berichten war, angeht. fraktion sage ich aber auch: Wir wollen, dass deutsche Außenpolitik in der Welt Gewicht hat. Wir wollen, dass Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. man sich auf unser Wort verlassen kann. (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das kann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) man doch!) Deshalb haben wir den gestrigen Tag als einen Punkt ge- Vizepräsident Dr. : sehen, an dem Ansätze zur Besserung zu erkennen wa- Das Wort hat jetzt die Vorsitzende der CDU/CSU- ren. Fraktion, Angela Merkel. (Beifall bei der CDU/CSU – Franz (Beifall bei der CDU/CSU) Müntefering [SPD]: Bei wem?) 5308 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dr. Angela Merkel (A) Es ist ja wahr – Sie, Herr Bundeskanzler, haben es im- Herr Bundeskanzler, dies gilt generell, so wie Ihr Satz (C) mer wieder gesagt, wir sagen es auch –: Die Welt hat generell gilt, und nicht punktuell, je nachdem, wie wir es sich dramatisch verändert. Der Kalte Krieg ist zu Ende. gerade für richtig befinden. Die deutsche Einigung steht symbolisch dafür. Willy Die Tatsache, dass wir unsere Außenpolitik, unsere Brandt hat 1973 vor der UN-Vollversammlung gesagt: Verantwortung für die Welt niemals auf militärische und Wir sind hierher gekommen, um auf der Grundlage un- polizeiliche Aspekte verengen würden, zeigt schon die serer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglich- Existenz von Klaus Töpfer bei der UNO, zeigt die ge- keiten Verantwortung zu übernehmen. samte Handlungsweise der damals CDU/CSU-geführten Natürlich haben wir heute als vereinigtes Land eine Bundesregierung im Rio-Prozess, in der Verantwortung neue Souveränität gewonnen. Ich persönlich würde nicht für Klimaschutz, zeigt unsere Entwicklungshilfepolitik. von Emanzipation sprechen, wie Sie es tun, weil ich Hier gibt es eine große Kontinuität. glaube, dass deutsche Außenpolitik immer emanzipiert Deshalb ist es völlig unstrittig, dass über die UNO war, von Konrad Adenauer über Willy Brandt hin zu hinaus internationale Verhandlungsprozesse gestärkt Helmut Kohl. Aber natürlich haben wir Souveränität und werden müssen. Vorgänge wie jetzt bei der WTO- damit auch Verantwortung gewonnen und müssen uns Konferenz in Cancun sollten sich nach Möglichkeit fragen – und zwar ganz anders fragen, als wir es früher nicht wiederholen. Wir sind völlig einer Meinung, dass getan haben –: Was sind unsere Interessen? hier wieder Fortschritt erreicht werden muss, dass das Im Übrigen sind wir das größte Land Europas. Wir Scheitern solcher internationalen Verhandlungen ohne haben nicht nur Verantwortung, sondern von uns erwar- jeden Zweifel ein Rückschlag ist. tet man auch ein Stück Führung. Die Welt hat sich ver- Es ist in diesem Zusammenhang allerdings auch be- ändert. dauerlich, wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund beim Der 11. September steht symbolisch für die neuen Scheitern solcher Verhandlungen applaudiert; denn das Gefährdungen, für terroristische Gefahren, mit denen stärkt den Weltfrieden mit Sicherheit nicht. wir uns auseinander setzen müssen. Deshalb teilen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vieles von dem, was Deutschland an Verantwortung übernommen hat. Deshalb sind wir davon überzeugt, dass Krieg nie- mals ein normales Mittel der politischen Auseinander- Aber, Herr Bundeskanzler, der 11. September 2001 ist setzung werden darf. Darauf haben wir auch immer wie- gut zwei Jahre vorbei und wir haben die „uneinge- der hingewiesen. Wir sind aber auch überzeugt: Wenn schränkte Solidarität“ mit den Vereinigten Staaten von die internationale Staatengemeinschaft Autorität erlan- (B) Amerika erlebt – eine Formulierung, die wir vonseiten gen will und die freien und demokratischen Staaten die- (D) der Union so nie gebraucht hätten. ser Welt Gewicht haben sollen, ist es wichtig, dass sie die von ihnen gefassten Beschlüsse schlussendlich auch (Beifall bei der CDU/CSU) durchsetzen. Darin lag unser Dissens. Auch wenn wir Wir haben ein Jahr später den „deutschen Weg“ erlebt, jetzt nach vorne blicken, darf das nicht vergessen wer- von dem wir so auch nie sprechen würden. den. (Beifall bei der CDU/CSU) Für mich muss die deutsche Außenpolitik bestimmten Bedingungen genügen: Erstens. Europa darf auf interna- Diese Wellenbewegung, dieses Hin-und-Her-Optieren tionaler Ebene nicht gespalten agieren. zwischen Extremen, das darf nach meiner festen Über- zeugung deutsche Außenpolitik in der Zukunft nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kennzeichnen. Zumindest muss alles unternommen werden, um im Vor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- feld eine gemeinsame europäische Position zu finden. neten der FDP) (Zuruf von der SPD: Um welchen Preis?) Sie haben gestern gesagt: Aber die Geschichte und Eines der Dilemmata der Auseinandersetzungen im unsere unmittelbaren Erfahrungen lehren uns, dass wir UN-Sicherheitsrat lag doch darin, dass Europäer gegen- scheitern werden, wenn wir unser Denken und Handeln einander gestanden haben. Deshalb begrüße ich es aus- auf militärische und polizeiliche Aspekte verengen. drücklich, dass Sie in Berlin den französischen Präsiden- ten Chirac und den britischen Premierminister Blair Ich kann diesem Satz uneingeschränkt zustimmen. getroffen haben. Es war zwar bedauerlich, dass man sich Aber ich glaube, in Bezug auf die Verhandlungen in der UNO noch nicht (Zuruf von der SPD: Ohne „Aber“!) auf eine gemeinsame Position verständigen konnte, aber es war erkennbar, dass es Fortschritte gibt. Dieser Weg meine Damen und Herren, es gehört eine Ergänzung muss weiter beschritten werden. dazu, nämlich dass unsere Geschichte und unsere unmit- telbaren Erfahrungen uns lehren, dass wir auch scheitern Ich halte es für sehr vernünftig und für einen unglaub- werden, wenn wir die militärischen Optionen von vorn- lichen Fortschritt, dass das Solana-Papier in der Europäi- herein ausschließen. schen Union akzeptiert wurde. Hätte es vor dem Irakkon- flikt vorgelegen, wäre uns vieles erspart geblieben. Es (Beifall bei der CDU/CSU) sollte auch die Grundlage für die weitere Arbeit bilden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5309

Dr. Angela Merkel (A) Zweitens glaube ich, dass Deutschland – wenn es Ich habe im Übrigen bei meinen Amerikabesuchen im- (C) seine Interessen vertreten will – nur die Option hat, dafür mer wieder darauf hingewiesen, dass auch wir unseren Sorge zu tragen, dass Europa nicht gegen die Vereinig- Beitrag dazu leisten müssen. ten Staaten von Amerika steht. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Es gibt Protokolle des Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht in Deutschen Bundestages, in denen das ein biss- der Bekämpfung des Terrorismus, der nicht irgendeine chen anders klingt!) Gefahr darstellt, mit der jeder Staat alleine fertig wird; Wir sprechen hier über das, was wir tun können. Ent- vielmehr erfordert seine Bekämpfung die Gemeinschaft scheidend sind dabei Verlässlichkeit und Berechenbar- aller demokratischen Staaten der Welt. Selbst dann wer- keit, damit Meinungsunterschiede in einem vertrauens- den wir noch jahrelang in allen Facetten mit diesem Pro- vollen Verhältnis ausgetragen werden können. Das ist blem zu tun haben. die Grundlage dafür, dass sich niemand selbst über- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. schätzt. Joachim Günther [Plauen] [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass ich der festen Überzeugung bin, Europa und Ame- Fünftens. Wir sind mit Ihnen der Meinung, dass die rika müssen diesen Kampf gemeinsam durchführen, UNO der Ort ist, an dem in einer globalen Welt Kon- folgt nicht dem alten Denken, dass Europa und Amerika flikte ausgetragen und geregelt werden müssen sowie immer zusammengestanden haben, über entsprechende Maßnahmen entschieden werden ( [SPD]: Geht es noch ein biss- muss. Wir unterstützen genauso wie Sie das Engagement chen allgemeiner?) in Afghanistan. wie das schon zu Zeiten des Kalten Krieges war. Ich bin (Gernot Erler [SPD]: Das werden wir ja vielmehr der festen Überzeugung, dass es die Gemein- sehen!) samkeit unserer Werte erforderlich macht, an dieser Die Frage, was dort weiter zu tun ist, muss erlaubt sein; Stelle unsere Kräfte zu bündeln. denn die Lage in Afghanistan ist nicht so, dass sie kei- nerlei Anlass zur Sorge gibt. Sie haben eben gesagt: bei Drittens. Wir müssen als Bundesrepublik Deutschland den verbleibenden Problemen. Das ist eine relativ bzw. als größtes Land Europas dafür Sorge tragen, dass euphemistische Darstellung der Situation in Afghanis- Europa Führungsstärke zeigt, und zwar nicht nur in der tan. moralischen Argumentation – das wird nicht reichen –, sondern auch hinsichtlich der Wirtschaftskraft und der (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das (B) militärischen Möglichkeiten. kann man wohl sagen!) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Es hat sich auch hier herausgestellt – das sollte uns auch zu einer realistischen Betrachtung der Situation im Irak Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang be- veranlassen –, dass Zeitpläne nicht so eingehalten wer- steht das Problem – das kann auch nicht wegdiskutiert den können, wie wir uns das in Deutschland wünschen. werden –, dass sich die Fähigkeiten der Bundeswehr und Die Prozesse sind vielmehr außerordentlich kompliziert. die verfügbaren finanziellen Ressourcen zurzeit nicht an den Bedrohungen, sondern an den nationalen Begeben- (Gernot Erler [SPD]: Das ganze Leben ist heiten ausrichten. Auf Dauer muss aber die Frage, wel- kompliziert!) ches Maß an Sicherheit und welche Ausstattung wir Deshalb habe ich mit Freude gehört, dass Sie gesagt ha- brauchen, an der Analyse der Bedrohungen ausgerichtet ben, wir könnten uns über die Zeitpläne bei einer UN- werden. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass an- Resolution bezüglich des Iraks einigen. Ich halte das für dere Staaten militärische Kapazitäten zur Verfügung ha- richtig. Auch wir wollen, dass es in Afghanistan voran- ben, die die Bedrohung widerspiegeln und von denen geht. Wenn Sie aber realistisch sind, dann wissen Sie, wir an hinterer Stelle profitieren können. wie kompliziert das Ganze ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler (Unruhe bei der SPD) [SPD]: Gucken Sie doch mal, was andere ma- chen, Frau Merkel! Vergleichen Sie doch mal!) – Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich aufregen. Das ist doch kein Vorwurf an Sie. Ich bitte Sie! Viertens muss deutsche Außenpolitik ihrerseits ge- meinsam mit einer möglichst europäischen Außenpolitik Schauen Sie einfach nach Europa! Schauen Sie sich dafür Sorge tragen, dass Europa als so verlässlich gilt, zum Beispiel an, wie schwierig die Situation in Bosnien dass die Amerikaner nicht den Fehler machen, zu glau- noch immer ist. Lassen Sie uns die Dinge doch realis- ben, sie als Supermacht könnten die Fragen in dieser tisch betrachten! Welt alleine regeln. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gernot Wir alle haben uns doch gewünscht, dass heute kein UN- Erler [SPD]: Oh, welche Erkenntnis!) Beauftragter in Bosnien mehr tätig sein muss und dass Das würde in die Irre führen. die Prozesse dort schneller vorangehen. Wenn das aber nicht möglich ist, dann muss man mit viel Geduld und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem Bohren dicker Bretter versuchen, die Dinge in 5310 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dr. Angela Merkel (A) Ordnung zu bringen. Das ist unsere gemeinsame Verant- lizisten; das umfasst Engagement in der Entwicklungs- (C) wortung. hilfe und viele andere Verhandlungsbereiche. Aber das heißt eben auch: Wir müssen ökonomisch und militä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- risch stark sein. Wenn das der Fall ist, dann können wir neten der FDP) unser Selbstbewusstsein auch nach außen tragen. Es ist entscheidend, dass wir auch den Prozess im Irak Herzlichen Dank. zu einem Erfolg führen. Ich kann verstehen, wenn Sie darauf hinweisen, dass wir hier im Gegensatz zu unse- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – rem Engagement in anderen Regionen und Ländern auch Beifall bei der FDP) Restriktionen unterliegen. Aber hier kommt es sehr auf die Argumentation an. Lassen Sie mich aus einem Kom- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mentar, der gestern Abend in der ARD gesendet wurde, Auf der Tribüne hat soeben der Präsident des tunesi- zitieren: schen Parlaments M’Bezaa mit seiner Delegation Platz Doch was wollen wir genommen. Herr Präsident, wir begrüßen Sie und Ihre Delegation sehr herzlich. – gemeint sind die Deutschen – (Beifall) zum Beispiel im Irak? Haben wir ein Interesse da- ran, dass die Region politisch wieder stabil wird? Wir hoffen, dass Sie in dieser kurzen Zeit einen auf- Wenn ja, schlussreichen Eindruck von unserer parlamentarischen Arbeit gewinnen können. Für Ihren heutigen Aufenthalt – das ist hier die gemeinsame Überzeugung – in unserem Haus und für Ihr zukünftiges Arbeiten wün- dann werden wir uns dort auch finanziell engagie- schen wir alles Gute! ren müssen – und vielleicht eines Tages auch mit Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kol- Soldaten. Denn in der Außenpolitik gilt der Grund- lege Ludger Volmer vom Bündnis 90/Die Grünen. satz: Leistung und Gegenleistung. Umsonst gibt es nichts. Also – um es mit Adenauer zu sagen –: Die Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Situation ist da. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Dieser Situation können wir uns prinzipiell nicht entzie- ren! Der 11. September 2001 hat die internationale Poli- hen. Diese Situation müssen wir annehmen. Wir als tik einschneidend verändert. Seit diesen Terroranschlä- Deutsche können nicht prinzipiell sagen: Hier scheren gen haben wir es mit einem neuen politischen Zeitalter (B) wir vollkommen aus und dort entscheiden wir, dass wir zu tun. Die internationale Politik wird aber auch durch (D) mitmachen. – Wir können unsere Kapazitäten bemessen. die politischen Antworten auf den internationalen Ter- Aber prinzipiell können wir uns der Gesamtverantwor- rorismus bestimmt. In diesem Zusammenhang möchte tung nicht entziehen. Das sollte uns allen in diesem ich für meine Fraktion festhalten: Wir stehen hinter der Hause klar sein. Bundesregierung bei ihrem Bemühen, die Probleme in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Afghanistan mit den Missionen Enduring Freedom und neten der FDP) ISAF sowie mit der Aufbaupolitik zu lösen. Das ist die richtige Reaktion auf den internationalen Terrorismus. Wir werden dabei sein, wenn es darum geht, dass Genauso deutlich sagen wir aber auch: Der Krieg gegen Deutschland innerhalb der UNO mehr Verantwortung den Irak war falsch. übernimmt. Wir werden auch dabei sein, wenn der UN- Sicherheitsrat gestärkt werden soll. Er muss handlungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fähig werden. Es ist unstrittig, dass er noch immer Struk- und bei der SPD) turen aus der Zeit des Kalten Krieges aufweist. Ich un- Der Krieg gegen den Irak hat vielleicht ein Problem terstütze aus vollem Herzen den Satz: Die Regionen gelöst. Saddam Hussein ist gestürzt; darüber können wir dieser Welt müssen im UN-Sicherheitsrat vertreten sein alle froh sein. Alle anderen Probleme bestehen aller- und ihre Rolle spielen. Es ist wichtig, dass Deutschland dings fort oder sie sind sogar noch verschärft worden. in diesen Fragen als ein Motor angesehen wird, der die UNO stärkt und der die Welt voranbringt, der aber auch (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- akzeptiert, dass das Gewaltmonopol bei der UNO liegt SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) und dass die UNO ihre Beschlüsse durchsetzen muss. So Es ist vielleicht nicht mehr die richtige Zeit, zurück- wie ein Staat nur unter bestimmten Bedingungen die zublicken. Zumindest wir Außenpolitiker haben uns da- Achtung seiner Bürger bekommt, so wird die Weltge- rauf verständigt, den Blick nach vorne zu richten und meinschaft die UNO nur achten, wenn sie nicht als Lame nach konstruktiven Lösungen der mit der Lage im Irak Duck dasteht, sondern ihre Interessen mit wirklicher und in der gesamten Region verbundenen Probleme zu Autorität durchsetzt. suchen. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Merkel, zum Blick nach vorne gehört auch, dass man sich der richtigen Tonlage befleißigt. Dazu muss Deutschland seinen Beitrag leisten. Wir werden Sie unterstützen, wenn die Dinge in die richtige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Richtung gehen. Das umfasst mehr als Soldaten und Po- und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5311

Dr. Ludger Volmer (A) Es ist nicht mehr die Zeit, rechthaberisch zu sein. Das Dispute darüber, welches die richtigen Methoden sind, (C) gilt erst recht, wenn man, wie Sie, eher leise Töne an- waren notwendig und in der einen oder anderen Dimen- schlagen sollte, um nicht zu sagen: kleinlaut sein müsste. sion werden sie auch noch anhalten. Je nachdem, wie wir diese Diskussion führen und zu welchen Antworten wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommen, wird sich die Frage, die ich gerade formuliert und bei der SPD) habe: „Mündet das Ende der Despotie in Demokratie Sie hätten die Reise des Bundeskanzlers nach Washing- oder Staatszerfall?“, entscheiden. Wir haben mit den ton nicht erwähnen sollen; denn nun bleibt mir nichts an- Amerikanern, mit der Europäischen Union und mit der deres übrig, als die Reise zu erwähnen, die Sie vor einem internationalen Staatengemeinschaft das gemeinsame In- Jahr unternommen haben. teresse, dass es im Irak zu einem selbst tragenden demo- kratischen Friedensprozess kommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das war der Gipfel der Peinlichkeit in der deutschen und bei der SPD – Hans Raidel [CDU/CSU]: Außenpolitik in den letzten Jahren. Nicht mal die Regierungsbank glaubt, was Sie da sagen!) Ich kann hier im Namen meiner Fraktion und, ich denke, der gesamten Koalition sagen: Wir sind froh, dass Wenn wir über unseren Beitrag reden, wenn wir darü- sich der Bundeskanzler und der amerikanische Präsi- ber reden, welche Hilfe wir leisten können, dann werden dent gestern getroffen wir uns auch Gedanken machen müssen, analytisch zu- mindest, welcher Schaden durch den Irakkrieg entstan- ( [CDU/CSU]: Nach 16 Mo- den ist. naten!) Beginnen wir bei der Frage: Ist der Krieg eigentlich und einen neuen Faden der Kooperation gefunden ha- zu Ende? Präsident Bush hat nach dem Ende Saddam ben. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrück- Husseins gesagt: Der Krieg ist vorbei. – Wir sehen aber lich sagen: Der Bundeskanzler, der Außenminister und die Gewalt im Irak. Muss man daraus nicht andere das Kabinett, unterstützt von der Parlamentsmehrheit, Schlussfolgerungen ziehen? Muss man nicht sagen: „Der haben in einer außerordentlich schwierigen Frage einen Krieg als symmetrischer Staatenkrieg ist vorbei, aber er sehr schwierigen Disput durchgestanden und mit dem geht als Guerillakrieg niederiger Intensität weiter, nun gestrigen Treffen gut zu Ende geführt. noch vermischt mit terroristischen Aktionen, die von au- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ßen in das Land hineingetragen werden“? Man kann und bei der SPD) doch nicht davon reden, dass dort eine Nachkriegszeit (B) existiert, in der wir mit den bekannten und erprobten (D) Während Frau Merkel angestrengt am Thema vorbei- Mitteln der Entwicklungspolitik ohne weiteres Wieder- geredet hat – wir wollten heute über den Irak reden – aufbauhilfe leisten könnten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben zudem gesehen, dass der Terror, der vor und bei der SPD) dem Sturz Saddam Husseins im Irak nicht existierte, in und eine Art außenpolitischer Bewerbungsrede für die das Land eingedrungen ist. Vor dem Krieg gab es keine Kanzlerkandidatur abgeliefert hat, die Herr Stoiber viel- Verbindung von arabischem Nationalismus, für den leicht mit „Drei minus“ bewerten würde, Saddam Hussein stand, und islamistischem Terroris- mus, für den Bin Laden steht. Nun aber beobachten wir, (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ dass genau das eintritt, vor dem wir immer gewarnt ha- DIE GRÜNEN] – Volker Kauder [CDU/CSU]: ben, nämlich dass sich diese eigentlich antagonistischen Sie sind doch durchgefallen! – Weitere Zurufe Strömungen der arabisch-islamischen Welt verbünden, von der CDU/CSU) und zwar nicht nur gegen die Vereinigten Staaten, son- möchte ich nach vorne schauen und an das anknüpfen, dern gegen den Westen insgesamt und sogar gegen die was der Bundeskanzler gerade vorgeschlagen hat. Vereinten Nationen, der einzigen Kraft, die in der Lage ist, den Widerspruch zwischen Besetzten und Besatzern Im Irak entscheidet sich eine ganz wesentliche Frage, oder Befreiten und Befreiern aufzuheben, und das ist die und zwar in den nächsten Monaten. Es hängt auch mit tiefe Tragik. von uns ab, ob in dieser Frage in der richtigen Richtung entschieden wird. Im Irak entscheidet sich die Frage: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mündet das Ende der Despotie in Demokratie oder und bei der SPD) Staatszerfall? Das ist die wichtigste Frage, vor der wir Für uns ergibt sich daraus die Notwendigkeit, weiter- im Moment stehen, und sie ist vielleicht auch für andere hin intensiv darüber nachzudenken, wie der internatio- Regionalkonflikte beispielgebend. nale Terrorismus bekämpft werden kann und muss. Das Daraus ergibt sich unsere Verantwortung. Unsere Ver- ist nach wie vor die sicherheitspolitische Aufgabe Nu- antwortung ergibt sich aus der Solidarität mit den Verei- mero eins. Der Bundeskanzler hat angedeutet: Wir tun nigten Staaten. Nach dem 11. September – das möchte dies auf der Basis eines erweiterten Sicherheitsbegriffs. ich hier noch einmal betonen – war für uns die Solidari- Militär mag dabei eine Rolle spielen, aber die Erfahrun- tät mit den Vereinigten Staaten absolut selbstverständ- gen haben gezeigt, dass dessen Möglichkeiten begrenzt lich. Davon machen wir gar keine Abstriche. Aber die sind. Wir brauchen alle die Mittel polizeilicher und 5312 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dr. Ludger Volmer (A) ziviler Strafverfolgung und Konfliktprävention, die uns alle und die Gesellschaft insgesamt auf, mehr Berüh- (C) insbesondere die deutsche Außenpolitik in den letzten rungspunkte zum israelischen und zum palästinensi- vier Jahren entwickelt hat. Dafür treten wir in den inter- schen Volk zu suchen und diesen beiden Völkern im in- nationalen Diskussionen ein. tensiven Dialog dabei zu helfen, dass sie endlich aus ihrer Sackgasse herauskommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dazu gehört auch der weitere Kampf gegen Massen- vernichtungswaffen, angeblich einer der Gründe, den Meine Damen und Herren, die Terroranschläge Irak anzugreifen. Heute wissen wir: Der Irak hat keine gegen die UNO-Einrichtungen im Irak haben uns eines Massenvernichtungswaffen, zumindest kann man keine gezeigt: Auf der einen Seite ist die UNO die einzige le- finden. gitime Kraft, die den Wiederaufbau des Irak koordinie- In diesem Zusammenhang beobachten wir eine nega- ren darf und auch für Rückhalt hierfür in der internatio- tive Dialektik: Der Nachbarstaat Iran – das macht uns nalen Staatengemeinschaft sorgen kann. Auf der anderen sehr große Sorge – arbeitet an einem Atomprogramm, Seite ist die UNO verwundbar. Daraus ergeben sich ver- was eigentlich nur den Sinn bzw. den Unsinn haben schiedene Konsequenzen. Eine Konsequenz jedoch liegt kann, in den Besitz von Atomwaffen zu kommen. Nun auf der Hand: Eine Politik, die die UNO stärken und sie frage ich mich aber: Hatte der Irakkrieg bezogen auf ira- in die Lage versetzen will, diese führende Funktion zu nische Atomprogramme einen präventiven Effekt? übernehmen, ist keine Politik, die gegen die USA gerich- Kann Iran für eine Begrenzung seines Atomprogramms tet ist. Die UNO kann nur dann stark sein, wenn die Ver- im Irakkrieg einen Anreiz sehen? Das Gegenteil dürfte einigten Staaten mitmachen. Deshalb steckt in unserer der Fall sein. Wir sehen auch am Beispiel Nordkorea, Forderung nach einer Stärkung der UNO kein Alterna- dass Staaten, die eine Intervention fürchten, dazu neigen, tivkonzept zu einer gewissen Großmachtpolitik der Ver- sich ein atomares Abschreckungs- und Bedrohungs- einigten Staaten. Wir finden vielmehr, dass die Groß- potenzial zuzulegen. Auch aus diesem Grunde war der bzw. Supermacht sich mit den Vereinten Nationen ver- Irakkrieg falsch. Auch aus diesem Grunde war es falsch, söhnen muss, weil nur so die UNO stark genug wird und dass aus der Mitte der Union eine Debatte über die nur so die Amerikaner ihren moralischen Führungsan- Notwendigkeit von Präventivschlägen angezettelt spruch, den sie in den vergangenen Jahren aufgebaut und wurde. Ich sage Ihnen hier – der Irakkrieg ist ein Beweis danach teilweise selber wieder in Zweifel gezogen ha- dafür –: Präventivschläge machen die Welt unsicherer. ben, wiedergewinnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) und bei der SPD) und bei der SPD) Wir sind uns in dieser Frage völlig mit Kofi Annan einig, Aus eben genau dem Sicherheitsdilemma, dass wir der das gestern in seiner Rede mit aller Deutlichkeit er- zwar die UNO als die organisierende Instanz einsetzen klärt hat. wollen, diese aber von den Konfliktparteien im Irak an- gefeindet wird, ergibt sich, dass wir einige andere Nehmen wir einen weiteren Problempunkt, den Schritte unternehmen müssen. Der Bundeskanzler hat Nahostkonflikt. Mit dem Angriff auf den Irak war die darauf hingewiesen und hat dabei unsere volle Unterstüt- Vorstellung verbunden, man könne in einem Zuge den zung. Wir müssen im Dialog mit den Vereinigten Staaten gesamten Nahen Osten neu ordnen und damit auch den und im Rahmen der UNO darauf hinarbeiten, dass es zur Kernkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern lösen. Irakisierung des Konfliktes kommt, zu einer schnell ein- Wie sieht die Situation heute aus? Die Roadmap, eine setzenden und einer Schritt für Schritt, aber systematisch große Errungenschaft der internationalen Politik, wird betriebenen Souveränitätsabtretung von der Besat- im Moment von den Akteuren nicht ernst genommen. zungsmacht an die irakischen Behörden. Diese Politik Auf beiden Seiten setzen sich die Scharfmacher und scheint mir entscheidend zu sein. Wir wollen sie durch Hardliner durch, die die fruchtbaren Ansätze für eine die Angebote, die der Bundeskanzler gestern gemacht Verständigung wieder zunichte machen wollen. Da soll hat, unterstützen. mir einer sagen, das hätte nichts mit dem Irakkrieg zu tun. Das heißt jetzt aber umgekehrt nicht, dass wir die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Roadmap fallen lassen dürfen. Die Roadmap ist für uns und bei der SPD) nach wie vor der einzig denkbare Orientierungs- und Meine Damen und Herren, wir haben uns mit diesem Fixpunkt in diesem Prozess. Aspekt der amerikanischen Außenpolitik in den letzten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Monaten sehr kritisch befasst. Wir sehen auch keinen und bei der SPD) Anlass, von dieser Kritik etwas zurückzunehmen. Aber genauso entschieden sage ich: Wir sind absolut davon Wenn die amerikanische Administration im Moment überzeugt, dass die transatlantische Partnerschaft und durch das Desaster im Irak relativ geschwächt ist, dann die deutsch-amerikanische Freundschaft Konstanten der ist es noch mehr als bisher Aufgabe der Europäischen deutschen Außenpolitik sind und bleiben müssen. Union, auf die Weitergeltung der Roadmap zu drängen. Dies ist nicht nur Aufgabe der staatlichen Außenpolitik, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es ist auch Aufgabe des Parlaments. Deshalb fordere ich und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5313

Dr. Ludger Volmer (A) Europa ist keine Gegenmacht zu den USA, sondern ein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) Pfeiler des transatlantischen Verhältnisses. Herr Kollege, das war wohl eher der viertletzte Satz! (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das haben wir aber ganz anders gehört! Von Ihren Regie- Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rungsmitgliedern!) – und zwar bezogen auf unsere Interessen und auf die Vielleicht müssen wir dieses Verhältnis – hören Sie ein- globale Politik. mal zu, Herr Kauder – aber neu definieren. Bisher hat Vielen Dank. sich das Verhältnis aus den Erinnerungen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration gespeist. Ich gehöre zwar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht mehr zur Kriegsgeneration, bin aber – das sind wir und bei der SPD) alle und das wird auch so bleiben – den Amerikanern dankbar dafür, dass sie, dass die Alliierten uns vom Hit- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ler-Faschismus befreit haben. Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von der FDP-Fraktion. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der FDP) CDU/CSU, der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktions- los]) Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Wir sind den Amerikanern dankbar, dass sie Westberlin ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die gesichert haben. Intonierung der Debatte von heute Morgen aufgreifen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich finde nämlich, dass das Ziel dieser Debatte auch sein und bei der SPD) könnte, dass wir in diesem Hause in der Außenpolitik wieder zu dem Konsens zurückfinden, der viele Jahre, ja Wir sind den Amerikanern – bei allen Disputen, die wir Jahrzehnte prägend für den Deutschen Bundestag gewe- über die Politik der atomaren Abschreckung hatten – sen ist. dankbar, dass sie sich zur Zeit des Kalten Krieges schüt- (Beifall bei der FDP) zend auf unsere Seite gestellt haben. Ich habe den Bundeskanzler und übrigens auch Frau (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollegin Merkel, die ihm geantwortet hat, heute sowohl (B) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der von der Intonierung als auch vom Inhalt her so verstan- (D) CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: den. Wenn man sich die Intonierung und auch den Inhalt Ganz neu!) bei beiden vor Augen führt, so kann man eines feststel- Wir sind den Amerikanern dankbar für das, was sie für len: Es führt nicht weiter, wenn wir diese Debatte über den deutschen Einigungsprozess getan haben. den Irak und den Krieg im Irak permanent mit einer Schuldfrage verbinden. Das löst kein einziges Problem. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Beleidigung des Präsidenten!) (Beifall bei der FDP – Gernot Erler [SPD]: Wer hat denn damit angefangen?) Aber ich sage eines: Dialog und Partnerschaft dürfen nicht bedeuten, dass es aus Dankbarkeit zur Unterwür- Es geht auch nicht darum – insofern teile ich, auch figkeit kommt. Dialog heißt immer: Partnerschaft auf von der Schärfe her, nicht das, was der Kollege Volmer Augenhöhe. hier ausgeführt hat –, dass wir uns gegenseitig vorhalten, warum diese Sprachlosigkeit entstanden ist. Aufgrund (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der allgemeinen Lebenserfahrung wissen wir: Erstens ist und bei der SPD) die Sprachlosigkeit, die zwischen Präsident Bush und Kanzler Schröder entstanden ist, nicht gut. Zweitens tra- gen – so ist es in der Regel – beide Verantwortung dafür. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Drittens kann man den gestrigen Versuch, diese Sprach- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. losigkeit zu beenden, nur vorbehaltlos unterstützen. Mir ist eine verkrampfte Begegnung zwischen den Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): beiden lieber als keine Begegnung. Deshalb schlage ich vor – das ist mein letzter Satz, (Beifall bei der FDP) Herr Präsident –: Wir sollten einmal offensiv über die Wertegemeinschaft der Europäer und der Amerikaner, Selbst wenn es sich nur um eine symbolische Begegnung die vielfach beschworen wird, aber immer dann, wenn es gehandelt hätte, wäre sie überfällig und richtig gewesen. zu Disputen kommt, auch zu gewissen Enttäuschungen Deswegen gibt es aus Sicht der Freien Demokraten an führt, diskutieren. Wir sollten mit den Amerikanern ei- dieser Begegnung zwischen Präsident Bush und Bundes- nen grundsätzlichen Dialog darüber beginnen, was west- kanzler Schröder nichts zu bemängeln, nichts zu kritisie- liche Werte sind, was unter Freiheit, Demokratie und ren. Es ist gut, dass diese Sprachlosigkeit überwunden Gerechtigkeit zu verstehen ist, – wird. Ich fürchte aber, dass das allenfalls ein Anfang 5314 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dr. Guido Westerwelle (A) gewesen ist. Den Bemühungen um verbesserte transat- – Das ist kein Missverständnis. Das ist ein sehr ernster (C) lantische Beziehungen müssen jetzt konkrete Taten fol- Vorgang. Ein deutscher Bundeskanzler, der mit dem gen. amerikanischen Präsidenten zusammentrifft, hätte zu- nächst die anderen Europäer informieren müssen, bevor (Beifall bei der FDP) andere Gespräche anstehen. Das ist der entscheidende Damit will ich einen Vorgang ansprechen, der viele Kritikpunkt. Die deutsche Außenpolitik muss in die Kolleginnen und Kollegen hier im Hause über die Par- Einbettung in die europäische Außenpolitik zurückfin- teigrenzen hinweg in dieser Woche erreicht hat. Wenn den. Sonderwege – egal wo sie betrieben werden, in wir als deutsche Politiker doch der Überzeugung sind, Washington oder in Berlin – sind ein Irrtum in dieser dass das deutsch-amerikanische Verhältnis wieder nor- Debatte. malisiert werden muss, dass die Sprachlosigkeit über- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wunden werden muss, dann ist es an uns, diesen Worten Taten folgen zu lassen. Wenn jetzt darüber gestritten Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Ach- wird, dass der von Sozialdemokraten und PDS geführte senbildung ist deswegen verheerend, weil bei der euro- Senat von Berlin die Mittel für das Aspen-Institut strei- päischen Einigung zunehmend das Projekt wiederbe- chen will, dann verlangt das unsere höchste Aufmerk- lebt wird, eine Gegenmacht zu den Vereinigten Staaten samkeit. von Amerika zu bilden. In den wenigen Minuten, die wir Freidemokraten in dieser Debatte haben, möchte ich nur (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einen ernsten Punkt bringen, der uns noch lange beschäf- der CDU/CSU) tigen wird: Wer glaubt, er könne Europa einigen, indem er das transatlantische Band durchschneidet, indem er Was heißt das denn? In derselben Stunde, wo sich der Europa quasi zur Gegenmacht zu den Amerikanern auf- Bundeskanzler richtigerweise bemüht, das deutsch-ame- baut, wird nur erleben, dass er Europa spaltet. rikanische Verhältnis wieder zu verbessern, geht es hier um die Schließung des Aspen-Instituts. Das ist mehr als (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) eine intellektuelle Veranstaltung. Diese Schließung hätte einen verheerenden Symbolwert, auch und gerade in der Das ist die eigentliche perspektivische Diskussion, die Wirkung auf Washington und die Vereinigten Staaten wir führen müssen. von Amerika. Das gestrige Gespräch war ein Beginn. Es ist ein Drama, dass es überhaupt zu dieser Sprachlosigkeit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kommen konnte. Irgendwann wird man sich fragen, wie der CDU/CSU) die Staats- und Regierungschefs von zwei befreundeten (B) (D) Frau Staatsministerin – sie ist jetzt nicht da –, Herr In- Demokratien in eine solche Situation der Sprachlosigkeit nenminister Schily, dies ist eine herzliche Bitte, ein Ap- eigentlich kommen konnten. Man wird mit Kopfschüt- pell an Sie, sich dieser Frage anzunehmen. Wir können teln auf diese Zeit zurückblicken. Das setzt natürlich vo- die Begründung nicht akzeptieren, das gehe Berlin raus, dass wir von einer reaktiven Außenpolitik weg- nichts an und sei Aufgabe des Bundes. So argumentiert kommen und zu einer perspektivischen Außenpolitik Berlin. Denken wir diese Art der Argumentation einmal zurückfinden müssen. Damit bin ich beim letzten Punkt, zurück! Nach dieser Logik hätten die Vereinigten Staa- den ich ansprechen möchte. ten von Amerika niemals Verantwortung für Berlin Die Rede des Bundeskanzlers vor den Vereinten Nat- wahrnehmen müssen. Was hier passiert, ist unhistorisch. ionen war eine sehr wichtige Grundsatzrede. Sie war zu- Ich will diese Debatte nutzen, um uns alle auf diesen gleich eine große Chance. Aber ich habe den Eindruck, Punkt aufmerksam zu machen. dass wir an wesentlichen Fragen, mit denen sich die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) deutsche Außenpolitik beschäftigen sollte, zunehmend vorbeidiskutieren. Ich will nur ein Beispiel nennen. Der Ich will einen zweiten Punkt ansprechen, an dem wir französische Staatspräsident und der amerikanische Prä- die Politik ändern müssen. Es hat ja nicht nur eine Be- sident haben den Weltgesundheitsfonds und die Be- gegnung zwischen dem Bundeskanzler und dem ameri- kämpfung von Aids zu zentralen Anliegen erklärt. Es kanischen Präsidenten gegeben, sondern unmittelbar da- ist ein wirklich dramatisches Versäumnis, dass das in der nach auch eine Begegnung zwischen den Präsidenten Rede des Bundeskanzlers vor den Vereinten Nationen Chirac und Putin und Bundeskanzler Schröder. keine Erwähnung gefunden hat; denn das sind die Fra- gen, die uns in der Weltpolitik in ganz kurzer Zeit inten- (Gernot Erler [SPD]: Und das war gut so!) siv beschäftigen werden. Ich glaube, dass das ein Problem ist. Die Regierung be- (Dr. [FDP]: Das ist leider tont in ihrer Außenpolitik immer wieder, wir dürften wahr!) keine Achsenbildung betreiben. Dann dürfen Sie aber auch nicht zulassen, dass faktisch genau diese Politik Darum geht es in der Außenpolitik. Es muss Schluss der Achsenbildung betrieben wird. sein mit diesen Debatten, wer woran Schuld war. Die klammheimliche Freude auf der einen Seite und das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Rechthaben auf der anderen Seite des Hauses bringen der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Das ist niemanden weiter. Die deutsche Außenpolitik muss wie- ein Missverständnis, Herr Kollege!) der eine Perspektive haben. Das bedeutet, dass man sich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5315

Dr. Guido Westerwelle (A) dieser Zukunftsfragen annimmt. Themen wie die Be- nötig ist, damit der Aufbau im Irak in der Verantwortung (C) kämpfung von Aids und die demographische Entwick- der irakischen Bevölkerung gelingen kann. lung der Weltbevölkerung müssen auch in Berlin Chef- sache werden, so wie sie in Paris und Washington Die UN müssen vor allen Dingen eine unabhängige Chefsache geworden sind. Rolle spielen, wenn der politische, wirtschaftliche und soziale Aufbauprozess gelingen soll. Um den friedlichen (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Aufbau zu gewährleisten, ist eine breite Unterstützung von außen nötig. Dies setzt aber voraus, dass die Sicher- Das verstehen wir unter perspektivischer Außenpolitik. heitslage entsprechend verbessert wird. Nach wie vor ist (Gernot Erler [SPD]: Die haben wir schon Irak ein Land mit der höchsten Gefährdungsstufe. Wer in lange! Dazu brauchen wir Sie nicht!) Bagdad und in der gesamten Region praktische Hilfe leisten will, der wird jetzt vom Flughafen mit einem Vielen Dank. Hubschrauber in den geschützten Compound geflogen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Man kann also mit den Menschen, denen man eigentlich der CDU/CSU) helfen will, nicht vor Ort sprechen. Das ist die Realität; die wollen wir ändern. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aber ich bitte, mit zu berücksichtigen: Um vor Ort Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie wirklich in großem Umfang Hilfe leisten zu können, be- Wieczorek-Zeul. darf es einer Verbesserung der Sicherheitslage. Diese ist eng mit der Übergabe der Verantwortung an eine legiti- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gernot mierte irakische Regierung verbunden. Erler [SPD]: Er hat eine gute Vorlage gege- ben!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an die- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: ser Stelle – ich denke, ich tue das in Ihrer aller Namen – den Tod der irakischen Politikerin al-Haschimi betrau- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ern, die heute ihren Verletzungen erlegen ist. Sie war Herr Westerwelle mit seiner Rede anfing, dachte ich, Mitglied des Regierungsrates. Wir trauern mit den Men- dass die sachliche Diskussion im Vordergrund stehen schen im Irak und mit ihren Angehörigen. würde. Am Schluss gab es aber doch nur Polemik. Ich möchte an dieser Stelle auch all derjenigen geden- (Beifall des Abg. [Wies- (B) ken, die im Irak Opfer geworden sind und Opfer werden. (D) loch] [SPD]) Dies sind sowohl Zivilisten als auch Soldaten. Wer der Bundesregierung vorwirft, dass sie sich auf Ich möchte Sergio de Mellos gedenken, der Opfer ei- europäischer Ebene nicht engagiert genug abstimmt und nes widerwärtigen Attentats geworden ist und dem wir dass sie untätig ist, der hat übersehen, dass in der Zwi- dafür danken, dass er an vielen Orten in der Welt für schenzeit im Rahmen der Mitarbeit im Konvent ein gro- Frieden und Demokratie geworben hat. Aus diesem ßer und engagierter Beitrag für die europäische Einigung Grunde war er auch im Irak. geleistet wurde. Wir haben bereits vor dem Krieg im Irak Hilfe geleis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tet: in den kurdischen Gebieten und auch im Rahmen DIE GRÜNEN) des Welternährungsprogramms. Wir sind im Rahmen Für uns war immer klar – und ist es auch jetzt –, dass der humanitären Hilfe in Höhe von 50 Millionen Euro die Vereinten Nationen eine wichtige und aktive Rolle mit all unseren Möglichkeiten für dieses Land tätig. Wir beim Wiederaufbau des Irak haben. beteiligen uns daran, die Ernährung sowie das Funktio- nieren von Wasserwerken und die Abwasserentsorgung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sicherzustellen. Wir unterstützen den UNHCR, wenn es darum geht, dass Menschen, die in den Irak zurückkeh- Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, erlauben Sie eine ren, Unterstützung erhalten, und wir unterstützen die Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle? vielen Nichtregierungsorganisationen, die im Irak im Rahmen der Möglichkeiten, die sie selber sehen, tätig Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für sind. Zudem sind wir an der europäischen Hilfe von ins- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: gesamt 100 Millionen Euro mit einem Anteil von Ich möchte zunächst mit meiner Rede fortfahren und 25 Millionen Euro beteiligt. nicht gleich zu Anfang eine Zwischenfrage beantworten. Die Weltbank hat bereits im April dieses Jahres mit (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried unserer Stimme den Auftrag gegeben – das vergessen Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) manche –, eine entsprechende Untersuchung über die Aufbaumöglichkeiten im Irak in Gang zu setzen. Zu Wie gesagt: Die Vereinten Nationen müssen beim 14 Bereichen, die eigentlich alle Lebensbereiche umfas- Wiederaufbau des Irak eine zentrale Rolle spielen; denn sen – leider nicht den Ölsektor; den wollte die amerika- nur sie können auf Dauer die Legitimität schaffen, die nische Seite nicht mit einbezogen wissen –, wird eine 5316 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Bewertung vorgenommen und Anfang Oktober ein Be- fen – wird die Hälfte der Weltbevölkerung unter (C) richt vorgelegt, in dem Hilfs- und Aufbaumöglichkeiten 25 Jahren sein. 3 Milliarden Menschen auf der Welt wer- deutlich werden sollen. Deshalb ist es für mich völlig den unter 25 Jahren sein. Wir sind es ihnen, ihrer Zu- klar, dass auch wir – die Bundesrepublik ist der dritt- kunft und ihren Hoffnungen schuldig, dass wir alles tun, größte Anteilseigner der Weltbank – an der Konferenz um Kriege zu verhindern und dazu beizutragen, dass Ar- am 23. und 24. Oktober dieses Jahres in Madrid teilneh- mut in der Welt bekämpft und dem Terrorismus ent- men werden, um Bewertungen vorzunehmen und schlossen entgegengetreten wird. Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich bedanke mich. Um der Menschen willen – auch das will ich anspre- chen – wollten wir den Krieg im Irak verhindern. Um (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Menschen willen leisten wir humanitäre Hilfe. Um DIE GRÜNEN) der Menschen willen bemühen wir uns darum, dass nach dem „gewonnenen Krieg“ endlich auch der Frieden ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wonnen wird Zur einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle das Wort. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und dass die Menschen eine gute Zukunft haben. Es ist Dr. Guido Westerwelle (FDP): auch klar: Je schmaler das UN-Mandat ist, umso weni- Herr Präsident! Frau Ministerin, ich habe Sie am An- ger werden sich die Geberländer – auch das ist am Rande fang Ihrer Rede etwas fragen wollen, weil Sie mich im der Weltbanktagung vor wenigen Tagen deutlich gewor- Hinblick auf meine Kritik an der Bundesregierung und den – beteiligen wollen. insbesondere darauf direkt angesprochen haben, dass ich den Eindruck habe, dass das Thema Bekämpfung von Ich möchte zudem feststellen: Eine Hilfe der interna- Aids anders als in zwei anderen Ländern nicht Chefsa- tionalen Gemeinschaft ist notwendig, weil es ansonsten che ist. Da Sie mir die Möglichkeit der Zwischenfrage nicht vorangeht und es zu einem Staatszerfall käme. nicht gegeben haben, will ich eine kurze Bemerkung Aber es ist auch klar, dass die Hilfe, die dort geleistet dazu machen. wird, nicht zulasten anderer Regionen gehen darf. (Beifall der Abg. [SPD]) Am Tag, bevor der Bundeskanzler bei den Vereinten Nationen in New York gesprochen hat, hat es dort eine Sie muss zusätzlich geleistet werden. Denn Hilfe ist große globale Debatte über die Bekämpfung von Aids auch in Afghanistan, in Afrika und in anderen Regionen (B) gegeben. Das ist in nahezu allen Regierungen der Welt (D) nötig. ein Thema, das dort nicht nur unter humanistischen, son- dern durchaus auch unter massiven ökonomischen und Generalsekretär Kofi Annan hat vor wenigen Tagen politisch-geostrategischen Gesichtspunkten diskutiert bei der Eröffnung der UN-Generalversammlung vor der wird. Gefahr gewarnt, dass sich der „Einsatz einseitiger Gewalt ohne Rechtsgrundlage ausbreiten“ könne. Ein Der Bundeskanzler – anders als der amerikanische solches Vorgehen, so Annan, könne das Gesetz des Präsident und anders als der französische Präsident – Dschungels über die Welt bringen. verliert kein einziges Wort darüber. Das kritisiere ich. Ich stimme ihm zu, dass wir alles daransetzen müssen, Ich glaube auch, dass das eine berechtigte Kritik ist. um die Autorität und das Ansehen der UN zu stärken. Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sind das kostbarste Instrument, das die Weltgemeinschaft der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Wir re- hat, um Frieden zu stiften und um Globalisierung gerecht den nicht, wir handeln schon lange!) gestalten zu können. – Sie handeln eben nicht, Herr Kollege. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Gernot Erler [SPD]: Guckt euch doch einmal an, was wir machen!) Gerade nach der gescheiterten Cancun-Konferenz ha- ben alle Konferenzen, sowohl die Weltbank- und IWF- Der amerikanische Präsident hat nicht aus einem aus- Jahrestagung vor wenigen Tagen in Dubai als auch die schließlichen Akt der humanistischen Nächstenliebe he- UN-Generalversammlung, die Entschlossenheit betont, raus, sondern weil er seine eigenen Interessen politisch die multilateralen Organisationen zu stärken. Der Unila- definiert hat, mit das Programm ausgerufen: 3 Milliar- teralismus ist gescheitert. Es ist gut, dass auch in den be- den Dollar für diesen Fonds. Die Voraussetzung ist, dass treffenden Ländern selbst die Diskussionen über die Ur- die Vereinigten Staaten von Amerika 1 Milliarde Dollar sachen dieses Scheiterns geführt werden. Es geht darum, bringen und die Europäer ebenfalls 1 Milliarde Dollar die multilateralen Organisationen zu reformieren, sie zu bringen. Der französische Staatspräsident hat sofort ge- stärken, damit die Globalisierung gerecht gestaltet wer- antwortet und spontan seine Leistungen zugesagt. den kann. In Deutschland hinken wir leider immer noch unseren Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen sich eigenen – wie ich finde – vernünftigen Zielen deutlich eine Zahl vor Augen halten: Im Jahre 2015 – das hat uns hinterher. Es ist beschämend für ein reiches Land wie Jim Wolfensohn vor wenigen Tagen in Erinnerung geru- Deutschland, dass das Zustandekommen eines solchen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5317

Dr. Guido Westerwelle (A) weltweiten Fonds zur Bekämpfung von Aids bei uns in Erler [SPD]: Da guckst du glasig, (C) Wahrheit mehr Bremser als Förderer hat. Westerwelle!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich habe nicht gewartet, bis die internationale Gemein- der CDU/CSU) schaft einen Fonds eingerichtet hat, sondern habe dafür gesorgt, dass in allen Instrumenten der Entwicklungs- Es ist das Recht der Opposition, das hier anzuspre- zuammenarbeit, in jedem Projekt die Bekämpfung von chen. Sie haben die Demonstrationen gegen die Regie- Aids und die Prävention berücksichtigt wird; denn ich rung und gegen uns Politiker vor dem Brandenburger betrachte es – wie Sie – als ein Drama, als eine mensch- Tor erlebt. Wir haben am Dienstag direkt nach dieser liche Katastrophe, dass Millionen von Menschen daran Debatte Professor Feachem in der Fraktion der Freien sterben können. Für viele Länder ist es darüber hinaus Demokraten zu Gast gehabt. Für uns als Freie Demokra- auch eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe. Las- ten ist es ernüchternd und peinlich gewesen, dass der sen Sie uns darüber also bitte nicht in einer solchen De- Leiter des Fonds Deutschland bei den Bremsern einsor- batte streiten. tiert, wenn es um die Bildung dieses Fonds geht. Wir müssten vielmehr einer der Motoren sein. Es handelt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich bei Aids nämlich um eine der großen Menschheits- DIE GRÜNEN) bedrohungen. Nehmen Sie vielmehr zur Kenntnis, dass wir engagiert Wenn wir dieses Thema immer nur an die Seite drän- sind und dass wir etwas tun. Wir reden darüber vielleicht gen, weil wir uns in der Tagespolitik mit allem Mögli- nicht so viel wie der eine oder andere, aber wir machen chen, auch mit innerparteilichem Streit, aufhalten und etwas. diese Dimension nicht mehr begreifen, dann machen wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meines Erachtens einen ganz großen Fehler. Da wir hier DIE GRÜNEN) über Außenpolitik reden, möchte ich festhalten, dass die- ses Thema in der Rede des Bundeskanzlers in New York gefehlt hat. Das kritisieren wir ausdrücklich. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Petra Pau (fraktionslos): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat gestern mit seiner Rede vor der Zur Erwiderung Frau Wieczorek-Zeul. UNO viel Aufmerksamkeit erlangen wollen und hat sie (B) (D) auch bekommen. Es gibt Passagen, denen stimmen auch Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wir, die PDS im Bundestag, zu. Oder soll ich sagen „so- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: gar wir“? Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Sie haben gemahnt – ich zitiere –: Westerwelle, Sie haben das Thema Aids-Bekämpfung angesprochen. Ich will auf folgenden Umstand hinwei- Wir werden scheitern, wenn wir unser Denken und sen: Als wir die Regierung übernommen haben, haben Handeln auf militärische und polizeiliche Aspekte wir im Haushalt, den uns die vorige Regierung unter verengen. Wir müssen an den Wurzeln des Terroris- CDU/CSU und FDP hinterlassen hat, Mittel zur Aids-Be- mus und an den Ursachen von Unsicherheit ansetzen. kämpfung in Höhe von 19 Millionen DM vorgefunden. Sie haben erinnert – ich zitiere noch immer –: (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: National!) Um Fanatismus zu bekämpfen, müssen wir für so- – Ja, genau! – Diese Bundesregierung hat die Mittel zur ziale und materielle, aber auch für kulturelle Si- Aids-Bekämpfung insgesamt auf heute durchschnittlich cherheit sorgen. 300 Millionen Euro erhöht. Weiter haben Sie gesagt – auch das ist noch Zitat –: Das zeigt: Wir reden über solche Fragen nicht nur, Um die Menschen für den Weg der Freiheit, des sondern handeln. Friedens und der gesellschaftlichen Offenheit zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gewinnen, müssen wir ihnen helfen, in gesicherten DIE GRÜNEN – Gert Weisskirchen [Wies- Strukturen mehr Teilhabe und mehr Wohlstand zu loch] [SPD], zur FDP gewandt: Und was erreichen. jetzt?) Das finde ich richtig, auch wenn es ein wenig dröge klingt. Wir haben nicht auf einen globalen Fonds gewartet, den wir im Übrigen ausdrücklich unterstützen – das habe ich Wir gehen sogar noch weiter. Sie haben nach fast je- gestern Herrn Feachem deutlich gemacht –, sondern wa- dem dieser klugen Sätze leider ein dummes Aber ge- ren schon vorher tätig und haben 1999 die Mittel aufge- setzt, um die große Bedeutung der NATO zu begründen. stockt. Hier wäre weniger wirklich mehr gewesen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gernot onslos]) 5318 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Petra Pau (A) Weniger Aber und weniger NATO, das hätte sogar unse- Nachhinein legitimieren könnte. Das sage ich allerdings (C) ren Beifall gefunden. auch deutlich an die Adresse der CDU/CSU, die ver- sucht, Deutschland im Rahmen der NATO in die US- Nun hat der Bundeskanzler natürlich eine diplomati- Strategie einzubinden. Das sage ich auch angesichts der sche Rede gehalten, also eine Rede, die diese, aber auch rot-grünen Pläne, die Bundeswehreinsätze in Afghanis- eine andere Deutung zulässt. Deshalb habe ich eine Bitte tan auszuweiten, um die USA militärisch zu entlasten an Sie, Herr Bundeskanzler: Widersprechen Sie mir und dafür ein Bravo zu empfangen. Das sage ich schließ- deutlich, wenn ich Ihre Rede falsch interpretiere. Sie ha- lich auch mit Blick auf die EU; denn nach dem vorlie- ben gewarnt – ich zitiere wieder –: genden Verfassungsentwurf sollen die Mitgliedstaaten Um Ruchlosigkeit zu bekämpfen, müssen wir der auf eine Außen- und Sicherheitspolitik verpflichtet wer- Rechtlosigkeit Einhalt gebieten. den, die auf militärische Stärke baut und Präventivkriege ausdrücklich nicht ausschließt. Ich gehe davon aus, dass Sie damit auch und ausdrück- lich die USA gemeint haben; denn die USA haben ruch- Das alles lehnt die PDS ab. Ich hätte heute gerne Glei- und rechtlos einen Krieg gegen den Irak begonnen, was ches von Ihnen gehört – grundsätzlich und fürderhin. bekanntlich weltweit zu Protesten geführt hat. Danke schön. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- onslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- onslos]) Herr Bundeskanzler, Sie haben dem internationalen Recht und einem internationalen Strafgerichtshof das Wort geredet. Auch das interpretiere ich als eine klare Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kritik an den USA; denn es sind vor allem die USA, die Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat sich internationalem Recht und einem Strafgerichtshof nun der Kollege Christian Ruck von der CDU/CSU- verweigern. Daneben haben Sie für überfällige Refor- Fraktion das Wort. men der Vereinten Nationen plädiert. Auch das habe ich als deutliche Distanz zu den USA vernommen; denn es (Beifall bei der CDU/CSU) waren die USA, die die UNO im Zusammenhang mit dem Irakkrieg für nichtig und überflüssig erklärt haben. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Wie gesagt: Sollte ich den Bundeskanzler falsch ver- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz aller standen haben, so bitte ich ihn ausdrücklich, das klarzu- freundlichen Deutungsversuche kann der Besuch des (B) stellen – auch gegenüber den Medien. Kanzlers in New York nicht darüber hinwegtäuschen, (D) dass die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Aber von heute und die möglichen Konflikte von morgen zwi- nicht gegenüber der PDS!) schen der Bundesregierung und der amerikanischen Re- Sie haben die Rede von UNO-Generalsekretär Kofi gierung eben nicht ausgeräumt sind. Das merkt man Annan gewürdigt. Auch ich fand sie bemerkenswert, zu- auch deutlich an der UNO-Rede des Kanzlers, in der er mal er auf den großen historischen Rückschritt verwies, das ganz klar ausgesprochen hat. Aber eine Politik der den die USA mit ihrem völkerrechtswidrigen Krieg ge- Bundesregierung für den Wiederaufbau im Irak könnte gen den Irak beschleunigt haben. Zur Erinnerung: Am einen konkreten Schritt zur Verbesserung der transatlan- 26. Juni 1945 wurde die Charta der Vereinten Natio- tischen Beziehungen bedeuten. Diese Chance sollten wir nen beschlossen. Sie galt als Lehre aus dem verheeren- alle nutzen; denn das ist in unser aller Interesse. den Zweiten Weltkrieg sowie als Maßstab für eine künf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. tige Weltordnung ohne Kriege und durch sie wurde ein Dr. Guido Westerwelle [FDP]) zivilisatorisches Projekt beschrieben. Diese Grundsätze wurden inzwischen – vor allem Wir alle sind uns darüber einig, dass die Lage im Irak durch die USA, aber nicht nur durch sie – vollends auf- nicht nur wegen der Kriminalität und der angespannten gekündigt und torpediert. Das Recht des Stärkeren Versorgungslage in der Tat prekär ist, sondern vor allem herrscht über die Stärke des Rechts. Das ist die Position auch wegen der bisher noch nicht erkennbaren Perspek- der USA, die sie auch vor der UNO nicht revidiert ha- tiven für einen stabilen und demokratischen Irak. Damit ben. Deshalb schwant mir nichts Gutes, wenn der Herr ist auch das Ende der wachsenden Spannungen im Land Bundeskanzler sagt, die Konflikte mit den USA rund um noch nicht absehbar. Die Besatzungsmächte haben die den Irakkrieg seien beigelegt und man wolle nun ge- Herausforderungen im Nachkriegsirak unterschätzt. Sie meinsam nach vorne schauen. Wenn Sie richtig hin- müssen nun erkennen, dass es viel schwieriger ist, den schauen, wo die USA vorn wähnen, dann werden Sie er- Frieden zu gewinnen, als im Krieg zu siegen. Aber hier- kennen: Es ist ganz weit hinten und auf keinen Fall da, für Gleichgültigkeit oder gar Schadenfreude zu empfin- wo Willy Brandt, auf den sich der Bundeskanzler in sei- den wäre wirklich dumm. Wie schon angesprochen, sind ner Rede vor der UNO ja ausdrücklich berufen hat, die der Irak und die gesamte mittelöstliche Region auch Zukunft sah. für uns Deutsche von strategischer Bedeutung in ökono- mischer Hinsicht, aber vor allem in sicherheitspoliti- Der Irakkrieg war dafür nur ein schlimmes Beispiel. scher Hinsicht. Deswegen haben wir ein herausragendes Deshalb verbietet sich alles, was diese Aggression im Interesse daran, dass sich der Irak zu einem stabilen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5319

Dr. Christian Ruck (A) Staat mit rechtsstaatlichen, pluralistischen Strukturen nem Irak, von dem Sie, Frau Wieczorek-Zeul, selber sa- (C) entwickelt, von dem keine Bedrohung mehr ausgeht. gen, dass die Sicherheit bisher in keiner Weise gewähr- leistet ist? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ich glaube, wir sollten in unserer Politik nicht fragen: Wer weiß es besser? Wer hat Recht behalten? Wir sollten Aber je mehr Zeit verrinnt ohne eine nachhaltige Sta- eine Politik machen, die pragmatisch das Ziel der Stabi- bilisierung, desto schlimmer wird die dortige Situation lisierung und des nachhaltigen Friedens im Irak im Auge und desto größer wird auch das Risiko für uns. Wir ha- behält und eine Antwort auf die Frage gibt, was den ben bereits viel Zeit verloren. Frau Ministerin Menschen im Irak langfristig wirklich hilft. Wieczorek-Zeul, hier haben wir definitiv große Mei- nungsunterschiede, auch was Ihre Politik anbelangt. Nach dem Auftritt des Bundeskanzlers in New York stellt sich uns die Gretchenfrage: In welchem Umfang (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl, die leisten wir tatsächlich einen Beitrag? Die Geberkonfe- muss man herausarbeiten! Das muss gesagt renz in Madrid steht an und es gibt erhebliche Wider- werden!) sprüche. Vor der UNO sagt der Kanzler vollmundig: Wir Sie haben vor Monaten noch stolz gesagt: Wer bombt, leisten humanitäre, technische und ökonomische Hilfe muss auch zahlen. – Diese Position vertreten Sie im und Polizeiausbildung. – Das klang heute ganz anders. Grunde genommen bis heute. Diese Meinung war und ist Der heutige O-Ton lautete: Wir führen die humanitäre für uns verantwortungslos und kurzsichtig. Hilfe weiter – was gut ist –, wir werden prüfen, ob wir zusätzlich noch Entwicklungsprojekte ausführen, und (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!) gegebenenfalls kann man auch über Polizeiausbildung Sie ist verantwortungslos, weil sie die Menschen im reden. Irak, die an den Kriegsfolgen leiden, die aber auch fast (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist er halt!) 20 Jahren lang unter dem menschenverachtenden Re- gime von Saddam Hussein genug gelitten haben, im Das ist etwas ganz anderes. Natürlich können wir nicht Stich lässt. zulassen, dass man vor der UNO große Reden hält (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uta (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Schröder bleibt Zapf [SPD]: Welche Logik!) Schröder!) Es ist kurzsichtig, weil es unsere eigenen Interessen ig- und danach hier als Papiertiger landet. noriert. Denn wer sich nicht einbringt, hat keinen Ein- (Beifall bei der CDU/CSU) (B) fluss und kann die Interessen seines Landes nicht vertre- (D) ten. Das gilt auch für die Stabilisierung des Irak und des Wir sind dafür, dass der Kanzler zu dem steht, was er in Mittleren Ostens. Deswegen wäre eine politische Kehrt- der UNO gesagt hat, und wir würden es außerordentlich wende wichtig, die halb angekündigt ist, bisher aber nur begrüßen, wenn er diese Linie dann auch der Entwick- in Sonntagsreden. lungshilfeministerin verordnete. (Uta Zapf [SPD]: Also wollen Sie Soldaten Bisher gibt es im BMZ – das sage ich noch einmal – schicken! – Gernot Erler [SPD]: Sagen Sie nicht nur kein Geld für die Entwicklungszusammenar- doch mal, was Sie wollen!) beit im Irak, sondern auch keine Konzeption Die Wahrheit ist doch, dass bisher im Haushalt des BMZ (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich!) über die humanitären Zwecken dienenden Geldmittel hi- naus kein einziger müder Euro für die eigentliche Ent- und keine Vorausplanung. Eines ist sicher: Mit leeren wicklungszusammenarbeit, für den Aufbau des Landes Taschen und ohne Konzeption brauchen wir uns auf der eingestellt ist. Geberkonferenz in Madrid nicht blicken zu lassen, wenn wir wirklich Einfluss nehmen wollen. Ihr Argument, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass die Weltbank eine Mission ausschickt, ist eine Aus- neten der FDP) rede. In anderen Fällen hat dies das BMZ zu Recht nicht davon abgehalten, eine Vorausplanung mit Schwerpunk- Das ist die Wahrheit und deshalb haben wir bisher auf ten auszuarbeiten. die entscheidende Frage, wie der Irak wirklich wieder- aufgebaut wird, keinen Einfluss. Deutschland hat genug Expertise und Erfahrung in vielen Bereichen, die für den Irak wichtig sind. Natürlich sind auch wir der Meinung, dass die Stabili- tätsbemühungen für den Irak im richtigen internationa- (Gernot Erler [SPD]: Zum Beispiel Polizeiaus- len Rahmen erfolgen sollten, bildung!) (Gernot Erler [SPD]: Den gibt es aber noch – Das ist doch Unsinn. Wir haben das, was wir uns vor- nicht!) stellen, in einem Antrag, den Sie hoffentlich gelesen ha- ben, zusammengefasst. möglichst unter Koordination der UNO. Aber in der Tat stellt sich doch die Frage, wie schnell und wie stark der (Gernot Erler [SPD]: Da reden Sie von der Einsatz der Vereinten Nationen nun wirklich erfolgen Aufhebung der Sanktionen! Der ist ja völlig kann. Wie groß ist die Leistungsfähigkeit der UNO in ei- verhalten!) 5320 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dr. Christian Ruck (A) Es geht uns um die Beteiligung am Aufbau der mate- die gesamte Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspoli- (C) riellen Infrastruktur, tik symptomatisch. Die politischen Schwerpunkte wer- den verwässert oder falsch gesetzt. Statt überlegter Stra- (Uta Zapf [SPD]: Sie sollten sich einmal ein tegie herrschen Zufall und Reparaturversuche. Statt eng bisschen schlau machen!) verzahnter Zusammenarbeit der Ressorts regieren Zwie- aber vor allem darum, uns bei den Weichenstellungen tracht und Doppelarbeit. beim Aufbau des irakischen Staats- und Gemeinde- wesens einzubringen, nämlich bei der Administration, (Gernot Erler [SPD]: Das sieht der amerikani- bei der Justiz und natürlich auch bei der Polizei. Auch sche Präsident ganz anders! Er dankt uns! Sie beim Aufbau eines funktionierenden Wirtschafts- und sind antiamerikanisch, Herr Kollege!) Finanzsystems und bei der Stärkung der irakischen Zi- Dies ist leider auch in Afghanistan der Fall. Ich verweise vilgesellschaft könnten wir einen Beitrag leisten. Daraus auf die gestrige Sitzung des Entwicklungsausschusses, könnte man schon jetzt ein vernünftiges Konzept stri- in der keine einzige unserer Fragen auch nur annähernd cken, mit dem man auf der Geberkonferenz Einfluss ordentlich beantwortet wurde. nehmen könnte. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist un- (Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald glaublich!) [CDU/CSU]: Das ist der richtige Weg! – Gernot Erler [SPD]: Mach mal einen Finanzie- Eine solche Politik der auswärtigen Beziehungen rungsvorschlag!) schadet unseren Interessen und unserem Ruf. Die Re- naissance des Irak wäre eine neue Chance zu einer quali- Auf der Geberkonferenz muss auch von Deutschland tativen Verbesserung. Ich kann nur sagen: Nutzen Sie ein Beitrag geleistet werden, mit dem politische Wei- diese Chance! chenstellungen vorgenommen werden können. Sie haben gerade einen Finanzierungsvorschlag angemahnt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Uta Zapf [SPD]: Das war eine (Gernot Erler [SPD]: Mach mal einen!) ganz schlechte Rede!) Der Kanzler hat jüngst erklärt: Armutsbekämpfung ist ein Teil der Sicherheitspolitik. Warum hat er dann nicht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mehr Einfluss genommen und ein Scheitern von Cancun verhindert? Ich schließe die Aussprache. (Karin Kortmann [SPD]: Warum haben Sie un- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (B) serem Antrag nicht zugestimmt, in dem es um Drucksache 15/1011 an die in der Tagesordnung aufge- (D) WTO und Cancun ging? – Uta Zapf [SPD]: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Völlig daneben!) verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- sungen so beschlossen. Warum lässt er zu, dass der Entwicklungshaushalt im Verhältnis zum Gesamthaushalt ein Rekordtief erreicht Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 o sowie hat? Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: (Gernot Erler [SPD]: Das hatten wir schon!) 24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde- All das ist Nebelkerzenwerferei und hat mit der Realität rung der Steuerehrlichkeit nichts zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Drucksache 15/1521 – Überweisungsvorschlag: Sie fragen: Woher soll das Geld kommen? Ich sage es Finanzausschuss (f) Ihnen. Die Haushaltslage ist in der Tat desaströs. Deswe- Rechtsausschuss gen ist es überfällig, dass auch in der Entwicklungspolitik Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO eine durchdachte und strategische Schwerpunktsetzung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- erfolgt. Aber solange sich die rot-grüne Entwicklungspo- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem In- litik in unzähligen Empfängerländern inklusive Kuba ternationalen Übereinkommen der Vereinten (Gernot Erler [SPD]: Das musste ja noch kom- Nationen vom 9. Dezember 1999 zur Bekämp- men!) fung der Finanzierung des Terrorismus und in zahllosen internationalen Töpfen verzettelt, haben – Drucksache 15/1507 – wir natürlich keine Kraft, kein Personal und kein Geld Überweisungsvorschlag: mehr, um auf strategisch wichtige Herausforderungen Rechtsausschuss (f) schnell zu reagieren. Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss (Gernot Erler [SPD]: Bitte etwas mehr Leiden- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe schaft, Herr Kollege!) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung Dies schmerzt besonders dort, wo – wie im Irak – eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein- auch deutsche Interessen berührt sind. Dies ist leider für führung einer Übergangsregelung zum Kind- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5321

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) schaftsrechtsreformgesetz für nicht miteinan- Rechtsausschuss (C) der verheiratete Eltern Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO – Drucksache 15/1552 – i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Ab- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) gabenordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 15/904 – d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Finanzausschuss (f) Vertrag vom 29. April 2003 zwischen der Bun- Rechtsausschuss desrepublik Deutschland und dem Königreich Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit der Niederlande über die Durchführung der Flug- Ausschuss für Kultur und Medien verkehrskontrolle durch die Bundesrepublik j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Deutschland über niederländischem Hoheitsge- Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des biet und die Auswirkungen des zivilen Betriebes Sozialgesetzbuches des Flughafens Niederrhein auf das Hoheitsge- – Achtes Buch – (SGB VIII) biet des Königreichs der Niederlande (Gesetz zu dem deutsch-niederländischen Vertrag vom – Drucksache 15/1406 – 29. April 2003 über den Flughafen Nieder- Überweisungsvorschlag: rhein) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss – Drucksache 15/1522 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Überweisungsvorschlag: k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Entwurfs eines Gesetzes zur effektiveren Nut- e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- zung von Dateien im Bereich der Staatsanwalt- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- schaften kommen vom 18. September 2002 zwischen – Drucksache 15/1492 – der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- land, den Vereinten Nationen und dem Sekre- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) tariat des Übereinkommens zur Erhaltung der Innenausschuss wandernden wild lebenden Tierarten über den Sitz des Sekretariats des Übereinkommens l) Beratung des Antrags der Abgeordneten (B) Johannes Kahrs, Eckhardt Barthel (Berlin), (D) – Drucksache 15/1473 – Wilhelm Schmidt (Salzgitter), weiterer Abgeord- Überweisungsvorschlag: neter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ordneten Volker Beck (Köln), Claudia Roth f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten (Augsburg), Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung reha- und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE bilitierungsrechtlicher Vorschriften GRÜNEN – Drucksache 15/1467 – Denkmal für die im Nationalsozialismus ver- Überweisungsvorschlag: folgten Homosexuellen Rechtsausschuss (f) Innenausschuss – Drucksache 15/1320 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Kultur und Medien (f) Innenausschuss g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Finanzausschuss Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung luft- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verkehrsrechtlicher Vorschriften Haushaltsausschuss – Drucksache 15/1469 – m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Überweisungsvorschlag: Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Norbert Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Königshofen, weiterer Abgeordneter und der Rechtsausschuss Fraktion der CDU/CSU Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus Wirtschaftliche und organisatorische Struktu- h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ren der Deutschen Flugsicherung dauerhaft eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Mo- verbessern dernisierung des Investmentwesens und zur Be- – Drucksache 15/1322 – steuerung von Investmentvermögen (Invest- Überweisungsvorschlag: mentmodernisierungsgesetz) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/1553 – Verteidigungsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Finanzausschuss (f) Haushaltsausschuss 5322 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Interfraktionell ist vereinbart, den Tagesordnungs- (C) Fischer (Hamburg), Klaus Brähmig, Ernst punkt 25 k, Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ses zur Sammelübersicht 58 zu Petitionen, von der der CDU/CSU Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie damit einverstan- den? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Sicherheit im Busverkehr Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 b bis 25 j und – Drucksache 15/1528 – 25 l auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Überweisungsvorschlag: Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Innenausschuss Tagesordnungspunkt 25 b: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- o) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE zur Reform des Zulassungs- und Prüfungs- GRÜNEN und der FDP verfahrens des Wirtschaftsprüfungsexamens (Wirtschaftsprüfungsexamens-Reformgesetz – Deutsch als Arbeitssprache auf europäischer WPRefG) Ebene festigen – Verstärkte Förderung von Deutsch als erlernbare Sprache im Ausland – Drucksache 15/1241 – – Drucksache 15/1574 – (Erste Beratung 56. Sitzung) Überweisungsvorschlag: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Ausschuss für Kultur und Medien (f) ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 15/1585 – Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Berichterstattung: ZP 2a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Abgeordnete Christian Lange (Backnang) Paziorek, Ulrich Petzold, Dirk Fischer (Ham- Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1585, der CDU/CSU den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- Vorsorgender Hochwasserschutz im Binnen- men. (B) land Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der (D) – Drucksache 15/1561 – Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen Innenausschuss der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen die Finanzausschuss Stimmen der FDP angenommen. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Dritte Beratung Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuss für Tourismus Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Haushaltsausschuss Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- ist mit der gleichen Mehrheit angenommen. Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Tagesordnungspunkt 25 c: Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Gleiche Nachweispflichten für Apotheken und eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom Tierärzte bei der Abgabe von Tierarzneimit- 9. September 1996 über die Sammlung, Ab- teln gabe und Annahme von Abfällen in der Rhein- – Drucksache 15/1568 – und Binnenschifffahrt Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/1056 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Erste Beratung 53. Sitzung) Landwirtschaft Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ten Verfahren ohne Debatte. (14. Ausschuss) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an – Drucksache 15/1580 – die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Berichterstattung: Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Abgeordnete Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5323

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (C) empfiehlt auf Drucksache 15/1580, den Gesetzentwurf empfiehlt auf Drucksache 15/1577, den Gesetzentwurf anzunehmen. anzunehmen. Dritte Beratung Zweite Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 d: Tagesordnungspunkt 25 f: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des gierung eingebrachten Entwurfs eines Ausfüh- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs rungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Juni 9. September 1996 über die Sammlung, Ab- 2000 über ein Europäisches Fahrzeug- und gabe und Annahme von Abfällen in der Rhein- Führerscheininformationssystem (EUCARIS) und Binnenschifffahrt – Drucksache 15/1058 – – Drucksache 15/1061 – (Erste Beratung 48. Sitzung) (Erste Beratung 53. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) (14. Ausschuss) – Drucksache 15/1578 – – Drucksache 15/1581 – Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordneter Gero Storjohann Abgeordnete Renate Blank Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/1578, den Gesetzentwurf Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen anzunehmen. empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 15/1581, den Gesetzentwurf anzunehmen. Zweite Beratung (B) (D) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzent- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. wurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Dritte Beratung Tagesordnungspunkt 25 g: und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom ist einstimmig angenommen. 24. Juni 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Thailand Tagesordnungspunkt 25 e: über die Förderung und den gegenseitigen Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Schutz von Kapitalanlagen von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs – Drucksache 15/1054 – eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. Fe- bruar 2002 über die Änderung des Grenzver- (Erste Beratung 53. Sitzung) trages vom 8. April 1960 zwischen der Bundes- – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des republik Deutschland und dem Königreich der von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Niederlande wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen – Drucksache 15/1053 – vom 17. August 2002 zwischen der Bundes- republik Deutschland und der Islamischen (Erste Beratung 53. Sitzung) Republik Iran über die gegenseitige Förde- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- rung und den gegenseitigen Schutz von Ka- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen pitalanlagen (14. Ausschuss) – Drucksache 15/1055 – – Drucksache 15/1577 – (Erste Beratung 53. Sitzung) Berichterstattung: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Abgeordneter Gerhard Wächter von der Bundesregierung eingebrachten 5324 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (C) vom 30. März 1998 zwischen der Bundesre- ausschusses (2. Ausschuss) publik Deutschland und Brunei Darussalam Sammelübersicht 55 zu Petitionen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen – Drucksache 15/1533 – – Drucksache 15/1057 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Die Sammelübersicht 55 ist einstimmig an- (Erste Beratung 53. Sitzung) genommen. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Tagesordnungspunkt 25 i: ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 15/1366 – ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 56 zu Petitionen Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz – Drucksache 15/1534 – Zweite Beratung Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Die Sammelübersicht 56 ist ebenfalls ein- und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie- stimmig angenommen. rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom Tagesordnungspunkt 25 j: 24. Juni 2002 mit dem Königreich Thailand über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalan- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- lagen, Drucksache 15/1054. Der Ausschuss für ausschusses (2. Ausschuss) Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- Sammelübersicht 57 zu Petitionen schlussempfehlung auf Drucksache 15/1366, den Ge- setzentwurf anzunehmen. – Drucksache 15/1535 – Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu er- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- heben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- hält sich? – Niemand. Die Sammelübersicht 57 ist eben- entwurf ist einstimmig angenommen. falls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 l: Zweite Beratung (B) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (D) und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie- ausschusses (2. Ausschuss) rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 17. August 2002 zwischen der Bundesrepublik Sammelübersicht 59 zu Petitionen Deutschland und der Islamischen Republik Iran über die – Drucksache 15/1537 – gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen, Drucksache 15/1055. Der Aus- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- schuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nr. 2 hält sich? – Die Sammelübersicht 59 ist gegen die Stim- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1366, men der CDU/CSU-Fraktion angenommen. den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzent- Aktuelle Stunde wurf ist einstimmig angenommen. auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Haltung der Bundesregierung zu Rufen aus Zweite Beratung der Koalition nach personellen Konsequenzen und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie- angesichts immer neuer Finanzausfälle und rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen Verzögerungen bei der LKW-Maut vom 30. März 1998 zwischen der Bundesrepublik Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Deutschland und Brunei Darussalam über die Förderung Kollege Dirk Fischer von der CDU/CSU-Fraktion das und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen, Wort. Drucksache 15/1057. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 15/1366, den Gesetzentwurf anzu- Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): nehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich Herr Präsident! Meine geehrten Kolleginnen und Kol- zu erheben. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist legen! „Der Rücktritt von Manfred Stolpe hat mich nicht nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- überrascht“ – so Bundeskanzler Schröder am 22. Juni nommen. 2002 nach Stolpes Amtsaufgabe als brandenburgischer Ministerpräsident. Heute wäre kein Mensch in Deutsch- Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des land überrascht, würde Stolpe als Verkehrsminister zu- Petitionsausschusses. rücktreten. Tagesordnungspunkt 25 h: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5325

Dirk Fischer (Hamburg) (A) Es ist zwar auch sinnvoll, wenn der SPD-Kollege Die vorläufige Betriebserlaubnis wird erteilt, wenn (C) Dr. Danckert die zuständigen Staatssekretäre Frau die technische Funktionsfähigkeit gegeben ist. Diese Mertens und Herrn Nagel auffordert, persönliche Konse- steht immer noch aus. Im Gegenteil: Nach der „Deut- quenzen aus dem Mautdesaster zu ziehen, aber hauptver- schen Verkehrs-Zeitung“ stellt das Bundesamt für Güter- antwortlich für die Probleme mit der LKW-Maut ist Ver- verkehr in einem Schreiben an das Ministerium fest, kehrsminister Stolpe. Er hat das dilettantische Gemurkse dass „ein Wirkbetrieb zum 2. November nicht mehr rea- seines Vorgängers Bodewig noch gesteigert. lisiert werden kann“. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das hat folgende Konsequenzen: Jeder Monat Maut- neten der FDP) verzug kostet 156 Millionen Euro. Das ist die Zahl, die Sie aktuell angegeben haben. Im Ausschuss hatten Sie Rot-Grün hat auf allen Ebenen versagt: uns noch die Zahl von 163 Millionen Euro genannt. „Eklatante Benachteiligung“ von Bewerbern bei der Hinzu kommen Rückforderungsansprüche des Trans- Vergabe des Auftrages zum Aufbau des elektronischen portgewerbes aus der Eurovignette in Höhe von 65 Mil- Mautsystems – so wörtlich das OLG Düsseldorf Anfang lionen Euro für 2003 und zusätzliche Ausgaben für das 2002. Das Gericht hat den Bund gezwungen, alles noch Bundesamt für Güterverkehr in Höhe von fast 45 Millio- einmal von vorn zu beginnen. nen Euro, ohne dass Mauteinnahmen kassiert werden können. Eine Verschiebung zumindest auf Januar 2004 Die Einigung zwischen Toll Collect und dem Wettbe- – dieser Termin erscheint realistisch – würde die Aus- werber Ages kam zu spät, mit der Folge eines zusätzli- fälle somit auf 733,7 Millionen Euro summieren. chen Entwicklungsaufwandes bei der Abrechnungssoft- Die Kündigung des Vignettenabkommens zum ware. 31. August 2003 führt im Übrigen dazu, dass deutsche Dann der Freitag vor der Bundestagswahl: hektische und ausländische LKW zurzeit gratis auf deutschen Stra- Vertragsunterzeichnung aus Angst vor einem Regie- ßen fahren können. Wichtige Verkehrsprojekte sind da- rungswechsel, verbunden mit einem hohen Zeitdruck für durch gefährdet, dass zusätzliche Mittel aus der Maut die Industrie, den Mautbetrieb schon zum 31. August nicht in baureife Projekte fließen können. Der Schaden 2003 statt zum Januar 2004 zu ermöglichen; stattdessen zulasten der für Infrastrukturmaßnahmen eingeplanten offenbar großzügige Freistellung von Haftung und Ver- Haushaltsansätze soll in den Haushalten ab 2004 begra- tragsstrafen für die ersten drei Monate nach diesem Ein- digt werden. führungstermin. Durch die Exklusivbeauftragung von Rot-Grün hat eine sinnvolle Einführung der LKW- Firmen kam es zu Engpässen beim Einbau der On Board Maut verpfuscht. Es gab keine ausgereifte technisch- Units. Der Minister hat den Fehler inzwischen einge- (B) logistische Vorbereitung, keine Harmonisierungsmaß- (D) standen und korrigiert. nahmen und keine Zweckbindung der Mauteinnahmen Danach folgte der Alleingang Stolpes bei der Unter- für die Verkehrsinfrastruktur zusätzlich zu den Haus- zeichnung des Eckpunktepapiers am 30. Juli 2003: Die haltsansätzen. 2004 werden mit der eingeplanten Maut zweimonatige Einführungsphase und die beiden ersten weniger Mittel für die Verkehrsinfrastruktur zur Verfü- Monate der Betriebsphase sind vertragsstrafen- und haf- gung stehen, als es 2003 ohne die Maut der Fall war. Das tungsfrei gestellt worden. Erst Anfang 2004 soll eine ist doch ein Schuss in den Ofen! Verständigung über eine angemessene jährliche Haf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tungshöchstgrenze erfolgen. Wenn Stolpe erklärt – was neten der FDP) durchaus versucht worden ist –, nur die Industrie habe versagt, stellt sich die Frage, warum er sie dann mit einer Herr Dr. Stolpe, Sie haben kein hinreichendes Ver- weiteren Haftungsfreistellung belohnt, statt endlich die tragscontrolling betrieben. Sie haben erst viel zu spät Zügel fester anzuziehen. ernsthaft mit der Verkehrskommissarin verhandelt. Es war unverantwortlich, den ab 16. Juni geplanten Probe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) betrieb abzusagen. Er hätte die Mängel viel früher offen- Das ist doch völlig widersprüchlich, Herr Minister. bart. Ende August 2003 erfolgte die Trennung der Maut- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: einführung und der von der Bundesregierung zugesagten Harmonisierung für das deutsche Transportgewerbe. Der Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss! Ausgang des Beihilfeverfahrens ist ungewiss. Bundes- kanzler Schröder äußerte sich dazu wörtlich: „Und wenn Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): sie“ – die Verkehrskommissarin – „negativ votiert, gibt es gar nichts.“ Wer sich auf Schröders Wort verlässt, ist Es war unverantwortlich, die Haftungsfreistellung in ein armer Hund. der Vereinbarung noch zu erweitern. Sie haben die LKW-Maut viel zu spät zur Chefsache erklärt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Eberhard Otto [Godern] [FDP]) Das Projekt sollte eine deutsche Erfolgsstory und das europäische Leitsystem der Mauterhebung werden. Nun Das wissen die Rentner, das wissen die Autofahrer, das ist der Standort Deutschland dem europäischen Gespött wissen die Spediteure. ausgesetzt worden. Das ist kaum zu ertragen. 5326 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dirk Fischer (Hamburg) (A) Verkehrsminister Stolpe hat auf ganzer Linie versagt. bei Public Private Partnership wie diejenigen, die wir (C) Sein Rücktritt ist unausweichlich. unlängst gemacht haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir haben am 23. Mai dieses Jahres mit großer Mehr- heit sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Entscheidung über die Notwendigkeiten getroffen. Das ist die Arbeitsgrundlage, nach der ich mich richte. Ich Das Wort hat der Bundesminister Dr. Manfred Stolpe. sehe drei Operationsfelder, auf denen weiter entschlos- (Beifall bei der SPD) sen gehandelt wird. Hier ist die Harmonisierung ein wichtiger Punkt. Darauf haben Sie schon eben hingewie- Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- sen. Auch auf meiner Agenda steht sie ganz vorne. Ich kehr, Bau- und Wohnungswesen: füge hinzu, weil das gelegentlich vergessen wird – ich habe darauf auch in mehreren Gesprächen mit den Ver- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und bänden hingewiesen –: Ich stehe zu der Grundlage vom Herren! Ich muss es aushalten, als Dilettant, als Schlaf- 23. Mai; denn die Unternehmen brauchen Verlässlich- mütze, als Versager dargestellt zu werden. Das gehört keit. Ich muss den Text vom 23. Mai sicherlich nicht schließlich zum politischen Geschäft; das habe ich schon vorlesen; denn Sie alle kennen ihn. Auch Sie wissen, in mitbekommen. Aber ich wende mich entschieden gegen welcher Schrittfolge wir vorgehen müssen. Ich habe be- Ihren Vorwurf, Herr Fischer – hier möchte ich Sie direkt reits am Abend des 13. November letzten Jahres – ich ansprechen –, der bei Ihrer Rede deutlich herausklang, war damals noch ganz frisch im Geschäft – fünf Stunden dass wir ein Zukunftssystem deutscher Wissenschaft und lang mit der zuständigen EU-Kommissarin darüber gere- Technik kaputtreden. Das haben Sie eben gemacht. det und ihr die Dinge dargelegt. Das habe ich danach er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ neut im April, im August und im September dieses Jah- DIE GRÜNEN) res sowie vorgestern getan. Ich werde das auch wieder am 1. Oktober tun. Ich bin mir sicher, dass wir die Pro- Ich bitte Sie herzlich, meine Damen und Herren von bleme lösen werden. der Opposition: Lassen Sie uns bei der Grundlinie blei- ben, die schon einige Jahre alt ist. Wir haben 1997 be- Ich möchte im Übrigen darauf aufmerksam machen, gonnen, entschlossen den Weg zur Einführung einer dass Ihr eigener Beschluss ausdrücklich vorsieht, dass LKW-Maut zu gehen. Das war eine richtige Entschei- wir uns die Genehmigung für das Mautverfahren einho- dung. Wir sind diesen Weg weitergegangen. Es mussten len und dass wir bis dahin die Maut auf 12,4 Cent pro Entscheidungen darüber getroffen werden, welches Sys- Kilometer festlegen. Ich bitte Sie deshalb herzlich, nicht bei den Spediteuren den Eindruck zu erwecken, dass (B) tem man nimmt und mit wem man zusammenarbeitet. (D) Ich bin der Letzte in der Reihe, der daran arbeitet. Den noch etwas anderes kommen wird. Bitte halten Sie sich beißen bekanntlich die Hunde. Aber ich sage Ihnen ganz an den Text, den wir damals gemeinsam vereinbart ha- klar: Den Staffelstab werde ich nicht fallen lassen. Hier ben. gibt es für mich keine Alternative. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] DIE GRÜNEN) [CDU/CSU]: Das ist Kostensenkung, keine Harmonisierung!) Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir eine LKW- Maut brauchen. Die technische Idee ist international an- Die Technik ist in Arbeit. Mein Ministerium, das uns erkannt, gar keine Frage. In dem Entwurf der Richtlinie zugeordnete Bundesamt für Güterverkehr, aber auch die der Europäischen Union ist ausdrücklich vorgesehen, Partner der Industrie wollen – das ist das klare Ziel – dass eine Maut bis zum Jahr 2008 europaweit eingeführt einen zeitnahen und stabilen Systemstart. Für mich heißt werden soll. Wir stehen momentan in den Mühen der das: so schnell wie möglich, aber nur – am besten wären Ebene; das liegt auf der Hand. Aber noch heute Vormit- natürlich gar keine Fehler – mit einer möglichst geringen tag, vor wenigen Stunden also, haben wir einen intensi- Fehlerquote. Denn alles andere würde auf dem Buckel ven Gedankenaustausch auf einer Telematikkonferenz in der Unternehmen ausgetragen. Das würde ich für nicht Berlin gehabt. Dabei ist klar geworden, dass niemand, vertretbar halten. der sich intensiv mit den Fragen der Mauterhebung be- Gestern hat es zwischen dem Bundesamt für Güter- fasst, ernsthafte Zweifel daran hat, dass man das jetzige verkehr und den Unternehmern eine Verabredung gege- Mautsystem auf die Beine bringen wird. ben. Infolgedessen kann ich heute feststellen, dass das Eine Maut ist auch noch aus einem anderen strategi- im Juli von uns eingeführte verschärfte Kontrollsystem schen Grund notwendig. Da wir trotz eines relativ hohen – uns gegenüber ist vorher zugegeben worden, dass Pro- Sockels an Investitionsmitteln für die Verkehrsinfra- bleme bestehen – mittlerweile ein gutes Stück vorange- struktur erkennen können, dass die Gelder der öffentli- kommen ist und dass ab morgen eine neue Phase der Er- chen Hand nicht ausreichen werden, brauchen wir zu- probung des Mautsystems startet. Die Unternehmen sätzliche Finanzierungssysteme. Wir brauchen deshalb haben sich verpflichtet, bis zum Wochenende alle noch eine Maut genauso wie die entsprechenden Betreibersys- offenen Fragen zu klären und Funktionsüberprüfungen teme, die wir schon in Gang gesetzt haben. Wir haben vorzunehmen. Die Unternehmen werden unseren Fach- mit den Ländern bereits eine Vereinbarung über 20 Mo- leuten die Ergebnisse am 29. und am 30. September in delle getroffen. Wir brauchen außerdem weitere Schritte einem Workshop darstellen. Danach werden das BAG Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5327

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) und die Unternehmen gemeinsam festlegen, wie der Pro- fen geredet werden müssen. Wir werden natürlich auch (C) bebetrieb gestartet werden kann. über Haftungsfragen reden müssen, die bei Störungen und Systemausfällen eintreten. Der Probebetrieb ist wichtig. In der Auswertung wird noch herauszufinden sein, welche Probezeit man (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist eine Ak- braucht. Uns hat das Bundesamt noch einmal erklärt: Bei tuelle Stunde, nicht eine Märchenstunde!) Erfüllung aller Voraussetzungen ist auch ein Start am Wir haben mit den Partnern natürlich die Finanzaus- 2. November erreichbar. Ich kann nur sagen: Ich fordere fälle zu erörtern. Sie können davon ausgehen, dass der das nicht, auch auf die Gefahr hin, dass wieder eine Vertrag keine haftungsfreie Zeit vorsieht. Ich hoffe, es Welle von Beschimpfungen auf mich zukommt. Mir ist gibt bald einen Weg, dass Sie in den Vertrag hineinsehen nämlich viel wichtiger, dass dieses System verlässlich können. Die Lasten durch die Nichterfüllung werden startet, als dass wir einigermaßen stotternd in die Gänge nicht vom Bund allein getragen werden. Wir befinden kommen. Das würde keinem helfen. uns also noch sozusagen mitten auf der Baustelle; (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [CDU/CSU]: Das kann man Durch die Nichteinhaltung des Starttermins wohl sagen! Wann gibt es das Richtfest? – 31. August gibt es natürlich Vertragsverletzungen. Das Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Macht liegt auf der Hand, das weiß jeder und das bedeutet für doch mal die Grundsteinlegung!) uns auch Einnahmeausfälle: jeden Monat 156 Millionen aber der Wille zum Erfolg und zur Zusammenarbeit ist Euro. Aber bevor es nicht losgeht, gibt es auch keine vorhanden. Der Zeitpunkt der Klärung und damit auch weiteren Leistungen, weder eine Beteiligung an den Be- die Sichtung von Verantwortlichkeit sind nahe. treiberkosten noch eine Beteiligung an den Investitions- kosten, die wohl bei etwa 0,5 Milliarden Euro liegen. Natürlich wird der Minister der Allererste sein, der sich der Verantwortung zu stellen hat. Es wird zu überle- Wir konnten im Hinblick auf die Einnahmeausfälle gen sein, wo Versäumnisse und Schäden aufgetreten mit dem Bundesfinanzministerium eine Auffangrege- sind, die er mit zu verantworten hat. Auch die anderen lung vereinbaren. Sie sieht vor, dass wir bis etwa 2006 Mitarbeiter werden sich der Verantwortung stellen; nie- die Mittel zur Deckung der Einnahmeausfälle erwirt- mand duckt sich. schaften werden. Ich erkläre hier feierlich und verbind- lich: Solange noch Klärungen notwendig sind, ist die erste Aufgabe, dass wir die Maut in Gang setzen, dass wir (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es gibt nichts dort unserer Verpflichtung nachkommen und uns auch (B) zu feiern!) (D) nicht irremachen lassen. Wir können uns hinterher alles Damit ist ganz sicher, dass es keine Verzögerungen von sehr genau ansehen. Infrastrukturinvestitionen durch fehlende Mauteinnah- (Zuruf von der CDU/CSU: Und tschüss!) men geben wird. Das werden wir durchsetzen können, allein schon deshalb, weil wir diese Infrastrukturmaß- Aber jetzt gilt meine Bitte: Reden Sie das System nicht nahmen brauchen. schlecht! Wir brauchen es in Deutschland. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir stehen jetzt vor der Vertragsanpassung. Sie ist zwingend. Wir befinden uns aufgrund der vereinbarten Vertraulichkeit noch – ich hoffe, nicht mehr lange – ein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bisschen in Verlegenheit; es wird ständig über all die Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Friedrich von Fehler im Vertrag und über die nicht genutzten Möglich- der FDP-Fraktion. keiten gesprochen. Ich bin an einer Offenlegung sehr in- teressiert, sodass ein faires Urteil darüber getroffen wer- Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): den kann, wie der erste große Vertrag über Public Private Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle- Partnership in Deutschland gestaltet worden ist. Dieser gen! Sehr verehrter Herr Minister, das war ja nun Man- Vertrag ist kein Staatsvertrag; dahinter steht vielmehr freds Märchenstunde auf hohem Niveau. das Bemühen, private Partner – auch als Betreiber – in ein gesellschaftlich wichtiges Vorhaben einzubeziehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir werden eine neue Grundlage finden müssen. Sie Allerdings frage ich mich, ob ich mehr erschrocken sein haben dankenswerterweise auf die Eckpunkte hingewie- muss über die Blauäugigkeit, mit der Sie, Herr Minister, sen. Das ist eine erste Disposition, die aufzeigt, was immer noch glauben, dass der 2. November auch nur den noch geklärt werden muss. Zur Vertragsanpassung Hauch einer Realisierungschance hat, oder über die kommt also noch einiges hinzu: Die Termine müssen be- Dreistigkeit, mit der Sie hier Tatsachen verdrehen und sprochen werden und die Zahl der OBUs muss noch an- vor allem versuchen, uns als Opposition vorzuwerfen, gepasst werden. Wir haben ursprünglich 150 000 vorge- wir würden die arme deutsche Industrie, die ausgewiese- sehen; inzwischen sind mindestens 450 000 geplant. nen Mittelständler Daimler-Chrysler und Telekom, Herr Fischer, auch Sie haben schon erwähnt: Aufgrund schlecht reden. Das ist doch gar nicht der Punkt, Herr des veränderten Starttermins wird über die Vertragsstra- Minister! 5328 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Sie haben als Vertragspartner ein Controllingsystem sondern Sie stellen sich heute hier hin und sagen: Wir (C) aufzubauen, das Schwächen aufzeigt. Sie haben die Ver- sind weiter in einem Workshop und werden das Ganze pflichtung gegenüber dem Deutschen Bundestag, aufzu- betreuen. – Diese Diktion kenne ich schon aus der Ant- zeigen, wo Haushaltsrisiken bestehen. wort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion zu die- sem Thema, in der Sie formuliert haben: (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat er ja gestern im Die Bundesregierung hat sich mit der Betreiberge- Haushaltsausschuss gemacht!) sellschaft TC darauf verständigt, dass das Mautsys- tem am 31. August 2003 mit einer Einführungs- Offensichtlich werden Sie in beiden Fällen Ihrer Verant- phase starten und zum 2. November 2003 mit der wortung in keiner Weise gerecht. Mauterhebung begonnen werden soll. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Jetzt kommt es: Im Vertrag steht, dass am 16. Juni ein Probebetrieb beginnen soll. Der konnte gar nicht beginnen, weil die Die Betreibergesellschaft TC hat zugesichert, dass technischen Voraussetzungen überhaupt nicht vorhanden die dazu erforderlichen technischen Voraussetzun- waren. Weder gab es funktionierende OBUs, also On gen geschaffen werden. Board Units, wie es Neudeutsch so schön heißt, noch Das ist die offizielle Antwort der Bundesregierung auf gab es alternativ entsprechende Terminals an den Auto- unsere Kleine Anfrage. bahnen, noch gab es eine irgendwie geartete und geeig- nete Software, die man nachprüfbar hätte installieren (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Jeden können. Wir haben jetzt immer noch – Stand: gestern – Tag was anderes!) Geräte, die neben der Autobahn Gebührenpflicht anzei- Nun frage ich Sie: Wie bewerten Sie denn das, was gen, aber auf der Autobahn anzeigen, dass Mautfreiheit das Konsortium Ihnen an technischen Zusagen bisher besteht. Das Gegenteil sollte eigentlich der Fall sein. gegeben hat? Ist das das, was Sie uns da geschrieben ha- Ich habe das in dieser Woche extra noch einmal ei- ben, oder ist das, was tatsächlich Realität ist, das Gegen- genhändig getestet. teil von dem, was Sie uns deutlich zu machen versu- chen? (Zurufe von der SPD: Oh!) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) Nach 15 Minuten haben sowohl das Terminal als auch ich entnervt aufgegeben, obwohl ich die Sprachen be- Ich sage noch einmal: Das hat nichts damit zu tun, herrsche, die vorgegeben sind, dass irgendjemand die Maut schlechtreden will. In die- (B) sem Punkt sind wir uns einig: Das System muss funktio- (D) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist nieren. Nein, die Maut – dieser Meinung sind auch wir – schon mal zu bezweifeln!) muss kommen. Nur: Im Unterschied zu Ihnen sehen und auch in der Lage bin, mit dem Gerät einigermaßen wird den Start der Maut – so haben wir es politisch im- umzugehen. Ich frage mich nur, was passiert, wenn je- mer gesehen – als einen echten Einstieg in den Umstieg mand das anwenden soll, der nicht eine der vier Spra- der Finanzierungssysteme. Sie wollen politisch aber et- chen spricht. was ganz anderes. Sie wollen den Straßenverkehr teurer machen, damit der Verkehrsträger Schiene – angeblich – (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Und die du Chancen hat, beherrscht, wie du eben gesagt hast!) (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Guck dir – Deutsch ist eine der vier Sprachen, Herr Kollege Weis; doch unser Mautgesetz an und das was drin- darauf können wir uns hier im Deutschen Bundestag steht! Das ist doch Blödsinn!) vielleicht einigen. die er durch dieses System aber nie erreichen wird. Das Es ist also so, dass schon bei der Installation der ist der eigentliche gravierende politische Unterschied. Hardware, also der technischen Ausstattung, Probleme bestehen. Wenn das zutrifft, was zu lesen ist, dann hat (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das Konsortium – nicht der Deutsche Bundestag, nicht der CDU/CSU) seine Abgeordneten – gestern wieder eine große Rück- rufaktion für diese Geräte gestartet; mehr als 20 000 sind Blauäugig, wie Sie nun einmal sind, erklären Sie – heute zurückgerufen worden. wieder –, dass der Maut-Einnahmeausfall, der sich in diesem Jahr sicherlich auf schätzungsweise 700 Millio- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ nen Euro summieren wird, im nächsten und übernächs- DIE GRÜNEN]: Nicht der Minister!) ten Jahr ohne Probleme in Ihrem Haushalt ausgeglichen werden kann, ohne dass Projekte gestrichen werden – Ich habe ja gar nicht vom Minister gesprochen. müssen oder sonst etwas verändert werden muss. Dazu (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ kann man als Gesetzgeber, vor allem als Haushaltsge- DIE GRÜNEN]: Sie haben eben wieder ge- setzgeber, nur sagen: Bei den Haushaltszahlen, bei den sagt, das Konsortium sei so lieb und nett!) Ansätzen des Jahres 2004 ist das, Herr Minister, eigent- lich die größte Frechheit. – Das Konsortium hat die Geräte zurückgerufen. Das führt Sie aber nicht dazu, noch einmal nachzufragen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5329

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Demjenigen, der sich dann hinstellt und sagt, wir sollten Weltklang zu tun haben: Daimler-Chrysler, Telekom; in- (C) doch alle zusammenstehen und nicht so kritisch sein, zwischen sind auch Grundig und Siemens mit im Boot. kann ich nur sagen: Er ist entweder blauäugig oder lebt (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Das ist Ihre völlig losgelöst von der Realität. Konzerngläubigkeit!) Wir behalten uns vor diesem Hintergrund nach wie vor Für mich ist das eigentliche Problem – das sage ich allen die Möglichkeit vor, am Ende des Tages, wie Sie immer so Ernstes –, dass das Konsortium – und nicht diejenigen, schön sagen, vielleicht auch einmal über einen Parlamen- die es schlechtreden – selbst dabei ist, aus einem Begriff tarischen Untersuchungsausschuss nachzudenken. mit einem guten Klang, nämlich „Made in Germany“, (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ ein „Fake in Germany“ zu machen DIE GRÜNEN]: Wüste Drohung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Das, was hier geboten wird, kann nicht das letzte Wort des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]) sein. Sie als Verkehrsminister sind hierfür politisch ver- und damit das Image der deutschen Industrie massiv zu antwortlich. Da macht es auch keinen Sinn, wenn der beschädigen und Exportchancen für die Zukunft zu ver- Kollege Danckert die Kollegin Mertens und den Herrn spielen. Nagel zum Rücktritt auffordert. Das ist ja bloß ein Ab- lenkungsmanöver. Sie sind derjenige, der die Verantwor- Ich kritisiere auch, dass die Firma Toll Collect bis tung trägt. Sie werden an dieser auch gemessen. heute keine für mich erkennbare und akzeptable Kom- munikationsstrategie hat. Sie versteckt sich selbst. Mir Danke sehr. kommt die Firma Toll Collect im Moment wie eine (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) große Blackbox vor, so, als wäre sie selbst eine große, nicht funktionierende On Board Unit. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt. Deshalb verstehe ich jeden, der hier Kritik daran übt, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ali, nimm was nicht funktioniert, und Verbesserungen fordert, und die Staustufenplakate mit! – Zuruf von der zwar von denen, die Fristen zugesagt haben, sich ver- SPD: Albert, mach ihn fertig! – Eduard traglich verpflichtet und jetzt auch die Leistung zu er- Oswald [CDU/CSU]: Die erste Minute ist bringen haben. schon vorbei!) Ich verstehe aber nicht, liebe Kolleginnen und Kolle- gen von der Opposition, dass man ausgerechnet den Mi- (B) (D) Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE nister, der den Widerstand der EU-Kommissarin in Brüs- GRÜNEN): sel ausgeräumt hat, der durch intensives Controlling die Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, Zügel in die Hand genommen und durch Arbeitsgruppen dass ich schon so viele Zwischenrufe von allen Seiten auf allen Ebenen fester gezogen hat, der sich die Dinge kri- des Hauses bekommen habe, obwohl ich noch gar kei- tischer anschaut und prüft, ohne sie sofort schlechtzure- nen Satz gesagt habe. Das ehrt mich. Danke schön. den, jetzt zum Hauptschuldigen der ganzen Misere erklärt. Was in diesen Tagen auf den Bildschirmen zur Ein- (Zuruf von der CDU/CSU: Er ist der Verant- führung des Mautsystems zu sehen ist, erinnert mich – das wortliche!) muss ich ehrlich sagen – manchmal an die Sendung Sie tun doch so, als hätte der Minister von vornherein „Versteckte Kamera“. mit der Grundeinstellung an das Geschäft herangehen (Heiterkeit bei der CDU/CSU) müssen: Diese Firmen haben zwar einen Vertrag unter- schrieben; aber ich weiß schon heute, sie können ihn Da wurde behauptet, es gebe Mautterminals an Stellen, nicht erfüllen. Eine solche Haltung, liebe Kolleginnen wo gar keine waren. Da wurden On Board Units gelie- und Kollegen, zeugt von einer Selbstgerechtigkeit, die fert, die beim Umdrehen des Zündschlüssels durch- zum Himmel stinkt. brannten, weil kein Spannungsregler eingebaut war. Da (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN musste erst vom Kartellamt durchgesetzt werden, dass und bei der SPD) auch freie Firmen On Board Units einbauen dürfen, nachdem es die Vertragswerkstätten nicht geschafft hat- Ich erinnere Sie daran, dass Sie alle, als Toll Collect ten. Da gibt es On Board Units, die beginnen, rückwärts im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages die- zu laufen; das heißt, sie zählen Guthaben, statt gefahrene ses System vorgeführt hat, mit glänzenden Äuglein da- Strecken abzurechnen. Da werden jetzt, wie Sie alle ge- gestanden und geglaubt haben, dass alles wie geschmiert lesen haben und auch schon angesprochen wurde, laufe. Da hat kein Einziger von Ihnen gesagt, das werde 20 000 On Board Units zurückgerufen, weil die Soft- nicht funktionieren. Im Gegenteil! ware defekt ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, es fällt mir manchmal und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ schwer, daran zu glauben bzw. mich daran zu erinnern, CSU – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: dass wir es hier nicht mit Seifenblasenfirmen des Neuen Die Bundesregierung hat erklärt, es funktio- Marktes, sondern mit Marktführern mit Namen von niere alles!) 5330 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) – Herr Fischer, Sie sind doch die Technologiegläubigkeit Das wird selbstverständlich zulasten von Verkehrswege- (C) in Person. Wie oft haben Sie uns hier im Bundestag das projekten auf der Straße und der Schiene gehen. Da wer- Wunderwerk Transrapid aufschwatzen wollen! den Projekte verschoben werden müssen; das ist ganz klar. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist er auch! Der funktioniert wenigstens!) Angesichts dieses dreifachen Schadens muss die Haf- tungsfrage beantwortet und dieser Vertrag offen gelegt Ich bin froh, dass uns wenigstens dieses Experiment er- werden. spart geblieben ist. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – vollständig!) Lachen bei der CDU/CSU) Wir müssen wissen: Wie sieht es aus mit den Fristen, mit Mich stört nicht Ihre Kritik an dem, was nicht funk- dem Leistungsumfang, mit der Gewährleistung, mit den tioniert, sondern mich stört Ihre Selbstgerechtigkeit. Sol- Entgelten, mit Haftungsregeln? Mein Eindruck war in len wir jetzt über den Rücktritt von Staatssekretärinnen den letzten Tagen nicht, dass der Minister mit der Offen- und Staatssekretären oder von Ministern diskutieren, legung ein Problem hat, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer hat (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ das denn gefordert?) DIE GRÜNEN]: Korrekt!) weil On Board Units ohne Spannungsregler geliefert sondern mein Eindruck ist, dass andere ein Problem da- worden sind, weil vertragliche Verpflichtungen offenbar mit haben. nicht erfüllt worden sind? (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer Besonders scheinheilig ist die Aussage, wenn auch denn?) der 2. November dieses Jahres von der Industrie nicht zu halten sei, dann müsse der Minister zurücktreten. Dazu Ich kann zum Schluss an die Adresse des Konsortiums muss ich Ihnen sagen: Es war niemand anders als der nur sagen: Ändern Sie Ihre Kommunikationsstrategie! Minister selbst, der in dem Gespräch am 30. Juli dieses Machen Sie Schluss mit dem Katz-und-Maut-Spiel ge- Jahres dem Konsortium anheim gestellt hat, auf einen genüber dem Deutschen Bundestag! realistischen Termin der Einführung, den sie nur selbst (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer hat beurteilen kann, auszuweichen, und sei es Anfang 2004. denn den Vertrag unterschrieben?) Es war das Konsortium, das auf dem Termin (B) 2. November insistiert hat. Daraus jetzt dem Minister ei- Jetzt müssen die Karten auf den Tisch. Nennen Sie end- (D) nen Strick drehen zu wollen ist zumindest in höchstem lich einen realistischen Starttermin, den Sie wirklich ga- Grade unfair. rantieren können! Dann, glaube ich, können wir ernst- haft und auf der Basis solider Informationen miteinander (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über Verantwortung reden. und bei der SPD) Ich danke Ihnen. Nein, wir haben hier nicht über das Schicksal zweier Staatssekretäre zu diskutieren, sondern über das reale (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Versagen deutscher Konzerne und – da beißt die Maut und bei der SPD) keinen Faden ab – deren Verantwortung bei einem Vor- zeigeprojekt der öffentlich-privaten Partnerschaft. Public Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Private Partnership funktioniert nur bei gemeinsam wahrgenommener Verantwortung und nicht bei Verant- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eduard Oswald. wortungsverschiebung allein auf den Auftraggeber. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neten der FDP) und bei der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Die politische Verantwortung hat Eduard Oswald (CDU/CSU): doch wohl der Minister!) Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Ich habe von dem Imageschaden der deutschen Indus- Kollegen! Herr Kollege Albert Schmidt, wer die Verant- trie gesprochen. Hinzu kommt eventuell ein Schaden wortung nur den Mautbetreibern zuschiebt, vergisst, durch möglicherweise verspielte Exportmärkte und da- dass es bei diesem Vertrag zwei Partner gibt. Die Bun- durch verlorene Aufträge und Arbeitsplätze von morgen. desregierung steht in der Verantwortung. Dies kann man Wenn diese vergeigt werden, ist das ein Schaden für den nicht wegreden oder in irgendeiner Weise verwischen. Standort. Auch die im Bundeshaushalt veranschlagten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mauteinnahmen in dreistelliger Millionenhöhe erweisen sich nun als illusionär. Der Kanzler hat den Journalisten auf dem Flug nach New York erzählt: „Manfred sagt: Die Maut kommt.“ (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Für Das glaube auch ich. Aber wann, das ist hier die Frage. den Murks ist doch die Bundesregierung ver- antwortlich!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5331

Eduard Oswald (A) Ich lese Ihnen einige Meldungen vor: „Die Maut Verträge unterschrieben, dann in aller Eile Ende Juli (C) kommt pünktlich.“ „Vorbereitungen laufen wie geplant.“ noch ein Eckpunktepapier. Das Ergebnis sehen wir jetzt: „Keine Engpässe bei Abrechnungsboxen.“ Solche Mel- erst „Hopp, hopp!“, dann „Flop, Flop“. dungen hätten wir uns hier in Deutschland gewünscht. Aber es sind Berichte aus unserem Nachbarland Öster- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) reich, wo zum Jahresbeginn eine Maut eingeführt wird. Vielleicht stellt sich Rot-Grün einmal die Frage, wie Bei uns klappt das nicht. Die Fachwelt hält den verzö- ein Ministerium funktioniert. Bei der rot-grünen Regie- gerten Mautstart am 2. November nicht mehr für haltbar. rungsübernahme 1998 wurden in dem neu gebildeten Herr Bundesminister, niemand von uns in der Opposi- Ministerium erst einmal sechs von sieben Abteilungslei- tion redet das System schlecht. Aber Rot-Grün hat eine tern ausgewechselt. Übrigens hat sich längst gezeigt, beträchtliche Chance für den Wirtschaftsstandort dass parteipolitische Ergebenheit Fachkenntnisse nicht Deutschland verspielt; das ist eine Tatsache. ersetzen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es wurde versäumt, Maut und Technik zum Exportschla- Sie, Herr Bundesminister Stolpe, haben auch bei der ger zu machen. Stattdessen bekommt die Fernsehsen- LKW-Maut wieder personelle Veränderungen im Hause dung „Pleiten, Pech und Pannen“ ein neues Highlight. vorgenommen. Man braucht gute Leute. Vielleicht ha- ben Sie sich – Sie sind ja ein gebildeter Mann – an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Winston Churchill erinnert, der gesagt hat: „Ein kluger Mann macht nicht alle Fehler selber. Er gibt auch ande- Wir haben Ihnen im Vermittlungsausschuss von Bund ren eine Chance.“ und Ländern die Hand gereicht. Wir haben Ja zur LKW- Maut gesagt, weil damit eine verursachergerechte Anlas- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tung der Wegekosten möglich wird. der FDP) (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Ihr habt doch Aber warum haben Sie eigentlich die Verantwortung die EU auf den Plan gerufen! Das ist eure nicht in die Hände eines Ihrer Staatssekretäre gelegt? Sie Schuld!) verfügen doch über fünf. Das ist schon der Nachfrage wert. Wir wollen aber ein störungsfreies System und keine Flickschusterei. Nur 14 Prozent aller mautpflichtigen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fahrzeuge verfügen zurzeit über funktionierende On Wir brauchen Aufklärung ohne Rücksicht auf irgend- (B) Board Units. Schon gibt es neue Meldungen über den (D) Rückruf von 20 000 defekten Mautboxen. Auch von den jemanden. Ohne eine völlige Offenlegung der Verträge Kontrollbrücken ist nur ein geringer Teil einsatzfähig. – Transparenz auf jeder Seite – wird keine Klarheit ge- schaffen. Nur wenn wirklich offen gelegt wird, ist zu be- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ weisen, dass die Regierung sich nicht hat über den Tisch DIE GRÜNEN]: Ist das unser Verschulden ziehen lassen. Es reicht nicht, zu sagen, man habe lange oder was?) telefoniert. Hat die Führung des Hauses wirklich alle Wir wollen, dass die Maut die Wettbewerbsbedingun- Möglichkeiten bei der EU genutzt oder haben Sie immer gen für das deutsche Transportgewerbe nicht noch wei- nur die Arbeitsebene vorgeschickt? ter verschlechtert. Den Mineralölsteuerrückerstattungen Sie haben heute feierlich etwas zu den Finanzen er- in einigen EU-Ländern haben Sie zugestimmt. Dann klärt. Aber wir werden das sehr genau hinterfragen. Wir müssen Sie jetzt auch für einen Ausgleich bei uns sor- brauchen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, da- gen. Deshalb wollen wir die Einhaltung der dem LKW- mit Deutschland nicht weiter im Stau steht. Sie wissen, Gewerbe gegebenen Entlastungszusagen. Auf dem euro- wie notwendig die Mittel sind. Sie müssen sich beim päischen Verkehrsmarkt dürfen unsere Unternehmen Präsidenten – – Nein, nicht beim Präsidenten. Das Licht nicht weiter zurückfallen. Ohne Harmonisierung wird es des Präsidenten leuchtet. – keine Akzeptanz beim deutschen Güterkraftverkehrsge- werbe geben. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie müssen sich beim Finanzminister durchsetzen. Wir wollen, dass die Mauteinnahmen zusätzlich der Verkehrsinfrastruktur, dem Straßenbau zugute kommen, Helfen Sie auch dem deutschen Güterkraftverkehrs- wie es verabredet war. Wir werden keinesfalls hinneh- gewerbe. Das ist entscheidend. men, dass die Mautausfälle zulasten der Verkehrsinfra- struktur gehen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Für mich ist klar: Das Controlling durch die Bundes- Sie wissen, warum das Licht leuchtet, nicht wahr? regierung hat nicht funktioniert, wenn es überhaupt eines gab. Das alles wird noch zu prüfen sein. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das Licht leuchtet in der Finsternis! – Albert Schmidt Noch kurz vor der letzten Bundestagswahl wurden [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ganz schnell – ich wiederhole dies immer wieder – die Er ist kein Techniker!) 5332 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Eduard Oswald (CDU/CSU): bracht; sie haben sich übernommen und wollen die Ver- (C) Das weiß ich. antwortung jetzt dem Minister in die Schuhe schieben. Reden Sie mit Ihren Freunden in der Industrie und sagen Daher sage ich den Schlusssatz: Machen Sie die Sie ihnen, dass sie den Mund zu voll genommen haben, LKW-Maut systemsicher anstatt bei Manfred Stolpe etwas abzuladen, wofür er (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ nichts kann! DIE GRÜNEN]: Wir bezahlen dafür, dass Fir- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men diesen Job für uns übernehmen!) DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: und EU-verträglich! Wahren Sie das Interesse des deut- Einen solchen Schmarren spricht er auch drau- schen LKW-Gewerbes! Sorgen Sie für Finanzmittel für ßen! Das Ergebnis hat man am Sonntag gese- die deutsche Verkehrsinfrastruktur! Es muss Schluss sein hen! – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: mit dem Debakel. Deutschland braucht Klarheit, wie es Stiegler steht für ein erfolgreiches Modellvor- mit der LKW-Maut weitergeht. haben der SPD in Bayern!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jedes große Projekt hat seine Krisen. Da gibt es sol- Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ che, die wie Sie reagieren: Sie laufen durcheinander wie DIE GRÜNEN]: Das stimmt! Das ist wahr!) eine wilde Horde Federvieh, schreien nach Schadener- satz und Klagen. Da gibt es andere wie Manfred Stolpe, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der danach fragt, wie man die Sache zum Erfolg führen kann. Das ist der alte Bellheim und Sie, meine Damen Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludwig Stiegler. und Herren von der Opposition, sind hier eher die Hans- (Beifall bei der SPD – Eduard Oswald [CDU/ wurste. CSU]: Jetzt kommt der Repräsentant der baye- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rischen SPD!) DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jeder ist Ludwig Stiegler (SPD): für das verantwortlich, was er sagt! Und der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha- will Landesvorsitzender werden!) ben jetzt gerade den Repräsentanten der CDU/CSU er- Es ist unglaublich, angesichts des engen Zeitplans lebt, die in Deutschland lange regiert und keine Maut wild durcheinander zu laufen. Jetzt kommt es in erster oder Ähnliches auf die Beine gebracht hat. Linie darauf an, die Freunde von der Industrie an die (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hand zu nehmen und sie zu zwingen, dass sie das Pro- (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) jekt zum Erfolg führen. Die Partnerschaft sieht so aus – das sage ich, damit das klar ist –, dass im ersten Teil Gerade die CSU hat zweimal den Verkehrsminister ge- die Industrie vorleistungspflichtig ist. Aber nun melden stellt. Warnke hat von einer Schwerverkehrsabgabe sich Leute wie ausgerechnet der Oswald zu Wort und schwadroniert. Old Schwurhand ist auf die Nase gefal- wollen unbedingt den Vertrag einsehen, um zu überprü- len; fen, ob alles in ihm okay ist. Mein lieber Mann! Wer als (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Er müsste Nichtjurist behauptet, einen 12 000-seitigen technischen Pöbler heißen, nicht Stiegler! Das passt bes- Vertrag mit allem Drum und Dran ser!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ der Europäische Gerichtshof hat das damals aufgehoben. DIE GRÜNEN]: Nein! Das stimmt nicht! – Sie haben in dieser Sache immer nur geredet und ge- Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Woher schwätzt. weiß er das denn?) (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wir – ja, mit Anlagen; daran sieht man, dass Sie keine Ah- haben die Maut 1993 eingeführt! – Eduard nung haben – nur aufgrund der Mantelvereinbarung und Oswald [CDU/CSU]: Sie wissen doch, dass ohne Kenntnis der technischen Anlagen auf seine Folgen das nicht wahr ist!) hin beurteilen zu können, Die rot-grüne Koalition hat seit 1998 gehandelt. Das ist (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Woher der entscheidende Unterschied. kennt er den denn?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der hat von technischen Verträgen null Ahnung. DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das Ergebnis sehen wir jetzt!) (Zuruf von der CDU/CSU: So wie Sie!) Jetzt kommen die Unken. Dabei stimmten wir alle da- Sie setzen auf die Ahnungslosigkeit der Menschen nach rin überein, ein weltumspannendes, neues Netz einzu- der Methode: Kinder, recherchiert nicht zu viel; es hetzt führen. Leistungsfähige Unternehmen haben sich ver- sich dann so schlecht. – So ist doch Ihr Vorgehen. pflichtet, das zu machen, und haben uns allen erklärt, dass sie das können. Aber Ihre Freunde von der Telekom (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und von Daimler-Chrysler haben es nicht zustande ge- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5333

Ludwig Stiegler (A) Der Minister führt das Projekt zum Erfolg. Er passt die Höhe des finanziellen Schadens und natürlich auch (C) auf, dass hinterher diejenigen zur Verantwortung gezo- um einige Randbedingungen. gen werden, die nicht zum Erfolg beigetragen haben. Dass das Mautdesaster inzwischen gigantische Aus- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Aha!) maße angenommen hat, darüber sind wir uns alle im Klaren. Bei den Spediteuren herrscht ein komplettes Unser Minister hat im Gegensatz zu Ihnen die Harmoni- Durcheinander: Die Geräte reichen nicht. Die Geräte sierung vorangebracht. funktionieren nicht. Die Geräte passen nicht. Über Zu- ( [CDU/CSU]: Oh!) satzkosten spricht keiner. Er hat die Kommission überzeugt. Herr Schmidt, wir sind uns gewissermaßen einig; Sie haben vorhin die gleichen Fehler dargelegt. Bloß, den (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wovon von Ihnen hergestellten Zusammenhang mit dem Trans- hat er die Kommission denn überzeugt?) rapid kann ich nicht nachvollziehen. Sie aber haben nur geschwätzt und Forderungen gestellt. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Damit haben Sie denen in die Hände gespielt, die uns DIE GRÜNEN]: Sie ziehen die falsche Verant- aufhalten wollen und die in Wahrheit nicht wollen, dass wortungskompetenz!) das Projekt realisiert wird. Das ist doch die Wahrheit. Der Transrapid fährt; die Maut klappt nicht. Er fährt in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ China, weil Sie ihn in Deutschland verhindert haben. DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist der Unterschied. Unglaublich! Einen seltsamen Schmarren er- zählt der hier!) (Beifall bei der FDP) Wir müssen alles daransetzen – dafür werden wir uns Es rumort im Zusammenhang mit der Maut. Deshalb einsetzen und kämpfen –, dass die Maut funktioniert und sollten wir nicht nur über das Chaos beim Starttermin dass es keine negativen Auswirkungen auf die Investitio- sprechen, sondern auch über einige Nebenwirkungen. nen gibt. Ihre schlauen Bemerkungen helfen uns nicht. Der Bundesverband Güterkraftverkehr hat seit langem Sie werden doch die Ersten sein – gerade die CSU-Ver- auf Probleme hingewiesen, die existenzielle Bedeutung treter haben im Auto immer den Spaten dabei –, die sich für das Gewerbe haben. Neben der Tatsache, dass viele um Spatenstiche drängen, wenn die Baustellen eröffnet LKWs aufgrund des Ein- und Ausbaus der Geräte nutz- werden. Aber hier schüren Sie Zweifel. los in den Werkstätten herumstehen, gibt es nämlich nicht wenige Unternehmen, die Existenzsorgen haben. (B) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert (D) Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE In meinem Land Sachsen fragen sich zum Beispiel GRÜNEN]) 30 Prozent der Unternehmer – denn in diesem Bereich sind in der Regel kleine und mittelständische Unterneh- Wir werden das Projekt unter Führung von Manfred mer anzutreffen, die im Regelfall bis zu vier Beschäf- Stolpe zum Erfolg führen, der in Ruhe und Festigkeit tigte haben –, wie sie den Start der Maut überhaupt über- – und nicht zappelig wie Sie – die Sache voranbringt. leben sollen. In Sachsen haben 70 Prozent dieser Herzlichen Dank an den Bundesminister und seine Mit- Unternehmen eine solche Betriebsgröße. Viele davon arbeiter! können nicht an der automatischen Abbuchung teilneh- men, weil ihnen durch die Banken nicht der dafür not- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wendige Kreditrahmen eingeräumt wird. Angesichts ei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- nes Zahlungsziels von durchschnittlich 90 Tagen in chen bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/ diesem Gewerbe verfügen viele kleinere Unternehmen CSU: Man müsste ihm die Bezüge streichen! nicht über ausreichend Eigenkapital, um den Vorauszah- – Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist unglaub- lungen nachkommen zu können. lich! Er hat ein Eigentor geschossen!) Von der versprochenen Harmonisierung in Europa ist Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: relativ wenig zu spüren. Bisher ging es höchstens um eine Kostendeckung. Das bedeutet für diese kleinen Un- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Günther. ternehmen: Anstellen an den Terminals, Zeitverlust, Zahlung mit Bargeld und Wettbewerbsnachteile. Joachim Günther (Plauen) (FDP): (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das Internet Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und können sie auch nutzen!) Herren! Nach der Lehrstunde von Herrn Stiegler sind wir in der Verkehrspolitik einen entscheidenden Schritt Das Ergebnis im Zusammenhang mit der Maut ist für weitergekommen. den Güterkraftverkehr niederschmetternd. Im Landesver- band Sachsen stehen 10 000 Arbeitsplätze zur Disposi- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) tion. Die Maut klappt nicht. Betriebe mit wenig Eigenka- Wir werden sehen, was bei der Sache herauskommt. pital – hiervon ist vor allem wieder der Osten betroffen – kommen nicht voran. Es gibt weitere Versuche, in Rich- Heute geht es um die Maut und um deren unendliche tung Osteuropa umzuflaggen. Vom Ministerium aber Geschichte. Heute geht es um Einführungstermine, um kommen nur Durchhalteparolen und Fehlinformationen. 5334 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Joachim Günther (Plauen) (A) Ein weiterer Schwerpunkt, der in der Diskussion nach Ich sage das deswegen mit dieser Deutlichkeit, weil (C) wie vor fast ausgeklammert wird, ist die Situation der wir in Zukunft in vielen Bereichen mehr Public Private Unternehmer in strukturschwachen Gebieten. Dort fallen Partnership wollen. Wenn das dazu führt, dass die Priva- naturgemäß mehr Leerkilometer an als in Ballungsräu- ten entlastet und quasi heilig gesprochen werden und die men. Strukturschwache Gebiete gibt es nicht nur im Os- Politik auch für das, was sie überhaupt nicht zu verant- ten Deutschlands, sondern auch in Schleswig-Holstein worten hat, zur Rechenschaft gezogen wird, tun wir der und Oberfranken. Sache nichts Gutes. Wenn ich jetzt Chefin von Toll Col- lect wäre – was ich glücklicherweise nicht bin –, würde (Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Sie wollen ich mich zurücklehnen und sagen: Warten wir doch, bis die Maut haben?) sie den Minister von seinem Posten geschoben haben; – Es geht nicht generell um die Maut. Ich habe über eine (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ziemlich Harmonisierung gesprochen. Hier sind wir nicht ent- dummer Vergleich!) scheidend vorangekommen; das muss man in diesem Zusammenhang deutlich sagen. ich brauche mich doch nicht darum zu kümmern, dass das endlich funktioniert. – Es kann doch nicht wahr sein, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dass wir die Verantwortung nicht bei denen lassen, die der CDU/CSU) sie übernommen haben! Darauf bauen unsere Gesell- Herr Minister Stolpe, Sie sind sich doch hoffentlich schaft und unser Rechtssystem auf. Ich erwarte auch von darüber im Klaren, dass Sie den Hut nicht nur für die der Opposition, dass sie klar zwischen den jeweiligen Maut als Ganzes aufhaben, sondern auch für die Arbeits- Verantwortlichkeiten unterscheidet. plätze, um die es in diesem Zusammenhang geht. Viele (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieser Arbeitsplätze sind bedroht; das kann man nicht und bei der SPD) wegdiskutieren. Es geht nicht darum, ob Rot-Grün die Probleme be- Vor wenigen Tagen haben Sie in der Presse erklärt, nennen kann. Das können wir. An erster Stelle stehen da- woher der Name Stolpe stammt. Ich fand das ganz inte- bei aber eindeutig die Probleme der Wirtschaft. Diese ist ressant. Nicht von stolpern, sondern von Säule, von bis heute nicht in der Lage, das Funktionieren zu ge- Nicht-schnell-umfallen sei er hergeleitet. Ihr Ministe- währleisten. Die Punkte sind alle schon genannt worden. rium hat drei tragende Säulen: den Verkehr, den Bau und den Aufbau Ost. Ihr Handling im Verkehrsbereich bzw. Was ich aber jetzt bei Toll Collect und dem dahinter bei der Maut hat Chaos und leere Kassen hinterlassen. stehenden Konsortium fast noch schlimmer finde, ist, Der Baubereich steckt in der Krise. Vom Aufbau Ost ist dass sie auch heute noch ständig das Versprechen abge- (B) nichts mehr zu spüren. ben, sie würden es morgen schaffen; wir müssten nur ei- (D) nen Tag warten, dann würde alles klappen. Das halte ich All das, was Sie anpacken, scheint wie Pech an Ihnen für zynisch und das werfe ich denen auch vor. So dürfen zu kleben. Haben Sie also den Mut, an diesen Säulen zu Toll Collect und das dahinter stehende Konsortium aus rütteln! Gehen Sie in den wohl verdienten Ruhestand! Daimler-Chrysler, Telekom und Cofiroute nicht mit der Denn wir brauchen keine starren Säulen. Wir brauchen Politik, der deutschen Öffentlichkeit und dem Steuerzah- Bewegung bei der Maut und eine angemessene Harmo- ler umgehen. Das darf von Ihnen nicht auch noch ständig nisierung. Wir brauchen wieder Hoffnung im Bauwesen entschuldigt werden. Das ist zurzeit nämlich unser Pro- und wir wollen nicht, dass der Aufbau Ost in der glei- blem. chen Katastrophe endet wie Ihre Maut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir müssen aber auch die Verantwortlichkeiten auf der politischen Seite ansprechen. Ein großes Problem ist, Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska Eichstädt- dass der Vertrag unter zu große Vertraulichkeit gestellt Bohlig. wurde. Auch haben wir bis heute keine Klarheit über die Haftungs- und Schadensersatzregelungen und wahr- Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE scheinlich war die Politik, aber nicht nur das Ministe- GRÜNEN): rium, sondern auch wir Abgeordneten, zu lange zu gut- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gläubig. Wir sind in einer Situation, in der das tägliche Morgen- Ich wiederhole das, was vorhin auch schon Ali gebet der FDP „Die Privaten können und machen alles Schmidt gesagt hat: Im Juni hat sich der Verkehrs- und besser“ offenbar nicht oder zumindest nicht sehr schnell Bauausschuss alles vorführen lassen. in Erfüllung geht. In einer solchen Situation halte ich es für regelrecht unverantwortlich, davon abzulenken, stän- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Aber dig Minister-Bashing zu machen und so zu tun, als sei die Bundesregierung hat doch gesagt: Es ist al- die Politik für das verantwortlich, was die Privaten ma- les prima! Zitieren Sie doch einmal die Erklä- chen. rung der Bundesregierung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir alle – nicht nur Sie, sondern wir auch – haben be- sowie bei Abgeordneten der SPD) wundert, wie toll das klappt. Die Industrie hat uns weis- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5335

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) gemacht, morgen würde alles funktionieren. De facto Seite. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir den Standort (C) war es wie auf dem Jahrmarkt: Drei oder vier Wochen Deutschland bald auch beim Mautsystem wieder nach später wurden wir darüber belehrt, dass das alles nicht vorne bringen können und dann sagen können, dass wir funktioniert. Das war ein falsches Versprechen von das zwar mit einigen Schwierigkeiten, aber letztlich Daimler-Chrysler und der Telekom, von unserer Spitzen- doch à la longue auf konstruktive Weise geschafft haben. industrie. Das muss man auch laut und deutlich sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei der SPD) Man muss aber auch sagen, worum sich gerade Mi- nister Stolpe in hohem Maße positiv kümmert. Er macht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: enormen Druck und sorgt dafür, dass die Arbeitsgruppe Jetzt hat der Abgeordnete Klaus Lippold das Wort. fast täglich an dem Problem arbeitet. Er ist derjenige, der uns in der EU hinsichtlich der Einführung der Maut wie- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): der den Rücken freigekämpft hat, Sie haben uns doch die Schwierigkeiten mit der Harmonisierungsregelung ein- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und gebrockt. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den letzten Ablenkungsmanövern müssen wir hier wieder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutlich machen, wer die Verantwortung hat. Das ist sowie bei Abgeordneten der SPD) ganz klar: Die Verantwortung liegt bei der Bundesregie- rung und bei diesem Minister. Auch hier sollten Sie nicht so selbstgerecht sein, sondern zugeben, welche Fehler Sie gemacht haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte noch einmal sagen: Bei allen unseren Frau Eichstädt-Bohlig hat davon gesprochen, dass es Startschwierigkeiten – ich finde, darüber sollten wir ehr- Ablenkungsmanöver gebe. Das stimmt, die gibt es. Die lich reden – dürfen wir das Maut-System als Ganzes Ablenkungsmanöver kommen von Ihnen, der Koalition nicht schlechtreden. Damit werden wir über kurz oder und der Bundesregierung, obwohl das Ganze in Ihre Zu- lang einen Exportschlager haben. Wir wollen die an- ständigkeit fällt. Ich will einige nennen. spruchsvollste und modernste Mautregelung haben, eine technologisch wirklich vorbildliche Systematik, die wir Das erste Ablenkungsmanöver: Sie entdecken Minis- dann im Wege des Exports an andere Länder weiterge- ter Bodewig wieder, den ich hier übrigens lange nicht ben können. Insofern fördern wir damit letztlich ein gro- mehr gesehen habe. Auf einmal ist es nicht mehr Herr ßes und wichtiges Forschungs- und Entwicklungspro- Stolpe, der in der Kritik steht, sondern Herr Bodewig. Das stimmt zum Teil; denn ich differenziere stärker als (B) jekt. Dass wir damit Anlaufschwierigkeiten haben, ist (D) nicht verwunderlich. Wir hätten uns auch gewünscht, Sie. Man muss hier daran erinnern – das wurde schon dass der Plan etwas pünktlicher erfüllt worden wäre, als gesagt –, dass Herr Bodewig den Vertrag ohne sorgfäl- es jetzt der Fall sein wird. tige Prüfung durchgepeitscht hat, Seien Sie daher bitte nicht so euphorisch im Miesma- (Ludwig Stiegler [SPD]: Woher wissen Sie das chen, dass wir damit das ganze System schlechtreden. denn überhaupt?) nur um im Wahlkampf ein Argument zu haben. Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – verantwortungslos. Dieser Vorgang fällt in die Regie- Ludwig Stiegler [SPD]: Die können doch nur rungszeit der Regierung Schröder. Das ist aber nur das mies machen!) erste Ablenkungsmanöver. Ich warne davor, denn das tut dem Standort Deutschland, (Ludwig Stiegler [SPD]: Dampfplauderer!) den Sie ja auch so lieben, nicht gut. Das zweite Ablenkungsmanöver: Wenn dieser Minis- Ich sage als Letztes, was mir jetzt besonders wichtig ter früher mit Frau de Palacio, der Verkehrskommissarin ist. Herr Minister, Sie haben gestern erklärt, dass mit der EU, gesprochen und verhandelt hätte, hätten wir frü- dem Betreiberkonsortium aktuelle Nachverhandlungen her Ergebnisse bekommen. Im Gegensatz zu dem, was geführt werden. Ich erwarte, dass für uns, das Parlament, die Koalition sagt, deren Darstellung falsch ist, gibt es für den Steuerzahler und letztlich auch für die Spedi- bis jetzt nur eine Startfreigabe. Das Gesamtsystem, bei teure, die es dann bezahlen sollen, akzeptable Haftungs- der Mauthöhe angefangen, bedarf erst noch der Bestäti- und Schadensersatzregelungen entweder schon in dem gung. Das war also eine Falschdarstellung, die wir in der mir nicht bekannten Vertrag enthalten sind oder im Wege Form nicht akzeptieren werden. dieser Ergänzungsverhandlungen in den Vertrag aufge- nommen werden. Machen Sie dem Konsortium klar, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zu- dass das Parlament, der Haushaltsgesetzgeber, und der ruf von der SPD: Geben Sie Ihre Rede zu Pro- Rechnungshof hinter Ihnen stehen, dass wir ein Recht tokoll! Die haben Sie schon einmal gehalten!) haben, diesen Vertrag einzusehen, und dass wir in die- sem Vertrag klare, solide und ordentliche Regelungen Das dritte Ablenkungsmanöver: Wieso soll eigentlich brauchen. Dann werden wir diese Zeit, in der es nicht ausschließlich die Industrie schuld sein? Mit der Über- recht funktioniert, durchstehen. nahme der Regierungsverantwortung und des Minister- amtes hätte Minister Stolpe sofort ein Projektmanage- Wir werden Druck auf die Industrie ausüben. Dafür ment und Controlling aufbauen müssen. Das hat er nicht brauchen wir aber eine Regelung auf der politischen gemacht. Das liegt eindeutig in seiner Verantwortung. 5336 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) Deshalb lassen wir keinerlei Ablenkung zu. Hätten Sie Denn Sachfragen stören Sie ja nicht, wenn Sie hier (C) sich, Herr Stolpe, statt sich mit anderen Dingen zu be- schimpfen wollen. So geht es nicht, Herr Stiegler. schäftigen, mit diesem Managementsystem, das absolute 18 Prozent sind genug für Sie. Priorität gehabt hätte, auseinander gesetzt, dann wären wir heute nicht in einer solchen Situation. Sie hätten frü- (Zuruf von der CDU/CSU: Zu viel!) her korrigieren können. Das haben Sie nicht gemacht. Dabei belassen wir es auch. Diese Schuld müssen wir Ihnen zuweisen und keinem anderen. Jetzt komme ich zu einem Punkt, den ich auch noch einmal deutlich machen wollte. Es gibt Ihrerseits klare (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- und eindeutige Schuldanerkenntnisse. Ich will jetzt gar ruf von der SPD: So ein Quatsch!) nicht darauf eingehen, dass im Ministerium erst einmal Zwischenzeitlich waren Sie so weit, dass Sie die Ver- versucht wurde, mit dem Bauernopfer eines Abteilungs- antwortung beim Verkehrsgewerbe gesucht haben, das leiters von der wahren Verantwortung an der Spitze ab- angeblich nicht genügend Geräte abgerufen habe. Wel- zulenken. Es gab jedoch jemanden in Ihrer Partei, der che Geräte sollten sie denn abrufen? Wie sollten diese zwar völlig richtig erkannt hat, dass diese Bundesregie- Geräte eingebaut werden? Wir diskutieren heute doch rung schuld ist, der aber gleichzeitig diesen Minister, der darüber, dass der Schrott nicht tauglich ist. So einfach ist ja so lieb ist, schonen wollte. Deshalb hat er nicht gesagt, das. dieser Minister müsse gehen, sondern er hat gesagt, zwei Staatssekretäre müssten gehen. (Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]) Herr Danckert, ich danke Ihnen. Wissen Sie, warum? Herr Stiegler, der Sie die so gerne dazwischenrufen, Wenn jemand aus Ihren Reihen fordert, dass zwei Staats- ich komme nun zu Ihnen. Es wurde hier gesagt, das Sys- sekretäre gehen müssen, dann ist doch ganz offensicht- tem solle nicht kaputt geredet werden. Damit meinen lich, dass die Schuld bei der Bundesregierung liegt. Wie Sie, wir sollten nicht über die Schwächen der Bundesre- sollten Sie sonst fordern können, dass zwei Staatssekre- gierung und dieses Ministers sprechen. täre in die Wüste geschickt werden? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich gestehe allerdings, dass Sie den zweiten Punkt nicht bedacht haben. Sie haben in Ihrer lieben Art ge- Das System kann man aber auch dadurch kaputtreden, dacht, Sie würden Herrn Stolpe helfen. Dass das ein dass man wie Sie oder gerade Frau Eichstädt-Bohlig Schuldeingeständnis war, hat Herr Müntefering erkannt. über die Industrie schimpft. Das sind zwei Seiten dersel- Deshalb hat er Sie hinterher in der Fraktionssitzung auch ben Medaille: Sie können nicht auf der einen Seite auf eingestampft. Er wollte nämlich nicht, dass solche (B) die Industrie schimpfen und auf der anderen Seite sagen, Schuldanerkenntnisse öffentlich werden. (D) das sei ein glänzendes System. Herr Stiegler, Sie wider- sprechen sich mit jedem Satz, den Sie sagen. Ich ver- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Kommen Sie mal stehe, dass Ihre Partei in Bayern so abgeschnitten hat. wieder zur Sache!) Bei Führungspersonen wie Ihnen kann ich die Herr Danckert, Sie haben uns damit, dass Sie die Wahr- 18 Prozent verstehen. Sie werden in Zukunft mit der heit gesagt haben, geholfen. Dafür kann man Sie wirk- Zahl der FDP noch nicht einmal spotten können. Das lich nur loben. fällt auf Sie selbst zurück. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Ludwig Stiegler [SPD]: Zwei CSU-Verkehrs- DIE GRÜNEN]: Das hat er nicht verdient, minister haben nichts zustande gebracht!) dass er von euch gelobt wird!) Herr Stiegler, Sie Starjurist aus Bayern, ich möchte Ich will hinzufügen: Herr Stiegler, wir wollen wissen, noch etwas ansprechen. Sie sagen, wir sollten diesen was mit den Haftungsregeln ist, was dort vereinbart Vertrag nicht anfordern, wir seien Stümper. Sie können wurde. Ich meine, wir haben ein Recht darauf, zu noch nicht einmal zwischen Vertragstext und Anlagen schauen, wo was wie gestaltet wird, und nach den Feh- unterscheiden. Der Vertragstext umfasst, wenn ich das lern zu suchen, damit wir sie in Zukunft vermeiden kön- richtig sehe, etwa 100 Seiten, die Anlagen haben Tau- nen. sende von Seiten. Wir fordern den Vertragstext. Uns können Sie die Intelligenz zutrauen, einen vernünftigen Wir wollten dieses Instrument als wegweisendes Ver- Vertrag auch richtig lesen zu können. Wenn Sie sich das kehrskonzept. Ich muss ganz deutlich sagen: Deshalb nicht zutrauen, haben wir als Union es gemeinsam mit der FDP damals angestoßen. Das ist so leider nicht gelungen. (Ludwig Stiegler [SPD]: Das zeigt mir, dass Sie keine Ahnung von technischen Verträgen haben!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Denken Sie bitte an Ihre nur fünfminütige Redezeit. dann frage ich mich, warum Ihre Kollegen von Rot-Grün einen Antrag in den Verkehrsausschuss eingebracht ha- ben, der die Offenlegung der wesentlichen Vertragsteile Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): vorsieht und der den Ausschuss einvernehmlich passiert Ja. – Wir wollen es auch als industriepolitisches Pro- hat. Das haben Sie vermutlich nicht mitbekommen. jekt; daran werden wir weiterhin arbeiten. Daneben wol- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5337

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) len wir es als Finanzierungsprojekt PPP. „PPP“ überset- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nennen (C) zen wir aber nicht so, wie diese Regierung es tut, Sie doch einmal einige Beispiele, wo das um- nämlich mit: Pannen, Pech und Pleiten. gekehrt war!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Betrieb des Mauterfassungssystems ist ein echtes PPP-Projekt. Die Risiken müssen zwischen der öffentli- chen Hand und dem Industriekonsortium fair verteilt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: werden. Sie reden zum Beispiel nicht darüber, dass die Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis. – Industrie die Kosten für die Errichtung des Systems zu Noch einmal an alle Kollegen: Die Redezeit in der Aktu- tragen hat. Entgelte für die Refinanzierung stammen ellen Stunde beträgt jeweils nur fünf Minuten. nicht aus dem Bundeshaushalt, sondern aus den Einnah- men des Systems. Das bedeutet ein hohes Risiko für das Konsortium. Hinzu kommen erhebliche Risiken wegen Reinhard Weis (Stendal) (SPD): möglicher finanzieller Verluste und wegen des Image- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! verlustes, den es zurzeit wegen der Vertragsverletzungen Die Aktuelle Stunde ist von unserem Kollegen Fischer und der offensichtlichen Pannen natürlich gibt. eröffnet worden. Dessen Ausführungen hat Horst (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Und daran Friedrich auf der gleichen Linie dadurch ergänzt, dass er sind auch wir als Opposition schuld?) uns die Vermischung der Verantwortlichkeiten von Poli- tik und Industrie präsentiert hat. Es wurde der falsche Sie wissen auch, dass es in der Vergangenheit Versu- Eindruck erweckt, dass Vertragsverletzungen nicht ge- che gab, PPP-Lösungen zu installieren, die gerade an der ahndet werden sollen. Daneben wurde mit einem fal- Risikoverteilung zwischen der öffentlichen Hand und schen, weil nicht mehr aktuellen Zitat des Präsidenten den privaten Betreibern gescheitert sind. des Bundesamtes für Güterverkehr gearbeitet. Es wurde (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die sind der Eindruck erweckt, als sei die Verletzung der Termin- gescheitert, weil ein das vorbe- kette im Haus nicht registriert worden. All das will ich reitet hat, ohne zu wissen, was er macht!) zurückweisen. Für uns war es schlicht unakzeptabel, wenn versucht (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das über- wurde, alle Risiken bei der öffentlichen Hand abzuladen. rascht nun wirklich!) Genauso muss es natürlich auch im umgekehrten Fall, – Ich will es nicht im Detail zurückweisen, weil das beim anderen Extrem sein. Ihre jetzige Kampagne mit Verdächtigungen und Halbwahrheiten gegen den Minis- (B) schon getan wurde und weil noch zwei Redner aus unse- (D) rer Koalition hier auftreten werden. ter (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das weise (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das macht ich aufs Schärfste zurück!) es nicht besser!) führt Sie industriepolitisch in eine Sackgasse. Ihr Ver- Ich möchte den letzten Aspekt, den Herr Lippold an- gnügen daran, jeder nicht funktionierenden On Board gesprochen hat, aufgreifen. Es geht um die Projekte öf- Unit hinterherzuhecheln, Ihre Freude daran, dass es Soft- fentlich-privater Partnerschaften, also um die PPP-Pro- ware-Probleme gibt, jekte. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, Sie sollten vorsichtiger sein. Die Wirkung (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Bei Ihrer vordergründigen Kampagne gegen Bundesminis- Hartmut Mehdorn gibt es dafür eine einstwei- ter Stolpe könnte Sie sonst in Widerspruch zu Ihren eige- lige Verfügung!) nen Sonntagsreden bringen. kann für das Interesse an PPP-Projekten doch nur ab- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE schreckend wirken. Wie wollen Sie denn mit einer sol- GRÜNEN]: Hört! Hört! – Horst Friedrich chen Kampagne in der Bundesrepublik Deutschland den [Bayreuth] [FDP]: Da breche ich jetzt in Trä- Boden für die Verbreitung von PPP-Projekten bereiten? nen aus!) Der Verkehrsausschuss hat gestern entschieden, dass er darüber informiert werden will, wie die Risikovertei- Sie tun so, als hätte es bei Großprojekten des Bundes lung im Vertrag geregelt ist. noch nie Anlaufprobleme und Probleme mit Terminen und Verpflichtungen von Vertragspartnern gegeben. Das (Zuruf von der SPD: Genau richtig!) hat es mit trauriger Konsequenz leider auch schon in der Es geht uns natürlich auch um die Frage, wie mit den Vergangenheit gegeben. Einnahmeausfällen umgegangen wird. Aber die Speku- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo denn?) lationen darüber – und nur Spekulationen können Sie heute hier anstellen – müssen endlich beendet werden. Es wurden nicht nur hohe Vorlaufinvestitionen aus dem Auch die Öffentlichkeit möchte Informationen und sie Bundeshaushalt ineffizient eingesetzt; eine andere Folge hat einen Anspruch darauf. Deshalb verlangte meine war auch, dass der erhoffte Nutzen für den Bund bei Fraktion gestern im Fachausschuss Einsicht in die Ver- manchen Projekten erst verspätet eingetreten ist. Das tragspassagen, die die Risikoverteilung betreffen, und soll bei PPP-Projekten ja anders sein. zwar ohne Beeinträchtigungen und ohne das Siegel von 5338 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Reinhard Weis (Stendal) (A) Verschwiegenheit. Wir haben das gestern im Ausschuss In dieser Woche lud der Bundesverband der Deut- (C) gefordert, Sie haben es abgelehnt. Auch der Minister hat schen Industrie viele Gäste nach Berlin ein, und eine der ein Interesse an dieser offenen und transparenten Vor- wichtigsten Forderungen der Veranstaltung in der Brei- lage des Vertrages und wir erwarten deswegen von der ten Straße war: Der Staat soll sich auf seine Kernkompe- Industrie, dass sie in diesem Punkt für Transparenz sorgt. tenzen zurückziehen und mehr und mehr Aufgaben der Wirtschaft überlassen; die könne doch schließlich alles (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten billiger und besser. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Transpa- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ renz, die man mit dem Delinquenten abspricht, DIE GRÜNEN]: Großer Irrtum!) bringt nichts!) Das Beispiel LKW-Maut hat uns eines Besseren belehrt. An die Opposition gewandt möchte ich noch sagen: Es geht hier nicht um kleine mittelständische Unterneh- Schütten Sie in dieser Situation, in der wir über die Risi- men, sondern um zwei der größten deutschen Konzerne, koverteilung nur spekulieren können, weil das Industrie- um Daimler-Chrysler und die Deutsche Telekom. Viele konsortium uns die Vertragseinsicht noch nicht ermög- Menschen werden sich fragen, warum sie ganz selbst- licht hat, nicht das Kind mit dem Bade aus. Verbauen Sie verständlich Mahnbescheide befolgen und Vertragsstra- nicht die Optionen für weitere öffentlich-private Partner- fen zahlen müssen, wenn diese beiden Unternehmen es schaften bei der Finanzierung von Investitionen im öf- offenbar schaffen, solche Vertragsstrafen vertraglich fentlichen Interesse, ausschließen zu lassen. Das, was man über den Vertrag bisher erfahren hat, erweckt doch den Eindruck, es sei (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Laden Sie den Anwälten dieser großen Unternehmen gelungen, den doch mal den Verkehrsminister in die Fraktion Beamten die Texte für die Verträge in den Block zu dik- ein!) tieren. Wenn zuständige Beamte und auch Minister so die wir brauchen, um beispielsweise Verkehrsprojekte, fahrlässig mit Steuergeldern umgehen, ist das meiner für die aufgrund der Haushaltslage des Bundes nicht ge- Ansicht nach ein Fall für den Staatsanwalt. nügend Haushaltsmittel zur Verfügung stehen, in erfor- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) derlichem Maße zu finanzieren. Es stellen sich jedoch auch grundsätzliche Fragen: Herzlichen Dank. Warum wurde ein System neu entwickelt, obwohl in der Schweiz ein funktionsfähiges Mauterhebungssystem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einwandfrei ohne GPS funktioniert? Warum eigentlich DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] wurde ein System entwickelt, das die totale Kontrolle er- (B) (D) [FDP]: Das war eine berauschende Rede! Die möglicht und unzählige Daten erfasst, die für die Maut- hat alle Klarheiten beseitigt!) erhebung gar nicht benötigt werden? Was sagt eigentlich der Datenschutzbeauftragte dazu? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestern wurde in verschiedenen Ausschüssen über Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch. diesen Fall gesprochen. Im Haushaltsausschuss wurde merkwürdigerweise doch nicht über die Anträge aus den Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): verschiedenen Fraktionen abgestimmt, die Verträge of- fen zu legen. Aber ich gehe davon aus, Herr Minister Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Stolpe, dass es Ihr größter Wunsch ist, die Offenlegung Herren! Für die Gäste darf ich sagen: Ich bin Abgeord- der Verträge für die Abgeordneten und für die Öffent- nete der PDS. lichkeit sicherzustellen. Ich gehe weiterhin davon aus, (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Herr Minister Stolpe, dass es auch Ihr größter Wunsch DIE GRÜNEN]: Das musste ja mal gesagt ist, diesen Subventionsskandal aufzudecken. werden! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Das sieht man doch!) Meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor, Ulrich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wickert fragt in den „Tagesthemen“ Herrn Schrempp, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg den Vorstandsvorsitzenden von Daimler-Chrysler, zur Brunnhuber. LKW-Maut: „Herr Schrempp, Sie verdienen ca. 5,6 Millionen Euro im Jahr und Sie sind nicht in der (Beifall bei der CDU/CSU) Lage, einen Auftrag fristgemäß zu erfüllen. Werden Sie jetzt aus Scham Ihr Gehalt um 20 Prozent kürzen?“ Georg Brunnhuber (CDU/CSU): (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DIE GRÜNEN]: Ist das jetzt echt oder erfun- Es ist richtig, was Minister Stolpe sagte: Das Mautsys- den?) tem zur Erhebung der streckenbezogenen LKW-Gebühr mit der von uns ausgewählten Technik ist ein Jahrhun- Ich glaube, das wäre schlimmer als der damalige Ver- dertwerk. Aber so, lieber Herr Minister, wie Sie, Ihr gleich von US-Präsident Bush mit Bin Laden; es wäre in Haus und Ihr Vorgänger es angelegt haben, haben Sie es Deutschland Majestätsbeleidigung. fast zum Jahrhundertmurks gemacht. Wenigstens sind Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5339

Georg Brunnhuber (A) wir kurz davor, dass die Öffentlichkeit in Deutschland (Ludwig Stiegler [SPD]: Das reicht an Ver- (C) und Europa davon ausgeht, dass die Deutschen nicht ein- leumdung! – Albert Schmidt [Ingolstadt] mal mehr in der Lage sind, ein System zu entwickeln, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am besten, das in Europa und überall in der Welt schon funktioniert. wir schauen hinein, dann wissen wir, was drin- Herr Minister, für diesen Murks tragen Sie die Verant- steht!) wortung. Deshalb müssen wir sagen: Sie und diese Regierung (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ tragen dafür die Verantwortung, nicht die Industrie. DIE GRÜNEN]: Das heißt, der Minister ist Wenn Sie dafür nicht die Verantwortung übernehmen schuld?) und deshalb Ihren Hut nehmen, dann muss man sich fra- gen, was in diesem Land noch passieren muss, bevor ein Die Murkser sitzen hier. Minister freiwillig geht, damit sein Nachfolger die Sache besser regeln kann. Wenigstens einen Teil der Verant- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wortung sollten Sie übernehmen. Herr Minister, aus die- neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] ser Sache kommen Sie nicht mehr heraus. [SPD]: Lächerlich! Nun ist es gut!) Ich nenne Ihnen einen zweiten Grund, warum Sie aus Seit Rot-Grün die Verkehrspolitik organisiert, ist der dieser Sache nicht mehr herauskommen. In Ihrem Hause Murks in dieser Politik an allen Ecken und Enden zu se- und im Kanzleramt wurde die Harmonisierung mit den hen. Immerhin ist es so weit gekommen, dass offensicht- Unternehmerverbänden besprochen und versprochen. lich selbst der Kanzler erkannte, dass drei Minister Man hat im Kanzleramt, nicht in der Opposition, in der Murkser waren; denn er hat sie schon abgelöst. Die Ent- letzten Legislaturperiode festgelegt: Harmonisierung so lassung des vierten Ministers aufgrund seines dilettanti- groß wie möglich. Die Summe von 600 Millionen haben schen Vorgehens in dieser Sache ist zumindest schon in nicht wir erfunden. Sichtweite. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Lieber Herr Minister Stolpe, wir alle wissen, dass Sie DIE GRÜNEN]: Aber natürlich!) erst seit einem Jahr Minister sind. Aber Sie können sich nicht mit der Behauptung aus der Verantwortung stehlen, Die wurde damals den Unternehmern im Kanzleramt zu- dass Sie von nichts gewusst haben. Als Sie im Novem- gesagt. ber des letzten Jahres zum ersten Mal im Verkehrsaus- (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- schuss waren, haben wir Ihnen genau die Probleme ge- NIS 90/DIE GRÜNEN) schildert; denn das ganze Vorgehen bei der LKW-Maut – Man merkt, dass Sie es wissen. Deshalb tut es weh. (B) war vom ersten Tag an Murks. Schon die Ausschreibung (D) war vermurkst. Die Vergabe war so vermurkst, dass man (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Deshalb drei Gerichte bemühen musste, um sie zu regeln. Wenn schreit er auch so! – Albert Schmidt [Ingol- zwei Tage vor der Bundestagswahl ein solcher Milliar- stadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine denvertrag unterschrieben wird, dann muss man kein dreiste Lüge!) Hellseher sein, um zu wissen, dass in diesem Vertrag of- fensichtlich erhebliche Fehler und Mängel enthalten Die absolute Unverschämtheit, Lug und Trug in der Poli- sind. tik, kommen zum Tragen, wenn der Bundeskanzler er- klärt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Wir haben zwar keine Erkenntnisse, aber eine Infor- DIE GRÜNEN]: Das ist Geschichtsfälschung! mation aus verschiedenen Richtungen, dass nicht die Ich war dabei!) Wirtschaft, sondern Sie die Veröffentlichung dieses Ver- Wir bemühen uns zwar, in Brüssel Harmonisierungs- trages fürchten. schritte nach den Vorgaben des Vermittlungsausschusses (Ludwig Stiegler [SPD]: Je weniger Ahnung, umzusetzen, aber wenn das dort nicht akzeptiert wird, desto größer die Sprüche! – Albert Schmidt dann gibt es eben nichts. [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Das ist eine infame Verleumdung! Das stimmt DIE GRÜNEN]: Der Bundeskanzler hat nie nicht! Das Gegenteil ist gesagt worden!) eine Zahl genannt! Die Zahl 600 kommt von euch! Die war damals schon illusionär!) Man kann fast schon spüren, dass in diesem Vertrag wahrscheinlich nicht enthalten ist, wann der Starttermin Wenn Sie schon nicht in anderen Bereichen die Verant- sein sollte, wie viele Geräte in die LKWs eingebaut wer- wortung übernehmen wollen, Herr Minister Stolpe, dann den müssen und wer zahlt, wenn das System nicht funk- müssen Sie sie in diesem Bereich übernehmen. Sie müs- tioniert. sen sagen: Herr Bundeskanzler, entweder Sie nehmen diesen Satz zurück oder ich trete ab. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Alles Spekulationen!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist alles gelogen! Das Wir vermuten, dass der Auftraggeber den Vertrag nicht glauben doch deine eigenen Leute nicht, was so formuliert hat, dass der Auftragnehmer spuren muss. du da erzählst!) 5340 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Georg Brunnhuber (A) Sie haben doch die Verantwortung für 100 000 Unter- Zeitpläne wollen wir wissen. Das alles muss offen gelegt (C) nehmen. Arbeitsplätze werden in diesem Land im nächs- werden. ten Jahr verloren gehen, weil wir keine Harmonisierung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und keinen gleichartigen Wettbewerb haben. Dafür sind DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] Sie der Hauptverantwortliche. [FDP]: Wer garantiert mir die Vollständig- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ keit?) DIE GRÜNEN]: Ihr wollt die Maut überhaupt Wichtiger als die Vertragskontrolle und Vertragsvoll- nicht! Das ist der Hintergrund!) ziehung ist für mich in diesem Moment aber die Frage, Ich sage Ihnen, Herr Minister, es gab hier einmal jeman- warum wir noch keine Mauteinnahmen haben. Sie wis- den, der sagte: Avanti Dilettanti. Ich rufe Ihnen das zu. sen, monatlich fehlen 163 Millionen Euro. Es gibt eine Nehmen Sie Ihre Staatssekretäre gleich mit. Ich bin Vereinbarung mit dem Finanzminister, dass er den Be- überzeugt, wenn der Pförtner die Arbeit bei Ihnen macht, trag vorschießt und wir ihn bis zum Jahr 2006 im Einzel- wird es mit Sicherheit nicht schlechter. plan 12 wieder erwirtschaften müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Glauben neten der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Set- Sie das?) zen! Sechs! – Albert Schmidt [Ingolstadt] Teil dieser Vereinbarung ist, dass die Ansätze für Ver- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein ernst zu kehrsinfrastrukturmittel nicht angetastet werden. nehmender Redebeitrag! – Gegenruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das war ge- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das sieht nauso wie bei Ludwig Stiegler!) man im Haushalt 2004!) Ich bin Haushaltspolitiker der Koalition und stehe dazu. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie können auch dazu beitragen, dass das tatsächlich in Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gunter den nächsten Jahren geschieht und letztlich ein Erfolg Weißgerber. wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gunter Weißgerber (SPD): DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer ist denn an den fehlenden Mauteinnahmen tat- Die Opposition scheint arm dran zu sein. Ohne Steilvor- sächlich schuld? Das ist doch nicht der Vertragspartner, lagen aus der Koalition hätten Sie nicht einmal ein der zu zahlen hat, sondern der Vertragspartner, der die (B) (D) Thema für die Aktuelle Stunde des heutigen Tages ge- Leistungen zugesagt hat. habt. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ach, Herr DIE GRÜNEN]: Genauso ist es! Das kleine Weißgerber, lassen Sie das nur unsere Sorge Einmaleins der Marktwirtschaft! Und das sein!) muss man euch erklären!) Von wegen „Rufe aus dem Walde, aus der Koalition“! Daraus ergeben sich für mich Fragen an die Industrie. Es Natürlich sind die aktuellen Mautschwierigkeiten extrem sind allesamt Weltfirmen. Davon mache ich keinen Ab- ärgerlich und vor allem kommen sie uns teuer zu stehen. strich. Ich unterstelle nicht einmal, dass es anders ist. Aber bei dieser Diskussion sollten wir auf die Gewich- Eine Weltfirma muss aber bestimmten Ansprüchen ge- tung achten. nügen. Ich habe mir den Internetauftritt der Telekom und Der Vertrag ist die eine Seite. Darüber wollen wir alle den von Daimler-Chrysler angesehen. Bei der Deutschen Aufklärung. Ich erinnere an die gestrige Haushaltsaus- Telekom steht: schusssitzung. Der Minister hat angeboten – Sie haben Die Deutsche Telekom AG setzt als eines der vier daraufhin Ihren Antrag zurückgezogen –, in den nächs- weltweit größten Telekommunikationsunterneh- ten zwei Wochen für Aufklärung zu sorgen und mit dem men internationale Maßstäbe. Konsortium zu reden, dass der Vertrag gänzlich offen gelegt wird. Ich mache aber eine wichtige Einschrän- Auf der Homepage von Daimler-Chrysler steht unter an- kung: Die Betriebsdaten, das, was patentrechtlich ge- derem: schützt ist, und technische Details sollen natürlich nicht Die Strategie von Daimler-Chrysler basiert auf vier in die Öffentlichkeit gelangen. Säulen: globale Präsenz, starkes Markenportfolio, umfassendes Produktprogramm sowie Technolo- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gie- und Innovationsführerschaft. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das steht nicht im (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Was sagt Vertrag!) uns das?) Das ist klar, schon aus Gründen des Schutzes vor der Das steht aus meiner Sicht auch berechtigt darin, aber im Konkurrenz. Aber die anderen Daten wie Zahlungsmo- Moment genügen sie diesen Ansprüchen nicht. Die Ver- dalitäten, Leistungsverpflichtungen, Gewährleistungen, antwortung für die Misere liegt tatsächlich bei der Partei, Schadensersatz- und Vertragsstrafenregelungen und die versprochen hat, die Leistungen zu erbringen. Es Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5341

Gunter Weißgerber (A) stellt sich für mich schon die Frage: Ist hier der Mund zu welche Straße ganz konkret verbreitert und was alles von (C) voll genommen worden, wie dilettantisch ist an die Ar- dem zusätzlichen Geld, das man einnimmt, gemacht beit gegangen worden? werden sollte. Herr Oswald und andere erwecken ja den Eindruck, Wenn man sich heute die Situation ansieht, muss man dass auch die Bundesregierung und die Koalitionsabge- einfach sagen, dass es so ist wie bei fast jedem anderen ordneten – möglicherweise im Fraktionsraum – On Thema: Was Sie machen, machen Sie schlecht! Board Units, selbst zusammenbasteln sollen. Wir schei- (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt nen ja diejenigen zu sein, die es nicht zustande bringen. [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Nein, nicht das Nein, Sie machen das schlecht, was wir ma- auch noch! – Eckart von Klaeden [CDU/ chen!) CSU]: Bitte nicht!) – Ja, natürlich! Was Sie machen, machen Sie schlecht! – Ja, so ähnlich haben Sie das gesagt! Der Minister hat gestern im Ausschuss gesagt: Ich (Ludwig Stiegler [SPD]: Wenn der Oswald weiß nicht, was ich konkret hätte machen können. Genau bauen würde, wären wir in der Steinzeit!) das ist das Problem! Er weiß nicht, was er eigentlich ma- chen müsste. Deswegen sagen wir: Wenn er nicht weiß, – Genau! Deshalb gibt es ja den Vertragspartner, der uns was er machen muss, ist er auf diesem Posten der Fal- die Lieferungen zugesichert hat. Die Mauteinführung sche. Ein Auftragnehmer, wie gut oder wie schlecht er hätte von Anfang an Chefsache im Konsortium sein auch immer ist, hat den Anspruch darauf, dass der Auf- müssen. Im Moment scheinen die Chefs des Konsor- traggeber ihn ernst nimmt, ihn fordert und ihn zum Er- tiums das auch zu erkennen, leider zu spät. gebnis treibt. Einer, der nur dasitzt, zuschaut und nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des weiß, was er tun soll, hat dann auch konkret den Scha- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den zu vertreten, den wir heute haben. Abschließend bleibt für mich festzustellen: Ver- Jetzt nenne ich die Zahlen. Herr Stolpe gibt ja jede tragstreu ist die Bundesregierung, vertragsuntreu ist im Woche, jeden Tag andere Zahlen an. Im Haushalt dieses Moment das Konsortium. Das sollten Sie beachten. Jahres stehen Einnahmen in der Größenordnung von 1 Milliarde Euro durch die Maut. Diese 1 Milliarde wird Als Haushälter erwarte ich selbstverständlich, dass in diesem Jahr nicht fließen. Das heißt, der Finanzminis- der Probebetrieb schnellstmöglich beginnt und wir ter bekommt ein Problem. Weil er dieses Problem hat, schnellstmöglich zu Mauteinnahmen kommen. Schrei- gibt es weniger Geld für Infrastruktur. Weil es weniger ben Sie sich das hinter die Ohren! Geld für Infrastruktur gibt, gibt es in Deutschland mehr (B) (D) Vielen Dank. Staus. Genau das ist das Problem. Das heißt, alles das, was einmal beabsichtigt war, ist bisher total gescheitert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wenn Sie dagegenrechnen, welche Erfassungskosten Jetzt hat der Kollege Dietrich Austermann das Wort. es gibt, heißt das, dass netto mit Sicherheit mindestens 640 Millionen Euro, mit denen wir gerechnet haben, in diesem Jahr fehlen werden. Dietrich Austermann (CDU/CSU): Wenn ich erkenne, dass das Ganze nicht läuft, muss Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege ich doch wenigstens die Vignette weiterlaufen lassen. Weißgerber hat sich zu dem Thema Mauteinnahmen ge- äußert. Ich will gleich die konkreten Zahlen nennen, da- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ mit man genau weiß, was durch Versäumnisse der Indus- DIE GRÜNEN]: Ach, so ist das?) trie und aufgrund mangelnder Aufsicht des Ministers bisher an Schaden entstanden ist. Die litauischen LKW-Fahrer gehen heute noch an die Grenzstation Pomellen und wollen ihre Vignette bezah- Aber zunächst möchte ich daran erinnern, was eigent- len. Dieses Geld geht verloren. Das sind in diesem Jahr lich beabsichtigt war. Es war beabsichtigt, ein Verkehrs- allein 170 Millionen Euro, die Sie bei dieser Geschichte system zu schaffen, das zusätzliche Einnahmen bringen drauflegen müssen. sollte. Damit wollte man mehr in die Verkehrsinfrastruk- tur investieren (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, eben nicht! Die sind (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- verrechnet!) neten der FDP) – Ja, natürlich. Wenn man erkennt, dass die Einführung und eine stärkere Beteiligung insbesondere des ausländi- der Maut nicht klappt, hätte man doch sagen müssen: schen Speditionsgewerbes erreichen. Wir machen ein Gesetz, das aus einem Satz besteht, nämlich: Die Vignette gilt weiter, bis die Maut einge- Natürlich hat man unterstellt, dass dann mehr in Stra- führt ist. Das ist doch eine ganz einfache Geschichte. ßen investiert wird und mehr Staus beseitigt werden kön- nen. Ich erinnere mich noch daran, dass Sie vor drei Jah- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei ren Karten veröffentlicht haben, aus denen hervorging, der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen) 5342 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dietrich Austermann (A) Jetzt brauchen Sie sich nicht weiter aufzuregen. Sie Mit dieser Verniedlichung der bestehenden Probleme (C) sind doch auch nicht zufrieden mit dem Verfahren, mit erwecken Sie bei uns den Eindruck, dass Sie das Pro- der Entwicklung und mit dem totalen Scheitern. Weshalb blem und damit auch die notwendigen Schritte, um das haben denn die Grünen und die Roten im Haushaltsaus- Problem zu verkleinern, nicht erkennen können. Deswe- schuss gefordert, die Verträge offen zu legen? Das haben gen stimme ich der Feststellung des Kollegen Fischers sie doch nicht gefordert, weil sie meinen, dass der Minis- zu. Es tut mir leid, aber Sie sind in Ihrer Position fehl am ter alles richtig macht, sondern weil sie glauben, dass die Platz. Verträge zulasten des deutschen Steuerzahlers gehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Genau das ist auch unsere Sorge, weil nämlich ständig Sie hatten vor einem Jahr festgestellt, dass Sie eigent- Änderungen zur Entlastung der Industrie vorgenommen lich genug getan hätten. wurden, die diese von jedem Druck und jedem Risiko befreien. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie haben ausgeführt, Herr Stolpe: Wir müssen über Herr Kollege! Schadensersatz und Haftung verhandeln; vielleicht kön- nen wir auch das BGB anwenden. Das heißt doch, dass Dietrich Austermann (CDU/CSU): es zu den für jeden Vertrag wichtigen Themen Schadens- Ich bin fast fertig. – Herr Schmidt und Herr Stiegler ersatz und Haftung keine vernünftigen gültigen Regelun- haben Sie so gelobt, als hätten Sie einen zweiten Orden gen gibt. Wer hat denn die Verträge gemacht und was ist verdient. Sie hätten es aber damals dabei belassen sollen. in der Zwischenzeit passiert? Wenn einem der Schwung fehlt, die Dinge zu gestalten, (Beifall bei der CDU/CSU) sollte man abtreten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben gestern im Haushaltsausschuss und auch heute darauf hingewiesen, dass Sie sich am 13. November vergangenen Jahres mit Frau de Palacio Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: getroffen und mit ihr über Harmonisierung – das heißt, Jetzt hat der Abgeordnete Uwe Beckmeyer das Wort. über eine zumindest teilweise Entlastung des deutschen Er ist der letzte Redner in der Aktuellen Stunde. Güterkraftverkehrs – gesprochen haben. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Über Uwe Beckmeyer (SPD): (B) alles! Zum guten Ende über alles!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (D) Herren! Wenn man, wie ich es getan habe, die Beiträge Wir wollten schließlich auch, dass die Ausländer endlich der Opposition heute Mittag verfolgt hat, hat man fest- für das Verhunzen unserer Straßen bezahlen. stellen können, dass es nur um eines geht, nämlich da- Was ist seitdem passiert? Inzwischen sind zehn Mo- rum, diesen Minister zu beschädigen. Sie wollen nur nate vergangen. Sie haben zwar damals darüber gespro- draufhauen. Ihnen geht es nicht darum, eine Sache zu chen, aber dann ist nichts passiert. Was ist das für ein Er- fördern; Sie wollen vielmehr einer Person schaden. Sie gebnis, wenn man zehn Monate lang Minister ist und reduzieren das gesamte Problem auf eine Person. Das ist, sich bis heute nichts bewegt hat? denke ich, völlig unangemessen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert (Ludwig Stiegler [SPD]: Wenn man 16 Jahre Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE regiert und nichts zustande bringt, sollte man GRÜNEN]) jetzt die Klappe halten!) Erstens. Es gibt – das ist durch die Presse seit Mona- Er hoffe, hat er gestern gesagt, dass bis zum Jahresende ten bekannt – Probleme. Aber es handelt sich dabei nicht ein Ergebnis erzielt wird. Davon, wie dieses Ergebnis um ein Personalproblem, sondern um ein Technikpro- aussehen könnte, hat er bis heute keine Vorstellung. blem. Zu den Personen, die den Vertrag unterschrieben Das Problem ist, Herr Stolpe – das ist der eigentliche haben, gehören unter anderem die Herren Mangold und Vorwurf, den man Ihnen machen muss –, dass Sie immer Brauner. Zu diesen Herren haben Sie sich aber heute mit wieder feststellen, dass das Ziel fast erreicht ist und gute keinem Wort geäußert. Fortschritte erzielt werden. Gestern hat er überraschen- Zweitens. Ich halte an dieser Stelle fest, dass wir alles derweise festgestellt, dass er schon immer den Beginn tun müssen, um den Vertragspartner zu veranlassen, die des Mautbetriebs am 1. Januar 2004 befürwortet habe, technischen Schwierigkeiten zu überwinden und sein (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Werk zu vollenden, und zwar zeitnah. DIE GRÜNEN]: Das ist doch nicht überra- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schend! Für Sie ist das überraschend, weil Sie DIE GRÜNEN) so ahnungslos sind!) Drittens. Es ist immer wieder angesprochen worden, dass das System zeitnah eingeführt werde und das finan- dass Rot-Grün eine Chance vertan habe. Weshalb hat zielle Risiko begrenzt sei. Rot-Grün eine Chance vertan, Herr Oswald? In Deutsch- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5343

Uwe Beckmeyer (A) land wird seit 20 Jahren über die Maut gesprochen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) 16 Jahre davon hatten Sie die Regierungsverantwortung. DIE GRÜNEN) Bis auf die Eurovignette – das war ein Selbstläufer – ha- In § 17 steht, dass neun Monate vorher gekündigt wer- ben Sie aber nichts erreicht. den muss. Das können Sie doch nicht einfach außer Acht (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ lassen. DIE GRÜNEN) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Danach kam etwas Schwung in die Angelegenheit. DIE GRÜNEN]: Das ist doch Herrn Wir haben einen Vertrag unterzeichnet und sind jetzt Austermann Wurscht!) – die EU-Kommission hat vor einigen Tagen einen Sie behaupten, dass das, was Sie fabulieren, die Wahr- Richtlinienentwurf vorgelegt, wodurch deutlich wird, heit sei. Nein, das ist falsch. Rot-Grün hat in diesem Fall dass dem satellitengesteuerten System in Europa die Zu- richtig gehandelt. Das gilt auch im Hinblick auf das Ver- kunft gehören soll – technisch auf dem Weg, ein solches tragswerk. System zu entwickeln. Wir werden dieses System in Deutschland einführen, und zwar, wie ich hoffe, zeitnah. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Über die Harmonisierungsbeiträge gibt es ständig Auseinandersetzungen mit Ihnen, Herr Fischer. Der Be- Viertens. Sie fordern Transparenz und weisen darauf schluss des Bundestages und des Bundesrates auf der hin, dass Deutschland Klarheit braucht. Natürlich braucht Grundlage des Ergebnisses im Vermittlungsausschuss Deutschland Klarheit. Wenn aber die relevanten Vertrags- legt fest, dass der Mautsatz vorab – das ist Ihr Vorschlag bestandteile aufgedeckt werden sollen – darauf hat gewesen – im Umfang von 600 Millionen Euro gesenkt Reinhard Weis vorhin zu Recht hingewiesen –, dann werden muss. stimmen Sie im zuständigen Ausschuss dagegen. Ihnen ist es letztlich egal, ob die Öffentlichkeit oder das Parla- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Aber ment den Vertrag einsehen kann. Ihnen geht es doch nur das ist keine Harmonisierung!) darum, in der Bude Qualm und Rauch zu erzeugen, da- Die Maut kann erst erhöht werden, wenn europaweit mit entsprechende Personen beschädigt werden. eine entsprechende Harmonisierung durch Konsultatio- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen erzielt worden ist. Wenn Sie dem deutschen Volk DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ und in diesem Hause erklären, es gebe keinen Harmoni- CSU]: Was meinen Sie denn mit „Bude“?) sierungsbeitrag, dann muss ich sagen, dass das falsch ist. (B) Der entsprechende Harmonisierungsbeitrag ist bereits (D) Ich gebe zu, dass man mit dem, was bisher in techni- per Beschluss dieses Hauses – dem haben Sie zuge- scher Hinsicht abgelaufen ist, überhaupt nicht zufrieden stimmt – umgesetzt worden. sein kann. Bislang haben wir das mit Großmut ertragen. Aber unser Großmut ist nun zu Ende. Wir werden uns (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wissen darum zu bemühen haben, dass auch die finanziellen Sie, was Harmonisierung ist?) Fragen, die Sie, Herr Austermann, angesprochen haben, Ich kann Ihnen die entsprechende Stelle vorlesen: geklärt werden. Es muss geklärt werden, was nun ge- schehen soll, da uns in diesem Jahr 640 Millionen Euro Zur Erreichung dieses Ziels hält es der Deutsche durch den – so muss man es wohl nennen – Vertrags- Bundestag für angemessen, dass der Eingangssatz bruch des Konsortiums drohen abhanden zu kommen. für die LKW-Maut auf zunächst durchschnittlich Auch darum geht es bei der Auseinandersetzung mit Toll 12,4 Cent pro Kilometer festgelegt wird und dass Collect bzw. mit den entsprechenden Firmen, die das dieser Mautsatz je nach Wirksamwerden und nach Konsortium bilden, über das Vertragswerk. Umfang der Maßnahmen, die in den voranstehen- den Punkten aufgeführt sind und die teilweise einer Ich möchte keinen Spott in diese Diskussion hinein- vorherigen Zustimmung der EU-Kommission be- bringen. Man kann sicherlich über das spotten, was dort dürfen, auf das ursprünglich vorgesehene Niveau in technischer Hinsicht abgelaufen ist. Aber es ist unsere der Mautsätze von durchschnittlich 15 Cent festge- Pflicht – Ludwig Stiegler hat das bereits gesagt –, dieses setzt wird. für Deutschland ausgesprochen wichtige technologische Projekt zu befördern und so nach vorne zu bringen, dass (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist es in Zukunft – hoffentlich – ein Exportschlager wird, der Beweis: keine Anhebung, sondern eine von dem wir in Deutschland in arbeitsmarktpolitischer Harmonisierung!) Hinsicht profitieren können. Dass in diesem Zusammenhang konsultiert werden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ muss, wussten sowohl Sie als auch wir. Wir sind nicht DIE GRÜNEN) säumig, sondern es wird verhandelt. Ich finde es unerhört, Herr Austermann, wenn Sie sa- gen, dass man die Eurovignette kurzfristig habe weiter- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: laufen lassen können. Sie haben keine Ahnung von dem Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit schon weit Verbundstaatenvertragswerk bezüglich der Eurovignette. überschritten. Sie können höchstens noch einen halben Null Ahnung! Satz sagen. 5344 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Uwe Beckmeyer (SPD): Flexibilisierung und einen individuellen (C) Liebe Frau Präsidentin, ich bitte um Entschuldigung. – Ausbildungspass Ich komme zum Schluss. Ich habe versucht, darzulegen, – Drucksachen 15/1000, 15/741, 15/653, 15/587, dass man sich nicht wie die Opposition wie Ochsenfrö- 15/1302 – sche aufblasen und kein falsches Zeugnis ablegen darf. Das, was die Opposition gemacht hat, lassen wir ihr Berichterstattung: nicht durchgehen. Abgeordneter Willi Brase Werner Lensing Herzlichen Dank. Grietje Bettin (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Christoph Hartmann (Homburg) DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Quak! Quak!) richts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase, Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Jörg Tauss, , weiterer Abgeordne- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: ter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- ordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion GRÜNEN der CDU/CSU Lasten gerecht verteilen – Mehr Unterneh- Stärkung der dualen Berufsausbildung in men für Ausbildung gewinnen Deutschland durch Novellierung des Berufs- bildungsrechts – zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, – Drucksache 15/1348 – weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Überweisungsvorschlag: CDU/CSU Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung (f) Ausbildungsplatzabgabe zerstört Ausbil- Rechtsausschuss dungsmotivation Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia (B) (D) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), Ulrike richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) der FDP – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- Ausbildung belohnen statt bestrafen – Aus- rung bildungsplätze in Betrieben schaffen statt Warteschleifen finanzieren Berufsbildungsbericht 2003 – Drucksachen 15/1090, 15/925, 15/1130, – zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase, 15/1304 – Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- Berichterstattung: ordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, Abgeordneter Ernst Küchler , weiterer Abgeordneter und Werner Lensing der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Grietje Bettin NEN Cornelia Pieper Offensive für Ausbildung – Modernisierung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für der beruflichen Bildung die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst weiterer Abgeordneter und der Fraktion der die Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn. CDU/CSU Reformen in der beruflichen Bildung voran- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung treiben – Lehrstellenmangel bekämpfen und Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Herren und Damen! Wir debattieren heute über den Be- Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), Ulrike rufsbildungsbericht 2003 und die dazugehörigen An- Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion träge der verschiedenen Fraktionen zur Weiterentwick- der FDP lung der dualen Berufsausbildung. Hinzu kommen die Für die Stärkung der dualen Berufsausbil- verschiedenen Vorschläge zu der Frage, ob wir in unse- dung in Deutschland – mehr Chancen durch rem Land eine neue Finanzierungsregelung brauchen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5345

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) um ein der Nachfrage entsprechendes Ausbildungsplatz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) angebot sicherstellen zu können. Das ist die formale DIE GRÜNEN) Seite dieser Debatte. Das zeigt auf der einen Seite: Es ist etwas geschafft Ich will aber gleich zu Beginn an Folgendes nach- worden; aber es ist nicht genug geschafft worden. Es gab drücklich erinnern: Wir sprechen heute in erster Linie am Ende des Monats August immer noch viel zu viele über Berufs- und Lebenschancen junger Menschen. Wir Jugendliche, die noch keine Lehrstelle gefunden hatten sprechen über annähernd zwei Drittel der Jugendlichen und denen noch kein Ausbildungsplatzangebot vorlag. in unserem Land, für die eine gute, qualifizierte Berufs- Das treibt uns alle miteinander um. Das ist auch einer ausbildung nicht nur der Schlüssel zum Arbeitsmarkt ist, der Gründe, weshalb wir diese Debatte – zu Recht – füh- sondern auch die Basis für soziale Integration und für ren. gesellschaftliche Teilhabe darstellt. Ende August gab es 167 640 Jugendliche, die noch (Beifall bei der SPD) keinen Ausbildungsplatz hatten. Ihnen standen 54 500 unbesetzte Ausbildungsplätze gegenüber. Die so ge- Wir sprechen damit auch über die wirtschaftliche und nannte rechnerische Lücke betrug also 113 000. Das die gesellschaftliche Zukunft unseres Landes, kurz: über liegt jetzt fast einen Monat zurück. In diesen letzten vier unser Land. Eines ist nämlich vollkommen klar: Wenn Wochen – das wissen wir – hat sich noch eine ganze wir in Deutschland den vorhandenen Wohlstand sichern Menge getan. Wir wissen noch nicht, wie die konkrete wollen, wenn wir ihn weiter ausbauen wollen, wenn wir Ausbildungsplatzsituation jetzt aussieht. Nichtsdesto- im Innovationswettbewerb Schritt halten und vorne sein trotz sage ich ausdrücklich: Es gibt keinerlei Anlass, ein wollen, dann brauchen wir dazu vor allem gut ausgebil- Zeichen der Entwarnung zu geben und zu sagen: „Es ist deten Nachwuchs, qualifizierte, engagierte und moti- geschafft“, weil wir nach allen Daten, die uns zur Verfü- vierte Menschen, Fachkräfte genauso wie Ingenieure gung stehen, feststellen müssen, dass rund 35 000 weni- und Naturwissenschaftler. ger Ausbildungsplätze als im vergangenen Jahr vorhan- den sind. Das ist das, was mir jedenfalls wirklich ganz Die Bundesregierung hat deshalb bereits zu Beginn große Sorge macht. Wir können es nicht zulassen – das des Jahres alle Verantwortlichen zusammengerufen, um sage ich noch einmal ausdrücklich, auch für die Bundes- mit ihnen gemeinsam zu beratschlagen, wie wir in die- regierung, und, ich denke, für den Bundestag –, dass sem Jahr sicherstellen können, dass alle Jugendlichen 50 000, 60 000 Jugendliche vor dem Nichts stehen, eine Chance erhalten, sozusagen den Schlüssel zu einem erfolgreichen Berufsleben in die Hand zu bekommen; (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ denn wir wussten seit dem letzten Winter, dass wir in DIE GRÜNEN) (B) (D) diesem Jahr – im Gegensatz zu den vorherigen Jahren – die nämlich keine berufliche Ausbildung haben und da- eine extrem schwierige Situation vorfinden. mit nicht den Schlüssel zu einem erfolgreichen Berufsle- Wir haben bereits Ende April gemeinsam mit den So- ben in der Hand haben. Das ist nicht verantwortbar. zialpartnern, mit Arbeitgebern und Gewerkschaften, die Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir Ausbildungsoffensive 2003 gestartet und eine ganze alles dafür tun, dass das Blatt noch gewendet wird. Wenn Reihe von Maßnahmen durchgeführt, um mehr Betriebe das Blatt noch gewendet werden soll, dann müssen vor für berufliche Ausbildung zu gewinnen. Wir beteiligen allem die Unternehmen und die Betriebe zu einem au- uns mit rund 95 Millionen Euro an der Finanzierung von ßerordentlichen Engagement bereit sein. Ich weiß, circa 14 000 betriebsnahen Ausbildungsplätzen in den dass viele Unternehmen in den vergangenen Monaten neuen Bundesländern, weil die dortige Ausbildungssitu- eine Menge getan haben, aber es sind noch nicht genug. ation nach wie vor sehr schwierig ist. Wir fördern Ju- Es sind noch nicht genug Unternehmen beteiligt und es gendliche mit schlechten schulischen Voraussetzungen gibt auch noch nicht genug Ausbildungsplätze in den – Jugendliche ohne Hauptschulabschluss, Jugendliche einzelnen Betrieben. mit einem schlechten Hauptschulabschluss –, damit auch sie die Voraussetzungen dafür erhalten, erfolgreich ins Eines steht außer Frage: Der Staat tut eine ganze Berufsleben zu starten. Menge. Zu nennen sind die Programme, die ich aufge- zählt habe, die umfangreiche Unterstützung, die wir zum Wir unterstützen die Kammern, Industrie- und Han- Beispiel benachteiligten Jugendlichen geben, die schuli- delskammern sowie Handwerkskammern, durch den schen Angebote, die wir Jugendlichen machen. Der Staat Einsatz von Ausbildungsplatzentwicklern. Wir lassen tut eine ganze Menge, aber der Staat kann nicht alles die Betriebe mit ihren Anstrengungen und Aufgaben leisten. nicht allein; wir unterstützen sie, und zwar nicht nur bei der Suche und bei der Einstellung von Auszubildenden, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sondern auch im gesamten Zeitraum der Ausbildung. DIE GRÜNEN) Wir können im Grunde nicht ausbilden. Wir tun es in Wir haben die Ausbilder-Eignungsverordnung außer den Ministerien, wir tun es in den Behörden, wir unter- Kraft gesetzt und damit vielen Betrieben, die bereit und stützen auch die Betriebe, aber wir können nicht in gro- auch in der Lage sind, auszubilden, den Zugang zur Aus- ßem Maßstab ausbilden. bildung ermöglicht. Mit all diesen Anstrengungen ist es uns gelungen, allein in den letzten Monaten circa 12 000 (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Wie viel bildet zusätzliche Ausbildungsstellen zu gewinnen. denn das Kanzleramt aus?) 5346 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Wir brauchen die Wirtschaft und wir brauchen die ten wollen – ich will das –, dann müssen die Betriebe (C) Betriebe, die zu ihrem eigenen Vorteil gut ausbilden mitmachen. müssen und für gut ausgebildete Arbeitskräfte sorgen müssen. Arbeitgeber und Gewerkschaften in der Chemiebran- che und in der niedersächsischen Metallindustrie haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vorbildlich vorgemacht, wie man die Probleme über Ta- DIE GRÜNEN) rifverträge und freiwillige Initiativen lösen kann. Ausbildung ist eine lohnende Investition in die Zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kunft. Sie rechnet sich für die Unternehmen, übrigens DIE GRÜNEN) auch dann, wenn man es streng betriebswirtschaftlich betrachtet. Es ist in der Regel teurer, Fachkräfte über den Ich hätte mir gewünscht, dass in den vergangenen Mona- Arbeitsmarkt zu gewinnen, als den Fachkräftenach- ten alle Branchen in allen Regionen diese Chance ergrif- wuchs selbst auszubilden. Wer nicht ausbildet, schadet fen hätten. also nicht nur der gesamten Branche, sondern er schadet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch seinem eigenen Unternehmen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich verstehe es nicht – das sage ich ausdrücklich an DIE GRÜNEN) die Adresse der Tarifpartner – und halte es auch nicht für Das müsste doch letztlich jeder begreifen können. akzeptabel, dass nicht alle Tarifpartner nicht genau die- sen Weg gegangen sind. Für die Stabilität und damit auch für den dauerhaften Erfolg in der beruflichen Ausbildung ist es unverzicht- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des bar, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten aus- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gebildet wird. Ausbildung darf nicht konjunkturabhän- gig sein. Wir hätten ihnen dafür alle Unterstützung gegeben. Das tun wir nach wie vor, aber die Tarifpartner stehen ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nauso wie wir in der Verantwortung. Daran werde ich DIE GRÜNEN) auch nicht rütteln lassen. Wenn sie es ist, funktioniert das System der dualen Aus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bildung nicht mehr, weil es nämlich von der Kontinuität, DIE GRÜNEN) von der Verlässlichkeit abhängt. Eine gesetzliche Regelung – ich sage das ausdrücklich – (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Machen (B) ist das letzte Mittel; dieses Mittel erübrigt sich im Übri- (D) Sie eine vernünftige Konjunkturpolitik, Frau gen, wenn die Tarifvertragsparteien in der Wirtschaft ih- Bulmahn, und dann löst sich das Problem von rer Ausbildungsverantwortung nachkommen und ihre allein!) eigene Zukunftssicherung nun endlich auch energisch Genau das tun wir. In unseren staatlichen Programmen vorantreiben. bieten wir genau das an, aber auch Unternehmen und Betriebe müssen das gewährleisten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundes- regierung stellt wie in den vergangenen Jahren auch Wenn alle Unternehmen und Betriebe diese Aufgabe künftig erhebliche Haushaltsmittel bereit, um allen jun- wirklich als ihre wichtigste Aufgabe begreifen und ernst gen Menschen eine Chance auf Ausbildung zu geben. nehmen würden, so wie das viele, gerade kleine und mitt- Wir werden die in der vergangenen Legislaturperiode lere Unternehmen in unserem Land, tun – die will ich aus- begonnenen Reformen zur Weiterentwicklung der beruf- drücklich loben und ihnen ausdrücklich Dank lichen Aus- und Weiterbildung mit Nachdruck vorantrei- aussprechen –, dann hätten wir in Deutschland kein Aus- ben. Die Anträge der Oppositionsfraktionen bieten hier bildungsplatzproblem, dann hätten wir genügend Ausbil- leider nicht viel Neues: Sie legen entweder umfangrei- dungsplätze, dann hätte die Branche und auch jedes Un- che Forderungskataloge vor, ohne zur Kenntnis zu neh- ternehmen die Sicherheit, über qualifizierten Nachwuchs men, dass die Bundesregierung auf all diesen Feldern zu verfügen, damit hätten auch alle Jugendlichen die Aus- längst gehandelt hat – ein Beispiel ist die Lockerung bildungschance, die sie brauchen. Aber das tun nicht alle. bzw. Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung –, 500 000 Betriebe, die ausbilden könnten, tun es nicht. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wir haben (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Warum? – nicht die Aussetzung, sondern die Lockerung Michael Kretschmer [CDU/CSU]: 40 000 gefordert! Das ist ein großer Unterschied!) Pleite gegangene Betriebe bilden auch nicht mehr aus!) oder Sie schütten gleich das Kind mit dem Bade aus – das ist auch nicht besonders hilfreich –, indem Sie die totale Das ist nicht akzeptabel. Das ist nicht hinnehmbar. Auch Modularisierung der dualen Berufsausbildung vorschla- diese Unternehmen müssen ihren Anteil leisten. gen. Damit würden Sie zugleich das Berufskonzept auf- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geben. Das alles führt nicht zu einer Verbesserung des DIE GRÜNEN) dualen Systems. Wenn wir das System der dualen Ausbildung, das davon (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lebt, dass Unternehmen und Betriebe mitmachen, erhal- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5347

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Deshalb sage ich ausdrücklich: Die Bundesregierung Wirtschaftskrise in unserem Land herauskommen. Sie (C) setzt auf moderne, zukunftsfähige Berufe, auf neue Qua- kennen die Zahlen; ich brauche sie nicht extra zu erwäh- lifikationsmöglichkeiten und Flexibilität. Wir haben in- nen: 559 000 junge Menschen unter 25 Jahren sind noch zwischen über die Hälfte der gängigen Berufe moderni- immer arbeitslos gemeldet. Ich rede gar nicht über die siert und dabei insbesondere im wachsenden 70 000, die sich in Maßnahmen des JUMP-Programms Dienstleistungssektor neue Berufe geschaffen. Wir wer- befinden und so aus der Statistik herausgefallen sind. den genau diese Politik fortsetzen. Wir wollen eine ex- Frau Bulmahn hat eben angesprochen, dass wir noch im- zellente berufliche Ausbildung, wir wollen die notwen- mer eine sehr große Lehrstellenlücke haben. Wir hof- dige Flexibilität sicherstellen und zugleich das fen, dass wir sie verkleinern können, aber die Lücke ist Berufskonzept erhalten. Darüber befinden wir uns in in- immerhin um 45 Prozent größer als die im letzten Jahr. tensiven Gesprächen mit den Sozialpartnern, mit Wis- Hier müssen wir eine Trendwende zu mehr Lehrstellen senschaftlern, mit Ländervertretern, mit Experten und und mehr Jobs hinbekommen, sonst schaffen wir sozia- natürlich auch mit den Abgeordneten in den Ausschüs- len Sprengstoff, der unsere Zukunft bedroht. sen; diesen Austausch werden wir auch fortsetzen. In dieser Situation geht es nicht immer nur um irgend- Vielen Dank. welche Korrekturen. Es geht hier wirklich um klare (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Richtungsentscheidungen. Wohin wollen wir gehen? DIE GRÜNEN) Auf der einen Seite plädieren Sie für staatlichen Dirigis- mus. Sie hoffen wirklich, damit etwas zu bewirken, wo Sie nichts bewirken werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dagmar Wöhrl. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Auf der anderen Seite stehen wir von der Union für mehr Freiheit, mehr Verantwortung und Vertrauen in die Leis- tungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des Einzelnen. Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Es ist bezeichnend für Ihre Denkweise. Bei Ihnen gibt gen! Wir wollen es immer wieder die eine Überschrift: Verteilung. Aber es geht nicht um gerechte Lastenverteilung, wie Sie sie die wirtschaftliche Position unseres Landes im glo- in Ihrem Antrag fordern, sondern es geht um die Schaf- balen Wettbewerb stärken, neue Arbeitsplätze fung von mehr Ausbildungsplätzen und mehr Jobs insge- schaffen und unseren Lebensstandard sichern und samt. Für mich ist es unbegreiflich, dass Sie kleine und (B) ausbauen. mittlere Betriebe, die zwei Drittel aller Ausbildungs- (D) (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) plätze stellen und nicht in der Lage sind, noch mehr Aus- bildungsplätze zu schaffen, zusätzlich mit einer Ausbil- So lautete der erste Satz im Bildungskapitel Ihres Koali- dungsplatzabgabe bestrafen wollen. tionsvertrags. Das ist einwandfrei, hervorragend; da kön- nen wir alle zustimmen, auch wir von der Union. (Jörg Tauss [SPD]: Nein! Das ist doch albern!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn der Mittelstand nicht weitere Ausbildungs- sowie bei Abgeordneten der SPD) plätze zur Verfügung stellen kann, müssen Sie doch ein- mal fragen: Warum kann er das nicht? Das liegt doch Dieser Satz stammte allerdings nicht von Rot-Grün, auch an den Rahmenbedingungen, die Sie schaffen, an wenn nicht sofort wieder ein Aber nachgeschoben den steigenden Abgaben, den steigenden Steuern, dem würde, dort fordern Sie nämlich die Bundesregierung Zuwachs an Bürokratie. auf – ich zitiere –: (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Genau so für den Fall, dass die Wirtschaft nicht in der Lage ist das! 40 000 Unternehmenspleiten, Herr ist, für das … ausreichende Angebot an qualifizier- Tauss!) ten Nachwuchskräften … zu sorgen …, umgehend eine gesetzliche Regelung vorzulegen, die darauf Deswegen müssen staatliche Zwangsmaßnahmen abge- zielt, Lasten gerecht zu verteilen. baut werden, statt neue zu schaffen, wie Sie es vorschla- So lautet Ihre Forderung in dem Antrag zur heutigen De- gen. batte. Vor allem brauchen wir ein erstklassiges Bildungs- (Zurufe von der SPD) system. Dem können wir nicht zustimmen. Das werden Sie auch (Jörg Tauss [SPD]: Der Bayern-Wahlkampf ist verstehen; es ist nämlich ein wirtschaftspolitischer Irr- vorbei!) witz, den Sie hier auf den Weg bringen. Warum investieren denn die Unternehmen nicht mehr? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Warum stellen sie keine neuen Mitarbeiter mehr ein? Warum werden keine neuen Lehrstellen mehr geschaf- Liebe Kollegen, Sie haben mit dieser Forderung ge- fen? zeigt, dass Sie immer noch nicht verstanden haben, wo- hin die Reise gehen muss, damit wir endlich aus der (Jörg Tauss [SPD]: Weil ihr blockiert!) 5348 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dagmar Wöhrl (A) Die Antwort ist einfach und einleuchtend – das wissen gebildete Mitarbeiter haben; denn nur so werden wir zu- (C) auch Sie –: Eingestellt wird nur, wenn es sich lohnt und künftig in der Lage sein, hohe Löhne zu finanzieren, wenn geeignete Bewerber vorhanden sind. Das sind die beiden entscheidenden Kernvoraussetzungen, die aber (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut! Jetzt kommen von Ihnen und in Deutschland leider immer weniger er- wir zu den Konsequenzen!) füllt werden. unseren Lebensstandard zu erhalten, Herr Kollege, und Nur rund ein Drittel aller deutschen Unternehmen die Mittel für einen Sozialstaat zu erwirtschaften. Wir macht in diesem Jahr überhaupt noch Gewinne, ein Drit- alle haben doch ein gemeinsames Ziel: Wir wollen wett- tel wird mit plus/minus null aus dem Geschäftsjahr ge- bewerbsfähig sein, auch international. Dafür müssen wir hen und ein Drittel tiefrote Zahlen schreiben. Auf die nicht nur gut sein, sondern dafür brauchen wir exzellent 40 000 Insolvenzen, die die Statistik ausweist, will ich qualifizierte Beschäftigte, die wir selbst ausbilden, aber jetzt gar nicht näher eingehen. Die volkswirtschaftlichen auch anlocken. Verluste gehen in die Milliarden. Das wirkt sich natür- Wie schaut es momentan aus? Früher kamen die Bes- lich auch auf den Arbeitsmarkt und den Ausbildungs- ten der Besten in unser Land. Heute verlassen jährlich markt aus. 100 000 Topleute unser Land. Der neue Bericht der EU- Sie kennen doch die Zahlen aus Nürnberg: Im Ver- Kommission spricht hier eine klare Sprache. Jeder siebte gleich zum Juli des letzten Jahres waren es im Juli dieses in Deutschland promovierte Nachwuchswissenschaftler Jahres 622 000 Beschäftigte weniger. Das bedeutet nicht wird inzwischen von den USA abgeworben. Dieser nur 622 000 Einzelschicksale, sondern auch 622 000 Braindrain, diese Abwanderung der Köpfe, findet ganz Beitragszahler weniger und 622 000 Steuerzahler weni- leise, still und heimlich statt und ist hochgefährlich. ger. Gleichzeitig steigen die Arbeitslosenzahlen. 10 Prozent unserer Schulabgänger schaffen nicht einmal einen Elementarabschluss. Wie geht es nun mit dem Bildungssystem in unserem Land weiter? Wir müssen unser Bildungssystem zukünf- (Jörg Tauss [SPD]: Die meisten in Bayern!) tig grundlegend verbessern und uns dabei den neuen He- rausforderungen anpassen. Noch nie zuvor waren die OECD-Durchschnitt: 6 Prozent. Die Folge dieser Kata- Faktoren Wissen und Humankapital so essenziell für den strophe sind immer mehr junge Menschen ohne Qualifi- ökonomischen Erfolg wie heute. kation, ohne Job. Mehr als zwei Drittel aller jungen Arbeitslosen haben nicht einmal einen Hauptschulab- schluss. Aber statt hier anzupacken und diese Misere zu Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: beenden, werden inzwischen 40 Prozent mehr für die (B) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Arbeitslosen als für Investitionen in die Schulen ausge- (D) geben. Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Dieser Abwärtstrend zeigt sich auch an den Hoch- Ja, bitte. schulen. Auch Sie wissen: Jeder vierte Student verlässt heute ohne ein Examen die Universität. Noch viel Jürgen Koppelin (FDP): schlimmer ist es bei den Geistes- und Sprachwissen- schaften: Es scheitern vier von zehn Kandidaten. Uns ist Frau Kollegin, da wir uns einig sind, dass das ein doch in den letzten Wochen von der OECD ins Stamm- wichtiges Thema ist: Wie beurteilen Sie die Tatsache, buch geschrieben worden, dass unsere Investitionen im dass das Wirtschaftsministerium auf der Regierungsbank Bildungsbereich viel niedriger sind als in anderen Län- heute nicht vertreten ist? dern. Es ist doch besorgniserregend, wenn wir unsere (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Die haben Bildungsausgaben senken und weniger als andere Län- damit nichts zu tun!) der investieren. (Nicolette Kressl [SPD]: Was? – Jörg Tauss Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): [SPD]: Den Bund meinen Sie jetzt nicht!) Ich denke, dadurch wird das geringe Interesse des Es geht nicht nur um den finanziellen Aspekt, sondern Wirtschaftsministeriums an diesem Thema deutlich. auch um unser gesellschaftliches Klima. Liebe Kollegin- (Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär, auf nen und Kollegen der Regierungfraktionen, Sie setzen der Regierungsbank Platz nehmend: Ich permanent auf Neid. Sie bringen immer wieder neue musste mal! – Heiterkeit) Steuern und Abgaben für Vermögende ins Spiel. Warum fördern Sie nicht ganz gezielt Eliten? Das sind doch ge- – Ich begrüße ganz herzlich den Staatssekretär, Herrn rade unsere besten und hellsten Köpfe. Wir müssen end- Staffelt. Nun können wir, glaube ich, im Thema fortfah- lich weg von dem Negativmix aus harten und weichen ren. Faktoren, der uns immer wieder nach unten gebracht hat. Deshalb ist eine Diskussion um eine Zwangsabgabe, um Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben ange- immer mehr staatlichen Einfluss, Bürokratie und Ver- sprochen, wie wichtig die Faktoren Wissen und Hu- waltung Gift. mankapital gerade für den ökonomischen Erfolg sind. Es ist im Sinne einer hohen Arbeitsproduktivität immens Es gibt viele Argumente gegen die Ausbildungs- wichtig für unsere Zukunft, dass wir hervorragend aus- platzabgabe. Ich will nur einige davon nennen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5349

Dagmar Wöhrl (A) Erstens: Mehrkosten, die die Unternehmen sich nicht (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (C) mehr leisten können. Sie können nicht mit noch mehr DIE GRÜNEN und der SPD – Uwe Schummer Kosten belastet werden. [CDU/CSU]: Aber er kann einen Beitrag leisten!) (Nicolette Kessl [SPD]: Müssen sie auch Was ist das für ein Denkmodell, dem Sie hier unterlie- nicht! Sie können ja ausbilden!) gen? Der Staat hat das Risiko und die Wirtschaft macht den Gewinn – oder was? Wir sind mit unseren Arbeitskosten schon jetzt Welt- meister. Sie sollten sich der Realität nicht verschließen. Sie sollten sich dem Populismus der Wirtschaft nicht beu- Zweitens: unproduktive Verwaltungskosten aufgrund gen. Das ist zu billig und liegt nicht im Interesse der jun- der Ausbildungsplatzabgabe, die das Institut für Wirt- gen Menschen in unserem Land. schaft auf 700 Millionen Euro schätzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Lachen bei Abgeordneten der SPD) und bei der SPD) Die Abgabe führt zu Mehrarbeit, aber nur auf Beamten- Alle Jahre wieder gibt es das gleiche Bild: Jeden ebene und nicht im Bereich der Unternehmer. Sommer warnen die Arbeitsämter vor fehlenden Lehr- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Genau so stellen, rufen Gewerkschaften sowie Politikerinnen und ist es!) Politiker die Betriebe auf, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. In diesem Jahr ist die Lage besonders trist. Drittens. Die Eignung der Bewerber wird vollkom- Schon seit April erinnern wir die Arbeitgeber an ihre men außer Acht gelassen. Pflicht, Ausbildungsplätze zu schaffen und somit genü- Es wird außer Acht gelassen, dass die Unternehmen gend Lehrstellen für die jungen Menschen in unserem vollständig verschiedene Anforderungen stellen. Viele Land bereitzustellen. Wir haben eine Frist gesetzt: Falls hoch spezialisierte Unternehmen brauchen weniger es bis zum 30. September dieses Jahres auf freiwilliger Facharbeiter, dafür mehr Akademiker. Sie bieten daher Basis nicht genügend Lehrstellen gibt, wird der Gesetz- Praktika, aber keine Lehrstellen an. Das kostet, wird al- geber handeln, um endlich ein konjunkturunabhängi- lerdings nicht honoriert. ges Ausbildungsmodell für Deutschland zu entwickeln. Ihre Politik trimmt die Mentalität unserer Gesell- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaft auf Staatswirtschaft. und bei der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: So ist es, und so wird es Selbst wenn sich bis zum Ende dieses Monats heraus- stellen sollte – das hoffen wir alle –, dass kein Jugendli- (B) auch bleiben! Sozialismus!) (D) cher ohne Lehrstelle bleibt, so gilt doch: Es kann nicht Das lässt sich nicht leugnen. Die Ausbildungsplatzab- sein, dass fast die Hälfte der Schulabgängerinnen und gabe, die Sie planen, ist volkswirtschaftlich total schäd- Schulabgänger monatelang in Unsicherheit lebt, ob und lich und ein ordnungspolitischer Quatsch. Das wissen wo sie einen Ausbildungsplatz bekommt. Über eine auch Sie. Freiheit bei der Berufswahl brauchen wir erst gar nicht (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss (SPD): zu reden. Hohe Abbrecherquoten sind schon vorpro- Achtung! Der Sozialismus kommt über uns!) grammiert. Sie bringen hier ein gigantisches Ablenkungsmanöver Wir müssen die Ausbildung der jungen Menschen un- auf den Weg, um vom Versagen Ihrer Politik abzulen- abhängig von konjunkturellen Unwägbarkeiten sichern. ken. Wir brauchen keine neue Strafsteuer. Grundsätzlich sind die Betriebe, ist die Wirtschaft in der Pflicht, genügend Lehrstellen in Deutschland zu schaf- (Zuruf von der SPD: Die Unternehmen sollen fen. Dieser Aufgabe kommen sie Jahr für Jahr immer einstellen!) weniger nach. Bund und Länder tragen hingegen immer Wir brauchen Unterstützung für junge, kreative Men- stärker die Kosten für Maßnahmen der beruflichen Qua- schen. Vor allem brauchen wir Motivation. Die geben lifikation. Sie ihnen leider nicht. Mit unserem grünen Modell der „Stiftung betriebli- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der che Bildungschance“ wollen wir diesen Trend stoppen. SPD: Sie aber! Mit Ihrer Rede!) Die Idee der Stiftung ist: Wir wollen die ausbildenden Firmen finanziell unterstützen. Jeder Ausbildungsbetrieb bekommt pro Lehrling die Nettokosten einer Lehrstelle Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: aus den Mitteln der Stiftung erstattet. Von allen ausbil- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin. dungsfähigen Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten erheben wir eine Umlage in gleicher Höhe. Wer also Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mehr ausbildet als erforderlich, bekommt demzufolge auch mehr aus der Stiftung heraus, als er eingezahlt hat. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Liebe Frau Wöhrl, der Staat kann in unserer Ge- Einige von Ihnen befürchten, die Unternehmen könn- sellschaft nicht für alles die Verantwortung tragen. ten sich bei einem solchen Modell, ohne mit der Wimper Schon gar nicht kann er qualifizierte Fachkräfte selbst zu zucken, freikaufen. Ich frage Sie: Was passiert denn ausbilden. momentan mit den Ausbildungsverweigerern unter den 5350 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Grietje Bettin (A) Unternehmen? – Es passiert nichts. Gerade die großen beruflichen Bildung doch nicht ernsthaft fordern, dass (C) Konzerne drücken sich vor ihrer gesellschaftlichen Ver- gerade die Auszubildenden auf Teile ihres Einkommens pflichtung zur Ausbildung, ohne auch nur 1 Cent zu zah- verzichten, damit die Wirtschaft wieder ihrer Ausbil- len. Als Dank werben sie dann auch noch dem Mittel- dungspflicht nachkommt. stand die ausgebildeten Fachkräfte ab. Wenn sich jedoch unser Stiftungsmodell durchsetzen sollte, müssen Aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bildungsmuffel unter den Konzernen zumindest Lehr- und bei der SPD) stellen in anderen Betrieben finanzieren. Sie können sich Wenn Ihre Pläne Wahrheit werden, bildet die Wirt- dann nicht mehr so billig ihrer Ausbildungspflicht ent- schaft bald nur noch aus, wenn es wieder Zugeständnisse ziehen. zulasten der jungen Menschen gibt. Eine lustige Logik, Frau Kollegin Wöhrl, Sie behaupten, allein die wirt- die Sie von der CDU/CSU da haben: Irgendwann wer- schaftliche Lage sei daran schuld, dass sich die Wirt- den Ausbildungsplätze unter den jungen Menschen ver- schaft die Ausbildung nicht mehr leisten könne. steigert oder wie soll das funktionieren? (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stimmt ja auch!) sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Oje, Frau Bettin! Ich halte das für ein sehr oberflächliches Argument. Kommen Sie in der Wirklichkeit an!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genauso verfehlt ist Ihre Forderung, die Gelder aus und bei der SPD) dem JUMP-Programm für die Senkung der Lohnneben- Denn schon jetzt ist der Fachkräftemangel ein Faktor kosten zu nutzen. Sie finanzieren auf Kosten der Jungen der derzeit schlechten Wirtschaftslage. Wenn Betriebe die veralteten Strukturen, deren Reform Sie in Ihrer Re- Aufträge nicht annehmen können, weil ihnen die hoch gierungszeit verschlafen haben. qualifizierten Fachkräfte fehlen, dann ist das ein hausge- (Nicolette Kressl [SPD]: Und jetzt blockie- machtes Problem der Wirtschaft. ren!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es kann uns aber nicht nur um die bloße Sicherung ei- und bei der SPD) ner ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen gehen. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat Wir müssen uns auch um die Qualität der Ausbildung mittlerweile die Zeichen der Zeit erkannt und eine Aus- und die Sicherung einer individuellen Berufsberatung bildungsoffensive gestartet. In einer Umfrage Anfang bemühen. Eine flexiblere Ausbildungsstruktur ist not- (B) September gaben die regionalen Kammern in einigen wendig. Der Arbeitsmarkt wandelt sich, und zwar nicht (D) Regionen bis zu 10 Prozent weniger Ausbildungsver- zuletzt durch die zunehmende Internationalisierung und träge als im Vorjahr an. Auch in den angeblich wirt- die steigende Geschwindigkeit der technischen Entwick- schaftlich so starken Regionen wie Baden-Württemberg lung. oder Bayern wird derzeit mit einem Minus von 5 Prozent Darauf muss unser Ausbildungssystem schnell rea- bei den Lehrstellen gerechnet. gieren können, ohne aber kurzfristigen Trends zu erlie- Dabei sind Investitionen in die Ausbildung von Ar- gen. Unternehmen brauchen individuell qualifizierte beitskräften nicht nur gesellschaftlich dringend erforder- Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit spezifischen Fä- lich; sie lohnen sich auch für die Betriebe. Es ist kurz- higkeiten. Diese müssen aber gleichzeitig auf einen sichtig von den Unternehmen, sich aus der betrieblichen Grundstock allgemeiner Fähigkeiten bauen können, um Ausbildung zurückzuziehen und andere Betriebe und sich auch in andere Betriebe oder Bereiche schnell einar- immer stärker den Staat die Lasten der beruflichen Aus- beiten zu können. bildung tragen zu lassen. Ein besonders schlimmes Bei- Diese Flexibilisierung muss nach unserer Vorstellung spiel bietet die Telekom. Im kommenden Jahr reduziert auch denjenigen nützen, die derzeit besondere Schwie- sie die Zahl ihrer Auszubildenden von 4 000 Lehrlingen rigkeiten auf dem Ausbildungsmarkt haben. Gerade be- auf zwei einsame Auszubildende. Ein solches Verhalten nachteiligten jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten ist aus meiner Sicht sowohl gesellschaftlich als auch wollen wir mit Qualifizierungsbausteinen bessere Chan- wirtschaftspolitisch absolut unverantwortlich. cen bieten. Eine Modularisierung darf es aber nur unter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Beibehaltung voller Berufsbilder geben. Berufe min- und bei der SPD) derer Qualifikation sind keine Antwort auf steigende Anforderungen. Flexibel sollten wir in Art und Dauer In Zukunft wird ein solches Konzept nicht mehr der Ausbildung sein, nicht aber in unseren Ansprüchen aufgehen. Entweder die Unternehmen bieten Ausbil- an Qualität. dungsplätze an oder sie werden Lehrstellen in anderen Betrieben bezahlen. Dann werden sich auch die Lehr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellenverweigerer unter den Betrieben wieder auf den sowie bei Abgeordneten der SPD) Nutzen einer eigenen Ausbildung besinnen. Hierin, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Nun zu den vorliegenden Anträgen, die wir seit eini- sehe ich die Schwachstelle Ihres Antrages. In ihm wird ger Zeit im Haus diskutieren. Liebe Kolleginnen und keine Antwort auf die entscheidende Frage gegeben, wie Kollegen von der Union, Sie können in Ihrem Antrag zur mit Bausteinen vollständige, qualitativ hochwertige Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5351

Grietje Bettin (A) Ausbildungen gesichert werden können. Die völlige Ge- Ein funktionierendes Bildungssystem ist ein weiterer (C) staltungsfreiheit der Betriebe, wie Sie sie fordern, ist ein Punkt, der nötig wäre, um Ausbildung zu sichern. Hier absoluter Irrweg. Die große Gefahr ist dann, dass junge ist die Situation nicht besser: Die Hauptschule verkommt Menschen unter dem Etikett einer Ausbildung nur noch immer mehr zur Restschule. Unsere Lehrer brauchen für die Bedürfnisse eines einzelnen Betriebes angelernt mehr pädagogisches Wissen, um jeden entsprechend sei- werden. nen Fähigkeiten individuell zu fördern. Die Ganztags- schulen in diesem Land verwahren viel zu häufig, statt Wir müssen den jährlichen Hype um den Ausbil- zu bilden. All das sind die Ursachen dafür, dass dungsplatz mit einem dauerhaft wirksamen Instrumenta- 15 Prozent eines Altersjahrgangs überhaupt nicht ausbil- rium endgültig beenden. Unser Stiftungsmodell ist hier dungsfähig sind, weil ihnen elementare Grundkenntnisse ein gangbarer Weg. Wir müssen das duale System mit fehlen. Viele Betriebe finden keine geeigneten Bewer- der Reform des Berufsbildungsgesetzes fit für die Zu- ber. Es kann aber nicht sein, dass die Betriebe das aus- kunft machen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe, da- löffeln müssen, was ihnen andere eingebrockt haben. mit wir Tausenden junger Menschen in diesem Land ei- nen Weg in eine hoffnungsvolle berufliche Zukunft (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Was ermöglichen können. machen wir mit den Jugendlichen?) Vielen Dank. Die Instrumente, die die Bundesregierung zur Be- kämpfung der Misere einsetzt, sind allesamt untauglich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beginnen wir mit den Ausbildungsplatzentwicklern, und bei der SPD) die bei ihrer Einführung nach der Wende sehr wichtig ge- wesen sind, um den Betrieben in den neuen Bundeslän- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dern ein Stück weit unter die Arme zu greifen und sie in Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph das neue System zu integrieren. Heute jedoch benutzen Hartmann. Sie dieses System als Verkaufsargument. Es geht hier aber nicht um eine bessere Verkaufsmöglichkeit oder eine schönere Verpackung, sondern es geht um den In- Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): halt. Der Inhalt muss besser werden im Sinne einer bes- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und seren Wirtschaftspolitik und nicht, indem Sie versuchen, Herren! Das Ausbildungsjahr hat begonnen, aber nicht Ihre verfehlte Wirtschaftspolitik besser zu verkaufen. für jeden, der ausbildungswillig und ausbildungsfähig ist. Gerhard Schröder hat im April 1998 angesichts einer (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bilanz von 466 000 jugendlichen Arbeitslosen davon ge- der CDU/CSU) (B) (D) sprochen, dass das die Herzlosigkeit von Schwarz-Gelb Dazu kommt JUMP plus: Die Bundesregierung sei. In diesem April hatten wir 520 000 jugendliche Ar- nimmt 200 Millionen Euro in die Hand, um langzeitar- beitslose, also 12 Prozent mehr. Wenn das damals eine beitslosen Jugendlichen eine Beschäftigung zu verschaf- schwarz-gelbe Herzlosigkeit war, dann ist das, was im fen. Leider finanzieren Sie damit häufig Warteschleifen, Moment in diesem Land passiert, rot-grüne Grausam- die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder gleich in die keit. Arbeitslosigkeit führen. JUMP plus hilft nur wenigen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) jungen Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt, in den sie wirklich hineingehören. Das ist eine Bilanz, die Sie zu verantworten haben. Auch für die Ursachen sind Sie verantwortlich. Das ist Als Höhepunkt der ganzen Geschichte drohen Sie mit die Quittung für eine vollkommen verfehlte Wirtschafts- der Ausbildungsplatzabgabe. Bei den Grünen nennt politik in den letzten fünf Jahren. Die Abgabenquote und sich das Ganze Stiftungsmodell. Dieses Stiftungsmodell die Steuerlast sinken nicht. Die Wirtschaft stagniert im bedeutet eine Erhöhung der Lohnnebenkosten, also ge- dritten Quartal hintereinander. Der Internationale Wäh- nau das, was wir in Deutschland nicht brauchen. rungsfonds sagt deutlich: Deutschland ist zur Wachs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tumsbremse in der Welt geworden. Im letzten Jahr hatten der CDU/CSU) wir 37 000 Insolvenzen; in diesem Jahr sind es 40 000. Allein diese Pleiten kosten bei einer angenommenen Frau Kollegin Bettin, ich sage Ihnen ganz offen – denn Ausbildungsquote von 5 Prozent die Zahl an Ausbil- das ist bei Ihren Worten vorhin ganz deutlich geworden –: dungsplätzen, die fehlen. Dahinter steht die Denke von Rot-Grün. Sie heißt: Ist die Wirtschaft nicht artig, dann wird sie bestraft – wie böse (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kinder. In dieser Art und Weise kann die Bundesregie- der CDU/CSU) rung mit der mittelständischen Wirtschaft, mit den Hand- werkerinnen und Handwerkern und den kleinen Betrie- Bitter rächt sich, meine sehr verehrten Damen und ben in diesem Land nicht umgehen! Herren, dass Sie eines nicht bemerken: Ausbildungs- plätze kann man nicht gegen die Wirtschaft, sondern nur (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Seien mit der Wirtschaft schaffen. Sie einmal artig!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Mit einer Strafe – nichts anders ist es; Frau Sager hat ge- Tauss [SPD]: Wie viele Ausbildungsplätze sagt: Das sind die Folterinstrumente, die wir der Wirt- fehlen denn bei einer Quote von 5 Prozent?) schaft zeigen müssen – werden Sie keinen einzigen 5352 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Christoph Hartmann (Homburg) (A) zusätzlichen Ausbildungsplatz schaffen. Wollen Sie ei- dadurch, dass wir nur über die Reform der Oberstufe in (C) nen Mittelständler dafür bezahlen lassen, dass er keinen den einzelnen Ländern nachdenken. ausbildungsfähigen Bewerber findet? Wollen Sie einem kleinen Unternehmer, dem das Wasser bis zum Hals Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Situa- steht und der deswegen nicht ausbilden kann, weitere tion ist zu wichtig, als dass diese Bundesregierung nur Belastungen aufbürden? Dadurch wird sich die Situation weiter an den Symptomen herumdoktern könnte. Wir noch verschärfen und das führt zu weiteren Insolvenzen brauchen richtige Reformen, einen Kurswechsel in der in diesem Land. Das ist kontraproduktiv und der falsche Wirtschaftspolitik, eine bessere Bildungspolitik sowie Weg. eine Flexibilisierung und Modernisierung der Berufsaus- bildung. Handeln Sie! Werfen Sie das Ruder herum! (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Eberhard Aber tun Sie das mit den Betrieben und nicht gegen sie. Gienger [CDU/CSU]) Vielen Dank. DIHK-Präsident Braun hat gestern gesagt: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Eine Strafabgabe bringt keinen einzigen zusätzli- chen Ausbildungsplatz, sondern Verunsicherung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: und weniger Gerechtigkeit. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Nicolette Kressl. Sie dürfen nicht die Opfer zu Tätern machen. Bürden Sie der Wirtschaft nicht zusätzliche Belastungen auf, Nicolette Kressl (SPD): sondern senken Sie die Belastungen der Wirtschaft. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist unglaublich!) gen! Lassen Sie mich zunächst eine Bemerkung zu dem machen, was der Redner und die Rednerin von der Op- Statt dieser staatsgläubigen Konzepte, die Sie hier position hier formuliert haben. Angesichts der Situation, verkaufen wollen, brauchen wir eine neue Wirtschafts- in der wir uns momentan befinden – es fehlen Ausbil- politik. Wir brauchen eine bessere Bildungspolitik und dungsplätze –, ist es völlig unangemessen, hier nur zu wir brauchen eine Flexibilisierung in der Berufsausbil- beschreiben, wie die Situation ist, was Ihnen nicht passt dung. Dazu gehören individuelle Ausbildungslängen, die und was nicht geht, und jugendlichen Menschen, die auch den praktisch begabten Jugendlichen die Möglich- heute zum Beispiel zuhören, keinen einzigen Vorschlag keit geben, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. zu machen, wie die Ausbildungsplatzsituation konkret Dazu gehören Berufe mit zweijähriger und theoriege- verbessert werden kann. minderter Ausbildung. (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU) Einige Bemerkungen zur Rede von Frau Wöhrl, die Wir brauchen eine Modularisierung, um eine flexible leider schon weg musste. Man darf in einer solchen Si- Aus- und Weiterbildung zu gewährleisten. Dazu gehören tuation nicht mit falschen Behauptungen operieren. Sie auch Berufe mit dreieinhalbjähriger Ausbildung für hat beispielsweise behauptet, die Bildungsausgaben des Jugendliche, die einen längeren Zeitraum benötigen, bis Bundes seien in den letzten Jahren gesunken. Das ist sie den Stoff beherrschen. völliger Unsinn. In den Jahren 1998 bis 2003 sind zum Beispiel die Ausgaben des Bundes für Hochschulen um Wir brauchen eine Internationalisierung, um Leistun- 23,4 Prozent gestiegen, die der Länder durchschnittlich gen, die in anderen Ländern erbracht worden sind, mit- um 12,9 Prozent. tels eines Credit-Point-Systems in Deutschland anrech- nen zu können. Wir brauchen eine Flexibilisierung der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) möglichen Beschäftigungszeiten beim Jugendarbeits- recht. Wir müssen die Ausbildungshemmnisse auch in In Bayern dagegen sind sie – das sage ich, obwohl der den Tarifverträgen beseitigen. Wir brauchen mehr Flexi- Wahlkampf vorbei ist – nur um 2,9 Prozent gestiegen. bilität bei der Ausbildungsvergütung. Frau Wöhrl sollte sich zunächst die Tatsachen ansehen, anstatt einfach falsche Zahlen auf den Tisch zu legen (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der und wieder einmal zu erzählen, was alles nicht geht. CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Wer ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten „wir“?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich abschließend zu dem Bereich origi- Umso mehr verwundert mich dieses Verhalten, weil näre Bildungspolitik noch etwas sagen. Viel zu häufig wir heute eigentlich, wenn wir es genau nehmen, über verlassen Schüler unsere Schulen, ohne ein Mindestmaß folgende zwei Themen reden wollen: zum einen über die an Kompetenz erworben zu haben. Darauf müssen wir Reformen im Bereich der beruflichen Bildung und zum einwirken. Umgekehrt gibt es aber auch besonders anderen über die Ausbildungsplatzsituation. Der Bericht starke Schüler, die zwar die oxidative Decarboxylierung des Ausschusses zum Bereich berufliche Bildung spie- in Strukturformeln darstellen können, aber bei einem gelt nicht wider, was Sie uns heute vorführen wollten. Dreisatz überfordert sind. Auch dabei muss umgedacht werden. Es muss ein entsprechendes Basiswissen ver- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Die Zahlen mittelt werden. Dann wird ein Schuh daraus und nicht vom Arbeitsamt spiegeln das wider!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5353

Nicolette Kressl (A) In Wirklichkeit bestehen über die Fraktionsgrenzen hin- wie bei anderen Reformen, zum Beispiel die der Sys- (C) weg im Bereich Reform der beruflichen Bildung viele teme der sozialen Sicherung – auch mit der Ausgestal- Gemeinsamkeiten. Ich halte es im Interesse der jungen tung der Finanzierungsstrukturen befassen. Man kann Menschen für falsch, nicht deutlich zu machen, dass die- sich nicht immer nur eine Seite anschauen. Auch die Fi- ses Parlament in dieser Frage gemeinsame Ziele hat. nanzierungsstrukturen gehören zu dieser Debatte. Wir verfolgen gemeinsam das Ziel, die duale Ausbil- Wir sehen, dass sich bei den Finanzierungsstruktu- dung aufrechtzuerhalten. Sie ist noch immer die tra- ren etwas verändert hat. Die berufliche Bildung und die gende Säule unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. berufliche Qualifikation werden immer stärker auch von staatlicher Seite mitgetragen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Warum denn?) Vergessen Sie nicht: Wenn Wirtschaftsexperten nach den Standortvorteilen Deutschlands gefragt werden, nennen Wir halten diese Entwicklung für falsch. sie noch immer – das suche ich mir nicht aus; das ist be- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wir auch!) legt – gute Infrastruktur, wenige Streiktage, gut ausgebil- dete Ingenieure und insbesondere das System der dualen Sie fragen nach dem Warum. Ausbildung. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Weil Sie Umso wichtiger muss es allen gemeinsam sein, dass eine falsche Wirtschaftspolitik machen, Frau dieses System weiterentwickelt wird; denn wenn sich, so Kollegin!) wie es gerade der Fall ist, die Faktoren rund um das Sys- Ich kann es Ihnen sagen: Wir haben von staatlicher Seite tem verändern, dann muss sich dieses System natürlich her die Verantwortung dafür übernommen. Die Wirt- mitentwickeln. schaft fordert den Staat immer wieder auf, er habe sich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten immer mehr herauszuhalten. Aber staatliche Gelder sol- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)) len in die berufliche Bildung gesteckt werden, weil die Wirtschaft sich von ihrer Verantwortung für die betrieb- Genau deshalb ist es richtig und wichtig, dass die liche Ausbildung entfernt. Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen die Wei- terentwicklung der beruflichen Bildung und des Berufs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bildungsgesetzes bereits durch die Koalitionsvereinba- DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/ rungen auf die Agenda gesetzt haben. Ich muss Ihnen CSU]: Unter Ihnen sind 78 000 Betriebe Pleite deutlich sagen: Wir brauchen Ihre spät gestellten An- gegangen!) (B) (D) träge nicht, um genau dies in den Mittelpunkt der Re- Das werden wir nicht zulassen. formbewegungen im Bereich der beruflichen Bildung zu stellen. Im Übrigen: Wer für die Staatsferne eintritt, der muss auch die Konsequenzen, die aus seiner Verantwortung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Bereich der Ausbildung erwachsen, selbst tragen. DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/ Dieses doppelgleisige Fahren werden wir von der politi- CSU]: Wir wollen die Qualität heben, Frau schen Seite her nicht mehr zulassen. Wir sagen deutlich: Kollegin!) Wir wissen, wo unsere Verantwortung liegt. Die Verant- Zu dieser Weiterentwicklung wird eine bessere Ver- wortung zur Bereitstellung von betrieblichen Ausbil- zahnung der beiden Lernorte Schule und Betrieb gehö- dungsplätzen liegt aber auf der Seite der Wirtschaft. Das ren. Wir alle wissen aus der Praxis, dass in diesem Be- hat übrigens auch das Bundesverfassungsgericht in sei- reich durchaus noch ein Verbesserungsbedarf besteht. nem Urteil noch einmal sehr deutlich niedergelegt. Daneben müssen wir deutlich machen, dass berufliche Deshalb gilt für uns: Wir unterstützen jede politische Qualifikation keine Sackgasse ist, sondern dass sie in Aktion – wie zum Beispiel die Ausbildungsoffensive –, Zukunft noch stärker Voraussetzung für den Zugang zu die zum Ziel hat, dass ausreichend viele Ausbildungs- einer weiteren und besseren Qualifikation und auch zu plätze für junge Menschen zur Verfügung gestellt wer- Studiengängen sein wird. den. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Sie können die Schließlich müssen wir durch die Reform die berufliche Stelle des Bundeskanzlers zur Verfügung stel- Bildung für den internationalen Wettbewerb fit machen. len!) Deshalb werden wir alle Voraussetzungen dafür schaf- Wir entziehen uns dieser Verantwortung nicht. Ich sage fen, dass sich die Berufsbildung in Deutschland den in- Ihnen: Wir lassen die Verantwortung in diesem Bereich ternationalen Veränderungen öffnen und sie auch im aber auch nicht verschieben. europäischen Berufsbildungsraum weiterhin bestehen wird. (Beifall bei der SPD) Das war nur eine kurze Zusammenfassung der not- Wir stellen noch einmal fest: Wir würden uns freuen, wendigen Veränderungen, die wir brauchen. Wenn wir wenn zum Ende des Monats tatsächlich ein ausreichen- uns mit den Veränderungen der Strukturen im Bereich des Angebot an Ausbildungsplätzen vorhanden wäre. der Berufsbildung befassen, dann müssen wir uns – so Aber auch hier gilt: Wir lassen uns nicht hinhalten. Wir 5354 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Nicolette Kressl (A) müssen hier Verantwortung übernehmen und dafür „Deutschland bewegt sich“. 2,3 Millionen Euro kostet (C) sorgen, dass junge Menschen Startchancen erhalten. diese Kampagne der Bundesregierung und sie hilft den Chancen auf Bildung und Ausbildung – das war für die Jugendlichen kein bisschen. Sozialdemokraten schon immer der Kern sozialer Ge- rechtigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) Die Kampagne ist falsch. Deutschland bewegt sich nicht, sonst hätten Sie das Problem der Ausbildungsplätze in Dies wird auch der Kern sozialer Gerechtigkeit bleiben. den vergangenen Monaten gelöst. Wir werden dafür sorgen, dass junge Menschen ausrei- chende Lebenschancen erhalten. Betriebliche Ausbildungsplätze in den neuen Ländern wurden in der Vergangenheit durch das Programm (Beifall bei der SPD – Christoph Hartmann „Ausbildungsplatzentwickler“ akquiriert. 14 400 Ju- [Homburg] [FDP]: Der Generalsekretär will gendliche haben dadurch eine Chance bekommen. Wir doch gar keine soziale Gerechtigkeit mehr!) haben lange gefordert, dieses Programm auf die alten Ich sage es sehr deutlich: Eine gesetzliche Regelung Bundesländer auszuweiten. Das tun Sie mit dem kom- zur Finanzierung von Ausbildungsplätzen ist natürlich menden Haushalt; in dem Sie 2 Millionen Euro dafür zur nie ein Wert an sich. Sollte die Wirtschaft ihre Verant- Verfügung stellen. Allerdings soll der Ansatz in den wortung aber nicht tragen, dann wäre eine gesetzliche neuen Ländern um 1,5 Millionen Euro reduziert werden. Regelung für uns nichts weiter als ein Instrument, dafür Das kritisieren wir ganz massiv und wir fordern Sie auf, zu sorgen, dass die Wirtschaft ihrer Verantwortung nach- diese Reduzierung zurückzunehmen. Das kann nicht kommt. Wir sehen uns verpflichtet und werden auch ent- sein, denn die Situation in den neuen Bundesländern ist sprechend handeln. Wir werden die Verantwortung von noch genauso dramatisch wie in den vergangenen Jahren. der Wirtschaft einfordern. Deswegen ist es auch falsch, Frau Bundesministerin, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Programm zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungs- DIE GRÜNEN) plätze wie im vergangenen Jahr zu kürzen. Auf unseren Druck hin – so deutlich muss man das sagen – ist das Programm aufgestockt worden. Sie hatten im Haushalts- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ansatz für dieses Jahr 12 000 Ausbildungsplätze vorge- Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael sehen und wir haben eine Aufstockung auf 14 000 gefor- Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion. dert, die auch vorgenommen wurde. Das fordern wir auch für das kommende Jahr. Lassen Sie die Jugendli- (B) Michael Kretschmer (CDU/CSU): chen nicht allein. (D) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau (Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD] – Ministerin, Berufsausbildung ist kein Wettbewerb so Ute Kumpf [SPD]: So viel Scheinheiligkeit! ähnlich wie „Schönere Städte und Gemeinden“, bei dem Sie reden doppelzüngig!) man als Unternehmen oder als Azubi mitmachen oder nicht mitmachen kann. Ausbildung ist, so wie Sie es ge- Solange die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als sagt haben, eine Investition in die Zukunft. Genauso Folge Ihrer Wirtschaftspolitik so sind, wie sie sind, brau- wie die Investitionen in Deutschland in anderen Berei- chen wir solche Programme. chen der Wirtschaft sinken, sinken auch die Investitio- (Beifall bei der CDU/CSU) nen der Unternehmen in die Ausbildung. Das kann nicht anders sein in einer Zeit, in der wir 78 000 Unterneh- Meine Damen und Herren, mit hektischem Treiben menspleiten zählen, die Umsätze im Handwerk und in versucht die Bundesregierung, die Misere um ihre Wirt- anderen Bereichen zurückgehen, wo wir auf dem schaftspolitik zu vertuschen. Sie macht Ausbildungstou- Arbeitsmarkt Rekordzahlen bei der Arbeitslosigkeit er- ren, Frau Bulmahn und Herr Clement sind unterwegs. reichen, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Be- Das ist ganz hervorragend, sie lernen das Land kennen. schäftigten zurückgeht und das Wirtschaftswachstum Sie helfen dadurch den Jugendlichen aber nicht, sondern stagniert. Es kann keine konjunkturunabhängige Ausbil- sie drohen den Unternehmen, die sie überzeugen wollen, dung geben. Das ist schon vom Ansatz her falsch, mehr auszubilden, mit einer Ausbildungsplatzabgabe. In ihrer heutigen Rede hat die Ministerin das Wort Aus- (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr! bildungsplatzabgabe nicht ein einziges Mal in den Mund Das ist falsch!) genommen. Ich glaube, Frau Bettin und Frau Kressl, Sie es sei denn, Sie führen staatliche Zwangsmaßnahmen sind nicht auf der Höhe der Zeit. Ich glaube nicht, dass ein. Das wollen wir auf keinen Fall. die Regierung diese Ausbildungsplatzabgabe einführt, weil sie erkannt hat, dass sie sich damit in das politische (Beifall bei der CDU/CSU und der Abseits manövriert. FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Und was sagen Sie den jungen Leuten?) (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Da ist politischer Sachverstand gefragt!) 113 000 Jugendliche suchen derzeit einen Ausbil- dungsplatz, sagt uns das Arbeitsamt. Was macht die Alle Ökonomen und alle Ausbilder haben ihr gesagt und Bundesregierung? – Sie schaltet Anzeigen, klebt Plakate sagen permanent: Eine Ausbildungsplatzabgabe führt mit der Aufschrift „Mehr Jobs“, „Chancen geben“, dazu, dass große Firmen sich freikaufen und kleine Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5355

Michael Kretschmer (A) Firmen umso mehr belastet werden. Außerdem hätte sie dies ein ganz entscheidender Punkt ist. In § 10 des Be- (C) einen unverantwortlich großen bürokratische Aufwand rufsbildungsgesetzes steht zur Folge. (Nicolette Kressl [SPD]: Was sollen wir denn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) machen? Ein Gesetz? Oder was?) Deshalb, Herr Tauss, meine Damen und Herren, will – hören Sie mir zu, dann sage ich es Ihnen –, dass die die Regierung offenbar einen anderen Weg gehen und Ausbildungsvergütung maximal 20 Prozent – zumindest eine kleine Umlage einführen, um ihr Gesicht zu wah- wird es nach Richterrecht so ausgelegt – nach oben oder ren. Das könnte sie tun, indem sie die Prüfungsgebüh- unten von den Tarifverträgen abweichen kann. Wenn ren, die bisher von den ausbildenden Unternehmen an nun als Beispiel der Spannungsmechaniker bei Siemens die IHKs gezahlt werden, einfach auf die Betriebe um- in Passau 717 Euro im Monat erhält, dann mag das für legt, die nicht ausbilden. Durch eine andere Formulie- diesen Global Player in Ordnung sein. Wenn aber die rung im Berufsbildungsgesetz wäre das möglich. kleine Stahlbaufirma 100 Meter weiter dasselbe Lehr- (Jörg Tauss [SPD]: Eine ganz gute Idee! – Ute lingsentgeld bezahlen muss, dann hat sie zwei Möglich- Kumpf [SPD]: Schon mal nicht schlecht!) keiten: Entweder sie bildet nicht aus, was viele machen, weil es zu teuer ist, oder sie bildet nur so viele Lehrlinge Meine Damen und Herren, diese Prüfungsgebühren betragen zwischen 100 und 300 Euro, je nach Beruf und aus, wie sie unbedingt muss. Das hilft uns in der derzei- Kammerbezirk. Schon jetzt schlagen die Wellen bei den tigen Situation nicht viel weiter. IHKs in Deutschland, besonders in den strukturschwa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen Regionen, hoch, weil man weiß, dass eine solche neten der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Ein Maßnahme zu wirtschaftlichen Problemen in den Kam- anderer Tarifvertrag!) mern führen würde. Folge wäre eine Erhöhung der Pflichtbeiträge, die niemand will, und damit eine Erhö- Es ist deswegen vollkommen richtig, das Problem des hung der Lohnnebenkosten, also eine weitere der Belas- Lehrlingsentgelts anzugehen. Das Dramatische ist, dass tung der Unternehmen. Dies aber hilft den Unternehmen, gerade in der Metall- und Elektroindustrie das Problem die ausbilden, kein bisschen, weil die Entlastung viel zu der Flächentarifverträge am größten ist, während dort gering ist. Dies ist eine Farce, weil schon heute maximal gleichzeitig das Potenzial für Ausbildungsplätze am 40 Prozent der Kosten durch die Prüfungsgebühren fi- höchsten ist. Aus diesem Grunde müssen wir dieses Pro- nanziert werden. blem angehen, wie wir es in unserem Antrag vorgeschla- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist eine Logik!) gen haben. (B) Der Rest wird bereits solidarisch finanziert. Deswegen Ein anderer Vorschlag in unserem Antrag bezieht sich (D) sagen wir Ihnen: Lassen Sie von diesem Tun ab und ver- auf die Vorbereitung zur Berufsausbildung. Diese Repa- abreichen Sie den Jugendlichen nicht wieder eine Beru- ratur ist aufgrund des rot-grünen Missmanagements in higungspille, was Sie schon mit der Aussetzung der Aus- der Vergangenheit notwendig. In § 50 des Berufsbil- bilder-Eignungsverordnung getan haben. dungsgesetzes wird festgelegt, dass Betriebe, die einen der 90 000 Jugendlichen, die jedes Jahr die Schule ohne In unserem Antrag fordern wir – das ist richtig – mehr einen Abschluss verlassen, zur Berufsvorbereitung ein- Flexibilität, wie sie in den neuen Bundesländern schon stellen, dessen sozialpädagogische Betreuung sicherstel- jetzt angewendet wird: Unternehmer, die keine Ausbil- len und finanzieren müssen. Nur Sozialdemokraten kön- dereignung hatten, konnten trotzdem ausbilden. Die IHKs waren dabei sehr flexibel. Dies wollten wir auf die nen auf solche Ideen kommen. In der Praxis führt dies alten Bundesländer übertragen. Aber wir wollten nicht, dazu, dass kein Unternehmen einen solchen Jugendli- dass Sie die Ausbilder-Eignungsverordnung abschaffen. chen einstellt. Diese Regelung wirkt als Einstellungs- Wir sind der Meinung, dass gerade in Zeiten der PISA- hemmnis. Wir wollen, dass dieses Hemmnis abgebaut Studie – das wurde uns dabei sehr deutlich – die Qualität wird. Das Geld, das für die Betreuung der Jugendlichen der Ausbilder wichtig ist. Darauf müssen wir ganz be- richtigerweise benötigt wird, muss vom Arbeitsamt oder sonderen Wert legen. Sie sind über das Ziel hinausge- vom Staat kommen. Wir wollen, dass die Jugendlichen schossen, weil Sie einen politischen Erfolg brauchten, in einem Unternehmen eine Chance zur Berufsvorberei- aber Sie helfen damit keinem einzigen Jugendlichen. tung erhalten. Ich wage zu bezweifeln, dass viele Unternehmen des- (Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: wegen ausbilden werden. Ich frage Sie, Frau Ministerin: Das ist eine Forderung der Wirtschaft!) Wie viele Unternehmen werden deswegen wohl ausbil- den? Zur Lösung des Lehrstellenmangels brauchen wir Das Berufsbildungsgesetz muss durchlässiger wer- mehr. Wir haben in unseren Anträgen konkrete Vor- den. Es muss endlich Schluss sein mit Berufen, die Aus- schläge gemacht. Dabei haben wir auch die Erfahrungen zubildende in eine Sackgasse führen. Stillstand kann aus den neuen Ländern zugrunde gelegt. Sie zeigen, dass sich kein Land leisten, das Wissen, Fortschritt und Inno- man mit viel Flexibilität in einem wirtschaftlich schwie- vation braucht. Warum kann ein Bankkaufmann mit rigen Umfeld zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen mittlerer Reife nach seiner Lehre und einiger Zeit im Be- kann. ruf nicht Betriebswirtschaft studieren? Wir möchten bei der Höhe der Ausbildungsvergü- (Jörg Tauss [SPD]: Weil Sie das nicht wollen! Bay- tung ansetzen. Es ist heute schon gesagt worden, dass ern und Baden-Württemberg! Mein Gott!) 5356 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Michael Kretschmer (A) Warum kann ein Elektriker kein Studium der Elektro- tion. Das ist die menschliche Dimension des Themas Be- (C) technik beginnen? Die Zugangsvoraussetzungen dafür rufsausbildung. Darüber ist hier zu reden, zumal das Pro- müssen verbessert werden. blem nicht neu ist. Umgekehrt muss der Ausbildungsmarkt für jene Seit Jahren gibt es weniger Lehrstellen als Bewerbe- durchlässiger gemacht werden, die über wenig theoreti- rinnen und Bewerber, allemal in Betrieben. Diese Diffe- sche Fähigkeiten verfügen. Für diese Jugendlichen müs- renz muss tiefer liegende Ursachen haben und das wis- sen endlich praxisorientierte Berufsausbildungen mit sen Sie auch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wer zweijähriger Lehre eingeführt werden, und zwar modu- jedoch die Konjunktur zum Dreh- und Angelpunkt der lar gestaltet, sodass sie die Möglichkeit haben, sich zum Ausbildung macht, der befördert einen Doppelfehler. Beispiel später vom Maschinenführer zum Werkzeug- Zum einen signalisiert er den betroffenen Jugendlichen: mechaniker zu qualifizieren. Weil die Konjunktur schlecht ist, gehört deine Genera- tion zu den Verlierern, du bist zur falschen Zeit geboren Deutschland muss sich mit seinem Bildungssystem und damit überflüssig; zum anderen widerspricht die am internationalen Markt positionieren. Ein Problem ist, Konjunkturbegründung der von links bis rechts aner- dass deutsche Bildungsabschlüsse international immer kannten Tatsache, dass Bildung eine, wenn nicht gar die noch viel zu wenig anerkannt sind. Aber ist ein deut- Zukunftsfrage ist. Mehr noch: Bildung und Ausbildung scher Industriemeister tatsächlich geringer qualifiziert sind Menschenrechte. Sie sind zu gewähren und nicht als ein 20-jähriger Student in England nach zwei oder etwa zu beschränken. drei Jahren Bachelor-Studium? Deutsche Bildungsab- schlüsse müssen internationalisiert werden. Dazu gehört, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- dass mehr Lehrlinge als bisher die Möglichkeit erhalten, los]) eine Station ihrer Ausbildung in einem Betrieb im Aus- land zu verbringen. Deshalb kann es nicht sein, dass Ebenso falsch sind Vorstöße, Ausbildungszeiten zu Auslandsaufenthalte von Lehrlingen geringer gefördert straffen und auf bestimmte Inhalte zu verzichten, etwa werden als die von Studenten. Auch für Auszubildende auf Wirtschaftskenntnisse oder Sozialkompetenz. Ich ist eine Station im Ausland wichtig. Die Kürzungen in frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wohin soll Ihrem Haushalt um 23 Prozent für das kommende Jahr, das führen? Wir wollen doch keine lebenden Roboter, Frau Bulmahn, müssen dringend rückgängig gemacht wir wollen kluge Fachleute. werden. Die dramatische Situation auf dem Ausbil- Die PDS im Bundestag teilt deshalb die Ansprüche, dungsmarkt erlaubt keinen Aufschub. Deutschland die von Bildungsexperten, von weiter blickenden Unter- braucht eine Novelle des Berufsbildungsrechts. nehmern und auch von Gewerkschaften erhoben werden. Wir brauchen eine große Reform, um die Qualität der (B) Ich fordere Sie, meine Damen und Herren von der Re- (D) gierung und den Regierungsfraktionen, auf: Werden Sie Ausbildung zu heben. Übrigens haben die Gewerkschaf- endlich Ihrer Verantwortung für die Jugendlichen in die- ten ihre Ausbildungskampagne mit dem Zusatz verse- sem Land gerecht. hen: Reform ist, wenn es besser wird. Früher hätte man gesagt: Das weiß man doch. Aber ich muss zugeben, seit (Nicolette Kressl [SPD]: Haben Sie eigentlich Rot-Grün den Reformbegriff permanent umdeutet und nicht aufgepasst?) Schlechtes als gut verkauft, ist diese Erinnerung wohl richtig und überfällig. Hören Sie auf, von einer Ausbildungsplatzabgabe zu re- den und ändern Sie stattdessen die entscheidenden Stel- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- len im Berufsbildungsgesetz. Wir haben eine ganze onslos]) Reihe von Vorschlägen gemacht. Wenn Sie diese umset- zen, ist den Jugendlichen in Deutschland schon viel ge- Nun komme ich wie versprochen auf die wenigen Zah- holfen. len zurück. Es gab Ende August rund 168 000 Jugendli- che, die einen Ausbildungsplatz suchten, und es waren Vielen Dank. knapp 55 000 freie Stellen im Angebot. Rein rechnerisch heißt das: Zwei von drei, die noch suchen, können die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hoffnung auf eine gute Ausbildung in den Wind schrei- ben. In manchen Regionen sind es sogar neun von zehn, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: allemal im Osten der Republik. Das programmiert Aus- Das Wort hat die Abgeordnete Petra Pau. lese, es zwingt Jugendliche in die Ferne und entvölkert ganze Landstriche. Petra Pau (fraktionslos): Nun hörten wir in den letzten Wochen von der FDP, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mehr Jugendliche sollten ihr Glück im Ausland suchen Wenn wir über Berufsausbildung, über diesbezügliche und sich doch dort ausbilden lassen. Probleme und Vorhaben reden, dann geht es immer auch (Cornelia Pieper [FDP]: Wer war denn das?) um Zahlen. Auch ich werde zwei, drei Zahlen bemühen, aber erst einmal geht es mir um etwas Weitergehendes. Mit Verlaub, Sie bleiben die Partei der Besserverdienen- den und sind damit auch die Partei der Zyniker. Das Pro- Ich kenne Jugendliche, die sich zehn bis einhundert blem lösen Sie mit dieser Empfehlung überhaupt nicht. Mal um einen Ausbildungsplatz bewerben und immer wieder Absagen erhalten, sofern man ihnen überhaupt (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- antwortet. In ihnen reifen Enttäuschung, Frust, Resigna- onslos]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5357

Petra Pau (A) Nun noch zu einem Ereignis, welches wir in dieser Es liegt aber auch – oder es sollte wenigstens so sein – (C) Woche in Berlin erleben durften und welches selbst in im ureigenstem Interesse der Unternehmen selbst, junge Berlin nicht alle Tage zu besichtigen ist. Der BDI hatte Menschen auszubilden. Wer heute aus kurzfristigen Er- zum Reformkongress und obendrein zu einer Kundge- wägungen heraus keinen qualifizierten Nachwuchs aus- bung unter freiem Himmel geladen. Wer wirklich Sorgen bildet, darf sich morgen nicht über einen Mangel an hat, arbeitslos ist oder eine Lehrstelle sucht, konnte sich Fachkräften beschweren. dort vortrefflich wundern. Da standen gut betuchte Her- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren und wenige Damen herum, die einen mit einem Sekt- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kelch, die anderen mit Kofferträgern, und alle forderten gemeinsam: Den Reformstau auflösen! Wenn ich hier die Ausbildungsdefizite der Wirt- schaft anspreche, so möchte ich ausdrücklich die Be- Ich finde auch, dass der Reformstau aufgelöst werden triebe und Unternehmen ausnehmen, die auch in diesem sollte. Deshalb war auch die PDS dabei, jenseits der Ab- Jahr wieder Lehrstellen zur Verfügung stellen und die sperrung. Unsere Forderung hieß: Reformstau auflösen – ausbilden. Umlagefinanzierung jetzt! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dabei bleiben wir. Wer ausbilden könnte und nicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ausbildet, der soll endlich einen Solidarbeitrag für jene leisten, die ausbilden, obwohl es ihnen finanziell schwer Dafür gebührt jedem einzelnen der ausbildenden Be- fällt. Das ist – wir erinnern uns – eine Uraltforderung der triebe, den Verantwortlichen dort auch unsere Anerken- SPD. Selbst Bundeskanzler Schröder hat sie schon dro- nung und unser Dank. hend in den Raum gestellt. Nur, dort steht sie nun herum, Die Politik hat aber sehr wohl auch wahrgenommen, diese Drohung, wie bestellt und nicht abgeholt. dass es Probleme gibt, die eine Entscheidung für die Am 30. September, also in knapp einer Woche, endet Ausbildung von Lehrlingen in der jetzigen Situation si- die Lehrstellenkampagne 2003. Sie war durchaus wer- cherlich nicht immer leicht machen. Wir kennen auch beträchtig inszeniert, um Minister Clement ins grelle den Anpassungs- und Modernisierungsbedarf inner- Licht zu stellen, aber sie löst nicht die bestehenden Defi- halb des dualen Systems und innerhalb des Bildungs- zite. systems insgesamt. (Nicolette Kressl [SPD]: Sie hat Ausbildungs- Wir kennen die Mängel. Deshalb haben wir ein ganzes plätze gebracht!) Bündel von Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Bedingungen für Unternehmen und für mehr Ausbildung Deshalb wiederhole ich: Die PDS im Bundestag zu verbessern. Dass wir die Verbesserung der Lehrstellen- (B) (D) drängt auf eine Reform in der Berufsausbildung und wir situation als eine gemeinsame Aufgabe begreifen, zeigt bestehen auf einer Ausbildungsumlage, um insbesondere sich ja auch in der bundesweiten Ausbildungsoffensive, die großen Unternehmen wieder in die soziale Verant- die die Regierung zusammen mit der Wirtschaft und mit wortung zu zwingen. den Gewerkschaften in diesem Jahr gestartet hat. Danke schön. Dies als Antwort auf die Anmerkungen der beiden Herren in der ersten Reihe von Blau-Schwarz. Herr (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- Hartmann und sein Kollege von der CDU haben ja immer onslos]) wieder gesagt, es werde nur zusammen mit der Wirt- schaft gehen. Ich habe hier einen Zwischenbericht der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: IHK, in dem von den bundesweit erzielten Erfolgen be- Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Heinz richtet wird. Darin wird deutlich, wie gemeinsam mit Eh- Schmitt für die SPD-Fraktion. renamtlichen und Hauptamtlichen nach jeder Lehrstelle gesucht wird. Hierbei gibt es durchaus schon eine erfolg- reiche Bilanz, die sich innerhalb dieses halben Jahres er- Heinz Schmitt (Landau) (SPD): geben hat. Also, das geht zusammen mit der Wirtschaft. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erneut re- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den wir heute im Deutschen Bundestag über fehlende des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lehrstellen. Es ist wieder einmal eine große Kraftan- Sie sollten nicht versuchen, einen Keil zwischen Politik strengung nötig, um einer eigentlich selbstverständli- und Wirtschaft zu treiben, und Sie sollten nicht den Weg chen gesellschaftlichen Aufgabe gerecht zu werden, der Konfrontation beschreiten. nämlich ausbildungswilligen Jugendlichen eine berufli- che Qualifikation zu ermöglichen. Diese Offensive umfasst also viele Maßnahmen, aber auch praktische finanzielle Hilfe für ausbildende Be- Wieder einmal – so scheint es mir – muss die Wirt- triebe. Ich nenne unser Programm „Kapital für Ar- schaft daran erinnert werden, dass es im Interesse aller beit“, mit dessen Hilfe neue, zusätzliche Ausbildungs- liegt, junger Menschen eine berufliche Perspektive zu plätze mit einem zinsgünstigen Investitionskredit von bis eröffnen. zu 100 000 Euro gefördert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben aber auch die Botschaft verstanden, dass des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Defizite bei Schulabgängern immer wieder deutlich 5358 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Heinz Schmitt (Landau) (A) erkennbar sind. Deswegen laufen die Programme weiter, Uwe Schummer (CDU/CSU): (C) um benachteiligte und behinderte Jugendliche auch in Vielen Dank, Herr Präsident! Werte Damen! Werte diesem Jahr zu fördern und sie auf eine Ausbildung vor- Herren! 113 000 Lehrstellen fehlten rechnerisch im Sep- zubereiten. tember dieses Jahres. Das sind 113 000 Schicksale von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten jungen Menschen, die ihr Zeugnis bekommen haben und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in die Arbeitswelt einsteigen wollen, wo sie aber offen- kundig keine Perspektive finden. Diese Zahl war und ist Wir haben die weitere Finanzierung von ausbildungs- zugleich die höchste Zahl, die in der Nachkriegsge- begleitenden Hilfen organisiert, damit schulische Pro- schichte Deutschlands in diesem Bereich erreicht wurde. bleme vor Ort auch während der Lehre überwunden wer- Das ist ein einsamer und trauriger Nachkriegsrekord die- den können. ser Bundesregierung. Mit unserem Investitionsprogramm „Zukunft, Bil- Trotz der Nachvermittlung, einer großen Ausbil- dung und Betreuung“ fördern wir die Einrichtung von dungsoffensive und des gemeinsamen Handelns mit der Ganztagsschulen. Auch das ist ein Thema, das Sie im- Wirtschaft rechnet die Bundesanstalt für Arbeit damit, mer wieder verdrängen. Mit den Ganztagsschulen er- dass die Zahl der nicht versorgten Schulabgänger Ende möglichen wir schon sehr früh die Zusammenarbeit von Dezember bei 60 000 liegen wird. Diese Zahl ist doppelt Schulen und Betrieben. Damit haben die jungen Men- so hoch wie im letzten Jahr. schen frühzeitig die Möglichkeit, sich zu orientieren und Interesse am Beruf zu entwickeln. Zum zweiten Mal haben Sie als Regierung gemein- sam mit den Sozialpartnern eine Ausbildungsgarantie Wir haben außerdem mit der Reform der beruflichen gegeben und sie gebrochen. Nach fünf Jahren rot-grüner Bildung begonnen. Wir wollen damit die Ausbildungs- Regierung steckt die berufliche Ausbildung offenkundig netzwerke stärken und die Ausbildungsordnungen in der Krise. Die Ursache liegt nicht bei fremden Mäch- modernisieren. Weitere Bestandteile der Reform sind die ten, sondern sie liegt auch in der Politik, die in Deutsch- Modernisierung des Prüfungswesens und die interna- land verantwortlich – oder vielmehr unverantwortlich – tionale Öffnung der beruflichen Bildung. gestaltet wird. Wir lassen die Ausbildungsbetriebe bei dieser wichti- Es ist ein Faktum: 40 000 betriebliche Insolvenzen gen Aufgabe nicht allein. Es gibt aber – das wurde heute bedeuten einen Verlust von über 400 000 Arbeits- und schon ausgeführt – Grenzen, die das staatliche Engage- Ausbildungsplätzen. Die Unternehmer melden betrieb- ment nicht überschreiten darf. Der Staat kann die Aus- liche Insolvenz an, weil es an Aufträgen fehlt und keine bildungsdefizite der Wirtschaft nicht auf Dauer überneh- ausreichende Liquidität vorhanden ist. Denn der wirt- (B) men. schaftliche Rahmen ist falsch gesetzt worden, und zwar (D) Das duale System ist – darüber sind wir uns einig – nicht nur in betriebswirtschaftlicher Hinsicht, sondern am besten im Bereich Schule und Betrieb angesiedelt. auch in den Bereichen, in denen der Bund mit zu ent- Letztlich geht es um die qualifizierten Arbeitskräfte von scheiden hat, auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht. morgen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe in Seit Helmut Kohl 1983 die erste Ausbildungsgarantie Zukunft zu organisieren. gegeben hat, lag sie immer in der Gesamtverantwortung Auch wenn im Zuge der Globalisierung immer wie- aller Akteure, das heißt der Wirtschaft, der Gewerk- der von Jugendlichen als Humankapital gesprochen schaften und auch der Politik. Aus dieser Verantwortung wird, geht es mir bei diesem Thema darum, dass die Ju- können Sie sich nicht herausstehlen. Schieben Sie nicht gendlichen spüren, dass wir sie nicht allein lassen und alles auf die Betriebe, die jährlich 28 Milliarden Euro in dass es den sozialen Zusammenhalt in dieser Gesell- die berufliche Bildung investieren, also mehr als Bund schaft tatsächlich noch gibt. und Länder zusammen! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist DIE GRÜNEN) doch das Mindeste!) Denn nur dann werden die jetzigen Jugendlichen später Dass der Bundeskanzler dem letzten Ausbildungs- als Erwachsene bereit sein, ebenfalls Leistungen zu er- gipfel fernblieb, lieber Kollege, zeigt, wie fern ihm die bringen und Verantwortung für unsere Gesellschaft zu Schicksale der 113 000 jungen Menschen ohne Ausbil- übernehmen. Nur so werden sich die Jugendlichen auf dungsplatz wirklich sind. Dauer in unserer Gesellschaft wiederfinden und sich da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rin engagieren. Wie wenig der Bundeskanzler von seinen eigenen Ap- Herzlichen Dank. pellen hält, zeigt, dass im Kanzleramt zum 1. September (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dieses Jahres nur ein Auszubildender eingestellt worden DIE GRÜNEN) ist. (Zuruf von der CDU/CSU: Eine Schande ist Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: das!) Nun hat der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU- Insgesamt sind es zehn. Wenn Sie Ihre eigenen Kriterien Fraktion, das Wort. im Kanzleramt erfüllen würden, dann müssten Sie 30 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5359

Uwe Schummer (A) einstellen. Wenn Sie dem Handwerk nacheifern würden, Ich kann Ihnen sagen, was geschehen wird, wenn eine (C) dann müssten Sie 90 Ausbildungsplätze schaffen. An- Ausbildungsplatzabgabe eingeführt wird. Die großen spruch und Wirklichkeit machen deutlich, dass die Poli- Unternehmen würden sich freikaufen. Im Bund würde tik versagt. Trotzdem machen Sie der Wirtschaft entspre- eine neue Verteilungsmaschine etabliert und am Ende chende Vorwürfe. stünde die völlige Verstaatlichung der beruflichen Bil- dung. Herr Kollege Schmitt, Sie haben die Offensive „Ka- pital für Ausbildung“ angesprochen. Ich habe heute Wir, die Union, wollen eine wirkliche Reform, das be- noch einmal nachgefragt, wie viele Ausbildungsplätze deutet, dass wir zwar am Berufsbild festhalten, aber das durch dieses Programm im Laufe dieses Jahres geschaf- Berufsprinzip dynamischer und flexibler gestalten wol- fen worden sind. Es sind gerade einmal 750. So viele len. Wir brauchen neben der Beschleunigung von Wissen Ausbildungsplätze haben allein die Bürgermeister in und Innovation auch eine Beschleunigung bei den neuen meinem Wahlkreis Viersen geschaffen. Dafür brauchte Berufsbildern. Es gibt derzeit insgesamt 350 Ausbil- es keine Bundesinitiative. Viel Nebel, viel weiße Salbe, dungsberufe, aber nur 32 zweijährige, praktisch orien- aber wenig effektive Wirkung – das ist das Problem Ihrer tierte Ausbildungsberufe. In den letzten Jahren kamen Politik! 18 neue Berufsbilder hinzu. Über 100 neue Berufsbilder liegen in der Schublade. Beim jetzigen Tempo wären In Ihrer Regierung gibt es nur eine schwache Lobby diese etwa im Jahr 2013 abgearbeitet. Das Tempo muss für die berufliche Bildung. Es gibt zwar genügend ver- beschleunigt werden, wenn man mehr Dynamik und bale Lautsprecher – mit Herrn Tauss verlässt gerade ei- Flexibilität in der beruflichen Bildung haben will. ner dieser den Plenarsaal –, die aber politische Leisetre- ter sind, wenn es um die Durchsetzung der Interessen (Beifall bei der CDU/CSU) junger Menschen geht. Nach dem Berufsbildungsbericht der Bundesregie- Die Union will eine tief greifende Reform der Be- rung gibt es jährlich 125 000 Ausbildungsabbrecher. rufsausbildung. Es darf aber nicht um Ideologie, son- Viele davon sind schulmüde. 90 000 Schüler verlassen dern nur um die Zukunft der Menschen gehen. Im letzten die Schule ohne Abschluss. Jeder zweite ausländische Jahr der Regierung Schröder waren über 300 000 Ar- Jugendliche bleibt ohne Ausbildung. Für sie wäre eine beitslose zusätzlich zu verzeichnen. Jeder zweite von ih- zweijährige, praktisch orientierte Berufsausbildung eine nen ist ausbildungslos. Es führt ein direkter Weg von der Chance, die sie heute offenkundig nicht haben. Ausbildungslosigkeit in die dauerhafte Arbeitslosigkeit. (Nicolette Kressl [SPD]: Was wollen Sie Keine Lösung ist eine Ausbildungsabgabe, über die mo- jetzt?) mentan debattiert wird. Sie haben ein erotisches Verhält- (B) nis zu Steuern und Abgaben. Das ist eines der Probleme Wir brauchen mehr Ausbildungsstufen: vom Ver- (D) unserer Wirtschaft. käufer zum Einzelhandelskaufman, vom Baufacharbei- ter zum Maurer, von der Fachkraft für ambulante Pflege (Heinz Schmitt [Landau] [SPD]: Was wollt ihr in zwei Jahren zum Krankenpfleger im dritten Jahr. denn?) Diese Stufen sind keine Sackgassen. Wem die Puste in – Geduld, Herr Kollege Schmitt! der Ausbildung ausgeht, der darf nicht wieder bei nichts landen. Er sollte sich über die berufliche Praxis weiter- (Heinz Schmitt [Landau] [SPD]: Aber Ihre entwickeln können. Zeit läuft ab!) Im Saarland – ein Land, aus dem seit einem Jahr wie- – Die habe ich besser im Blick als Sie, Herr Schmitt. der vernünftige Botschaften kommen – hat Frau Ministe- rin Görner im Bereich der Pflege ein Stufenmodell ge- Eine tarifliche Umlagefinanzierung gibt es im Rah- schaffen, das sich eng an der dualen Ausbildung men eines Feldversuchs bereits seit Mitte der 70er-Jahre orientiert. in der Bauwirtschaft. Sie wissen, dass der stärkste Aus- bildungsplatzeinbruch gerade im Baubereich stattgefun- (Jörg Tauss [SPD]: Ich bin zurück!) den hat. Dort ist die Zahl der Ausbildungsplätze seit – Das beruhigt mich ungemein, Herr Tauss. Herzlich 1998 von über 100 000 auf unter 40 000 abgestürzt. willkommen! – Jugendliche werden bei Pflegeeinrich- (Nicolette Kressl [SPD]: Aber nicht in der tungen eingestellt und absolvieren einen stark prakti- Quote!) schen Ausbildungsteil. Nach der ersten Stufe kommt dort die Prüfung zum Altenpflegehelfer; nach der zwei- Dies zeigt offenkundig, dass Abgaben keine Ausbil- ten Stufe folgt der Abschluss als Altenpfleger. dungsplätze schaffen. Das kann nur eine vernünftig funktionierende Wirtschaft. Letztes Jahr wurden im Saarland 204 angehende Al- tenpfleger nach dem neuen Konzept eingestellt. Darun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ter sind sehr viele Hauptschüler, denen der Weg in die Heinz Schmitt [Landau] [SPD]: Wo bleibt Pflegeausbildung durch immer mehr Theorie und immer denn das Positive? Sie haben nicht mehr viel mehr Verschulung letztendlich verbarrikadiert worden Zeit!) ist. Nun haben auch Hauptschüler dort die Möglichkeit, in Pflegeberufe einzusteigen. – Ich habe noch vier Minuten und 44 Sekunden. Für Sie reicht das, Herr Schmitt. (Beifall bei der CDU/CSU) 5360 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Uwe Schummer (A) Nach den Zahlen aus dem saarländischen Ministerium Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) haben in den letzten Wochen 202 Auszubildende die Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Willi erste Stufe erfolgreich abgeschlossen. Alle beginnen die Brase, SPD-Fraktion. zweite Stufe, um sich dort zum Altenpfleger ausbilden zu lassen. Willi Brase (SPD): Ab Oktober wird es dieses – im Saarland entwickelte – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Modell auch in Brandenburg geben. Die CDU-Fraktion Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, in Düsseldorf hat eine entsprechende Vorlage in den nor- dass dann, wenn es um die Zukunftsmöglichkeiten von drhein-westfälischen Landtag eingebracht. Ich hoffe jungen Menschen geht, von Neid, von Flexibilisierung, sehr, dass man auch dort bereit ist, die Pflegeausbildung von persönlicher Verantwortung und vor allen Dingen zu modernisieren und ein Arbeitsfeld zu schaffen, in vom Senken der Ausbildungsvergütung als zentralem dem praktisch begabte Menschen wieder eine Zukunft Element zur Schaffung von weiteren Ausbildungsplätzen finden. Bundesweit fehlen 20 000 Pflegekräfte. Anstatt die Rede ist. Greencards auszugeben, um Abhilfe zu schaffen, wäre es besser, den Arbeitslosen wieder eine Perspektive zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des geben. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie Ende Oktober einen neuen Ausbildungsgip- Dies ist eine Politik, die nur zulasten der jungen Leute fel veranstalten, dann sorgen Sie bitte dafür, dass auch geht und nicht beachtet, dass auch andere eine Verant- der Bundeskanzler anwesend ist und dieses Thema zur wortung und eine Bringschuld haben. Chefsache macht. Außerdem bitte ich Sie, dafür zu sor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen, dass der andere wichtige Akteur der beruflichen DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/ Bildung, die Bundesländer, vertreten sein wird, damit CSU]: Welchen Antrag haben Sie gelesen? auf diesem Gipfel auch darüber gesprochen wird, wie Nicht unseren! – Zuruf des Abg. Christoph die flächendeckende Modernisierung der beruflichen Hartmann [Homburg] [FDP]) Bildung konkret gestaltet werden kann. – Ich will Ihnen sagen, was wir wollen, Herr Kollege. Der größte Ausbilder ist das Handwerk mit über Wir wollen, dass alle jungen Leute eine vernünftige 540 000 Ausbildungsplätzen. 18 Prozent aller Betriebe Chance erhalten und, wenn es Not tut, auch eine zweite sind Handwerksbetriebe; sie stellen aber fast 40 Prozent Chance. Was sie daraus machen, müssen sie selbst se- der Ausbildungsplätze. Ihr jüngster Vorschlag, den hen. Wir sind sicher, dass sie etwas daraus machen kön- Meisterbrief zu reformieren, hat einen Großteil der Aus- nen. (B) bildungsmotivation zerstört. Wichtiger und besser wäre (D) es – dementsprechend sieht unser Angebot im Vermitt- Wir setzen uns dafür ein, dass die jungen Leute auch lungsausschuss aus –, dass Sie neben der Gefahrenge- zukünftig eine qualifizierte Ausbildung erhalten, die vor neigtheit die Ausbildungsleistung bei Handwerksberufen allem auch eine Beschäftigungsmöglichkeit mit sich anerkennen, um den Meisterbrief als Voraussetzung für bringt. Die Ausbildung muss nach wie vor auf einem ho- die Selbstständigkeit zu erhalten. hen Qualifikationsniveau stattfinden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Handwerksberufe befinden sich in einem Zwei- frontenkrieg: Auf der einen Seite droht zwei Dritteln die- Sie haben die Tätigkeit der Ausbildungsplatzent- ser Berufe, dass der Meisterbrief weitgehend entfällt; auf wickler angesprochen. Schon seit zig Jahren, schon weit der anderen Seite stehen ihnen rund 60 000 Ich-AGs ge- vor unserer Regierungszeit, noch zu Zeiten von Helmut genüber, die hoch subventioniert handwerksähnlichen Kohl, Tätigkeiten nachgehen und in direkte Konkurrenz zum Handwerk treten. Daher wäre es besser, die Ausbil- (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Das dungsleistung als eigenes Kriterium anzuerkennen. Jeder ist aber verdammt lange her!) Handwerksbereich, der mehr als die übrige Wirtschaft haben wir in vielen Regionen im Zusammenhang mit der ausbildet, kann durch seine Ausbildungsleistung den aktiven Arbeitsmarktpolitik, über den § 10 und Ähnli- Meisterbrief erhalten. ches, Ausbildungsplatzentwickler, Lehrstellenentwickler Alle sieben Jahre findet eine Überprüfung statt, so- eingestellt, ohne dass der Bund dazu Mittel zur Verfü- dass die Bereitschaft zur Ausbildung in diesen Berufen gung gestellt hat. Dazu haben wir keine Anweisung von nachhaltig gewährleistet ist. Wenn Sie unseren Vorstel- oben gebraucht. Das hat in manchen Regionen von 1994 lungen folgen, dann hätten Sie zwei Probleme gelöst: Ih- bis zum Jahr 2002, ja bis zum Jahr 2003 mehr als ren Zoff mit dem Handwerk und das Fehlen der Ausbil- 60 Prozent, mehr als 70 Prozent neue qualifizierte Aus- dungsmotivation in diesem Bereich. bildungsplätze gebracht. Da brauchen wir keine Beleh- rung, sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie uns miteinander vernünftig und praktisch orientiert reden! Das Saarland zeigt: Es geht in der Pra- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ xis. Stimmen Sie unserem Antrag zu! DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/ CSU]: Wenn es gut funktioniert, warum führen (Beifall bei der CDU/CSU) Sie es dann jetzt nicht ein?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5361

Willi Brase (A) Das Schöne war, dass die Industrie- und Handelskam- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) mern und die Arbeitgeberverbände das nachher selbst DIE GRÜNEN – Christoph Hartmann [Hom- mitgetragen haben. Wir haben drei Jahre über ABM ge- burg] [FDP]: Dann sollen die Gewerkschaften fördert. Im vierten Jahr und in den folgenden Jahren doch mal ausbilden! Das sind die, die am muss der vorherige ABM-Mitarbeiter dann vernünftig meisten Ausbildung abbauen! – Jürgen angestellt werden. Das war eine sehr gute Maßnahme. Koppelin [FDP]: Wie viele Ausbildungsplätze haben die Gewerkschaften?) (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Wenn alles so toll ist, warum sieht es dann so Lassen Sie mich noch auf einen Punkt eingehen, der schlecht aus?) in der Debatte immer wieder eine Rolle spielt, nämlich die Frage der Ausbildungen mit vermindertem Theorie- Die Ausbildungsvergütung soll – so habe ich es im teil, der Kurzausbildungen und der zweijährigen Ausbil- Antrag der FDP und auch in den Anträgen der CDU/ dungen. Es wird behauptet, dass sich die Tarifpartner CSU gelesen – gesenkt werden. Sie haben in anderem bisher so gut wie nie auf die Schaffung neuer Berufe mit Zusammenhang darauf hingewiesen, dass wir eine hohe zweijähriger Ausbildung mit weniger anspruchsvollem Zahl von arbeitslosen Jugendlichen haben, dass viele Profil verständigt haben und dass dies ausbildungswil- junge Menschen einen Ausbildungsplatz suchen, und lige Betriebe hemmt. Gleichzeitig müssen wir zur hervorgehoben, dass dahinter Menschen stehen. Ich sage Kenntnis nehmen, dass Unternehmen immer mehr dazu Ihnen sehr deutlich: Bei dem Durchschnittsalter, in dem übergehen, Ausbildungsstellen nicht zu besetzen, wenn die jungen Menschen sind, wenn sie eine Ausbildung es den Bewerberinnen und Bewerbern an grundlegenden machen, müssen wir davon ausgehen, dass sie schon al- Qualifikationen fehlt. Ich meine, dass man über diesen leine leben. Mit ihrer Ausbildungsvergütung müssen sie Widerspruch trefflich streiten kann und dies auch sicher- ihren Lebensunterhalt und das, was sie möchten, bestrei- lich tun muss. ten. Schon allein aus diesem Grund verbietet es sich, ge- rade bei ihnen Geld einzusparen, damit andere einen (Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Was Vorteil davon haben. Das können und werden wir nicht ist da für ein Widerspruch?) mitmachen. Empirisch ist der Zusammenhang zwischen Ausbil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dungsplatzabbau und Mangel an geeigneten Bewerbern DIE GRÜNEN – Christoph Hartmann [Hom- bis heute nicht nachgewiesen worden. Deshalb halte ich burg] [FDP]: So kann nur jemand reden, der es für sinnvoll, noch einmal auf Folgendes hinzuweisen: noch nie Verantwortung für andere gehabt Ich glaube, dass es notwendig und richtig ist, den jungen hat!) Menschen eine voll qualifizierende Ausbildung zu er- (B) möglichen, die sich daran orientiert, dass eine spätere (D) Über die beabsichtigte Senkung der Ausbildungsver- Beschäftigungsfähigkeit hergestellt wird. Wenn wir für gütungen, die ja in Tarifverträgen geregelt sind, wird der gute Qualität sorgen, können wir das duale Ausbildungs- weitere Versuch unternommen, einen Angriff auf die system weiter voranbringen. Tarifautonomie zu starten und die Tarifautonomie aus- zuhebeln. Personen wie Herr Braun oder Herr Philipp, die sa- gen, dass über 90 000 junge Leute – ob angeblich oder (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Sie haben tatsächlich, sei dahingestellt – nicht fähig sind, eine Aus- bei dem, was wir gesagt haben, nicht zugehört, bildung zu beginnen, bekommen mit § 50 ff. Berufsbil- Herr Brase! Tut mir Leid!) dungsgesetz ein Instrument in die Hand, womit sie die- ses Manko in den Griff bekommen und bekämpfen Das hat ja Methode. Auch in anderen Zusammenhängen, können. Nehmen Sie doch bis Ende März nächsten Jah- über die Veränderung beim Günstigkeitsprinzip und ähn- res 10 000 bis 15 000 junge Leute in die betriebliche Be- lichem, wird versucht, die Tarifautonomie anzutasten rufsausbildung auf, wie es die IG Metall und andere im und sie so zu gestalten, dass sie nur noch aus Sicht der Zusammenhang mit dem Lernpakt vorgeschlagen haben! Unternehmen gut funktioniert. Das können und werden Wenn Sie das machen, helfen Sie den jungen Leuten wir nicht mitmachen, liebe Kolleginnen und Kollegen! ganz konkret und wir kommen bei der Bewältigung die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ser Krise ein Stück weiter. DIE GRÜNEN – Jürgen Koppelin [FDP]: Da (Beifall bei der SPD) spricht ein Gewerkschaftssekretär! – Christoph Hartmann [Homburg] [FDP]: Ty- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. pisch Gewerkschaftssekretär!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Darum, ob das typisch Gewerkschaftssekretär ist, geht DIE GRÜNEN) es gar nicht. (Jürgen Koppelin [FDP]: Doch, genau darum Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: geht es!) Ich schließe die Aussprache. Es geht darum, dass auch in dieser Republik, in dieser Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Gesellschaft starke Gewerkschaften sozialen Fortschritt Drucksache 15/1348 an die in der Tagesordnung auf- für die abhängig Beschäftigten erreichen. geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Diesbezüglich 5362 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist die Überweisung Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) so beschlossen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) Tagesordnungspunkt 3 b: Wir kommen zur Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung – Drucksache 15/1487 – und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1302. Überweisungsvorschlag: Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- Rechtsausschuss (f) empfehlung in Kenntnis des Berufsbildungsberichts Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 2003 der Bundesregierung auf Drucksache 15/1000 die Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Offensive für Ausschuss für Tourismus Ausbildung – Modernisierung der beruflichen Bildung“ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die auf der Drucksache 15/741. Wer stimmt für diese Be- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- tungen? – Das Erste war die Mehrheit. Die Beschluss- sen. empfehlung ist angenommen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des nächst der Bundesministerin Brigitte Zypries. Berufsbildungsberichts 2003 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/653 mit dem Titel „Reformen in der beruflichen Bildung voran- Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: treiben – Lehrstellenmangel bekämpfen“. Wer stimmt für Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Damen und Herren! Die Reform des Gesetzes gegen den Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- unlauteren Wettbewerb steht unter dem Motto „Wirt- men. schaft stärken – Verbraucherrechte sichern“. Wir sehen in der Stärkung der Wirtschaft und der Sicherung der Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- Verbraucherrechte keine Gegensätze. Die Aufgabe eines ner Beschlussempfehlung, wiederum unter Bezug- modernen Wirtschaftsrechtes besteht gerade darin, allen nahme auf den Berufsbildungsbericht, die Ablehnung am Wirtschaftsleben Beteiligten einen auf ihre Bedürf- des Antrags der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/587 nisse abgestimmten Rechtsrahmen zur Verfügung zu mit dem Titel „Für die Stärkung der dualen Berufsausbil- stellen. dung in Deutschland – mehr Chancen durch Flexibilisie- rung und einen individuellen Ausbildungspass“. Wer Dabei hatten wir drei Ziele klar vor Augen: erstens (B) stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher, wo (D) dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist das so beschlos- er nötig ist, zweitens die Stärkung der Eigenverantwor- sen. tung. Wir gehen davon aus, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher mündig sind. Tagesordnungspunkt 3 c: Wir kommen zur Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung (Jürgen Koppelin [FDP]: Deswegen ist das und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1304. Ministerium auch nicht vertreten! Wo ist Frau Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- Künast?) empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen – Es ist so, Herr Abgeordneter, dass der Verbraucher- von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache schutz nicht alleine von Frau Künast vertreten wird, 15/1090 mit dem Titel „Lasten gerecht verteilen – Mehr Unternehmen für Ausbildung gewinnen“. Wer stimmt für (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FPD: diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Gott sei Dank! – Beifall bei der FDP sowie bei Wer möchte sich enthalten? – Die Beschlussempfehlung Abgeordneten der CDU/CSU) ist angenommen. sondern auch von anderen Ministerien. Wir vertreten die Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung Verbraucher insofern, als es um unlauteren Wettbewerb des Antrages der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache geht. Insoweit hat alles seine Ordnung 15/925 mit dem Titel „Ausbildungsplatzabgabe zerstört (Zuruf von der CDU/CSU: Alles wird gut!) Ausbildungsmotivation“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Wir wollen die Eigenverantwortung der Bürgerinnen Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen. und Bürger stärken. Wo sie oder die Wirtschaft gesell- schaftliche Aufgaben genauso gut oder sogar besser als Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- der Staat wahrnehmen können, sollen sie es auch tun. ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/1130 mit dem Titel Das dritte Ziel, das uns geleitet hat, ist ebenso wich- „Ausbildung belohnen statt bestrafen – Ausbildungs- tig, nämlich die Liberalisierung der Wirtschaft. Wir wol- plätze in Betrieben schaffen statt Warteschleifen finan- len keine Gängelung der Wirtschaft durch bevormun- zieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – dende Vorschriften. Gesetze soll es nur da geben, wo es Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich enthalten? – für einen fairen Wettbewerb notwendig ist. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Genau Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: das unterscheidet Sie von Frau Künast!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5363

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Genau das haben wir, wie wir meinen, mit dem Ihnen Mut zu interessanten Angeboten und den Verbrauchern (C) jetzt vorliegenden Entwurf eines Gesetzes gegen den un- Mut zur Entscheidung machen. lauteren Wettbewerb auch verwirklicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, ich hatte es bereits gesagt: Wir erreichen alle drei Ziele und haben das richtige Ver- Man muss sehen, wo doch Regelungen nötig sind. hältnis zwischen den verschiedenen Mitteln, die zur Unlautere Geschäftspraktiken bleiben nach wie vor Auswahl standen, gefunden. verboten. Denn da müssen wir zum Schutz der Verbrau- cher klare Grenzen ziehen. Es gibt dafür einen nicht ab- Lassen Sie mich bei unserem Ziel der Liberalisie- schließenden Katalog von Beispielsfällen. Ich möchte rung des Wettbewerbsrechts beginnen. Wie Sie wis- ausdrücklich auf das Verbot der Schleichwerbung, auf sen, ist das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb fast das Verbot der Ausnutzung der Unerfahrenheit von 100 Jahre unverändert geblieben und gilt im internatio- Kindern und Jugendlichen und auf das Verbot der Kopp- nalen Vergleich als ganz besonders restriktiv. Dies führt lung von Gewinnspielen mit dem Erwerb einer Ware für deutsche Unternehmer zu Wettbewerbsnachteilen im hinweisen. europäischen Binnenmarkt. Ebenso hat es die beim Bun- desministerium der Justiz eingerichtete Expertenarbeits- Als irreführende Werbung werden wir die Werbung gruppe, die uns beim Entwurf des Gesetzes beraten hat, mit vermeintlichen Preisnachlässen verbieten: erst mit gesehen. Bei allen Unterschieden im Detail waren sich so genannten Mondpreisen ganz hoch ausgezeichnet, alle darin einig, dass die mit der Abschaffung des Ra- dann ganz stark heruntergesetzt. Auch Lockvogelange- battgesetzes und der Zugabeverordnung begonnene Li- bote – es heißt „so lange der Vorrat reicht“ und im Ge- beralisierung des Wettbewerbsrechts fortgesetzt werden schäft erfährt man, dass nur ein Stück vorhanden war – muss. sollen untersagt werden. Diesen Ansatz greift der Regierungsentwurf auf. Im (Rainer Funke [FDP]: Das darf man heute neuen UWG soll die Reglementierung von Sonder- schon nicht!) veranstaltungen wie Sommerschlussverkauf, Winter- Ein Thema, das uns alle in verschiedenen Gebieten schlussverkauf, Jubiläumsverkauf und Räumungsver- beschäftigt, ist die belästigende Werbung. Wir sagen: kauf ersatzlos entfallen. An dieser Stelle ist es mir wich- Eine unzumutbare Belästigung ist die Werbung ohne tig, deutlich zu machen, dass wir nicht wollen, dass Einwilligung des Adressaten mittels Telefonanrufen, Sommer- und Winterschlussverkäufe zukünftig nicht mittels Faxgeräten oder bei elektronischer Post. (B) sind. Es liegt vielmehr in der freien unternehmerischen (D) Entscheidung des Handels, sich auf Schlussverkaufster- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des mine zu einigen und Schlussverkäufe durchzuführen. Es BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wird nicht mehr wie bisher im Gesetz stehen, welche Das Stichwort Spamming ist Ihnen allen längst bekannt, 14 Tage im Jahr dafür erlaubt sind. Wir meinen, dass es nicht nur aus der Wirtschaftspresse. das neue Gesetz den Gewerbetreibenden ermöglicht, mit neuen Geschäftsideen Kunden zu finden und an sich zu Wir wollen außerdem gegen betrügerische Aktionen binden. Rabattaktionen können künftig auch lokal auf vorgehen, in denen der Schaden für den einzelnen Ver- Stadtebene, auf Gemeindeebene oder sogar nur für ein- braucher mit ein paar Euro gering ist, der Täter aber eine zelne Stadtteile verabredet werden, zum Beispiel anläss- Menge Geld verdient. Denn bei hunderttausend Leuten, lich von Stadtfesten. Ferner können auch Händlerpools die ein Fax zurücksenden, um künftig von Werbung be- gebildet oder Kundencoupons für Stadtbezirke herausge- freit zu werden, ist der Gewinn schon enorm. Für solche geben werden. Fälle, wenn jemand vorsätzlich gegen das UWG verstößt und dadurch die Kunden übervorteilt, haben wir einen Die von uns vorgeschlagene Liberalisierung ent- Gewinnabschöpfungsanspruch vorgesehen, den die spricht auch der Zielsetzung einer verbraucherfreund- Verbraucherschutzverbände geltend machen sollen. Die lichen Politik. Wir orientieren uns dabei am Leitbild des Klage ist – insofern muss man keine Sorge haben – für mündigen Verbrauchers, der künftig selbst entscheiden die Verbände völlig uneigennützig; denn der Erlös fließt soll, welches Angebot sich für ihn lohnt. Besonders in die Staatskasse. wichtig ist mir, dass wir den Verbraucher in § 1 des Ge- setzentwurfs erstmals als Schutzobjekt benannt haben. Meine Damen und Herren, dieses neue Gesetz gegen Denn auch hier wollen wir den Weg der Eigenverant- den unlauteren Wettbewerb wird uns auch im europäi- wortung und der Selbstregulierung gehen. Dieser Weg schen Rahmen wieder die Stellung geben, die wir brau- ist für den Verbraucherschutz deutlich wirksamer, als chen. Wo wir bisher weniger vorbildhaft waren, werden wenn weitere behördliche Eingriffsmöglichkeiten bei wir jetzt an der Spitze der Bewegung stehen. Ich bin zu- bestimmten Verkaufsaktionen geschaffen würden. Wir versichtlich, dass wir unseren Ansatz der Versöhnung setzen darauf, dass Verbraucherinnen und Verbraucher von Wirtschaft und Verbrauchern auch im Rahmen der zu unterscheiden lernen, welche Aktionsangebote für sie Europäischen Kommission werden durchsetzen können. wirklich attraktiv sind und bei welchen Verkaufsaktio- Sie wissen, dass dieser Ansatz dort noch nicht so gepflegt nen ihnen gegebenenfalls minderwertige Waren angebo- wird. Vielmehr gibt es dort immer noch gegenläufige In- ten werden. Unsere Politik will der Wirtschaft wieder teressen. Wir werden also auch auf europäischer Ebene 5364 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) dafür werben, dass die Verbindung von Wirtschaft, Wett- nicht die im deutschen Recht verankerten Schutzobjekte (C) bewerb und Verbraucherrechten durchgesetzt wird. wie die Allgemeinheit und die Mitbewerber. Deshalb sind erhebliche Abgrenzungsprobleme zwischen dem Vielen Dank. deutschen Wettbewerbsrecht und den EU-Richtlinien (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vorprogrammiert. Dies wird zu einer verstärkten Rechts- DIE GRÜNEN) unsicherheit und zu Wettbewerbsnachteilen von deut- schen Unternehmen führen, die bei der europäischen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Harmonisierung des Wettbewerbsrechts beseitigt werden müssen. Wie Sie vorhin schon angesprochen haben: Es Ich erteile das Wort dem Kollegen Ingo wird da noch einiges zu tun sein. Wellenreuther, CDU/CSU-Fraktion. Meine Damen und Herren, ich möchte einige kon- (Beifall bei der CDU/CSU) krete Regelungen der Gesetzesnovelle ansprechen, die noch Veränderungen bedürfen. Ich nenne das Thema der Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Sonderveranstaltungen; auch Sie, Frau Justizministe- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- rin, haben gerade davon gesprochen. Noch einmal zur ren! Mit dem Entwurf einer Novelle des Gesetzes gegen Erinnerung: Nach dem Fall des Rabattgesetzes und der den unlauteren Wettbewerb wird am heutigen Tag die Zugabeverordnung vor circa zwei Jahren entstand in der erste größere Gesetzesvorlage beraten, die die Bundesre- Praxis Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Werbung mit gierung seit der Bundestagswahl vor einem Jahr zu- Sonderaktionen und mit Preisnachlässen. Diese Arten stande gebracht hat. Herzlichen Glückwunsch! der Werbung sind zwar nach dem Rabattgesetz nicht mehr, aber nach dem geltenden UWG verboten, weil sie (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Besser eine unzulässige Sonderverkaufsveranstaltung darstellen eine als keine!) können. Deshalb meinen auch wir, dass eine Abschaf- – Das ist wahr. fung der §§ 7 und 8 des UWG konsequent ist. Im Unterschied zum altehrwürdigen UWG aus dem Dann entsteht aber genau das Problem, dass die in § 7 Jahre 1909 wird in der Novelle nun erstmals, Frau verankerten zulässigen Ausnahmetatbestände – Som- Künast – – Jetzt sage ich schon Frau Künast zu Frau mer- und Winterschlussverkauf – nicht mehr zu be- Zypries. stimmten Zeiten im Jahr geschützt wären. Gerade der diesjährige Sommerschlussverkauf hat wieder gezeigt, (Heiterkeit – Joachim Stünker [SPD]: Da kön- dass Verbraucher und Unternehmen diesen Sonderver- nen Sie einmal sehen, was für ein Feindbild (B) kauf nutzen. Diese Tradition hat sich beim Handel zur (D) Sie haben! Ihre Augen sind dick zugekleistert! Lagerräumung bewährt, ist bei Verbrauchern und Me- Das war ein toller Versprecher!) dien beliebt und ist als bundesweiter Aktionszeitraum – Herr Stünker, heute komme ich ausnahmsweise nicht anerkannt. Wir glauben nicht, dass eine Verständigung zu Ihnen. Aber lassen Sie mich fortfahren. der Wirtschaft ausreichend ist, Frau Zypries, Sie haben es angesprochen: In der (Dirk Manzewski [SPD]: Das haben Sie doch Novelle wird nun erstmals der Verbraucher als Schutz- ewig gefordert! Das ist eine ewige Forderung objekt des Gesetzes ausdrücklich erwähnt. Man könnte von Ihnen!) also schnell der Versuchung erliegen, den Entwurf als um diese Verkäufe zu ermöglichen. Wir fordern Sie des- „Meilenstein“ zu bezeichnen, wie Sie es, Frau Justizmi- halb auf, den Gesetzentwurf so zu ändern, dass Sommer- nisterin, in Ihrer Rede am 7. Mai hier im Bundestag und Winterschlussverkäufe – auch begrifflich – weiter- schon einmal getan haben. Dabei wurde aber lediglich hin im UWG geschützt werden. das niedergeschrieben, was seit Jahrzehnten ständige Rechtsprechung in Deutschland ist. Neben dem eigentli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen Ziel des Gesetzes, nämlich den freien und fairen Wettbewerb zu gewährleisten, wird bisher schon außer Umstritten ist der zweite Punkt, den ich ansprechen den Mitbewerbern und der Allgemeinheit auch der Ver- möchte, der Gewinnabschöpfungsanspruch in §10UWG; braucher geschützt. Diese Schutzzwecktrias ist daher auch davon haben Sie gesprochen, Frau Zypries. Auf keine Erfindung der Bundesregierung, sondern Verdienst den ersten Blick ist dieser Anspruch zu begrüßen. Nach richterlicher Rechtsfortbildung. dem Motto „Wettbewerbswidriges Handeln darf sich nicht lohnen“ soll unlauteres Werben auch dann bestraft Gescheitert ist die Bundesregierung mit dem Versuch, werden, wenn der einzelne Verbraucher mit relativ ge- diese Gesetzesnovelle als Maßstab für ein europäisches ringen Kosten belastet wird, er diese wegen Geringfü- Lauterkeitsrecht im Wettbewerb vorzulegen. Frau gigkeit nicht einklagen würde, der Gewinn in der Zypries, Sie kommen damit zu spät. Sie stehen gerade Summe aber erheblich ist. Ordnungspolitisch ist dies nicht „an der Spitze der Bewegung“, wie Sie gerade aus- vertretbar, weil dadurch ein wettbewerbswidriger und geführt haben. Bereits im Juni dieses Jahres lag nämlich damit ungerechtfertigter Vorteil neutralisiert würde. Wir ein Vorschlag der Europäischen Kommission für eine vertreten allerdings – immer noch – die Auffassung, dass Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken vor. Darin ein solcher Anspruch unpraktikabel und für Gerichte und sind als Schutzobjekte ausschließlich die wirtschaftli- Parteien nicht zu handhaben ist; denn dem klagebefugten chen Interessen der Verbraucher niedergelegt und eben Verband wird die Gewinnermittlung sehr schwer fallen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5365

Ingo Wellenreuther (A) Es ist bekanntermaßen bereits unmöglich, den Erfolg ei- Damit haben Sie fahrlässig einen immensen Wettbe- (C) ner zulässigen Werbemaßnahme in konkrete Zahlen zu werbsnachteil für die deutschen Direktvermarkter in fassen. Es gilt wohl der Satz: Die Hälfte des Geldes, das Kauf genommen. Gerade in einer Zeit der großen Kon- man in die Werbung steckt, ist zum Fenster herausge- sumzurückhaltung wird der deutschen Wirtschaft eine worfen – man weiß nur nicht, welche. Erst recht unmög- ganz wichtige Möglichkeit der Kundenwerbung entzo- lich wird es sein, festzustellen, welcher Mehrerlös ge- gen, die in den übrigen EU-Staaten bereits Standard ist. rade auf der Unlauterkeit einer Werbeaktion beruht. Deswegen meinen wir, dass diese Regelung sehr schwer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und handhabbar ist. der FDP) Außerdem besteht die Gefahr der Betriebsspionage; Auf die vielen Arbeitsplätze, die die Bundesregierung denn zur Errechnung der Gewinnspanne sind Kenntnisse damit gefährdet, möchte ich an dieser Stelle nicht einge- über Umsätze und Kosten des Unternehmens nötig. Um hen. diese zu erlangen, müsste der Gläubiger eine Auskunfts- Frau Justizministerin, helfen Sie uns, den Markt zu li- klage erheben und verlangen, dass der Unternehmer beralisieren, Rechtssicherheit zu schaffen und Arbeits- seine Kalkulationen, Einkaufspreise, Erträge, Vorrats- plätze zu schützen! Überarbeiten Sie den Gesetzentwurf mengen und so weiter offen legt und damit seine Be- noch einmal! triebsgeheimnisse preisgibt. Danke schön. (Joachim Stünker [SPD]: Die bösen Sozis wollen ausspionieren!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das kann nicht gewollt sein. Die Probleme bei der Ge- winnermittlung können auch nicht – wie es bereits mehr- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: fach beschrieben worden ist – durch richterliche Schät- Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Höfken, zung gelöst werden. Die Gewinnermittlung kann nur auf Bündnis 90/Die Grünen. der Grundlage von Tatsachen und nicht einfach ins Blaue hinein erfolgen. Auch der Nachweis des Vorsatzes (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jetzt wird große Schwierigkeiten bereiten. lässt die Frau Künast Sie hier allein reden! Das finde ich gemein! – Gegenruf der Abg. Rechtssystematisch ist der Gewinnabschöpfungsan- Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE spruch am Ende aber auch systemwidrig. Die Verpflich- GRÜNEN: Sie kann das auch allein!) tung, den wettbewerbswidrig erlangten Gewinn an den (B) Bundeshaushalt abzuführen, hat nach Ihrer Begründung (D) Strafcharakter, der dem deutschen Zivilrecht aber Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fremd ist. Die Verhängung rein strafender Sanktionen für Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen ein verbotenes Verhalten ist eine Aufgabe, die bisher der und Herren! Liebe Kollegen! Ich wiederhole es: Frau Staat übernommen hat und gerade nicht private Ver- Zypries, es ist ein Meilenstein im Wettbewerbsrecht, bände. dass der Verbraucher als von unlauterer Werbung un- Frau Zypries, der geplante Gewinnabschöpfungsan- mittelbar betroffener Marktteilnehmer endlich ebenfalls spruch ist zwar eine gut gemeinte, aber eine schlecht ge- vom UWG geschützt wird. Verbraucher als Marktteil- machte Regelung, um vor Wettbewerbsverstößen abzu- nehmer nun endlich auch mit einzubeziehen ist ein schrecken oder sie jedenfalls nicht zu belohnen. Er ist in Wechsel in der Sichtweise. Dafür verdienen Sie wirklich den überwiegenden Fallkonstellationen unpraktikabel. Dank und Unterstützung. Auch die CDU/CSU sollte ein- Jedenfalls ist er ungeeignet, dem Staat eine neue Einnah- sehen, dass Verbraucher gleichberechtigte Marktteilneh- mequelle zu verschaffen. Dieses Ansinnen, Frau Zypries, mer sein sollten. ehrt Sie zwar sehr. Aber den Haushalt muss Herr Eichel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – anders finanzieren. Rainer Funke [FDP]: Ein Systemwechsel!) Zum Schluss noch ein Punkt, der geändert werden Die Forderung der Grünen nach mehr Chancengleichheit muss. Es geht um die vorgesehene Regelung zum Tele- für Verbraucher findet hier den entsprechenden Wider- fonmarketing. In den meisten Staaten der EU setzt man hall. Es ist Ausdruck der Querschnittsaufgabe Verbrau- hier auf den mündigen Bürger. Auch Sie haben vorhin cherschutz, dass sich die gesamte Bundesregierung die- davon gesprochen, dass das ein Anliegen in der Geset- ses Ansinnen zu Eigen gemacht hat. zesnovelle war. Europa hat sich für eine liberale und wirtschaftsfreundliche Regelung entschieden. Das heißt, Unlauter ist jetzt die Ausnutzung der geschäftlichen wer nicht mit Telefonwerbung belästigt werden möchte, Unerfahrenheit insbesondere von Kindern und Jugend- kann dies im Verlauf des Telefonats kundtun und darf lichen oder der Leichtgläubigkeit und Angst von Ver- erst dann nicht mehr telefonisch beworben werden. brauchergruppen; darauf hat die Ministerin bereits hin- Sie dagegen haben sich für eine Regelung ausgespro- gewiesen. Dies ist in Deutschland ein ganz relevanter chen, wonach man nur angerufen werden darf, wenn Markt. Es gibt bei 6- bis 13-jährigen Kindern und Ju- man vorher sein Einverständnis dazu gibt. gendlichen ein Konsumpotenzial von etwa 5,1 Milliar- den Euro. Das zeigt, wie relevant eine solche Maßnahme (Beifall des Abg. [SPD]) ist. Dies ist ein gesellschaftlich hochaktuelles Thema. 5366 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Ulrike Höfken (A) Unlauter sind zukünftig auch – darüber ist hier im Die Bundesregierung will darüber hinaus weiteren (C) Parlament diskutiert worden; Herr Kollege Missständen im Wettbewerbsrecht entgegentreten. Das Wellenreuther, ich verstehe Ihre Einwände nicht – unzu- betrifft zum Beispiel Lockvogelangebote. Es ist natür- mutbare Belästigungen wie die Zusendung offensicht- lich unangenehm, wenn ein Verbraucher oder eine Ver- lich unerwünschter Werbung sowie telefonische Werbe- braucherin, die frühmorgens in der Zeitung eine Anzeige gespräche und die automatisierte Werbung per Fax, E-Mail sieht und sich zum Laden begibt, dann dort auf leere Re- oder Anrufmaschinen, so genannte Spammings. gale stößt. Sie sollten sich einmal vor Augen führen, was Ihre (Rainer Funke [FDP]: Das ist heute schon Fraktion in diesem Bereich fordert – dies ist keinesfalls wettbewerbswidrig!) ein Widerspruch zu uns –: ein ausdrückliches Verbot, klare Definitionen, Sanktionen, Verantwortlichkeiten Auch das ist hier neu geregelt. Das heißt, gegen die usw. Das sind ganz klar ordnungspolitische Maßnah- Mondpreise wird nun endlich vorgegangen. men, übrigens nicht ganz falsch. Aber sie stellen keines- falls – Sie tun hier so – eine völlige Liberalisierung dar. Ihr Argument, das Sonderveranstaltungen wie Die, so sagen Sie, sei der beste Weg. Das ist eben nicht Schluss-, Jubiläums- oder Räumungsverkäufe betrifft, der Fall. entbehrt jeder Grundlage. Die Reglementierung wird er- satzlos gestrichen. Das heißt, es wird tatsächlich ein grö- Es gilt vielmehr, im UWG einen gesetzlichen Rah- ßerer Freiraum, eine Liberalisierung geschaffen. Das men zu schaffen. Wie dieser durchgesetzt wird – dies ist hindert den Handel ja keinesfalls daran, entsprechende tatsächlich nicht ganz einfach –, muss noch durch ein- Aktionen durchzuführen. Es gibt auch keine Bestim- zelne Maßnahmen bestimmt werden und muss sich in mung im Kartellrecht, die dagegen spräche, entspre- der Praxis zeigen. Wir haben natürlich beim Spamming chende Absprachen zu treffen. Die Bestimmung im Kar- Probleme durch ausländische Anbieter, die nicht ohne tellrecht greift bei Preisabsprachen, aber sie verbietet weiteres erfasst werden können. Aber das UWG bietet nun erst einmal einen gesetzlichen Rahmen. doch nicht gemeinsame Aktionen in dem Bereich Schlussverkäufe durchzuführen. Diese sind nach wie vor Der Grundsatz, dass ohne vorherige Einwilligung des möglich. Darum halte ich die Stellungnahme des HDE Marktteilnehmers – ich meine das Opt-in-Verfahren – für nicht gerechtfertigt. keine Werbung erfolgen darf, ist wichtig. Hier unterstüt- zen wir ganz ausdrücklich die Haltung der Bundesregie- Mit dem neu eingeführten Rechtsinstrument der rung und nicht die des Bundesrates. Denn das entspricht Unrechtsgewinnabschöpfung soll die Wirksamkeit des im Übrigen der BGH-Rechtsprechung. Darum kann das Gesetzes verbessert werden, indem die Abschreckung (B) Argument der Vernichtung von Arbeitsplätzen gar nicht entsprechend groß gehalten wird. Diese Regelung soll (D) richtig sein. nur bei vorsätzlichem Handeln der Unternehmen gelten. Die Verbraucherverbände haben heute Morgen darauf (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das hingewiesen, dass bei der Einführung dieses Instrumen- Argument ist sehr richtig!) tes möglicherweise noch Praktikabilitätsüberlegungen Denn solche Praktiken, auch wenn durch sie Arbeits- angestellt werden müssen. Dem können wir durchaus plätze geschaffen werden, sind schon jetzt rechtswidrig. beipflichten. Das Wichtige ist, dass dieses Instrument Insofern sagen wir: Hier hat die Bundesregierung genau überhaupt eingeführt wird und dass damit ein Anreiz ge- den richtigen und im Übrigen rechtskonformen Ansatz schaffen wird, nicht mehr schwarzes Schaf zu sein. Denn gewählt. dadurch wurden nicht nur die Verbraucher geschädigt, sondern alle seriösen Anbieter. Insofern unterstützen wir (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist einmal mit großer Leidenschaft die Bundesregierung bei der etwas Neues!) Einführung dieses Instrumentes. Unerwünschte Werbe-E-Mails, so genannte Spams, Fazit: Mit der vorgelegten Modernisierung des Geset- nerven – das kennen wir alle –, machen – auch das wissen zes gegen den unlauteren Wettbewerb erreicht die Bun- viele von uns – inzwischen 50 Prozent des elektronischen desregierung wichtige Verbesserungen zum Schutz der Postverkehrs aus und verursachen Kosten in Milliarden- Verbraucher. Unlautere Werbung schadet Verbrauchern höhe für Beseitigung, Schutzmaßnahmen, Leitungskos- ten und Serverbetrieb. Das sind Produktivitätsverluste in und der Wirtschaft gleichermaßen. Deswegen ist es gut, Höhe von etwa 2,5 Milliarden Euro. Ich denke, es ist ge- dass wir endlich diese Vorlage bekommen haben und sie rechtfertigt, sich im UWG dieses Problems anzunehmen. im parlamentarischen Verfahren behandeln können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir wollen mit diesem neuen UWG auch für neue und bei der SPD) Technologien Anreize schaffen. Die Filtertechnik müsste verfeinert werden. Während der Umsetzung muss man Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sicherlich noch einmal darüber diskutieren, ob es noch weiterer Maßnahmen in Form von Bußgeldern gegen das Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Funke, Versenden von Werbespams und Ähnlichem bedarf. FDP-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5367

(A) Rainer Funke (FDP): Klage im Erfolgsfall mit einer größeren Sanktion verse- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol- hen, als der Gewinnabschöpfungsanspruch wahrschein- legin Höfken, Sie haben eben gesagt: Endlich ist dieses lich wäre. Insofern war das im Wettbewerbsrecht bislang Gesetz da. schon hinreichend geregelt. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das sehen wir Ich warne vor diesem Gewinnabschöpfungsan- auch so!) spruch; einige Argumente sind schon gebracht worden. Darin liegt zumindest ein gewisser Systemwechsel. Das kann man unterstreichen. Frau Ministerin Zypries, wir haben dieses Gesetz schon in der letzten Legislatur- (Beifall bei der FDP) periode angemahnt. Wir sind froh, dass es jetzt in dieser Wir kommen zu amerikanischen Verhältnissen. Legislaturperiode – vier Jahre verspätet – gekommen ist. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP], zur (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Immerhin!) SPD gewandt: Sonst seid Ihr ja gegen ameri- Ob wir mit dem Inhalt einverstanden sein können, kanische Verhältnisse! – Carl-Ludwig Thiele darüber werden wir sicherlich noch in den Beratungen [FDP]: Bis gestern! – Hans-Joachim Otto zu diskutieren haben. Aber im Grundsatz hat sich das [Frankfurt] [FDP]: Heute hat sich alles geän- UWG in den meisten Teilen durchaus bewährt. Die §§ 1 dert, weil sie wieder Freunde geworden sind!) und 3 UWG sind Generalklauseln, zu denen der BGH Wenn man den Fall betrachtet, der bei Lidl mit dem Oli- eine ausgewogene Rechtsprechung gefunden hat. Nicht venöl passiert ist – davon wurde heute berichtet –, dann bewährt haben sich die §§ 7 und 8 UWG. Deswegen sieht man, dass es Möglichkeiten gibt, in anderen Berei- werden sie jetzt auch gestrichen. Das ist eine alte Forde- chen Sanktionen zu verhängen, zum Beispiel auch im rung auch der FDP. Wir sind damit also sehr zufrieden. Strafrecht. Wir sollten erst einmal sehen, dass wir die (Beifall bei der FDP) Sanktionsmöglichkeiten, die das Wettbewerbsrecht bie- tet, ausnutzen, und keine neuen Sanktionsmaßnahmen Ich bin auch damit zufrieden, Frau Ministerin, dass einführen, die nicht hilfreich sind. Sie vorhin klargestellt haben, dass sich Organisationen oder Kaufleute auf regionaler oder örtlicher Ebene zu- Ich bin der Meinung, dass Ihr Gesetzentwurf noch sammenfinden können, um einen Sommerschlussver- sehr unvollständig ist. Wir werden im Rechtsausschuss kauf durchzuführen. Diese Klarstellung werden wir im noch kräftig daran arbeiten müssen. Aber ich hoffe, dass Rechtsausschuss in den Bericht aufnehmen. In diesem wir zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen werden. Punkt wären unsere Bedenken also auch ausgeräumt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) (D) Sie nehmen beim UWG einen Systemwechsel vor. Bislang war das UWG als Gesetz so angelegt, dass es Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: die Wettbewerber untereinander und gegeneinander Nächster Redner ist der Kollege Dirk Manzewski, schützte. Wir Verbraucher kamen darin nicht vor; das ist SPD-Fraktion. richtig. Das kann man aber durchaus auch begrüßen. In den zahlreichen zivilrechtlichen und handelsrechtlichen Nebengesetzen gibt es Verbraucherschutzbestimmun- Dirk Manzewski (SPD): gen, die in der letzten Legislaturperiode überwiegend im Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem BGB untergebracht worden sind. Wir haben genügend hier heute andebattierten Gesetzentwurf soll das Gesetz Verbraucherschutzgesetze, die wir zum großen Teil auf gegen den unlauteren Wettbewerb umfassend reformiert dem Weg über die Europäische Union bekommen haben. werden. Ich glaube, Frau Ministerin, dass der Bundesre- Es bedarf meines Erachtens also nicht dieses System- gierung dabei der schwierige Spagat zwischen der weite- wechsels vom Wettbewerbsrecht hin zum Verbraucher- ren Liberalisierung des Wettbewerbsrechts einerseits schutz im UWG. Sie müssten das Wettbewerbsrecht, also und der Beibehaltung des Lauterkeitsgrundsatzes ande- das Recht der Kaufleute untereinander und gegeneinan- rerseits recht gut gelungen ist. der, eher ausbauen und nicht, wie Sie es jetzt tun, durch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Verbraucherschutzbestimmungen relativieren. Mit der Aufhebung von Rabattgesetz und Zugabever- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ordnung ist bereits in der letzten Legislaturperiode ein der CDU/CSU) wichtiger Schritt für die Liberalisierung des Wettbe- Der Punkt Telefonwerbung ist von Herrn Kollegen werbsrechts getan worden. Insoweit ist es nur konse- Wellenreuther bereits angesprochen worden. Darauf quent, auch andere noch bestehende starre Regelungen brauche ich meine Zeit also nicht mehr zu verwenden. dem anzupassen. Ich möchte nun auf den Gewinnabschöpfungsan- So wird durch das Gesetz zum Beispiel die Reglemen- spruch eingehen, den Sie jetzt ins UWG aufnehmen tierung für Sonderveranstaltungen weitgehend ersatz- wollen. Bislang gab es im UWG auch schon Sanktions- los aufgehoben. Damit – es ist schon angesprochen wor- möglichkeiten; dazu brauchten wir keinen Gewinn- den – dürften auch die Irritationen beendet sein, die abschöpfungsanspruch. Wenn ein Kaufmann gegen ei- zuletzt durch Rabattaktionen auf den gesamten Warenbe- nen anderen Kaufmann beispielsweise wegen einer stand, die rechtlich eigentlich nicht als solche, sondern als wettbewerbswidrigen Handlung geklagt hat, wurde diese Sonderveranstaltungen einzuordnen sind, hervorgerufen 5368 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dirk Manzewski (A) wurden. Eine Preissenkung des gesamten Warenangebots rung hat sich für die so genannte „Opt-in-Regelung“ ent- (C) wird damit zukünftig also zulässig sein. schieden, das heißt, Telefonwerbung darf nur im vorherigen Einverständnis mit dem Empfänger erfolgen. Für die Händler bedeutet dies weitere Freiräume. Nicht Anders als Sie, Kollege Funke – und, ich glaube, auch nur sie, sondern auch die Verbraucher werden allerdings als Kollege Wellenreuther –, halte ich das für richtig. in vielen Bereichen umdenken müssen. Dinge, an die wir in diesem Zusammenhang in der Vergangenheit gewöhnt (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef waren und die eine wichtige Rolle in unserem Käuferver- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- halten gespielt haben, werden sich verändern. So wird es NEN]) zum Beispiel den guten alten Sommer- bzw. Winter- schlussverkauf – jedenfalls so, wie wir ihn kennen – bald Einen Wettbewerbsnachteil für die inländischen Unter- nicht mehr geben. nehmen, wie es immer suggeriert wird, sehe ich nicht. Das reformierte UWG würde innerhalb Deutschlands (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE auch für die ausländische Konkurrenz gelten und in den GRÜNEN]: Das ist sehr schade!) EU-Nachbarländern, in denen dies lockerer gehandhabt Kollege Wellenreuther, mich wundert es schon sehr, wird, könnten deutsche Unternehmen nach den dort gel- dass Sie das plötzlich kritisieren. Ich erinnere mich noch tenden Regelungen ebenso auftreten. Wie darin ein an die Debatte, die ich in der Vergangenheit mit Herrn Nachteil gesehen werden kann, vermag ich nicht zu be- Schauerte und Frau Kopp, die jetzt den Plenarsaal ver- urteilen. lässt, geführt habe. Damals klang es auf der FDP- und (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht?) auch auf der Unionsseite noch ganz anders. Wir wurden damals gescholten, dass wir nicht noch weitergegangen – Ja, natürlich nicht, Herr Kollege. sind und endlich den alten Zopf des Winter- und Som- merschlussverkaufs gekappt haben. Dass Sie sich nun Ich möchte allerdings nicht – das halte ich für ziem- praktisch für den Erhalt einsetzen, ist schon sehr ver- lich schwerwiegend – zu jeder Tages- und Nachtzeit von wunderlich. Man lernt offensichtlich nie aus; ich weiß es unzähligen Telefonanrufen belästigt werden – gleich wo nicht. man sich gerade befindet –, um sodann mit frohen und unsinnigen Werbebotschaften und -angeboten beglückt (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef zu werden. Weil man das Gespräch zunächst annehmen Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- muss, halte ich das für einen schwerwiegenden Eingriff NEN]) in die Privatsphäre. All diese Veränderungen dürfen auf alle Fälle nicht Man kann nicht damit argumentieren, dass man sagt: (B) dazu führen, dass der Schutz von Mitbewerbern und Ver- Na ja, Sie können das Telefonat ja beenden. Ich meine: (D) brauchern völlig aufgehoben wird. Ich halte es daher für Allein die Tatsache, dass ich aufstehen und zum Telefon sehr richtig, den Verbraucher erstmals als Schutzobjekt gehen sowie das Gespräch, nicht wissend, wer dort dran ausdrücklich zu erwähnen. Ich halte es auch für wichtig, ist, annehmen muss und dann – diese Leute sind ja ge- dass die Generalklausel als Kernstück des neuen UWG schult – möglicherweise unfreundlich reagieren und den erhalten bleibt, insbesondere weil durch diese General- Telefonhörer auflegen muss – Kollege Wellenreuther, das klausel deutlich gemacht wird, dass unlauterer Wettbe- mögen wir so machen, die Zielgruppe dieser Unterneh- werb verboten ist. Hierzu gehört zum Beispiel – auch men mit Sicherheit aber nicht –, stellt einen Eingriff dar. dies beinhalten eben Preisklarheit und Preiswahrheit –, dass Preissenkungen nicht irreführend sein dürfen, das Kollege Wellenreuther, die Rechtsprechung sieht das heißt, dass nicht mit Preissenkungen geworben werden genauso. Für den BGH stellt das einen groben Miss- darf, wenn der vermeintlich heruntergesetzte ursprüngli- brauch durch unkontrollierbares Eindringen in die häus- che Preis nicht auch tatsächlich über eine längere Zeit liche Sphäre dar. Ich finde, dem ist nichts hinzuzufügen. gegolten hat. Einen etwaigen Vorteil der Wirtschaft durch die gezielte Kundenwerbung wiegt das meiner Auffassung nach (Rainer Funke [FDP]: Das ist schon Recht- nicht auf. Mit Ausnahme der Werbewirtschaft natürlich sprechung!) wird das übrigens – das ist hier nicht gesagt worden – – Sie haben völlig Recht: Auch das ist momentan schon von der Wirtschaft genauso gesehen. Rechtsprechung. Ich finde es aber gut, dass es im Gesetz Im Übrigen habe ich ohnehin Probleme mit der Wer- ausdrücklich eine Erwähnung findet. bung mittels der neuen Medien. Die Bombardierung mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Faxen oder E-Mails – der Rekord in meinem Wahlkreis- büro in Bad Doberan betrug am vorletzten Wochenende Kollege Funke, dass der Händler, der letztendlich dafür über 300 E-Mails; diese habe ich an einem einzigen Wo- verantwortlich ist, dafür auch darlegungs- und beweis- chenende erhalten – kostet Zeit und Geld und beinhaltet pflichtig ist, halte ich nur für gerecht und billig. immer die Gefahr, dass man wichtige Mitteilungen über- Lassen Sie mich noch zwei Problembereiche anspre- sieht oder fälschlicherweise löscht. Völlig zu Recht ist chen, die kurz hier, aber insbesondere auch vom Bundes- dies dann auch als unzumutbare Belästigung eingestuft rat kritisiert worden sind. worden. Zum einen geht es um die Frage, wie wir in Deutsch- (Zuruf von der CDU/CSU: Man kann das ein- land Telefonmarketing behandeln. Die Bundesregie- fach sperren!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5369

Dirk Manzewski (A) – Sie da hinten sagen, man könne das einfach sperren. lich dafür, dass Regelungslücken geschlossen werden, (C) Beschäftigen Sie sich einmal ein wenig mit den techni- um Wettbewerbsverzerrungen und Wettbewerbsver- schen Vorgängen! Ich denke nur daran, was hier in mei- stöße zu bekämpfen, die meistens auf Kosten und zulas- nem Büro in Berlin alles versucht wird, um bestimmte ten der Verbraucher gehen. E-Mails zu sperren. Das kriegen Sie gar nicht hin, weil allein kleine Veränderungen ausreichen, diese Sperren Nun endlich – wir sind ja froh – legt die Bundesregie- zu umgehen. rung einen Entwurf zur Reform des UWG vor. Wir sagen „endlich“ und wir freuen uns wirklich mit Ihnen, denn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir haben diese nach dem Wegfall des Rabattgesetzes DIE GRÜNEN) und der Zugabeverordnung längst überfällige Reform schon mehrmals gefordert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns – damit möchte ich abschließen – wohl noch einmal über (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Gewinnabschöpfungsanspruch unterhalten müs- sen. Ich halte den Gewinnabschöpfungsanspruch grund- Durch die Liberalisierung des Sonderveranstaltungs- sätzlich für geeignet, Rechtsgutsverletzungen durch Wett- rechts bekommt der Verbraucher endlich das, worauf er bewerbsverstöße zu begegnen. Dies gilt meiner schon lange genug gewartet hat, nämlich dauerhaft güns- Auffassung nach insbesondere für die Fälle, in denen eine tige Preise. Es ist nichts Schändliches, wenn man so et- Vielzahl von Abnehmern mit jeweils kleinen Beträgen was möchte. geschädigt wird, immer in der Hoffnung, dass der Ein- Allerdings gilt bei diesem Gesetzentwurf, wie sonst zelne aufgrund des individuell ja nur geringen Schadens auch bei der Regierung: Was lange währt, muss nicht un- von der Rechtsdurchsetzung absieht und selbst bei einem bedingt auch gut werden. Aus verbraucherpolitischer Unterlassungsanspruch der bereits gemachte Gewinn be- Sicht ist der von der rot-grünen Bundesregierung vorge- halten werden kann. legte Entwurf nämlich in vielen Punkten sehr enttäu- Wir werden jedoch in den nächsten Wochen darüber schend. diskutieren müssen, inwieweit ein solcher Gewinnab- (Joachim Stünker [SPD]: Fragen Sie mal schöpfungsanspruch tatsächlich praktikabel ist. Die Be- Herrn Wellenreuther! Haben Sie die Rede von denken des Bundesrates sind ernsthaft zu überprüfen. Herrn Wellenreuther nicht gehört?) Ich weise jedoch darauf hin, dass es bereits Rechtsge- biete gibt, in denen Gewinnermittlung schon jetzt durch- – Das haben Sie noch nicht mitbekommen. Aber es ist geführt wird. sehr wichtig für unsere Verbraucher, dass es die Union gibt und dass wir darauf achten. Ich danke Ihnen. (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Schauen wir uns die unlauteren Wettbewerbshandlun- gen an, die im Übrigen zur ständigen Rechtsprechung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: geführt haben und damit nicht wirklich etwas Neues sind. Etwas abschreiben zu können ist schon mal positiv, Nun hat das Wort die Kollegin Julia Klöckner, CDU/ es hätte ja auch schief gehen können. CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Julia Klöckner (CDU/CSU): Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kennen wir ja von Ihrer Re- Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und gierung!) Herren! Die Union verfolgt einen modernen, europa- tauglichen und durchaus wettbewerbsnahen Verbrau- Hier sticht ins Auge, dass bei den Beispielen für irrefüh- cherschutz. Wir möchten eine Reform unseres deutschen rende Werbung die bestehenden, von der Rechtspre- Wettbewerbsrechts. Darin sind wir uns schon einig, liebe chung entwickelten Verbraucherschutzstandards von Kollegin Höfken, das streben auch wir an. Wir wollen Ihnen sogar unterschritten werden. den Verbraucher schützen und es ist also falsch, uns im- (Joachim Stünker [SPD]: Das gibt es nicht!) mer in die jene Ecke zu stellen, als hätten wir etwas ge- gen den Verbraucher. Schließlich sind wir selbst Ver- – Das gibt es nicht? Wir haben es gefunden. braucher. (Joachim Stünker [SPD]: Was? Das glaube ich Deshalb ist für uns die ausdrückliche Aufnahme der Ihnen nicht!) Verbraucher in den Schutzzweck des Gesetzes sehr wichtig. Ein Beispiel hierfür sind die Lockvogelangebote. Nach bisheriger Rechtsprechung wird in diesem Fall von einer (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Irreführung des Verbrauchers gesprochen, wenn für eine NEN]: Wo sind Ihre Kollegen?) Ware geworben wird, obwohl diese nicht mehr in ange- messener Menge vorhanden ist. Das verstehen Sie sicher – Sie fragen, wo die Kollegen sind. Dann frage ich mich, noch. Als angemessen wird nach ständiger Rechtspre- wo die Ministerin ist. Ich glaube, dies ist noch wichtiger. chung ein Vorrat für drei Tage angesehen. Der Entwurf Wir sind weiterhin für die Abschaffung nicht mehr der Bundesregierung hingegen wischt diese Ansicht zeitgemäßer Werbebeschränkungen und wir sind natür- einfach vom Tisch. Jetzt soll es ausreichen, dass die 5370 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Julia Klöckner (A) beworbene Ware lediglich für zwei Tage vorrätig ist. Dirk Manzewski (SPD): (C) Verbraucherschutz ist also wieder einmal nur ein Lip- Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- penbekenntnis. men, dass Ihr Kollege Wellenreuther im Zusammenhang (Joachim Stünker [SPD]: Frau Ministerin, was mit dem Telefonmarketing eine völlig andere Position machen Sie denn?) vertritt als Sie?

Weitere Beispiele für mangelndes Engagement der Julia Klöckner (CDU/CSU): Bundesregierung für die Verbraucher sind der Bereich des Telefonmarketings und der Werbung mittels Fax, Es stimmt überhaupt nicht, dass er eine völlig andere E-Mail und sonstiger elektronischer Medien, allgemein Position vertritt. Er hat nur eine differenziertere Haltung. bekannt unter dem Begriff „Spam“. (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen und Bei- fall bei Abgeordneten der SPD und des Die EU-Datenschutzrichtlinie für elektronische BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe Kommunikation muss nun endlich umgesetzt werden. von der SPD: Ah! – Carl-Ludwig Thiele Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen: Die Um- [FDP]: Darauf muss man erst einmal kom- setzungsfrist endet bereits am 31. Oktober – und zwar men!) nicht nächsten, sondern dieses Jahres. Darf ich noch einen Schlusssatz formulieren? (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann aber schnell zustimmen!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wieder wird die Frist zur Umsetzung einer europäischen Aber selbstverständlich. Richtlinie auf Kosten der Verbraucher nicht eingehalten. Da nützen auch viele schöne Worte nichts. Sie müssen einfach handeln. Julia Klöckner (CDU/CSU): Kurzum: Wir sind für ein Gleichgewicht zwischen (Joachim Stünker [SPD]: Das machen wir jetzt Verbrauchern und Anbietern. Wir dürfen den Verbrau- doch!) cher nicht gegen die Anbieter ausspielen. Es muss ein Bereits in unserem Positionspapier Verbraucherschutz gemeinsames Miteinander von Marktanbietern, die lau- forderten wir vor Monaten, gegen unverlangte Fax- und teren Wettbewerb betreiben, und Verbrauchern möglich Spamwerbung vorzugehen. Weil sich vonseiten der Re- sein. Vor allen Dingen darf der Verbraucher nicht bevor- gierung nichts getan hat, haben wir nun ein „Bündnis ge- mundet und für dumm verkauft werden. (B) gen Spam“ ins Leben gerufen. Gestern haben wir Wirt- Letztlich sollten Sie sich eines merken: Es können (D) schaftsvertreter, Politikvertreter und Verbraucherschützer noch so viele Tiefpreisangebote die Runde machen, die an einen Tisch gebeten, um Lösungsansätze zu erarbei- besten Wettbewerbsregeln nützen überhaupt nichts, ten. Wenn schon bei Ihnen nichts passiert, dann nehmen wenn der Verbraucher nichts in der Tasche hat. Ange- Sie wenigstens unsere Vorschläge an! sichts Ihrer Finanzpolitik wäre es gut, wenn Sie sich das (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Manzewski noch einmal vor Augen führen. [SPD]: Frau Kollegin, Herr Wellenreuther hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – etwas ganz anderes erzählt!) Rainer Funke [FDP]: Ceterum censeo!) Ich komme zu einem weiteren Beispiel der aus Sicht der Verbraucher mangelhaften Ausgestaltung des Ge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: setzentwurfs. Sie regeln einen Gewinnabschöpfungsan- Ich erteile das Wort der Kollegin Jella Teuchner, spruch. Das hört sich zwar beeindruckend an; aber sagen SPD-Fraktion. Sie uns doch bitte, wie Sie das umsetzen wollen. Erklä- ren Sie uns doch bitte, wer bestimmt, wo Unlauterkeit Jella Teuchner (SPD): festgestellt worden ist, und wie deren Vorsatz nachge- wiesen werden kann, vor allen Dingen, wie diese Ge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! winne ermittelt werden. Vor zwei Wochen haben wir hier über den Haushalt des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung Insofern ist dieser Gesetzentwurf nach unserem Da- und Landwirtschaft diskutiert. Wir mussten uns die Kri- fürhalten zwar gut gemeint, aber unreif und unausgewo- tik gefallen lassen, wir würden Verbraucherschutz nicht gen. als Querschnittsaufgabe anpacken – und das, obwohl in den meisten Beiträgen der Opposition deutlich wurde, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dass der Verbraucherschutz bei Ihnen beim Thema ge- sunde Lebensmittel endet. Ich denke, dass wir uns diesen Frau Kollegin Klöckner, möchten Sie Ihre abgelau- Schuh überhaupt nicht anziehen müssen. fene Redezeit durch die Zusatzfrage des Kollegen Manzewski verlängern? Wir diskutieren heute den Entwurf des Gesetzes ge- gen den unlauteren Wettbewerb, der eine ganz deutliche Sprache spricht. Wir sehen die Verbraucherinnen und Julia Klöckner (CDU/CSU): Verbraucher als Teil des Wettbewerbs an und setzen Da er so nett lächelt, ja. diese Sichtweise um. Verbraucherschutz ist Teil unserer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5371

Jella Teuchner (A) Politik und vor allem eine Querschnittsaufgabe. Im Das hat Konsequenzen für alles, was in das Gesetz hi- (C) Mittelpunkt des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes neinzuschreiben ist. Die Wettbewerbsfragen sind ernst steht die Stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher zu nehmen. Wir müssen bei aller Sorge um den Verbrau- auf den Märkten. Das haben wir schon oft betont. cherschutz immer wieder darauf achten, dass wir Wirt- schaft und Wettbewerb nicht mit Fesseln binden, welche Mit dem neuen UWG stärken wir die Position der die Märkte belasten. Das führt nicht zu vernünftigen Er- Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie werden – das ist gebnissen. Ich meine die Bürokratie, die falsche Hand- ein wichtiger Schritt – explizit zum Schutzobjekt. Wir habung der Vorschriften und die Vermehrung von stellen damit klar: Wettbewerb braucht nicht nur Fair- Rechtsstreitigkeiten und Rechtsunsicherheit, die sich aus ness zwischen den Anbietern; Wettbewerb braucht auch einem solchen Gesetz ergeben können. einen fairen Umgang mit den Kunden. Das Ziel hierbei ist klar: Wer unlauter handelt, darf davon nicht profitie- Das wird eine zentrale Fragestellung für die jetzt be- ren. Unlauteres Handeln führt immer wieder zu schlech- ginnenden Beratungen einschließlich der Anhörung sein, terer Qualität und zu hohen Preisen für die Verbrauche- die wir machen wollen, um genau diese Fragen zu klä- rinnen und Verbraucher. Für die Mitbewerber ist dies ein ren. Ich bitte also darum, dass dieser Punkt immer wie- Wettbewerbsnachteil. der untersucht wird. Wir diskutieren immer vor dem Insbesondere mit der Möglichkeit zur Gewinnab- Hintergrund von Entbürokratisierung und Deregulie- schöpfung steuern wir dem entgegen. Das heißt, nicht rung. Dabei sollten wir vor Augen haben: Wenn wir stets unlauteres Verhalten, sondern Fairness gegenüber dem gezielten Interessen von Interessengruppen nachgeben, Kunden muss ein Wettbewerbsvorteil sein. Gerade diese die gerne noch eine präzise gesetzliche Regelung haben Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung wird auch von den wollen, so brauchen wir uns am Ende der Legislaturperi- Verbraucherverbänden positiv bewertet. Sie haben aller- ode nicht zu wundern, dass wir den Berg der Bürokratie dings weitere Anregungen vorgelegt, die wir im Gesetz- vergrößert haben. Um das zu vermeiden, sind wir daran gebungsprozess noch diskutieren werden. interessiert, das Gesetz schlank zu halten. Dennoch: Die Novelle des UWG ist ein wichtiger Ich will einen anderen Punkt ansprechen, der mir Schritt nach vorn und – daran gibt es keinen Zweifel – ganz interessant erscheint. Wir schützen mit diesem Ge- mit der Novelle des UWG nehmen wir die bestehende setz – das taten wir wohl schon in der Vergangenheit – Rechtsprechung zum Wettbewerbsrecht in das Gesetz Verbraucherinteressen auch dann, wenn gegen eine an- auf und passen es an die europäischen Harmonisierungs- dere Rechtsnorm verstoßen wird. Wenn jemand, der prozesse und an die Entwicklung der Märkte an. nicht als Arzt zugelassen ist, eine derartige Behandlung vornimmt – also eine Tätigkeit ausübt, obwohl er die Vo- Verbraucher brauchen funktionierende Märkte. Not- (B) raussetzung dafür nicht erfüllt –, dann verstößt er nach (D) wendig ist dazu das Lauterkeitsrecht, das ihrer Position altem und nach neuem Recht gegen § 1 des UWG. Denn auf den Märkten Rechnung trägt. Genau dies setzen wir man sagt, dass er gegen den Verbraucherschutzansatz mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um. verstößt, der in diesem Gesetz seinen Ursprung hat. In (Beifall bei der SPD) der Übertragung auf den Wettbewerbsteil hingegen fehlt die Bereitschaft, das so zu sehen. Dazu gibt es ein BGH- Urteil. Ich will das entsprechende Beispiel bilden: Wenn Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: steuersubventionierte öffentlich-rechtliche Unternehmen Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der unter Verstoß gegen Gemeindeordnungen in ihren Län- Kollege Hartmut Schauerte für die CDU/CSU-Fraktion. dern den Wettbewerb stören und Wettbewerber schädi- gen, dann gilt das nicht als eine Verletzung des § 1 Hartmut Schauerte (CDU/CSU): UWG. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Ich möchte also, dass wir in den Beratungen noch ein- Herren! Dass wir ein Gesetz zum Wettbewerb beraten mal prüfen, ob wir den Wettbewerbsschutz so in dieses können, ist geboten und vernünftig. Wir können auch er- Wettbewerbsschutzgesetz einbauen können, dass zum kennen: Es ist gut, dass wir einen solchen Entwurf in Beispiel Übergriffe von subventionierten öffentlich- Deutschland vorlegen, weil damit der Beratungsprozess rechtlichen Unternehmen, Stadtwerken etc., die den in Europa besser beeinflussbar wird. Man hat auch schon Wettbewerb stören, unter die Schutznorm dieses Geset- einmal argumentiert: Lasst uns die Entwicklung auf eu- zes fallen. Das wäre für die Wirtschaft und für den Mit- ropäischer Ebene abwarten; dann können wir uns anpas- telstand eine wichtige Fragestellung. sen. – Ich halte es also für vernünftig, dass wir jetzt ein solches Gesetz beschließen. (Joachim Stünker [SPD]: Passt aber dort nicht rein!) Aus Sicht der Wirtschaft legen wir großen Wert da- rauf, dass die Ziele Verbraucherschutz und Wettbewerbs- – Wir werden uns darüber unterhalten und das prüfen. schutz nicht in einem Nachrangigkeitsverhältnis stehen, Ich will mit einem Gedanken abschließen, der mir sondern gleichrangig behandelt werden. Wir können un- stets kommt, wenn ich sehe, was wir für die Wirtschaft seren Frieden damit machen, dass man den Verbraucher- tun, was wir ihr zumuten und wie wenig wir uns selber schutz mit in das Ziel aufnimmt, aber das Gesetz bleibt zumuten. Wenn Sie sich einmal anschauen, was in den in seinem Wesen Wettbewerbsrecht. §§ 3 und 4 zum Schutz der Verbraucher formuliert wird, (Rainer Funke [FDP]: So ist es!) und dann einmal überlegen, was wir zum Schutz der 5372 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Hartmut Schauerte (A) Bürger, der Wähler tun und wie wir uns in der Politik im Auswärtiger Ausschuss (C) Umgang mit der Lauterkeit benehmen, werden Sie ins Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Staunen kommen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich will Ihnen einen Passus des Entwurfs vorlesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die und bitte Sie, ihn politisch zu sehen: Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Unlauter … handelt, … wer Wettbewerbshandlun- höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. gen vornimmt, die geeignet sind, … die Leichtgläu- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst bigkeit, die Angst oder die Zwangslage von Ver- der Kollege Hartmut Koschyk, CDU/CSU-Fraktion. brauchern auszunutzen …

Setzen Sie statt „Verbraucher“ das Wort „Wähler“ ein Hartmut Koschyk (CDU/CSU): und beziehen Sie es auf die Politik – und Sie haben ein Problem! Wie unlauter ist ein Haushalt, den ein Finanz- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! minister vorlegt, der die Verbraucher täuscht? Ist das ei- Niemand kann wollen, dass ein Mensch in den Folter- gentlich nicht geschützt? Sollten wir nicht einmal darü- kammern eines Unrechtsregimes landet, und niemand ber nachdenken und von dieser Seite an das Thema kann einen Prozess gutheißen, in dem Aussagen verwen- herangehen? det werden, die durch Folter erzwungen werden. (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Manzewski (Beifall bei der FDP) [SPD]: Das ist ja nicht Ihr Niveau! Das muss Dies vorausgeschickt, zeigt aber der Fall des krimi- nicht sein!) nellen Extremistenführers Kaplan beispielhaft, woran Ich will es noch einmal auf den Punkt bringen – das das deutsche Ausländerrecht krankt. Es ist der Fall eines gibt es viel häufiger, als wir glauben –: Wir muten allen kriminellen islamistischen Hasspredigers, der in Deutsch- anderen alles Mögliche zu, nur bei uns selbst machen land Asyl bekam, der sich offen gegen unsere Verfas- wir eine Ausnahme, dort soll es nicht gelten. Ich möchte, sung stellt und der wegen öffentlicher Aufforderung zum dass Lauterkeitsgesichtspunkte in den politischen Wett- Töten vier Jahre in Haft war. bewerb einfließen. Wir sollten überlegen, ob wir nicht (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Viel zu ein Lauterkeits- und Wettbewerbsschutzgesetz für politi- wenig!) sche Prozesse brauchen. Das wäre etwas! Ich lade Sie ein, darüber verschärft nachzudenken. Inzwischen ist zwar der Asylstatus gerichtlich aber- kannt, dennoch darf Kaplan weder in seine Heimat Tür- (Zuruf von der SPD) (B) kei ausgeliefert noch dorthin abgeschoben werden, weil (D) – Wir haben immerhin mit dem Nachdenken schon an- ihn dort nach richterlicher Auffassung menschenrechts- gefangen, indem wir Ihnen diesen Vorschlag machen. widrige Behandlung durch ein nicht rechtsstaatliches Verfahren drohe. Entscheidender Grund: Das Ausländer- Herzlichen Dank. recht gewährt in diesen Fällen absoluten Abschiebungs- (Beifall bei der CDU/CSU – Unruhe) schutz ohne Einschränkung. Die Folge mithin: Kaplan erhält in Deutschland ein Bleiberecht. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Zuruf von der CDU/CSU: Untragbar!) Ich schließe die Aussprache, auch wenn die letzte Trotzdem lässt die Regierung das Ausländerrecht un- Überlegung ganz offenkundig zu vielfältigen spontanen verändert, ja, sie zeigt nicht einmal Änderungsbereit- Reaktionen führt. Diese können bei den Beratungen in schaft. Sie will diesen Gewalttäter zwar loswerden, doch den Ausschüssen sicherlich noch vertieft werden. dies gelingt nicht. Die Voraussetzungen für die Abschie- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- bung von Kaplan – so die Bundesregierung – müsse jetzt wurfes auf Drucksache 15/1487 an die in der Tagesord- die Türkei schaffen. Diese müsse zusichern, dass ein zu nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es erwartender Kaplan-Prozess in der Türkei nach rechts- anderweitige Vorschläge? – Das scheint nicht der Fall zu staatlichen Kriterien erfolge. sein. Dann ist mit Ihrem Einverständnis die Überwei- sung so beschlossen. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: So ist es ja auch!) Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Die deutsche Bevölkerung fragt sich: Handelt es sich bei Beratung des Antrags der Abgeordneten der Türkei nicht immerhin um einen Staat, dessen Auf- Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, nahme in die EU gerade diese Bundesregierung betreibt? Dr. Norbert Röttgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU ( [Heilbronn] [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Konsequente Abschiebung ausländischer Ex- tremisten sicherstellen Trotzdem trauen deutsche Richter der Türkei nicht zu, einen Straftäter rechtsstaatlich korrekt zu behandeln. – Drucksache 15/1239 – Überweisungsvorschlag: (Rüdiger Veit [SPD]: Wollen Sie schon den Innenausschuss (f) Europawahlkampf eröffnen?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5373

Hartmut Koschyk (A) Dabei ist die Türkei selbst Vertragsstaat der Menschen- Wir meinen, dass sich unser Land dieser Problematik (C) rechtskonvention und daher zur Anwendung der Kon- grundsätzlich stellen muss, wenn man es mit der Extre- vention verpflichtet. mismus- und Terrorismusbekämpfung ernst meint. Unerträglich ist übrigens auch, dass Deutschland tür- (Beifall bei der CDU/CSU) kische kriminelle Intensivtäter kaum noch in die Türkei Ansonsten – das sagen wir Ihnen voraus – werden deut- abschieben kann, weil die Türkei diese einfach ausbür- sche Gerichte auch weiterhin zu solchen Entscheidungen gert und damit die Abschiebung verhindert. wie im Fall Kaplan kommen müssen, weil das Auslän- (Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Grindel derrecht sie dazu verpflichtet. [CDU/CSU]: Das Auswärtige Amt tut nichts Herr Minister Schily, es ist ehrenhaft, dass Sie versu- dagegen!) chen, Kaplan im Wege einer Zusicherung der Türkei ab- Der Fall Kaplan zeigt beispielhaft, wie sich kriminelle schieben zu können. Sie haben bei diesen Bemühungen Extremisten die Schwächen des deutschen Rechts- auch die volle Unterstützung unserer Fraktion. Aber, staats zunutze machen, um hier einen Schutz zu finden, Herr Minister, Sie wissen doch genauso gut wie wir, dass der ihnen eigentlich nicht zustehen sollte. Damit werden eine solche Zusicherung, die es zwar im Auslieferungs- falsche Signale an die rund 30 000 anderen islamisti- recht, nicht aber bei der Abschiebung gibt und die Sie im schen Extremisten in unserem Land gesendet: Deutsch- Wege einer fantasievollen Rechtsschöpfung quasi analog land, so sehen sie, kann nicht einmal diejenigen loswer- übertragen haben, nur ein Notnagel ist. Damit wird den, die seine Verfassungsordnung offen angreifen. Die Handlungsfähigkeit vorgespiegelt, aber das Grundpro- Bürgerinnen und Bürger unseres Landes fragen sich: blem wird nicht gelöst. Bleibt unserem Land also nichts anderes übrig, als Ex- (Beifall bei der CDU/CSU) tremisten im wahrsten Sinne des Wortes auszuhalten? Herr Minister, wenn diese Rechtslage so bleibt, werden Das alles zeigt, dass es bei der Extremismusbekämp- Sie weiterhin gezwungen sein, wegen jedes kriminellen fung einen erheblichen Nachbesserungsbedarf gibt. Extremisten mit Ihrem Beamtenapparat durch die Welt Das deutsche Ausländerrecht muss gewährleisten, dass zu jetten und den entsprechenden Herkunftsstaat um des- ausländische Extremisten, die sich offen gegen unseren sen Rücknahme zu bitten, weil Deutschland selbst keine Rechtsstaat stellen, dieses Land auch wieder verlassen rechtlichen Möglichkeiten hat. Das ist der falsche Weg. müssen. Wir meinen, dass es an der Zeit für den Versuch ist, hier (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip eine klare Rechtslage zurückzuerlangen. (B) Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Herr Minister Schily, Sie selbst haben den Fall Kap- (D) steht doch im Gesetz!) lan zum Testfall für die Wehrhaftigkeit unserer Demo- Wenn es nicht möglich ist, einen wegen Mordaufrufs kratie gemacht. Ich halte das für falsch, solange Sie rechtmäßig verurteilten kriminellen Extremisten in sein nicht zur Änderung der Rechtslage bereit sind; denn Sie Heimatland, das noch dazu EU-Beitrittskandidat ist, zu- laufen Gefahr, Herr Minister, zu unterliegen und rückzubringen, dann ist das für unser Land nicht hin- Deutschland dem Hohn extremistischer Gewalttäter nehmbar. Eine derartige Schwäche im Kampf gegen den preiszugeben. Sätze wie: „Kaplan könnte zu einem Sym- islamistischen Extremismus kann sich Deutschland nicht bol für die Schwäche unseres Staates werden“, fordern leisten. Extremisten geradezu heraus, mit allen Rechtsmitteln unseren Staat schwach erscheinen zu lassen. In dem von uns vorgelegten Antrag geht es natürlich nicht allein um den Fall des Gewalttäters Metin Kaplan. In unserem Antrag findet sich die Forderung, national Es geht vielmehr um die diesem Fall zugrunde liegende und supranational zu prüfen, wie in Extremfällen die Problematik, die darin besteht, dass Extremisten wegen Schutzpflichten aus § 53 des Ausländergesetzes und der der absoluten Sperre des § 53 unseres Ausländergesetzes Europäischen Menschenrechtskonvention mit den Si- in Verbindung mit Art. 3 der Europäischen Menschen- cherheitserfordernissen Deutschlands in Einklang ge- rechtskonvention im Regelfall nicht abgeschoben wer- bracht werden können. Das ist sicherlich ein heißes Ei- den können. sen. Aber, Herr Minister Schily, diese Frage ist nicht nur von der CDU/CSU-Fraktion, sondern auch schon bei der (Rüdiger Veit [SPD]: Den kennen Sie ja Behandlung der Antiterrorpakete von einer Persönlich- wenigstens! Gott sei Dank!) keit wie Herrn Professor Hailbronner öffentlich gestellt worden, der, glaube ich, Ihr Haus in schwierigen Fragen Diese Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Auslän- berät. Wir glauben, dass Deutschland, wie Hailbronner dergesetz haben nach der derzeitigen deutschen Rechts- das einmal vorgeschlagen hat, die Initiative ergreifen lage keine Grenze. Dies führt dazu, dass Ausländer – un- muss, damit sich die Hauptmitgliedstaaten der Europäi- abhängig davon, ob sie politisch verfolgt sind oder nicht, schen Menschenrechtskonvention zusammensetzen, um unabhängig davon, ob sie schwerste Straftaten begangen sich über die Auslegung des betreffenden Artikels Ge- haben – nach dieser Vorschrift absoluten Abschiebungs- danken zu machen. schutz genießen. Das gilt auch in Extremfällen, in denen jemand eine fortwährende Gefahr darstellt, weil er zu Denn es geht letztlich um die existenzielle Frage: extremistischen oder gar terroristischen Handlungen be- Müssen die Sicherheitsinteressen des Staates und der reit war bzw. ist. Allgemeinheit auch bei der Gefährdung der inneren 5374 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Hartmut Koschyk (A) Sicherheit durch terroristische Gewalttäter oder mili- Übrigens hat es solche Bemühungen schon vorher (C) tante Extremisten schlechthin gegenüber der Gefahr ei- – nicht erst im Falle Metin Kaplans – gegeben, wenn es ner unmenschlichen Behandlung als Folge einer Ab- um die Durchsetzung der Ausweisung von Straftätern schiebung zurücktreten? Oder gibt es – ähnlich wie bei türkischer Staatsangehörigkeit ging. der asylrechtlichen Schutzgewährung in Art. 33 Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention – auch im Rahmen Zentraler Punkt ist die notwendige Absicherung da- des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention für, dass die türkische Justiz im Gerichtsverfahren gegen eine Opfergrenze? Wir meinen, dass man sich an die Be- Kaplan Aussagen, die im Jahre 1998 unter Folter er- antwortung dieser Frage heranwagen muss. Ich darf hier presst wurden – darum geht es eigentlich –, nicht ver- eine Äußerung des ehemaligen Präsidenten des Bundes- wertet. Dafür reichen die bislang gegebenen Zusagen verfassungsgerichts Professor Zeidler in Erinnerung ru- noch nicht aus. Das Verbot der Folter und das Verbot fen, wonach „in der Demokratie bestimmte Rechtsberei- der Verwendung von Aussagen, die unter Misshandlun- che nicht in einen Zustand geraten dürfen, dass ihre gen erpresst wurden, sind tragende Grundsätze unserer Praktizierung dem skeptischen Bürger als Fahrt auf einer Gerichtsbarkeit. Geisterbahn staatlich veranstalteten groben Unfugs er- Ich erinnere an Folgendes: Vor nicht allzu langer Zeit scheinen kann“. mussten wir hier in Deutschland diese Debatte führen, weil sogar einige – auch hochrangige Juristen und Politi- Herzlichen Dank. ker – meinten, man könne gegenüber dem Mörder des (Beifall bei der CDU/CSU) kleinen Jakob von Metzler von diesem Prinzip abwei- chen. Aber: Das Folterverbot duldet keine Aufweichung und keine Ausnahmen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Können Sie Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Sonntag-Wolgast, vielleicht einmal zum Thema zurückkommen! SPD-Fraktion. Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich! Eine Unverschämtheit ist das! – Gegenruf der Abg. Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran unver- Meine Damen und Herren! Herr Kollege Koschyk, schämt?) ich muss Ihnen wohl in Erinnerung rufen, dass es sich bei dem Ausländerrecht, dessen angebliche Schwächen Das entspricht unserem Rechtsstaat und dem Rechtsstaat Sie im Moment kritisieren, um ein Gesetzeswerk han- anderer Demokratien. Herr Grindel, das heißt, ausge- (B) delt, das während Ihrer Regierungszeit mit Ihrer Mehr- rechnet ein Täter, der diesen Rechtsstaat aus den Angeln (D) heit beschlossen worden ist. heben will – das sage ich mit aller Deutlichkeit –, kann sich auf dessen unumstößliche Menschenrechtsstandards Niemand muss uns auf die Sprünge helfen, wenn es berufen. Das ist manchem Bürger schwer zu erklären; um die Abschiebung ausländischer Extremisten unter aber so muss es nach unseren Regeln sein. rechtsstaatlichen Bedingungen geht. Metin Kaplan – kein Zweifel – bedroht unsere Sicherheit. Der so ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nannte Kalifatstaat zielt auf unser gesamtes System. Er DIE GRÜNEN) tritt unsere Demokratie mit Füßen und will die Scharia Die Türkei hat die Europäische Menschenrechtskon- durchsetzen. Kaplan, wegen Anstiftung zum Mord zu vention unterzeichnet, die Todesstrafe abgeschafft und vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, ist ein politischer umfangreiche Rechtsreformen vollzogen. Sowohl das Krimineller, wie es die türkische Gemeinde einmal aus- Düsseldorfer als auch das Kölner Gericht hegen Zweifel gedrückt hat. Er will außerdem den Umsturz der türki- daran, dass diese Veränderungen in vollem Umfang schen Staatsordnung. Er hetzt seine Anhänger in praktiziert werden. Sie trauen der positiven Entwicklung Deutschland auf und verbreitet widerwärtige antisemiti- in der Türkei nicht. sche und antiisraelische Parolen. Dieser Mann – kein Zweifel – muss aus Deutschland verschwinden. Ich bin da anderer Meinung. Mein Optimismus hat sich nach einer Rede, die der türkische Ministerpräsident (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erdogan kürzlich bei seinem Besuch hier in Berlin vor DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/ der Friedrich-Ebert-Stiftung sehr überzeugend gehalten CSU]: Aber wie denn?) hat, verstärkt. Er zeigte sich darin sehr entschlossen, den neuen Gesetzen in seinem Land nicht nur auf dem Pa- Herr Kollege Grindel, hier gibt es einen Weg, den der pier, sondern auch in der Realität Geltung zu verschaf- Bundesinnenminister auch konsequent beschreitet, näm- fen. lich gegen das Urteil des Kölner Verwaltungsgerichtes Berufung einzulegen und von der türkischen Regierung Deswegen halte ich es für einen großen Fehler, dass eine absolut bindende Zusicherung zu erwirken, dass Sie in Ihrem Antrag den Fall Kaplan sozusagen zum Kaplan nach seiner Abschiebung ein rechtsstaatlich fai- Kronzeugen für die angebliche Unfähigkeit und Unge- res Verfahren gewährt wird. Das erfordert intensive Ver- eignetheit der Türkei für einen EU-Beitritt heranziehen. handlungen. Sie sind beim Besuch des Innenministers in So steht es in Ihrem Antrag und so formulierte es Ihr au- der vergangenen Woche mit Nachdruck vorangetrieben ßenpolitischer Sprecher, Friedbert Pflüger. Er sagte ge- worden und werden fortgesetzt. genüber der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“, er Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5375

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (A) sehe die Türkei weit davon entfernt, die Kriterien für – Sie bemühen sich sehr, Herr Kollege Grindel, aber ich (C) eine Mitgliedschaft in der EU zu erfüllen. Wenn habe hier das Mikrofon. Deutschland einen selbst ernannten Terroristenführer Überflüssig – um zum zweiten Punkt zu kommen – ist wie Kaplan wegen drohender Folter nicht in die Türkei Ihre Mahnung betreffend die Einführung weiterer bio- abschieben könne, dann sage das genug über den Zu- metrischer Merkmale in Pässen und Visa; denn die stand dieses Landes. Bundesregierung ist doch gerade diejenige, die – das Jetzt frage ich mich: Was wollen Sie eigentlich, meine wissen Sie doch aus unseren vielfältigen Beschäftigun- Kollegen von der Union? Sie verwickeln sich doch in gen mit dem Thema – in Europa darauf drängt, dass Widersprüche. Entweder ist es richtig und erfolgverspre- diese Maßnahme europaweit möglichst schnell und chend, in der Türkei über verbindliche Zusicherungen zu möglichst einheitlich realisiert wird. verhandeln – dann hat der Innenminister, wie Sie es ver- Bedenklich – das ist der dritte und letzte Punkt – ist langen, alles Notwendige eingeleitet –, oder die Türkei schließlich Ihr Versuch – Sie haben es heute auch noch ist kein Rechtsstaat; dann wären Hopfen und Malz verlo- einmal artikuliert, Herr Kollege Koschyk –, im Zusam- ren und die Abschiebung auch solch eines schlimmen menhang mit dem Fall Kaplan die absolute Schutzwür- Straftäters würde sich verbieten, was Applaus für das digkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention Gerichtsurteil bedeuten würde. Nur eines von beidem anzutasten. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht in kann richtig sein. unserem Rechtsstaat nicht! Wir setzen dem entgegen: Es ist grundfalsch, der Tür- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE kei die Tür zum Beitritt – wie Sie es wollen –, zuzu- GRÜNEN]: Genau!) schlagen. Natürlich wird der Verhandlungsprozess lange dauern – lange dauern müssen. Die Verhandlungen sol- Ich möchte am Schluss einen Appell aussprechen: len überhaupt erst im kommenden Jahr beginnen. Eine Hüten Sie sich davor, den Fall Kaplan als Argumenta- Option aber, ein Signal der Gemeinschaft an diesen tionspolster für pauschale Türkeifeindlichkeit in unse- Staat, ist richtig und wichtig. Sie kann eine starke Sog- rem Land zu nutzen! wirkung gerade für die Durchsetzung menschenrechtli- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wer cher Normen – dafür gibt es genug Anzeichen – entfal- macht denn das?) ten. Dafür gibt es genug Anzeichen. Missbrauchen Sie diesen Fall bitte nicht dazu! Sie sind Eine Ablehnungsfront gegen jegliche Beitrittspers- leider auf dem besten Wege, das zu tun. pektiven aber arbeitet den Europakritikern und den radi- kalen Kräften in die Hände. Das sollten Sie nicht tun. Ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (B) kann davor nur warnen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) Hüten Sie sich davor, für den Europawahlkampf eine (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ist das eine Kampagne gegen den möglichen EU-Beitritt der Türkei außenpolitische oder eine innenpolitische De- anzuzetteln! batte? – Weiterer Zuruf des Abg. Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner) – Herr Kollege Zeitlmann, ich verwahre mich dagegen, dass Sie der Bundesregierung einen so genannten Sie richten schweren außenpolitischen Schaden, aber Schmusekurs in Sachen Türkei vorwerfen. Lassen Sie auch innenpolitischen Schaden an; denn Sie stoßen die diese Worte bitte weg! größte hier lebende Migrantengruppe, nämlich die Men- schen aus der Türkei, vor den Kopf und Sie betreiben da- Ein Resümee: Ihr Antrag ist untauglich, er ist über- mit eine handfeste Desintegration. Davor können wir Sie flüssig und er ist bedenklich. nur dringend warnen. Der Antrag ist untauglich in seinen Vorschlägen zur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verhinderung der Einreise möglicher Extremisten und in DIE GRÜNEN) der Forderung nach einer Verschärfung des Staatsange- hörigkeitsrechts, um Verfassungsfeinden die Einbürge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rung zu verwehren. Sie wissen doch selbst, dass diese Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler, Koalition bei der Neuregelung des Staatsangehörigkeits- FDP-Fraktion. rechts das Bekenntnis zur Verfassungstreue überhaupt erst zur Bedingung gemacht hat. Dr. Max Stadler (FDP): (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Und wie wird Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und das überprüft?) Herren! Der Kollege Koschyk und die CDU/CSU-Frak- Eine Änderung dieses Gesetzes steht für uns überhaupt tion haben anhand des Falls Kaplan, in Wahrheit dann nicht zur Debatte. aber auch wieder unabhängig davon, mit ihrem Antrag hier ein, wie ich finde, sehr schwieriges Problem zur (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sagen Sie Sprache gebracht. Der Kollege Koschyk hat diesen An- mal, wie das in Schleswig-Holstein überprüft trag in einer Form begründet, die nachdenklich macht wird!) und die einen überlegen lässt, wie die richtige Antwort 5376 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Dr. Max Stadler (A) lautet. Die richtige Antwort kann aber niemals darin be- staat bei Abschiebungen Grenzen beachten. Wir dürfen (C) stehen, den Schutz der Europäischen Menschenrechts- und können nicht Menschen sehenden Auges in Länder konvention zu relativieren. Das würde die FDP nicht schicken, in denen ihnen Tod oder Folter drohen. Das ist mitmachen. ganz klar in § 53 des Ausländergesetzes normiert; das ist lange geltendes Recht, das CDU/CSU und FDP gemein- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem sam bei der Novelle des Ausländergesetzes im Jahre BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1997 aus gutem Grund belassen haben. Erstens. Auch wir sagen: Der Verbleib Kaplans in der Bundesrepublik Deutschland ist nahezu unerträglich. Von daher bin ich der Meinung, man sollte all die Dies hat Guido Westerwelle klar erklärt, Werner Hoyer Maßnahmen im Antrag der CDU/CSU unterstützen, die aus Köln ebenso. Dies ist auch meine Meinung. schon einen Schritt vorher ansetzen. Es liegt in unserem Interesse, Extremisten möglichst erst gar nicht ins Land (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Na immer- zu lassen. Die Maßnahmen, die Sie dazu vorschlagen hin!) – Regelanfragen beim Verfassungsschutz zum Beispiel –, sind entweder richtig und werden von uns unterstützt Zweitens. Wir unterstützen daher den Bundesinnen- oder sie sind diskutabel. Über letztere werden wir uns im minister bei seinen – bisher allerdings erfolglosen – Be- Ausschuss unterhalten. mühungen, in der Türkei die tatsächlichen Voraussetzun- gen dafür zu schaffen, dass Kaplan dorthin abgeschoben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – werden kann. Zuruf von der CDU/CSU: Das lässt sich hö- Drittens. Wir betreiben aber keine Richterschelte. Äuße- ren!) rungen wie die vom bayerischen Innenminister Beckstein, Trotzdem wird es immer wieder den Fall geben – ich das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln sei skandalös, hoffe, dass es möglichst wenige sein werden, aber es ist liegen wirklich völlig neben der Sache. Ich lasse dabei jedenfalls denklogisch nicht ausgeschlossen –, dass sich dahingestellt, ob die Entscheidung wirklich richtig ist; jemand, der sich schon in Deutschland aufhält, erst hier das mag auf Rechtsmittel hin von den Obergerichten zum Extremisten entwickelt und aus einem Herkunfts- überprüft werden. land stammt, wo ihm Todesstrafe oder Folter droht. Wir Die Türkei befindet sich in einem Wandel. Sie ist, müssen dann Farbe bekennen, wie wir das von mir be- auch was ihre rechtsstaatliche Qualität angeht, nicht mit schriebene Dilemma in diesen Fällen lösen wollen. dem Staat vergleichbar, der sie noch vor zehn oder Wenn Sie, Herr Koschyk, sagen, es dürfe nicht zugelas- 15 Jahren gewesen ist. Aber die Entscheidungen des sen werden, dass sich so jemand weiter in Deutschland (B) Verwaltungsgerichts in Köln und des Oberlandesgerichts aufhält, dann stellt sich für mich sofort die einfache und (D) Düsseldorf sind jedenfalls nachvollziehbar. schlichte Frage: Wohin wollen Sie ihn denn abschieben, wenn Sie, wie ich hoffe, mit uns der Meinung sind, dass Das führt zu dem eigentlichen Grundproblem. Das es nicht geht, ihn in ein Land abzuschieben, wo ihm Tod Grundproblem lautet doch unabhängig von diesem Ein- oder Folter droht? Es bliebe dann ja nur die Aufnahme in zelfall: Wie geht ein Staat mit Extremisten um, wenn er, Drittstaaten, das Abschieben in Niemandsland oder ex- wie die Bundesrepublik Deutschland, bei Ausweisung territoriales Gelände übrig. Alle diese Möglichkeiten und Abschiebung solcher Extremisten selbst an ein scheiden praktisch aus. rechtsstaatliches Verfahren gebunden ist und Menschen- rechte beachten will, ja beachten muss? Da müssen wir Deswegen sagt die FDP: Ein Rechtsstaat bleibt an das den Mut haben, zuzugeben, dass man sich hier in einem Verbot gebunden, Menschen in Länder abzuschieben, echten Dilemma befindet. Wir sind – das wissen auch wo ihnen Folter und Tod drohen. Hier darf es keine Re- Sie von der CDU/CSU-Fraktion genau – international lativierung und Aufweichung geben. Der Rechtsstaat ist gebunden. Wir sind an die Anti-Folter-Konvention der deswegen aber nicht schutzlos: Er hat die Polizei, die UNO und an die Europäische Menschenrechtskon- solche Personen genau überwacht, und ihm stehen ge- vention gebunden. Weil Sie gesagt haben, das könne heimdienstliche Möglichkeiten und ein Strafrecht zur man international neu verhandeln, noch Folgendes: Wir Verfügung, das dann greift, wenn jemand tatsächlich ge- sind vor allem an unser eigenes Recht gebunden, an den gen unsere Gesetze verstößt. So stellt sich das Span- Art. 1 des Grundgesetzes, an den Schutz der Menschen- nungsfeld dar. Nur auf dieser Basis kann nach Meinung würde. der FDP ein liberaler Rechtsstaat ein solches Problem lö- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem sen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Der Schutz der Menschenwürde steht allen zu, auch de- (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei nen, die selbst, wie Kaplan mit seinem Mordaufruf, die Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Menschenwürde anderer bedauerlicherweise mit Füßen GRÜNEN) getreten haben. Das unterscheidet ja gerade den Rechts- staat von dem, der ihn bekämpft. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Daraus ergibt sich die Folge: Ein Asylrecht ist durch- aus verwirkbar. Kaplan hat kein Asyl mehr. Ein Aufent- Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, haltsrecht ist verwirkbar, aber dennoch muss ein Rechts- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5377

(A) Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE und andererseits – wie von mir – gerade wegen der (C) GRÜNEN): rechtsstaatlichen Probleme der EU-Beitritt der Türkei Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Pro- befürwortet wird. Das Gericht stellt immerhin fest, dass bleme mit der Abschiebung von Extremisten gibt es die Erpressung der Geständnisse unter Folter aus der nicht erst seit dem Fall Kaplan. Sie gibt es auch nicht nur Zeit vor 1998 erfolgte. in Deutschland. Vor wenigen Jahren bereits mussten wir Ich denke, dass wir die stark veränderten Realitäten in in Europa, also nicht nur in Deutschland – das war auch der Türkei nach 1998 nicht nur zur Kenntnis nehmen, für mich nur schwer erträglich –, algerischen Gewalttä- sondern ein Stück von der Begeisterung mit übernehmen tern Schutz gewähren, während wir gleichzeitig die Op- sollten. Die Türkei ist gerade mit vollem Ernst und gro- fer dieser algerischen Gewalttäter ausgewiesen haben. ßem Nachdruck dabei, den Weg in die EU-Beitrittver- Wir haben immer wieder die Situation gehabt, dass beide handlungen zu beschreiten. Sie hat wie kein anderes Bei- Bürgerkriegsparteien aus afrikanischen Ländern in Eu- trittsland ihre Verfassung und Gesetze geändert und geht ropa Schutz gesucht haben. Die Frage, wem letztendlich gegen Folter vor. Das ist jetzt auch vom Europäischen Asyl gewährt wurde, war oft an die Bedingungen im Gerichtshof bestätigt worden. Die Türkei gibt zu, dass Herkunftsland gekoppelt. sie Probleme im Menschenrechtsbereich hat und dass es Meine Damen und Herren, die Fälle in Europa sind vor 1998 Folter gab. Demgegenüber muss aber auch bekannt. Auch England, Frankreich, die skandinavi- deutlich gesehen werden, dass die Türkei sehr große An- schen Länder und die Niederlande würden gerne einige strengungen unternimmt, um sich den rechtsstaatlichen extremistische islamistische Führer verbotener Organi- Standards in Europa anzunähern. sationen loswerden. Sie haben dazu aber keine Hand- habe. Ich erinnere die CDU/CSU nicht gerne daran, dass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: es ihr Bundesinnenminister Kanther war, der einem Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Großteil der damaligen PKK-Funktionäre – diese Orga- Kollegen Grindel? nisation hat sich ja mittlerweile umbenannt – nicht nur hier Asyl gewährt, sondern ihn auch ohne genauere Überprüfung eingebürgert hat. Damit hat er sicherge- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE stellt, dass sie dauerhaft hier bleiben konnten. Frau GRÜNEN): Sonntag-Wolgast hat in ihrem Redebeitrag deutlich ge- Ja. macht, dass es Rot-Grün war, die überhaupt erst den As- pekt der Verfassungstreue bei der Einbürgerung ins Ge- Reinhard Grindel (CDU/CSU): setz aufgenommen haben. (B) Frau Kollegin Stokar, können Sie mir nach Ihrer (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Hymne auf die rechtsstaatliche Entwicklung in der Tür- DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ kei einmal erklären, wieso Sie das Urteil aus Köln in CSU) rechtsstaatlicher Hinsicht für gerechtfertigt halten? Denn wenn die Menschenrechte in der Türkei neuerdings tat- Wenig hilfreich ist der Antrag der CDU/CSU, weil sie sächlich so viel Beachtung fänden, dann wäre es doch nicht anerkennen will, dass wir im nationalen, deutschen völlig unverständlich, dass Herr Kaplan nicht in die Tür- Recht keine Schutzlücken haben. Sie haben offensicht- kei abgeschoben wird. lich auch nicht zur Kenntnis genommen, dass es – ob- wohl Sie 16 Jahre regiert haben – die rot-grüne Bundes- ( [SPD]: Auch ein rechts- regierung war, die das deutsche Recht dahin gehend staatliches Urteil kann falsch sein!) ergänzt hat, dass Personen, die die Sicherheit in Deutschland gefährden, abgeschoben werden können. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE Wir haben hier keine Schutzlücken in der deutschen Ge- GRÜNEN): setzgebung, sondern das Dilemma, das Herr Stadler ge- Um das richtig zu verstehen, müssten Sie nur die Ge- nau richtig beschrieben hat – ein Dilemma, das Politik richtsurteile und ihre Begründungen nachlesen. auch einmal zugeben muss –, dass einem Rechtsstaat Grenzen gesetzt sind. Wenn Sie hier geeignete Maßnah- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das haben men fordern, müssten Sie eigentlich selbst sagen, welche wir gemacht! Wir verstehen es trotzdem Maßnahmen das sein sollen. Sie müssten die Frage be- nicht!) antworten, ob sich die CDU/CSU von dem Rechtsstaat Europa, von den Rechtsgütern des alten Europas verab- In den Begründungen sowohl zum Auslieferungsverfah- schieden will. Sie müssten die Frage beantworten, ob die ren als auch zum Abschiebungsverfahren bezieht sich Europäische Menschenrechtskonvention für Sie unab- das Gericht auf Vernehmungen und polizeilich erpresste dingbare Gültigkeit hat. Geständnisse von Kaplan-Anhängern in der Türkei im Zusammenhang mit dem Kalifstaat aus der Zeit vor 1998 Meine Damen und Herren, auch ich sehe den offen- und sieht heute begründet die Gefahr, dass diese Ge- sichtlichen Widerspruch, wenn einerseits festgestellt ständnisse in dem in der Türkei drohenden Verfahren wird, dass die deutschen Gerichte – da schließe ich mich verwertet werden. Es geht hier ja nicht nur darum, dass der Meinung von Herrn Stadler an – rechtsstaatlich sehr wir Herrn Kaplan loswerden wollen, sondern auch da- gut begründet zu diesem Urteil gekommen sind – deswe- rum, dass Herrn Kaplan in der Türkei ein Verfahren we- gen würde ich hier nicht von einem Fehlurteil reden –, gen Hochverrats droht. 5378 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Silke Stokar von Neuforn (A) Jetzt sagt das Gericht: Solange nicht sichergestellt ist, Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE (C) dass die Geständnisse von vor 1998 keinen Einfluss auf GRÜNEN): dieses Verfahren haben, besteht die Gefahr, dass das Ver- Ich habe das sehr gut verstanden. Ich glaube, Ihre fahren nicht rechtsstaatlich gemäß der europäischen Frage beschreibt das Dilemma bei den Begründungen Menschenrechtskonvention durchgeführt werden wird. der beiden Gerichtsurteile und der folgerichtigen Politik (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Dann unseres Innenministers. darf die Türkei aber nicht in die EU!) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ich glaube, Ihre ganze Rede ist ein Dilemma!) – Da ist das Dilemma. Das Gericht kann in dieser Be- gründung natürlich nicht die heute veränderten Realitä- Es gilt ja gerade jetzt, sicherzustellen, dass diese der Be- ten in der Türkei würdigen. gründung zugrunde liegenden Gesichtspunkte des Ge- richtes, das nach wie vor von einer beachtlichen Gefahr (Beifall des Abg. aufgrund einer früheren Praxis ausgeht, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Vielen Dank! Aber ich (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Sie sollten habe es nicht verstanden!) das noch einmal nachlesen!) – Ich habe nicht erwartet, dass Sie eine so differenzierte bis zur nächsten Berufungsinstanz ausgeräumt werden. Ausführung verstehen. Sie dürfen sich aber trotzdem set- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Meinen Sie, zen. das versteht irgendeiner?) Wenn das alles so einfach wäre, dann müsste der Innen- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: minister nicht in die Türkei fahren, um weitere Zusiche- Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen- rungen zu bekommen. frage des Kollegen von Klaeden? (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist jedenfalls für Sie zu schwierig, Frau Stokar!) Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe nicht gesagt – das ist auch nicht grüne Position –, die Türkei habe alles abgearbeitet, der Aber gerne doch. Rechtsstaat Türkei entspreche heute europäischen Stan- dards. Ich habe nur gesagt, dass wir die Realität wahr- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Niedersach- nehmen sollten, dass die Türkei sehr große Bemühungen sen unter sich!) (B) unternimmt. (D) Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Ich bin ganz konkret der Meinung, dass eine weitere gesetzliche Änderung in der Türkei erforderlich ist. Ich Frau Stokar, wenn das Gericht befürchtet, dass heute weiß auch, dass darüber diskutiert und daran gearbeitet erpresste Aussagen in das Verfahren eingeführt werden – wird: nicht nur die Anti-Folter-Konvention zu unter- das haben Sie gerade erläutert – – schreiben und das Folterverbot gesetzlich zu verankern, sondern auch die Verwertung polizeilich erpresster Ge- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE ständnisse in Gerichtsverfahren zu verbieten. Dafür GRÜNEN): reicht eine Erklärung der Regierung, eine Erklärung der unabhängigen und freien Justiz nicht aus. Nein. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Die Gesetz- (Zurufe von der SPD: Zuhören!) gebung ist keine Aufgabe der Justiz!) – Auch Sie dürfen sich setzen. Aber wenn man eine Eckart von Klaeden (CDU/CSU): komplizierte Frage stellt, bekommt man auch eine kom- Vor 1998 durch Folter erpresste Aussagen werden plizierte Antwort. So einfach, wie Sie das hier populis- heute in das Verfahren wegen Hochverrats eingeführt. tisch aufzuziehen versuchen, ist es nicht. Das ist Ihre Ausführung gewesen. Vonseiten der Türkei muss noch einiges geliefert und (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) gemacht werden, Handelt es sich bei der möglichen Einführung solcher (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Dann Aussagen nicht um einen heutigen Vorgang, der für die kann die Türkei aber nicht in die EU!) heutige Beurteilung rechtsstaatlicher Verhältnisse rele- damit wir in einer Berufungsinstanz die Chance haben, vant ist? Oder handelt es sich, wie Sie gerade versucht nach europäischen Rechtsstaatsgrundsätzen das Ergeb- haben, zu suggerieren, um einen Vorgang, der vor 1998 nis zu bekommen, das wir alle wollen, nämlich dass Herr liegt? Kaplan unser Land verlassen muss. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist doch Danke schön. kein Rechtsstaat, der so etwas verwertet!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haben Sie es jetzt verstanden? und bei der SPD – Thomas Strobl [Heilbronn] Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5379

Silke Stokar von Neuforn (A) [CDU/CSU]: Schön, dass Sie das Rednerpult Staat, der sie wirksam vor Terrorismus, Extremismus (C) verlassen!) und Straftätern schützt. (Zuruf von der SPD: Was heißt das?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Natürlich wird das nicht zu 100 Prozent möglich sein – Nächster Redner ist der Kollege Michael Grosse- keine Frage. Unsere Bürgerinnen und Bürger fordern Brömer, CDU/CSU-Fraktion. aber zu Recht einen Staat, der mit allen ihm zur Verfü- (Beifall bei der CDU(CSU) gung stehenden Mitteln versucht, diesem Ziel möglichst nahe zu kommen. Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): (Dr. Max Stadler [FDP]: Mit allen?) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Genau hier liegen das Problem und das Versäumnis die- Herren, insbesondere Frau Stokar und Frau Sonntag- ser Bundesregierung: Statt konsequent zu handeln, hat Wolgast! Sie können natürlich noch doppelt so lange diese Regierung mit falsch verstandener Toleranz zur drum herum reden, es ändert nichts daran, dass der Fall Salonfähigkeit von Extremisten beigetragen. dieses Extremistenführers überhaupt nichts dazu beige- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei tragen hat, das Vertrauen der Menschen in Deutschland der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] in unseren Rechtsstaat in irgendeiner Weise zu stärken. [SPD]: Das ist doch unglaublich! – Das Gegenteil ist eingetreten: Der Rechtsstaat hat einmal Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Sie ver- mehr an Glaubwürdigkeit und Überzeugung eingebüßt. wechseln Rechtsstaatlichkeit mit Toleranz!) Wir müssen schon ein Stück weit fragen: Warum ist – Sie brauchen sich nicht aufzuregen; das ist nicht meine das so? Der Grund dürfte darin zu sehen sein, dass die Feststellung, sondern die Feststellung des stellvertreten- deutsche Bevölkerung an Recht und Justiz – im Zweifel den Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in auch an den Justizminister – berechtigte Ansprüche Deutschland, Kenan Kolat, nachzulesen in der „TAZ“ stellt, die aber sehr häufig enttäuscht werden, spätestens vom 29. August 2003. durch die öffentliche Berichterstattung über die meist spektakulären Fälle. So erhält der Frührentner in (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da- durch wird das doch auch nicht besser!) Florida – höchstrichterlich entschieden – die deutsche Sozialhilfe, während in Deutschland junge Familien da- Da Sie im Zweifel diese Zeitung häufiger lesen als ich, rüber nachdenken, wie sie finanziell überleben. Im vor- wundere ich mich schon ein bisschen, dass Sie sich so hin genannten Fall darf der islamistische Extremist nicht aufregen. (B) ausgewiesen werden, obwohl er in Deutschland zum (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Mord aufgerufen hat und rechtskräftig zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Herr Kaplan darf nicht in seine Herr Kolat macht sich verständliche Sorgen um die Heimat, die Türkei, abgeschoben werden, weil ihm dort weltoffenen türkischen Mitglieder seiner Gemeinde an- möglicherweise menschenrechtswidrige Behandlung gesichts des – wieder ein Zitat von ihm – „zu lockeren droht. In Deutschland darf er aber bleiben, obwohl er Umgangs deutscher Behörden mit Islamisten“. hier massiv gegen humanitäre Grundsätze und Strafge- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE setze verstoßen hat. Das ist der Sachverhalt. Ich kann es GRÜNEN]: So platt, wie Sie argumentieren, niemandem verübeln, wenn er über dieses Thema nur ist es kein Wunder, dass Sie nichts noch den Kopf schüttelt. verstehen! – Dr. [SPD]: Wel- Die Kritik an der Gerichtsentscheidung allein, Frau che Meinung haben Sie denn?) Sonntag-Wolgast und vor allem auch Herr Bundesinnen- Bereits im Mai dieses Jahres – leider waren Sie offen- minister, greift zu kurz. Der Senat hat natürlich zu Recht sichtlich nicht da, sonst müssten Sie diese Frage nicht die Europäische Menschenrechtskonvention und das stellen – habe ich mit anderen Mitgliedern meiner Frak- Anti-Folter-Abkommen der UNO im konkreten Fall als tion genau an dieser Stelle auf die massiven Gesetzes- Abschiebehindernisse geprüft. lücken in unserem Land aufmerksam gemacht. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Was ist seitdem gesche- (Zuruf von der SPD: Aha!) hen? Die Antwort ist einfach: Nichts, überhaupt nichts! Das sollten wir bei aller Entrüstung über das Ergebnis Wir haben immer noch dieselben Mängel und dieselben nicht vergessen. Wenn der Herr Minister mit dieser Ent- Vorschriften wie vor knapp einem halben Jahr, als hier scheidung unzufrieden ist, kann ich persönlich das gut über den Antrag meiner Fraktion zum wirksameren verstehen. Er sollte dann aber nicht die Auffassung der Schutz vor Terrorismus und Extremismus debattiert Richter infrage stellen, sondern selbst in seinem Hause wurde. Nichts hat sich verändert, außer vielleicht einer Überlegungen anstellen, wie sich so etwas zukünftig Sache: Das Unverständnis der Menschen in Deutschland verhindern lässt. ist größer geworden, nicht zuletzt aufgrund des genann- ten Urteils. Ich glaube nicht, dass irgendjemand Verständ- (Beifall bei der CDU/CSU) nis dafür hat, dass diese Sympathiewerbung für ausländi- sche Terroristen in Deutschland nach wie vor straffrei ist. Meiner Meinung nach liegt das Problem noch ein Stück tiefer. Die Menschen in Deutschland wollen einen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch Rechtsstaat, auf den man sich verlassen kann, einen unglaublich! Lassen Sie das doch sein!) 5380 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Michael Grosse-Brömer (A) Auch dieser Aspekt ist ein Mosaikstein im Bild der in- sche Forderung, wie wiederholt falsch vonseiten der Ko- (C) nen- und rechtspolitischen Fehlleistungen dieser Regie- alitionsparteien behauptet wird, sondern eine präventive, rung. wirksame Sicherheitspolitik im Interesse der Menschen in unserem Land. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist platter Populismus!) Zur Verweigerung der Einreise muss nach unserer Ansicht schon ein tatsachengestützter Extremismusver- Sie sind offenkundig nicht in der Lage, eine innen- dacht ausreichen. Es muss genügen, wenn sich extremis- und sicherheitspolitische Entscheidung aus einem Guss zu machen. Unsere Aufforderung an die Bundesregie- tische Anhaltspunkte verdichten und von Gerichten rung, speziell an den Bundesinnenminister, lautet des- überprüfbar sind. In diesem Fall sollten wir also nicht halb: Ergreifen Sie endlich geeignete Maßnahmen, um weiter herumphilosophieren, sondern endlich handeln. unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ent- Es ist doch absurd, mit vorgeschobenen rechtsstaatlichen schlossener als bisher verteidigen zu können. Prinzipien möglichen gewaltbereiten extremistischen Ausländern mehr Unterstützung zuteil werden zu lassen (Beifall bei der CDU/CSU) als der Sicherheitslage in unserem Lande. Ausländische extremistische Straftäter haben in (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Deutschland nichts zu suchen. Wenn Herr Schily das al- GRÜNEN]: Vor welchem Gericht will er denn leine nicht hinbekommt, muss er mit seinem Kabinetts- damit Bestand haben?) kollegen im Auswärtigen Amt endlich einmal reden und ihn auffordern mitzuwirken. Wir brauchen endlich eine Wir als CDU/CSU wollen zum Schutz unserer Bür- konsequente nationale und europäische Außenpolitik ger, dass vor der Erteilung einer unbefristeten Aufent- gegenüber den Staaten, die sich weigern, ihre eigenen haltserlaubnis und einer Aufenthaltsberechtigung Staatsangehörigen zurückzunehmen. grundsätzlich Regelanfragen beim Verfassungsschutz gestellt werden, und zwar bundeseinheitlich. Ich freue (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Darum mich, dass die FDP diesem Gedanken näher treten kann. geht es in diesem Fall doch gar nicht!) National und international müssen endlich geeignete Warum erlauben wir uns eigentlich überhaupt den Maßnahmen ergriffen werden, damit die Rechtslage Verzicht auf Maßnahmen, die schnell, wirksam und effi- künftig sicherstellt, dass Extremisten in Deutschland ab- zient dem Schutz dieses Staates und seiner Bürger die- geschoben werden können. nen können? Insbesondere bei Ausländern aus Staaten, bei denen Rückführungsschwierigkeiten bestehen, sind Die rot-grüne Innen- und Sicherheitspolitik kapitu- vor der Erteilung von Aufenthaltstiteln auch für Kurz- liert stattdessen vor den Rückführungsschwierigkeiten. (B) aufenthalte als Regelfall identitätssichernde Maßnah- (D) Das verdeutlichen übrigens sehr schön Ihre Vorstellun- men durchzuführen. gen zum neuen Zuwanderungsgesetz. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE (Sebastian Edathy [SPD]: Wie kommen Sie GRÜNEN]: Sie reden gar nicht zu Ihrem An- auf so einen Unsinn?) trag!) Danach soll der unrechtmäßige Aufenthalt ausreise- Wir fordern weiterhin, das geltende Recht so auszu- pflichtiger Ausländer legalisiert werden, indem man die- gestalten, dass ausländische Extremisten sicher und sen Personen Daueraufenthaltsrechte in Aussicht stellt. frühzeitig identifiziert werden können, Stichwort: bio- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das metrische Daten und all das, was damit zusammenhängt. gibt es doch nicht! Wie kann man die Dinge so Sie wissen, dass nach der jetzigen Gesetzeslage identi- verdrehen?) tätssichernde Maßnahmen nur bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten möglich sind. Wer kann mir er- Sie sehen: schon wieder ein Mosaikstein im Bild Ihrer verkorksten innenpolitischen Grundhaltung. Darum geht klären, warum die Gefahr, die von einem Fundamenta- es doch. listen ausgeht, von der Dauer seines Aufenthaltes abhän- gig ist? Das habe ich bis heute nicht verstanden. (Zuruf des Abg. Rüdiger Veit [SPD]) Deswegen sagen wir: Die Durchführung erkennungs- – Wollen wir über mein Staatsexamen sprechen oder dienstlicher Maßnahmen muss nach unserer Ansicht im über die Probleme, die Sie innenpolitisch verursachen? Gegensatz zur jetzigen Rechtslage den Regelfall bilden. Ich glaube, darüber sollten wir uns einig werden. Wir müssen der Entwicklung entgegenwirken, dass im- (Beifall bei der CDU/CSU) mer mehr vollziehbar Ausreisepflichtige nicht freiwillig aus Deutschland ausreisen und ihre Rückführung da- Ich will beispielhaft einige weitere Sicherheitslü- durch verhindern, dass sie über ihre Identität und Staats- cken ansprechen, die dringend geschlossen werden müs- angehörigkeit täuschen oder an der Beschaffung von Do- sen; das sollten Sie sich anhören. Wir müssen alle erfor- kumenten für die Rückreise nicht mitwirken. Die derlichen Maßnahmen ergreifen, um schon die Einreise Bundesregierung hat diese Maßnahmen bislang lediglich von ausländischen Extremisten nach Deutschland zu angekündigt; geschehen ist nichts, auch nicht auf euro- verhindern. Wir bekommen keine Ausweisungs- und päischer Ebene. Abschiebungsprobleme, wenn wir gewaltbereite Extre- misten oder Fundamentalisten gar nicht erst nach Es ist ein weiterer Fehler der Regierung, sich bei den Deutschland einreisen lassen. Dies ist keine populisti- Daten, die im Ausländerzentralregister gespeichert Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5381

Michael Grosse-Brömer (A) werden, mit der freiwilligen Angabe der Religionszuge- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem (C) hörigkeit zu begnügen. Damit das Risiko bei der Ein- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. reise wesentlich besser abgeschätzt werden kann, ist es Hans-Michael Goldmann [FDP] – Reinhard unerlässlich, sowohl die Religionszugehörigkeit als auch Grindel [CDU/CSU]: Damit kommen Sie die Volkszugehörigkeit von Ausländern zu erfassen. Die heute nicht an!) ethnische Zugehörigkeit ist schließlich für die Rückfüh- Aber, meine Damen und Herren, der Hahn hat andere rung in das Heimatland von besonderer Bedeutung. Aufgaben, falls Ihnen das geläufig ist. So viel verstehe Meine Damen und Herren, unser Antrag bietet einen ich noch von der Landwirtschaft, Frau Kollegin Künast. weiteren Vorteil, nämlich im Hinblick auf den deutschen (Heiterkeit – Zuruf von der CDU/CSU: Sie ver- Strafvollzug. Die Anzahl ausländischer Insassen in den stehen sicher mehr davon als Frau Künast!) deutschen Haftanstalten ist enorm. Sie kann verringert werden, wenn kriminelle Extremisten schnell abgescho- Ich will gern einen erfreulichen Sachverhalt an den ben werden Anfang stellen, auch wenn der Kollege, der zuletzt ge- sprochen hat, eine Tonlage in diese Debatte gebracht hat, (Dr. Max Stadler [FDP]: Wohin?) die ich nicht für richtig halte. Ich gehe davon aus – das und ihre Haft gegebenenfalls im Heimatland verbüßen. ist ein erfreulicher Sachverhalt –, dass alle Seiten des Wir müssen deshalb die rechtlichen Voraussetzungen für Hauses darin übereinstimmen, dass Extremisten, die ver- eine Haftverbüßung im Herkunftsland verbessern. urteilt worden sind – ich nenne beispielsweise Kaplan, der zu vier Jahren Freiheitsstrafe wegen Aufforderung Dieser Aspekt macht meiner Auffassung nach auch zum Mord verurteilt wurde; übrigens ein Aufruf, der rechtsdogmatisch Sinn. Die Betroffenen sollen ja reso- Folgen hatte – außer Landes gehören und in unserem Va- zialisiert werden. Angesichts dessen, dass manche gar terland nichts zu suchen haben. nicht sozialisiert sind oder sich gar nicht sozialisieren lassen, stellt sich schon die Frage, warum der Haftvoll- (Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE zug in Deutschland stattfinden soll. GRÜNEN): Auch nicht in unserem Mutter- land!) Wir müssen letztlich verhindern, dass ausländische Extremisten deutsche Staatsbürger werden. Und Das ist eine allgemeine Auffassung. Deutschland zum Austragungsort ihrer Aktivitäten ma- Nun will ich versuchen, anhand des Falles Kaplan zu chen. erläutern, wo die Unterschiede liegen. Deswegen zum Schluss: Die Menschen in Deutsch- (Zuruf des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/ (B) land haben es satt, dass es in ihrem Land keine klare po- CSU]) (D) litische Führung gibt. Diese gibt es mittlerweile auf kaum einem politischen Feld. Sie fordern zu Recht ein- – Herr von Klaeden, nun fangen Sie nicht an, zu lachen; deutige Vorschriften, die dann auch konsequent vollzo- wir sind doch noch nicht im Fasching, das kommt noch. gen werden. Mit unserem Antrag kommen wir dem Der entscheidende Punkt ist, ob wir zwischen Rechts- Wunsch der Menschen innen- und rechtspolitisch entge- fragen und Tatsachenfragen unterscheiden können. Ich gen. Der Bundesinnenminister muss aufhören, nur zu ga- bleibe zunächst einmal bei der Rechtsfrage. Die Auswei- ckern und kein Ei zu legen. sung von Herrn Kaplan – ich glaube in diesem Zusam- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE menhang ist Ihre Wortwahl etwas durcheinander gera- GRÜNEN]: Es ist ja unglaublich!) ten; Sie wollten sicher das richtige Wort sagen – ist kein Problem. Die Entscheidung des Asylwiderrufs ist nach Es wird Zeit, zu handeln. Stimmen Sie unserem Antrag unserem Gesetz bestätigt worden. Wir haben diesen Wi- zu! derruf vollzogen. Vielen Dank. Hinsichtlich der Abschiebung stellt sich die Frage: (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Kann er abgeschoben werden? Hier müssen wir uns jetzt [Salzgitter] [SPD]: Das ist ausgesprochen über die rechtlichen Grenzen verständigen. Die Koali- dämlich!) tion, Herr Stadler und auch ich sagen: Wir haben Bin- dungen an internationale Vereinbarungen und wir haben Bindungen an unsere Verfassung – die übrigens diese in- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ternationalen Vereinbarungen zum geltenden Recht qua Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Otto Verfassungsrecht macht –, die es uns verbietet, Men- Schily. schen, denen Folter oder die Todesstrafe drohen, in die- ses Land abzuschieben. Gleich ob Abschiebungsgründe Otto Schily, Bundesminister des Innern: vorliegen oder nicht. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- (Dr. Max Stadler [FDP]: So ist es!) gen! Herr Kollege, mit Metaphern kann man sehr dane- Herr Koschyk, dann müssen Sie klar erklären, ob Sie bengreifen. Wenn Sie schon die Tätigkeit des Bundesin- diese Grenze überschreiten wollen. nenministers mit dem Hühnervolk vergleichen, dann sollten Sie doch die Geschlechtszugehörigkeit beachten. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ich sage Eier legen können Hähne nun einmal nicht. schon noch etwas dazu!) 5382 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Bundesminister Otto Schily (A) Wenn Sie sagen: nein, dann sind wir uns einig. Die Türkei hat in dem Verfahren einige Erklärungen (C) abgegeben – insofern waren wir keineswegs erfolglos –, (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wo ist Ihre die ich für glaubwürdig halte: Es droht keine Todes- Grenze?) strafe; es droht nicht die Folter; er wird auch sonst men- – Moment. Da gibt es keine Abwägung. Wer in Bezug schenrechtskonform behandelt; es werden keine Ge- auf Folter abwägt, der kommt auf ein abschüssiges Ge- ständnisse Dritter verwendet, die unrechtmäßig zustande lände. Das werde ich niemals zulassen. gekommen sind; er wird von einem Richter vernommen; er kann sich einen Verteidiger seiner Wahl nehmen; er (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE kann in der Untersuchungshaft selbstverständlich Kon- GRÜNEN und der FDP) takte haben, zum Beispiel Briefkontakte und Telefonate mit den Angehörigen. – Das alles sind Schutzgarantien, Deshalb bin ich auf der Seite des Präsidenten des die nach unserer Auffassung eine rechtsstaatliche Be- Bundesverfassungsgerichts, Herrn Papier, der ebenfalls handlung in der Türkei sicherstellen, zumal die Türkei geltend gemacht hat, dass wir uns aufgrund der Rechts- die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrie- kultur Deutschlands hinsichtlich der Folter keinen einzi- ben hat. Herr Ministerpräsident Erdogan hat bei seinem gen Millimeter von diesen Grundsätzen wegbewegen letzten Treffen in Berlin noch einmal bekräftigt, dass er dürfen. diese Garantien durchsetzen will. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Man kann natürlich der Auffassung sein, dies alles Wollen Sie einen Folterstaat in die EU aufneh- seien schöne Erklärungen, an deren Einhaltung man aber men?) nicht glaube. Damit trifft man eine Voraussage. Frau Die indirekte Frage, ob eine durch Folter erzwungene Kollegin Stokar, entschuldigen Sie, dass ich darauf hin- Aussage in einem Gerichtsverfahren verwertet wird oder weise, nicht, hängt damit zusammen. Das sind die Rechtsfra- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE gen. Wenn wir uns da einig sind, dann haben wir eine GRÜNEN]: Das macht nichts!) gute Grundlage. dass in Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen etwas (Zuruf des Abg. Wolfgang Zeitlmann ]CDU/ durcheinander geraten ist. CSU]) (Zurufe von der CDU/CSU: Da haben Sie – Moment, Herr Zeitlmann, hören Sie doch einen Mo- Recht!) ment zu! Wir können über die Fragen ganz offen und nüchtern reden. Wir können uns auch Polemik um die Es geht um die gegenwärtige Beurteilung und um die (B) Ohren hauen; auch das ist interessant. Aber ich denke, Frage, ob die Vergangenheit zu einer anderen Beurtei- (D) die Bürgerinnen und Bürger wollen lieber die Sachfrage lung der Gegenwart führt. erörtert haben. Vor diesem Hintergrund – manchmal schadet es nicht, (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die möchten einem Tisch, der schon auf vier Beinen gut steht, noch es verstehen!) ein fünftes Bein hinzuzufügen – und nicht deswegen, weil ich das Urteil für richtig halte, bin ich in die Türkei – Herr Grindel, ich versuche es doch. Sie können es ja gereist und habe die türkischen Behörden gebeten, eine auch versuchen. Dann melden Sie sich noch einmal und zusätzliche Erklärung zu diesem früheren Fall abzuge- wir verlängern die Debatte ausnahmsweise. ben. Dort sind die Erklärungen, die ich eben angespro- chen habe, bekräftigt worden und man hat noch einmal (Rüdiger Veit [SPD]: Das muss nicht sein!) versichert, dass keine rechtsstaatlich bedenkliche Be- Daneben ist die Tatsachenfrage zu klären. Das Verwal- handlung drohe. Bei dieser Gelegenheit habe ich aber tungsgericht Köln – das selbstverständlich, wie jedes auch Fragen zu dem früheren Verfahren gestellt. Ich Gericht, Respekt verdient, auch wenn es ein Fehlurteil hoffe, dass dazu klare Erklärungen abgegeben werden. trifft; ich würde dann nie zur Polemik greifen, wie es ein Das ist die Grundlage, auf der wir handeln. Es geht nicht Kollege in Bayern tut – hat rein tatsächlich auf der um eine Rechtsveränderung. Ich wüsste nicht, was an Grundlage der offenbar gemeinsamen Rechtsauffassung dieser Stelle zu verändern wäre, Herr Kollege Koschyk. dieses Hauses angenommen, dass Kaplan, wenn er in die (Rüdiger Veit [SPD]: Das wissen die auch Türkei zurückgeführt wird, ein Verfahren droht, in dem nicht!) durch Folter erzwungene Aussagen verwertet werden. Das Gericht stützt diese Voraussage auf die Annahme, In diesem Zusammenhang muss man noch einen an- dass in einem früheren Verfahren – das hat die Rechts- deren Punkt berücksichtigen; darüber haben wir hier im vertretung von Herrn Kaplan vorgetragen; da geht es um Hause häufig genug diskutiert. Sie schlagen immer vor, einen Verwandten von Kaplan, der auch vor Gericht ge- es müsse bei Verdacht auf eine terroristische oder extre- standen hat – angeblich durch Folter erzwungene Aussa- mistische Betätigung eine Ausweisung möglich sein. Ich gen bei dem Fällen eines Gerichturteils verwertet wor- sage, das ist nicht das Problem. Es gibt eine polizeirecht- den sind. liche Bestimmung, die besagt, dass eine Person, die eine Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands darstellt, Das ist eine Tatsachenfrage. Ich halte die Annahme ausgewiesen und im Vollzug abgeschoben werden kann. des Gerichts für falsch – das sage ich, damit das klar Damit werden aber die bestehenden Abschiebehinder- ist –, weswegen ich auch das Urteil für falsch halte. nisse wie Folter und Todesstrafe nicht überwunden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5383

Bundesminister Otto Schily (A) Diese Sachverhalte müssen wir auseinander halten. Gruppe, die einen Anspruch auf eine Visaerteilung hat, (C) Sonst muss ich Sie, Herr Koschyk, verdächtigen, dass ist begrenzt. Bei dieser spielt die besondere Überprüfung Sie hier nur eine Show abziehen und nur scheinbar die eine Rolle. Ansonsten ist die Visaerteilung unsere freie Muskeln zeigen wollen, aber an der echten Sachlage Entscheidung. Bei dem leisesten Verdacht liegt es in un- vorbeireden. serem Belieben, ob wir eine Person in unser Land lassen oder nicht. Intern findet eine sehr sorgfältige Prüfung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ statt. Selbstverständlich haben Sie in diesem Punkt DIE GRÜNEN) Recht: Es ist am besten, bei der Einreise zu prüfen, ob Sie haben für Ihre Politik keinen Bündnispartner. Mit Bedenken vorliegen; das geschieht auch. Gleiches gilt wem wollen Sie eine solche Politik, die Sie hier vor- auch für die Möglichkeiten, eine Person wieder außer schlagen, machen? So etwas haben Sie in Ihrer Regie- Landes zu bringen. rungszeit, vielleicht dank der FDP, nicht gemacht. Die Selbstverständlich müssen wir zur Überprüfung der FDP wird nach allem, was ich höre, Ihnen nie die Hand Identität neue Methoden einführen. Meine Redezeit ist dazu reichen, diese Schranke zu überwinden. In diesem schon überschritten, weshalb ich Ihnen nicht alle Einzel- Fall verlasse ich mich auf die FDP, falls die Gefahr dro- heiten der Aktivitäten Deutschlands dazu nennen kann. hen sollte, dass Sie mehr zu sagen haben als heute in der Ich will Sie nur auf eine Meldung, die gerade in diesen Opposition. Tagen bekannt wurde, hinweisen. Es ist auf eine deut- Ich glaube, dass das, was Sie in Zusammenhang mit sche Initiative zurückzuführen, dass die Frist zur Einfü- der Türkei gesagt haben, sehr bedenklich ist. Ihre Poli- gung eines Lichtbildes in das EU-Visum verkürzt wird. tik, die Türkei auf Distanz zu halten und ihr die Tür zu Die Kommission ist dem deutschen Vorschlag gefolgt. weisen, stellt eine Abkehr von der Politik des frühe- Der Vorschlag der Kommission liegt jetzt auf dem Tisch ren Bundeskanzlers Kohl dar. und ich hoffe, dass er die Zustimmung der Mitgliedslän- der der Europäischen Union finden wird. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Nein!) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Der – Doch, natürlich. Lesen Sie die Erklärung von Bundes- Grünen!) kanzler Kohl aus dem Jahr 1997 nach. Ich kann aus ihr wörtlich zitieren. Mit dieser Abkehr von der Politik des Das Gleiche gilt für die biometrischen Merkmale. gesamten Europas – es war eine einstimmige Entschei- Gerade in diesen Fragen sind wir die treibende Kraft auf dung aller Regierungschefs der europäischen Mitglied- europäischem Gebiet. Das ist die Wahrheit; das müssen staaten – sind Sie in Europa völlig isoliert. Sie nun einmal zur Kenntnis nehmen. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Deshalb (Beifall bei der SPD) (B) (D) muss sie nicht falsch sein!) Ich kann nicht auf alle Sachverhalte eingehen, weil Wenn Sie diese Politik für richtig halten, dann treiben die Redezeit das leider nicht hergibt. Ich will Ihnen zum Sie die Türkei dahin, dass sie diesen Verpflichtungen Schluss aber noch einmal etwas bezüglich der Auswei- nicht in dem Maße nachkommt, wie es wünschenswert sungstatbestände sagen. Wir haben die richtige Regelung wäre. Dann werden die Möglichkeiten, Personen in die gefunden. Es geht um einen polizeirechtlichen Gefähr- Türkei abzuschieben, in der Tat sehr viel geringer. Das dungssachverhalt. Man muss sich allerdings die Frage hat Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, wie ich finde, völlig stellen, ob der Vollzug ausreichend ist. Erkundigen Sie richtig ausgeführt. sich einmal auch in den Ländern, in denen Sie Regie- rungsverantwortung tragen, ob der Vollzug immer so Auf die anderen Einzelheiten, die leider alle in die fal- funktioniert, wie er funktionieren sollte. sche Richtung und an den Tatsachen vorbei gehen, will ich jetzt nicht weiter eingehen. Nur so viel: Wir haben (Silke Stokar von Neufo – Thomas Strobl im Staatsangehörigkeitsrecht die strikte Überprüfung [Heilbronn] [CDU/CSU]: In Baden-Württem- der Verfassungstreue von Personen, die deutsche Staats- berg ist das sehr gut!) bürgerinnen und Staatsbürger werden wollen, eingeführt. – Sie nennen Baden-Württemberg. Da bekommen Sie Die Problemfälle, die wir geerbt haben, sind aufgrund sogar ein Lob von mir; so fair bin ich. In Baden- der von Ihnen erlassenen Rechtsvorschriften entstanden. Württemberg ist Folgendes passiert: Der ehemalige so Diese Personen können wir nicht außer Landes bringen. genannte Gebietsemir des verbotenen Kalifatstaats, Das haben Sie zu verantworten. Osman Ünal, ist durch die zuständige Ausländerbehörde (Beifall bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ in Baden-Württemberg wegen der Gefährdung der frei- CSU]: Wo wird das denn geprüft?) heitlich-demokratischen Grundordnung und der Sicher- heit der Bundesrepublik Deutschland sofort vollziehbar Wir haben dafür gesorgt, dass die Sicherheitsbehörden ausgewiesen worden. Der Tatbestand reicht also völlig am Visumverfahren beteiligt werden. Die Unterstel- aus. Sie brauchen keine Verdachtsformulierung. Das, lung, wir würden leichtfertig Personen hereinlassen, die was bereits im Gesetz vorhanden ist, reicht aus. Ich muss eine Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands dar- aber an die Länder appellieren – ich hoffe, dass Sie sich stellen, ist schlichter Unsinn. Wir haben Gegenmaßnah- dem anschließen –, dass der Vollzug zum Teil besser ge- men verabredet. regelt wird. Übrigens, Herr Koschyk, auch das müssten Sie wis- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Abschiebe- sen: Die Visaerteilung ist unsere freie Entscheidung. Die hindernis!) 5384 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Bundesminister Otto Schily (A) – Nein, das hat mit Abschiebehindernis gar nichts zu tun. Die Haupt-Mitgliedstaaten der Europäischen Men- (C) Es kommt zunächst darauf an, dass ein rechtskräftiger schenrechtskonvention sollten sich zusammenset- Ausweisungsbescheid zustande kommt. Dem folgt der zen und über die Auslegung des betreffenden Arti- Vollzug durch die Abschiebung. kels Gedanken machen. Bringen Sie bitte nicht die Begriffe Abschiebung und Professor Hailbronner fordert eine Art Güterabwägung. Ausweisung durcheinander, sonst können Sie den Sach- Der stimme ich zu. Ich zitiere jetzt weiter aus der „Rhei- verhalt den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermitteln. nischen Post“ vom 26. Oktober 2001: (Beifall bei der SPD) Nicht jeder könne den Schutz der Menschenrechts- konvention genießen, „egal, was er gemacht hat“. Sie versuchen, den Bürgerinnen und Bürgern den Ein- Hailbronners Vorschlag: „In Extremfällen, in denen druck zu vermitteln, es werde nicht alles im Interesse der jemand eine fortwährende Gefährdung darstellt, Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland getan. Das weil er zu terroristischen Handlungen bereit ist, ist die schlichte Unwahrheit. Die Bundesregierung ist sollte die Schutzpflicht, die sich aus der EMRK ab- ein Garant für eine rechtsstaatliche Ordnung und die in- leitet, ihre Grenzen haben.“ nere Sicherheit. Dabei halten wir uns an das Grundge- setz und an die internationalen Vereinbarungen. Natür- Professor Hailbronner nennt auch eine Quelle, auf die lich erfüllen wir dabei auch unsere Verantwortung, dass man sich berufen kann, nämlich dass in der Genfer der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf die Ge- Flüchtlingskonvention eine solche Einschränkung zu währleistung ihrer Sicherheit erfüllt wird. finden ist. Vielen Dank. Ich frage Sie, Herr Minister Schily: Warum haben Sie nicht diese Auffassung eines Sie beratenden Rechtsleh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rers – ich glaube, er berät Sie auch in diesen Tagen bis DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Max hin zu dem schwierigen Fall Kaplan – einmal zum An- Stadler [FDP]) lass genommen, als Verfassungsminister dieser Frage nachzugehen und darüber auch mit anderen Mitglied- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: staaten der Europäischen Menschenrechtskonvention in eine Diskussion zu treten? Herr Minister Schily, es ist Ich gebe dem Kollegen Hartmut Koschyk das Wort zu kein konservativer Regierungschef, sondern es ist der einer Kurzintervention. britische Labour-Regierungschef Tony Blair, einer der besten Freunde dieses Bundeskanzlers, der die Frage der (B) Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Grenzen von Art. 3 der Europäischen Menschenrechts- (D) Herr Minister Schily, ich möchte noch einmal versu- konvention im Zusammenhang mit der Umsetzung die- chen, deutlich zu machen, worum es mir bei der Frage ser UN-Resolution ebenfalls aufgeworfen hat. Dieser ging. Wir müssen darüber nachdenken, in Deutschland, Diskussion können Sie sich nicht einfach entziehen, in- aber auch übernational, ob es nicht Grenzen für eine ab- dem Sie dieses Thema tabuisieren. solute Sperre im Hinblick auf § 53 Ausländergesetz in (Beifall bei der CDU/CSU) Verbindung mit Art. 3 der Europäischen Menschen- rechtskonvention gibt. Otto Schily, Bundesminister des Innern: Ich habe darauf hingewiesen, Herr Minister Schily, Herr Kollege Koschyk, Sie haben ganz sachlich ange- dass eine im Bereich der deutschen Staatsrechtslehre fangen und ich will in einem sachlichen Ton antworten, doch unangreifbare Persönlichkeit wie Professor Kay nicht in dem Crescendo, das Sie am Schluss noch ange- Hailbronner – ich glaube, da sind wir uns doch einig – stimmt haben. diese Frage im Zusammenhang mit den Antiterrorpake- ten bereits aufgegriffen hat. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das sind Schicksalsfragen!) Laut einem Bericht der „Rheinischen Post“ vom 26. Oktober 2001 sagte Herr Professor Hailbronner – er – Nun hören Sie doch zu! Ich habe Ihnen auch geduldig hat es auch in seinem Rechtsgutachten zu den Sicher- zugehört. Nun lassen Sie mich antworten! heitspaketen so formuliert – zur Resolution 1373, des UN-Sicherheitsrats vom 28. September 2001: (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ein bisschen Leidenschaft darf schon dabei sein!) Die UN-Sicherheitsresolution steht in deutlichem Kontrast zu dem, was der Europäische Gerichtshof Dass ein Professor eine Auffassung vertritt, garantiert für Menschenrechte zur Bedeutung der Europäi- noch nicht ohne weiteres, dass sie richtig ist. Auch Pro- schen Menschenrechtskonvention gesagt hat. Es fessoren können sich irren. Wenn ich Herrn Professor gibt hier eindeutigen politischen Handlungsbedarf Hailbronner – Sie haben ihn zitiert – richtig verstehe, … dann sagt er: Es gibt natürlich in einem Bereich ein Spannungsverhältnis zwischen den Garantien der Men- Dann macht er einen Vorschlag, den auch ich gemacht schenrechtskonvention und bestimmten Entscheidungen, habe, Herr Minister Schily. Die „Rheinische Post“ zitiert die wir treffen. Das trifft auch auf Art. 33 der Genfer ihn wie folgt: Flüchtlingskonvention zu. Deshalb geben wir den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5385

Bundesminister Otto Schily (A) Flüchtlingsstatus unter bestimmten Voraussetzungen nen. Bestimmte Interpretationen gehen über das hinaus, (C) nicht. was bisher Rechtspraxis war. Aber, Herr Kollege Koschyk, damit ist der Abschie- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Aha!) beschutz an dieser Stelle nicht aus der Welt. Sie kommen Da bin ich sehr auf der Hut. Aber das hilft Ihnen im Fall also wieder an derselben Stelle an. Wir können Herrn Kaplan und auch in den anderen Fällen, die zur Debatte Professor Hailbronner zu einer Sitzung des Innenaus- stehen, überhaupt nicht weiter. schusses einladen. Ich möchte gerne hören, was er zu diesem Punkt sagt. Ich bin überzeugt, dass Herr Profes- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Es geht nicht sor Hailbronner nicht die Auffassung vertritt – Sie kön- nur um den Fall Kaplan!) nen auch nicht den britischen Premierminister dafür in Anspruch nehmen –, einen Menschen, der sich schwers- Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Demagogie im ter Straftaten schuldig gemacht hat, entweder der Folter Fall Kaplan aufgeben, sodass wir wieder eine sachliche auszusetzen oder in den Tod zu schicken. Basis der Zusammenarbeit finden. Sehen Sie, genau das ist der Punkt. Was wollen Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denn sonst? Im Fall Kaplan nutzt Ihnen alles andere des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi- nichts. Sie reden immer nur abstrakt über Art. 3 des derspruch bei der CDU/CSU) Grundgesetzes und die Menschenrechtskonvention. Hier Dann können wir uns verständigen. geht es aber um die Frage, ob ich jemanden abschieben kann, dem Folter oder ein rechtsstaatswidriges Verfahren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aufgrund von durch Folter erpressten Geständnissen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) droht. Genau darum geht es. Lassen Sie uns doch kon- kret werden und weichen Sie der Frage nicht aus! Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sagen Sie uns ganz klar, wenn Sie diese Regelungen Ich schließe die Aussprache. aufweichen wollen. Wenn Sie das wollen, dann werden Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Sie auf meinen erbitterten Widerstand stoßen. Drucksache 15/1239 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das nennen so beschlossen. Sie sachlich?) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: (B) – Was wollen Sie? Was glauben Sie denn, hilft hier wei- a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (D) ter? Sie wollen eine allgemeine Auslegung. All das ist gierung doch – entschuldigen Sie, Herr Koschyk – Larifari. Ich habe aufgrund meiner Tätigkeit einige Kenntnisse sam- Tierschutzbericht 2003 meln können: Sie werden da bei den Innenministern der Bericht über den Stand der Entwicklung des europäischen Länder keine Zustimmung finden. Sie sind Tierschutzes wohl schon zu lange aus der Regierungverantwortung, – Drucksache 15/723 – um das zu erkennen. Überweisungsvorschlag: Sie haben keine Chance, die Regelungen hichsichtlich Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) der Abschiebung bei der Gefahr von Folter, menschen- Rechtsausschuss rechtswidriger Behandlung oder der Todesstrafe aufzu- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit weichen. Sie sagen nicht klar, was Sie eigentlich wollen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Sie müssen einmal die Karten auf den Tisch legen. Sie Technikfolgenabschätzung tun so, als gäbe es eine Möglichkeit, diese Barriere zu b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gitta überwinden. Für mich gibt es sie nicht. Sie müssen ein- Connemann, Peter H. Carstensen (Nordstrand), mal die Alternative benennen, Herr Kollege. Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ich mache Ihnen einen Vorschlag zur Güte, weil ich tion der CDU/CSU merke, dass auch Sie einen Kompromiss suchen. Lassen Wirksamere Tierseuchenbekämpfung ermög- Sie uns das einmal in aller Ruhe im Innenausschuss mit lichen einigen Sachverständigen – wir können auch gerne eine Anhörung machen – klären. – Drucksache 15/1210 – Überweisungsvorschlag: (Beifall des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/ Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und CSU]) Landwirtschaft (f) Innenausschuss Ich bin überzeugt, dass Sie dann merken werden, wo Sie Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung an die Grenzen stoßen. An dieser Stelle kommen wir einfach nicht weiter. c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Damit Sie mich nicht missverstehen: Wir müssen die Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Vorgaben der Menschenrechtskonvention nicht überdeh- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael 5386 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Gudrun (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C) Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Peter Bleser [CDU/CSU]: Dazu werde ich et- der FDP was sagen!) EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in Die Käfighaltung gehört der Vergangenheit an, einer nationales Recht umsetzen Vergangenheit, in der die kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen einiger Tierhalter wichtiger als der Schutz der – Drucksachen 15/226, 15/1035 – Tiere waren. Wir erinnern uns alle an die besondere Aus- Berichterstattung: formung, die diese Interessen in der Vergangenheit er- Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier fahren haben, zum Beispiel die Begasung von Tieren mit Abg. Peter Bleser Nikotin, damit über den entsprechenden Effekt die Pro- Abg. Friedrich Ostendorff Abg. Hans-Michael Goldmann duktion indirekt erhöht wurde. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der ist dafür Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich bestraft worden!) höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir wissen, was für Zeiten das waren, als Verbrau- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- cherschutz und Verbraucherinteressen Fremdwörter wa- ministerin Renate Künast. ren. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Damals war Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- das auch schon nicht erlaubt!) schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Im Gegensatz zu denjenigen in der Wirtschaft, die zu- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und rück wollen, gibt es Wirtschaftsunternehmen, die auf Herren! Wie ich sehe, ist der Kollege, der gerade noch so den Tierschutz setzen und sich mit ihm beschäftigen. schön über das Gackern der Hühner sprach, leider nicht Eine bekannte Fast-Food-Kette aus den USA hat sich mehr anwesend. Offensichtlich ist er doch nicht am Tier- umgestellt. Sie verändert ihre Produktlinien, weil sie we- schutz interessiert; wen wundert es. gen Klagen über Fehlernährung in den USA unter Druck gesetzt wird. Diese Fast-Food-Kette verarbeitet in Deutschland ist Vorreiter in Sachen Tierschutz. Das Deutschland und in anderen europäischen Ländern nur können Sie an der breiten Unterstützung der Bevölke- noch Eier aus Freilandhaltung. rung bei diesem Thema sehen. Das hat sich auch an der großen Mehrheit im Bundestag gezeigt, als es darum Einer der größten deutschen Discounter, derjenige, der in Nord und Süd aufgeteilt ist – ich soll keine Namen (B) ging, den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern. Das (D) kann man am vorliegenden Bericht erkennen und das nennen –, will ab Mai 2006 ganz auf Eier aus Käfighal- lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass die Käfighal- tung verzichten. In den Niederlanden nimmt bereits die tung von Legehennen – ich spreche damit ein aktuelles Mehrheit der großen Lebensmittelketten nur noch Eier Thema an – in Deutschland nur noch übergangsweise er- aus Freiland- und Bodenhaltung ins Sortiment. Selbst in laubt ist. den Zügen der Deutschen Bahn – auch die Deutsche Bahn ist einmal vorne – werden nur Freilandeier ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wendet. Sie sehen, wohin sich Wirtschaft entwickeln Albert Deß [CDU/CSU]: Die Zahl der Ver- kann. suchstiere hat zugenommen, Frau Ministerin!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sehen Sie, Herr Deß, da sind Sie Fachmann. Es freut sowie bei den Abgeordneten der SPD) mich, dass Sie sich nicht nur mit der Landwirtschaft be- schäftigen. Die Zahl der Versuchstiere hat zwar zuge- Anstatt der Abwanderung von Hühnerbaronen ins Aus- nommen. Wir entwickeln aber ein Programm, um die land nachzutrauern, die übrigens schon abgewandert Zahl zu reduzieren. Sie wissen auch, warum die Zahl in sind, bevor die Legehennenverordnung im Bundesrat einigen Bereichen zugenommen hat. Wenn man be- verabschiedet wurde, sollte man lieber dafür Sorge tra- stimmte Produkte auf ihre Gefährlichkeit für den Men- gen, dass die Gastronomie ihre Freilandeier nicht aus schen testet, gibt es mehr Tierversuche. Das ist im Er- dem Ausland beziehen muss. Ich war vor kurzem bei der gebnis nicht okay, obwohl der Ansatz, zu schauen, ob es Fast-Food-Kette, von der ich eben gesprochen habe. Nebenwirkungen gibt, nicht falsch ist. Dort wurde mir gesagt: Wir würden liebend gern Frei- landeier in großen Mengen in Deutschland einkaufen, (Zuruf von der CDU/CSU: Was ist mit den Er- aber niemand bietet sie an. satzmethoden?) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Ich will, dass Deutschland seine Vorreiterrolle beim GRÜNEN]: Die gibt es hier nicht!) Tierschutz behält. Deshalb habe ich wenig Verständnis Warum? – Weil sich einige lieber mit Klagen vor dem für die Haltung und das Ansinnen einiger Bundesländer, Bundesverfassungsgericht und politisch-ideologischen das Verbot der Käfighaltung wieder rückgängig zu ma- Debatten beschäftigen, statt dieser Nachfrage nachzu- chen und stattdessen so genannte ausgestaltete Käfige in kommen. die Diskussion zu bringen. Ich sage eines ganz klar: Auch der ausgestaltete Käfig ist immer noch ein Käfig, (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie leben in einer mit dem wir die Probleme für die Tiere nicht lösen. Traumwelt!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5387

Bundesministerin Renate Künast (A) Wir versuchen ja auch, Fast-Food-Ketten dazu zu bewe- che Nebenwirkungen auftreten, wollen wir die betreffen- (C) gen, Rindfleisch aus Deutschland zu kaufen. Das ist den Substanzen nicht mehr zulassen. Das Problem ist ein normales Ansinnen. Ich würde das bei den Eiern aber Folgendes: Sobald Sie testen, stehen Sie wieder vor auch gern erleben. Da diese Fast-Food-Kette nicht mehr Tierversuchen. Das ist eine höchst unbefriedigende Si- auf Käfigeier setzt, wird sich dieser Wirtschaftszweig tuation, aber einmal eine, hinsichtlich deren wir überein- bewegen müssen oder die Eier kommen weiter aus Un- stimmend der Meinung sind, dass dort reduziert werden garn. muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein dritter Punkt ist die Veränderung der Tierschutz- Nutztierhaltungsverordnung bei Schweinen. An dieser Mittlerweile führt die Trotzköpfigkeit der Opposition Stelle ist die Umsetzung der Richtlinie der EU überfäl- schon dazu, dass selbst der BDI-Präsident Rogowski lig. In diesem Zusammenhang werden wir sicherlich auffordert, keine Blockadehaltung einzunehmen. Das hat noch einige Debatten über die Frage führen, wie viel man früher auch nicht erlebt. Platz ein 100-Kilo-Schwein braucht. Meine Vorstellung Ich darf Sie daran erinnern, dass sich im letzten Jahr ist – ich habe mir die Zahlen angesehen und das einmal alle Fraktionen und über zwei Drittel der Abgeordneten umgerechnet –, dass ein Platz von 1 bis 1,1 Quadratme- dieses Hohen Hauses für die Verankerung des Tierschut- ter pro 100-Kilo-Schwein angemessen ist. Ich weiß, dass zes im Grundgesetz ausgesprochen haben. Dann darf einige anders darüber denken. Überlegen Sie, welchen man aber auch nicht kneifen, wenn es an die Umsetzung Umfang ein 100-Kilo-Schwein hat. geht. (Hans-Michael Goldmann [CDU/CSU]: Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) war ein Nilpferd!) Die Verfassung funktioniert nicht, indem man etwas Ver- Aber denken Sie mal an einen Quadratmeter! Das fassungstheoretisches in das Grundgesetz schreibt, sich Schwein muss ja längs wie quer stehen können und es aber über die Verwirklichung in der Praxis keine Gedan- steht auch nicht hochkant, wie wir wissen. Dann würde ken macht. Wir dürfen an dieser Stelle nicht hinter das man mit dieser Fläche vielleicht auskommen. Erreichte zurückfallen. Wir müssen im Gegenteil den Also, ich glaube, da werden wir noch einiges zu dis- Blick nach vorne richten und den Tierschutz weiter ver- kutieren haben. Ich meine, dass die von manchen gefor- bessern. derte Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie an die- Ich will Ihnen einige Beispiele dafür nennen, was uns ser Stelle gar nicht mehr sinnvoll ist, weil selbst die beschäftigt. Einmal ist das der Dauerbrenner Tiertrans- Beratung der Landwirtschaftskammern nicht mehr auf porte. Wir haben viel Druck gemacht und jetzt liegt end- der Ebene der alten EU-Richtlinie erfolgt, da alle Land- (B) (D) lich eine Vorlage der Europäischen Kommission vor, wirte, die heute in einen Stall investieren, genau wissen, über deren Details wir noch diskutieren müssen. Dort dass wahrscheinlich in anderthalb Jahren ein neuer Ent- fängt man an, erste Grenzen – das reicht aber noch nicht wurf für eine Richtlinie aus der EU kommt. Meines Er- aus – bei den Zeiten des Transports zu setzen und sich achtens macht es Sinn, dass sich die Landwirte nicht auf mit der Frage zu beschäftigen, wie viel Platz, wie viel veraltete Richtlinien einstellen, sondern dass sie ein Luft, welche Art der Ernährung und welche Fütterung Stück über dem EU-Niveau liegen. ein Tier während des Transports braucht. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das können (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie ja machen! Machen Sie das doch!) NEN]: Das wurde auch höchste Zeit!) – Genau das habe ich vorgeschlagen und darüber disku- – Ja, ich weiß, meine Damen und Herren, dass sich die tiere ich gerne mit Ihnen. deutschen Landwirte an dieser Stelle freuen. Selbst im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zusammenhang mit dem QS-Zeichen wurde gesagt, man wolle mit daran arbeiten, dass die Transportzeiten in Wir alle reden gern über Wettbewerbsfähigkeit. Grenzen gehalten werden. Auch dies wird positiv bewer- Aber Wettbewerbsfähigkeit soll nicht Stillstand heißen, tet. sondern Wettbewerbsfähigkeit muss sich meines Erach- tens darauf einstellen, dass wir zur Kenntnis nehmen, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr ver- dass sich in der Welt etwas verändert. Es gibt andere nünftig!) Länder, von Argentinien bis Dänemark, die ihre Fleisch- Wir haben einen zweiten Punkt eben schon angespro- produkte auf dem internationalen Markt anbieten und die chen, nämlich die Tierversuche. Wir beginnen an dieser uns sagen, dass wir gut beraten sind, nicht immer die Stelle nicht nur mit der Auswertung von Statistiken, son- Letzten in der Frage der Tierhaltung zu sein. Stattdessen dern wir wollen auch tatsächlich ein Programm zur Min- müssen wir zeigen, dass wir in der Lage sind, dem russi- derung der Versuchstierzahlen auflegen. Wir versuchen schen und dem japanischen Markt zum Beispiel ebenfalls herauszufinden, wo es in der Wissenschaft an- Schweine auf allerhöchstem Qualitätsniveau anzubieten. dere Möglichkeiten der Forschung gibt. Das ist ein sehr Dazu, meine Damen und Herren, gehört eben auch die schwieriges Geschäft. Platzfrage. Ich muss Ihnen sagen, Herr Deß, dass da zwei Dinge Wir bemühen uns darum, weil wir wissen, dass das im aufeinander prallen. Auf der einen Seite sagen wir, dass Tierhaltungsbereich und im Veredelungsbereich einer wir im Chemiebereich die Tests brauchen. Wenn schädli- der Standortfaktoren ist, um tatsächlich im Rahmen von 5388 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Bundesministerin Renate Künast (A) Modulation und Agrarinvestitionsförderung die Land- dem Tierschutz gedient zu haben. Tatsächlich ist das Ge- (C) wirte zu unterstützen. Ich glaube, genau so kann etwas genteil der Fall. Ich zitiere: daraus werden. Weiterentwicklung kann man nicht ver- Die Frühstückseier kommen seit In-Kraft-Treten hindern, sondern man sollte sich gleich dafür entschei- der Legehennenverordnung keineswegs von glück- den, sie zu nutzen. Das wird gut sein für die Landwirte licheren Hühnern. und für die Tiere. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Die tritt ja auch erst 2007 in Kraft! So sowie bei Abgeordneten der SPD) ein Quatsch!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Diese Äußerung könnte von mir stammen. Das ist aber nicht der Fall. Sie stammt vielmehr vom Tierschutz- Nächster Redner ist der Kollege Peter Bleser, CDU/ beauftragten der SPD-Fraktion, Herrn Dr. Priesmeier. CSU-Fraktion. Seine Kompetenz als Tierarzt und seine Kenntnis der (Beifall bei der CDU/CSU) Praxis machen diese Aussage zu einer Ohrfeige für Sie, Frau Künast. Peter Bleser (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war Wenn ein Mann wie Dr. Priesmeier, der das Geschäft der Bericht der für den Tierschutz zuständigen Ministe- versteht und die Praxis kennt, feststellt, dass die Sterbe- rin. Wer aufmerksam zugehört hat, hat im Grunde ge- rate in der Bodenhaltung mehr als 20 Prozent beträgt, nommen herausgehört, dass dies eine einzige Entschul- dass sich Kannibalismus ausbreitet, den man durch das digung für mangelnde Leistungen auf diesem Gebiet Abschneiden der Schnäbel zu minimieren versucht, und war. dass längst ausgerottete Krankheiten wieder auftreten, Ich will Folgendes in Erinnerung rufen: Wir haben für deren Bekämpfung ein zunehmender Medikamenten- schon 1986 unter der alten Kohl-Regierung ein Tier- einsatz nötig ist, dann sollten Sie das ernst nehmen. schutzgesetz verabschiedet, in das wir die Formulierung Wir haben Ihnen das übrigens vor der Verabschie- „Tiere sind Mitgeschöpfe des Menschen“ aufgenommen dung der Hennenhaltungsverordnung ebenfalls mitge- haben. Wir haben damals auch das Zivilrecht geändert, teilt. Sie haben aber diese Hinweise aus der Praxis den Tieren den Status Lebewesen zugestanden und das schlichtweg beiseite gewischt; denn Sie sind beratungs- Sachenrecht aus diesem Bereich entfernt. resistent. Dem Tierschutz haben Sie damit einen Bären- dienst erwiesen. (B) Meine Damen und Herren, seitdem gibt es auch den (D) Tierschutzbericht, wie er heute vorliegt. Ich muss Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sagen, Frau Künast, das, was Sie hier als Erfolge vorwei- Hans-Michael Goldmann [FDP]) sen zu können glauben, ist in Wahrheit ein Rückschritt. Sie haben es zu verantworten, dass in den letzten vier Ich fordere Sie auf: Lassen Sie die Kleingruppenhal- Jahren die Zahl der Tierversuche dramatisch angestie- tung in ausgestalteten Käfigen mit Nistplätzen und gen ist. Scharrmöglichkeiten für die Hühner zu! Das ist aner- kanntermaßen die humanere Form der Hühnerhaltung, Ich will Ihnen die Zahl nennen. Wir haben in den die Sie leider ab dem Jahr 2011 verbieten. Das führt 90er-Jahren einen Rückgang der Zahl der Versuchstiere dazu, dass die Hühnerhaltung ins Ausland abwandert. um 10 Prozent erreicht. 1997 waren es noch 1,5 Millio- Schon jetzt ist erkennbar, dass deutsche Erzeuger in ost- nen Tiere im Jahr. Zurzeit verlieren jährlich 2,1 Millio- europäischen Ländern investieren, um später die dort er- nen Tiere ihr Leben für Versuche. zeugten Produkte nach Deutschland zu exportieren. (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist eine enorme Lösungen lassen sich angesichts offener Grenzen nur Zahl!) auf europäischer Ebene und im Kontext mit den anderen Die Zahl der getöteten Versuchstiere ist zwischen EU-Mitgliedstaaten finden. Anderenfalls treiben Sie die 2000 und 2001 um 67 Prozent – von 314 000 auf Produktion aus dem Land. Deshalb bitte ich Sie: Geben 524 000 – angestiegen. Das ist eine enorme Steigerungs- Sie Ihren Starrsinn bei der Hennenhaltungsverordnung rate. Auch hierbei klaffen Anspruch und Wirklichkeit auf und ändern Sie diese zugunsten der Tiere, der Ver- meilenweit auseinander. braucher, aber auch zugunsten der Betriebe und Arbeits- plätze in diesem Bereich! Sie haben zu verantworten, dass die Zahl der Tierver- suche in Ihrer Regierungszeit dramatisch angestiegen ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Sich angesichts dieser Zahlen in den Medien mit Trauer- Frau Künast, ich will Ihnen an dieser Stelle eine War- miene als oberste Tierschützerin Deutschlands zu prä- nung mit auf den Weg geben. Sie haben angekündigt, sentieren ist der Gipfel der Scheinheiligkeit. Das muss dass Sie die Schweinehaltungsverordnung ebenfalls einmal deutlich gesagt werden. ändern und in gleicher Weise wie bei der Hennenhaltung (Beifall bei der CDU/CSU) vorgehen wollen. Sie wollen in Deutschland besondere Erschwernisse einführen, die mit dem Tierschutzbedürf- Frau Ministerin, Sie haben sich damit gebrüstet, eine nis nichts zu tun haben. Auch damit vertreiben Sie die Hennenhaltungsverordnung verabschiedet und damit Produktion in andere Länder, aus denen dann die Pro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5389

Peter Bleser (A) dukte nach Deutschland exportiert werden. Damit be- rauf verlassen, dass wir hinter ihnen stehen werden und (C) nachteiligen Sie die Erzeuger hierzulande und dienen dass wir alles tun werden, damit sie innerhalb ihrer Frak- dem Tierschutz in keiner Weise. Denn wenn die Tiere in tion keinen Schaden erleiden werden. anderen Ländern gehalten werden, haben sie dort mit den gleichen Leiden – nach Ihrem Verständnis – zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kämpfen, die Sie mit Ihrer Verordnung in Deutschland Ich muss nach der Aufnahme des Tierschutzes in das verhindern wollen. Grundgesetz noch ein anderes Thema ansprechen. Sie Wir fordern die Eins-zu-eins-Umsetzung der EU- wissen, dass es nach einem Urteil des Bundesverfas- Richtlinie in eine nationale Schweinehaltungsverord- sungsgerichts erlaubt ist, Tiere zu schächten. Sie haben nung, damit europaweit die gleichen Bedingungen gel- dies in einem Schreiben an die Bundestagsfraktionen un- ten. Ich denke, das ist von entscheidender Bedeutung. ter anderem damit gerechtfertigt, dass die Zulassung des Schächtens die Integration muslimischer Mitbürger för- (Beifall bei der CDU/CSU) dere. Mit dieser Aussage zum Abtrennen des Kopfes ei- nes unbetäubten, lebenden Tieres rechtfertigen Sie eine Ich möchte dieser Warnung die Bitte um eine Novel- der übelsten Tierquälereien überhaupt. Dort, wo es da- lierung des Tierarzneimittelgesetzes hinzufügen. Ich rauf ankommt – die Frau Ministerin ist leider schon ge- bitte Sie zu veranlassen, dass Leiden von Haustieren zu- gangen –, entziehen Sie sich der Verantwortung und ist künftig minimiert werden. Wie Sie wissen, bestehen Ihre Vorreiterrolle beim Tierschutz, auf die Sie sonst im- durch das Verbot des Umwidmens von Medikamenten mer hinweisen, plötzlich abhanden gekommen. Ich for- oder der Anwendung von Rohstoffen für Teilgruppen dere Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass nach der Aufnahme unter den Tieren keine Behandlungsmöglichkeiten mehr. des Staatszieles Tierschutz in das Grundgesetz eine ent- So ist zum Beispiel derzeit die Verabreichung eines sprechende Vereinbarung mit den muslimischen Mitbür- Kontrastmittels zur Diagnostik eines Magen-Darm-Lei- gern getroffen wird, damit die Interessen des Tierschut- dens bei einem Hund nicht mehr möglich. Aber eine zes endlich auch in diesem Bereich eingehalten werden Krankheit, die man nicht erkennt, kann man nicht behan- können. deln. Ich möchte noch ein anderes Beispiel nennen. Für die Behandlung einer von Leberegeln befallenen Ziege (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gibt es keine zugelassenen Medikamente. Die Medika- neten der FDP) mente, die für die Behandlung dieser Krankheit bei ande- Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt vortragen, ren Tierarten zugelassen sind, dürfen nicht angewendet den Sie schon angesprochen haben. Es steht eine Ände- werden. Ich bitte Sie herzlich, das Tierarzneimittelge- rung der Chemikalienrichtlinie auf europäischer Ebene (B) setz so zu ändern, dass das Leiden der Tiere beendet wer- an. Es ist vorgesehen, dass Altstoffe, die schon vor 1981 (D) den kann und die Todesspritze nicht länger der letzte im Verkehr waren – ihre Anzahl dürfte bei rund 100 000 Ausweg für viele Tierärzte sein muss. liegen –, neu überprüft werden sollen. Man geht davon (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aus, dass deswegen Tierversuche in einer Größenord- nung von 100 000 bis 25 Millionen – je nach Schätzung – Sie haben in Ihrem Tierarzneimittelgesetz – das geht notwendig sind. Ich glaube, es ist des Schweißes der Ed- in die gleiche Richtung – verboten, Arzneimittel länger len wert, dafür zu sorgen, dass hier alle Möglichkeiten als sieben Tage zu lagern. Auch hier gilt: In den Fällen, ausgeschöpft werden, um die Bewertung dieser Altstoffe in denen ein Tier erkrankt ist, in denen es Schmerzen hat mit anderen Methoden sicherzustellen. Ich erinnere nur und leidet, kann häufig nicht eingegriffen werden, weil an die Erkenntnisse und die Praxiserfahrungen, die man die entsprechenden Medikamente nicht vorrätig sind und im Rahmen des Arbeitsrechts gewonnen hat und die man deshalb nicht unter Anleitung oder Vorgabe eines Tier- hier ohne Weiteres anwenden könnte. arztes eingesetzt werden können. Auch diese gesetzliche Regelung ist praxisfremd und führt zu unnötigen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schmerzen. Sie sollten sich mit den Kollegen aller Frak- tionen verständigen, die hier initiativ geworden sind, um Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. eine Änderung herbeizuführen. Das sind in unserer Frak- tion Frau Klöckner und in der FDP-Fraktion Herr Peter Bleser (CDU/CSU): Goldmann gewesen. Die Namen der Abgeordneten aus den Koalitionsfraktionen möchte ich nicht nennen, weil Ich möchte zusammenfassen: Die nüchterne Bilanz ich ihnen nicht schaden möchte. Ich weiß von den be- dieser Bundesregierung – treffenden Kollegen, die ich persönlich sehr schätze, nämlich, dass die Bundesregierung massiven Druck auf Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sie ausgeübt hat, um diese Initiative zu stoppen. Nein, Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Peter Bleser (CDU/CSU): Ich hoffe, dass sie es dennoch schaffen werden, in den – habe ich bereits vorgetragen. Ich hoffe sehr, dass in Beratungen, die sicherlich Ende des Jahres anstehen Zukunft die ideologischen Verblendungen abnehmen werden, die notwendigen Änderungen durchzusetzen. werden, damit wir den Tieren mit Sacharbeit nutzen kön- Sie haben uns dabei an ihrer Seite. Sie können sich da- nen. 5390 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Peter Bleser (A) Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) DIE GRÜNEN – Albert Deß [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Und was hat‘s gebracht? Es wird weiter ge- schächtet!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir Sozialdemokraten haben hier zusammen mit den Nächster Redner ist der Kollege Wilhelm Priesmeier, Grünen und der FDP deutlich gemacht, welch hohen SPD-Fraktion. Stellenwert der Tierschutz hat. Das ist in der Bevölke- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rung unbestritten. Die Novelle des Grundgesetzes war eine der wichtigsten Entscheidungen der letzten zwei Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Jahre. Das findet sich auch im Tierschutzbericht wieder. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr Rückwärts gewandte Politik schafft selten vernünftige verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Peter Bleser, Grundlagen für die Zukunft. Wenn wir heute wiederum ich habe – so kennen mich die Menschen – ein gerades einen von der FDP vorgelegten Antrag diskutieren, dann Kreuz und breite Schultern. Aus diesem Grunde stehe zeigt das auch, inwieweit die Politik der FDP gerade im ich hier und mache Politik. Man kann ruhig deutlich sa- Bezug auf Tierschutz rückwärts gewandt ist. gen: Ich vertrage auch etwas. Herr Goldmann, bewegen Sie sich doch einmal ein Du hast eben bis zu einem gewissen Grade auf den bisschen! Sie haben in einer Ihrer letzten Reden zur glei- Falschen eingeschlagen; denn die augenblicklich gel- chen Problematik – ich glaube, es war im Januar – ge- tende elfte Novelle des Arzneimittelgesetzes ist im We- sagt, dass Schweine Tiere sind, die sich, außer zur Nah- sentlichen von den Ländern, also auch von CDU-geführ- rungssuche, nicht gerne bewegen. Machen Sie nicht den ten Landesregierungen, zu verantworten. Die in dieser gleichen Fehler: Bewegen Sie sich einmal – aber natür- Novelle vorgenommenen Änderungen wurden letztend- lich im übertragenen Sinne! lich nicht nur von der Berliner Politik, sondern, im Ge- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich würde genteil – ich denke in diesem Zusammenhang an die mich an Herrn Bartels orientieren, deinem ehe- Restriktionen –, vor allem von Bayern und anderen uni- maligen Landwirtschaftsminister!) onsgeführten Ländern initiiert. Wir Sozialdemokraten und wir, die Mitglieder dieser (Zuruf des Abg. Albert Deß [CDU/CSU]) Koalition, nehmen in Deutschland und in Europa eine Wir sind mit unserer Absicht, gerade diesen Bereich Vorreiterrolle ein. in Angriff zu nehmen, natürlich auf dem richtigen Weg, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) Herr Kollege. Ich bin noch hoffnungsfroh. Ich glaube, (D) dass, wenn man sich ernsthaft bemüht und eine sachori- Das müssen Sie klar erkennen; daran führt kein Weg entierte Politik ohne Polemik betreibt, eine vernünftige vorbei. Das wird auch im Tierschutzbericht deutlich. Wir Regelung im Interesse der Betroffenen und auch im Inte- haben Zielvorstellungen in Bezug auf die Schweinehal- resse des Tierschutzes gefunden werden kann, damit be- tungsverordnung auf den Tisch gelegt – die Haltung stimmte Missstände in diesem Bereich ausgeräumt wer- der Sozialdemokraten war ein bisschen abweichend –, den können. die sich – so schätze zumindest ich es ein – als kompro- missfähig erweisen dürften. Angesichts der Sprachrege- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lungsänderung, auch auf der Ebene der Länder, bin ich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in diesem Zusammenhang durchaus hoffnungsfroh. Ich Dass das klar erkannt worden ist, macht auch die Stel- glaube, dass damit Ihr Antrag, sofern er bis zum Vorlie- lungnahme des BMVEL deutlich. Ich erkenne das Be- gen einer Neuregelung beschlossen worden ist, letztend- mühen, in diesem Zusammenhang einen vernünftigen lich überflüssig wird. Kompromiss zu finden. In diesem Sinne sollten wir das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gemeinsame Projekt, die 13. Novelle auf den Weg zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bringen, zielgerichtet zu Ende führen. Wir beziehen zur Problematik der Tiertransporte – Frau (Beifall bei der SPD – Peter Bleser [CDU/ Ministerin hat sie hier angesprochen – klar und deutlich CSU]: Wir sind bei Ihnen! – Albert Deß Position. Dieser Bereich war viele Jahre umstritten. Dort [CDU/CSU]: Auch der Freistaat Bayern unter- hat es Missstände gegeben, die es bei uns heutzutage in stützt das!) dieser Form vielleicht nicht mehr gibt; in anderen Län- In Bezug auf den Tierschutz haben Sie hier eines un- dern gibt es sie aber durchaus noch. Dazu haben wir auf erwähnt gelassen: Sie sind viele Jahre – das Tierschutz- der europäischen Ebene Initiativen ergriffen. Es ist maß- gesetz in allen Ehren – in die falsche Richtung mar- gebliche Folge der deutschen Politik und des deutschen schiert. Ich darf hier an die Entscheidung aus dem Jahre Engagements, dass die Standards und die Richtlinien auf 2000 erinnern: Sie, Kollege Bleser, und auch einige an- der EU-Ebene entsprechend verändert werden und man dere haben gegen eine Vorlage gestimmt, weil Sie ganz heute darüber diskutiert, den Transportzeitraum so zu einfach nicht hinnehmen und erkennen wollten, wie begrenzen, dass Tierschutzaspekte gewahrt bleiben, aber wichtig der Tierschutz in dieser Gesellschaft ist und dass auch wirtschaftliche Aspekte nicht zu kurz kommen; da die Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel im muss man – Sie wissen das – immer einen gewissen Grundgesetz durchaus hilfreich ist. Ausgleich finden. Wir sind da auf dem richtigen Weg. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5391

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Bleser [CDU/CSU]: Die Grünen haben zum ersten Mal applaudiert!) Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Das sage ich, auch wenn es natürlich wenig Sinn macht, Ich möchte hier eines dementieren. Ich bin weiß Gott sich ständig in die Brust zu werfen oder auf die Schulter nicht derjenige, der hier Steilvorlagen an die Opposition zu klopfen. liefert. Ich bin auch nicht derjenige, der sich als Kron- Es gibt einen Bereich, der hier schon angesprochen zeuge missbrauchen lässt. Das wird von Ihnen hier viel- worden ist, den ich als Tierschutzbeauftragter sehr kri- leicht falsch eingeschätzt. tisch sehe. Natürlich will niemand zur Käfighaltung im herkömmlichen Sinne zurück, aber man muss letztlich Wir können hier gerade im Interesse des Verbraucher- erkennen, dass auch alternative Haltungsformen nicht schutzes, des Tierschutzes und auch der Betroffenen We- ganz unproblematisch sind. Fakt ist – das konzediere ich sentliches voranbringen. Das hat die rot-grüne Bundes- Ihnen –, dass es in Boden- und Freilandhaltungsformen regierung geleistet und das wird sie auch in Zukunft Mortalitätsraten von 20 Prozent – teilweise auch mehr – leisten. gibt. Vielen Dank. (Peter Bleser [CDU/CSU]: „Todesraten“, da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit das auch zu verstehen ist!) DIE GRÜNEN) Auch unter bislang relativ idealisierten Bedingungen, wie man sie sich zum Beispiel auf einem Lehr- und Ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: suchsgut der Tierärztlichen Hochschule Hannover an- Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael schauen kann, gibt es nicht akzeptable Mortalitätsraten. Goldmann, FDP-Fraktion. Deshalb müssen wir uns kritisch fragen, ob das, was (Beifall bei der FDP) wir im Sinne des Tierschutzes entschieden haben, in gu- ter Absicht, Hans-Michael Goldmann (FDP): (Peter Bleser [CDU/CSU]: „Gute Absicht“!) Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen unter Umständen in gewisser Weise modifiziert werden und Kollegen! Es ist immer schön, wenn man hier im (B) muss, damit auch insofern dem Tierschutz Genüge getan Bundestag zu einem Thema sprechen kann, von dem (D) wird. Dazu bedarf es entsprechender Aufwendungen, man richtig Ahnung hat – ich bin schließlich Tierarzt – dazu bedarf es entsprechender Forschung. Weder Sie und bei dem man sich in vollem Einklang mit der Partei noch andere werden mir heute wissenschaftlich fun- befindet. dierte Kriterien sagen können, an denen man das Wohl- befinden von Tieren exakt messen kann. Das kann im Ich will vorweg sagen: Dass der Tierschutz heute im Augenblick niemand; da bedarf es der Forschung. Sol- Grundgesetz verankert ist, ist nicht nur Ihr Verdienst, che Ansätze – das geht aus dem Tierschutzbericht her- liebe Freunde von der CDU/CSU, sondern vor allem das vor – werden von der rot-grünen Bundesregierung um- Verdienst der FDP, die das nämlich immer wieder voran- fangreich befördert. getrieben hat. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Aber Sie sollten (Beifall bei der FDP) nach links gucken!) Wir hatten nicht gleich die Mehrheit dafür – das trifft – Es ist mir unbenommen, dahin zu gucken, wohin es zu –, aber die Formulierung, die heute im Grundgesetz mir im Augenblick Spaß macht. verankert ist, stammt aus unserer Feder. Das sollte hier einmal erwähnt werden. Wir sind wirklich aktive Tier- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Eben! Wenn schützer. du nämlich dahin guckst, kommen dir die Trä- nen!) Ich will noch etwas zu den Versuchstieren sagen. Ich bin dafür, dass man sich in einer solchen Diskussion um Sie sind ein so sympathische Mann und Kollege, Herr Sachlichkeit bemüht. Dass die Zahl der Tierversuche ge- Bleser, gestatten Sie mir doch, dass ich gelegentlich stiegen ist, finde ich – das sage ich ganz ehrlich – gut. auch einmal Sie anschaue. Dieser Anstieg rührt nämlich daher, dass die transgenen Es gibt also noch einiges zu tun. Wir müssen unsere Tiere, mit denen in zunehmendem Maße gearbeitet wird, Ansätze im Sinne des Tierschutzes weiterentwickeln, da- mittlerweile statistisch erfasst werden. Auf diese Weise mit die Voraussetzungen für qualitätsorientierte, aner- sind gewaltige Fortschritte bei der Erforschung von Ge- kannte, geprüfte Systeme der Boden- und Freilandhal- genmitteln für BSE, für Krebskrankheiten, Alzheimer tung geschaffen werden, die den Tierschutzstandards, und multiple Sklerose erzielt worden. Man muss sich die man im Augenblick realisieren kann, gerecht wer- jetzt schon fragen, wie man die Chancen, die sich für den. Menschen bieten, im Vergleich zu den Schmerzen, die Tieren bei Tierversuchen zugefügt werden, gewichtet. (Beifall bei der SPD) Aber wir alle gemeinsam bemühen uns ja darum, diese 5392 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Hans-Michael Goldmann (A) Schmerzen besonders gering zu halten. Ich glaube, auch eine europäische bzw. eine globale. Hier gibt es bezüg- (C) in dieser Frage sind wir uns einig. lich der Frage der Nutztierhaltung nur eine Lösung; diese besteht darin, dass die europäischen Vorgaben eins In einem weiteren Punkt sind wir uns einig, nämlich zu eins umgesetzt werden. Dabei entsteht überhaupt kein in der Frage der Tiertransporte. Natürlich bin ich dafür, Schaden. dass Tiertransporte nach Möglichkeit vermieden werden bzw. bei notwendigen Transporten für den größtmögli- Es verhält sich ja nicht so, wie Frau Künast es vorhin chen Standard gesorgt wird. Wir sollten hier gemeinsam bezüglich der Schweine dargestellt hat. Es gibt sehr zur Kenntnis nehmen, dass sich in Deutschland im Ver- wohl Empfehlungen von den Kammern; ich werde mei- gleich zu den anderen europäischen Ländern viel bewegt nem Kollegen eine von der Landwirtschaftskammer We- hat. Vergleichen Sie einmal die heutigen Tiertransport- ser-Ems in Oldenburg, in deren Gebiet relativ viele fahrzeuge mit denen von vor einigen Jahren oder Jahr- Schweine und Geflügel gehalten werden, zukommen zehnten. Wir sind hier auf dem richtigen Weg. Nun lassen. müssen wir dafür sorgen, dass die positiven Errungen- schaften, die bei uns auf den Weg gebracht wurden, auch (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE in anderen Ländern Einzug halten. Es hilft uns ja über- GRÜNEN]: Die sind ja immer die Letzten, die haupt nicht, wenn aufgrund unserer Vorschriften Tiere es begreifen! In Westfalen ist es anders!) auf Umwegen über solche Länder transportiert werden, – Die Stellungnahme der Kammer aus Westfalen-Lippe die diese Standards nicht verlangen. kann ich Ihnen auch zuschicken, Herr Ostendorff. Sie ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mit der der Landwirtschaftskammer Weser-Ems in Be- der CDU/CSU) zug auf Licht- und Raumangebot sowie Einstreu absolut identisch. Das ist hochinteressant. Nächster Punkt: Ausgestaltung der Käfige. Wilhelm Priesmeier, wir können uns gerne einmal über die Ich habe zwar nicht mehr viel Redezeit, aber eines Meldungen von dir unterhalten, die im offiziellen Organ möchte ich doch sagen: Ich hatte einmal ein Schwein in des Zentralverbandes der Deutschen Geflügelwirtschaft einem Stall ohne Spaltenboden gehalten. Ich war er- – das kennst du ja auch – erschienen sind. Da hast du staunt, dass ich jeden Abend diesen Stall sauber machen klipp und klar gesagt, dass Freilandhaltung eine Kata- musste, weil es dort bestialisch roch und sich das strophe für Tiere sein kann. Ich verstehe nicht, warum du Schwein in der Einstreu nicht mehr wohl fühlte. Hätte davon abrückst. ich einen Spaltenboden gehabt, hätte ich nicht jeden Tag sauber machen müssen und das Schwein hätte wesent- (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Kann, nicht lich bessere Rahmenbedingungen vorgefunden. muss!) (B) (D) (Albert Deß [CDU/CSU]: Das versteht die Recht hast du gehabt, als du mit dieser Auffassung in die Frau Künast ja sowieso nicht!) Presse gegangen bist und dich als Tierschutzbeauftragter profiliert hast. Du hast tosenden Beifall geklatscht, als Über solche Fragen sollten wir uns hier einmal fachlich der frühere niedersächsische Landwirtschaftsminister, auseinander setzen; so könnten wir auch zu vernünftigen Herr Bartels, hier gesagt hat, dass das, was bei der Lege- Lösungen kommen. hennenhaltungsverordnung passiert ist, auf keinen Fall bei der Schweinehaltungshygieneverordnung noch ein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mal passieren darf. Du hast damals, kurz vor der nieder- der CDU/CSU) sächsischen Landtagswahl, hier darüber gejubelt. Das Eine Anmerkung zum Tierarzneimittelgesetz, da- hat zwar nichts geholfen, aber ein bisschen mehr Ehr- nach bin ich auch fertig, Frau Präsidentin. Liebe Kolle- lichkeit und Geradlinigkeit in einer solchen Frage gen Priesmeier und Ostendorff, wir wollen hier doch in wünschte ich mir von dir schon. einem Boot bleiben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Aber Tatsache ist: Wir vier wollten zusammen einen der CDU/CSU) Brief schreiben und darum bitten, dass sich die Erkennt- Nun nehme ich noch einmal das auf, was Frau nisse aus der Anhörung in dem neuen Gesetz nieder- Künast, die ja nun zu einer Konferenz musste, vorhin schlagen. Dieser Brief ist nicht zustande gekommen, sagte. Eine Meldung von Aldi besagt – das ist richtig –, weil Sie von Herrn Berninger und Co. zurückgepfiffen dass man auf Freilandeier setze. Nebenbei gesagt: Zur worden sind. Umsetzung brauchen sie allerdings 32 Monate; diese (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE lange Dauer hat etwas mit den veränderten Rahmenbe- GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch!) dingungen in Deutschland zu tun. Zugleich gibt es aber noch eine weitere Meldung von Aldi, denn gleichzeitig hat man dort erklärt, man wolle jede Menge polnisches Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schweinefleisch verkaufen, was über einen amerikani- Herr Kollege, Ihre Redezeit ist massiv überschritten. schen Betrieb, der Hunderttausende von Schweinen hält, auf den europäischen Markt gebracht werden soll. Was soll also dieses nationale Betrachten von Problemen? Hans-Michael Goldmann (FDP): Nach Cancun wissen wir doch alle, dass eine nationale Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, und komme zum Agrarpolitik nicht mehr möglich ist, sondern höchstens Schluss. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5393

Hans-Michael Goldmann (A) Wir werden uns weiter um eine gemeinsame Lösung vorhabens auch mit dem neuen Status des Tierschutzes (C) bemühen; aber von sieben auf 31 Tage zu gehen unter begründet. Das ist ein toller Erfolg für den Tierschutz. Ausnahme der Antibiotika ist schlicht und ergreifend fachlicher Blödsinn, den wir nicht mitmachen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Bleser [CDU/CSU]: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Was ist mit den Tschechen?) Zweitens. Zur Verminderung der Anzahl von Tierver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: suchen wurden Alternativverfahren endlich gefördert Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Hiller- und anerkannt. Sie haben das nicht geschafft, Herr Ohm, SPD-Fraktion. Bleser. Zur Vermeidung von Mehrfachversuchen wurden Referenzdatenbanken aufgebaut. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen Weil es andere Anforderungen gibt!) Sie sich vor, alle laufen los und haben ein gemeinsames Das sind positive Ansätze, die wir ausdrücklich unter- Ziel direkt vor Augen, verfehlen es aber doch. So etwas stützen. Das reicht aber alles noch nicht aus. Der Tier- gibt es. Ich nenne ein ernüchterndes Beispiel aus dem schutz ist weder bei uns in Deutschland noch in Europa Tierschutz: 70 Prozent der europäischen Bevölkerung ein Selbstläufer. Das haben wir beim Kampf um die Än- lehnen Tierversuche für kosmetische Zwecke ab. derung der Kosmetikrichtlinie erfahren. Den landwirt- (Albert Deß [CDU/CSU]: 90 Prozent sind ge- schaftlichen Nutztierbereich hat bereits mein Kollege gen Steuern!) Wilhelm Priesmeier beleuchtet. Trotzdem werden pro Jahr mehr als 38 000 Tiere in Ver- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo ist denn suchslabors, zum Teil unter unsagbaren Qualen, ver- der Antrag dazu?) braucht, Ich stelle vier weitere zentrale Forderungen meiner (Matthias Weisheit [SPD]: Hört! Hört!) Fraktion zum Tierschutz vor: und das, obwohl es bereits über 8 000 getestete Roh- Erstens wollen wir die Einflussmöglichkeiten der stoffe und anerkannte Alternativmethoden gibt. Trotz Verbraucher auf das Marktgeschehen stärken. Wie ma- der breiten Ablehnung von Tierversuchen zu kosmeti- chen wir das, meine Damen und Herren? Wir fordern schen Zwecken hat es zehn Jahre gedauert, die EU-Kos- eine klare und vor allem seriöse Produktkennzeich- (B) metikrichtlinie im Sinne des Tierschutzes zu verändern. nung, aus der zum Beispiel auch die Haltungsform der (D) Was lange währt, wird endlich gut, könnte man meinen. Tiere deutlich hervorgeht. Wir brauchen vor allem auch Doch weit gefehlt! Erst ab 2009 sieht die geänderte Kos- deutlich erkennbare Produktalternativen im Supermarkt. metikrichtlinie endlich ein Tierversuchsverbot in Europa Bei den Eiern ist das schon gut gelungen. Ab Januar vor. nächsten Jahres muss die Haltungsform auf Eierverpa- ckungen gekennzeichnet sein. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das wird dann von der Chemikalienrichtlinie ersetzt!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wollen Sie ein Tiersiegel einführen?) Doch selbst dieses spät kommende Verbot ist noch nicht abgesichert und steht auf sehr wackligen Beinen. Das ist Heute passiert das schon freiwillig. Das Kaufverhalten das traurige Ergebnis eines zehnjährigen Kampfes. Die- hat sich dadurch verändert, Herr Goldmann. Eier aus Kä- ses Beispiel zeigt, auf welch massiven Widerstand Tier- fighaltung bleiben in den Regalen. Die Nachfrage nach schutz stößt, insbesondere wenn es um wirtschaftliche Eiern aus Freiland- und Bodenhaltung ist inzwischen so Interessen geht. groß, dass sie nicht mehr allein aus deutscher Produktion gedeckt werden kann. Wir begrüßen ausdrücklich, dass es der Bundesregie- rung in den letzten Jahren trotz dieser Schwierigkeiten (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ gelungen ist, eine Vorreiterrolle im Tierschutz einzuneh- DIE GRÜNEN) men. Aldi Nord schmeißt jetzt die Eier aus Käfighaltung aus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Regalen und setzt auf Boden- und Freilandhaltung. DIE GRÜNEN) Das ist das richtige Signal für den Tierschutz. Ich greife zwei Beispiele heraus. Erstens. Im letzten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jahr hat der Bundestag die Aufnahme des Tierschutzes DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann ins Grundgesetz beschlossen und dem Tierschutz damit [FDP]: Sie sind völlig ahnungslos! – Peter deutlich mehr Gewicht verliehen. Bleser [CDU/CSU]: Warum brüllen Sie so?) (Albert Deß [CDU/CSU]: Und was hat sich Diese klare Erkennbarkeit und Wahlmöglichkeit brau- dadurch geändert?) chen wir aber auch bei allen anderen Produkten. Ich bleibe einmal bei den Eiern. Das Verwaltungsgericht Gießen hat vor wenigen Tagen die Rechtmäßigkeit der Ablehnung eines Tierversuchs- (Lachen bei der CDU/CSU) 5394 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Gabriele Hiller-Ohm (A) Auch in Nudeln oder Fertiggebäck ist Ei enthalten. Der (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Gott sei (C) Verbraucher findet aber weder auf der Nudeltüte noch Dank!) auf der Keksdose eine Aussage über die Haltungsform. Wir sind inzwischen bei der gigantischen Zahl von Das muss verbessert werden. 2,2 Millionen Versuchstieren im Jahr angekommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Albert Deß [CDU/CSU]: Trotz Tierschutz im DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann Grundgesetz!) [FDP]: Schreiben Sie einen Antrag! Dafür ha- ben Sie doch schon sechs Jahre Zeit gehabt!) Ein Ende ist nicht abzusehen. Zweite Forderung. Wir brauchen bessere gesetzliche (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist ja schlimm!) Regelungen im Heimtierbereich. In Deutschland gibt es rund 90 Millionen Heimtiere. Das bedeutet, dass jeder Die Chemikalienpolitik der EU, die langfristig zu ver- von uns – auch Sie, Herr Goldmann, und ich – statis- bessertem Chemikalienmanagement in Europa führen tisch betrachtet, mehr als ein Heimtier besitzt. soll, wird die Tierversuchszahlen in den nächsten Jahren leider weiter nach oben treiben. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wollen Sie jetzt Omas Stube ausschnüffeln?) (Peter Bleser [CDU/CSU]: Was tun Sie dage- gen?) Wie diese 90 Millionen Heimtiere jedoch leben und ge- halten werden, wissen wir nicht. Wir fordern deshalb, dass Tierversuche an den Nachweis ihrer Unvermeidbarkeit gebunden werden. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Kontrollie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren!) DIE GRÜNEN) Wir fordern deshalb eine klare Regelung auf Bundes- Das ist das Mindeste, was wir tun können. Tierversuche und Länderebene, die Zucht, Ausbildung, Haltung und für die Produktion von Kosmetika lehnen wir klar ab. Handel von Heimtieren umfasst. (Albert Deß [CDU/CSU]: Warum macht ihr (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was?) das bisher nicht? Ihr regiert doch schon fünf Dritte Forderung. Wir fordern den nachhaltigen Jahre!) Schutz der Schweinswale in Nord- und Ostsee. In der Meine Damen und Herren, wir haben einen Entschlie- Ostsee sind die Kleinen Tümmler bereits fast vollkom- ßungsantrag mit einem umfassenden Forderungskatalog men ausgestorben. zum vorliegenden Tierschutzbericht ausgearbeitet und (B) (Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann werden ihn in die zuständigen Ausschüsse einbringen. (D) [FDP]) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Den hätte In der Nordsee gibt es noch Bestände, doch auch sie sind ich aber heute erwartet!) massiv bedroht. Jährlich sterben mehr als 7 000 Tümm- ler als Beifang in den Stellnetzen der Fischer. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dazu haben Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende. wir einen Antrag gestellt, Sie nicht!) Eine besondere Bedrohung geht hier von den Stellnetzen Gabriele Hiller-Ohm (SPD): der dänischen Fischer aus. Knüpft man die Stellnetze der Ich schließe mit einer persönlichen Bemerkung. Ich Fischer zusammen, so kommt man auf eine Gesamtlänge habe drei misshandelte Hunde aufgenommen und wün- von deutlich mehr als 5 000 Kilometern. Das ist eine sche mir auch aus ganz persönlicher Betroffenheit he- Länge von hier in Berlin aus bis zum Kap Hoorn. raus, dass wir beim Tierschutz bis zum nächsten Bericht in zwei Jahren ein deutliches Stück vorankommen wer- ( [CDU/CSU]: Unglaublich!) den. Die Europäische Kommission erarbeitet zurzeit eine Danke schön. Richtlinie zum Schutz der Kleinwale. Wir fordern eine rasche Umsetzung dieser Richtlinie. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/ CSU]: Wir fordern Schulpflicht für Klein- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wale!) Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion. Vierte Forderung. Wir unterstützen das Bemühen der Bundesregierung, die Zahl der Tierversuche zu mini- mieren. Wir sehen, dass in den letzten Jahren große An- Gitta Connemann (CDU/CSU): strengungen unternommen wurden, um ihre Zahl zu mi- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestal- nimieren. Trotzdem gibt es einen kontinuierlichen ten in Schutzanzügen laufen hektisch herum. Sie tragen Anstieg. Das ist auf die verstärkte biologische Grundla- Atemmasken, Handschuhe und Gummistiefel. Der Tag genforschung in Deutschland zurückzuführen. X scheint eingetreten zu sein. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5395

Gitta Connemann (A) Eine Szene aus der Science-Fiction? Nein, Realität im Schulpflicht für Wale zu einem ausgeprägten Tierschutz (C) Frühjahr 2003. Mitten in Europa war eine Seuche ausge- gehört. brochen, die aviäre Influenza, Geflügelpest. Das Virus breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Auch (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Menschen erkrankten. Die Gefahr einer Supergrippe NEN]: So ein Blödsinn!) drohte. Der „Spiegel“ titelte: „Killervirus aus der Löffel- Wenn Sie wirklich etwas für den Tierschutz tun wol- ente“. Am Ende war die Bilanz: einige Hundert er- len, können Sie unseren Antrag unterstützen. Ich habe krankte Menschen, mehr als 30 Millionen getötete Tiere von der Ministerin kein Wort dazu gehört, ob sie Tier- in den Niederlanden. Gott sei Dank breitete sich die Seu- seuchen effektiver bekämpfen will – sie hat dazu che in Deutschland nicht aus. Es kamen bei uns nur – re- geschwiegen –; denn damit könnten Sie den Tieren hel- lativ gesehen – wenige Tiere zu Tode. Von den Leiden fen, weil eine effektive Seuchenbekämpfung immer auch dieser Tiere will ich erst gar nicht sprechen. Der volks- Tierschutz bedeutet. wirtschaftliche Schaden blieb begrenzt. Bei einem Ge- flügelbestand von 35 Millionen Tieren hätte sich allein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für Niedersachsen eine horrende Kostensumme von mehr als 300 Millionen Euro für Tötung und Entsorgung Diesen Schutz wollen wir alle und haben ihn deshalb mit der Tiere ergeben können. Bäuerliche Existenzen und Verfassungsrang ausgestattet. Arbeitsplätze wären vernichtet worden. Das einzige, was Was braucht es aber weiter dazu? Für den einen oder uns und die Tiere davor bewahrt hat, war Glück – Glück, die andere ist offensichtlich nur ein ökologisch gehalte- das nicht planbar, nicht kalkulierbar und nicht verläss- nes Schwein ein glückliches Schwein. Ob Frau Ministe- lich ist. rin Künast zu den Verfechtern eines idealisierten Men- Meine Damen und Herren, wir können uns nicht da- schenbildes gehört, vermag ich nicht zu sagen. Ich rauf verlassen, dass es keinen neuen Seuchenzug geben vermute aber, dass sie ein idealisiertes Schweinebild wird. Wir müssen uns aber darauf verlassen können, hat – jedenfalls kommt das in ihrem Entwurf der dass wir für diesen Fall gewappnet sind und dass den Schweinehaltungsverordnung zum Ausdruck. Natür- Behörden, den Tierärzten und den Ärzten in diesem Fall lich, ein Ferkelchen mit seinem Ringelschwänzchen ist geeignete Instrumente zur Verfügung stehen. lieb anzusehen und fotogen. Aber dort, wo mehrere Schweine zusammen gehalten werden, wird es von an- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- deren Schweinen abgebissen. neten der FDP) (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das wird vorher Daran fehlt es, weil das deutsche Tierseuchenrecht Lü- abgeschnitten!) (B) cken hat. Deshalb haben die Bundesländer die Bundesre- (D) gierung bereits 2001 parteiübergreifend aufgefordert, Deshalb wird der Schwanz gekürzt und werden die kurzfristig zu handeln – ohne Erfolg, es geschah nichts. Zähne abgeschliffen. Wie dies zu geschehen hat, ist im Im April dieses Jahres kündigte die Bundesregierung deutschen Tierschutzgesetz im Sinne des Bündnisses für endlich an, handeln zu wollen. Was ist geschehen? Wie- Tierschutz geregelt. Die deutschen Landwirte halten ihre der einmal nichts. Tiere nach diesen Regelungen und damit tierschutzge- recht. Was muss geschehen? Die Bundesländer haben es uns gesagt: Wir brauchen ein einheitliches Recht für das ge- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE samte Bundesgebiet. Zurzeit muss jedes Bundesland im GRÜNEN]: Das glaubst auch nur du!) Seuchenfall auf sein eigenes Gefahrenabwehrrecht zu- rückgreifen. In dem einen Land ist erlaubt, was in dem Sie verdienen damit ihr Geld – Geld, das vor Ort inves- anderen Land verboten ist. Das kann und darf nicht sein; tiert wird, Geld, mit dem Arbeitsplätze geschaffen wer- denn Viren kennen keine Landesgrenzen. den. Das gilt jedenfalls bislang; sollten nämlich die Pläne der Bundesregierung für den Bereich der (Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) Schweinehaltung Realität werden, so ist die Zukunft die- Es muss auch schnelleres Handeln möglich sein. Zurzeit ser Betriebe ungewiss. müssen Eingriffe wie ein Standstill in den amtlichen (Peter Bleser [CDU/CSU]: Leider wahr!) Verkündungsblättern bekannt gemacht werden; das be- deutet einen Zeitverzug von mehreren Tagen. Wäre die Einmal mehr wird ein nationaler Alleingang mit zusätz- Veröffentlichung über Medien wie Fernsehen oder Radio lichen Auflagen angestrebt. Solche Alleingänge führen bei uns erlaubt, könnte sofort reagiert werden. Bei einer zu höheren Kosten und damit zu Wettbewerbsverzerrun- Seuche ist es nun einmal erforderlich, schnellstmöglich gen in einer globalisierten Welt. zu handeln. Kollege Goldmann hat bereits erwähnt, dass in dieser Meine Damen und Herren aus der Koalition, Sie ha- Woche ein bekannter Discounter polnisches Schweine- ben hier in vielen Redebeiträgen gesagt, was Sie alles für fleisch anbietet. Er hat nicht erwähnt, zu welchem Preis: den Tierschutz tun wollen. Frau Kollegin Hiller-Ohm, zu einem Kilopreis von 3,97 Euro. Werte Kolleginnen gestatten Sie mir aber einen Hinweis: Zum einen hätte und Kollegen aus der Koalition, meinen Sie denn wirk- ich es begrüßt, wenn Sie tatsächlich Anträge vorgelegt lich, dass sich der Verbraucher in diesem Discounter ent- hätten. Zum anderen bin ich nicht der Auffassung, dass rüstet abwenden wird, weil es sich um polnisches eine Polizei für Heimtiere oder gegebenenfalls die Fleisch handelt? Nein, er wird dieses Fleisch kaufen, 5396 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Gitta Connemann (A) weil er nach seinem Geldbeutel entscheidet – häufig Berichterstattung: (C) auch entscheiden muss. Abgeordnete Hans-Peter Kemper Ralf Göbel Schon jetzt ist es für den deutschen Bauern schwer, Silke Stokar von Neuforn damit zu konkurrieren. Mit Ihren Plänen würden Sie es Ernst Burgbacher ihm unmöglich machen. Schweine in Polen, wahrschein- lich irgendwann Schweine im Weltall, nur keine Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Schweine in Deutschland. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Meinen Sie denn wirklich, dass ein Schwein in der Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion. Ukraine bessere Bedingungen vorfindet als in Deutsch- land? Aber unter anderem dahin würde eine Produktion auswandern. Das dürfen wir nicht zulassen. Es gibt dafür Hans-Peter Kemper (SPD): auch keinen Grund. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Einführung des Digitalfunks ist kein Streitthema ge- Die EU hat ihre Nutztierhaltungsverordnung auf wesen. Es wird auch keines werden, da es Ihnen nicht wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt. Dazu zählen gelingen wird, es zu einem zu machen. Denn hinsichtlich auch Gesichtspunkte des Tierschutzes. Bei einer Eins- der Notwendigkeit der Einführung des Digitalfunks gibt zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben wird damit nicht es überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten zwi- nur dem Tierschutz Rechnung getragen. Gleichzeitig schen uns. Wir sind uns völlig einig darin, dass wir ihn werden damit auch Wettbewerbsverzerrungen zulasten brauchen und er flächendeckend eingeführt werden der deutschen Landwirtschaft vermieden. muss. (Beifall bei der CDU/CSU) Der analoge Funk ist inzwischen fast 30 Jahre alt. Springen Sie über Ihren Schatten! Überwinden Sie Ih- Ich habe damals bei der Polizei die Einführung miter- ren inneren Schweinehund! Stimmen Sie den Anträgen lebt. Wir haben ihn für einen großen Fortschritt gehalten. von CDU/CSU und FDP zu! Inzwischen hat sich die ganze Sache überholt. Denn man sieht deutlich, wo der analoge Funk an seine Leistungs- Vielen Dank. grenzen stößt. Insbesondere das Hochwasser an Elbe und Mulde im letzten Jahr hat deutlich gemacht, wo es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Funklöcher gibt, wo der analoge Funk nicht mehr leis- neten der FDP) tungsfähig ist. Es ist zu massiven Funkausfällen mit (B) (D) durchaus gefährlichen Folgen für die Bürger und die ein- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gesetzten Kräfte gekommen. Ich schließe die Aussprache. Vor diesem Hintergrund haben wir nur zwei Möglich- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf keiten: Entweder wir rüsten das veraltete analoge Funk- den Drucksachen 15/723 und 15/1210 an die in der Ta- system für viel Geld nach oder wir investieren in ein gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. neues, zwar sehr kostenintensives, aber auch sehr mo- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann dernes Funksystem mit guter Sprachqualität, optimalem sind die Überweisungen so beschlossen. Datentransfer, grenz- und organisationsüberschreiten- den Möglichkeiten und einer großen Abhörsicherheit. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Fälschlicherweise wird dieses Funksystem immer nur schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- mit der Polizei in Verbindung gebracht. Es gilt allerdings wirtschaft auf Drucksache 15/1035 zu dem Antrag der für alle Organisationen und Behörden, die mit Sicher- Fraktion der FDP mit dem Titel „EU-Richtlinie zur Hal- heitsaufgaben betraut sind, also für Feuerwehr, THW tung von Nutztieren in nationales Recht umsetzen“. Der und alle Katastrophenschutzorganisationen. Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/226 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Wenn das alles so toll ist, dann fragt man sich natür- lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- lich, warum wir es nicht längst eingeführt haben. Da empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge- lohnt sich ein Blick zurück. Erstmals wurde im Schen- genstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. gener Durchführungsübereinkommen 1990 beschlos- sen, dass die Einführung genormter, kompatibler Kom- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: munikationssysteme, die eine grenzüberschreitende Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Zusammenarbeit der BOS-Dienste ermöglichen, zu prü- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu fen sei. Anschließend erschien dann dieses Problem in dem Antrag der Abgeordneten Ralf Göbel, schöner Regelmäßigkeit – alle zwei bis drei Jahre – auf Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer der Tagesordnung der Innenministerkonferenzen. Es gab Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU ja kaum eine IMK, auf der nicht darüber geredet wurde. Ausschreibung des BOS-Digitalfunks im Jahr Zunächst war unsere Traumvorstellung: Wir wollen 2003 einleiten ein europaweites kompatibles, modernes Sicherheits- netz. Dieser Traum ist längst ausgeträumt. Die europäi- – Drucksachen 15/816, 15/1260 – schen Staaten haben sich nach nationalen Gesichtspunk- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5397

Hans-Peter Kemper (A) ten orientiert. Ein einheitliches europäisches Hans-Peter Kemper (SPD): (C) Funksystem ist nicht mehr zu erreichen. Ja, Frau Präsidentin, meine Redezeit ist zu Ende. Es Heute reden wir vielmehr darüber, zumindest ein geht mir genau wie meinem Innenminister, Otto Schily. bundesweit einheitliches System hinzubekommen. Ich hätte noch viel zu sagen. Ich habe aber immer eine Auch das ist schon jetzt fraglich geworden. Wir reden zu kurze Redezeit. Ich verlasse jetzt dieses geliebte Pult. ebenfalls über die Finanzierung. Das System wird nicht Schönen Dank an alle. billig; das wissen wir alle. Es wird auch deshalb teuer, weil zumindest in der Übergangsphase eine Parallelfüh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung beider Systeme erfolgen muss, um Sicherheitslecks DIE GRÜNEN) in diesem Bereich zu vermeiden. Die Bürger erwarten aber von den Sicherheitsdiensten, von der Polizei zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Recht ein optimales System. Sie erwarten zu Recht, dass Nächster Redner ist der Kollege Ralf Göbel, CDU/ ihre Sicherheit optimal geschützt wird. CSU-Fraktion. Auch vor diesem Hintergrund ist der Versuch des Bundeskanzlers zu sehen. Er hat am 26. Juni dieses Jah- Ralf Göbel (CDU/CSU): res die Ministerpräsidenten der Länder zusammengeholt, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und um diese Sache wieder in Gang zu bringen. Es ist be- Herren! Die Einführung des Digitalfunks für die Behör- schlossen worden, eine Dachvereinbarung auf den Weg den und Organisationen, die für die innere Sicherheit in zu bringen. Deutschland Verantwortung tragen, ist eines der wich- (Zuruf von der CDU/CSU: Was fehlt?) tigsten technischen Projekte für die Sicherheit unseres Landes. Bundesgrenzschutz, Bundesamt für Verfas- Weil es nicht flächendeckend gelang, die Bundesländer sungsschutz, Zollkriminalämter, Bundeskriminalamt, zum Beitritt zu bewegen, sollte eine Startergruppe ge- Technisches Hilfswerk, auch die Bundeswehr, die bei bildet werden. Der Bund und mein Bundesland Nord- Katastrophenlagen im Innern tätig wird, alle betonen seit rhein-Westfalen, das in Fragen der inneren Sicherheit zu Jahren die Notwendigkeit der Einführung des Digital- meiner Freude immer besonders gut ist, funks. Gleiches gilt für die Polizeien der Länder, die Feuerwehren und die Rettungsdienste. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) Die Bundeswehr – dies sei nur am Rande erwähnt – be- (B) haben diese Startergruppe ins Leben gerufen und sollten (D) auf der Basis dieser Dachvereinbarung arbeiten. nutzt den Digitalfunk bereits, allerdings nur bei Aus- landseinsätzen. Inzwischen ist das alles wieder Makulatur; die Bun- desländer haben ihre Bereitschaft zurückgezogen. Sie (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!) sind hinter den Stand vom 26. Juni 2003 zurückgegan- Durch die Schwachstellenanalysen von Katastrophen- gen, weil sie – das ist völlig unrealistisch – eine Beteili- schutzeinsätzen zieht sich wie ein roter Faden die Fest- gung des Bundes zu 50 Prozent an den Gesamtkosten stellung, dass unser Funksystem, das aus den 70er-Jah- fordern. Der Bund betreibt aber nur 8,5 Prozent der End- ren stammt, völlig überlastet ist, teilweise gänzlich geräte. Er nutzt also weniger als 10 Prozent des ganzen versagt und schwierige, für Menschenleben gefährliche Systems. Daher ist es eine nicht verständliche Blockade Situationen herbeiführt. Hierzu ein Zitat von General der Länder, solch eine Kostenaufteilung zu fordern. von Kirchbach im „Stern“ vom 31. Juli 2002: Diese Forderung missachtet in eklatanter Weise auch Beim Augusthochwasser ist das Netz dauernd zu- den Grundsatz der aufgabengerechten Lastenverteilung. sammengebrochen, was die Verständigung erheb- Meine Bitte an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/ lich erschwerte. Das alte Funknetz ist den Belastun- CSU, die diesen Antrag eingebracht haben, lautet: Be- gen einer Katastrophe noch immer nicht schleunigen Sie das Ganze. Wir unterstützen Sie dabei gewachsen. Im Ernstfall bedeutet das, dass sich dadurch, dass Sie nun Ihren Bundesländern endlich den Einsatzleitung und Hilfskräfte sowie Hilfskräfte un- Marsch blasen und ihnen endlich sagen, wo es langgeht, tereinander nur völlig unzureichend verständigen können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Im Alltag der Sicherheitsbehörden wird über Funk- löcher und Überlastung der Funknetze geklagt und nicht und dass sie für die Kosten, die sie verursachen, aufkom- zuletzt darüber, dass das Kommunikationssystem der Si- men müssen. cherheitsbehörden nicht abhörsicher ist und den Anfor- Ich sehe hier das Zeichen, Frau Präsidentin, es blinkt derungen des Datenschutzes in keiner Weise mehr ge- schon. nügt, (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ganz davon abgesehen, dass auch die Ersatzteilbeschaf- Ja, Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. fung und die Reparatur von Jahr zu Jahr teurer werden. 5398 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Ralf Göbel (A) Ein Blick über die Grenzen zeigt zudem, dass in Eu- (Beifall bei der CDU/CSU – Clemens (C) ropa allein Deutschland und Albanien mit technologisch Binninger [CDU/CSU]: Da fehlt doch der veralteten Kommunikationsnetzen im Bereich der inne- Wille!) ren Sicherheit arbeiten. Selbst die im nächsten Jahr hin- Der Bundeskanzler – Sie haben es erwähnt – hat sich zutretenden neuen Länder verfügen bereits über ein digi- auf der CeBIT genötigt gesehen, das Versprechen abzu- tales Funksystem oder sind dabei, dieses einzuführen. geben, sich persönlich für die zügige Einführung des Di- Die neuen Länder haben also bereits vor dem Beitritt die gitalfunks einzusetzen. Das ist ein halbes Jahr her. Es Anforderungen des Schengenabkommens erfüllt. gab auch eine Besprechung des Bundeskanzlers mit den Deutschland hingegen trägt wieder einmal, wie so häu- Ministerpräsidenten der Länder, fig, die rote Laterne. Das ist schlicht und ergreifend bla- mabel. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Die be- rühmte Konsensrunde!) (Beifall bei der CDU/CSU) mit dem Ergebnis, dass sich wieder alle über das einig Die Bundesregierung und die Landesregierungen wie waren, worin wir uns sowieso einig sind, dass nämlich auch der Deutsche Bundestag, und zwar dieser fraktions- der Digitalfunk einzuführen ist. Es gab ein paar Modali- übergreifend, betonen immer wieder die Notwendigkeit täten bezüglich der Dachvereinbarung und der Starter- der Einführung des digitalen Funks; Herr Kollege gruppe – Sie haben es angesprochen –, über die man sich Kemper hat darauf hingewiesen. Wir haben eine gemein- verständigt hat. Über die zentrale Frage, wie die Kosten same Presseerklärung zu diesem Thema erarbeitet. Über verteilt werden, hat man aber auch bei dieser Bespre- das Ob gibt es also keinen Streit. chung kein Einvernehmen erzielt. Daher dümpelt die Sa- che seit September letzten Jahres vor sich hin. Bis heute Bundesminister Schily gab das Ziel vor, bis ist keine Einigkeit erzielt worden. Ende 2005 den Aufbau des digitalen Netzes abschließen zu wollen und 2006, bei der Fußballweltmeisterschaft, Die Dachvereinbarung, die seitens der Bundesregie- den Sicherheitsbehörden ein leistungsfähiges und mo- rung vorgelegt worden ist, wird von den Ländern deswe- dernes Funknetz zur Verfügung zu stellen. gen abgelehnt, weil bezüglich der Kosten wieder einmal kein Vorschlag gemacht wurde. Es bedurfte wiederum (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wie will er weiterer Konsensrunden der Innen- und Finanzstaats- das denn schaffen?) sekretäre, um zu dem Ergebnis zu kommen – das ist der aktuelle Sachstand –, dass sich die Ministerpräsidenten- Es ging auch flugs voran: Es wurden eine Zentralstelle konferenz im Dezember erneut mit diesem Thema befas- (B) für die Vorbereitung der Einführung des Digitalfunks sen muss, bevor weitere wesentliche Schritte in die (D) eingerichtet und im Raum Aachen ein Pilotprojekt ge- Wege geleitet werden können. startet. Seitdem wissen wir, dass Digitalfunk auch in (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ein Trauer- Deutschland reibungslos funktioniert. Wir wissen, wel- spiel!) che Anforderungen wir an ein digitales Sprech- und Da- tenfunknetz stellen müssen. Der gesamte Vorgang ist nicht nur ärgerlich, durch die starre Haltung der Bundesregierung gerät auch ein für Wir wissen aber auch – und das seit geraumer Zeit –, die Sicherheit der Menschen in diesem Land wichtiges dass Investitionsmittel von ganz erheblichem Umfang Projekt in Verzug. notwendig werden; Herr Kemper hat darauf hingewiesen. Nach heutigem Stand muss mit einer Summe von bis zu (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 4,5 Milliarden Euro für Netz und Geräte gerechnet wer- NEN]: Wir erklären Ihnen das gleich!) den, allerdings auf einen Zeitraum von zehn Jahren ver- In der Dachvereinbarung wird jetzt das Jahr 2010 als teilt und durch eine Teilnehmerzahl von 17 Teilnehmern das Realisierungsjahr genannt. geteilt. Damit wird das Ganze schon wieder etwas über- schaubarer. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Unerhört!) Der Bundesinnenminister, ein Optimist, wie er uns in der Hier setzt die Kritik an. Der Bundesinnenminister hat letzten Sitzungswoche hat wissen lassen, hat den Opti- als Zielvorgabe zwar das Jahr 2006 genannt, hat aber of- mismus abgelegt, ist von seinem Ziel abgerückt und fensichtlich die Finanzierungsfrage mit den Ländern spricht nun von einer Teileinführung zur Fußballwelt- nicht rechtzeitig genug verhandelt. meisterschaft 2006. (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist auch [CDU/CSU]: So ist es!) realistisch!) Jedenfalls ist seit September 2002 die Realisierung des Folgt man den Erklärungen der Industrie, ist selbst das Projektes ins Stocken geraten. Es haben mehrere Konfe- wohl nicht mehr zu halten. renzen der Innen- und der Finanzstaatssekretäre stattge- (Zuruf von der CDU/CSU: Wie bei der LKW- funden. Man war nicht in der Lage, eine vernünftige, der Maut!) Sache angemessene und konsensfähige Lösung der Kos- tenverteilung zwischen Bund und Ländern herbeizufüh- Das sind im Übrigen keine Unkenrufe, wie es Bundes- ren. minister Schily bezeichnet hat. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5399

Ralf Göbel (A) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Man könnte Eichel, der einen desaströsen Haushalt zu verwalten hat, (C) das ja Stolpe übertragen! Dann klappt es!) natürlich ein gutes Ergebnis. Ich glaube aber nicht, dass sich auch nur ein einziger Landesfinanzminister zu die- Die Landesregierung Rheinland-Pfalz, die die Ver- sem Ergebnis bekennen würde und es akzeptieren antwortung für den Austragungsort Kaiserslautern trägt, könnte. Die Länder werden dem Vorschlag in dieser erklärte in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage, dass Form also nicht zustimmen können. sie sich darauf einstellt, das vorhandene Gleichwellen- funknetz durch ein modernes analoges Funknetz zu er- (Hans-Peter Kemper [SPD]: Was ist denn Ihr setzen. Die Planungen hierzu seien bereits abgeschlos- Vo r sc h l ag ? ) sen. Hier zeigt sich, dass eine Landesregierung, die nicht von der CDU geführt wird, offensichtlich das Vertrauen Daher ist zunächst einmal Bewegung aufseiten des Bun- in die zügige Einführung des Digitalfunks verloren hat des angesagt. Ich fordere aber natürlich auch, dass es zu und dies sogar öffentlich bekennt. einer Bewegung aufseiten der Länder kommt. Das Pro- jekt liegt im nationalen Interesse und es kann nicht der (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Föderalismus am Ende dafür sorgen, dass es ins Stocken gerät. Ich will nicht darüber spekulieren, warum der erste Entwurf des diesjährigen Bundeshaushaltes keinen An- (Beifall bei der CDU/CSU) satz für den Digitalfunk aufweist. Es ist notwendig, dass sich der Innenminister gegen- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das erklärt über dem Finanzminister durchsetzt. Die Einstellung uns der Herr Körper!) von Mitteln haben Herr Innenminister Schily und Herr Parlamentarischer Staatssekretär Körper in der letzten Die Erklärung des Kollegen Veit in der Haushaltsde- Haushaltswoche zugesagt. Im Innenausschuss wurden batte, die Drucklegung des Haushaltes sei bereits vor gestern noch keine Beträge genannt. Ich weiß aber, dass dem 26. Juni dieses Jahres erfolgt, möchte ich nicht wei- dem Finanzministerium zugeleitet worden ist, man wolle ter kommentieren. in diesem Jahr 5 Millionen Euro in den Haushalt einstel- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr nobel!) len und in den nächsten beiden Folgejahren 200 Millio- nen Euro Verpflichtungsermächtigungen. Wenn die heu- Ich will nur darauf hinweisen – deswegen brauchen wir tige Debatte diesen Betrag veranlasst hat, war es eine auch unseren Bundesländern nicht den Marsch zu blasen –, sehr sinnvolle Debatte. Es wird ein gutes Signal gege- dass Hamburg und Baden-Württemberg für das nächste ben, Jahr bereits Mittel in die Finanzplanung eingestellt ha- ben. Im Übrigen gilt das auch für das Land Berlin, das in (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die Union (B) (D) den nächsten zwei Jahren jeweils 10 Millionen Euro zur muss mal wieder anschieben, damit es in Verfügung stellt. Deutschland weitergeht!) (Zuruf von der CDU/CSU: Die haben wirklich jedenfalls dann, wenn der Finanzminister – Herr Parla- kein Geld und schaffen das doch!) mentarischer Staatssekretär Diller ist ja da – zustimmt. Aber ich sage auch: Es löst nicht das Problem der Kos- Nordrhein-Westfalen hat die haushaltsmäßigen Voraus- tenverteilung, darüber wurde noch kein Einvernehmen setzungen bereits geschaffen und Baden-Württemberg erreicht. und Rheinland-Pfalz sind gerade dabei, dies ebenfalls zu tun. Deswegen ist das bemühte Argument der Totalblo- Ich betrachte es in diesem Zusammenhang schon als ckade der Länder ein Trauerspiel, wenn man beobachten muss, wie Hun- derte von Millionen Euro wegen Unzulänglichkeiten bei (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Falsch!) der LKW-Maut verloren gehen und andererseits Geld, inzwischen obsolet geworden. Wie die Innenminister al- das wir für die innere Sicherheit und die Sicherheit unse- ler Länder uns mittlerweile mitteilen, liegt die Blockade rer Bürger brauchen, nur so schwer zu erreichen ist. beim Bund. (Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Schindler (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – [CDU/CSU]: Schlamperei!) Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Der Bundesinnenminister hat die Führungsverant- GRÜNEN]: Das ist ja unerhört!) wortung übernommen, ihm obliegt die Federführung. Auf die Berechnungsmodelle, deren es viele gibt, Deswegen fordern wir Herrn Innenminister Schily auf, und auf die Berechnungsansätze, deren es noch mehr mit den Ländern die notwendige Basis zu schaffen, da- gibt, will ich im Detail gar nicht eingehen. Nur so viel: mit der Digitalfunk jetzt endlich zügig eingeführt wer- Der Bund hat vorgeschlagen, einen Eigenanteil von den kann – im Interesse der Sicherheit der Bürgerinnen 10 Prozent an den Gesamtkosten zu tragen. und Bürger unseres Landes und im Interesse der Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden. (Hans-Peter Kemper [SPD]: Schon 2 Prozent mehr, als es nutzt!) Vielen Dank. Das bedeutet: Rechnet man die Rückflüsse der Umsatz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – steuer dazu, dann liegt der effektive Anteil bundesweit Hans-Peter Kemper [SPD]: Alles richtig! Bis bei 3,1 Prozent. Das ist aus der Sicht von Finanzminister auf den Adressaten!) 5400 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir haben alle ein Interesse daran, dass die Einführung (C) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silke Stokar von des Digitalfunks für Bund und Länder finanzierbar Neuforn. bleibt. Ich halte den Weg für richtig. Wenn man ausgeschrie- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE ben und sich für ein System entschieden hat, dann soll- GRÜNEN): ten sich Bund und Länder zusammensetzen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Di- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Es schreibt gitalfunk wurde übrigens schon im Jahre 2000 im Zuge doch niemand aus! – Dr. Ole Schröder [CDU/ der Expo 2000 in Hannover außerordentlich erfolgreich CSU]: Auch Ausschreibungen kosten Geld!) erprobt. So weit hinten ist Deutschland nun doch wieder – Ich habe Ihnen auch zugehört. Sie benehmen sich hier nicht. wirklich wie die Lümmel von der ersten Bank. Meine Damen und Herren, ich würde gern etwas sehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Ernsthaftes sagen, damit wir hier nicht eine Debatte über bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU) Technikdetails führen. Ich glaube, die CDU sollte sich überlegen, ob jetzt wirklich der geeignete Zeitpunkt für Sie sind nicht in der Lage, zu akzeptieren, dass Ihnen eine solche parlamentarische Auseinandersetzung ist. eine Frau von den Grünen ein Problem differenziert und weniger populistisch versucht nahe zu bringen. Das geht (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wann denn?) mir langsam auf die Nerven. Wir stehen kurz vor einem öffentlichen Ausschrei- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ich wollte bungsverfahren Ihnen eine Frage stellen!) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Bitte?) Ich finde es richtig, dass man nach dem Ausschrei- bungsverfahren und der Entscheidung für ein System die und ich glaube, die Politik wäre gut beraten, weil wir Verhandlungen mit den Ländern aufnimmt und dann die Parlamentarier die Verantwortung für diesen Haushalt Kostenfrage klärt. Wir haben in der Bund-Länder-Finan- tragen, zierung und auch mit der Finanzierung des analogen ( [Altötting] [CDU/CSU]: Neh- Funksystems Erfahrung. Daher werden wir uns bei der men Sie die Verantwortung doch mal wahr!) Aufteilung der Kosten zur Einführung des digitalen Funksystems schon einigen. (B) vor einem Ausschreibungsverfahren in einer öffentli- (D) chen Debatte nicht bereits mit Zahlen zu jonglieren und Ein anderer Punkt. Wir sollten aufhören – ich sehe, damit eventuell die Kosten eines Ausschreibungsverfah- meine Redezeit läuft ab –, rens in die Höhe zu treiben. (Beifall des Abg. Stephan Mayer [Altötting] (Abg. Clemens Binninger [CDU/CSU] meldet [CDU/CSU]) sich zu einer Zwischenfrage.) in der Innenpolitik Symbol- und Eventpolitik zu betrei- ben. – Ich erlaube jetzt keine Zwischenfrage, ich möchte gern mit meinen Ausführungen hier weitermachen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) Wir befinden uns, wie gesagt, in einem Ausschrei- bungsverfahren, in dem es um zwei Dinge geht. Einmal Alle, die ein bisschen Ahnung haben, wissen, dass dies soll über das Ausschreibungsverfahren die Systemfrage eine ernsthafte Herausforderung ist. Für die WM 2006 geklärt werden. Wer sich etwas mit dem Thema befasst brauchen wir erst einmal ein Sicherheitssystem ohne Ri- hat, kennt die Situation und weiß, dass Bayern ein ande- siken und ohne Experimente. An den WM-Standorten res Digitalfunksystem haben möchte als zum Beispiel wird keine verantwortliche Landespolizei für das Pres- Niedersachsen. Wir haben die Auseinandersetzung um tigedatum WM 2006 ein Digitalfunksystem fordern, das zwei technisch mögliche Systeme, einmal Tetra Pol und zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgereift ist. zum anderen Tetra 25. Auch hier soll über das Aus- schreibungsverfahren eine Entscheidung gefunden wer- (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Ich denke, bei den. der EXPO funktionierte es!) Für Niedersachsen zum Beispiel ist es viel wesentlicher, Meine Damen und Herren, ich finde, Politik wäre gut dass Niedersachsen und Bremen im Zuge der Alltags- beraten, wenn wir die Kriterien für solche Ausschrei- kriminalität eng zusammenarbeiten können und die bungsverfahren entsprechend fassen und nicht mit Vor- Funkverbindung funktioniert. informationen in irgendeiner Weise versuchen, Einfluss zu nehmen oder auch Hinweise zu geben, weil es exeku- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Tun Sie doch tives Geschäft ist. nicht so, als ob Sie in Niedersachsen noch et- was zu sagen hätten!) (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das macht doch auch keiner! Wovon reden Sie ei- In den Ländern und auf Bundesebene täten alle gut gentlich?) daran, dafür zu sorgen, dass die Debatte versachlicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5401

Silke Stokar von Neuforn (A) wird. Digitalfunk eignet sich einfach nicht zur parteipo- Der Digitalfunk ist ein absolutes Muss und kein (C) litischen Profilierung. kostspieliger Luxus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Daran sollten wir uns halten. und bei der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir müssen uns alle dafür einsetzen, dass wir möglichst bald ein bezahlbares und gut funktionierendes digitales Ich werfe der Bundesregierung vor, dass sie ihrer Funknetz in Deutschland haben. Pflicht, initiativ zu werden, nicht nachkommt. Für mich ist aufgrund der Kosten des Bundes Bedin- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gung, dass nur die Länder zur Startergruppe zählen, die nicht länger ein landeseigenes Digitalsystem einführen Lieber Herr Körper, wir hatten eine Kleine Anfrage ge- wollen, das mit dem BGS-System nicht kompatibel ist. stellt. Auf sieben Fragen, darunter die Frage, ob mit der Einen solchen Quatsch an föderaler Kleinstaaterei wird Einführung des digitalen Funksystems die flächende- unsere Fraktion nicht mitmachen. ckende Erreichbarkeit auch der nichtpolizeilichen Be- hörden usw. gewährleistet ist, antwortete die Bundesre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gierung, das sei Sache der Länder und darauf könne sie und bei der SPD – Hartmut Koschyk [CDU/ nicht antworten. CSU]: Das hat doch niemand gesagt!) (Zuruf von der CDU/CSU: Die drücken sich!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dann lassen Sie es doch bleiben. Es kann doch nicht Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher. sein, dass Sie zu inhaltlichen Fragen schlichtweg nichts (Beifall bei Abgeordneten der FDP) sagen können und darauf verweisen, das sei Sache der Länder. Sie entziehen sich Ihrer Verantwortung. Ernst Burgbacher (FDP): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ruf von der SPD: Die Länder sind für den Ka- Das Gebiet, über das wir heute Abend reden, ist tatsäch- tastrophenschutz verantwortlich!) lich sehr ernst. – Ich sage Ihnen: Hier hat auch der Bund eine gewisse (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) Koordinierungsfunktion. Es gibt genügend andere Fälle, bei denen wir vor großen Schwierigkeiten stehen. (B) Ich erinnere Sie an das Hochwasser vom letzten Jahr. Der Bundesinnenminister hat die Pflicht, die Entwick- (D) Damals hätten wir mit einem digitalen Funksystem we- lung zu beschleunigen und alles daran zu setzen, dass es sentlich mehr erreichen können. zu einer Einigung kommt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Region: Ich sage Ihnen ein Zweites: Es kann nicht sein, dass Etwa 20 bis 30 Kilometer von der Schweizer Grenze uns ein Bundeshaushalt vorgelegt wird, in dem für die entfernt brannte eine Sporthalle. Nach Aussage der ver- Einführung des Digitalfunks Mittel in Höhe von null antwortlichen Feuerwehrleute hätte vieles gerettet wer- Euro angesetzt sind. Wir werden entsprechende Anträge den können, wenn wir ein entsprechendes Funksystem stellen. Das zeigt auch, dass die Bundesregierung nicht gehabt hätten. Aber die Alarmierung der Schweizer Feu- wirklich willens ist, etwas zu tun. erwehr war viel zu kompliziert. Heute befinden wir uns in einer Situation, die schier Sehr geehrter Herr Staatssekretär Körper, wir erwar- unglaublich ist. In verschiedenen europäischen Ländern ten von Ihnen erstens, dass Sie jetzt auf den Tisch legen, wurden verschiedene Systeme eingeführt, die nicht mit- welche Mittel im Haushalt eingestellt werden sollen, wir einander kompatibel sind. Wenn ich richtig informiert erwarten von Ihnen zweitens, dass Sie uns jetzt in Ihrer bin, sind wir neben Albanien das einzige Land, das noch Rede sagen, welchen Terminplan Sie verfolgen, und wir keine Entscheidung getroffen hat und noch nicht dabei erwarten von Ihnen drittens, dass Sie uns sagen, in wel- ist, ein System einzuführen. Das können wir uns chem Zeithorizont wir die Einführung eines bundeswei- schlichtweg nicht leisten. ten Digitalfunksystems schaffen können. Das sind Sie uns und den Bürgerinnen und Bürgern dieser Republik (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schuldig. der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Öster- reich muss neu anfangen!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nun ist völlig richtig: Wir haben die Schwierigkeit, dass wir zwar deutschlandweit ein System einführen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wollen, aber um uns herum schon ein Flickenteppich be- Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta- steht. Das zweite Problem sind die gewaltigen Kosten, rische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper. die auf uns zukommen. Ich zitiere dazu, lieber Herr Staatssekretär Körper, Ihren Minister Schily: (Beifall bei der SPD) 5402 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- scheidungen in Europa getroffen worden sind, auch die- (C) desminister des Innern: jenigen technischer Art: in Frankreich Tetra Pol, in Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe Dänemark Tetra. Deswegen ist es für Baden-Württem- die Redebeiträge aus den Reihen der CDU/CSU und der berg und Schleswig-Holstein so schwer, sich zu ent- FDP gehört und komme zu einem einfachen Ergebnis: scheiden. Es wäre viel besser gewesen, wenn wir in Ge- samteuropa eine einheitliche technische Entscheidung (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie sind tief gehabt hätten. beeindruckt!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie haben von dieser schwierigen Materie absolut keine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ahnung. Das ist gar keine Frage. Aber dies war nicht zu errei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen. DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das steht doch gar nicht zur Debatte!) Das sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit. Sie wissen, dass bei diesem schwierigen Projekt die Zahl von 50 Prozent Herr Binninger, schade, dass diese Chance verloren ge- im Raum steht. 50 Prozent der Kosten soll der Bund gangen ist. übernehmen. Einige Herren und Damen aus Ihren Rei- Ich will Ihnen noch etwas zu dem Thema Geld sagen: hen haben diese Forderung übernommen. Wer dies for- Wir haben einen guten Maßstab. Analogfunk kostet dert, verhält sich gegenüber der Bundesregierung unver- nämlich auch Geld. Wir wissen auch, dass das erstens antwortlich, sehr viel Geld kostet, lieber Kollege Kemper. Sie kennen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich in dieser Materie ein bisschen aus. DIE GRÜNEN) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: „Ein biss- denn es ist in keiner Weise zu rechtfertigen, dass bei die- chen!“ – Heiterkeit bei der CDU/CSU) ser technischen Anlage 50 Prozent vom Bund zu über- nehmen sind. Ich wüsste gerne, was Sie uns vorwerfen Wir wissen auch, dass die Ersatzteilbeschaffung für würden, wenn wir die Bereitschaft dazu erklären wür- Oldtimer in und auf der Zeitschiene eine sehr teure An- den. Denn man muss wissen, dass der Bund letztendlich gelegenheit wird. nur 8,5 Prozent der Endgeräte betreibt. An dieser Mess- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten latte müssen wir uns bei der Verteilung der Kosten ori- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) entieren. (D) Deswegen ist es dringend notwendig, dies zu tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/ Meine Damen und Herren, ich sage hier auch ganz CSU]: Nein! So ist es nicht!) deutlich: Die Bundesregierung, der Bundesinnenminis- ter hat auf diesem Gebiet bisher eine vorzügliche Arbeit Ich sage noch einmal ganz deutlich: Sie gehen in einer auch in der Vorbereitung der Ausschreibungsunterla- unverantwortlichen Art und Weise mit Bundesinteressen gen geleistet. Da gibt es überhaupt nichts zu meckern. um. Das sage ich Ihnen ganz deutlich. Der zweite Punkt ist – das ist Ihnen wohl entgangen –, Im Übrigen geht das nur miteinander, denn dieses dass es auch unter den Bundesländern selbst eine heftige System und seine Einführung sind eine Bund-Länder- Debatte über die Kostenverteilung gibt, denn wir haben Sache. Es gibt 17 Beteiligte. Wir sind übrigens der Auf- es auf der einen Seite mit Flächenstaaten zu tun und auf fassung, dass der Langsamste hierbei nicht das Tempo der anderen Seite mit Stadtstaaten. Wenn Sie sich ein- bestimmen darf. mal mit dieser Frage auseinander setzen würden, dann würden Sie wissen, welch eine schwierige Situation für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Technikentscheidung diesbezüglich entsteht, denn des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tetra Pol ist mehr für die Fläche und Tetra mehr für städ- Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ihr seid doch tische Regionen geeignet. Da gibt es einen Konflikt und die Langsamsten!) den kann beispielsweise der Bundesinnenminister auch Wir werden auch – das ist an diesem Punkt schon ein- nicht par ordre du mufti lösen, sondern die Länder müs- mal deutlich gesagt worden – den Verpflichtungen nach- sen sich verständigen, wie sie mit dieser Frage umgehen. kommen, die für den Haushalt 2004 anstehen werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir werden auch den Verpflichtungen nachkommen, die DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler sich für die Haushaltsjahre 2005 und 2006 ergeben wer- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das versteht den. Denn wir sind der Auffassung, dass es notwendig die CDU nicht!) ist, dieses System einzuführen. Ich möchte auch keine Abstriche an der Technik machen. Ich finde schon, meine Damen und Herren von der Op- position, Sie sollten versuchen, mit diesem Thema etwas Richtig ist, dass es in diesem Bereich Kommunikati- sachlicher umzugehen und nicht reflexartig Schuldzu- onsprobleme technischer Art gibt. Das haben Großscha- weisung zu betreiben. Schauen Sie sich an, wie die Ent- denslagen eindeutig gezeigt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5403

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) Genauso wichtig ist, denen, die nicht so in der Mate- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei (C) rie stehen, noch einmal deutlich zu machen, dass man der SPD) das nicht einfach per Handy über die entsprechenden Netze machen kann, sondern dass wir für diesen Sicher- weil wir keinen Digitalfunk bekommen werden, auch heitsbereich eine entsprechende Technik, die uns auch nicht im Jahr 2010. zur Verfügung steht, einführen und nutzen müssen. Deshalb fordere ich Sie, Herr Staatssekretär Körper, Dies sollten wir anpacken. Wenn Sie die Gelegenheit auf: Zwar muss vonseiten der Länder Bewegung in das haben, in diesen Bund-Länder-Diskussionsprozess wer- Vorhaben kommen, aber auch vonseiten des Bundes. Sie bend einzuwirken, will ich Ihnen dazu gratulieren. Tun müssen mehr als 10 Prozent der Kosten übernehmen, Sie das! Ich bin der Auffassung, dass dieses Thema nicht sonst kommen wir keinen Schritt weiter. Diese Entschei- dafür geeignet ist, sich parteipolitisch zu streiten. dung kann nur der Bund treffen. Dafür müssen Sie sor- gen, sonst werden wir den Digitalfunk nie bekommen. Schönen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten neten der FDP) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Staatssekretär, möchten Sie auf die Kurzinter- Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete vention eingehen? Binninger das Wort. Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- Clemens Binninger (CDU/CSU): desminister des Innern: Herr Kollege Körper, ich weiß nicht, was Sie errei- Ich sehe keine Veranlassung dazu. chen wollen, wenn Sie eine Debatte mit dem Satz eröff- nen: Sie haben alle keine Ahnung. Das bringt uns nicht (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Jetzt ist er be- weiter. leidigt!)

Wir waren uns darüber einig, dass wir den Digital- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: funk brauchen und dass der Analogfunk veraltet ist. Wir waren uns darüber einig, dass wir ihn bald brauchen. Der Das steht jedem frei und es verkürzt auch unsere Sit- einzige Streitpunkt, in dem 16 Länder, egal wie regiert, zungsdauer etwas. Ich schließe damit die Aussprache. (B) (D) dem Bund gegenüberstehen, ist die Finanzierung. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- Wenn Sie sagen, es gehe um 8,5 Prozent Endgeräte, schusses auf Drucksache 15/1260 zu dem Antrag der muss ich Ihnen vorhalten, dass Ihre Ahnung nicht allzu Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ausschreibung groß ist. Bei den Kosten geht es nämlich zunächst um des BOS-Digitalfunks im Jahr 2003 einleiten“. Der Aus- das Netz. Da spielt die Zahl der Endgeräte noch keine schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/816 ab- Rolle. Die Bundesdienststellen haben mehr Vorteile von zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung diesem Netz, weil sie dann durch das gesamte Netz mit- des Ausschusses? – Die Gegenprobe! – einander funken können. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist aber (Beifall bei der CDU/CSU) die Mehrheit! Eine qualifizierte Mehrheit!) Der zweite Punkt betrifft die Summen, die hier im – Nein. – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Raume stehen. Sie sagen, wir würden unverantwortlich mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die handeln, wenn wir dem 50:50-Prozent-Finanzierungs- Stimmen der Opposition angenommen. vorschlag der Länder näher träten. Einmal davon abge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: sehen, dass Kollege Göbel das zu keinem Zeitpunkt ge- macht hat, dass aber in diese Sache Bewegung kommen Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- muss, muss ich Ihnen sagen: Wenn Sie einen 50-prozen- gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur tigen Anteil übernehmen würden, müssten Sie pro Jahr Änderung des Filmförderungsgesetzes für ein modernes Funksystem der Polizei und des BGS – Drucksache 15/1506 – 0,1 Prozent des Bundeshaushaltes investieren. 0,1 Pro- zent sind Ihnen zu viel? Das glaubt Ihnen in der Öffent- Überweisungsvorschlag: lichkeit niemand mehr. Ausschuss für Kultur und Medien (f) Innenausschuss Ich will Ihnen aber sagen, wer blockiert. Es blockie- Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ren nicht die Länder, sondern es blockieren zwei Perso- nen. Die eine will nicht, Finanzminister Eichel, und die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die andere kann nicht, Innenminister Otto Schily. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich prophezeie Ihnen schon jetzt etwas: Wenn Otto Schily so weitermacht, kann er bald zu Recht der Ich eröffne die Aussprache und erteile der Staatsmi- Manfred Stolpe der Innenpolitik genannt werden, nisterin Christina Weiss das Wort. 5404 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- Die Kinoförderung – vielleicht hören Sie hier mit beson- (C) kanzler: derer Aufmerksamkeit zu – wird um 20 Prozent auf über 4 Millionen Euro aufgestockt. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Good bye, Lenin!“ ist ein Film, wie man ihn in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland gemeinhin nicht erwartet: erfolgreich im DIE GRÜNEN) Kino, beliebt beim Publikum, lukrativ für den Exporteur, wegen seiner künstlerischen Qualität preisgekrönt und Drittens. Da der deutsche Film international zu be- Oscar-nominiert, aber dennoch staatlich gefördert. Er ist scheiden auftrifft, wollen wir mit unserer Novelle dafür ein Paradebeispiel unserer Filmförderung, die wir mit sorgen, dass unsere Produktionen im Ausland bekannter dem heute eingebrachten Gesetzentwurf noch maßge- werden. Mit „Nirgendwo in Afrika“ und mit „Good bye, schneiderter, effektiver und leistungsstärker machen Lenin!“ ist das gelungen. Die jüngste Erfolgsmeldung wollen. kommt übrigens aus Frankreich. Dort hat „Good bye, Lenin!“ am ersten Wochenende 120 000 Besucher in die Denn der Erfolg von „Goodbye, Lenin!“ darf uns Kinos gelockt. nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Lage der deutschen Filmwirtschaft seit der letzten Gesetzesno- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE velle 1998 zugespitzt hat. Sie alle kennen die Ursachen GRÜNEN und der FDP – Horst Kubatschka dafür: Die Börsen – vor allem der Neue Markt – haben [SPD]: Was würden wir nur ohne Lenin ma- eine schmerzliche Talfahrt hinter sich. Das Eigenkapital chen!) der Produzenten stagniert bei steigenden Produktions- Unser Ziel ist, diesen Erfolg für den Ausbau des Filmex- kosten. Viele Fernsehveranstalter verzichten auf Spiel- portgeschäftes zu nutzen. filmproduktionen, während ihre Kosten für Werbung und Filmkopien in den letzten Jahren auf mehr als das Das alles ist nur möglich, wenn wir die Mittel für die Doppelte gestiegen sind. Kurz: Das risikoreiche Filmge- Filmförderungsanstalt erhöhen. Niemand hätte es ge- schäft ist zu einer Kletterpartie mit erhöhter Absturzge- glaubt, dass es meinem Haus und mir in diesen schwieri- fahr geworden. gen Zeiten gelingen wird, die finanzielle Basis der Filmförderungsanstalt um rund 40 Prozent aufzusto- Das kann uns nicht gleichgültig sein. Immerhin be- cken, also von 46,2 Millionen Euro auf 64,7 Millionen Euro. schäftigt die Filmwirtschaft in mehr als 8 000 Unterneh- Doch genau das ist gelungen. men rund 150 000 Menschen und hat trotz aller Pro- bleme noch immer ein überproportional großes (Beifall bei der SPD – Bernd Neumann [Bre- Wachstumspotenzial von gut 6,6 Prozent. men] [CDU/CSU]: Die Rechnung zahlen aber (B) andere, nicht Sie!) (D) Meine Damen und Herren, wir sind uns sicherlich da- rin einig, dass wir auch in der Filmbranche einen enor- Ich danke an dieser Stelle ganz besonders den Fernseh- men Reformstau aufzulösen haben. Deshalb konzen- veranstaltern, die ihre Leistungen verdoppeln werden triert sich der vorliegende Gesetzentwurf sowohl auf die und künftig rund 22,4 Millionen Euro zur Verfügung stellen werden. Diese Verdoppelung entspricht bei den Verbesserung des Fördersystems als auch auf die Stär- öffentlich-rechtlichen Veranstaltern etwa 7 Prozent des kung dessen finanzieller Basis. Kinofilmetats. Sie sind also faire Verhandlungspartner. Ich möchte drei Punkte hervorheben: erstens den Aus- Da diese Summe nicht ausreichen würde, um unser bau der Referenzfilmförderung. Auch wenn er Ihnen ambitioniertes Ziel zu erreichen, sieht die Novelle auch bekannt ist, so muss dieser Begriff doch immer wieder eine maßvolle Erhöhung – ich betone: maßvolle – der erklärt werden. Dahinter verbirgt sich ein Bonussystem Film- und Videoabgabe vor. Wie Sie wissen, gibt es für Produzenten, denen es gelungen ist, wirtschaftlich darüber derzeit Unmut bei den Kinobetreibern, aber und künstlerisch erfolgreich zu arbeiten auch eine Reihe von Missverständnissen. Worum geht es (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) wirklich? Es geht um eine Abgabe, die wir um genau 3 Cent – ich betone: 3 Cent – pro verkaufter Kinokarte und die in der Lage sind, Publikum ins Kino zu locken erhöht haben. Davon zahlen die Kinobetreiber etwa die oder auf Filmfestivals künstlerisch zu reüssieren. Hälfte. Die andere Hälfte zahlen die Verleiher. 1,5 Cent mehr für die Zukunft des deutschen Films nenne ich mo- Zweitens. Das neue Filmförderungsgesetz wird die derat. Ich glaube nicht, dass man deswegen unsere Ver- Förderstruktur neu gewichten. Die Mittel für die Ab- fassungsrichter bemühen muss, wie das manche planen. satzförderung steigen um 110 Prozent auf 14,5 Millio- nen Euro. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum Vergleich: In Frankreich beträgt die Abgabe auf jede verkaufte Kinokarte 11 Prozent. Wir erreichen Die Produktionsförderung erhält 40 Prozent mehr Geld, – und das nach der Anhebung – gerade einmal also 17,5 Millionen Euro. 2,7 Prozent vom Bruttoumsatz. Vergessen Sie nicht: Die Kinoabgabe ist das Herzstück der Filmförderung in ganz (Beifall bei der SPD) Europa! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5405

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung. jetzt feststellen, dass die Antwort der Bundesregierung (C) Obwohl wir mit der FFG-Novelle die wirtschaftlichen – das werden Sie dann auch noch von der Filmwirtschaft Instrumente der Filmförderung im Blick haben, wird hören – völlig unbefriedigend ist. Das heißt, die verspro- sich mein Haus weiterhin auch und gerade denjenigen chene Lösung der für die Filmwirtschaft entscheidenden Filmen widmen, die künstlerisch besonders ambitioniert Probleme bleibt weiterhin offen. und innovativ sind und die nicht immer auf Anhieb ein großes Publikum erreichen können. Wie Sie wissen, Ich komme nun zum Filmförderungsgesetz, das im kann nicht jeder gute Film ein Kassenschlager werden. ganzen System der Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr als Mit unserer Gesetzesnovelle wollen wir aber dafür sor- eine Säule darstellt. Lassen Sie mich hier eine grundsätz- gen, dass Kassenschlager in jedem Fall auch gute Filme liche Bemerkung machen, auch wenn ich meinen Kolle- sind. Unterstützen Sie uns bitte dabei! gen Otto von der FDP damit erneut provoziere: Ohne Förderung, die im Übrigen zu einem beträchtlichen Teil Vielen Dank. von der Filmwirtschaft selbst und – das gilt für den größ- ten Anteil – von den Bundesländern getragen wird, gäbe (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es den deutschen Kinofilm praktisch nicht. DIE GRÜNEN) (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wahr!) Danke schön. – Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Da es sich beim Kinofilm um ein wichtiges öffentliches Bernd Neumann. Kulturgut handelt, ist die öffentliche Förderung wie bei anderen Kulturgütern voll berechtigt. Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): Vergleichen wir die jährliche Zahl der Kinobesucher, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die die sich deutsche Filme anschauen, mit der Zahl der Lage des deutschen Films mit einem durchschnittlichen Theaterbesucher in Deutschland: Sie ist mit circa Marktanteil zwischen 10 und 15 Prozent in den Kinos ist 20 Millionen in etwa gleich. Vergleichen wir allerdings nach wie vor unbefriedigend. die öffentlichen Subventionen, so ist die Summe der (Horst Kubatschka [SPD]: Das spricht für För- Subventionen für die Theater in Deutschland mit circa derung!) 2 Milliarden Euro um ein Vielfaches höher als die Summe von knapp 150 Millionen Euro für den deut- Darüber können auch die beiden letzten großen Einzeler- schen Film. Ich sage nicht, dass die Theater genug Geld folge – der Oscar für „Nirgendwo in Afrika“ und die haben; ich mache nur deutlich, dass die These, die deut- (B) 6 Millionen Zuschauer, die „Good bye, Lenin!“ gesehen sche Filmwirtschaft werde über Gebühr subventioniert, (D) haben – nicht hinwegtäuschen. Frau Weiss selbst hat so- angesichts anderer Subventionen nicht richtig ist. eben festgestellt, dass sich die Lage der deutschen Film- wirtschaft zuspitze. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nun soll mit der Novellierung des Filmförderungsge- Der vorliegende Gesetzentwurf, den Sie preisen setzes – so Ihre Aussagen, Frau Weiss – ein neuer Schub – dazu sind Sie allein qua Amt verpflichtet –, enthält für den deutschen Film erfolgen. Vorweg muss man erst Licht und Schatten. einmal feststellen, dass die Hauptprobleme des deut- (Horst Kubatschka [SPD]: Sind Sie für die schen Films weniger in der Filmförderung als vielmehr Schatten zuständig?) in den darüber hinausgehenden Rahmenbedingungen für Filmproduzenten liegen, die in Deutschland deut- Frau Weiss, ich stelle deswegen fest: Es ist nicht der lich schlechter sind als in vielen anderen Ländern. Stich- große Wurf; aber er kann es in Anbetracht objektiver worte wie „Behinderung internationaler Koproduktionen Tatbestände wahrscheinlich auch nicht sein. Positiv ist durch den Medienerlass des BMF“, „unzureichende Fi- unter anderem zu erwähnen, dass die Kapitalkraft von nanzierung deutscher Produktionen aus Medienfonds“, Produzenten mit dem neuen Gesetz gestärkt wird. Es „Vernachlässigung von Interessen der Filmwirtschaft im gibt Möglichkeiten längerfristiger Kapitalaufstockung Zusammenhang mit dem Urheberrecht“ und „fehlende durch die FFA. Außerdem gibt es Zwischenfinanzie- steuerliche Anreize“ rufen in Erinnerung, dass die von rungsgarantien. Das alles sind sehr wichtige Instru- der Bundesregierung – unter anderem in mehreren mente, die den Produzenten das Leben erleichtern. Bündnissen für den Film – seit langem zugesagten Ver- Die Reduzierung des Rechterückfalls im Verhältnis besserungen bisher nicht eingetreten sind. Dabei sind von Fernsehen und Produzenten von sieben auf fünf nach meiner Meinung die internationale Wettbewerbsfä- Jahre ist ebenfalls zu begrüßen. Allerdings höre ich, dass higkeit des deutschen Films und die von mir genannten sich die privaten Fernsehanstalten dagegen noch wehren; Punkte viel wichtiger als die Änderung von Paragraphen insofern müssen wir sehen, was daraus wird. Zu bedau- im Filmförderungsgesetz. ern ist auch – das werden Sie gleichermaßen tun –, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das nur für von der FFA geförderte Filme gilt, nicht für die anderen. Aber immerhin: Dies ist besser als gar Im Übrigen hat meine Fraktion diese Rahmenbedin- nichts. gungen zum Gegenstand einer Großen Anfrage ge- macht; die Antwort darauf liegt jetzt vor. Obwohl die Nun zu den Mittelerhöhungen: Staatsministerin Weiss Debatte erst im November stattfindet, möchte ich bereits stellte eben als besonderen Erfolg heraus, dass das 5406 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Bernd Neumann (Bremen) (A) Fördervolumen der Filmförderungsanstalt voraus- wird aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten der pri- (C) sichtlich um über 40 Prozent erhöht werde. Unabhängig vaten Sender nicht möglich sein. Deshalb soll ihr Beitrag davon, ob diese Erhöhung am Ende tatsächlich erreicht durch Sachleistungen, das heißt durch Werbung für Ki- wird – ich bezweifele das –, muss ganz sachlich festge- nofilme, erbracht werden. Aber die Konkretisierung ist stellt werden, dass dies wahrlich keine besondere Leis- bisher nicht erfolgt. Im Übrigen: Diese Summe, die in tung der Bundesregierung darstellt, sondern dass im We- Form von Werbung geleistet wird und nicht in Form von sentlichen andere – per Gesetz oder per Vertrag – dazu Fördermitteln fließt, haben Sie bei der Erhöhung gleich angehalten werden, mehr zu zahlen, damit mehr in die mit eingerechnet. Kasse kommt. Ich finde das nicht schlecht; aber es ist keine besondere Leistung der Bundesregierung, wenn Abschließend will ich Ihnen noch etwas sagen, liebe andere mehr zahlen. Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Par- tei, die Sie ja den Beitrag der Staatsministerin pflichtge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mäß mit Beifall bedacht haben. Monika Griefahn [SPD]: Die Frage ist doch, wer das organisiert!) (Horst Kubatschka [SPD]: Sie haben doch auch etwas gelobt!) Im Gegensatz zum Fernsehen, das seinen Beitrag zur Filmförderung im Rahmen einer so genannten freiwilli- – Ich habe das gar nicht kritisiert. Wenn Sie Ihre Pflicht gen Vereinbarung erbringt, müssen Kino- und Video- erfüllen, ist das gut. wirtschaft eine gesetzlich fixierte Abgabe leisten. Es ist (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das ist Nei- nachvollziehbar, dass die Ungleichbehandlung zuguns- gung, nicht Pflicht!) ten des Fernsehens von der Filmwirtschaft beklagt wird. Sie haben das jüngste Gutachten des HDF angesprochen. – Gut. – Wenn man bedenkt, dass der Vorgänger von Darin wird diese Praxis sogar als verfassungswidrig fest- Frau Weiss – Sie erinnern sich vielleicht gar nicht mehr gestellt. Ich will das jetzt aber nicht im Einzelnen wer- an ihn; ten. – Umso wichtiger ist es deshalb, dass der so ge- nannte freiwillige Beitrag der Fernsehanstalten in einem (Horst Kubatschka [SPD]: Den kennen wir angemessenen Verhältnis zu der Höhe der Zwangsab- alle noch!) gabe der Kino- und Videowirtschaft steht. sie hatte ja mehrere Vorgänger –, Staatsminister Nida- Nach dem durch Staatsministerin Weiss veröffentlich- Rümelin, noch in seinem Zwischenbericht des letzten ten Verhandlungsstand – das haben wir noch nicht Jahres davon ausging, dass das Fernsehen circa (B) schriftlich; sie hat es eben noch einmal mündlich darge- 40 Millionen Euro zusätzlich erbringen soll – jetzt sollen (D) stellt – sieht es so aus, dass der öffentlich-rechtliche es 5,5 Millionen mehr sein –, relativiert sich das jetzige Rundfunk seinen jährlichen Beitrag von zurzeit Verhandlungsergebnis. 5,5 Millionen Euro ab 2005 verdoppeln will. Einerseits ist erfreulich, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk Ganz wichtig ist – ich hoffe, da sind wir uns einig –, überhaupt zu einer Erhöhung seines Beitrags veranlasst dass das Verhandlungsergebnis in jedem Fall verankert, werden konnte – das haben Sie, Frau Weiss, durch Zä- per Unterschrift besiegelt werden muss, bevor wir die higkeit in den Verhandlungen sicherlich ein Stück mit Änderung des Filmförderungsgesetzes verabschieden, bewirkt –, andererseits ist die Summe von damit auch jeder sichergehen kann, dass die Leistungen 11 Millionen Euro, selbst wenn man die höheren Leistun- erfolgen. gen des Fernsehens bei den Filmförderungen der Län- der einbezieht, im Hinblick auf die jährliche Gebühren- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und einnahme von 6,5 Milliarden Euro der FDP) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Kärg- In der neuen Fassung des FFG ist eine Erhöhung der lich!) Abgabe der Kino- und Videowirtschaft festgelegt, zum Teil um bis zu 33 Prozent. Sie sagen: 3 Cent pro Ki- verschwindend gering, wenn man bedenkt, in welch ho- nokarte ist nicht viel. – Wenn man die Gesamtsumme in hem Maße das Fernsehen vom deutschen Kinofilm pro- Millionen oder auch den Einzelfall betrachtet, beträgt fitiert. Deshalb habe ich volles Verständnis, wenn die die Erhöhung aber 33 Prozent. Das macht wohl insbe- Kino- und Videowirtschaft den Beitrag des Fernsehens sondere den vielen kleinen und mittelständischen Kino- im Verhältnis zu ihrem Beitrag, auch nominal, nicht für betreibern sehr zu schaffen, die sich aufgrund der derzei- ausreichend hält. Auf keinen Fall – da sind wir uns tigen Entwicklung ohnehin in einer Existenzkrise einig – kann die Wiedereinführung der Fernsehbindung befinden. Frau Weiss, wenn Sie den heutigen Wirt- der Abgaben von ARD und ZDF – das Geld wird indi- schaftsteil der „Welt“ lesen, dann stellen Sie fest, dass rekt letztlich nur für das Fernsehen ausgegeben – akzep- selbst ein großer Kinobetreiber in Bedrängnis gerät. Es tiert werden. kann nicht der Sinn sein, durch die Erhöhung der Ab- gabe dazu beizutragen, dass insbesondere in kleinen und Das Ergebnis der Verhandlungen mit den privaten mittleren Städten der ohnehin stattfindende Prozess des Fernsehanstalten, Frau Weiss, ist im Augenblick noch Kinosterbens noch gefördert wird. Deswegen werden völlig vage. Normalerweise müssten diese ihren Beitrag wir, auch bei dem Hearing, sehr sorgsam darauf achten, von jetzt 5,5 Millionen Euro ebenfalls verdoppeln. Dies dass das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5407

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine letzte Bemerkung zur Referenzförderung: Die (C) Herr Kollege Neumann, gestatten Sie eine Zwischen- vorgesehene Veränderung bei der Referenzförderung ist frage der Kollegin Griefahn? prinzipiell zu begrüßen. Dass dabei insbesondere die den Zuschauererfolg ergänzenden Kriterien wie Festivaler- folge berücksichtigt werden sollen, ist gut. Die Einbezie- Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): hung der Prädikate der Filmbewertungsstelle – Frau Das wird mir ja von der Redezeit nicht abgezogen. Kollegin Schröter, wir haben schon einmal darüber ge- sprochen –, die den kulturellen Aspekt der Filmförde- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rung besonders garantiert, sollte aus unserer Sicht beibe- Nein, nein. Wir stoppen das ganz präzise. halten und nicht abgeschafft werden. (Horst Kubatschka [SPD]: Das müssten Sie ei- Wenn auch bei der Referenzförderung die Einbezie- gentlich wissen, Herr Kollege!) hung kultureller Kriterien außerordentlich wichtig ist, so muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Referenzförderung primär wirtschaftliche Filmförderung Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): ist, bei der der Zuschauererfolg honoriert werden soll. Manches vergisst man, Herr Kollege. Insofern ist die Überlegung richtig, die Schwelle bei der Referenzförderung zu erhöhen. Wir müssen aber wäh- Monika Griefahn (SPD): rend des Hearings da noch einmal nachfragen. Ich höre, dass die große Mehrheit der Branche dieser Erhöhung Lieber Herr Kollege Neumann, sagen Sie doch bitte, kritisch gegenübersteht; insbesondere die Kreativen be- wie Sie auf diese 33 Prozent kommen. Selbst mit den al- fürchten, dass sie dann nicht ausreichend Förderung be- lertollsten Rechenkünsten kann ich nicht auf eine Erhö- kommen. hung von 33 Prozent pro Kinokarte kommen, nicht ein- mal bei mittelständischen Kinos. Ich wohne in einer Weil meine Redezeit zu Ende geht, möchte ich einen Kleinstadt, in der es zu meiner Freude noch ein Kino letzten Satz sagen: Meine Damen und Herren, es sind gibt. Da kostet der Eintritt etwa 8 Euro. Wenn ich 3 Cent noch eine Reihe von Einzelfragen zu klären. Wir werden aufschlage, komme ich nie und nimmer auf 33 Prozent. das beim Hearing am 15. Oktober tun. Ziel sollte es sein, Da wird der Kartenpreis nicht gleich um 3 Euro erhöht am Ende das neue Filmförderungsgesetz ausschließlich werden. unter Sachgesichtspunkten und ebenso wie das letzte mit großer Mehrheit zu beschließen. Ein von breiter Mehr- Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): heit getragenes Fundament für die Filmförderung der nächsten fünf Jahre wäre der beste Dienst, den wir dem Sehen Sie, Frau Kollegin, ich habe nur die Abgabe (B) deutschen Film erweisen können. Wir sind dazu bereit. (D) gemeint, Sie aber haben die Erhöhung auf die ganze Ki- nokarte bezogen. Nach den Grundrechenarten kann man (Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka nur die Summe als Bezug nehmen, um die es geht. So ist [SPD]: Das war zwar ein langer letzter Satz, es überhaupt nicht streitig – auch Frau Weiss wird es aber auch ein guter!) nicht bestreiten –, dass Ihr Vorhaben dazu führt, dass die Abgabe, deren Höhe jetzt zwischen 1,5 und 2 Prozent Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: liegt, um 1 Prozentpunkt steigt. Das entspricht einer Er- höhung der Abgaben um bis zu 33 Prozent. Ihren Kolle- Über die letzten Sätze in Parlamentsreden könnte man gen, die jetzt nicken, bin ich dankbar, dass sie meine auch einmal eine Doktorarbeit schreiben. Da gibt es Aussage bestätigen. viele Varianten. (Monika Griefahn [SPD]: Das war nicht klar! (Horst Kubatschka [SPD]: Die Redner haben Aber man muss doch ganz deutlich sagen, dass alle Kleist gelesen!) das nicht existenzbedrohlich ist.) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Claudia Roth. – Das sagen Sie. Ihre Frage habe ich damit beantwortet. Ich will jetzt nicht viel zu den Gremien sagen, Frau Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Weiss. Vor fünf Jahren haben wir in Bonn im Plenum NEN): ebenfalls das Filmförderungsgesetz diskutiert und waren Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! uns einig, dass die Gremien eher verschlankt werden „Mocca-Fix? – Ham wa nich mehr. – Filinchen-Knäcke? – sollten, indem die Zahl der Mitglieder verringert wird. Nicht mehr im Angebot. – Und Spreewaldgurken? – Mit dem, was jetzt vorliegt, wird an manchen Stellen lei- Mensch, Junge, wo lebst du denn? Wir haben jetzt die D- der das Gegenteil bewirkt. Sie wollen einen Filmrat ein- Mark und da kommst du mir Mocca-Fix und Filinchen!“ führen. Es gibt schon genug Räte im Bereich des deut- – Erkannt? Ja, das war aus „Good bye, Lenin!“, dem schen Films; das ist überflüssig. Sie wollen die deutschen Erfolgsfilm des Jahres, gefördert von der Gremienzahl erhöhen. Wir werden darüber im Einzelnen Filmförderungsanstalt. im Ausschuss reden. Ich halte es für falsch, in Zeiten, da „Katharina die Große hetzt während der Proben zu ih- man über Entbürokratisierung und Entschlackung von rem eigenen Theaterstück umher; die Familie des letzten Gremien spricht und es eine Krise in der Filmwirtschaft Zaren sitzt – unbeirrt von der heranrollenden Revolution – gibt, nun noch die Zahl der Gremien zu erhöhen. gemeinsam am Tisch und diniert; Hunderte von Gästen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tanzen Walzer beim letzten großen königlichen Ball von 5408 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Claudia Roth (Augsburg) (A) 1913 …“ Kommt Ihnen diese Szene auch bekannt vor? Aus den Reihen der Filmwirtschaft gibt es Bedenken (C) Wahrscheinlich nicht so bekannt wie die aus „Good bye, gegenüber der Novelle, die wir ernst nehmen. Wir sind Lenin!“. Sie stammt aus „Russian Ark“ vom russischen mit den Betroffenen im Dialog über die Referenzförde- Regisseur Alexander Sokurov, produziert von der deut- rung, über Leistungskriterien, über die Bewertung von schen Egoli-Tossell-Film aus Berlin, gefördert von Festivals, über die Rolle und den Beitrag des Fernse- – richtig! – der Filmförderungsanstalt. hens. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ach Auch wir haben noch Kritikpunkte: wie schön!) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Dann machen Was mich – wie Christina Weiss – aber besonders Sie doch was daraus!) freut, ist der große Erfolg von beiden Produktionen im Ausland. Deutsche Filmplakate auf den Champs-Élysées Während Produzenten, Filmtheater oder die Videowirt- und gemeinsame Produktionen mit Russland sind bis- schaft gleich mit mehreren Verbänden im Aufsichtsrat lang ein eher seltenes Bild. Das gilt auch für die Pre- der Filmförderungsanstalt vertreten sind, sind weder miere von „Luther“ in den USA in dieser Woche. Von der Verband Deutscher Drehbuchautoren noch der Bun- solchen Ereignissen brauchen wir mehr. Wir wünschen desverband der Fernseh- und Filmregisseure in Deutsch- uns deutsche Filme, die mitten ins europäische und auch land oder die Kurzfilmer dort mit Sitz und Stimme ver- ins außereuropäische Herz treffen. treten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ja, und bei der SPD) machen wir das Gremium noch größer!) Der Erfolg macht deutlich, dass wir uns mit diesen Diese Erweiterung des Aufsichtsrats – dabei geht es um wunderbaren Filmen im internationalen Vergleich Kreativität, Herr Otto – erscheint uns sinnvoll und drin- nicht zu verstecken brauchen. „Nirgendwo in Afrika“ gend nötig. Das erscheint uns jedenfalls sinnvoller als und „Rosenstraße“, übrigens von zwei Regisseurinnen, die Schaffung eines neuen Gremiums wie des geplanten seien hier stellvertretend als weitere Beispiele genannt. Deutschen Filmrats. Dennoch gibt es große Probleme in der Branche. Es Insgesamt, denke ich, konnten wir einen ausgewoge- besteht Reformbedarf. Der deutsche Film braucht – da nen Entwurf vorlegen, der vor allem dem deutschen sind wir uns alle einig – eine starke regionale und bun- Film nachhaltig zugute kommt. desweite Förderung, um sich im Wettbewerb mit interna- tionalen Produktionen messen zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit wir auch künf- tig „Good bye, Lenin!“ sagen können, einen „impotenten (B) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Mann fürs Leben“ suchen dürfen und „Der alte Affe (D) DIE GRÜNEN und der SPD) Angst“ und „Herr Wichmann von der CDU“ uns genauso Mit der anstehenden Novellierung des Filmförde- begegnen wie „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“, rungsgesetzes wollen wir die Chancen des deutschen brauchen wir ein Filmförderungsgesetz, das Außenseiter Films im internationalen Wettbewerb verbessern und genauso fördert, wie es Publikumserfolge belohnt. Dafür eine positive Außendarstellung erreichen. Mit einer ver- werden wir sorgen. stärkten Referenzförderung werden wir wirtschaftli- Lassen Sie mich an dieser Stelle explizit Christina chen Erfolg und Auszeichnungen bei Festivals zukünftig Weiss für ihre nachhaltige, konsequente, manchmal stärker berücksichtigen. Wir sind uns wohl der Schwie- zähe, kompetente Leidenschaft für den deutschen Film rigkeit bewusst, die Balance zwischen dem künstle- danken. rischen und dem wirtschaftlichen Erfolg eines Filmes zu halten. Ökonomische Faktoren dürfen beim Kunstwerk (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Film nicht den künstlerischen Anspruch verdrängen. Sie und bei der SPD) sind aber auch nicht zu ignorieren. Sie stehen auch nicht notwendigerweise im Widerspruch dazu. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Deshalb haben wir in dem vorliegenden Gesetzent- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim wurf dafür gesorgt, dass insbesondere Erstlings-, Doku- Otto. mentar- und Kinderfilme weiterhin breit in den Genuss von Fördermitteln kommen. Darüber, ob die Zahlen nun (Beifall bei der FDP) der Weisheit letzter Schluss sind, kann man sicher noch einmal reden; hier sehe auch ich noch Beratungsbedarf. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Ich denke, dass zum Beispiel auch beim Kurzfilm noch Liebe Frau Kollegin Roth! Schon die Kürze der mir nachzubessern ist. zur Verfügung stehenden Zeit – drei Minuten – verbietet Eine vielfältige Filmförderung ist für uns bei der es mir, diese Eloge auf die Filmförderung fortzusetzen. FFG-Novelle wichtig und steht weiterhin im Vorder- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE grund. Aber Filmförderung braucht Geld. Deswegen GRÜNEN]: Schade!) freue ich mich, dass insgesamt mehr Geld für die Film- förderung bereitgestellt wird. Das Fördervolumen der Das wäre auch der Rolle der FDP und meiner Person in Filmförderungsanstalt steigt insgesamt um 40 Prozent. der Filmpolitik nicht zuträglich. Aber um die Feier- Das ist für die Branche ein wichtiges Signal. stunde für den deutschen Film hier nicht zu stören, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5409

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) möchte ich ausdrücklich erklären, dass drei der vier das Bündnis für den Film, die Filmakademie, die FFA (C) Ziele, die die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf usw. Jetzt kommt dieses tolle Gremium hinzu. Da fragt verfolgt, auch von uns unterstützt werden: sich der geneigte Leser: Was soll denn das? (Zurufe von der SPD: Oh!) Im Gesetzentwurf steht: die Verbesserung der Außenrepräsentanz, die Neuge- Der Deutsche Filmrat hat insbesondere die Auf- wichtung der Förderungsbereiche und vor allen Dingen gabe, grundsätzliche Fragen der Filmpolitik und der die Verbesserung des Förderungssystems. öffentlichen Förderung des deutschen Films zu be- raten … (Horst Kubatschka [SPD]: Aber?) – Jetzt kein Aber. Meine Damen und Herren, das ist unsere Aufgabe hier im Parlament. Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen. Das Letzte – die Verbesserung des Förderungssys- Wir können sie nicht an irgendeinen Filmrat delegieren. tems – ist am wichtigsten. Die stärkere Gewichtung der Referenzfilmförderung – Frau Dr. Weiss hat darauf hin- 17 Mitglieder soll der Filmrat haben. Der Deutsche gewiesen – belohnt den Erfolg und ist sozusagen ein Bundestag, der zuständig wäre, benennt ein einziges: ei- marktwirtschaftliches Element. Wir Liberalen sind na- nen Jubelperser von der Koalition. türlich immer für eine Stärkung des Marktes. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP) GRÜNEN]: Nichts gegen Perser!) Meine Damen und Herren, hier setzt meine konstruk- Nicht einmal die Opposition ist vertreten. Und da sollen tive Kritik ein. Wie man das vierte Ziel – die Erhöhung die „grundsätzlichen Fragen der Filmpolitik“ geklärt der Einnahmen der FFA, also die Erhöhung der Umla- werden! gen, der Subventionen – damit verbinden will, ist schon Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grü- erstaunlich. Mehr Markt durch höhere Subventionen – nen, lassen Sie uns diese Tendenz der Entparlamentari- das hört sich fast so an, als wollte man den Teufel mit sierung stoppen! dem Beelzebub austreiben. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Bernd (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Ist der Neumann [Bremen] [CDU/CSU]) Markt der Teufel oder der Beelzebub?) Wir sind für die Bedingungen des deutschen Filmes ver- Das geht schlecht zusammen. antwortlich. Wir müssen uns dem stellen. (Beifall bei der FDP) (B) Liebe Frau Präsidentin, da meine Redezeit zu Ende (D) Wir alle wollen den deutschen Film fördern. Aber wir ist, mein letzter Satz: Auch wir Freien Demokraten wer- können doch nicht jedes Mal 50 Prozent mehr Subven- den unseren Beitrag in der Debatte leisten, um den deut- tionen verteilen. Sie haben „Good bye, Lenin!“ und an- schen Film zu stärken. Wir werden uns konstruktiv an dere Filme erwähnt. Der Erfolg des deutschen Filmes den Debatten und insbesondere an der Anhörung am wächst aber nicht mit der Höhe der Subventionen; das ist 15. Oktober beteiligen. Am Ende werden wir sehen, ob leider nicht der Fall. wir das große Ziel erreichen: einen gemeinsamen, von allen Fraktionen getragenen Gesetzentwurf. Wir sind zu Wir haben inzwischen eine Förderhöhe – Frau dieser Auseinandersetzung und dieser konstruktiven Zu- Griefahn, wenn Sie mir Ihr geschätzes Ohr leihen wür- sammenarbeit bereit. den – pro Kinokarte deutscher Film von rund 12 Euro. Das ist mehr, als die Karte kostet. Bereits heute werden Vielen Dank. rund zwei Drittel der Kosten der deutschen Filme über (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) öffentliche Abgaben bestritten. Wollen wir diesen Anteil jetzt noch erhöhen? Wir sind an einer Grenze angekom- men. Der Kollege Neumann hat völlig Recht: Wir müs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sen in erster Linie die Rahmenbedingungen stärken. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Schröter. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat er nicht gesagt!) Gisela Schröter (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Das hat er schon gesagt. Über den deutschen Film wird wieder gesprochen, nicht (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in diesem Hohen GRÜNEN]: „Auch“ hat er gesagt!) Hause. Der deutsche Film hat es verdient. Wir dürfen uns nicht darauf versteifen, die Abgaben zu Auch wenn ich hier als Letzte spreche, möchte ich erhöhen. noch einmal die wichtigen Filme, die in diesem Jahr ge- laufen sind und die es verdient haben, dass man immer Ich möchte in der Kürze der Zeit noch einen zweiten wieder über sie spricht, benennen. Kritikpunkt ansprechen. Der Deutsche Filmrat ist schon ein tolles Ding. Film 20 hat ihn als „die überra- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Man schende Supernova“ des Regierungsentwurfes bezeich- hat ja fast das Gefühl, dass die Regierung diese net. Wir haben so viele schöne, glamouröse Gremien: Filme gedreht hat!) 5410 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Gisela Schröter (A) Denken wir an den Oscar für „Nirgendwo in Afrika“ – es sie dann nicht ihre Brancheninteressen regieren lassen, (C) wäre doch schlimm, wenn wir dies heute nicht erwähnt sondern im Gesamtinteresse des deutschen Films agieren hätten –, denken wir noch einmal an „Good bye, werden – das ist für mich im Hinblick auf diese Anhö- Lenin!“ – ich wäre traurig, wenn ich das nicht hätte sa- rung eine ganz wichtige Bitte –, gen dürfen, auch wenn das bereits alle meine Vorredne- (Beifall bei der SPD – Monika Griefahn rinnen und Vorredner getan haben – oder auch an den [SPD]: Sehr wichtig, ja!) Film „Rosenstraße“ von Margarethe von Trotta, der in Venedig sehr viel Beachtung gefunden hat und für den genau so wie es beim hier vorliegenden Gesetzentwurf Katja Riemann den Preis für die beste Darstellerin be- der Fall ist. Die Beauftragte der Bundesregierung hat kommen hat. Ich gratuliere ihr dazu, ich finde das toll. hier, denke ich, wirklich eine gute Arbeit geleistet. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN und der FDP – Horst Kubatschka des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [SPD]: Da könnten Sie mitklatschen!) Jetzt kommt es darauf an, wie wir weiter damit umge- Auch die Gründung der Deutschen Filmakademie ist hen. auf große Aufmerksamkeit gestoßen. Ich wünsche der Die Ergebnisse der Gespräche im Bündnis für den Filmakademie viel Erfolg. Noch ist sie ein sehr zartes Film sind also in den Gesetzentwurf eingeflossen. Ich Pflänzchen, das keineswegs unter Artenschutz steht. Ich möchte daran erinnern, dass natürlich auch diese Bünd- hoffe, dass sie zur Stärkung des deutschen Films im In- nisgespräche, an denen so viele beteiligt waren, nicht land und Ausland beitragen wird. immer alle befriedigen konnten. Die Ergebnisse sind im- Alle diese Beispiele sind für mich ein Zeichen ge- mer wieder auf Kritik gestoßen, was bei dieser großen wachsenen Selbstbewusstseins des deutschen Films. Beteiligung auch kein Wunder ist. Sie sind aber auch Grundlage für die heutige Novelle. (Beifall bei der SPD) Uns liegt ein Gesetzentwurf vor – ich möchte das Darüber freue ich mich ganz besonders; denn ein gesun- noch einmal zusammenfassen –, der die Fördermittel des Selbstbewusstsein ist die beste Voraussetzung für ei- um ein Drittel erhöht, der die Produzenten und damit die nen stabilen Erfolg. Die Lage des deutschen Films lässt Filmwirtschaft als Ganzes stärkt, der klare Anreize für sich eben nicht nur mit der Entwicklung von Marktantei- erfolgsorientiertes Filmschaffen setzt, der Erfolg nicht len beschreiben. Sicherlich waren die Besucherzahlen in nur als Erfolg an der Kinokasse definiert, sondern zu- den Kinos in diesem Supersommer nicht berauschend gleich kulturelle Kriterien mit einbezieht, der den und sicherlich müssen wir hellwach sein, was die zuneh- Filmabsatz kräftig stärkt, der auch die Kreativen stärker (B) (D) mende Internetpiraterie angeht. Ich denke aber, es hat einbezieht und der die Nachwuchsförderung ernst sich eine Menge bewegt. nimmt. Wie sah es denn bis 1998 aus, liebe Kolleginnen und (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ein Kollegen? – Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern: wahres Wundergesetz!) Da wurde zum Beispiel der Filmpreis vom Innenminis- ter, gewissermaßen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Die Stärkung der Produzenten ist ein Kernanliegen die- vergeben ser Novelle. Ich meine, das ist gelungen. (Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: Jetzt (Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: Die macht es doch die Nachfolgerin!) Filmbranche sieht das durchaus anders!) und das Filmförderungsgesetz wurde im Innenausschuss Ich möchte daran erinnern, dass das FFG im Kern beraten. – Herr Kollege Neumann, darin sind wir uns einig – ein Wirtschaftsförderungsgesetz ist. Diese Aufgabe kann (Zuruf von der CDU/CSU) aber nur dann erfüllt werden, wenn die kreative Seite des – Hören Sie mir doch einmal weiter zu! – Heute haben Filmschaffens nicht aus dem Blick verloren wird. Des- wir einen Ausschuss, der sich schwerpunktmäßig mit halb schreibt sich das neue FFG die Verbesserung der dem Film befasst. „kreativ-künstlerischen Qualität des deutschen Films als Voraussetzung für seinen Erfolg im Inland und im Aus- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Diese land“ auf die Fahnen. Tatsache macht das Gesetz schon allein gut!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Am 15. Oktober werden wir in diesem Ausschuss Hier sind erste wichtige Schritte gemacht worden. Auch eine große Anhörung zur Novellierung des Filmförde- weiterhin wird dieses Thema auf der Tagesordnung blei- rungsgesetzes durchführen. 18 Branchenexperten wer- ben. den uns Rede und Antwort stehen; das wird eine Mam- mutveranstaltung. Es haben sich noch viel mehr Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin vor allen Experten gemeldet, die sich hier einbringen wollen. Ich Dingen auf die Anhörung im Ausschuss gespannt. Ich hoffe, alle werden dazu beitragen – ich gehe davon erwarte eine sehr fruchtbare Debatte und von den aus –, dass wir diese Novelle so gestalten, dass wir damit Sachverständigen – ich betone es noch einmal – jenseits das Beste für den deutschen Film herausholen können. allen Lobbyismus wichtige Impulse. Einer guten Tradi- Ich möchte an die Branchenexperten appellieren, dass tion dieses Hauses folgend Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5411

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der (C) Jetzt ist es Zeit für den letzten Satz. Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wiederbelebung des Friedensprozesses in Ko- Gisela Schröter (SPD): lumbien – ich bin dabei, Frau Präsidentin –, werden wir hof- – Drucksachen 15/742, 15/1136 – fentlich gemeinsam – ich komme auf Herrn Otto und Herrn Neumann zurück – zu einem tragfähigen Ergebnis Berichterstattung: bei der Reform der Filmförderung kommen, und zwar Abgeordnete Lothar Mark im Interesse des deutschen Films. Dr. Friedbert Pflüger Dr. Ludger Volmer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Werner Hoyer DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Der richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- Satz war aber kurz!) menarbeit und Entwicklung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß (Em- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: mendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Die Abgeordnete Gesine Lötzsch bittet darum, ihre Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Rede zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie damit der CDU/CSU einverstanden? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Neue Initiative zur Wiederbelebung des ko- Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Über- lumbianischen Friedensprozesses internatio- weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1506 an nal unterstützen die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- – Drucksachen 15/203, 15/1559 – schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Berichterstattung: Abgeordnete Karin Kortmann Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Peter Weiß (Emmendingen) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg Hans-Christian Ströbele van Essen, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weite- Markus Löning ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP ein- Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgese- (B) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich- hen. – Widerspruch höre ich von Ihrer Seite nicht. Dann (D) tung einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ ist auch so beschlossen. – Drucksache 15/473 – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Überweisungsvorschlag: der Abgeordnete Lothar Mark. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss Rechtsausschuss Lothar Mark (SPD): Finanzausschuss Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO gen! In den letzten Monaten war die Aufmerksamkeit Die Abgeordneten Bätzing, Kahrs, Gehb, Schewe- der Weltöffentlichkeit allein durch den Irakkrieg und die Gerigk und van Essen haben darum gebeten, ihre Reden sich anschließenden Befriedungsabsichten absorbiert. zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie einverstanden? – Dann Andere Krisenherde wurden dadurch völlig an den Rand verfahren wir so. gedrängt. Umso begrüßenswerter ist es, dass alle Frak- tionen im Deutschen Bundestag Interesse an einer Wie- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- derbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien haben. fes auf Drucksache 15/473 an die in der Tagesordnung Daher weiß ich alle Fraktionen mit mir einig, dass es an- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Fe- gesichts der festgefahrenen Situation in Kolumbien not- derführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, wendig ist, sowohl von unserer Seite als auch vonseiten Frauen und Jugend liegen soll. Gibt es anderweitige Vor- der Europäischen Union neue Impulse zu geben. schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Von diesem Interesse zeugt auch der Antrag der CDU/ CSU-Fraktion, der in erster Lesung am 20. Februar 2003 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatz- im Plenum beraten, jedoch von allen damit befassten punkt 4 auf: Ausschüssen abgelehnt wurde. Der Oppositionsantrag weist aus unserer Sicht erhebliche Mängel auf und setzt 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ein falsches politisches Signal: die politische und finan- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- zielle Unterstützung des „Plans Colombia“, der fak- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Lothar tisch einen zu starken militärischen Ansatz verfolgt und Mark, Hans Büttner (Ingolstadt), Detlef auch chemische Besprühungsaktionen mit einschließt. Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans- Hierauf wiesen in der ersten Lesung schon meine Christian Ströbele, Dr. Ludger Volmer, Volker Kolleginnen Karin Kortmann und Anke Hartnagel hin. 5412 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Lothar Mark (A) Wir sahen uns in den Koalitionsfraktionen deshalb ge- gen zur Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen (C) zwungen, unsererseits einen Antrag vorzulegen und die- verstanden wird, um mittel- bis langfristig eine politi- sen einseitig militärischen Akzent des „Plans sche Lösung des bewaffneten Konflikts zu erreichen. Colombia“ – auch wenn die CDU/CSU dies bestreitet – Unserer festen Überzeugung nach kann es Frieden in ebenso wie die Besprühungsaktionen als kontraproduk- Kolumbien nur auf dem Verhandlungswege geben. Ich tiv abzulehnen. denke, dass die kolumbianische Regierung dies ebenfalls so sieht. Wie mir kürzlich im persönlichen Gespräch mit Präsi- dent Uribe bestätigt wurde, wird dieser Antrag nicht als In diesem Zusammenhang ist zu sagen, dass es unse- Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Ko- rer Erachtens richtig ist, alle bewaffneten illegalen Grup- lumbien angesehen. Im Gegenteil: Die kolumbianische pen in diese Verhandlungen einzubeziehen. Friedensver- Regierung hat ausdrücklich um ein stärkeres internatio- handlungen sind also auch weiterhin mit den nales Engagement gebeten. Aus zahlreichen persönli- Paramilitärs, der FARC und dem ELN notwendig. Man chen Gesprächen – darunter, wie erwähnt, mit Präsident muss feststellen, dass alle illegalen bewaffneten Grup- Uribe, Vizepräsident Santos und Oppositionsführer pen im Laufe des Konflikts Menschenrechtsverletzun- Holguín, denen ich auch die wesentlichen Aspekte unse- gen begangen haben. Aber wenn wir auf eine friedliche res Antrages vorstellte – ist mir bekannt, dass insbeson- Lösung des Konflikts durch Verhandlungen setzen, dann dere ein aktiveres Engagement Europas uneingeschränkt müssen wir diese Verhandlungen notgedrungen mit den begrüßt würde. Momentan setze Kolumbien verstärkt dafür Verantwortlichen akzeptieren. auf die Hilfe der USA, so Präsident Uribe und Vizepräsi- dent Santos, weil die EU bisher ein allzu geringes Inter- Während Präsident Pastrana bestehende Verbindun- esse für die Situation zeige. gen der Paramilitärs zu staatlichen Ordnungskräften leugnete, gibt Präsident Uribe diese zu und stellt somit Ich freue mich, dass ihre Exzellenz, Frau Botschafte- die Paramilitärs erstmals auf eine Stufe mit den Guerilla- rin Mejía Marulanda von Kolumbien, dieser Debatte organisationen und bezieht sie richtigerweise in seine beiwohnt. Verhandlungen ein. Entscheidend ist dabei aus unserer (Beifall) Sicht: Man muss den illegalen Kräften eine Perspektive für ein Leben nach dem Bürgerkrieg und einen Anreiz Exzellenz, ich begrüße Sie mit Erlaubnis der Präsidentin geben, dass sie aus der Teufelsspirale aussteigen. auf das Herzlichste und danke Ihnen für die bisherigen freundschaftlichen, offenen und konstruktiven Gesprä- Wie will man einen Guerillero, der in seinem Leben che. Ihre Anwesenheit zeigt, dass unsere Bemühungen nichts anderes als das Kriegshandwerk gelernt hat, da- von überzeugen, seine Waffe abzugeben? Der Staat muss (B) auf Ihr Interesse stoßen und wir gemeinsam den längst (D) begonnenen kritischen Dialog fortsetzen können. ihm zumindest die Chance eröffnen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn ich hier eine teilweise Amnestie bzw. ein diffe- In dem angesprochenen Sinne ist der Grundtenor un- renziert zu betrachtendes Amnestiesystem anspreche, seres Antrages wie folgt zu verstehen: Unterstützung der wie von der kolumbianischen Regierung durch das Doppelstrategie von Präsident Uribe. Die Vergangenheit Dekret 128 und durch Gesetzesvorhaben im Übrigen be- hat gezeigt, dass der Konflikt allein auf dem Ver- reits in Angriff genommen, möchte ich keinesfalls der handlungsweg und durch guten Willen der Regierung bislang weitverbreiteten Straflosigkeit Vorschub leisten. Pastrana nicht gelöst werden konnte. Ganz im Gegenteil: Unser Antrag macht deutlich, dass In Kolumbien sind derzeit rund 2,5 Millionen Men- ein stärkerer kolumbianischer Staat Garant für die Ahn- schen auf der Binnenflucht. Jährlich finden circa dung von Verletzungen der Menschenrechte und des hu- 3000Entführungen statt, darunter auch von zahlrei- manitären Völkerrechts sein muss. chen Mandatsträgern, Gewerkschaftern, Unternehmern (Beifall des Abg. Klaus-Jürgen Hedrich und Journalisten. Erst vor einer Woche wurden in Nord- [CDU/CSU]) kolumbien acht ausländische Touristen von Rebellen entführt. An dieser Stelle appelliere ich an alle Parla- Straflosigkeit und die Schwäche entscheidender rechts- mentarier in der Welt, sich entschlossen für eine Äch- staatlicher Institutionen wie Justiz und Ombudsmann tung dieser Praxis und Taktik einzusetzen. Die Bewe- sind eines der Schlüsselprobleme des bewaffneten Kon- gungsfreiheit innerhalb eines Landes muss für alle flikts. Sie stellen die größte Bedrohung einer jeden De- sichergestellt sein und Parlamentarier wie Mandatsträger mokratie dar, weil sie zu weiteren Gewalttaten geradezu müssen ihr Mandat uneingeschränkt ausüben können. ermutigen. Die Einschränkung der politischen Bewegungsfreiheit ist ein elementarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Ich weiß, wie schwierig es ist, sich Amnestierungsfra- gen zu stellen, sie in einem gebeutelten Land zu disku- Die genannten Zahlen verdeutlichen uns eine dahinter tieren und Amnestie durchzusetzen. Die beiden Mög- stehende humanitäre Katastrophe, die uns alle eigentlich lichkeiten lauten nur: Fortsetzung der Entführungen und beschämen muss. Daher ist die Demonstration der des Mordens oder Reintegration betreiben mit ordentli- Stärke des Staates durch Wiederherstellung seines Ge- chen juristischen Verfahren und Amnestierungsaussicht waltmonopols richtig. Dies gilt allerdings nur, wenn das zumindest in sehr vielen Fällen, die vorher aber klar de- staatliche Gewaltmonopol als Grundlage für Bemühun- finiert werden müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5413

Lothar Mark (A) Wir haben zur Kenntnis genommen, dass seit Einbrin- Ich weise darauf hin, dass dieser Konflikt inzwischen (C) gung des Antrags der darin erwähnte Ausnahmezustand von allen als eine regionale Problematik anerkannt wor- vom kolumbianischen Verfassungsgericht aufgehoben den ist. Er stellt kein Thema dar, das Kolumbien isoliert wurde. Dennoch geben Berichte von internationalen betrifft. Alle Nachbarn sehen das inzwischen so. In die- Menschenrechtsorganisationen zu der Vermutung An- sem Zusammenhang weise ich besonders erfreut darauf lass, dass die Zahl der Verletzungen der Menschenrechte hin, dass der brasilianische Präsident Lula dem kolumb- und des humanitären Völkerrechts durch illegal bewaff- ianischen Präsidenten Uribe ein Assoziierungsangebot in nete Gruppen, aber zum Teil auch durch staatliche Si- Bezug auf Mercosur unterbreitet hat. Ich denke, dass da- cherheitskräfte nicht abgenommen hat. Vor diesem Hin- mit die Bereitschaft, den Konflikt in Kolumbien zu lö- tergrund ist die Aufforderung an die Bundesregierung zu sen, größer geworden ist. verstehen, den kolumbianischen Staat bei der Entwick- lung eines Aktionsplans zum Schutz der Menschen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rechte und der Einhaltung des humanitären Völkerrechts DIE GRÜNEN) zu unterstützen. Wir kommen bei der Suche nach einer friedlichen Lö- Der Antrag erkennt die bedeutende Rolle der Zivilge- sung für Kolumbien nicht umhin, in Bezug auf die Dro- sellschaft für eine nicht militärische Konfliktlösung an. genproblematik von unserer teilweise scheinheiligen Wir möchten gerade in dieser Frage dem kolumbiani- Position in den Konsumentenländern abzurücken. schen Wunsch nach einem stärkeren Engagement Euro- (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: So ist pas Rechnung tragen, indem wir die Einsetzung eines es!) EU-Sondergesandten für Kolumbien anregen. Wie Kol- lege Dr. Hoyer bereits in der ersten Lesung des CDU/ Es ist nicht vertretbar, dass die Industrienationen mit CSU-Antrags zu Kolumbien richtig bemerkt hat, hat sich dem Zeigefinger auf die Drogenproduzentenländer zei- in dieser Frage leider noch immer kein europäisches Pro- gen, solange sie selbst nicht in der Lage sind, die Nach- fil entwickelt. frage und den Drogenkonsum zu reduzieren. (Beifall des Abg. Harald Leibrecht [FDP]) (Beifall des Abg. Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]) Europa würde durch einen Sondergesandten erheblich an Gewicht gewinnen und könnte unter Beweis stellen, dass Auch wir als Konsumenten- und Nachfrageländer müs- es fähig ist, mit einer Stimme zu sprechen, und sich Pro- sen uns der Verantwortung stellen und gemeinsam mit blemlösungen in der Welt annimmt. den Transport- und Produzentenländern nach Lösungen suchen. (B) Ich möchte noch folgendes Anliegen des Antrags he- (D) rausstellen. Wir sehen den Schlüssel zum Erfolg im Ge- Ich denke, die in unserem Antrag ausgewogenere Be- gensatz zur CDU/CSU-Fraktion in einem entschlossenen trachtung wird der Problematik in Kolumbien gerechter Herangehen an die sozioökonomischen Ursachen des und bietet hilfreiche Ansatzpunkte für die Suche nach ei- Konflikts. ner friedlichen Lösung des Konflikts, die wir uns alle für das kolumbianische Volk so sehr wünschen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Daher fordern wir im Antrag unter anderem die Umset- zung einer sozial gerechten und ökonomisch sinnvollen Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag, da- Landreform, die auch eine Zuteilung von Land an mit der Friedensprozess in Kolumbien weiter- und zu Kleinbauern beinhalten muss. Ende geführt werden kann. Ein weiterer Punkt ist die Abwanderung von Intelli- Vielen Dank. genz aus Kolumbien. Es kann unseres Erachtens nicht sein, dass die kolumbianischen Eliten in ihrem Land zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einem großen Teil keine Zukunft sehen und ihr Können DIE GRÜNEN) und Wissen im Ausland einbringen. Natürlich sind hier die kolumbianische Gesellschaft und die Regierung ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: fordert, aber mindestens ebenso sehr die internationale Gemeinschaft. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich. Was nützt dem Kleinbauern sein alternatives Anbau- produkt, wenn er es nicht Gewinn bringend absetzen Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): kann und wenn er nicht vor den Guerilleros geschützt wird? Er benötigt verstärkt Hilfen, unter Umständen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und auch internationale Subventionen. Gerade nach dem Herren! Lieber Kollege Mark, wenn der Antrag dem ak- Scheitern der WTO-Ministerkonferenz in Cancun er- tuellen Stand der Entwicklungen entsprechen würde und scheint es umso wichtiger, innerhalb der EU auf eine Sie zumindest Ergänzungen vorgelegt hätten, würden umfassende Marktöffnung zu drängen. Man kann es wir ihm gerne zustimmen. Wenn man sich den Antrag nicht oft genug betonen: Marktöffnung ist die beste Hilfe einmal anschaut, kann man feststellen, dass mindestens zur Entwicklung. drei Dinge nicht der aktuellen Situation entsprechen: 5414 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Klaus-Jürgen Hedrich (A) Erster Punkt. Sie haben in Ihrem Antrag die Guerilla- zum Ausdruck gebracht wird. Die Weiterentwicklung (C) bewegungen aus ideologischen Gründen mit der Regie- der Position der Bundesregierung, um keine andere For- rung auf eine Stufe gestellt. Das ist unakzeptabel. mulierung zu wählen, hin zu einer klaren Unterstützung der Position von Alvaro Uribe wird von uns sehr be- Zweiter Punkt. Sie haben es in Ihrem Antrag an einer grüßt. eindeutigen Unterstützung der Regierung von Alvaro Uribe vermissen lassen. In diesem Zusammenhang ist übrigens ein weiterer Dritter Punkt. Sie haben wieder eine falsche Darstel- Punkt wichtig. Die lateinamerikanischen Präsidenten ha- lung des „Plans Colombia“ gewählt. Ohne das nun über- ben in der von mir bereits erwähnten Resolution von treiben zu wollen, habe ich manchmal den Eindruck, Cusco ausdrücklich die Vereinten Nationen um Ver- dass wohl nur sehr wenige Mitglieder dieses Hohen mittlung in diesem Regionalkonflikt gebeten. Das ist Hauses diesen Plan wirklich einmal gelesen haben; denn umso wichtiger, als natürlich die kolumbianische Regie- sonst würde man nicht ständig die militärische Kompo- rung einer solchen Einschaltung der Vereinten Nationen nente betonen. Dieser Plan ist mangelhaft, er ist aber – das sage ich in aller Deutlichkeit – ohne die Zustim- eine unverzichtbare Grundlage für die Weiterentwick- mung der Amerikaner, also Washingtons, ihrerseits nicht lung in Kolumbien. zugestimmt hätte. Das erwähne ich deshalb, weil häufig den Amerikanern unterstellt wird, sie seien per definitio- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian nem gegen die Mitwirkung der Vereinten Nationen in Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Kolumbien. In diesem Regionalkonflikt ist das in keiner ist genau der falsche Weg!) Weise erkennbar. Vor diesem Hintergrund verweise noch einmal auf In diesem Zusammenhang ist weiterhin von Bedeu- drei besondere Ereignisse: tung, dass dieser regionale Konflikt nur lösbar ist, wenn Erstes Ereignis. Die Bundesregierung hat im Rahmen alle Anrainerstaaten das gleiche Ziel verfolgen wie die der Vorbereitungen der Konferenz der G 8 in Evian ein- Regierung Uribe selbst. Wir haben gestern eine Kleine deutig festgestellt, dass die Position von Alvaro Uribe Anfrage an die Bundesregierung zu der gesamten Pro- zur Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmono- blematik eingereicht. pols unterstützt wird. Davon steht in Ihrem Antrag kein Inzwischen gibt es mit Peru eine Vereinbarung, einen Wort. „hot pursuit“, wonach kolumbianische Streitkräfte in der Zweites Ereignis. Auf dem Präsidentengipfel in Verfolgung von Guerillaverbänden auf peruanisches Ge- Cusco haben sich alle lateinamerikanischen Präsidenten biet überwechseln dürfen. Ich halte das für einen bemer- eindeutig hinter Alvaro Uribe gestellt. Dass ein gewisser kenswerten Vorgang. Ähnliche Dinge sind inzwischen (B) Herr aus Caracas dieser Entscheidung nicht zugestimmt mit Panama vereinbart. Die Brasilianer haben eine be- (D) hat, wundert einen kaum. Es gab also ein klares Be- merkenswerte Kurskorrektur ihrer Außenpolitik vollzo- kenntnis Lateinamerikas zu Alvaro Uribe. Auch das gen, denn sie haben festgestellt, dass sie auf Dauer vor wird in Ihrem Antrag nicht deutlich. diesem Regionalkonflikt die Augen nicht verschließen dürfen, weil inzwischen ein Großteil des Drogenhan- (Lothar Mark [SPD]: Er ist vorher erstellt wor- dels über brasilianisches Gebiet, weitestgehend über den den!) Amazonas, läuft. – Dann hättet ihr ihn ergänzen müssen. Man kann doch Völlig aus der Reihe tanzt Hugo Chávez. Hier können keinen Antrag aufrechterhalten, der von der politischen wir einfach feststellen, dass dieser Herr nicht nur Schritt Entwicklung überholt wurde. Das ist doch der Punkt. für Schritt zuhause eine faschistische Diktatur aufbaut, (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark sondern dass er wissentlich Kräfte der FARC auf seinem [SPD]: Gucken Sie sich einmal Ihre Anträge Territorium duldet. Dieses darf auf Dauer – das ist mein vom letzten Jahr an!) Appell an alle Fraktionen dieses Hauses und auch an die Bundesregierung – nicht nur von Kolumbien, sondern Drittes Ereignis. Dieses ist, wie ich glaube, von he- auch von der internationalen Gemeinschaft nicht gedul- rausragender Bedeutung. Ich meine die Konferenz von det werden, weil sonst der Kampf gegen die Guerilla in London am 10. Juli dieses Jahres, auf der sich die Geber- Kolumbien ins Leere läuft. Das ist nicht zu tolerieren. gemeinschaft ebenfalls mit großem Nachdruck hinter die Position des Präsidenten und seiner Regierung gestellt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hat. Dass hier gerade auch die Bundesregierung eine Deshalb mein Appell, hier auch ein deutliches Wort klare Position eingenommen hat, wird von uns nachhal- gegenüber der Regierung von Venezuela zum Ausdruck tig begrüßt; denn auch wir kennen natürlich die dahinter zu bringen. Herr Kollege Mark, Sie haben zu Recht da- stehenden die Mechanismen. Als Sie Ihren Antrag ein- rauf verweisen, dass wir uns um kolumbianische Kolle- gebracht haben, werter Kollege Mark, haben sie das na- gen kümmern sollten. Der Deutsche Bundestag könnte türlich nicht tun können, ohne sich vorher mit dem Aus- das in besonderer Weise dadurch tun, dass alle vier Frak- wärtigen Amt und dem BMZ, dessen Leitungsebene tionen dieses Parlaments ihre nachhaltige Sympathie mit heute nicht vertreten ist, abzustimmen. der Opposition in Venezuela bekunden. Das wäre ein Wir nehmen mit Interesse zur Kenntnis, dass die Bun- Beitrag zur Befriedung in der Region. desregierung in ihren Überlegungen zur Lösung des von Herzlichen Dank. Ihnen zu Recht als Regionalkonflikt bezeichneten Kon- fliktes bereits viel weiter ist, als das in Ihrem Antrag (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5415

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tische Gewalt ein. Außerdem erarbeitet sie derzeit ein (C) Danke schön. – Das Wort hat jetzt die Staatsministe- Weißbuch zur Umsetzung der Empfehlungen und Forde- rin Kerstin Müller. rungen der VN-Menschenrechtskommission vom April dieses Jahres. Wir erkennen auch die Bedeutung der praktischen Hilfsprogramme der kolumbianischen Re- Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen gierung an. Allerdings können diese in ihrer Wirksam- Amt: keit noch verbessert werden. So erreichen zum Beispiel Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Flüchtlingsprogramme die Bedürftigen oft deshalb nicht, Tat ist die Lage in Kolumbien äußerst besorgniserre- weil sich diese aus Angst vor Diskriminierung in ihren gend. Massaker, Vertreibungen, Zwangsrekrutierungen neuen Dorfgemeinschaften gar nicht als Flüchtlinge zu auch von Kindern, Entführungen, Terrorakte gegen die erkennen geben. Zivilbevölkerung sind dort an der Tagesordnung. Die Gewalt richtet sich dabei nicht nur gegen kolumbiani- Die kolumbianische Regierung ist zudem auf die Zu- sche Bürgerinnen und Bürger, sondern auch gegen Aus- sammenarbeit der Nichtregierungsorganisationen an- länder vor Ort. Das wurde schon erwähnt. Unter den gewiesen; auch das will ich sehr deutlich sagen. jüngst im Norden des Landes entführten acht Touristen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) befindet sich auch eine Deutsche. Dies hat Präsident Uribe in seiner Rede vom Ich will hier zu Anfang meiner Ausführungen versi- 8. September dieses Jahres anerkannt. Allerdings kriti- chern, dass die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit sierte er gleichzeitig angebliche Gruppierungen, die den anderen betroffenen Regierungen die intensiven Be- – ich zitiere – „unter dem Deckmantel angeblicher Ver- mühungen der kolumbianischen Regierung zur Freilas- teidigung der Menschenrechte den Terrorismus unter- sung der Geiseln unterstützt. stützen“. Ich will hier sehr deutlich sagen: Wir werden Neben Entführungen und Erpressungen ist Drogen- nicht zulassen, dass die schwierige Situation in Kolum- kriminalität ein weiteres großes Problem in Kolumbien. bien noch dadurch verschlechtert wird, dass Nichtregie- Schließlich alimentieren sich die Guerillagruppen we- rungsorganisationen, die sich aktiv für Menschenrechte sentlich aus dem Drogenhandel. Ich meine, gerade hier einsetzen, in ihrer Arbeit behindert werden. ist eine enge internationale Zusammenarbeit gefordert, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um dem profitreichen grenzüberschreitenden illegalen und bei der SPD) Handel einen Riegel vorzuschieben. Wir werden uns daher dafür einsetzen, dass Nichtregie- Verständlicherweise versuchen die Menschen in Ko- rungsorganisationen ohne Angst um die persönliche Si- (B) lumbien, diesen Problemen zu entkommen, indem sie cherheit ihrer Mitarbeiter ihre wichtige Arbeit fortsetzen (D) die Unruheherde verlassen. Mittlerweile gibt es mehr als können. 2 Millionen Binnenvertriebene – Sie haben es erwähnt –, deren katastrophale Lage sich inzwischen zu einem der Ich hatte dieses Jahr bereits Gelegenheit, mich über drängendsten Probleme Kolumbiens entwickelt. Wie soll die schwierige Lage in Kolumbien sowohl mit Vizeprä- man diese Probleme bekämpfen, wenn zeitweise die sident Santos Calderon, der zugleich Menschenrechtsbe- Hälfte des Landes unter der Kontrolle einer der drei gro- auftragter seiner Regierung ist, als auch mit Kardinal ßen Guerillagruppen steht? Rubiano Saenz, der sich aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzt, auszutauschen. Ich habe in Angesichts von Entführungen, Drogenkriminalität diesen Gesprächen deutlich darauf hingewiesen, wie und Vertreibungen sind wir uns in diesem Hause alle da- wichtig der Bundesregierung die Einhaltung der Men- rin einig: Die Terror- und Gewaltakte gegen die Zivilbe- schenrechte und Fortschritte beim Friedensprozess in völkerung Kolumbiens sind scharf zu verurteilen. Ko- Kolumbien sind. Dabei unterstützen wir natürlich die ka- lumbien braucht endlich eine friedliche Lösung, bei der tholische Kirche in ihrer sehr schwierigen vermittelnden die Menschenrechte eingehalten werden. Rolle. Oft sind deren Angehörige Verfolgungen ausge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzt. Einige sind bei diesem Engagement umgebracht und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der worden. FDP) Anfang Oktober wird Claudia Roth, die Menschen- Wir werden – da können Sie, meine Damen und Her- rechtsbeauftragte der Bundesregierung, nach Kolumbien ren von der Opposition, sicher sein – gemeinsam mit un- reisen, um sich vor Ort ein Bild von der derzeitigen Si- seren EU-Partnern und den Vereinten Nationen darauf tuation zu machen. Für uns ist das ein ganz wichtiges drängen, dass die Friedensverhandlungen wieder aufge- Thema. nommen und fortgesetzt werden. Wir werden die Regie- Die Bundesregierung befürwortet eine stärkere Rolle rung von Präsident Uribe bei allem unterstützen, was auf der Vereinten Nationen bei der Lösung des kolumbia- eine friedliche Lösung abzielt. nischen Binnenkonfliktes. Dabei kommt dem Sonderge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sandten des VN-Generalsekretärs, LeMoyne, eine ganz sowie bei Abgeordneten der SPD) wichtige Rolle zu. Wir hoffen, dass er durch Treffen mit der größten Guerillagruppe FARC dem Verhandlungs- Vor kurzem brachte die kolumbianische Regierung prozess künftig neue Impulse geben kann. Angesichts einen Gesetzentwurf über Maßnahmen gegen terroris- der bisher ablehnenden Haltung der Guerilla sind die 5416 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Staatsministerin Kerstin Müller (A) Aussichten dafür allerdings eher zurückhaltend einzu- zieren als auch die Friedensgespräche mit der FARC (C) schätzen; auch das muss man sagen. voranbringen. Wir unterstützen mit unseren EU-Partnern in Kolum- (Beifall bei der FDP) bien einen eigenständigen, vom „Plan Colombia“ unab- hängigen Ansatz, der auf nachhaltige, strukturelle und Erst wenn dieses Ziel erreicht ist, wird die dringend not- soziale Reformen abzielt. wendige wirtschaftliche und humanitäre Hilfe aus dem Ausland kommen. Viele Nichtregierungsorganisationen Ich habe die Drogenproblematik angesprochen. Dro- stehen bereit und würden sich noch sehr viel stärker en- genhandel wird man letztlich nur bekämpfen können, gagieren, wäre es dort sicherer. Wir dürfen nicht länger wenn wir alternative Einkommensquellen für die ländli- von Kolumbien wegschauen. Zusammen mit der Euro- che Bevölkerung erschließen und wenn eine Landreform päischen Union muss Deutschland die Friedensbemü- durchgeführt wird, so wie es in dem Antrag steht. Des- hungen von Präsident Uribe unterstützen. halb ist dies ein Schwerpunkt der entwicklungspoliti- schen Zusammenarbeit. Wir haben uns auch erfolgreich (Beifall bei der FDP) gegen den Wegfall der EU-Zollpräferenzen für kolumbia- Vieles am „Plan Colombia“ ist gut, wie die Herstellung nische Schnittblumen eingesetzt. Darüber hinaus leistet der inneren Stabilität und der Aufbau von Polizei und die Bundesregierung schon seit mehreren Jahren jährlich Rechtsstaat. Was uns aber, der FDP-Fraktion, am „Plan über 1 Million Euro an humanitärer Hilfe. Colombia“ nicht gefällt, ist der Ansatz, den Konflikt ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stärkt militärisch mit Unterstützung der USA lösen zu wollen. Die Bundesregierung wird ihr Engagement für den Frieden in Kolumbien auch in Zukunft fortsetzen. Ihr (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Antrag auf Wiederbelebung des Friedensprozesses, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Allerdings: Militärische Aktionen werden nicht ausblei- der auch von der FDP unterstützt wird, findet die volle ben; auch das ist uns bewusst. Wir müssen in Zukunft Unterstützung der Bundesregierung. Ich habe der De- mehr auf politische Waffen setzen, auf humanitäre Hilfe batte entnommen, dass wir auch mit den Damen und und vor allem auf wirtschaftliche Perspektive. Nur so Herren der CDU/CSU in wesentlichen Punkten eine kann der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt Übereinstimmung haben. Wir sollten auf allen Ebenen durchbrochen werden. Nur ein Frieden, der von allen alles für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses tun. Seiten gewollt wird, wird ein Frieden sein, der hält. Ein Danke schön. erzwungener Frieden wird neue Konflikte schüren. Da- (B) von bin ich überzeugt. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wenn man von Kolumbien redet, muss man auch die Drogenfrage ansprechen. Der Drogenhandel muss be- Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Leibrecht. kämpft werden, und zwar – es ist schon vorhin gesagt worden – mit Polizisten und nicht mit Pestiziden. Harald Leibrecht (FDP): (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gen! 30 000 Morde, 3 000 Entführungen pro Jahr und Hunderttausende von Binnenflüchtlingen – das ist Ko- Pestizide machen eine spätere landwirtschaftliche Nut- lumbien heute. Es ist richtig, hier von einer humanitären zung unmöglich und zerstören dort die Lebensgrundlage Katastrophe zu sprechen, für Mensch und Tier. Bauern, die heute Drogen anbauen, um ihre Familien über die Runden zu bringen und um sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ernähren zu können, müssen morgen alternative Pro- der SPD) dukte anbauen und – was noch viel wichtiger ist – ver- einer Katastrophe, die eine Gefahr für die ganze Region kaufen können. ist. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Sämtliche Versuche, mit der Rebellenarmee, der in- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ternational geächteten Terrorgruppe FARC, ein Frie- Gerade in der längst überfälligen Landreform und in ei- densabkommen zu schließen, schlugen in den letzten ner gerechten Landverteilung für die Kleinbauern liegt drei Jahren fehl. Erst durch die Unterstützung der USA der Schlüssel zum sozialen Frieden in Kolumbien. Au- gibt es Fortschritte, aber leider keinen wirklichen Erfolg; ßerdem müssen die landwirtschaftlichen Produkte einen wir sind noch weit weg von einem Frieden. fairen Zugang zum europäischen Binnenmarkt erhalten. Präsident Uribe sucht jetzt sein Glück in Verhandlun- (Beifall bei der FDP) gen mit der 13 000 Mann starken paramilitärischen AUC. Wenn es gelänge, die AUC zu entwaffnen, wäre Die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und dies in der Tat ein großer Erfolg und ein Segen für das der Einkommensperspektiven für alternative landwirt- Land. Das würde sowohl die Gewalt in Kolumbien redu- schaftliche Produkte wird zum Anbau des Drogenanbaus Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5417

Harald Leibrecht (A) führen. Statt nur auf militärische Mittel zu setzen, müs- dienen unsere Unterstützung, die Unterstützung der Eu- (C) sen wir auf eine Kombination aus Verhandlungen und ropäischen Union und der internationalen Staatenge- gezielten Aktionen setzen. meinschaft – (Zahlreiche Mitglieder der SPD-Fraktion be- (Beifall bei der CDU/CSU) treten den Plenarsaal – Heiterkeit und Beifall um das Land und die gesamte Region zu befrieden, um im ganzen Hause) Freiheit und Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger – Unsere Debatte scheint endlich die gebotene Aufmerk- zu gewährleisten und den internationalen Terrorismus samkeit zu finden, was die Anzahl der anwesenden Par- einzudämmen. lamentarier betrifft. Das unterstreicht auch die Wichtig- Zunächst möchte ich die rot-grüne Koalition zu ihrem keit dieser Debatte über Kolumbien. Ich würde mich Antrag beglückwünschen. Denn dieser Antrag stellt in freuen, wenn Sie sich schnell hinsetzen und unsere De- bemerkenswerter Weise eine Abkehr dar von der sehr batte interessiert und aufmerksam folgen würden. Danke kritischen, vor allem gegenüber Uribe kritischen Hal- schön! tung, wie sie noch in der ersten Kolumbiendebatte dieser (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Legislaturperiode seitens der Rednerinnen und Redner der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE der Koalition zum Ausdruck gekommen ist. GRÜNEN) Noch mehr hätte ich mir gewünscht, Zum Schluss, meine Damen und Herren: Der „Plan (Lothar Mark [SPD]: Das war im Jahre 2000!) Colombia“ – – lieber Kollege Mark, dass Sie unserem Antrag näher ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kommen wären und wir einen gemeinsamen Antrag ein- gebracht hätten. Wenn ich die offiziellen Erklärungen Nein, Herr Kollege, die Anzahl der anwesenden Par- der Bundesregierung zur Unterstützung Kolumbiens und lamentarier ist gestiegen, aber nicht die Ihnen zur Verfü- seiner Regierung lese, habe ich den Eindruck, Frau gung stehende Redezeit. Sie ist zwei Minuten überschrit- Staatsministerin, dass der Antrag der CDU/CSU der Re- ten. gierungsposition mittlerweile näher kommt als der An- (Heiterkeit) trag der Koalitionsfraktionen. (Beifall bei der CDU/CSU) Harald Leibrecht (FDP): Ich glaube, es gibt immer noch viel zu viele, die mei- Zum Schluss, meine Damen und Herren: Der „Plan nen, das, was in Lateinamerika geschieht, habe noch et- (B) (D) Colombia“ ist zu einseitig. Er muss geändert werden, was mit lateinamerikanischer Revolutionsromantik und weg von der Betonung militärischer Schritte, hin zu Guerillanostalgie zu tun. Nein, es ist nichts anderes als mehr humanitärer Hilfe. Dann sind wir auf dem richti- die brutale Vergewaltigung der Menschen in diesen Län- gen Weg. dern, vor allen Dingen in Kolumbien, zugunsten nicht Deshalb unterstützen wir den Antrag der SPD und politischer, sondern rein terroristischer und wirtschaftli- lehnen den der CDU/CSU ab. Insgesamt gehen wir aber cher Ziele, die von der Guerilla verfolgt werden. doch, denke ich, in die gleiche Richtung, um diesem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Land wieder auf die Beine zu helfen. neten der FDP) Ich danke Ihnen. Wenn wir uns – zugegebenermaßen zu später Stunde – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten im Deutschen Bundestag mit Kolumbien beschäftigen, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE können viele fragen: Was soll das eigentlich? Ich glaube, GRÜNEN) man muss an dem Beispiel Kolumbien noch einmal deutlich machen: Das ist längst kein innerstaatlicher Konflikt mehr. Das nimmt Gott sei Dank auch der An- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: trag der Koalition zur Kenntnis. Vielmehr ist eine konse- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Weiß. quente Politik der Stabilisierung Kolumbiens gleichzei- tig ein Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Terrorismus. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) gen! Nachdem die Koalitionsfraktionen dafür gesorgt haben, dass sie die anschließende Abstimmung gewin- Gerade der Anschlag auf den Klub „El Nogal“ in Bo- nen werden, gotá im Februar 2003 hat gezeigt, dass diese internatio- nale Vernetzung des Terrorismus auch und gerade in Ko- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Hören lumbien Realität ist; denn dort hat die IRA das Know- Sie jetzt auf!) how für diesen Anschlag geliefert. Das zeigt: Das ist kein kolumbianisches, kein regionales Problem, sondern hier möchte ich etwas Generelles feststellen. Egal welcher geht es um einen Beitrag zur Bekämpfung des internatio- Antrag heute eine Mehrheit bekommt, unsere Botschaft nalen Terrorismus. Das ist auch mit unsere Aufgabe. aus dieser Kolumbiendebatte sollte sein: Kolumbien und seine Regierung unter Präsident Uribe brauchen und ver- (Beifall bei der CDU/CSU) 5418 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Zweitens. Der Konflikt in Kolumbien hat regionale Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) Auswirkungen. Es ist positiv, dass der brasilianische Sind Sie damit einverstanden, dass wir die Rede der Präsident Lula – Lothar Mark hat es erwähnt – wie auch Abgeordneten Petra Pau zu Protokoll nehmen? – Das ist Peru konsequent mithelfen, die Grenzen zu kontrollieren der Fall. Dann schließen wir damit die Aussprache. und gegen die Guerilla abzuschotten. Es ist dagegen höchst gefährlich, dass Venezuela unter seinem neopo- Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses pulistischen Präsidenten Chavez das venezolanische auf Drucksache 15/1136 zu dem Antrag der Fraktionen Grenzgebiet als Rückzugsraum für die Guerilla öffnet der SPD und Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel und damit dem Terrorismus zusätzlich Vorschub leistet. „Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien“: Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Drucksache 15/742 anzunehmen. Wer stimmt für diese Jörg van Essen [FDP]) Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstim- men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Ich möchte unterstreichen: Wir erwarten von der ko- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP lumbianischen Regierung – sehr geehrte Frau Botschaf- gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. terin, es ist schön, dass Sie heute anwesend sind –, dass sie die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Men- Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaft- schenrechte achtet und dass sie die Wächterfunktion von liche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Menschenrechtsorganisationen respektiert und nicht be- Drucksache 15/1559 zu dem Antrag der Fraktion der hindert. CDU/CSU mit dem Titel „Neue Initiative zur Wiederbe- lebung des kolumbianischen Friedensprozesses interna- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der tional unterstützen“: Der Ausschuss empfiehlt, den An- FDP) trag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung des Ausschusses? – Gegenstim-men? – Enthaltun- Aber gleichzeitig verdient eine solche demokratische gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Regierung, die die breite Unterstützung der Mehrheit der der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen Kolumbianerinnen und Kolumbianer hat, auch unsere der CDU/CSU angenommen. konsequente Unterstützung bei der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf: (Beifall bei der CDU/CSU) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Siche- Kritik am „Plan Colombia“ hin oder her – ich finde es rung der Hilfsmittelversorgung von Pflegebedürf- (B) unangemessen, ja ungeheuerlich, dass der kolumbiani- tigen (Hilfsmittelsicherungsgesetz – HSG) (D) schen Regierung in dem Antrag von Rot-Grün vorge- worfen wird, dass sie auf eine militärische Lösung im – Drucksache 15/308 – Sinne eines „Siegfriedens“ setze. Solche Formulierun- (Erste Beratung 25. Sitzung) gen müssen von denjenigen, die nach einer Begründung für ihre abstrusen und menschenverachtenden Terrorakte Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- suchen, geradezu als Steilvorlage gewertet werden. Des- ses für Gesundheit und Soziale Sicherung wegen können wir dem Antrag nicht zustimmen. (13. Ausschuss) – Drucksache 15/1314 – (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Das glaubst du doch selbst nicht, was Berichterstattung: du da erzählst!) Abgeordnete Petra Selg Kolumbien braucht in seiner Situation mehr Unter- Es wird gebeten, alle Reden zu diesem Tagesord- stützung, unter anderem durch eine verstärkte statt einer nungspunkt – und zwar von den Abgeordneten Ober, reduzierten Entwicklungszusammenarbeit. Deshalb Sehling, Selg und Bahr – zu Protokoll zu nehmen. Sind finde ich es sehr verwunderlich, dass das Bundesminis- Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- so beschlossen. wicklung in dieser Debatte durch Abwesenheit glänzt. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- Das möchte ich ausdrücklich kritisieren. wurf des Bundesrates zur Sicherung der Hilfsmittelver- (Beifall bei der CDU/CSU) sorgung von Pflegebedürftigen. Der Ausschuss für Ge- sundheit und Soziale Sicherung empfiehlt auf Kolumbien braucht Unterstützung nicht nur in Wor- Drucksache 15/1314, den Gesetzentwurf abzulehnen. ten, wie sie heute zu hören waren oder im Antrag zu le- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen sen sind, sondern auch in Taten, mit denen wir einen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- Beitrag zur Befriedung Lateinamerikas und zur Bekämp- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung fung des internationalen Terrorismus leisten. Darum mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die sollte es uns gehen. Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- Vielen Dank. tere Beratung. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5419

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (C) richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Haushaltsausschuss Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag ZP 5Beratung des Antrags der Abgeordneten der Abgeordneten Heidi Wright, Reinhard Weis Dr. Margrit Wetzel, Klaus Brandner, Gerd (Stendal), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne- der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ten Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Berlin), Volker Beck (Köln), Anja Hajduk, wei- (Köln), Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NISSES 90/DIE GRÜNEN NEN Sicherung von Standort und Know-how des Ergänzung der Fahrerlaubnisverordnung deutschen Seeschiffbaus – Drucksachen 15/1093, 15/1397 – – Drucksache 15/1575 – Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Abgeordneter Gero Storjohann Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Finanzausschuss b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ausschuss für Bildung, Forschung und Straßenverkehrsgesetzes Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und – Drucksache 15/1496 – Entwicklung Ausschuss für Tourismus Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Haushaltsausschuss Ausschuss für Tourismus Auch hier sollen, so wird gebeten, alle Reden zu Pro- Auch hier sollen, so wird gebeten, alle Reden genom- tokoll genommen werden: der Abgeordneten Kahrs, men werden: der Abgeordneten Wright, Storjohann, Wetzel, Börnsen, Hajduk und Goldmann. Sind Sie damit Hofbauer, Hettlich und Friedrich sowie der Parlamenta- einverstanden? – Das ist der Fall. rischen Staatssekretärin Gleicke. Sind Sie damit einver- standen? – Das ist der Fall. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Tagesordnungspunkt 12 a: Wir kommen zur Abstim- auf den Drucksachen 15/1101 und 15/1575 an die in der mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. (B) für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag. Die Vorlage auf Drucksache 15/1101 soll zusätzlich an (D) Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden. Sind sache 15/1093 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Überweisungen so beschlossen. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Tagesordnungspunkt 12 b: Interfraktionell wird die Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moderni- 15/1496 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- sierung der Justiz (Justizmodernisierungs- schüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – gesetz – JuMoG) Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. – Drucksache 15/1508 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zu- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) satzpunkt 5 auf: Innenausschuss 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Finanzausschuss Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Karl-Josef Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre und der Fraktion der CDU/CSU keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Deutschen Schiffbau aus der Schlechtwetter- Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort lage in sicheres Fahrwasser leiten der Parlamentarische Staatssekretär Hartenbach. – Drucksache 15/1101 – Überweisungsvorschlag: Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) desministerin der Justiz: Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem vorliegen- Ausschuss für Bildung, Forschung und den Entwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes der Technikfolgenabschätzung Bundesregierung werden Gerichtsverfahren einfacher, Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung effizienter und flexibler gestaltet, ohne den Rechtsschutz Ausschuss für Tourismus der Bürgerinnen und Bürger zu beeinträchtigen. Das 5420 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) unterscheidet diesen Gesetzentwurf von dem Entwurf ei- nicht zuletzt seitens der Richterschaft erfahren hat, teile (C) nes Justizbeschleunigungsgesetzes der CDU/CSU, ich nicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass es sich um keine zwingende Regelung handelt; es steht vielmehr (Rainer Funke [FDP]: Das glauben Sie doch noch immer im Ermessen des selbstbewussten Richters, selber nicht!) ob er allein oder mit einem Protokollführer verhandelt. der wieder mit untauglichen und bürgerfeindlichen Mit- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ teln wie der Erhöhung der Berufungssumme aufwartet. DIE GRÜNEN – Rainer Funke [FDP]: Der Hierüber haben wir ja schon vor einigen Wochen in die- selbstbewusste Richter Hartenbach!) sem Haus das Notwendige gesagt. Von den Änderungen in der Zivilprozessordnung Lassen Sie mich die wesentlichen prozessualen ist die erhöhte Beweiskraft eines rechtskräftigen Strafur- Neuerungen dieses Entwurfs eines Justizmodernisie- teils hervorzuheben. Dieses Urteil soll künftig für einen rungsgesetzes kurz vorstellen. Wir greifen ein wichtiges Zivilprozess vollen Beweis für die Feststellungen entfal- Anliegen der Praxis mit der Reform der Unterbre- ten, die der Strafrichter für erwiesen hält. Damit wird chungsregelungen für die Hauptverhandlung in § 229 dem Straftatopfer die Durchsetzung seiner Schadener- StPO auf. Das Gericht wird in die Lage versetzt, Ver- satzansprüche erheblich erleichtert. Bisher trägt das handlungstage flexibler als bisher festzulegen. Dadurch Opfer – auch nach einer strafrechtlichen Verurteilung kann es besser auf die Belange der übrigen Beteiligten des Täters – im späteren Zivilprozess das volle Beweis- eingehen. risiko. Die wichtigste Neuerung betrifft die nach jedem (Widerspruch des Abg. Siegfried Kauder [Bad Hauptverhandlungstag mögliche Unterbrechung. Die Dürrheim] [CDU/CSU]) bisherige Unterbrechungsfrist von zehn Tagen wird auf drei Wochen verlängert. Die Neufassung ermöglicht es – Herr Kauder, ich denke, Sie müssten sich darüber dem Gericht außerdem, in umfangreicheren Verfahren freuen. – Wenn es keine anderen Beweise für die Tat jeweils nach zehn Verhandlungstagen die Verhandlung gibt, dann ist das Opfer als Kläger bisher darauf ange- um bis zu einem Monat zu unterbrechen. Außerdem soll wiesen, seine eigene Vernehmung als Partei anzubieten. der Lauf der Unterbrechungsfristen nicht nur bei einer Das ist nur in streng begrenzten Fällen möglich. Erkrankung des Angeklagten, sondern auch bei der Er- krankung eines Richters oder eines Schöffen gehemmt ( [FDP]: Anbieten kann er immer!) werden. Es kann natürlich vorkommen, dass die Feststellun- (Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!) gen in einem Strafprozess, die in einem Zivilverfahren (B) künftig verwertet werden dürfen, dem Zivilrichter pro- (D) Insgesamt werden diese Fristenregelungen die Gefahr blematisch erscheinen. Deshalb wird ihm gestattet, einen deutlich verringern, dass mit der Hauptverhandlung aus vollen Beweis zu erheben. rein formalen Gründen völlig neu begonnen werden muss, mit all den Belastungen, die für die Prozessbetei- Durch das Justizmodernisierungsgesetz wird der ligten damit einhergehen. Richter ferner befugt, anstelle einer erneuten Verneh- mung eines Zeugen auf das Protokoll der richterlichen (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Vernehmung in einem anderen Gerichtsverfahren zu- Solms) rückzugreifen. Diese Neuregelung wird nicht nur zur Entlastung der Justiz führen, sondern auch dem Straf- Entsprechend den tatsächlichen Verhältnissen in der tatopfer bei der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen An- Praxis sollen die Regelvereidigung im Strafverfahren ab- sprüche helfen. Auch ein Sachverständigengutachten, geschafft und die Vereidigungsregelungen insgesamt neu das in einem Parallelverfahren erstellt worden ist, kann und übersichtlicher gestaltet werden. der Zivilrichter künftig ohne die vorherige Zustimmung Auch die Vorschriften über die Verlesung von der Parteien als Sachverständigenbeweis und nicht nur, Schriftstücken sollen verständlicher und weiter gefasst wie bisher, als Urkundsbeweis verwerten. werden. So können Erklärungen allgemein vereidigter Wie Sie gemerkt haben, habe ich mich – nicht nur we- Sachverständiger sowie Protokolle und Erklärungen von gen der späten Stunde – auf die Darstellung der wesent- Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen, lichen prozessualen Änderungen im Justizmodernisie- soweit sie nicht eine Vernehmung zum Gegenstand ha- rungsgesetz beschränken müssen. Auf die in diesem ben, künftig verlesen werden. Mithilfe dieser Änderun- Gesetz gleichfalls angelegte strukturelle Binnenre- gen wird in vielen Fällen, vor allem in Massensachen, form der Justiz durch die Übertragung richterlicher das Verfahren gestrafft, die Justiz entlastet; vor allen Aufgaben auf den Rechtspfleger kann ich leider nicht Dingen werden Kosten eingespart, auch Kosten der An- mehr eingehen; dieses Vorhaben wäre eine eigene Rede geklagten. wert. Wir werden darauf in den Beratungen im Rechts- Ein Beitrag zur weiteren effizienten Gestaltung ist die ausschuss zurückkommen. Möglichkeit, in der Hauptverhandlung vor dem Straf- (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) richter von der bislang obligatorischen Hinzuziehung ei- nes Urkundsbeamten der Geschäftsstelle abzusehen. Da- Meine Damen und Herren, die Justiz wird sich künf- mit kann Personal dort eingesetzt werden, wo es tig dem Innovationsdruck in allen Bereichen unserer Ge- tatsächlich nötig ist. Die Kritik, die dieser Vorschlag sellschaft stellen müssen. Mit diesem Gesetz setzen wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5421

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Vorschläge um, die in den Ländern bei Praktikern und Es ist aber heute allgemeine Erkenntnis, dass die (C) Rechtspolitikern auf einen breiten Konsens stoßen. Um- Absprachepraxis, die sich praeter legem entwickelt fassendere Reformvorhaben, bei denen es eine kontro- hat, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. verse Diskussion geben wird, haben wir zunächst be- Deswegen ist sie aber trotzdem nicht Gesetz. wusst ausgeklammert; aber auch diese Punkte bleiben auf der Agenda. Es wird weiter erwähnt: Ich bitte Sie sehr herzlich: Lassen Sie uns unsere Ver- Die überlastete deutsche Strafjustiz wäre ohne die antwortung für eine funktionierende Justiz ernst neh- Absprachepraxis oftmals auch nur schwer in der men! Ich lade Sie zu konstruktiven Beratungen ein. Lage, die Vielfalt von Großverfahren … zu erledi- gen. Vielen Dank. Das macht den Deal verdächtig. Knickt die Justiz ein, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ um die Überfülle von Strafverfahren in angemessener DIE GRÜNEN) Zeit abschließen zu können? Ist das eine Einbuße an Recht? Ist das eine Einbuße an Gerechtigkeit? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wenn man diese Kommentarstelle noch einmal liest, Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Kauder von erkennt man, was sie bedeutet: Da ist der Gesetzgeber der CDU/CSU-Fraktion. gefordert. (Joachim Stünker [SPD]: Ja! Machen wir!) Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wäre ein modernes Gesetz, wenn man sich den He- „Justizmodernisierungsgesetz“, rausforderungen der Rechtsfortbildung stellte, die erst- mals im Jahr 1977 diskutiert wurden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Joachim Stünker [SPD]: Warten Sie doch mal GRÜNEN]: Hört sich gut an!) ab! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ was darf man sich eigentlich darunter vorstellen? Kol- DIE GRÜNEN]: 1977? Wer war da an der Re- lege Stünker und ich sind nicht immer einer Meinung, gierung?) aber ich gebe ihm Recht in dem, was er am 27. Juni die- – „Warten Sie doch mal ab!“, das höre ich von Ihnen, ses Jahres hier vor diesem Hohen Hause gesagt hat: „Der Herr Stünker, und von der Regierungskoalition immer Name ist vielleicht ein bisschen zu anspruchsvoll.“ wieder. Manchmal warten wir fünf Jahre und noch mehr. (B) (Joachim Stünker [SPD]: Aber nur ein biss- Beim Strafvollzugsgesetz warten wir auch schon seit (D) chen, Herr Kauder!) fünf Jahren. Es kommt ebenfalls nicht. Soll ich Ihnen noch mehr erzählen? Auf das Gesetz zum Opferschutz Nein, meine Kolleginnen und Kollegen, er ist nicht nur warten wir schon seit acht Jahren. Das Adhäsionsverfah- ein bisschen zu anspruchsvoll, er ist voll daneben. ren kommt auch nicht. Wie lange sollen wir denn jetzt (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. noch warten? Wir müssen reagieren und dürfen nicht zu- Rainer Funke [FDP]) warten. Ginge es der Bundesregierung um ein modernes Ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- setz, wäre sie sich bewusst, dass dieses Gesetz auf dem neten der FDP – Joachim Stünker [SPD]: Prüfstand eines sozialen und gesellschaftlichen Wandels 16 Jahre haben wir gewartet!) bestehen muss, und dann wäre man auch sofort auf eine Wenn man die Paragraphen des Justizmodernisie- offene Flanke des Strafprozesses gestoßen, die rungsgesetzentwurfs und die Begründung anschaut, Schumann schon im Jahre 1977 in der Monographie merkt man sehr schnell: Es geht nicht um Modernisie- „Handel mit der Gerechtigkeit“ abgehandelt hat. Der rung, es geht darum, vorhandene Ressourcen effektiver Deal im Strafverfahren – damals und heute ein Dorn einzusetzen. Das ist ein legitimes rechtspolitisches Inte- im Auge der Rechtspolitiker, aber auch ein Dorn im resse, nur muss man es dann auch sagen. Auge der interessierten Öffentlichkeit. Was die Regierung mit diesem Entwurf bezweckt, (Joachim Stünker [SPD]: Kommt in vier wird sie im Ergebnis nicht erreichen können. Ich möchte Wochen!) Ihnen das an wenigen Beispielen erläutern. Das Bundesverfassungsgericht hat den Deal im Straf- Der Strafrichter soll in Zukunft eine Hauptverhand- verfahren legitimiert. Der Bundesgerichtshof hat den lung ohne Urkundsbeamten durchführen können. Deal im Strafverfahren legitimiert. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut! Ja!) GRÜNEN]: Und die Praxis!) Das entscheidet der Richter selbst. Zeigen Sie mir mal Erlauben Sie mir, Herr Kollege Ströbele, aus dem Prakti- den Richter, der sich mehr Arbeit macht, als er muss! kerkommentar von Lutz Meyer-Goßner zur Strafpro- Zeigen Sie mir mal den Richter, der sich der Gefahr aus- zessordnung die Randziffer 119 b, der Einleitung zu zi- setzt, dass ein Verteidiger diese Situation ausnützt und tieren: einen ellenlangen Beweisantrag nicht ausformuliert 5422 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) vorlegt, sondern zu Protokoll gibt! Herr Kollege (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C) Ströbele, darüber brauchen wir zwei uns nicht zu unter- GRÜNEN]: Landgericht und BGH!) halten; Herr Stünker, ich glaube, wir auch nicht. Sie wissen es, Herr Kollege. Ansonsten schauen Sie (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE doch noch einmal im Gesetz nach. GRÜNEN]: Dann sagt der Richter: Legen Sie Warum schaffen wir es nicht, endlich ein Wahlrechts- es schriftlich vor! Wo haben Sie verteidigt?) mittel wie im Jugendstrafrecht einzuführen, gemäß dem Das wird nicht funktionieren. man nach der ersten Instanz entscheiden kann, ob man in Berufung oder in Revision geht? Damit wäre dann Ein weiterer Aspekt. Schriftliche Gutachten aus an- Schluss. Das bedeutete keine Einschränkung der Rechts- deren Verfahren sollen im Zivilprozess verwendet wer- weggarantie. den können. Ich frage mich: Was meint der Gesetzgeber mit „anderen Verfahren“? Doch wohl auch den Strafpro- Warum schaffen wir nicht dieses unsägliche Rechts- zess. Jetzt wissen wir aber, dass im Strafprozess ganz an- institut des Privatklageverfahrens ab? Einem betroffe- dere Beweisgrundsätze gelten als im Zivilprozess. Im nen Bürger, der eine Privatklage einreicht, wird ja nicht Strafprozess gilt der Grundsatz: im Zweifel für den An- zu seinem Recht verholfen, sondern er läuft in eine geklagten. Im Zivilprozess haben wir Beweis- und Be- Sackgasse; denn das Verfahren wird nach langer Zeit weislastregeln. eingestellt und verursacht ihm nur Kosten. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Warum erweitern wir das Strafbefehlsverfahren GRÜNEN]: Das ist ein Problem!) nicht auf eine zweijährige Bewährungsstrafe? Der Ein- wand, dass es eine Bewährungsstrafe von ein bis zwei Nehmen Sie einmal ein Sachverständigengutachten über Jahren nur unter besonderen Voraussetzungen gibt, greift einen Verkehrsunfall aus dem Strafverfahren in ein Zi- nicht. Auch das kann man aus den Ermittlungsakten er- vilverfahren! Das funktioniert hinten und vorne nicht! sehen. Das heißt also, es ist nur heiße Luft, eine gesetzliche Nicht befasst haben Sie sich mit dem Adhäsionsver- Vorschrift, die nicht greifen wird. fahren. Es wäre viel sinnvoller, anstelle der Bindungs- Nicht anders sieht es mit der im Entwurf vorgesehe- wirkung von Tatsachen dieses Verfahren im Strafverfah- nen Bindungswirkung von Tatsachenfeststellungen ren besser zu verankern. Mit dem Adhäsionsverfahren im Strafverfahren auch für das Zivilverfahren aus. kann das Opfer einer Straftat auf einfachem Weg seine Diese ist im Entwurf zwar bewusst eingeschränkt: Stellt zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche reguliert be- der Richter im Urteil fest, dass eine Tatsache als erwie- kommen. Ich weiß, dass im Justizministerium ein Ent- (B) sen zu gelten hat, bindet das auch den Zivilrichter. Sie wurf zu einem Opferrechtsreformgesetz herumgeistert, (D) verlagern damit aber dennoch den Zivilprozess in den (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Strafprozess. GRÜNEN]: Der geistert nicht! Er ist da!) Ob ein Richter eine Tatsache als bindend festgestellt das sich durch eine besondere Hypotrophie von Rechts- hat, ergibt sich nicht aus der mündlichen Urteilsbegrün- mitteln auszeichnet. Da ist hinten und vorne nichts prak- dung, sondern erst aus der nachfolgenden schriftlichen tikabel. Ich würde bitten, darüber noch einmal nachzu- Urteilsbegründung, die nach Ablauf der Rechtsmittel- denken. frist erfolgt. Das bedeutet also, es wird fast keine Urteile mehr mit abgekürzten Urteilsgründen geben. Sie machen (Beifall bei der CDU/CSU) damit den Strafrichtern nicht weniger, sondern mehr Ar- Eine ganz einfache Möglichkeit, den Strafprozess zu beit, weil jeder verantwortungsvolle Verteidiger dem straffen, wäre folgende: Lassen wir doch wie im Zivil- Verurteilten anraten muss, gegen das Urteil vorsorglich prozess das Zugestehen von Tatsachen auch im Straf- einmal Berufung einzulegen, weil er sonst Rechtsnach- prozess zu. Das Zugestehen von Tatsachen ist derzeit teile im Zivilverfahren befürchten muss. Auch das greift nicht möglich, weil eine Teileinlassung so gewürdigt also nicht. werden kann, dass sich das übrige Schweigen des Ange- Um aber ein Gesetz unter den Gesichtspunkten von klagten nachteilig auswirkt. In Kriegswaffenkontrollver- Beschleunigung und Effektivitätssteigerung von Straf- fahren führt das zum Beispiel dazu, dass wir ellenlange verfahren zu verbessern, finden sich genügend Anhalts- Ladelisten und Bilanzen verlesen müssen, weil der An- punkte, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf noch nicht ein- geklagte nicht unbeschadet zugestehen kann, dass er mal angedacht haben. Warum um Gottes willen gibt es Kriegswaffen ins Ausland transportiert habe. Mit sol- im Falle einer Wirtshausschlägerei die Möglichkeit, über chen Mitteln könnten Strafprozesse effektiver durchge- drei Instanzen zu gehen, während es bei Mordverfahren führt werden. nur eine gibt? Wir Strafrechtler kennen die Vorschrift des Selbst- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE leseverfahrens nach § 249 Abs. 2 Strafprozessordnung. GRÜNEN]: Zwei!) Jetzt fragen Sie einmal die Strafrechtler unter uns, wie oft sie ein Selbstleseverfahren erlebt haben. Dass es so – Das weiß jeder Jurist, dass wir drei Instanzen haben: selten angewandt wird, liegt daran, dass nach den bishe- erste Instanz, Berufung und Revision. Schließlich gibt es rigen gesetzlichen Regelungen ein Selbstleseverfahren noch die Zurückverweisung nach gewonnener Revision. erst in der Hauptverhandlung und nicht schon in der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5423

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Vorbereitung der Hauptverhandlung möglich ist. Warum Sie auf ungeheuer viele Schwierigkeiten. Deshalb stellt (C) lassen wir nicht zu, dass die Schöffen schon in Vorbe- sich hier die Frage: Beschränken wir uns nicht lieber auf reitung der Hauptverhandlung die Anklageschrift be- allgemeine Hinweise auf die Rechtsprechung des Bun- kommen? Das ist derzeit nicht möglich. Eine einfache desgerichtshofs, der eine ganze Reihe von grundsätzli- Änderung der Nr. 126 RiStBV würde das schon bewerk- chen Erwägungen angestellt hat? Diese können Sie nicht stelligen können. alle im Gesetz verankern. Meine Damen und Herren, man könnte den Katalog (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ der Beschleunigungsmöglichkeiten noch um ellenlange CSU]: Nur weil Sie es nicht können!) Aufzählungen erweitern. Das will ich Ihnen aber zu die- ser späten Stunde nicht antun. Eines überrascht und Dann wären wir dabei. Ich kann Sie trösten: Sie brau- beeindruckt mich zugleich: Der Seite der Koalitionsfrak- chen nicht mehr lange zu warten, dann haben Sie einen tionen, die mir, wenn ich im Parlament Vorschläge unter- Vorschlag dazu auf dem Tisch, an dem Sie sich abarbei- breite, immer entgegenhält, dass damit Verteidigungs- ten können. rechte eingeschränkt würden, danke ich, dass dieser (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ Einwand heute Abend nicht gekommen ist. All meine CSU]: Das höre ich zu oft!) Lösungsansätze erhalten die Verteidigungsmöglichkei- ten aufrecht. Ich meine, dass das Justizmodernisierungsgesetz eine ganze Reihe von echten Verbesserungen bringt. Ein Nur ein Vorschlag aus dem Justizmodernisierungsge- Punkt, über den wir alle hier nicht diskutiert haben setz schränkt Verteidigungsrechte ein, nämlich die Lo- – auch der Kollege Hartenbach hat ihn nur angedeutet –, ckerung der Möglichkeiten der Vereidigung. Jeder Ver- ist, dass sich die Richter, vor allen Dingen die Zivilrich- teidiger weiß, dass die Vereidigungsmöglichkeiten ein ter am Amtsgericht, auf den eigentlichen Kern der Einfallstor für Revisionsgründe sind und das Gericht Rechtsprechung konzentrieren können, indem viele Auf- dem Druck aussetzen, sich zu bekennen, ob es einem gaben, Zeugen glaubt oder nicht. Das heißt, die Verteidigung muss sich andere Felder suchen, um Möglichkeiten für (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Revisionen zu eröffnen. Auch da nur Steine statt Brot. für die heute ein Richter zuständig ist, auf den Rechts- Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition pfleger übertragen werden, so etwa in Nachlassangele- und Frau Ministerin – der ich das auszurichten bitte –, genheiten, aber auch in Handelssachen. Das ist ein wich- ich ersuche Sie dringend, sich Gedanken darüber zu ma- tiger Fortschritt. chen, ob meine Lösungsansätze nicht zu einer deutlichen Beschleunigung des Strafverfahrens führen würden. Wichtig ist auch – damit komme ich zum Strafvertei- (B) (D) Wenn dies nicht geschieht, kann ich Ihnen leider keine diger –, dass eine Möglichkeit geschaffen wird, gegen recht gute Nacht wünschen, sondern kann nur sagen: die ich früher war, nämlich dass nach Durchsuchungen Gute Nacht, Recht! in Zukunft auch Polizeibeamte Schriftstücke und Datenträger durchsehen dürfen. Denn wir haben sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – häufig festgestellt, dass weder der Verteidiger, der viel- Dr. Uwe Küster [SPD]: Ein echtes Kauder- leicht anwesend ist, noch der Staatsanwalt über das tech- welsch!) nische Wissen und die Kompetenz verfügen, um an diese Daten heranzukommen, weshalb sie oft wochen-, mo- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nate- oder manchmal sogar jahrelang nicht geprüft wer- Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Ströbele vom den. Die Kompetenz haben in der Regel die Polizeibe- Bündnis 90/Die Grünen. amten, die der Staatsanwalt dann aufsuchen muss. Im Allgemeinen gehen sie die Daten dann doch gemeinsam durch. Es wäre ehrlicher, wenn das in Zukunft direkt Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE durch den Polizeibeamten, den Fachmann, erfolgen GRÜNEN): könnte, der mit einem solchen Datenträger umgehen Guten Abend, Herr Präsident! Guten Abend, verehrte kann. Das bringt eine Erleichterung. Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kauder, Sie haben auf der Diskussion zu dieser späten Stunde be- Es bringt ebenfalls eine Erleichterung, wenn Sie dem standen. Deshalb habe ich mir eigentlich viel mehr da- Richter in Zukunft die Möglichkeit eröffnen – ich weiß von erwartet. nicht, warum Sie das kritisieren –, eine Hauptverhand- lung auch ohne Protokollführer durchzuführen, wenn (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) dieser nicht greifbar ist. Er könnte dann die wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung notieren und sie Ich dachte, Sie machen jetzt zu dem vorliegenden Ge- anschließend ins Reine schreiben. Wenn Sie das für den setzentwurf gravierende Einwendungen, die es ja tat- falschen Weg halten, bitte ich Sie, das dem Justizminis- sächlich gibt und über die wir in den Ausschüssen sicher ter Ihres Landes, Baden-Württemberg noch diskutieren werden. (Rainer Funke [FDP]: Das ist eine Frau!) Ich kann Ihnen versichern: Der Deal im Strafverfah- ren liegt uns allen am Herzen. Ich hatte in meiner – Entschuldigung –, vorzutragen und zu erklären, wa- 30-jährigen Praxis als Strafverteidiger sehr viel damit zu rum Sie das nicht mittragen. Das wäre eine echte Er- tun. Aber wenn Sie das gesetzlich regeln wollen, treffen leichterung und würde in vielen Fällen dazu führen, 5424 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Hans-Christian Ströbele (A) dass einfache Hauptverhandlungen auch dann durchge- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (C) führt werden könnten, wenn Mangel an Personal GRÜNEN): herrscht oder jemand plötzlich krank geworden ist. Letzter Punkt, Herr Präsident. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Siegfried In einem Punkt gebe ich Ihnen allerdings Recht: Die Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: Dann Frage der Übertragung von Urteilen aus Strafverfah- müssen Sie auch noch Inhaltsprotokolle ren in Zivilverfahren ist ein echtes Problem. Darüber schreiben!) müssen wir uns auseinander setzen. Eine Reihe von pro- Sie können sich dabei auch technischer Mittel bedie- blematischen Punkten dazu haben Sie genannt. nen. Es ist jetzt vorgesehen – ich glaube nicht, dass das Trotzdem ist das Justizmodernisierungsgesetz ein so schnell greift, weil die Justiz erst noch die Geräte an- wichtiger Schritt in die richtige Richtung, die Justiz ef- schaffen muss –, dass der Richter in Zukunft auf einen fektiver zu gestalten. Knopf drücken und spontan etwas mitschneiden und hin- terher schnell abdiktieren kann, wie auch Sie das in Ihrer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Praxis wahrscheinlich machen. Dann hat er eine verläss- und bei der SPD) liche Grundlage für die Anfertigung des Protokolls. Es gibt eine sehr pfiffige Weiterung im Zivilprozess. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es soll in Zukunft möglich sein, dass der Richter von Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der dem Unmittelbarkeitsgrundsatz absieht. Wenn er ei- FDP-Fraktion. nen Zeugen fragen will, ob er überhaupt etwas gesehen habe, oder er von einem Sachverständigen wissen will, was dessen Gutachten ergeben habe oder was sich än- Rainer Funke (FDP): dere, wenn diese oder jene Variante eintrete, dann kann Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- er einfach anrufen oder sich mit ihm per E-Mail in Ver- lege Hartenbach, richten Sie bitte den Wortschöpfern in bindung setzen und während der Hauptverhandlung Ihrem Justizministerium unsere besten Grüße aus. Denn diese Frage klären. Dadurch wird eine Verzögerung ver- was wir in letzter Zeit im Bereich der Justizreform, der mieden. Justizbeschleunigung, der Justizentlastung und der Justiz- Ich gestehe Ihnen zu, dass dazu natürlich die Justiz anpassung erlebt haben, ist ganz fantastisch, aber mehr mit den entsprechenden Apparaten ausgerüstet werden Schein als Sein. muss. Es darf einfach nicht so lange dauern wie etwa (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) hier in Berlin, wo wir zehn Jahre darauf gewartet haben, (D) dass ein zweites Faxgerät für die gesamte Justiz ange- Dasselbe gilt natürlich auch für die letzte Justizre- schafft wird. form, die hier noch im letzten Jahr von den damaligen Koalitionsfraktionen, die auch die heutigen sind, durch- (Jörg van Essen [FDP]: Das ist in Baden- gepeitscht wurde. Ich glaube, wir wären gut beraten, ehe Württemberg besser!) wir mit dem Justizmodernisierungsgesetz ein neues Re- formwerk anpacken, erst einmal zu evaluieren, was aus Das muss relativ zügig geschehen. den alten, vor einem Jahr beschlossenen Justizreformen Als jemand, der viel in Großverfahren verteidigt hat, eigentlich geworden ist und ob das alles Sinn gemacht weise ich auf einen dritten und letzten ganz wichtigen hat. Punkt hin. Es ist und war schon lange an der Zeit, die (Jörg van Essen [FDP]: Sehr berechtigte Möglichkeiten der Unterbrechung der Hauptverhand- Frage!) lung in Großverfahren endlich auszudehnen. Es ist ein Unwesen, was Sie heute noch jede Woche hier in Moabit Zum Justizmodernisierungsgesetz der Bundesregie- am Gericht erleben können: Es finden so genannte rung hat sich die FDP bereits mehrfach geäußert. Es war Schiebetermine statt, zu denen die Prozessbeteiligten sicherlich zu begrüßen, dass Bundesregierung und Bun- sich treffen und für eine Viertelstunde oder für zehn Mi- desländer zunächst einen Konsens gefunden haben. Wir nuten ungeheuer hohe Kosten verursachen – nur weil sie verkennen auch nicht, dass der Gesetzentwurf einige keine längere Unterbrechung durchführen können. Da- sinnvolle Regelungen enthält. Sie, Herr Staatssekretär, durch sind die Kosten vieler Prozesse erheblich aufge- haben zu Recht auf die Verlängerung der Zehntagefrist bläht worden. aufmerksam gemacht. Sie ist sicherlich sinnvoll. Das beenden wir jetzt, indem wir den Gerichten sehr An anderer Stelle sind die Reformen von rein fiskali- viel flexiblere Handlungsmöglichkeiten schaffen, länger schen Überlegungen geprägt. Dies darf aber nicht der zu unterbrechen oder zu vertagen, zum Beispiel wenn Schwerpunkt der Reformüberlegungen sein. Die Refor- ein Angeklagter, ein Staatsanwalt, ein Richter oder ein men im Bereich der Justiz können eigentlich nur dann Verteidiger krank geworden ist. Sinn machen, wenn sie geeignet sind, die Justiz stark, bürgernah und leistungsfähig zu machen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Denken Sie bitte an die Zeit. des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5425

Rainer Funke (A) Wenn darüber hinaus Kosteneinsparungseffekte erzielt Christoph Strässer (SPD): (C) werden können, dann begrüßen wir das. Das kann aber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nicht der einzige Zweck sein. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Funke, Lassen Sie mich einen besonders kritischen Punkt an- in einer Einschätzung, die Sie hier abgegeben haben, sprechen. Die geplante Tatsachenbindung der Zivil- kann ich Sie nur ausdrücklich unterstützen: Justizpolitik richter an die Ergebnisse der Strafgerichte begegnet und Rechtspolitik können nur funktionieren, wenn sie unseren großen Bedenken – offensichtlich auch den Be- Rechtspolitik im wahren Sinne des Wortes ist und nicht denken der Grünen, das begrüßen wir sehr. Diese Forde- Fiskalpolitik. rung, die die Bundesregierung erhebt, verkennt, dass die (Beifall bei der SPD und der FDP) Beweisziele im Zivil- und Strafprozess völlig unter- schiedlich sind. Während im Strafprozess der Untersu- Da haben Sie völlig Recht; an der Stelle stimmen wir Ih- chungsgrundsatz sowie der Grundsatz „in dubio pro reo“ nen ohne weiteres zu. Nur, ich muss Ihnen offen sagen: gilt, herrschen im Zivilprozess der Dispositions- und der Ich hatte den Eindruck, dass Sie an der Stelle nicht über Verhandlungsgrundsatz. Da im Strafverfahren künftig in das Justizmodernisierungsgesetz der Bundesregierung der Beweiserhebung zusätzlich sämtliche zivilrechtli- reden, sondern über das Justizbeschleunigungsgesetz der chen Fragestellungen berücksichtigt werden müssten, CDU/CSU, das an dieser Stelle schon mehrfach eine kann das Ziel der Justizentlastung in keinem Fall erreicht Rolle gespielt hat. werden. (Beifall bei der SPD – Rainer Funke [FDP]: (Beifall bei der FDP) Über beide!) Auch das Argument einer Verbesserung des Opfer- Wir sind – das ist auch der Ausgangspunkt für unsere schutzes ist eigentlich nur vorgeschoben. Bereits heute Überlegungen – zumindest in der ersten Lesung und, so kann das Opfer seine Entschädigungsansprüche im Ad- denke ich, auch in den Beratungen, die folgen werden, häsionsverfahren nach §§ 403 ff. StPO geltend machen. auf dem gleichen Weg wie die Bundesregierung. Die Justizreform – so sie denn im geplanten Umfang stattfin- (Joachim Stünker [SPD]: Auf dem Papier, ja!) det – entspricht genau den Vorgaben, die wir als Juristen für eine Justizpolitik definieren. Diese Vorgaben sind – Herr Stünker, es ist ja gerade das Problem, dass die zum einen eine Stärkung der Justiz, zum anderen aber Strafrichter kein Zivilrecht anwenden können oder wol- auch eine Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bür- len. ger bei der Verfolgung ihrer Rechte vor den Gerichten. (Joachim Stünker [SPD]: können schon!) Das sage ich an dieser Stelle auch ausdrücklich vor dem (B) Hintergrund, dass wir beschleunigen wollen, dass Be- (D) – Das ist sehr unterschiedlich. Wenn sie zeit ihres Le- schleunigung aber gerade nicht auf dem Rücken derjeni- bens nur mit Strafrecht befasst waren, möchte ich diesen gen ausgetragen werden soll, die Recht suchen. Sie sol- Richtern auch nicht zumuten – im Übrigen auch den Pro- len ihr Recht weiterhin bekommen. Wir wollen zessbeteiligten nicht –, ein Urteil im zivilrechtlichen versuchen, die Reform so zu gestalten und so zu formu- Sinne zu fällen. lieren, dass dies schneller, dass dies effektiver, aber wei- terhin unter Bewahrung rechtsstaatlicher Grundsätze ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schieht. Deshalb begrüßen wir den vorgelegten Entwurf. Herr Kollege Funke, kommen Sie bitte zum Schluss. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben über die Frage der Verwertung von vo- Rainer Funke (FDP): rausgegangenen strafrechtlichen Urteilen und Ver- Ja, ich komme sofort zum Schluss. nehmungen in einem Zivilprozess diskutiert und wer- den darüber auch in Zukunft kritisch diskutieren. Ich Wir teilen die Auffassung der Grünen, dass wir im glaube, da sind wir – möglicherweise über die Fraktio- Rechtsausschuss in diesem Punkt nachbessern müssen. nen hinweg – unterschiedlicher Auffassung. Ich habe ge- Ich glaube, das wird uns gemeinsam auch gelingen. rade sehr wohl vernommen, was Sie gesagt haben, und glaube auch, dass an Ihrer Kritik das eine oder andere Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. berechtigt ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Nur, an einer Stelle muss man aus meiner Sicht auch der CDU/CSU) einmal innehalten und hinterfragen, gerade wenn man in der Praxis ist – ich bin noch nicht so lange aus der Pra- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: xis; im Gegenteil, ich mache das, so gut es geht, noch et- Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat was weiter –: Gerade bei den viel zitierten Verkehrsun- der Kollege Christoph Strässer von der SPD-Fraktion fällen findet relativ zeitnah zu dem Unfallereignis die das Wort. Vernehmung des Zeugen im Bußgeld- oder Strafverfah- ren statt. Diese wird protokolliert. Dann dauert es – das (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- sind unsere Erfahrungswerte – bis zur ersten Beweisauf- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nahme im Zivilprozess ein halbes Jahr, ein Jahr oder NEN]) auch länger. Derselbe Zeuge wird wieder vernommen 5426 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Christoph Strässer (A) und er sagt – auch wegen der möglicherweise unter- empfinden wir das – von einer ganzen Reihe von am (C) schiedlichen Beweisgrundsätze – etwas völlig anderes Rande des Rechtsmissbrauchs geführten Rechtsbehelfen als in seiner Vernehmung vor der Polizei, vor der Ord- befreit werden. Auch das entlastet die Justiz und begüns- nungsbehörde oder vor dem Strafgericht. Jetzt wird ihm tigt den rechtstreuen Bürger. in der mündlichen Verhandlung vor dem Zivilgericht das, was er damals gesagt hat, vorgehalten. Dann sagt er: Meine Damen und Herren, wir wollen über diesen Jawohl, wenn ich mich richtig erinnere, war meine erste Gesetzentwurf kritisch diskutieren. Ich freue mich auf Aussage unmittelbar nach dem Ereignis wohl richtig. die Diskussion im Ausschuss. Wir sagen auch: Verfah- rensbeschleunigungen an sich sind nichts Negatives. An Ich bitte, das zu bedenken, wenn man in Bausch und dieser Stelle möchten wir uns aber deutlich von dem ab- Bogen über unterschiedliche Ansätze bei der Beweiser- grenzen, was die Opposition in den letzten Wochen und mittlung und bei der Ermittlung der Wahrheit in diesem Monaten zum so genannten Justizbeschleunigungsgesetz Verfahren spricht. Wir werden über diese Probleme re- vorgelegt hat. den; aber ich halte diese Regelung nicht für völlig abwe- gig. (Zuruf von der FDP) – Die größere Oppositionspartei. Einen weiteren Punkt will ich nur in aller Kürze an- sprechen. Ich wundere mich an dieser Stelle, dass das, Zum Abschluss will ich feststellen: Es hat einmal in was die Opposition immer gefordert hat und was wir Nordrhein-Westfalen den Versuch gegeben – das weiß jetzt vorsehen, von ihr nicht positiv dargestellt worden ich aus eigener leidvoller Erfahrung –, das Justizressort ist: Die Unterbrechungsdauer im Strafverfahren auf- zu entmachten und einem anderen Ressort zuzuschlagen. grund der vielen Schiebetermine, die wir immer beklagt haben, wird nun endlich rechtsstaatlich vernünftig unter (Otto Fricke [FDP]: Wer war denn das?) den Aspekten des § 229 StPO geregelt. Das betrifft nicht Das ist glücklicherweise – so sage ich einmal – von der nur den Gang der Justiz. Damit wird vielmehr auch auf Verfassungsgerichtsbarkeit gekippt worden. Wir aller- das Unverständnis der Beteiligten eingegangen, die stau- dings wollen – das unterscheidet uns deutlich von der nend davor stehen, wie an dieser Stelle in vielen Fällen CDU/CSU –, dass die Justiz- und Rechtspolitik als ei- in der Strafjustiz verfahren wird. genständiger politischer Faktor erhalten bleibt und keine Zur Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung Unterabteilung des Finanzministeriums wird. trägt außerdem – auch das ist ein sehr wichtiger Punkt, Herzlichen Dank. der in diesem Gesetzentwurf angegangen wird – die (B) Möglichkeit des Gerichts bei, in begründeten Einzelfäl- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) len – darauf lege ich Wert – mit Einverständnis der Par- DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Und wie teien vom Strengbeweis und Unmittelbarkeitsprinzip ist das in Bremen?) abzusehen und die neuen modernen Kommunikations- mittel zu nutzen. Das verschafft dem Richter die nötige Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Flexibilität im Verfahren und erspart den Parteien und den Zeugen Kosten, Zeit und Unannehmlichkeiten. Ich schließe die Aussprache. Auch hierin sehen wir einen positiven Ansatz, der sich Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- jedenfalls aus unserer Sicht durchaus mit dem Begriff fes auf Drucksache 15/1508 an die in der Tagesordnung „modern“ umschreiben lässt. aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu Ich will einen Bereich ansprechen, der heute noch anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann keine Rolle gespielt hat – vielleicht deswegen, weil es ist die Überweisung so beschlossen. sich hierbei nur um Ordnungswidrigkeiten handelt –, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: wobei er in der Praxis eine ganz evidente Bedeutung hat, weil gerade Ordnungswidrigkeitenverfahren mit be- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus stimmten Verzögerungstaktiken gegen das Rechtsbe- Haupt, Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel Bahr (Müns- wusstsein der Betroffenen verstoßen. Dabei handelt es ter), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der sich im Wesentlichen um Verfahrenstricks, die auch ich FDP kenne und die ich angewendet habe – ich bekenne mich ausdrücklich dazu –, um beispielsweise die Tilgung alter Für eine schnelle rechtsstaatliche Information Verstöße zu erreichen. betroffener Rentner über die fehlerhafte ma- schinelle Vergleichsrentenberechnung der BfA Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird nach § 307 b SGB VI versucht, eine Neufassung des § 25 StVG zu formulie- ren. Es wird auf diese Weise solchen Verfahrenstricks – Drucksache 15/839 – mit guten Methoden und Mitteln entgegengetreten. Hier- Überweisungsvorschlag: nach gilt grundsätzlich die Tatzeit als objektives An- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) knüpfungsmerkmal und nicht das mehr oder weniger zu- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fällige Datum der letzten tatrichterlichen Entscheidung. Wenn aber in Zukunft die Tatzeit und nicht das Urteil b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus oder der Strafbefehl entscheidet, wird die Justiz – so Haupt, Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel Bahr (Müns- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5427

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) ter), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der werden. Es geht nicht darum, unseren Antrag unbedingt (C) FDP eins zu eins umzusetzen. Es geht hier auch nicht um Par- teipolitik. Es geht um eine Anschlusslösung für die Be- Für eine gerechte Versorgungsregelung für troffenen – egal welcher Art –, die wir gemeinsam schaf- das ehemalige mittlere medizinische Personal fen sollten. in den neuen Ländern – Drucksache 15/842 – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Das andere Problem sind die Anwartschaften von Rent- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nern aus den neuen Bundesländern, die einen Anspruch auf eine Zusatz- und Sonderversorgung als Lehrer mit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Hochschulabschluss, als Ärzte bzw. Wissenschaftler der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die ehemaligen DDR hatten. Diese mussten im Jahre 2001 FDP fünf Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einver- neu berechnet werden, was die BfA auch tat. Nur: Die standen? – Dann ist das so beschlossen. Behörde nahm nicht – wie vorgeschrieben – die tatsäch- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das lichen Verdienste als Grundlage, sondern gekürzte Ver- Wort der Kollege Klaus Haupt von der FDP-Fraktion. dienste, weil sie nur auf die Daten der Rentenversiche- rung, nicht jedoch auf die Daten der Zusatzversicherung (Beifall bei der FDP) zurückgriff.

Klaus Haupt (FDP): Angesichts des hohen Alters der betroffenen 250 000 Rentner in den neuen Ländern war es unser gemeinsa- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mes Anliegen als Gesetzgeber, durch ein schnelles, ma- Beide heute vorliegenden Anträge haben eine Gemein- schinelles Berechnungsverfahren eine zeitnahe Neube- samkeit: Sie betreffen Anliegen älterer Menschen in den rechnung zu erreichen. Die maschinelle Berechnung neuen Bundesländern. Ihre Themen werden dort mit gro- sollte die Verfahrensdauer abkürzen; jedoch nicht, um ßer Sensibilität und Interesse verfolgt. die Renten der Betroffenen zu kürzen. Eine systemati- Im Rentenrecht der DDR gab es die Besonderheit, sche Fehlberechnung hat der Gesetzgeber nicht gewollt. die Mitglieder des mittleren medizinischen Personals Schnell, aber nicht falsch war unser gemeinsames Ziel. – also Krankenschwestern, Hebammen, Physiotherapeu- Wir sind uns einig: Die fehlerhaften Berechnungen ten, Fürsorgerinnen und andere Mitarbeiter des Gesund- der BfA sind eine Zumutung für die hochbetagten Be- heits- und Sozialwesens – durch die Aussicht auf eine (B) troffenen, die nach langer Wartezeit fehlerhafte Be- (D) höhere Rente im Beruf zu halten. Die Arbeit selbst scheide erhalten, deren Fehler sie aber nicht erkennen wurde nicht gut bezahlt. Dazu kamen Belastungen durch können, weil sie nicht darauf hingewiesen werden. Das Schichtdienst, Nacht- und Wochenendeinsätze. Per Ge- schädigt aus unserer Sicht das Vertrauen der Bürger in setz wurde diesen Beschäftigten daher ein Rentenan- den Rechtsstaat. spruch mit dem Steigerungsfaktor von 1,5 Punkten bei der Berechnung berücksichtigt. So wurde es auch nach Eine komplette neue Einzelfalldurchführung scheint 1990 gehandhabt; bis 1996 gab es Bestandsschutz. Aber uns allerdings nicht im Interesse der Betroffenen zu sein, für alle, die ab 1. Januar 1997 ins Rentenalter eintraten, da dies zu unnötigen Zeitverzögerungen führt. Deshalb sollte diese Regelung – in der Erwartung, dass die Ein- fordern wir in unserem Antrag erstens, dass in Zukunft kommensverhältnisse in den neuen Ländern bis dahin eine maschinelle Berechnung nur zulässig ist, wenn die das Westniveau erreicht haben – nicht mehr gelten. Betroffenen über die mögliche Fehlerhaftigkeit umfas- Dies ist jedoch bis heute nicht der Fall. Rund 340 000 send belehrt werden. Zweitens fordern wir, dass diese Menschen sind von dieser Rentenkürzung betroffen. Information natürlich auch an die Rentner gegeben wird, Der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion fordert ein fai- die seit 2001 möglicherweise fehlerhafte Bescheide er- res Rentenrecht auch für die, die ab 1997 in Rente ge- halten haben. Ich meine, dass alle hier im Hause vertre- gangen sind. Ihre derzeitige Schlechterstellung ist inak- tenen Fraktionen dieser Forderung zustimmen können, zeptabel, da der Steigerungsbetrag zu den erworbenen und bitte Sie alle deshalb herzlich, dieses berechtigte Rentenansprüchen gehört und dem Eigentumsschutz un- Anliegen der Betroffenen ohne Vorbehalt sachlich zu terliegt. prüfen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass (Beifall bei der FDP) durch gesetzgeberische Eingriffe in Rentenanwartschaf- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht in den bei- ten diese durchschnittlich um nicht mehr als 10 Prozent den Anträgen nicht um Parteipolitik – ich wiederhole gemindert werden dürfen. Dieses Postulat wird für Be- mich –, es geht auch nicht darum, irgendwelche Privile- dienstete des mittleren medizinischen Personals der gien für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu erzielen, DDR, die ab dem 1. Januar 1997 in das Rentenalter ein- sondern darum, dass rechtmäßig erworbene Ansprüche traten, verletzt. erfüllt werden. Es geht zum einen um Gerechtigkeit und Hier geht es um Gerechtigkeit. Gerechtigkeit kann es um rechtstaatliche Verfahren zum anderen. Deshalb bitte nicht einfach nach Kassenlage geben. Rechtmäßig er- ich um Unterstützung, damit das Vertrauen in den worbene, erarbeitete Ansprüche müssen auch erfüllt Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland bei den 5428 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Klaus Haupt (A) Menschen in den neuen Bundesländern keinen Schaden Man hat den Weg der maschinellen Bescheiderteilung (C) nimmt. auch deshalb gewählt – darin bestand Einigkeit –, um den bereits älteren Rentnerinnen und Rentnern möglichst Danke. zeitnah Verbesserungen bei der Vergleichsberechnung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zukommen zu lassen. (Klaus Haupt [FDP]: Dann muss man die rich- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tigen Datensätze nehmen!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz von der SPD-Fraktion. Es war allen klar, dass hierbei nicht immer die tatsächli- chen Verdienste berücksichtigt wurden, zumal die Bun- Erika Lotz (SPD): desversicherungsanstalt für Angestellte erst seit Herbst 1997 über diese Daten verfügt. Ich denke, Ihr Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Antrag verunsichert nur. Herr Haupt, bei den Anliegen der FDP machen wir eine ganz neue Erfahrung. Normalerweise setzen Sie sich Aber auch mit dem Antrag, dem mittleren medizini- stärker für die Besserverdienenden ein, schen Personal – damit ist vor allen Dingen das Pflege- personal gemeint – in der Rente den besonderen Steige- (Jörg van Essen [FDP]: Das glauben doch nur rungssatz zuzugestehen, weckt Hoffnungen und schürt Gewerkschaftsfunktionärinnen wie Sie!) neue Unsicherheiten bei Rentnerinnen und Rentnern in bei diesem Antrag liegen Ihnen die Menschen mit gerin- Ost und auch in West. Mir ist nicht ganz klar, warum wir gerem Einkommen am Herzen. Ich will festhalten, dass das nach einem Jahr wieder debattieren müssen. Ein wir diesen Antrag vor einem Jahr im Parlament schon gleich lautender Antrag wurde vor einem Jahr abgelehnt. einmal beraten haben. Auf der gestrigen Sitzung des Die Grundlagen haben sich seitdem nicht verändert. Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung al- Eine der Grundlagen ist das Renten-Überleitungsge- lerdings waren die Änderungsanträge der FDP ein Beleg setz, das unter CDU/CSU und FDP beschlossen wurde. dafür, dass sie doch eher die Interessen der Pharma- Es basiert auf derselben Grundlage wie das industrie, der Zahnärzte und der Kassenärztlichen Verei- Sozialgesetzbuch VI: Für die Rentenberechnung sind die nigungen vertritt. Arbeitseinkünfte maßgebend, für die Beiträge gezahlt worden sind. Ihr wortgleicher Antrag wurde am 12. Juni im Aus- schuss für Arbeit und Sozialordnung beraten und am Nun fordern Sie, von fiktiven zusätzlichen Arbeits- Ende abgelehnt. Die CDU/CSU hatte sich der Stimme entgelten auszugehen und damit den besonderen Steige- (B) enthalten. Die Argumente sind im Grunde genommen rungssatz des 1,5fachen des durchschnittlichen Arbeits- (D) ausgetauscht. Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass man den entgeltes zu übernehmen. Ich denke, das lässt sich mit Menschen hinsichtlich ihrer Anliegen, die verständlich dem Äquivalenzprinzip nicht vereinbaren, obwohl natür- sind, Hoffnung macht. Denn ich sehe keinen Weg, wie lich klar ist, warum es für Krankenschwestern und ande- wir sie erfüllen können. res medizinisches Personal in der ehemaligen DDR die- (Klaus Haupt [FDP]: Wir müssen eine Kom- sen besonderen Steigerungssatz für die Rente gegeben promisslösung finden!) hat: Sie wurden schlecht bezahlt, hatten hohe Belastun- gen und konnten sich die Beiträge zur freiwilligen Zu- Auch Ihr zweiter Antrag über die Vergleichsrenten- satzversicherung meistens nicht leisten. Ich denke aber, berechnung der Bundesversicherungsanstalt für Ange- dass es auch im Westen niedrig entlohnte Dienste im Be- stellte verunsichert höchstens. Der Antwort auf Ihre reich der Pflege gibt. Kleine Anfrage vom 13. März dieses Jahres konnten Sie entnehmen, dass das, was getan werden muss, getan Das Bundessozialgericht hat festgestellt, dass das al- wird. Trotz allem fordern Sie, dass die Rentnerinnen und les in Ordnung ist. Ich meine, wir tun uns allen keinen Rentner, die in der ehemaligen DDR Zusatz- oder Son- guten Dienst damit, dass wir diese Diskussion erneut be- derversorgte waren und deren Rentenbeginn vor dem ginnen und Hoffnungen wecken, die nachher nicht er- 1. Januar 1992 lag, über etwaige Ungenauigkeiten bei füllt werden können. ihren Vergleichsrenten informiert werden. Es muss Ihnen doch bekannt sein, dass bisher nur wenige Bescheide be- (Klaus Haupt [FDP]: Frau Lotz, lassen Sie uns richtigt werden mussten und dass die BfA, die Bundes- doch eine Lösung suchen! Kommen Sie doch versicherungsanstalt für Angestellte, mit Informations- mit einem Kompromissvorschlag!) veranstaltungen und mithilfe der Medien dafür gesorgt Lieber Herr Haupt, wir können doch nicht nur mit einer hat, dass die infrage kommenden Menschen informiert Personengruppe beginnen. Sie wissen ganz genau, dass wurden und sich in der Zwischenzeit an die BfA zwecks es im Bereich der Zusatzversorgungsrente noch ganz an- Überprüfung wenden konnten. dere Personengruppen gegeben hat. Wir würden also mit Als der Bundestag die Neufassung von § 307 b des der einen Gruppe beginnen und Sie kämen dann mit der Sozialgesetzbuches VI beschlossen hat, wurde damit nächsten Gruppe und dem nächsten Antrag. Ich denke, ausdrücklich legitimiert, maschinelle Bescheide zu ver- Ihr Verhalten ist an dieser Stelle – gelinde gesagt – doch schicken. recht populistisch. (Klaus Haupt [FDP]: Aber keine falschen!) Danke schön. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5429

Erika Lotz (A) (Beifall bei der SPD – Klaus Haupt [FDP]: mehr. Bei der Neuberechnung von Bestandsrenten aus (C) Das war unter der Gürtellinie! Das erzählen Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Zusatz- und Sonder- Sie mal den Krankenschwestern! – Jörg van versorgungssystem der DDR wurden für die Ermittlung Essen [FDP]: Das war ein schwacher Beifall!) der persönlichen Entgeltpunkte Ost die während der ge- samten Versicherungszeit bezogenen tatsächlichen Ar- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: beitsentgelte oder Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, während nach DDR-Recht nur der Schnitt der letzten Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von 20 Jahre berücksichtigt wurde. Daraus ergaben sich bei der CDU/CSU-Fraktion. den Rentnern mit Zusatzversorgungen Benachteiligun- gen. Deshalb muss nunmehr eine Neuberechnung vorge- Maria Michalk (CDU/CSU): nommen werden. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Der Gesetzgeber hat der BfA erlaubt, für die Neube- Herren! In wenigen Tagen begehen wir zum 13. Mal den rechnung ein maschinelles Verfahren anzuwenden. Tag der Deutschen Einheit. Im Einigungsvertrag wurde Praktisch bedeutet dies, dass die BfA auf den vorhande- festgelegt, die Rentenansprüche aller Menschen aus dem nen Versicherungsverlauf zurückgreifen kann, ohne dass Beitrittsgebiet in das bundesdeutsche Recht zu überfüh- eine inhaltliche Prüfung erfolgen muss. Das sollte der ren – eine Aufgabe nie gekannten Ausmaßes. Die Kom- Beschleunigung des Verfahrens dienen, wie heute schon pliziertheit dieser Problematik ist heute schon angerissen erwähnt wurde, weil es in der Regel um Betroffene im worden. hohen Alter geht. Mit dem Renten-Überleitungsgesetz war dieser Pro- Problematisch ist also, dass die BfA nur eine Neube- zess 1992 zunächst abgeschlossen. Die Rentner in den rechnung nach den tatsächlichen Entgelten vornimmt, neuen Bundesländern, insbesondere auch die Frauen, ha- wenn die Betroffenen Widerspruch einlegen. Deshalb ben vornehmlich aufgrund der vielen Arbeitsjahre eine fragen wir, warum die Rentner in den Bescheiden nicht Aufwertung erhalten. Sie verstehen sich bis heute mehr- über die Möglichkeit einer falschen Vergleichsberech- heitlich als die Gewinner der deutschen Einheit. Das ha- nung durch dieses maschinelle Verfahren informiert ben sie auch verdient. Bestimmte Berufsgruppen fühlen wurden. sich aber benachteiligt bzw. sind es objektiv bis heute noch. Opfer des SED-Unrechts beklagen zum Beispiel, (Klaus Haupt [FDP]: Richtig!) dass sie weniger Rente erhalten als die Mitarbeiter des Staatsapparates. Gerade diesen Aspekt dürfen wir bei Hier steht das Ministerium in der Pflicht, wir sehen eine dieser Diskussion nicht aus den Augen verlieren. Verantwortung des Ministeriums. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Klaus Haupt [FDP]) Der Wirrwarr der vielen Regelungen ist selbst für uns Gerichtliche Entscheidungen haben den Gesetzgeber kaum noch überschaubar. Wie dann für die Betroffenen? immer wieder gezwungen, nachzubessern. So entstanden Eine Informationskampagne wäre deshalb wirklich neue Ungereimtheiten. Das ist eine Tatsache, die uns notwendig gewesen. Es muss ja nicht gleich eine solche auch heute wieder beschäftigt. Vielleicht ist eine ab- sein wie gegenwärtig zur Agenda 2010. schließende hundertprozentige Regelung überhaupt Das Ministerium hätte gegenüber der BfA zumindest nicht möglich. Wir müssen uns aber immer wieder da- einen entsprechenden Hinweis in den Rentenbescheiden rum bemühen. Wir Abgeordnete sind verpflichtet, diese durchsetzen müssen. Man kann nicht rund 250 000 Rent- Fragen weiter zu begleiten. Der vorliegende Antrag „Für nern eventuell höhere Ansprüche – nicht jeder hat einen eine schnelle rechtsstaatliche Information betroffener höheren Anspruch – aus ihrem Arbeitsleben vorenthal- Rentner über die fehlerhafte maschinelle Vergleichsren- ten. Deshalb ist die Forderung korrekt, bei maschinell er- tenberechnung der BfA nach § 307 b SGB VI“ ist des- stellten Bescheiden wenigstens in Zukunft den Hinweis halb berechtigt. auf das Recht der Überprüfung anzubringen. Zum Hintergrund: Am 28. April 1999 hat das Bun- Die Zahl der bisher korrigierten Bescheide lässt sich desverfassungsgericht in einer Vielzahl von Entschei- nicht ermitteln, zumindest habe ich keine Hinweise da- dungen zu der Überleitung der DDR-Rentenansprüche, rauf gefunden. Das Argument, eine nachträgliche Infor- speziell zur Überführung von Ansprüchen und Anwart- mation an die betroffenen Rentner könnte erhebliche Ir- schaften aus den Sonder- und Zusatzversorgungssys- ritationen auslösen oder falsche Erwartungen wecken, temen der DDR in bundesdeutsches Recht, Stellung ge- nehmen wir ernst, Frau Lotz. Aber wir stellen uns der nommen. Zwei Verfassungsbeschwerden befassten sich Verantwortung, weil wir der Gerechtigkeit verpflichtet mit der Neuberechnung von Bestandsrenten, also von sind und deshalb auch eine Informationspflicht haben. Renten sonder- und zusatzversorgter Personen, die schon am 31. Dezember 1991 Rente erhalten haben. Das müs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen wir immer wieder klarstellen. Im zweiten Antrag geht es um die gerechte Versor- In Folge hat also die rot-grüne Bundesregierung im gungsregelung für das ehemalige mittlere medizinische Zweiten Anspruchs- und Anwartschaftsüberfüh- Personal in den neuen Bundesländern. Wer im Gesund- rungsgesetz im Jahre 2001 die Umsetzung der Recht- heitswesen arbeitete, hatte einen schönen, aber anstren- sprechung vorgenommen, aber eben nur diese, nicht genden Job. Das gilt auch heute. Nachtschichten und 5430 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

Maria Michalk (A) Sonntagsdienste sind völlig normal. Weil in DDR-Zeiten anderen Gruppen Enttäuschungen zu verursachen. Das (C) das so genannte mittlere medizinische Personal wie gehört ebenso zu unserem Gleichheitsgrundsatz. Doch Krankenschwestern, Hebammen oder Physiotherapeuten wir müssen das Ganze sehen. nicht besonders gut verdient hat, wurde es mit der Aus- sicht auf eine höhere Rente im Beruf gehalten. Wir dür- Auf eines will ich noch hinweisen: Wir dürfen nicht fen nicht vergessen, dass man dieses Personal händerin- verkennen, dass die jetzt vereinbarte Regelung den grö- gend suchte. Die Beschäftigten haben sich seinerzeit auf ßeren Anteil des finanziellen Mehrbedarfs für die schon die gesetzliche Zusage verlassen, dass ihre in dieser Zeit getätigten Korrekturen den Ländern auferlegt. Wir müs- erworbenen Rentenansprüche um die Hälfte erhöht wer- sen uns mit der Tatsache beschäftigen, dass es sich hier- den. Wie allerdings die DDR-Regierung dies begleichen bei um erkannte, weitere einigungsbedingte Mehrauf- wollte, bleibt ungeklärt, denn sie war, wie wir wissen, wendungen handelt, für die es eine gesamtdeutsche pleite. Verantwortung gibt. Von daher wird uns auch die bevor- stehende grundsätzliche Diskussion der Alterssicherung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gelegenheit geben, ausgehend von der Bestandsauf- nahme vernünftige Regelungen für die Zukunft zu su- Das muss man natürlich sagen. Das haben aber nicht die chen und, wie ich zumindest hoffe, gemeinsam zu be- Betroffenen zu verantworten; das müssen wir politisch schließen. lösen. Ich danke Ihnen. Dennoch müssen wir anerkennen – das gebe ich zu –, dass diese Personengruppe auf diese Zusage baute. Bis (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ende 1996 ging diese Regelung auch in das Rentenrecht neten der FDP) ein. Das wurde heute schon gesagt. Allerdings sind die zusätzlichen Summen als Auffüllbeträge gewährt wor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den und wurden mit jeder Rentenerhöhung abgeschmol- zen. Deshalb gilt die Regelung seit 1997 nicht mehr, wie Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender, Herr Haupt zu Recht schon festgestellt hat. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Etwa 340 000 Mitarbeiter des Gesundheits- und Sozialwesens sind davon betroffen, darunter eine große Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Anzahl von Frauen. In meiner Sprechstunde kann ich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde immer wieder erleben, dass dies als ungerecht empfun- es schon merkwürdig, mit welchen rentenrechtlichen (B) den wird. Gerade bei allein stehenden Frauen und Wit- Feinheiten sich die FDP im Nachtprogramm des Bun- (D) wen wirkt sich die eher bescheidene Rente gravierend destages befasst. Vielleicht hätte es auch eine Aus- auf die Lebensführung aus. Ich habe sehr verbitterte schussberatung getan. Das wäre der Sache dienlicher ge- Menschen kennen gelernt, die die Hoffnung auf eine wesen. Im Übrigen möchte ich deutlich sagen, Herr Nachbesserung nicht aufgegeben haben und nicht aufge- Kollege Haupt: Ihre Anträge sind auch inhaltlich nicht ben wollen. Man muss bedenken, dass die gesetzliche überzeugend. Sie wollen angebliche soziale Härten für Rente in der Regel die einzige Einnahmequelle der Men- Rentnerinnen und Rentner aus der DDR ausgleichen. schen in den neuen Bundesländern ist. Ich kann diese nicht erkennen. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass es bei der Halten wir doch einmal fest: Die deutsche Einheit hat Rentenbewertung von bestimmten Berufsgruppen im gerade für diejenigen, die ihr Arbeitsleben in der DDR heutigen Rentensystem systematische Probleme gibt, verbracht haben und entweder schon in Rente sind oder zum Beispiel bei Ingenieuren, Diplom-Naturwissen- inzwischen in Rente gegangen sind, einen großen öko- schaftlern, Postlern, Hochschullehrern und Eisenbah- nomischen Gewinn gebracht. Die Verdienste, die im Ge- nern. Dies muss man natürlich sehen. Wenn wir für eine biet der neuen Bundesländer erzielt wurden, wurden Gruppe Nachbesserungen durchsetzen, dann benachteili- hoch gewertet. Deswegen gab es eine besonders güns- gen wir die anderen zusätzlich. Deshalb hat die rot-grüne tige Ausgangsbasis für die Rentenberechnung. Die meis- Bundesregierung eine Chance vertan, als sie mit dem ten Menschen im Ruhestand haben auch von der Syste- Zweiten Überleitungsgesetz ausschließlich die Vorgaben matik des westdeutschen Rentenrechtes profitiert. So des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt und sich an- werden heute Renten gezahlt, die den Lebensstandard si- deren Änderungen verschlossen hat. Die ist uns in der chern. Heute werden die Renten an die Entwicklung des Zwischenzeit durch die Einzelbeispiele, von denen wir Wohlstandes angepasst, Herr Kollege. Sie wissen, dass in unseren Büros hören, bewusst geworden. es dies in der DDR nicht gab. Wir erkennen ausdrücklich die sozialpolitischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gründe der betroffenen Berufsgruppen an und wollen an und bei der SPD) einer Lösung mitarbeiten. Vor allem wegen der morali- schen Verpflichtung, altes DDR-Unrecht nicht durch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: neue Verwerfungen fortleben zu lassen, stehen wir in der Pflicht. Die Rentensystematik verpflichtet uns aber Frau Kollegin Bender, erlauben Sie eine Zwischen- auch, nicht durch Korrekturen für eine Berufsgruppe bei frage des Kollegen Haupt? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5431

(A) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich gehe deswegen noch einmal auf einen ganz we- (C) Nein, ich möchte meine Rede ohne Unterbrechung zu sentlichen Punkt ein. Sie nennen in Ihrem Antrag weder Ende führen. Im Ausschuss hätten Sie das haben kön- die Zahl der Betroffenen noch beziffern Sie die Höhe der nen; das wollten Sie aber nicht. zu erwartenden Mehrbelastung für die Rentenkasse. Das ist nicht seriös, Herr Haupt. Nun reichen der FDP die bis zum Jahr 1996 geltenden und wahrlich großzügigen Übergangsregelungen Im Übrigen ist es mehr als scheinheilig, den Antrag nicht. Sie wollen die besonderen Aufschläge für das auf eine höhere Rentenwertfestsetzung nur auf eine mittlere medizinische Personal noch darüber hinaus er- ausgewählte Berufsgruppe, nämlich das mittlere medizi- halten. Dass dies der Systematik des Rentenrechts wi- nische Personal, zu beziehen. Es wurde hier schon ge- derspricht, hat das Bundessozialgericht noch am sagt, dass sich die Sonderregelung des DDR-Renten- 30. Januar 2003 bestätigt. rechtes zum besonderen Steigerungssatz nicht nur auf Krankenschwestern oder auf das mittlere medizinische Politisch ist festzuhalten: Die FDP fordert die jahr- Personal bezog, sondern auf alle Beschäftigten des Ge- zehntelange Anwendung von zweierlei Rentenrechten, sundheits- und Sozialwesens in der DDR. Vergleichbare und das nach der Rosinentheorie. Derjenige, für den das Regelungen galten auch für die Beschäftigten der Deut- westdeutsche Rentenrecht günstiger ist, soll sich auf die- schen Reichsbahn, wie bereits erwähnt, der Deutschen ses berufen können, derjenige, für den das DDR-Renten- Post, für die Beschäftigten in Betrieben mit spezieller recht günstiger ist, soll sich darauf berufen können. So Produktion und zum Beispiel bei der Landesverteidi- kann man mit den Rentenfinanzen nicht umgehen. gung. (Klaus Haupt [FDP]: Das ist unter Niveau!) Sie wissen – Frau Bender hat es eben gesagt –, dass das Vielleicht sollten Sie einmal mit den Rentenexperten Ih- Bundessozialgericht erst im Januar den Antrag einer Klä- rer Fraktion darüber reden. Dann würde sich die Situa- gerin auf Berücksichtigung des besonderen Steigerungs- tion etwas anders darstellen. satzes bei der Rentenberechnung nach dem Sechsten So- zialgesetzbuch zurückgewiesen hat. Die Begründung des Um wen geht es denn in Ihrem zweiten Antrag zur Rentenberechnung? – Es geht um Leute, die in der DDR Gerichts war, das Begehren der Klägerin liefe auf die Ein- einen hohen Verdienst gehabt haben. führung einer neuen Rentenformel hinaus. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Berech- (Maria Michalk [CDU/CSU]: Was haben die nungselement des aus guten Gründen am 1. Januar 1992 gehabt? – Klaus Haupt [FDP]: Wo leben Sie abgelösten Rentenrechts der DDR müsste in das lohn- und denn!) beitragsbezogene Rentenrecht übernommen werden. Das ist in einem System mit Lohnersatzfunktion nicht mög- (B) Das war ein Betrag, der nach unserem Recht oberhalb (D) der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Sie machen sich lich. Auch für die Deutschen Reichsbahner hat das um das Einkommen der alten DDR-Eliten sorgen. Man höchste deutsche Sozialgericht die Berücksichtigung des kann heutzutage wahrlich andere Sorgen haben, als sich Steigerungssatzes abgelehnt. ausgerechnet um die Alterseinkommen der alten DDR- Jedem, der eine solche Forderung für das mittlere me- Eliten zu sorgen. Vielleicht sollte sogar die FDP noch dizinische Personal stellt, muss klar sein, dass die ent- andere sozialpolitische Probleme erkennen. sprechenden Leistungsverbesserungen auch für andere Danke schön. Berufsgruppen gelten müssen. Genaue Zahlen über die Anzahl der Betroffenen liegen uns nicht vor und sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wohl auch kaum zu ermitteln. Man muss sich darüber im und bei der SPD) Klaren sein, dass diese Bereiche sehr beschäftigungsin- tensive Bereiche waren. Ich meine damit alle bereits er- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wähnten Bereiche. Eine rentenrechtliche Aufwertung Das Wort hat jetzt die Kollegin Silvia Schmidt von dieser Beschäftigungszeiten würde zu nicht unerhebli- der SPD-Fraktion. chen beitragssatzrelevanten Kosten führen. Sagen Sie das bitte einmal Ihrem Fraktionsvorsitzenden und dann reden wir noch einmal darüber. Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Vor dem Hintergrund der finanziellen Schwierigkei- Damen und Herren! Ich werde meine Redezeit nicht voll ten, die wir jetzt nicht nur in der gesetzlichen Rentenver- in Anspruch nehmen, Herr Haupt; denn es wurde schon sicherung, sondern in allen sozialen Sicherungssystemen sehr viel gesagt. haben, enthalte ich mich an dieser Stelle jeder weiteren Wertung. Wir von der SPD-Fraktion beschäftigen uns (Klaus Haupt [FDP]: Ich dachte, wir könnten mit diesem Thema. Aber wir debattieren dieses Thema ernsthaft reden!) nicht nur auf einer Schaubühne, sondern wir wollen das – Wir nehmen das auch sehr ernst. Auch ich bin eine Thema in die Gremien zurückbringen, wo es hingehört. Ehemalige aus dem Gesundheitswesen. Glauben Sie mir, Wir werden natürlich die Betroffenen anhören. Das ist ich weiß, wie nicht nur wir gearbeitet haben. In meinen vollkommen klar. Sprechstunden sitzen dieselben Damen und Herren und Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. auch sie sind verbittert. Wir müssen uns aber über einige Punkte im Klaren sein. (Beifall bei der SPD) 5432 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- (C) Ich schließe die Aussprache. ordnung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- den Drucksachen 15/839 und 15/842 an die in der Tages- tages auf Freitag, den 26. September 2003, 9 Uhr, ein. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Die Sitzung ist geschlossen. Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (Schluss: 22.00 Uhr)

Berichtigung 62. Sitzung, Seiten IV und 5280, Anlagen 9 und 10: Die Fragen wurden von Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim beantwortet.

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5433

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Nachträglich zu Protokoll Antwort entschuldigt bis des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerald Thalheim auf die Abgeordnete(r) einschließlich Frage des Abgeordneten Dr. Peter Jahr (CDU/CSU) (Drucksache 15/1555, Frage 32): Andres, Gerd SPD 25.09.2003 Was bedeutet konkret für die deutsche Landwirtschaft die Aussage des Parlamentarischen Staatssekretärs bei der Bun- Bülow, Marco SPD 25.09.2003 desministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft Dr. Gerald Thalheim in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ vom 12. September 2003, bei den notwendigen Ein- Deittert, Hubert CDU/CSU 25.09.2003 sparungen komme mit dem Agrarbereich der Sektor als Erstes in den Blickpunkt, der die meisten Subventionen bekomme Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 25.09.2003 und nicht solch große Zukunftsperspektiven habe wie etwa DIE GRÜNEN die Computerbranche? Bekanntlich ist es Ziel der Bundesregierung bei der Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 25.09.2003 Haushaltskonsolidierung, Entlastungen durch weiteren Joseph DIE GRÜNEN Subventionsabbau zu realisieren. Götz, Peter CDU/CSU 25.09.2003 Unbestreitbar ist die Tatsache, dass der Bund für die Agrarsozialpolitik – dieser bei weitem bedeutsamsten Hartnagel, Anke SPD 25.09.2003 Maßnahme mit 73 Prozent Anteil an den Gesamtausga- ben des Agrarhaushaltes – erhebliche Finanzhilfen für Heinen, Ursula CDU/CSU 25.09.2003 den Agrarbereich bereitstellt. Diese Aussage bezieht sich auch auf die im letzten Subventionsbericht dargestellte Heubaum, Monika SPD 25.09.2003* Tatsache, dass die Finanzhilfen und Steuervergünstigun- gen des Bundes je Erwerbstätigen im Agrarbereich weit Dr. Krogmann, Martina CDU/CSU 25.09.2003 über dem Durchschnitt aller Wirtschaftsbereiche liegt.

Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 25.09.2003* (B) (D) Karl A. Anlage 3

Lensing, Werner CDU/CSU 25.09.2003 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung über den Entwurf eines Vierten Letzgus, Peter CDU/CSU 25.09.2003 Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsge- setzes (Tagesordnungspunkt 8) Lietz, Ursula CDU/CSU 25.09.2003

Lintner, Eduard CDU/CSU 25.09.2003 Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Gut Ding will Weile haben, so heißt es. Die Novelle des Filmförde- Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 25.09.2003 rungsgesetzes ging in zwei Jahren durch die Hände von drei Kulturstaatsministern. Hunderte Stellungnahmen Nitzsche, Henry CDU/CSU 25.09.2003 liegen vor, dutzende Gesprächsrunden fanden statt, Re- solutionen wurden unterzeichnet. Sicher, einmal muss Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 25.09.2003 Schluss sein, einmal muss man sich entscheiden. Doch anscheinend stand zumindest für Kulturstaats- Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 25.09.2003 ministerin Christina Weiß immer schon das Ergebnis fest. Wie sonst ist es zu erklären, dass sich viele der An- Schmidt (Fürth), CDU/CSU 25.09.2003 regungen nicht im Gesetzestext wiederfinden? Warum Christian muss, so frage ich, trotz aller Kritik mit dem Deutschen Filmrat ein weiteres Beratungsgremium eingeführt wer- Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 25.09.2003 den? Ist dieser neben dem bestehenden Verwaltungsaus- Andreas schuss der FFA nicht überflüssig? Dr. Stinner, Rainer FDP 25.09.2003* Warum muss für die Referenzfilmförderung die Schwelle von 100 000 auf 150 000 Zuschauer als Zei- Dr. Thomae, Dieter FDP 25.09.2003 chen für wirtschaftlichen Erfolg erhöht werden? Über- haupt ist zu fragen, ob die Zahl der Zuschauer allein ein Zeichen für den wirtschaftlichen Erfolg eines Films ist. * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- So kann sich ein Film mit 30 000 Zuschauern wirtschaft- lung der NATO lich rechnen, während ein anderer selbst mit 1 Million 5434 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Zuschauern aufgrund hoher Produktionskosten ein wirt- tion, wie sie vor 1933 bestanden hatte, wurde nach 1945 (C) schaftlicher Misserfolg sein kann. Warum werden die behindert und sogar gezielt verhindert. Prädikate der Filmbewertungsstelle Wiesbaden aus der In diesem Hohen Hause wurde im Dezember 2000 je- Referenzfilmförderung herausgenommen, obwohl sich doch endlich ein Anfang zur Achtung und Würdigung dies doch in den letzten Jahren bewährt hatte? Und wa- der während der Nazidiktatur verfolgten Homosexuellen rum werden die Festivals, deren Prämierung Fördermit- gemacht. In einem gemeinsamen Beschluss entschuldig- tel sichern, im Gesetzestext festgeschrieben? Wenn Fes- ten sich die Parlamentarier für die strafrechtliche Verfol- tivals eingestellt werden, sich neu profilieren bzw. neue, gung Homosexueller in der Bundesrepublik und stellten anerkannte Festivals entstehen, müsste doch der Geset- ausdrücklich fest, dass die Strafverfolgung die Men- zestext verändert werden. Dieses Gesetz zementiert in schenwürde verletzt hat. Danach haben wir weitere Zei- dieser Frage den Status quo. Zu fragen ist, warum Sie, chen gesetzt: Eineinhalb Jahre später, im Mai 2002, hat Frau Weiß, nicht auf die vielstimmige Kritik – von den der Deutsche Bundestag die pauschale Aufhebung der Produzenten über die Kinobetreiber bis hin zum Bundes- im Nationalsozialismus wegen Homosexualität verhäng- rat – der letzten Zeit eingegangen sind? Warum haben ten Strafurteile beschlossen – ein wichtiger und richtiger Sie nicht mehr den Dialog gesucht? Weil Sie sich sicher Schritt. waren? Aber der Kampf um die Achtung der Menschenwürde Ja, Sie wissen, was sie wollen. Das haben Sie bei der und das Wachhalten der Erinnerungen müssen – so trau- Gründung der Deutschen Filmakademie bewiesen, die in rig das auch ist –, täglich neu gefochten werden. Mit der Zukunft den deutschen Filmpreis vergeben soll. Tatsache Magnus-Hirschfeld-Stiftung soll nun ein weiteres Pro- ist, die uns jetzt vorliegende Novelle hilft den Großen im jekt der Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte von deutschen Filmgeschäft. Die kleinen Unabhängigen, die Homosexuellen auf den Weg gebracht werden. künstlerische Vielfalt und Breite fördert sie nicht. Diese werden hart getroffen. Im ersten Anlauf, in der letzten Legislaturperiode, ist es uns leider nicht gelungen die Stiftung zu errichten. Nachdem der Bundestag im Juni des letzten Jahres das Anlage 4 Gesetz zwar beschlossen hatte, konnte es aber dennoch nicht mehr in Kraft treten, da der Bundesrat den Vermitt- Zu Protokoll gegebene Reden lungsausschuss anrief. Die Beratungen zur Errichtung zur Beratung über den Entwurf eines Gesetzes der Stiftung wurden damals bedauerlicherweise über- zur Errichtung einer „Magnus-Hirschfeld-Stif- schattet von dem Streit über die Zusammensetzung des tung“ (Tagesordnungspunkt 9) Stiftungskuratoriums. Ein Konsens zwischen den Frakti- (B) onen konnte nicht erzielt werden – und das, obwohl wir (D) Sabine Bätzing (SPD): Ganz in der Nähe des Kanz- uns bei dem zu verfolgenden Ziel alle einig waren. Ob leramtes und der Berliner Kongresshalle, also ungefähr dieses Verhalten der Opposition – zwei Monate vor der fünf Minuten Gehweg von uns entfernt, stand von 1919 Bundestagswahl – eher auf wahltaktische Gründe zu- bis zu seiner Plünderung und Zerstörung das weltweit rückzuführen war oder welche Gründe auch immer der erste Institut für Sexualwissenschaft von Dr. Magnus Zustimmung und der Einigung entgegenstanden, sei nun Hirschfeld. Dieses wurde am 6. Mai 1933 von den Nazis dahingestellt. Jedenfalls unterfiel der Gesetzentwurf da- geplündert und geschlossen. Die Mitarbeiter wurden ins mit der Diskontinuität und so wurde es erforderlich, das Exil getrieben. Umfangreiche Teile der Bibliothek wur- Gesetz in dieser Legislatur erneut in den Bundestag ein- den auf dem Opernplatz verbrannt. zubringen. Zu Magnus Hirschfeld und der heutigen Debatte über Wenn ich mir nun den vorliegenden Gesetzentwurf die Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung gibt es der FDP-Fraktion anschaue, kann ich mir allerdings ein unsererseits aber nicht nur diese räumliche, sondern gewisses Schmunzeln nicht verkneifen. Denn so ganz auch eine inhaltliche Nähe. Mit Magnus Hirschfeld – falsch scheinen wir ja damals mit unserem rot-grünen den nach seinem Studium eine lebenslange Freundschaft Gesetzesentwurf doch nicht gelegen zu haben. Oder wie mit dem damaligen Vorsitzenden der Sozialistischen soll ich es mir sonst erklären, dass der heute zu debattie- Partei Deutschlands, August Bebel, verband, gilt es stell- rende Entwurf nahezu abgeschrieben wurde? Die feine vertretend für viele Opfer einen Menschen angemessen englische Art ist es sicherlich nicht, erst einen Gesetz- zu ehren, dem furchtbares Unrecht angetan wurde. Mit entwurf nicht zu unterstützen, und ihn dann kurze Zeit angemessener Ehrung meine ich in diesem Falle, dass in später mit eigenem Briefkopf selbst einzubringen. Doch unserer Gesellschaft die Würde aller Menschen, auch auch das wollen wir jetzt hier nicht diskutieren. Denn die der homosexuellen, geachtet wird. Errichtung der Magnus-Hirschfeld-Stiftung ist zwischen den Fraktionen in der Sache ja unstrittig. Dieses Unrecht, wie es auch Magnus Hirschfeld erle- ben musste, widerfuhr Tausenden von Homosexuellen Von daher wäre es ein schöner Zug von den Herren während der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten – und Damen der FDP gewesen, wir hätten uns vorher dennoch erfolgte in der Bundesrepublik über fünf Jahr- – vor dieser ersten Lesung – bereits fraktionsübergrei- zehnte keine angemessene Anerkennung. So gab es für fend auf einen Gesetzentwurf verständigt und ihn als ge- die Vernichtung der schwul-lesbischen Infrastruktur meinsamen Entwurf, diesmal ohne den Zeitdruck der nach dem Krieg niemals eine Entschädigung. Im Gegen- letzten Legislatur, eingebracht und beraten. Wie dem teil: Der Neuaufbau einer Infrastruktur der Emanzipa- auch sei. Wir wollen auch bei diesem Thema nicht nach- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5435

(A) karten. Denn es geht hier darum, das Andenken an im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen vom (C) Dr. Magnus Hirschfeld zu ehren und einen einstimmigen 7. Dezember 2000. Ich zitiere an dieser Stelle gerne mei- Beschluss dieses Hauses umzusetzen, der eine kollektive nen Kollegen von der Opposition, den Kollegen Gehb, Wiedergutmachung durch Gedächtnisarbeit und kon- der Folgendes zu Protokoll gab: krete Unterstützung beispielhafter Aktivitäten und Tole- ranz fordert. Dieses Haus will in Einmütigkeit den homosexuel- len Opfern der NS-Zeit Respekt und Anerkennung Natürlich, es gab und gibt unterschiedliche Auffas- zollen. Mit der Zustimmung zum vorliegenden An- sungen über das Aufgabenspektrum einer solchen Stif- trag möchte die CDU/CSU-Fraktion dies bekunden. tung und über Umfang und Zusammensetzung ihrer Gre- Dieses gemeinsame Bekenntnis in der Beschlussfas- mien, zumal das Stiftungskapital den Aktivitäten auch sung hat uns Parlamentarier und die Öffentlichkeit mei- Grenzen setzen wird. Aber dass die SPD-Fraktion die ner Ansicht nach ein großes Stück in der Sache weiterge- Einrichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung grund- bracht. sätzlich unterstützt, steht außer Frage. Von daher werden wir, und zwar nicht nur, weil die Stiftung den Namen ei- Eine gemeinsame Linie aller Fraktionen war auch er- nes Sozialdemokraten tragen soll, offen und diskussions- klärtes Ziel bei der Errichtung einer Magnus-Hirschfeld- bereit für alle Kolleginnen und Kollegen des Hauses Stiftung. In der damaligen Debatte gab es auch bei sein. Union und FDP keinerlei Kritik an der Notwendigkeit der Stiftung an sich. Stein des Anstoßes – ich erwähnte Parteipolitische Interessen und persönliche Eitelkei- das bereits – war die Zusammensetzung des Kurato- ten haben in dieser Diskussion nichts verloren, wenn es riums. So begrüße ich den heutigen Antrag ausdrück- uns um die Sache geht. Denn schließlich sind Homo- lich – auch wenn er von uns abgeschrieben wurde –, er sexuelle in ihrer parteipolitischen Orientierung ja nicht nimmt sich nämlich dieses Problems an. ausschließlich rot, schwarz, grün oder gelb. Für eifer- süchtige Mäkeleien und persönliche Sticheleien ist dies- Die SPD-Fraktion wird sich diesem Antrag nicht ver- mal kein Platz mehr! Darauf muss sich jeder bei unseren schließen. Vielmehr wünsche ich mir, dass wir uns in Gesprächen einstellen; denn klar ist, dass Beratungen den nun folgenden Beratungen über die Fraktionsgren- folgen müssen. zen hinweg auf einen gemeinsamen Antrag einigen können. Die Bereitschaft hierfür ist, denke ich, in allen Nach dem gemeinsamen Beschluss des Bundestages Fraktionen vorhanden. Es gilt aber, jetzt im Detail hinzu- im Dezember 2000, in dem eine kollektive Wiedergut- schauen und die Problematik des Kuratoriums abschlie- machung gefordert wird, sollten sich alle Beteiligten die- ßend zu diskutieren, um zu einer einvernehmlichen Lö- ses Hauses nicht zum zweiten Mal die Chance entgehen (B) sung zu kommen. Damals wie heute wird sich die (D) lassen, gemeinsam die Einrichtung der Magnus- Debatte jedoch an der Frage „Wer kommt hinein und Hirschfeld-Stiftung zu beschließen. Daran gilt es nun zu wer nicht?“ erhitzen. Da der Mensch ein lernendes We- arbeiten. Wir tun dies für die Opfer und dafür, dass sich sen ist, hoffe ich im Sinne der Sache, dass niemand auf in diesem Land niemand seiner Homosexualität schämen die Idee kommt, den vorgelegten Entwurf Lex van Essen muss oder zum Objekt von Hass und Lächerlichkeit zu nennen. wird. Wir freuen uns auf konstruktive Gespräche. Ich wünsche mir, dass wir es mit diesem Anlauf ge- meinsam schaffen, eine Kuratoriumsbesetzung in den Johannes Kahrs (SPD): Wir beraten heute hier ei- nen Gesetzentwurf, wie er von der Koalition am 27. Juni Fachausschüssen zu erarbeiten, der am Ende alle Frakti- 2002 bereits fast gleich lautend verabschiedet worden onen zustimmen können. Nur dann werden wir dieses wichtige Anliegen zu dem verdienten Erfolg führen. war. Der Gang der Ereignisse ist allen geläufig und en- dete im Vermittlungsausschuss. Aufgrund der Diskonti- Ich möchte es abschließend aber nicht versäumen, ei- nuität wurde der Antrag bis heute leider nicht weiter ver- nen kleinen Ausblick zu geben, was denn konkret mit folgt. den Stiftungsmitteln gefördert werden könnte, um zu verdeutlichen, warum eine Magnus-Hirschfeld-Stiftung Ich möchte eines gleich vorwegschicken: Inhalt und heute notwendiger ist denn je. Zweck des heute vorgelegten Entwurfes sind für mich unstrittig; denn sie sind eins zu eins von unserem Ent- In vielen Bundesländern gibt es kleine, ehrenamtlich wurf abgeschrieben worden. Geändert wurde lediglich tätige und regional ausgerichtete Gruppen, die schon die Zusammensetzung des Kuratoriums. Dies war – wir heute im Sinne einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung arbei- erinnern uns an die damalige Debatte – der Stein des An- ten. Sie veranstalten regionale Gedenkveranstaltungen, stoßes für die Ablehnung durch die Opposition. Daher arbeiten die Verfolgung von Schwulen und Lesben im wäre es müßig, hier und heute erneut die guten Gründe Nationalsozialismus auf und suchen den Dialog mit der zu nennen, die für eine Magnus-Hirschfeld-Stiftung Bevölkerung. Oftmals aber fallen gerade diese kleinen sprechen. Vereine und Initiativen, die unabhängig von den großen Verbänden arbeiten, durch alle Raster öffentlicher Förde- Zum besseren Verständnis der heutigen Situation aber rung. habe ich ein bisschen in der parlamentarischen Ge- schichte, die dem heutigen Antrag zugrunde liegt, ge- Die Magnus-Hirschfeld-Stiftung könnte hier einen forscht. Seinen Ursprung nimmt auch der heute vorge- ganz wesentlichen Beitrag im Sinne des Stiftungszwe- legte Entwurf in der Debatte um die Rehabilitierung der ckes leisten. All diese kleinen Gruppen brauchen keine 5436 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Lippenbekenntnisse, sondern konkrete Förderung, die Und der Vertreter Hamburgs hat in der 780. Sitzung (C) aufgrund der jetzigen Struktur der Förderlandschaft des Bundesrates am 27. September 2002 Folgendes aus- nicht gegeben ist. geführt: Lassen Sie uns das gemeinsam formulierte Ziel nicht „Statt die Einmütigkeit des Bundestagsbeschlusses aus den Augen verlieren. Ich betone nochmals: An der vom Dezember 2000 als Chance zu nutzten, auf diesem SPD soll ein solcher Antrag nicht scheitern und ich wün- historisch belasteten Gebiet den gesellschaftlichen Kon- sche mir, dass wir dieses Mal widersinnige Streitereien sens zu fördern und zu vertiefen, hat die Bundestags- vermeiden können, um die Magnus-Hirschfeld-Stiftung mehrheit freie Fahrt für Partikularinteressen gegeben. endlich ins Leben rufen zu können. Die Hektik der parlamentarischen Beratungen, das Des- interesse der Regierungsfraktionen an einer seriösen öf- Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Wir debattieren fentlichen Anhörung und die skurrile Veränderung des heute in erster Lesung den FDP-Gesetzentwurf zur Er- Entwurfs im Rechtsausschuss machen deutlich: Mit die- richtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung. Es ist jedoch sem Stiftungsgesetz soll nicht Magnus Hirschfeld ein nicht das erste Mal, dass wir über die Errichtung einer Denkmal gesetzt werden, sondern dem Grünen-Politiker Stiftung dieses Namens reden. Volker Beck.“ Aus guten Gründen, auf die ich im Verlaufe meiner All diese Zitate, all diese unterschiedlichen Stimmen, Rede noch eingehen werde, will ich mit einem Blick zu- belegen doch eins: Wir sind einmal gemeinsam gestartet. rück beginnen. Nicht zuletzt für die Kolleginnen und Der Beschluss des Bundestages vom 7. Dezember 2000 Kollegen, die neu in diesem Haus sind, aber auch für die erging einstimmig. „Angesichts der erheblichen Unei- Öffentlichkeit mag es von Interesse und auch hilfreich nigkeit, die in den vergangenen Jahrzehnten zu diesem sein zu wissen, dass wir nicht bei null beginnen, sondern spezifischen NS-Unrecht geherrscht hatte, war dies ein dass die Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfes im großer gesellschaftlicher und politischer Fortschritt“, so wahrsten Sinne des Wortes eine Geschichte hat. Eine darf ich den Vertreter Hamburgs in der bereits erwähnten Geschichte, aus der wir lernen können, und ich sage dies Bundesratssitzung noch einmal zitieren. mit aller Ernsthaftigkeit, aus der wir auch lernen sollten. Im Übrigen ist es eigentlich eine gute Tradition dieses Vor 15 Monaten – also am Ende der 14. Legislaturpe- Hauses, Projekte im Kontext der NS-Wiedergutmachung riode – beendete ich meine Rede mit folgenden Sätzen: einvernehmlich auf den Weg zu bringen. „Es bleibt als traurige Quintessenz dieses ersten An- Doch was geschah mit diesem einstimmigen Be- laufs, eine Magnus-Hirschfeld-Stiftung zu errichten, nur schluss des Bundestages und der dort enthaltenen Auf- (B) (D) festzuhalten: Der ursprünglich über die Fraktionsgren- forderung an die Bundesregierung, einen Gesetzentwurf zen hinweg geltenden Vereinbarung, für die kollektive zur Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung vorzu- Entschädigung homosexueller Opfer eine würdige Form legen? Leider gar nichts. zu finden, wurde durch die Art und Weise, wie die Koa- Weder in der 14. noch in gegenwärtigen Legislatur- lition das Gesetzgebungsverfahren betrieb, ein Bären- periode fühlt sich die Bundesregierung offensichtlich be- dienst erwiesen. Wir können als Christdemokraten dem müßigt, dem einstimmigen Auftrag des Bundestages vorliegenden“ – das heißt dem damaligen – „Gesetzent- nachzukommen, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Das wurf, dieser Lex Beck, nicht zustimmen. darf man einmal in aller Nüchternheit feststellen und Sollte das Gesetzgebungsverfahren bis zum Ende der dies auch mit der Frage verbinden, in welcher Gelassen- Legislaturperiode nicht abgeschlossen sein und damit heit wir eine solche Missachtung des Parlamentes offen- der Diskontinuität verfallen, besteht die Chance, in ei- sichtlich hinnehmen … nem neuen Anlauf eine Magnus-Hirschfeld-Stiftung auf Im Übrigen ist dies auch dem Bundesrat aufgefallen. den Weg zu bringen, die in einer breiten Öffentlichkeit Daher merkte völlig zu Recht der Vertreter Hessens in Akzeptanz und Anerkennung finden wird.“ der bereits erwähnten Bundesratssitzung an, dass mit Frau von Renesse hat im Juni letzten Jahres für die diesem Vorgehen die Bundesregierung und die sie tra- Sozialdemokraten Folgendes zu Protokoll gegeben: gende Mehrheit im Bundestag nicht nur den Beschluss des Bundestages missachtet haben, sondern dem Bun- „Ein solches Projekt“ – gemeint ist die Stiftung – desrat hierdurch auch einen Beratungsdurchgang abge- müsste vom Bundestag einstimmig verabschiedet wer- schnitten haben. Der Bundesrat konnte nur noch in ei- den, verwirklicht es doch den einstimmigen Beschluss nem ersten und einzigen Beratungsdurchgang ja oder dieses Hauses, der eine kollektive Wiedergutmachung nein sagen. durch Gedächtnisarbeit und konkrete Unterstützung bei- spielhafter Aktivitäten für Toleranz und Akzeptanz för- Dabei müsste sich die Bundesregierung doch über- dert.“ haupt nicht verstecken. Die involvierten Ministerien ha- ben doch intensiv an dem Stiftungsprojekt gearbeitet. So Den Kollegen van Essen darf ich mit dem Satz zitie- hat doch das Bundesfinanzministerium im Mai letzten ren: „Es wäre ein wichtiges Signal gewesen, wenn sich Jahres einen sehr soliden und ausgewogenen Gesetzent- der ganze Bundestag zu dieser Form des kollektiven wurf vorbereitet gehabt, der leider nur nicht das Licht Ausgleichs bekannt hätte. Ich bedauere daher sehr, das der Welt erblickte. Sicherlich nicht ganz zufällig. Er lief Rot-Grün diese Einigung verhindert hat.“ wohl gewissen Interessen zuwider. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5437

(A) Stattdessen gab es quasi in letzter Minute den verän- so unstreitig die Stiftung als solches ist, so streitg waren (C) derten Koalitionsentwurf, über dessen trauriges Schick- – und sind vielleicht – die Details. Und in einer Demo- sal die genannten Zitate bereits beredt Auskunft gaben. kratie ist Streit wichtig und legitim. Das Projekt Magnus-Hirschfeld-Stiftung wurde – und dies sage ich in aller Eindeutigkeit – durch den Abgeord- Dies wird offensichtlich auch außerhalb dieses Hau- neten Volker Beck an die Wand gefahren – und die Sozi- ses gesehen. Mir liegt eine Pressemitteilung der Bundes- aldemokraten haben leider zugeschaut. konferenz der schwul-lesbischen Landesnetzwerke vor, in der es wörtlich heißt: Ich erinnere mich im Übrigen, dass es hierzu nicht nur kritische Stimmen im Bundestag und Bundesrat gab. Ich „Die Bundeskonferenz fordert innerhalb und außer- habe beispielsweise noch einen überaus kritischen Bei- halb des Parlaments eine offene und faire Diskussion trag des Zweiten Deutschen Fernsehens hierzu gut in Er- über die Ausgestaltung der Stiftung. Dieses Projekt ist innerung. für die Schwulen- und Lesbenbewegung so wichtig, dass nicht überstürzt und ohne ausreichende Diskussion Ent- All dies sollten wir nicht vergessen. Denn vergessen scheidungen getroffen werden sollten, die eventuell würde bedeuten, Erfahrungen aus dem Fenster zu wer- Jahrzehnte Bestand haben werden. Für das Ansehen ei- fen, statt aus ihnen zu lernen. ner Magnus-Hirschfeld-Stiftung wird die breite Akzep- tanz, die über eine intensive Diskussion erreicht werden Nun beraten wir in diesem Haus den Entwurf der kann, von großer Wichtigkeit sein.“ FDP-Fraktion. Eine kurze Anmerkung vorab, lieber Kol- lege van Essen. Ich habe noch gut im Ohr, wie traurig, ja Eine faire und offene Diskussion, Transparenz und wie empört Sie in der vergangenen Legislaturperiode Offenlegung der Kritierien für Gremienbesetzungen sind waren, dass die Koalitionsfraktionen allein einen Ge- alles Punkte, denen ich zustimmen kann. Ich glaube, dies setzentwurf einbrachten. Die Messlatte, an der Sie da- sind wir auch uns selbst, den Bürgern dieses Landes, mals die Anderen maßen, müssen Sie allerdings auch für dem Steuerzahler und nicht zuletzt allen Interessierten sich selbst gelten lassen. An der Zeitknappheit, mit den schuldig. anderen Fraktionen vorab zu sprechen, kann es wohl nicht gelegen haben, wenn ich sehe, dass zwischen der Ich will dies an einem Beispiel aufzeigen. Im FDP- Einbringung und der Aufsetzung auf die Tagesordnung Entwurf ist in das Kuratorium die Deutsche Gesellschaft dieses Hauses sieben Monate liegen. für sozialwissenschaftliche Sexualforschung neu aufge- nommen worden. Ich kann eine Vermutung anstellen, Und eine Anmerkung vorab auch in Richtung Koaliti- warum dies geschah. Ich weiß es aber nicht – und alle onsfraktionen. Ich war schon etwas überrascht, dass die anderen außerhalb der FDP-Fraktion vermutlich auch (B) Federführung vom Rechtsausschuss in den Familienaus- nicht. (D) schuss wechseln soll. In der Sache hat sich doch nichts geändert. Auch in Ihrem Entwurf aus der vergangenen Sollte mit dieser Berufung allerdings der akademi- Legislaturperiode lag beispielsweise die Rechtsaufsicht sche und wissenschaftliche Bereich zusätzlich berück- schon beim Familienministerium. Wir haben im Rechts- sichtigt werden, darf man in aller Offenheit fragen, wa- ausschuss darüber gesprochen und auch bereits eine An- rum nicht die älteste und größte der deutschen hörung gehabt. Auch der Rechtsausschuss des Bundes- Fachgesellschaften für Sexualwissenschaft und Sexual- rates hat sich damit bereits beschäftigt. Also warum der forschung, nämlich die Deutsche Gesellschaft für Sexu- Wechsel? Oder sollten mit diesem kleinen Geschäftsord- alforschung mit Sitz in Hamburg und Frankfurt, Berück- nungstrick unliebsame Abgeordnete ausgebremst oder sichtigung fand. Ich spreche mich hier weder für die eine gar ausgesteuert werden? Lieber Herr Beck, Sie sehen, noch vorschnell für die andere Gesellschaft aus. Ich will so schnell lassen wir Christdemokraten uns nicht ins an diesem Beispiel nur die Notwendigkeit aufzeigen, Bockshorn jagen. Sie müssen damit leben, dass ich heute wie nötig ein transparentes Verfahren ist. hier rede. Erlauben Sie mir noch einen anderen Punkt anzuspre- Nun liegt also wieder der Entwurf eines Stiftungsge- chen. Ich habe beim Familienministerium einmal recher- setzes vor. Es liegt nun an allen Fraktionen in diesem chiert – jedermann kann dies in den einschlägigen Bun- Haus, durch die Art und Weise der Beratungen dafür destagsdrucksachen zuletzt in Nr. 15/1279 nachlesen –, Sorge zu tragen, dass das Ende des Gesetzgebungsver- welche Institutionen im lesbisch-schwulen Bereich für fahrens anders aussieht als vor gut einem Jahr. Die Be- welche Projekte Finanzmittel des Bundes erhalten. Ju- reitschaft unserer Fraktion ist hierzu vorhanden. gendprojekte von LAMDA werden gefördert, Lesben- projekte können etatisiert werden, der Bundesverband Ich will von dieser Stelle und auch in aller Deutlich- der Eltern und Angehörigen von Homosexuellen erhält keit nochmals die Bereitschaft meiner Fraktion bekun- für eine Fachtagung im März des Jahres rund den, die Magnus-Hirschfeld-Stiftung auf den Weg zu 40 000 Euro oder der Sozialverein des LSVD erhält für bringen. Von interessierter Seite wird dies gern infrage eine Wochendtagung zu „Regenbogenfamilien“ in die- gestellt. Wir stehen als Christdemokraten zum Beschluss sem Monat rund 25 000 Euro aus dem Haus von Frau vom 7. Dezember 2000. Schmidt. Die Errichtung einer Stiftung als Form der kollektiven Nur historische Forschung wird nicht gefördert. Wie Entschädigung für die Verfolgung homosexueller Män- auch? Historische Forschung passt halt nicht in das Ras- ner und Frauen während der NS-Zeit ist unstreitig. Doch ter eines Familien-, Jugend- und Frauenministeriums. 5438 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Nun ist der Ausgangspunkt für die Magnus- rung, kaum dass sie da ist, wieder verblassen, nicht kon- (C) Hirschfeld-Stiftung die Verfolgung homosexueller kret genug werden können.“ Frauen und Männer während der NS-Zeit. Wir haben in Nehmen wir diese Worte für unsere Beratungen ruhig unserem Beschluss vom 7. Dezember 2000 eigens unter- mit auf den Weg. strichen, wie nötig es ist, die Initiativen zu unterstützten, die sich der historischen Aufarbeitung der nationalsozia- listischen Homosexuellenverfolgung und des späteren Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Umgangs mit ihren Opfern widmen. GRÜNEN): Am 6. Mai 2003 jährte sich zum 70. Mal die Plünderung des von Magnus Hirschfeld gegründeten In- Bisher hat die Forschung hierzu kaum im akademi- stituts für Sexualwissenschaften durch NS-Studenten. schen Kontext ihren Platz gefunden, sondern entsteht Die Verwüstung des Instituts war der Auftakt zur so ge- aufgrund der privaten Intitiative Einzelner oder kleiner nannten „Aktion wider den undeutschen Geist“. Aus Gruppen. Geld steht dafür so gut wie nie zur Verfügung. dem Institut geraubtes Inventar wurde am 10. Mai 1933 Daher arbeiten die Beteiligten in aller Regel ehrenamt- bei der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz lich. Von wenigen Promotionsstipendien abgesehen ins Feuer geworfen. scheinen bisher auch niemals reguläre deutsche For- schungsgelder für derartige Projekte ausgegeben worden Homosexuelle waren ab 1933 schwersten Verfolgun- zu sein, wie bei der Vorstellung des Buches von Andreas gen ausgesetzt. Die lesbische und schwule Bürgerrechts- Pretzel „NS-Opfer unter Vorbehalt“ im Berliner Landes- bewegung der Weimarer Republik wurde zerschlagen. archiv beklagt wurde. Zehntausende Homosexuelle wurden zu Haftstrafen ver- urteilt, Tausende in Konzentrationslager verschleppt. Bei aller Offenheit des Stiftungszwecks sollten wir uns meines Erachtens schon verpflichtet fühlen, den Ur- Deutschland steht in der Verantwortung, die Erinne- sprung der Stiftung nicht vorschnell aus dem Blick zu rung an dieses Unrecht wachzuhalten, die verfolgten und verlieren. Die Stiftung sollte vorrangig – jedenfalls in der ermordeten Opfer zu ehren. Anfangsphase – den Schwerpnkt auf die Förderung der Daher haben wir gegen Ende der letzten Wahlperiode Forschung, der Erinnerungsarbeit und der damit verbun- hier im Bundestag nach jahrelangen quälenden Diskussi- denen politischen Bildung legen. Es sollten vorrangig die onen endlich die gesetzliche Rehabilitierung der Opfer Projekte gefördert werden, die sonst keine Chance haben. des § 175 aus der NS-Zeit durchgesetzt. Daher haben die Doppelförderung durch die Stiftung und das Familienmi- beiden Koalitionsfraktionen vor kurzem einen Antrag nisterium sollte tunlichst vermieden werden. zur Errichtung eines Denkmals für die im Nationalsozia- Über all diese Fragen sollten wir auch mit der nötigen lismus verfolgten Homosexuellen in den Bundestag ein- gebracht. Es soll ein offizielles Denkmal der Bundesre- (B) Transparenz nach außen reden. (D) publik Deutschland werden. Und es soll hier in der Nähe Immens viel wird für das Ansehen der Stiftung davon des Reichstages entstehen. Dieser Antrag wurde heute abhängen, ob uns dies im Beratungsverfahren gelingen morgen befasst und in die Ausschüsse zur Beratung über- wird. Ich hoffe, dass bei allen Beteiligten die Bereit- wiesen. Auch aus Verantwortung vor der Vergangenheit schaft vorhanden ist, das Ansehen der Stiftung nicht vor- stehen wir weiter in der Pflicht, klare Zeichen zu setzen sätzlich durch die Durchsetzung von Eigeninteressen zu gegen Intoleranz, Feindseligkeit und Ausgrenzung. beschädigen. So haben wir in der letzten Wahlperiode das Gesetz Wie sagte ein Sachverständiger im vergangenen Jahr: zur Eingetragenen Lebenspartnerschaft auf den Weg ge- „Es darf auch nicht der Hauch des Eindrucks entstehen, bracht. Das war ein großer gesellschaftlicher Durch- dass hier einzelne Verbandsinteressen über den ideellen bruch für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Le- Zweck des Stiftungsanliegens gestellt werden.“ Dieses bensweisen. Wir haben uns auch für diese Wahlperiode Wort gilt auch heute noch. Wir sollten aus den Erfahrun- viel vorgenommen, um die Situation der lesbischen Bür- gen der letzten Legislaturperiode lernen. Die Bereit- gerinnen und schwulen Bürger weiter zu verbessern: schaft meiner Fraktion ist jedenfalls gegeben, konstruk- tiv an den Beratungen zur Errichtung einer Magnus- Wir wollen und werden das Lebenspartnerschaftsge- Hirschfeld-Stiftung mitzuwirken. setz weiter ausbauen. Wir wollen und werden den ge- setzlichen Schutz vor Diskriminierung verstärken. Lassen Sie mich mit einem Zitat aus einer Rede en- den, die anlässlich der bereits erwähnten Buchvorstel- Die Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung ist lung im Landesarchiv Berlin gehalten und mir zugesandt im vergangenen Herbst am Bundesrat gescheitert. Der wurde. vorliegende Gesetzentwurf greift dieses Vorhaben nun wieder auf. Und das ist gut so. „Es reicht nicht aus, ihnen ein Denkmal zu setzen, selbst wenn das eines Tages an einem prominenten Ort Bei der Diskussion um die Stiftung geht es um fol- in Berlin stehen sollte, wie es ja in der Diskussion ist … gende Anliegen: homosexuelles Leben in Geschichte und Ein Denkmal allein für etwas, das noch gar nicht in sei- Gegenwart wissenschaftlich zu erforschen und darzustel- nen Dimensionen bekannt und bearbeitet ist, birgt die len, die nationalsozialistische Verfolgung Homosexueller Gefahr, dass Dinge schnell wieder zugedeckt werden, in Erinnerung zu halten, gesellschaftlicher Diskriminie- bevor sie richtig ans Tageslicht kommen. Den Opfern … rung homosexueller Männer und Frauen entgegenzuwir- sind wir eine genauere Erinnung schuldig. … Ohne die ken, Emanzipations-, Bürgerrechts- und Menschenrechts- finanzielle Unterstützung der historischen Forschung, arbeit im In- und Ausland zu fördern sowie das Gedenken der Archive, Sammlungen und Museen wird die Erinne- an Leben und Werk Magnus Hirschfelds zu pflegen. All Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5439

(A) das sind und bleiben aus Sicht der Grünen wichtige Auf- dass alle relevanten Gruppierungen die Möglichkeit ha- (C) gaben für unsere Gesellschaft. ben, gleichberechtigt im Kuratorium mitwirken zu kön- nen. In dem Gesetzentwurf sehen wir daher für jede Seit Gründung unserer Partei engagieren wir uns ge- Gruppierung einen Sitz im Kuratorium vor. Das gerade gen gesetzliche und gesellschaftliche Diskriminierung. für junge Homosexuelle besonders wichtige Jugendnetz- Seit jeher unterstützen wir die Emanzipations-, Bürger- werk Lambda gehört selbstverständlich in das Kurato- rechts- und Menschenrechtsarbeit von Lesben und rium. Da die Stiftung den Namen des Sexualwissen- Schwulen. schaftlers Magnus Hirschfeld tragen soll, ist eine Vor diesem Hintergrund werden wir den vorliegenden Beteiligung von Vertretern der Sexualwissenschaft Gesetzentwurf vorbehaltlos prüfen und freuen uns auf ebenso unerlässlich. eine intensive Sacharbeit in den Ausschüssen. Ich hoffe, dass die Grünen von ihrer kompromisslo- sen Position aus der vergangenen Legislaturperiode Ab- Jörg van Essen (FDP): Die FDP macht mit ihrem stand nehmen und heute mehr die historische Aufarbei- Gesetzentwurf einen erneuten Anlauf, um die Magnus- tung des Unrechts, die Interessen der Opfer und die Hirschfeld-Stiftung doch noch zu errichten. Homosexu- tatsächlichen Stiftungsziele in den Vordergrund stellen. elle waren im Nationalsozialismus schweren Verfolgun- gen ausgesetzt. Dies hat auch der Deutsche Bundestag Im Kampf um den Abbau der gesellschaftlichen Dis- am 7. Dezember 2000 in einer Erklärung einstimmig kriminierung von Homosexuellen ist es in der rot-grünen festgestellt, die besagt, dass es sich bei der Verfolgung Bundesregierung insgesamt still geworden. Unser Ge- von Homosexuellen während des Nationalsozialismus setzentwurf ist die erste Initiative in dieser Legislaturpe- um typisches nationalsozialistisches Unrecht handelt. riode, die diesen Faden wieder aufnimmt. Ich würde es Während der nationalsozialistischen Verfolgung wurde daher außerordentlich begrüßen, wenn wir in dieser die gesamte schwule und lesbische Infrastruktur zer- wichtigen Frage möglichst schnell zu einer Einigung schlagen. Einen Ausgleich dafür hat es bis heute nicht kommen könnten. gegeben. Lange nach den Verbrechen der NS-Diktatur soll jetzt – mit der Errichtung der Magnus-Hirschfeld- Stiftung im Sinne eines kollektiven Ausgleichs – das von Anlage 5 den Nationalsozialisten an den Homosexuellen verübte Unrecht anerkannt und die homosexuelle Bürger- und Zu Protokoll gegebene Rede Menschenrechtsarbeit gefördert werden. zur Beratung: Der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirsch- – Beschlussempfehlung und Bericht: Wieder- feld ist durch seine wissenschaftliche Tätigkeit und auch (B) belebung des Friedensprozesses in Kolum- (D) als Streiter für die Rechte der Homosexuellen besonders bien hervorgetreten. Die Stiftung wird dazu beitragen, das ho- mosexuelle Leben in Deutschland wissenschaftlich zu – Beschlussempfehlung und Bericht: Neue Ini- erforschen und darzustellen. Die nationalsozialistische tiative zur Wiederbelebung des kolumbiani- Verfolgung soll aufgearbeitet und in Erinnerung gehalten schen Friedensprozesses international unter- werden. Mit der Öffentlichkeitsarbeit der Magnus- stützen Hirschfeld-Stiftung soll ein weiterer Beitrag erreicht werden, der nach wie vor vorhandenen gesellschaftli- (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesord- chen Diskriminierung homosexueller Männer und nungspunkt 4) Frauen entgegenzuwirken. In der vergangenen Legislaturperiode war eine Eini- Petra Pau (fraktionslos): Es ist zweifellos richtig, gung in dieser Frage über alle Fraktionsgrenzen hinweg dass sich der Deutsche Bundestag endlich wieder der Si- in greifbarer Nähe. In letzter Minute legten die Koali- tuation in diesem seit Jahrzehnten von Krieg, Terror, tionsfraktionen eine Liste über die Besetzung des Kura- staatlicher Repression, paramilitärischer Willkür und toriums vor, von der sie klar wissen mussten, dass die blindwütigem Morden, Entführungen von Zivilistinnen Opposition ihr nicht zustimmen konnte. Aus den Reihen und Zivilisten und US-amerikanischer Einmischung von der SPD weiß ich, dass auch sie mit diesem Vorgehen außen zerrissenem Land zuwendet. Gestatten Sie mir, ganz und gar nicht einverstanden waren. Die Grünen wa- darauf hinzuweisen, dass die PDS bereits 1996 auf einer ren es, die diese Einigung bewusst verhindert haben. von ihr veranstalteten internationalen Konferenz anläss- Hier wurde versucht, rücksichtslos Verbandsinteressen lich des 50. Jahrestages der UN-Menschenrechtskonven- durchzusetzen, die Bundestagswahl dabei fest im Blick. tionen darauf hingewiesen hatte, dass Kolumbien zwei- fellos von einem der schwerwiegendsten Bürgerkriege Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich daher ent- mit den meisten Todesopfern und Verschwundenen ge- schlossen, die Initiative erneut in den Bundestag einzu- prägt ist. Ich musste selbst damals furchtbare Erlebnis- bringen und zu einer Zeit zu beraten, die nicht geprägt ist berichte der Menschenrechtsbeauftragten und von Mit- von den lauten Tönen des Wahlkampfs. Wir haben im- gliedern der Eisenbahnergewerkschaft aufnehmen und mer deutlich gemacht, dass dieses wichtige Thema dafür habe seitdem mehrmals direkt mit von Bürgerkrieg un- gänzlich ungeeignet ist. Wir glauben, dass die Zusam- mittelbar betroffenen Kolumbianerinnen und Kolumbia- mensetzung des Kuratoriums, so wie unser Gesetzent- nern, darunter auch indigenen Menschen, gesprochen. wurf sie vorsieht, eine breite Zustimmung durch den Es ist zweifellos richtig, dass wir zur Lösung des Kon- Deutschen Bundestag ermöglicht. Für uns ist es wichtig, fliktes mehr unternehmen müssen. 5440 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Ich halte es dennoch für fragwürdig, wenn in dem An- Hilfsmittelversorgung von Pflegebedürftigen auf den (C) trag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen die EU und Weg gebracht. Mit dem HSG will er Abgrenzungsstrei- die deutsche Regierung aufgefordert werden, die kolum- tigkeiten zwischen Kranken- und Pflegekassen lösen. bianische Regierung unter dem Präsidenten Uribe dahin Die Frage, die im Mittelpunkt dieses Entwurfes steht, gehend zu unterstützen, ein Gewaltmonopol herzustel- lautet: Wer ist für die Versorgung von Pflegebedürftigen len, das neutral und nicht im Interesse von Sondergrup- mit Hilfsmitteln sowohl ambulant als auch stationär zu- pen auszuüben ist. Gerade auch die Regierung Uribe ständig? selbst ist doch in das Konfliktknäuel in Kolumbien ver- wickelt. Uribe sieht sich als Exekutor des amerikani- Diese Frage beantwortet bereits das bestehende schen „Plan Colombia“ und ist maßgeblich für dessen Recht. Realisierung verantwortlich. Eine Friedenslösung wird jedoch nur möglich sein, wenn endlich der Dialog zwi- Deshalb ist aus meiner Sicht auch das im Bundesrats- schen den verschiedenen Konfliktparteien, wozu auch entwurf avisierte Ziel obsolet, der mit dieser Initiative die Guerilla-Bewegungen FARC und ELN gehören, er- die Rechtssicherheit für alle Beteiligten erhöhen will. öffnet wird, in dem die verschiedenen Interessen offen Um dieses Ziel zu erreichen, stellt der Entwurf den Vor- und gleichberechtigt auf den Verhandlungstisch gelan- schlag in den Raum, die ambulante und stationäre Hilfs- gen. mittelgewährung nach § 40 Pflegeversicherungsgesetz klarzustellen und einschlägige Ergänzungen im SGB V Die PDS wendet sich energisch gegen eine Regionali- zu machen. sierung des Konflikts, die letztlich das Übergreifen der Gewalt in Kolumbien auf Nachbarstaaten und eine aus- Ich möchte gerne, bevor ich auf den stationären Be- ländische Instrumentalisierung zugunsten internationaler reich zu sprechen komme, auf den ambulanten Bereich Konzerne und der Herstellung ihrer Kontrolle über die eingehen. Für den ambulanten Bereich bestätigt der Ressourcen und somit die Zerstörung der Lebensräume, Bundesratsbeschluss durch Ergänzung des § 40 SGB XI vor allem auch der in diesen Gebieten lebenden indige- die Subsidiaritätsklausel. Diese Nachrangigkeitsklausel nen Völkern, zur Folge hätte. Wir befürworten vielmehr stellt aber schon jetzt ausdrücklich klar, dass die Pflege- eine internationale Konferenz unter UN-Mandat, an der kassen nur dann herangezogen werden, wenn die Hilfs- alle Konfliktparteien gleichberechtigt teilnehmen müs- mittelversorgung durch die Krankenkasse nicht greift. sen und die auf eine sofortige Beendigung jeglicher mili- Sofern der Verwendungszweck eines Hilfsmittels ganz tärischer Handlungen und einen unverzüglichen Waffen- überwiegend darin besteht, die Pflege zu ermöglichen stillstand gerichtet sein muss. Nur so wird sich eine oder zu erleichtern, ist die Pflegekasse in der Pflicht zivilgesellschaftliche Partizipation am Ingangsetzen ei- diese Leistung bereitzustellen. (B) nes Friedensprozesses ermöglichen lassen. Wir teilen die (D) Auffassung, dass dabei auch die vermittelnde Rolle der Der bestehende Paragraph regelt also bereits eindeutig katholischen Kirche in Anspruch genommen werden die Leistungspflicht der Pflegeversicherung. Die Pflege- sollte. Wir meinen zugleich, dass die Staaten der Region versicherung tritt dann ein, wenn eine Leistungspflicht – vor allem Venezuela und Ecuador – stärker als Vermitt- der GKV nicht vorliegt. Die Trennung der Auflistung ler in den Friedensprozess eingebunden werden sollten. von Hilfsmittelverzeichnis und Pflegehilfsmittelver- Sie verfügen über Erfahrungen alternativer Gesellschafts- zeichnis mit klarer Nachrangigkeit der Leistungspflicht entwicklung und nehmen die Beseitigung der monströ- der Pflegeversicherung ist im Gesetz bereits geregelt. sen sozialen Widersprüche in diesen Ländern in Angriff. Es ist bekannt, dass manche Krankenkassen diese be- Das Scheitern der jüngsten 5. Ministerkonferenz der stehende Subsidiaritätsklausel in der Praxis bei der Be- WTO in Cancun zeigte einmal mehr, dass gerade wir in willigung nicht hinreichend beachtet haben. So gab es in den entwickelten Ländern, in der EU und auch in der Vergangenheit Fehlbuchungen, die zu Lasten der Deutschland ernsthafter darüber nachdenken müssen, Pflegeversicherung vorgenommen wurden. Erfahrungs- wie Entwicklungszusammenarbeit konkret zur Lösung gemäß wurden diese Fehlbuchungen in den meisten Fäl- sozioökonomischer Ursachen von Konflikten, zur Besei- len korrigiert. Dies bestätigt auch der Bundesratsbe- tigung von Armut und Perspektivlosigkeit großer Bevöl- schluss: In seiner Begründung wird ausdrücklich darauf kerungsteile für ein menschenwürdiges Leben auszuge- hingewiesen, dass die meisten Krankenkassen die ge- stalten ist. nannte Rechtsauffassung bezüglich der Nachrangigkeit der Pflegeversicherung teilen. Der Bundesratsentwurf bezieht sich auf Einzelfallent- Anlage 6 scheidungen. Es heißt, die Entscheidung über die Zu- Zu Protokoll gegebene Reden ständigkeit dürfe nicht vom Einzelfall abhängig sein. Das ist zwar richtig. Denn wenn ein Sachbearbeiter einer zur Beratung über den Entwurf eines Gesetzes Kranken- und Pflegekasse in jedem Einzelfall entschei- zur Sicherung der Hilfsmittelversorgung von den würde, stünde Tür und Tor auf, Kosten der Kranken- Pflegebedürftigen (Hilfsmittelsicherungsgesetz – versicherung auf die Pflegeversicherung zu verlagern HSG) (Tagesordnungspunkt 11) und so die Kosten der gesetzlichen Krankenkasse gerin- ger zu halten. Doch ändert sich durch den Entwurf nichts Dr. Erika Ober (SPD): Der Bundesrat hat Anfang daran, dass die bestehende Rechtslage bereits jetzt keine dieses Jahres den Gesetzentwurf zur Sicherung der Einzelfallentscheidungen vorsieht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5441

(A) Im stationären Bereich sieht der Bundesratsentwurf Ich habe das bei der ersten Lesung auch schon gesagt: (C) Ergänzungen der §§ 75 Abs. 2 und 80 Abs. 2 vor, das Wir fordern die Kostenträger dazu auf, sich verbindlich heißt, die Zuständigkeit der Grundausstattung der Pfle- und eindeutig an die gesetzlichen Vorgaben bei der Auf- geheime mit Hilfsmitteln soll geklärt werden. Hierzu ist gaben- und Finanzierungsverteilung zwischen Pflege- aber zu sagen: Die Partner der Selbstverwaltung haben und Krankenkasse zu halten. Es kann uns nicht daran ge- auch derzeit das Recht, die Grundausstattung der Heime legen sein, wenn Abgrenzungstaktierereien auf dem Rü- mit Hilfsmitteln zu regeln. Zum stationären Bereich hat cken der Pflegebedürftigen ausgeübt werden. das Bundessozialgericht in seinen letzten Urteilen aus 2002 ausdrücklich erklärt, dass die Ausstattung der Pfle- Das HSG hat uns auch in der öffentliche Anhörung geheime mit Hilfsmitteln zu regeln ist – konkret in § 80 a am 7. Mai 2003 beschäftigt. Dabei wurde Folgendes SGB XI in Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen. Der deutlich: Der gesetzgeberische Handlungsbedarf in Be- Bundesrat hingegen bezieht sich auf ein zwei Jahre älte- zug auf den Bundesratsentwurf wird von den anwesen- res Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2000. den Verbänden und Einrichtungen unterschiedlich beur- Das Bundessozialgericht vertritt in diesem Urteil die teilt. Ich möchte dazu einige Meinungen, die während Auffassung, dass die Leistungspflicht der Krankenversi- dieser Anhörung geäußert wurden, zusammenfassend cherung dort ende, wo die Vorhaltepflicht des Pflegehei- anführen: Tenor der Krankenkassen – Spitzenverband mes einsetze. und AOK – war: Der neue Abgrenzungskatalog der Selbstverwaltungspartner vom März 2003 schaffe die Daneben soll laut Entwurf die Bundesregierung in § 84 Schwierigkeiten zwischen Kranken- und Pflegekassen SGB XI durch eine Ergänzung ermächtigt werden, zu ent- aus der Welt. Ergänzungen und Änderungen, wie sie der scheiden, welche Hilfsmittel bei Bemessung der Pflege- Bundesratsentwurf vorsieht, würden nicht helfen. Man sätze zu berücksichtigen wären, damit sie als Anlagegüter könne sowohl auf der Basis eines Gesetzes als auch auf gelten und unter die Investitionspflichten der Länder nach der Basis des vorliegenden Entwurfes arbeiten. § 9 SGB XI fallen würden. Vonseiten der Wohlfahrtsverbände findet man den Die Ergänzungen, die der Bundesratsentwurf zu den Gesetzentwurf des Bundesrates zwar tendenziell nütz- §§ 40, 75, 80 SGB XI macht, sind aus fachlicher Sicht lich und kritisiert die Bewilligungspraxis am Beispiel nicht zu beanstanden. Jedoch sind sie bei sachgerechter von Rollstühlen. Gleichwohl müsse eine Einschränkung Anwendung geltenden Rechts nicht erforderlich. Be- gemacht werden: Da es stets eine Einzelfallprüfung schrieben werden im hier zu diskutierenden Entwurf le- gebe, könne kein Gesetzentwurf den Interpretations- diglich konkrete Handlungsanweisungen geltenden spielraum eines Sachbearbeiters ganz aushebeln. Rechts. (B) Seitens der privaten Krankenversicherer zeigte sich (D) In der stationären Pflege gibt es keinen Individualan- eine große Sympathie für ein Tätigwerden der Bundesre- spruch auf Leistungspflicht. Hier ist die Selbstverwal- gierung, damit „in irgendeiner Form“ etwas Verbindli- tung gefragt. Sicherlich darf es für Patienten und Patien- ches in die Welt gesetzt werde. Ich denke, wir können es tinnen nicht von Nachteil sein, wenn Kranken- und nicht verantworten, „in irgendeiner Form“ tätig zu wer- Pflegekasse die Abgrenzungen vornehmen. Eine sofor- den. Pflegebedürftige können zu Recht erwarten, dass tige Regelung seitens des Gesetzgebers verlangt die Pra- sie bei gesundheitspolitischen Belangen konsistent be- xis aus meiner Sicht nicht. Die bestehenden Gesetze lie- handelt werden. fern klare und eindeutige Regelungen. Es kann festgehalten werden, dass manche Kassen den Gesetzge- Man kann nach der Anhörung zum HSG bilanzieren, ber auf nicht beabsichtigte Weise interpretieren. Sollte dass die Aussagen der gehörten Vertreter nicht den die Selbstverwaltung die ihr vom Gesetzgeber zugestan- Schluss zulassen, das HSG wäre in besonderer Weise ge- dene Flexibilität nicht im Sinne der Pflegebedürftigen eignet, die Schnittstellenfrage zwischen Pflege- und nutzen, sollte der Gesetzgeber dem entgegenwirken. Krankenkasse zu behandeln. Auch die Pflegebedürftigen Ich möchte auch dazusagen, welches Vorgehen ver- brauchen keine isolierte Herangehensweise mit kleins- nünftig wäre: Anstatt dass Detailfragen auf die Tagesord- tem Lösungsansatz zu dieser Schnittstellenfrage. Pflege- nung gesetzt werden – wie sie im uns heute vorliegenden bedürftigen müssen Leistungen vollständig zur Verfü- Bundesratsentwurf vorgeschlagen werden –, müssten ge- gung stehen. eignete Maßnahmen in einen Gesamtzusammenhang der Wir haben in der Koalitionsvereinbarung angekün- Schnittstellenfrage zwischen Pflege- und Krankenkasse digt, uns in der laufenden Legislaturperiode der Schnitt- gebracht werden. Dieser Gesamtzusammenhang sollte stelle zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und auch die Bereiche medizinische Behandlungspflege, ge- Pflegeversicherung nochmals zu widmen. Es wird dann riatrische Rehabilitation sowie Pflegeüberleitung und auch darauf ankommen, die Kostenträger in die Pflicht Case-Management einbeziehen. Folgt man also der Auf- zu nehmen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, die fassung, dass Krankenkassen trotz eindeutiger Rechts- sie per Gesetz haben. lage konkrete Handlungsanweisungen benötigen – also nicht nur bei der Hilfsmittelversorgung –, so sollten sie Teil einer Lösung der gesamten leistungsrechtlichen Matthias Sehling (CDU/CSU): Heute beraten wir in Schnittstellenfrage zwischen Kranken- und Pflegeversi- zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf zum cherung sein, damit eine Doppelbefassung der Gesetzge- Hilfsmittelsicherungsgesetz, den der Bundesrat vorge- bungsorgane vermieden wird. legt hat. 5442 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Dieses Hilfsmittelsicherungsgesetz soll den entwürdi- kenbehandlung oder dem Ausgleich einer Behinderung (C) genden Abgrenzungsstreitigkeiten ein Ende bereiten, die als auch und zugleich der Erleichterung der Pflege die- seit Jahren zwischen den gesetzlichen Krankenkassen ei- nen. Der unwürdige Streit muss ein Ende haben darüber, nerseits und den andererseits betroffenen Pflegebedürfti- wer den Rollstuhl zu zahlen hat, der sowohl zu Spazier- gen und Pflegeheimen um Verschreibungsmöglichkeit fahrten als auch zum Transport vom Bett ins Bad benutzt und Kostentragung von Hilfsmitteln stattfinden. wird. In der Anhörung vom 7. Mai haben fast alle anwesen- Die Koalitionsparteien machen es sich in den Aus- den Institutionen und Sachverständigen zum Ausdruck schussberatungen genauso einfach wie die Bundesregie- gebracht, dass sie dringenden Handlungsbedarf sehen. rung. Sie halten die Regelung für überflüssig, weil im Die einzigen Gegner eines solchen Gesetzes sind die Gesetz eine Subsidiaritätsklausel enthalten sei, die die Krankenkassen, die immer wieder aufgrund der unzurei- vorrangige Leistungspflicht der Krankenversicherung chenden Gesetzeslage unberechtigte Vorteile bei der ohnehin anordne. Wenn dies so klar wäre, warum haben Kostentragung gezogen haben. Dass die Regierungskoa- dann die Krankenkassen damit angefangen, ihre Leis- lition ein solches Gesetz ablehnt, ist jedoch unverständ- tungspflicht im Einzelfall und damit meist auf dem lich. Vielleicht liegt es daran, dass der zu beratende Rücken der Versicherten umständlich und lang andau- Gesetzentwurf eine Initiative der bayerischen Sozialmi- ernd prüfen zu wollen? nisterin Christa Stewens ist. Vielleicht sollten Sie aber Das Hilfsmittelsicherungsgesetz soll nach unseren nach dem Wahlausgang vom letzten Sonntag erkennen, Vorstellungen von CDU und CSU ein zweites großes dass in Bayern doch recht gute Politik gemacht wird und Problemfeld endgültig klären: Es geht um die Versor- dies auch von der Bevölkerung offensichtlich so gesehen gung mit Hilfsmitteln im Pflegeheim: Welche Hilfsmit- wird. tel hat das Pflegeheim als Grundausstattung vorzuhalten Es geht darum, Klarheit und Rechtssicherheit bei der und welche Hilfsmittel kann und muss der Heimbewoh- Verordnung und Finanzierung von Hilfsmitteln zu errei- ner/die Heimbewohnerin von der Krankenversicherung chen: für die Pflegebedürftigen ebenso wie für die ver- beanspruchen? schreibenden Ärzte, für die Krankenkassen, für die Pfle- Das Pflegeheim kann zwar einige Rollstühle vorhal- gekassen und für die Pflegeheimträger. ten, jedoch nicht auf die individuellen Bedürfnisse ein- Das Gesetz will zwei große Fallgruppen zu Streitfra- gehen. Eine 60 Kilogramm schwere Frau braucht einen gen über Hilfsmittel regeln, erstens im Falle der ambu- anderen Rollstuhl als ein 100 Kilogramm schwerer lanten Pflege die Frage der Zuständigkeit zwischen Mann, der einen individuell angefertigten Rollstuhl be- Krankenkasse und Pflegekasse, zweitens im Falle der nötigt. Lehnt die Krankenkasse die Bezahlung des Roll- (B) stationären Pflege die Frage der Zuständigkeit für Hilfs- stuhls ab, wäre es zuviel erwartet, dass deshalb das Pfle- (D) mittel zwischen den Krankenkassen einerseits und den geheim – quasi von sich aus – die Kosten übernimmt. Pflegeheimen andererseits. In der Anhörung hat uns zum Beispiel der Sachver- Die Bundesregierung hat in ihrer damaligen Gegen- ständige der Arbeiterwohlfahrt aus der Praxis berichtet: äußerung im Bundesratsverfahren nichts Besseres ge- Oft wird in einem solchen Streitfall das Gericht angeru- wusst, als sämtliche Regelungsvorschläge für nicht er- fen. Schon bis zur Eröffnung des Rechtsstreits vergehen forderlich zu erklären. Monate, bis zu seinem Abschluss manchmal sogar Jahre. Besonders sozial schwächer gestellte Patienten wollen Ich frage Sie von der Bundesregierung und Sie von häufig nicht das Risiko eines Prozessverlustes eingehen, den Koalitionsfraktionen: Warum wehren Sie sich denn unterlassen den Gang zum Gericht und verzichten auf gegen eine eindeutige Klarstellung im Gesetz, nachdem ihre Ansprüche. die Streitigkeiten vor Jahr und Tag einen Riesenverwal- tungsaufwand der Beteiligten und Prozesse bis hin zum Ich frage die Kolleginnen und Kollegen von Rot- Bundessozialgericht ausgelöst haben? Darf ich in diesem Grün: Warum wollen Sie gerade diesem Personenkreis Zusammenhang einmal mehr ein offenbar unbedeuten- nicht – durch die ausdrückliche gesetzliche Regelung – des Dokument, weil sich ohnehin niemand von Ihrer unter die Arme greifen? Seite daran hält oder auch nur erinnert, nämlich Ihre Für den Bereich des Pflegeheims lautet die Grundidee Koalitionsvereinbarung zitieren? Darin heißt es in voll- des Hilfsmittelsicherungsgesetzes im Übrigen wie folgt: mundiger Ankündigung: „Wir stimmen die Leistungen Sofern die Hilfsmittel zu einer genau definierten und teil- der Kranken- und der Pflegeversicherung … besser auf- weise auch pflegesatzfähigen Grundausstattung des Pfle- einander ab“. Das ist jetzt gerade ein Jahr her und doch geheims gehören, muss das Hilfsmittel vom Pflegeheim wollen sie davon auch in diesem Punkt – nur weil die vorgehalten werden. Gehört das benötigte Hilfsmittel Initiative vom Bundesrat ausgeht – jetzt nichts mehr wis- nicht zur Grundausstattung, ist die Krankenversicherung sen. Stattdessen trösten Sie die betroffenen Pflegebe- des Heimbewohners/der Heimbewohnerin zuständig. So dürftigen mit einer ungewissen und zeitlich nicht greif- einfach könnte das sein. baren Ankündigung einer zukünftigen Gesetzesinitiative. Die Koalitionsparteien haben sich im Ausschuss be- quemerweise die Auffassung der Bundesregierung aus Der Bundesrat schlägt also für den Bereich der ambu- ihrer Gegenäußerung zu eigen gemacht: Rot-Grün zog lanten Pflege vor, dass solche Hilfsmittel von der Kran- sich auf den Ohne-mich-Standpunkt zurück: die vorge- kenversicherung zu leisten sind, die sowohl der Kran- schlagene Regelung gelte nach der Rechtsprechung des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5443

(A) Bundessozialgerichts ohnehin, eine Gesetzesregelung Die meisten Sachverständigen jedenfalls waren sich (C) sei hier ebenso überflüssig. in der Anhörung mit der Union einig: Insgesamt stellt dieses Hilfsmittelsicherungsgesetz eine Sammlung äu- In Übereinstimmung mit der ganz überwiegenden ßerst hilfreicher praktischer Verbesserungen des Pflege- Mehrheit der Sachverständigen tritt die CDU/CSU aber versicherungsgesetzes dar. Deshalb unterstützt die CDU/ auch hier für eine ausdrückliche gesetzliche Regelung CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf. ein, damit unnötige Rechtsstreite vermieden werden. Verehrte Kollegen von Rot-Grün, schade, dass Sie Eine gesetzliche Regelung ist auch nicht überflüssig sich im Ausschuss nicht zu einer sofort wirksamen Ent- geworden etwa durch den neuesten Abgrenzungskatalog lastung der Pflegebedürftigen entschließen konnten, vom 14. März dieses Jahres, den die Spitzenverbände schade, dass Sie im Ausschuss als Zeitpunkt für die Vor- der Krankenkassen zehn Tage vor unserer Anhörung aus lage eines eigenen Gesetzentwurfs nur den Sankt-Nim- dem Hut gezaubert haben. merleins-Tag genannt haben, schade, dass auch hier wie- Diesem Abgrenzungskatalog fehlt es naturgemäß an der der Spruch zu Ihrem Koalitionsvertrag gilt: der rechtlichen Verbindlichkeit, sodass neuerliche Versprochen – gebrochen. Rechtsstreitigkeiten nicht auszuschließen sind. Abgese- hen davon ist dies nicht der erste Abgrenzungskatalog. Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorlie- Solche Abgrenzungskataloge gab es schon des Öfteren, gende Gesetzentwurf des Bundesrats sieht vor, die Ver- die dann scheibchenweise den BSG-Urteilen folgend sorgung Pflegebedürftiger mit Hilfsmitteln gesetzlich Rechte der Versicherten wieder zugestehen mussten. neu zu bestimmen. Ziel ist es, Auseinandersetzungen Und schauen Sie sich den „neuen“ Abgrenzungskatalog zwischen Kassen und Leistungserbringern über die doch an, fast überall sind Doppelkreuze, das heißt, er Hilfsmittelversorgung in Pflegeheimen zu beenden. Des- bringt erneut Doppeldeutigkeit, weitere Doppelzustän- halb soll neu geregelt werden, welche Hilfsmittel das digkeiten und weitere Einzelfallentscheidungen. Eine Pflegeheim vorzuhalten hat und welche Hilfsmittel ein Vielzahl von Sozialprozessen ist damit vorprogram- Heimbewohner von der Krankenversicherung beanspru- miert. chen kann. Der Bundesrat sieht im Hilfsmittelsicherungsgesetz Die Frage ist nun, ob die vorgesehene Neuregelung das im Übrigen auch die effektive Durchsetzung der Be- Problem tatsächlich löst. Ich glaube das nicht. Zwar teile schaffung der Grundausstattung der Pflegeheime mit ich die auch im Gesetzentwurf vertretene Auffassung, Hilfsmitteln durch die Pflegeheime vor. So sollen die auf dass den betroffenen Akteuren im Gesundheitswesen ein Landesebene abzuschließenden Rahmenverträge künf- klares Verständnis für die bestehenden Regelungen fehlt. (B) tig eigene verbindliche Inhalte über die Grundausstat- Deshalb kommt es oft zu Zuständigkeitsstreitigkeiten. (D) tung der Pflegeheime mit Hilfsmitteln enthalten. Das belastet das Heimpersonal, die Heimbewohner und Unverständlich bleibt auch hier die Ablehnung dieses vor allem unsere Sozialgerichte. Ich habe aber große weiteren Vorschlags durch Rot-Grün und die Bundesre- Zweifel, dass dieses Gesetz diese Missstände beheben gierung unter Hinweis auf die ohnehin existierende würde. höchstrichterliche Rechtsprechung. In der Praxis wird in Die Expertenanhörung im Ausschuss hat klar gezeigt, diese Rahmenverträge auf Landesebene erfahrungsge- dass die gegenwärtige Rechtslage vor dem Hintergrund mäß nur das hineingeschrieben und hat nur das vor der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eindeutig Schiedsämtern und oft auch vor Gerichten dauerhaften ist. Das sehen nicht nur die Kassenvertreter so, sondern Bestand, was ausdrücklich im Gesetz vorgesehen ist. auch zahlreiche Vertreter der Leistungserbinger. Deshalb Darum sollte man sich schon der Mühe unterziehen, die- brauchen wir kein Gesetz, das die bestehende Rechtslage sen Rahmenvertragsinhalt zur Grundausstattung der konkretisiert. Pflegeheime mit Hilfsmitteln ausdrücklich und ver- pflichtend in das SGB XI aufzunehmen. Das Problem ist doch ein anderes: Einige Sozialversi- cherungsträger halten sich leider nicht immer an die ge- Das Hilfsmittelsicherungsgesetz ermächtigt des Wei- setzlichen Vorgaben. Das betrifft sicher nicht alle, aber teren die Bundesregierung durch Verordnung festzustel- einige schwarze Schafe gibt es eben leider doch. Das be- len, welche Hilfsmittel, die zur Grundausstattung eines kommen wir nicht durch neue Regelungen in den Griff. Pflegeheimes gehören, pflegesatzfähig sind. Damit müs- Da hilft nur eine konsequentere Aufsicht, um die Kassen sen nicht allein die Pflegeheime die Hilfsmittel der zu zwingen, sich an bestehendes Recht zu halten. Grundausstattung bezahlen. Indirekt leistet so auch die Pflegeversicherung ihren Anteil zur Finanzierung der Wer in der Anhörung den Ausführungen der Experten Grundausstattung. Wenn schon heute eine Hilfsmittel- aufmerksam gelauscht hat, der muss außerdem die Be- Pflegesatz-Verordnung erlassen worden wäre, würde fürchtung haben, dass dieses Gesetz die Rechtslage so- schon heute die Grundausstattung der Pflegeheime mit gar komplizierter macht. Die Experten haben deutliche Hilfsmitteln besser ausschauen und wäre schon heute für Zweifel daran geäußert, dass die vorgesehenen Regelun- ein Stück „Mehr Qualität im Pflegeheim“ gesorgt. Ich gen zu den Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen für frage Rot-Grün und die Bundesregierung: Warum sper- die Akteure handhabbar sind. Unter Umständen nehmen ren Sie sich gegen Verordnungsermächtigung und Ver- bürokratischer Aufwand und Unübersichtlichkeit sogar ordnungsmöglichkeit und gegen mehr Qualität im Pfle- zu. Insbesondere ist fraglich, ob die Ärzte bei den dann geheim jetzt? zu erwartenden Einzelverträgen für jedes Heim den 5444 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Überblick behalten können, wenn sie Hilfsmittel verord- gesetzbuch vorsieht. Es ist eine Verbesserung, dass der (C) nen müssen. Dazu kommt, dass es auch weiterhin Ein- hilfsbedürftige Mensch – neben seinen körperlichen Be- zelfallprüfungen und damit Interpretationsspielräume einträchtigungen – nicht noch zusätzlich unter den Strei- geben würde, auch wenn in der Gesetzesbegründung et- tigkeiten der Kostenträger zu leiden hat, wer denn nun was anderes suggeriert wird. Also wird es auch weiter- die benötigten Hilfsmittel finanziert. In der Anhörung hin Meinungsunterschiede geben. Da würde dieses Ge- zum HSG, die der Ausschuss am 7. Mai 2003 durchge- setz gegenüber der heutigen Situation nichts verbessern. führt hat, sprachen sich mit Ausnahme der Vertreter der Damit ist der Nutzen dieses Gesetzes mehr als ungewiss. gesetzlichen Krankenversicherungen alle Sachverständi- gen für eine gesetzliche Klarstellung aus. Dazu kommt, dass wir auch in der Pflegeversicherung vor umfassenden Reformen stehen. Dann wird es unter Meine Damen und Herren von der Koalition! Diese anderem darum gehen, die Schnittstellenprobleme zwi- Stimmen aus der Praxis sollten sie zur Zustimmung er- schen Kranken- und Pflegeversicherung umfassend zu muntern! Der Nachbesserungsbedarf an der aktuellen regeln. Deshalb wäre es kontraproduktiv, jetzt eine De- Gesetzgebung wurde von den Sachverständigen ein- tailregelung zu verabschieden. Wir wissen ja gar nicht, drucksvoll belegt und damit die Auffassung der Bundes- ob diese Detailregelung im Rahmen der angestrebten regierung, dass die Gesetzeslage eindeutig sei, wider- Veränderungen überhaupt Bestand haben würde. Des- legt. Es muss eine bundesweit einheitliche und halb plädiere ich für eine Reform aus einem Guss. Der verbindliche Regelung geschaffen werden, die zurzeit vorliegende Gesetzentwurf ist folglich nicht nur inhalt- nur in einer gesetzlichen Klarstellung gesehen werden lich problematisch, er kommt auch zum falschen Zeit- kann. Es kann nicht im Sinne des Gesetzgebers sein, für punkt. Jetzt etwas zu regeln, was in einigen Monaten jede einzelne Hilfsmittelgruppe die Kostenzuständigkeit schon wieder obsolet sein könnte, das schafft nur Büro- vor dem Bundessozialgericht klären zu lassen, nur weil kratie und Verwirrung bei denen, die das Recht anwen- der von den Spitzenverbänden der Krankenkassen verab- den müssen. schiedete Abgrenzungskatalog anscheinend nicht genü- Fassen wir also zusammen: Wir brauchen keine Klar- gend Rechtssicherheit bei der Kostenbewilligung für stellung des bestehenden Rechts, da es bereits heute ein- Hilfsmittel im Pflegeheim gibt. Initiativen, wie der Vor- deutig ist. Im Übrigen ist sogar zu befürchten, dass die- schlag aus Bayern für ein Hilfsmittelsicherungsgesetz, ses Gesetz die bestehende Rechtslage komplizierter die für mehr Klarheit sorgen und die Versorgung der Pa- macht. Außerdem beendet dieses Gesetz keineswegs die tienten in Pflegeheimen mit medizinisch notwendigen Streitigkeiten zwischen Kassen und Leistungserbringern. Hilfsmitteln sicherstellen, werden von der FDP unter- Dazu bedarf es eines konsequenten Durchgreifens sei- stützt. (B) tens der Aufsichtsbehörden, damit geltendes Recht ein- (D) gehalten wird. Und zu guter Letzt stehen wir vor einer Die Fraktion der FDP stimmt dem vorgelegten Ge- umfassenden Reform der Pflegeversicherung, sodass setzentwurf zu, weil er zu einer Verbesserung der derzei- schon aus diesem Grund eine wie auch immer geartete tigen Situation führt. Detailregelung nicht sinnvoll ist. Das sind sehr viele sehr Meine Damen und Herren, ich möchte aus der Rede gute Gründe, die gegen diesen Gesetzentwurf sprechen. der Kollegin Petra Selg von den Grünen anlässlich der Deshalb werde ich ihm nicht zustimmen. ersten Lesung zum HSG zitieren:

Daniel Bahr (Münster)(FDP): Der Bundesrat hat „Wir werden auch das Verhältnis zwischen der Kran- die Initiative zum Hilfsmittelsicherungsgesetz mit dem ken- und der Pflegeversicherung auf den Prüfstand stel- Ziel ergriffen, gesetzlich und vertraglich eindeutig zu re- len, um bestehende Abgrenzungsprobleme der Pflege- geln, in welchen Fällen Kranken- oder Pflegekassen die versicherung und der Krankenversicherung endlich Kosten für Hilfsmittel übernehmen müssen und welche aufzuheben und so die Verschiebebahnhöfe zu beseiti- Hilfsmittel grundsätzlich von Pflegeheimen vorzuhalten gen. Unser Ansatz ist damit breiter und umfassender als sind. Nach dem HSG soll dies nicht mehr wie bisher von der in diesem Gesetzentwurf, denn er betrifft natürlich den Umständen des Einzelfalls abhängen, sondern ist und selbstverständlich auch die Frage der Hilfs- und rechtlich eindeutig geregelt. Damit werden die Streitig- Heilmittelversorgung in den Heimen. Ich kann Ihnen sa- keiten der Vergangenheit überflüssig. Unter anderem gen: Wir machen unsere Hausaufgaben. Ich denke, wir stellt das Hilfsmittelsicherungsgesetz klar, dass Hilfsmit- sind sogar Meisterschüler.“ tel, die zur Krankenbehandlung dienen, auch von den Krankenkassen erstattet werden müssen, wenn der Arzt So weit das Zitat. dies für medizinisch erforderlich hält und so verordnet. Das gilt unabhängig davon, wie alt der Pflegebedürftige Frau Kollegin Selg, Ihr Ansatz war so breit und um- ist und ob er zu Hause oder im Heim lebt. Damit ist das fassend, dass in dem morgen zur Abstimmung stehenden für den Patienten unwürdige Gezerre um die Finanzie- GMG keinerlei Änderungen zu den entsprechenden Pas- rungszuständigkeit in einem bedeutenden Bereich beige- sagen des SGB XI zu finden sind. Ihre Hausaufgaben ha- legt. ben Sie nicht gemacht! Für die FDP ist das HSG – das will ich hier klar sagen – nur ein erster Schritt – also eine Die FDP begrüßt und unterstützt den vorliegenden Übergangslösung – in die richtige Richtung, hin zu einer Gesetzentwurf des Bundesrates, der eine Konkretisie- umfassenden Lösung der gesamten Schnittstellenfrage rung der Finanzierungsfragen von Hilfsmitteln im Sozial- zwischen Kranken- und Pflegeversicherung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5445

(A) Anlage 7 Führerscheinerwerbs in vielen Fällen unzumutbar war. (C) Zur Sicherung der Mobilitätsbedürfnisse dieses Perso- Zu Protokoll gegebene Reden nenkreises ist daher die neue Fahrerlaubnisklasse ge- zur Beratung: schaffen worden. Sie kann von allen genutzt werden, kommt aber insbesondere älteren und gehbehinderten – Beschlussempfehlung und Bericht: Ergän- Menschen zugute, weil sie eine Lücke zwischen dem zung der Fahrerlaubnisverordnung fahrerlaubnisfreien, aber relativ langsamen motorisierten – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Krankenfahrstuhl und dem PKW ausfüllt. Wir erreichen Straßenverkehrsgesetzes damit eine klare Verbesserung für behinderte Menschen und das ist gut so! (Tagesordnungspunkt 12 a und b)

Gero Storjohann (CDU/CSU): Wir diskutieren Heidi Wright (SPD): Wir reden und entscheiden heute einen Antrag der Regierungsfraktionen zur Ände- heute über die Ergänzung der Fahrerlaubnisverordnung. rung der Fahrerlaubnisverordnung. Vordergründig geht Ich freue mich über unsere Übereinkunft, die Fahrer- es hierbei um Erleichterungen für in erster Linie gehbe- laubnisverordnung dahin gehend zu ändern, dass zum ei- hinderte Menschen. Diesen soll ermöglicht werden, zur nen zukünftig für das Führen von motorisierten Kran- Überwindung ihrer Gehbeschwerden bestimmte Fahr- kenfahrstühlen kein Mindestalter mehr vorgeschrieben zeuge ohne das Vorliegen jetzt bestehender gesetzlicher sein wird. Zum anderen wird die Fahrerlaubnis der Regelungen benutzen zu dürfen. Doch worum geht es im Klasse M, der Mopedführerschein, insofern erweitert Einzelnen? werden, als sie auch zum Führen von dreirädrigen Leichtkrafträdern berechtigt. Zielsetzung des Gesetzesantrages in Ziffer l ist es, die Vor dem jetzt geschaffenen Wegfall des Mindestalters Fahrerlaubnis in der Weise zu ändern, dass künftig für war es behinderten Kindern, die das 15. Lebensjahr noch das Führen von motorisierten Krankenfahrstühlen mit ei- nicht vollendet hatten, grundsätzlich verboten, motori- ner bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von nicht sierte Krankenfahrstühle im öffentlichen Verkehr selbst- mehr als 6 Stundenkilometer – also Elektrorollstühle – ständig zu führen. Wenn auch verschiedene Bundeslän- kein Mindestalter mehr vorgeschrieben wird. Diesem der unter bestimmten Voraussetzungen Einzelausnahmen Anliegen geben wir von der CDU/CSU-Fraktion in vol- zuließen, fehlten jedoch konkrete Vorgaben für deren Er- lem Umfang unsere Zustimmung. teilung. Diese unklare Rechtslage stellte eine schwere Darüber hinaus aber, so Ziffer 2 des Antrages, möch- Härte für behinderte Kinder und die betroffenen Eltern ten Sie die Fahrerlaubnisklasse für den Mopedführer- (B) dar. schein erweitern. Bisher ist es ja so, dass von der Klas- (D) Die neue gesetzliche Regelung sichert im Interesse se M nur zweirädrige Leichtkrafträder erfasst werden. der behinderten Kinder eine alters- und entwicklungsent- Jetzt wollen die Antragsteller die Bundesregierung prü- sprechende Teilnahme am Straßenverkehr und hebt die fen lassen, ob die Fahrerlaubnisklasse M dahin gehend bisherige ohne sachlichen Grund betriebene Ungleichbe- erweitert werden kann, dass sie auch zum Führen von handlung behinderter und nicht behinderter Kinder auf. dreirädrigen Kraftfahrzeugen mit einer Höchstgeschwin- Es ist wichtig, mit einer genauen gesetzlichen Regelung digkeit von 45 Stundenkilometern berechtigt. Als wür- behinderten Kindern, die zu ihrer Fortbewegung auf ei- den Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den nen Elektrorollstuhl angewiesen sind, die selbstbe- Regierungsfraktionen, ahnen, dass Sie sich mit dieser stimmte, ihrem Alter und ihrer Entwicklung entspre- Forderung auf sehr dünnem Eis bewegen, stellen Sie chende Teilnahme am Straßenverkehr zu ermöglichen. auch sofort einen Alternativantrag. Sollte Ihrem Wunsch Die bislang notwendige Beantragung einer Ausnahme- nicht entsprochen werden, so wollen Sie für besagte genehmigung war eine unnötige und grundlose Er- dreirädrige Leichtkrafträder eine ganz neue Fahrerlaub- schwernis, ja gar eine Diskriminierung. nisklasse geschaffen wissen. Diese soll, wenn es nach Ihren Vorstellungen geht, hinsichtlich der Ausbildung Auch die Neuregelung der Fahrerlaubnis der Klasse und Prüfungsanforderungen unter denen der Klasse B M dient insbesondere den Interessen Gehbehinderter so- liegen. wie älterer Menschen, die sich im Straßenverkehr unsi- cher fühlen. Ein leicht motorisiertes Dreirad ist für diese Warum das alles? Wenn ich mir in Ihrem Gesetzesan- Personengruppe wesentlich stand- und fahrsicherer als trag die Begründung zu Ziffer 2 durchlese, so erkenne ein entsprechendes Zweirad und unterstützt sie in ihrem ich auf den ersten Blick ein durchaus erstrebenswertes Wunsch, im öffentlichen Verkehrsraum mobil zu blei- Ziel. Dort heißt es wörtlich – ich zitiere: „Dreirädrige ben. Bislang verlangte das deutsche Fahrerlaubnisrecht Kleinkrafträder sind im Straßenverkehr relativ selten an- für das Führen eines dreirädrigen Fahrzeugs grundsätz- zutreffen. Sie entsprechen im Wesentlichen den Interes- lich einen Führerschein der Klasse B, also einen PKW- sen Gehbehinderter und älterer Menschen, die sich im Führerschein. Letzterer war damit auch in jedem Fall für Straßenverkehr auf Grund von Gleichgewichtsproble- das Führen eines dreirädrigen Fahrrads mit Hilfsmotor men eher unsicher fühlen. Für diese Personengruppe ist oder eines dreirädrigen Mopeds mit einer Spitzenge- ein leichtmotorisiertes Dreirad stand- und fahrsicherer schwindigkeit von nicht mehr als 45 km/h erforderlich, als ein entsprechendes Zweirad und unterstützt sie dabei, was für die betroffene Personengruppe angesichts we- im Straßenverkehr mobil zu bleiben“. Weiter heißt es sentlich höherer Anforderungen und Kosten des PKW- dann: „Für die Mobilitätserfordernisse insbesondere 5446 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) dieses Personenkreises soll daher eine neue Fahrerlaub- begrenztes Freiparken bereits praktiziert wird. Gerade (C) nisklasse geschaffen werden“. für kleine und mittlere Städte hat diese Möglichkeit für die Innenstadtbelebung eine außerordentliche Bedeu- Beim näheren Hinsehen kommen mir dann aber doch tung. In vielen Kommunen wird das Angebot an öffentli- erhebliche Bedenken. Behinderten Personen können chen Verkehrsmitteln nicht im nötigen Maße angenom- doch schon heute im Wege von Einzelausnahmen Er- men. Zahlreiche Einwohner und Besucher nutzen daher leichterungen beim Erwerb der Fahrerlaubnis gewährt lieber den PKW, um in die Innenstadt zu gelangen. Wür- werden. Keine Behörde würde doch bei Vorliegen ent- den in diesen Fällen grundsätzlich Parkgebühren erho- sprechender Voraussetzungen einem behinderten Mit- ben, hätte dies zur Folge, dass die Mehrzahl der Ein- bürger diese Ausnahmegenehmigung verweigern. Aus käufe vor der Stadt auf der grünen Wiese getätigt würde. fachlicher Sicht besteht also überhaupt keine Notwen- Die Gebührenhoheit bei den Gemeinden steht damit digkeit für eine Änderung der jetzt bestehenden Rechts- nicht zuletzt auch im Interesse des innerstädtischen Ein- lage. Bereits im Ausschuss haben wir von der CDU/ zelhandels. CSU-Fraktion den von Ihnen angestrebten Prüfungsauf- trag an die Bundesregierung deswegen bereits abgelehnt. Gleiches gilt für die vorgesehene Möglichkeit zur An unserer Haltung in dieser Frage hat sich bis heute Einführung von Gebührenintervallen. Das grundsätzli- auch nichts geändert. che Bemühen, die Innenstädte autofrei zu halten, muss heute viel differenzierter gehandhabt werden. Die ver- Das angesprochene Problem kann – wie bisher auch – kehrstechnischen Voraussetzungen sind von Kommune über Einzelerlaubnisse gelöst werden. Offensichtlich be- zu Kommune verschieden. Viele Innenstädte werden nur zwecken Sie mit Ihrem Gesetzesantrag aber noch etwas noch durch einen geregelten PKW-Durchgangsverkehr ganz anderes. Ich werde den Eindruck nicht los, dass am Leben gehalten. Weiterhin haben sich zahlreiche Ge- hier auf Schleichwegen versucht werden soll, so genann- meinden durch bessere Verkehrsführung und bessere ten „Fun-Fahrzeugen“, also „Spaßmobilen“, das Tor für Verkehrsinfrastruktur auf das höhere Autoaufkommen einfachere Fahrerlaubnisklassen zu öffnen. der letzten Jahre eingestellt. Eine gezielte Innenstadtbe- Auch Ihnen dürfte ja durchaus bekannt sein, dass es lebung kann im Wesentlichen nur durch flexiblere Mög- derzeit einen großen Trend zur Entwicklung von solchen lichkeiten zum Kurzzeitparken und durch die Verhinde- Exotenfahrzeugen gibt. Skateboards mit Motorantrieb, rung des flächendeckenden Langzeitparkens erfolgen. kleine dreirädrige Fahrzeuge mit Benzinmotorantrieb so- Gestaffelte Gebührensysteme in Anlehnung an tageszeit- wie neuartige Luftkissenfahrzeuge gehören dazu. Diese liche Schwankungen geben den Kommunen die notwen- Fahrzeuge würden der von Ihnen angestrebten neuen dige Handhabe. Fahrerlaubnisklasse dann ebenfalls unterfallen. Ich kann Die Regelung stärkt das kommunale Selbstverwal- (B) (D) nur davor warnen, die Anforderungen an den Betrieb tungsrecht und trägt zur Entbürokratisierung bei. Dies solcher Fahrzeuge – wie von Ihnen beabsichtigt – herun- darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere terzuschrauben. Diese „Spaßmobile“ werden doch in Kommunen unter einer ständig steigenden Aufgabenlast erster Linie von jungen Leuten verwendet, die wenig Er- leiden und sich in einer schwerwiegenden Finanzkrise fahrung im Straßenverkehr besitzen. Es besteht die Ge- befinden. Ohne eine grundlegende kommunale Finanz- fahr, dass die jungen Menschen ganz schnell eine Fahr- reform wird es für die Gemeinden immer schwieriger, erlaubnis für die „Fun-Fahrzeuge“ erwerben könnten. ihre Selbstverwaltungsrechte wahrzunehmen. Was wäre die Folge? Junge Leute würden sich ver- Rot-Grün hat sich einer Reform zur Sicherung der stärkt auf öffentlichen Straßen „austoben“ und eine Ge- Gemeindefinanzen lange verweigert. Das Einsetzen der fahr für andere Verkehrsteilnehmer darstellen. Der Ver- Gemeindefinanzreformkommission wurde verzögert, kehrssicherheit ist damit sicherlich wenig gedient. ihre Arbeitsaufträge waren zu eng und letztlich ist die Deswegen ist die Ziffer 2 Ihres Antrages aus Sicht der Kommission gescheitert. Hinzu kommt, dass die Bun- CDU/CSU-Fraktion als äußerst problematisch zu bewer- desregierung bei ihren Reformmodellen mit geschönten ten. Da allerdings die behinderten und älteren Menschen Zahlen arbeitet. Die von Rot-Grün erwarteten Einnah- bei diesem Antrag im Vordergrund stehen, wird die mezuwächse durch die vorgesehene Gewerbesteuerre- CDU/CSU sich bei der Abstimmung der Stimme enthal- form sind nach Berechnungen der kommunalen Spitzen- ten. verbände um bis zu 1,5 Milliarden Euro zu hoch angesetzt. Die Bundesregierung verspricht den Kommu- Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Der vorliegende Än- nen schon seit Jahren millardenschwere Entlastungen, derungsentwurf des Straßenverkehrsgesetzes ist der rich- gehalten wurde noch nichts. tige Weg, den Kommunen die entscheidenden Gestal- Die Union hat hingegen ein klares kommunales So- tungsmöglichkeiten bei den Parkgebühren zu geben. forthilfeprogramm vorgelegt. Eine Rücknahme der Er- Damit wird nicht nur die kommunale Selbstverwaltung höhung der Gewerbesteuerumlage und die Erhöhung des gestärkt, sondern auch ein Schritt hin zu Bürokratieab- Gemeindeanteils am Aufkommen an der Umsatzsteuer bau und zur Flexibilisierung der Verwaltung unternom- auf 3 Prozent würden den Kommunen 3,4 Milliarden men. Euro Sofortentlastung bringen. Die Änderungen dieser Regelung im Straßenver- Die Überlassung der Parkgebührengestaltung an die kehrsgesetz waren überfällig. Wir müssen uns im Klaren Kommunen ist zu begrüßen. Damit wird das kommunale sein, dass in vielen Städten und Gemeinden ein zeitlich Selbstverwaltungsrecht gestärkt. Die Kommunen kön- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5447

(A) nen ihre Selbstverwaltung jedoch nur umfassend wahr- Fahrerin bzw. des Fahrers hingegen als deutlicher Plus- (C) nehmen, wenn sie finanziell auf sicherem Boden stehen. punkt angesehen werden muss. Dies ist die Bundesregierung unseren Städten und Ge- meinden bis heute schuldig geblieben. Es gibt eine große Anzahl von gehbehinderten und äl- teren Menschen, aber auch Jugendlichen, denen wir mit dieser einfach zu erwerbenden und vor allen Dingen Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit preiswerten Fahrerlaubnis neue Möglichkeiten für die dem ersten Teil des Antrags der Koalitionsfraktionen Erfüllung ihrer Mobilitätswünsche ermöglichen können. von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Ergänzung der Der Führerschein B als nächsthöhere Fahrerlaubnisstufe Fahrerlaubnisverordnung wird an dieser eine dringend stellt nach meiner Ansicht für viele Betroffene eine zu notwendige und zeitgemäße Korrektur im Hinblick auf große und unnötige Hürde dar. Somit könnte es uns mit die Benutzung von motorisierten Krankenfahrstühlen dieser unkomplizierten Regelung gelingen, die Lücke mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von zwischen den langsamen fahrerlaubnisfreien Kranken- nicht mehr als 6 km/h vorgenommen. fahrstühlen und dem Pkw sinnvoll auszufüllen. Bislang war es behinderten Kindern grundsätzlich Es sei an dieser Stelle auf die aus bündnisgrüner Sicht verboten, einen derartigen Rollstuhl selbstständig zu sehr reizvolle und unterstützenswerte Perspektive hinge- führen, solange sie noch nicht das 15. Lebensjahr vollen- wiesen, dass es in diesem Fahrzeugsegment eine Viel- det hatten. Eine Vielzahl von Sonder- und Ausnahmege- zahl von umweltfreundlichen Fahrzeugen mit Elektro-, nehmigungen in einigen Bundesländern führte zu einer Solar- oder Kombinationsantrieben – Pedal/Solar oder nicht unerheblichen Rechtsunsicherheit, die die ohnehin Pedal/Elektro – gibt, sodass zum Beispiel Jugendlichen schon schwierigen Lebensumstände von behinderten ein Einstieg in eine ökologische, innovative und mo- Kindern und Jugendlichen und deren Eltern unnötig be- derne Fahrzeugtechnologie ermöglicht würde. Außer- lasten. Daher ist es konsequent und folgerichtig, die dem reizen diese Fahrzeuge aufgrund ihrer Technologie Fahrerlaubnisverordnung an dieser Stelle entsprechend nicht dazu, durch „Frisieren“ ein Höchstmaß an Ge- zu korrigieren, besser gesagt zu ergänzen. schwindigkeit zu erzielen. Auch das wäre als ein weite- rer Beitrag zur Sicherheit im Straßenverkehr anzusehen. Dabei gilt es eine Abwägung zwischen einer eventuel- len Gefährdung des öffentlichen Straßenverkehrsraums Ich wünsche mir zu guter Letzt, dass die Überprüfung und dem Anspruch auf eine möglichst weitgehende Parti- des zweiten Teils unseres Antrages zu einer einfachen zipation junger Behinderter am gesellschaftlichen und und unkomplizierten Regelung führen wird, die uns die sozialen Leben vorzunehmen. Dabei wird deutlich, dass Schaffung einer neuen Fahrzeugklasse erspart. Wenn wir das Gefährdungspotenzial als gering und vernachlässig- (B) es mit dem Bürokratieabbau wirklich ernst meinen, dann (D) bar angesehen werden und keinen Grund darstellen sollten wir uns auch bei der Fahrerlaubnisverordnung kann, behinderten Kindern und Jugendlichen die Teil- von diesem Gedanken leiten lassen. nahme am Straßenverkehr weiterhin zu verweigern.

Bündnis 90/Die Grünen unterstützen daher ausdrück- Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Im Gegensatz zu lich den Antrag der Koalitionsfraktionen, den § 10 Abs. 3 sonstigen verkehrspolitischen Entscheidungen scheinen der Fahrerlaubnisverordnung um eine entsprechende meine Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsparteien bundesweit geltende Ausnahmegenehmigung zu ergän- bei der vorliegenden Initiative endlich einmal Vernunft zen, die eine gänzliche Aufhebung der bisherigen Min- zu zeigen. Durch die Änderung bezüglich der Aufhe- destalterregelung vorsieht. Ich bin mir sicher, dass uns bung des Mindestalters für das Führen von motorisierten an dieser Stelle auch die Kolleginnen und Kollegen von Krankenfahrstühlen wird nicht nur die Mobilität behin- CDU/CSU und FDP unterstützen werden. derter Kinder erleichtert, sondern auch ihre Diskriminie- rung beendet. Außerdem fällt eine Rechtsverordnung Die Erweiterung der Fahrerlaubnis der Klasse M auf weg, die schon längst abgeschafft sein sollte. Abgesehen dreirädrige Leichtkrafträder, die bisher nur zum Führen von dem sozialen und familienpolitischen Aspekt dieses von Mopeds, das heißt von zweirädrigen Leichtkraft- Antrags, könnte man schon fast von einer entbürokrati- rädern mit einer Höchstgeschwindigkeit von 45 km/h, sierenden Maßnahme sprechen. Ich wünschte, solche berechtigt, halte ich persönlich ebenfalls für längst über- klugen Einfälle würden Sie öfter haben. fällig und im Sinne eines allseitigen Wunsches nach Bü- rokratieabbau auch für geboten. Eine mögliche Argu- Das Gleiche gilt für die Erweiterung der Fahrerlaub- mentationslinie gegen die Erweiterung der Klasse M, die nis der Klasse M für dreirädrige Leichtkrafträder. Auch auf ein größeres Gefährdungspotenzial von dreirädrigen hier wird den Bürgerinnen und Bürgern ein höheres Maß Leichtkrafträdern abzielt, halte ich für wenig stichhaltig. an Mobilität garantiert. Es kann nicht sein, dass die Nut- Wir sollten berücksichtigen, dass der technologische zerinnen und Nutzer dreirädriger Leichtkrafträder mit Fortschritt der letzten Jahre dazu geführt hat, dass heute mehr bürokratischen Hürden und Kosten zu kämpfen ha- gebaute dreirädrige Leichtkrafträder leichter sind als ben als Mopedfahrer. Erstere sind überwiegend ältere zum Beispiel ein vor 20 Jahren gebautes Moped und da- Menschen mit Behinderungen, die bisher einen Fahr- mit auch eine geringere kinetische Energie, das heißt zeugschein Klasse B vorweisen müssen. Angesichts der eine geringere Aufprallenergie, haben. Daher ist ihr Ge- Tatsache, dass Fahrradfahrer, Inline-Skater oder Skate- fährdungspotenzial für den öffentlichen Straßenverkehr boarder höhere Geschwindigkeiten erreichen, ist diese als eher gering anzusehen, wobei der höhere Schutz der Verordnung geradezu lachhaft. 5448 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Eine sinnvolle Begleitmaßnahme – das gilt übrigens Elektrorollstühlen im öffentlichen Straßenverkehr aus (C) für alle Führerscheinklassen – wäre die Verbesserung der Verkehrssicherheitsgründen zu vertreten ist, mit den Fahrlehrerausbildung sowie eine früher ansetzende Ver- Ländern im Bund/Länder-Fachausschuss „Fahrerlaub- kehrserziehung. niswesen“ diskutiert. Das Ergebnis ist eindeutig und er- freulich. Es wird nicht mehr für notwendig erachtet, eine Zu dem zweiten Teil des heutigen Tagesordnungs- Mindestaltersvorschrift von 15 Jahren in § 10 FeV für punktes 12 kann ich die Fraktionen der Regierungskoali- derartige Fallgestaltungen vorzusehen; § 10 FeV wird tion nur auffordern, auch hier von ihrer sonstigen Linie daher von uns entsprechend geändert. Allerdings gibt es der bürokratischen Vollerfassung des menschlichen Le- noch Detailfragen, insbesondere zur genauen techni- bens Abstand zu nehmen und die Initiative der Länder zu schen Definition. Die Erfahrungen mit Krankenfahrstüh- unterstützen. Es gilt, eine Regelung abzuschaffen, die len, die in Wirklichkeit „kleine“ PKW waren, haben ge- nicht nur in der Praxis eine umständliche Handhabung zeigt, dass man hier sehr sorgfältig arbeiten muss. Im der Parkgebühren für die Kommunen zur Folge hat, son- Ergebnis kann aber dem Entschließungsantrag hierzu dern vielmehr wirtschafts- und mittelstandsfeindlich ist. voll und ganz zugestimmt werden. Durch das Festlegen der Mindestparkgebühr und das Der zweite Punkt ist dagegen nicht so leicht. Eine abzurechnende Intervall von einer halben Stunde ist es „einfache“ Ausdehnung der Berechtigung der Fahrer- den Gemeinden unmöglich, Regelungen wie die so ge- laubnis der Klasse M – Moped – auf dreirädrige Fahr- nannte „Brötchentaste“ einzuführen. Eine solche Rege- zeuge bis 45 km/h scheidet aus; denn die Klasse M um- lung wäre aber eben vor dem Hintergrund sinnvoll, dass fasst – übrigens schon immer – nur zweirädrige Einzelhändler ohnehin einen Überlebenskampf gegen Kraftfahrzeuge. Ausbildungs- und Prüfungsvorschriften Einkaufszentren und Warenhäuser führen müssen. Hier sind also auf zweirädrige Fahrzeuge zugeschnitten, die ist es gerade für diese ein entscheidender Nachteil, dass ein gänzlich anderes Fahrverhalten als drei- bzw. vier- der Kunde nicht nur schwer einen Parkplatz in der Nähe rädrige Kraftfahrzeuge haben. Den Gehbehinderten, auf des Ladens findet, nein, er muss auch noch für den Kauf die der Antrag zielt, wäre mit einer bloßen Ausweitung seiner Brötchen Parkgebühren für eine halbe Stunde ent- der Klasse M also nicht geholfen, da Ausbildung und richten. Ferner verwaisen unsere Innenstädte in den letz- Prüfung weiterhin auf dem zweirädrigen Fahrzeug der ten Jahren ohnehin zusehends und wir sollten eine solch Klasse M erfolgen würden. Auch die Länder, die im einfache Möglichkeit, die Konsum- und Wohnbedingun- Bundesrat einer entsprechenden Verordnungsänderung gen in Städten zu verbessern, nicht ungenutzt lassen. zustimmen müssten, haben sich bereits gegen eine „ein- Zu guter Letzt habe ich den Eindruck, dass diese Re- fache“ Ausdehnung der Klasse M auf dreirädrige Fahr- gelung gegen den Grundsatz der Subsidiarität verstößt. zeuge ausgesprochen. Auch eine Einbeziehung unter die Nur die Kommunen selbst können sinnvoll entscheiden, Regelungen zu „Krankenfahrstühlen“ scheidet aus, da (B) wo und in welcher Höhe ab wann Parkgebühren erhoben diese unter anderem Elektroantrieb brauchen und nicht (D) werden sollten. Denn nur sie können sich mit ihrem Wis- schneller als 15 km/h sein dürfen. sen um die genaue Situation vor Ort den einzelnen Be- Nach derzeitiger Rechtslage ist also grundsätzlich dürfnisse anpassen. eine Fahrerlaubnis der Klasse B – PKW – für dreirädrige Darum kann ich nur allen Mitgliedern des Hauses Leicht-KfZ zu fordern. Dies hat sich für die Zielgruppe empfehlen, sich nicht gegen die Streichung der disku- der behinderten Personen in der Praxis bislang auch tierten Regelung zu stellen. nicht als problematisch erwiesen; denn ihnen werden schon heute im Wege von Einzelausnahmen Erleichte- rungen beim Erwerb der Fahrerlaubnis gewährt bzw. sie Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- können eine „maßgeschneiderte Fahrerlaubnis“ erhalten. minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Im Ent- Auch Beschwerden von Behinderten sind hier noch nicht schließungsantrag auf Drucksache 15/1093 wird die bekannt geworden. Es geht also insbesondere um die In- Bundesregierung aufgefordert, zum Führen von Elektro- teressen der Hersteller und darum, durch möglichst nied- rollstühlen bis 6 km/h künftig kein Mindestalter mehr rige Fahrerlaubnisanforderungen ihre Absatzchancen zu vorzuschreiben sowie zu prüfen, ob mit einer Fahrer- erhöhen. Da die Fahrzeuge, die hierzu umgebaut wer- laubnis der Klasse M – Moped – künftig auch dreiräd- den, vor allem aus Italien und Frankreich stammen, wird rige Fahrzeuge bis 45 km/h gefahren werden können allerdings die deutsche Automobilindustrie, die spezielle oder ob eine neue Fahrerlaubnisklasse für diese Fahr- Fahrzeugumrüstungen für Behinderte anbietet, zumin- zeuge geschaffen werden soll. dest nicht gefördert. Der erste Punkt zielt auf die Abschaffung des Min- Ich bin auch deshalb so kritisch, weil es mittlerweile destalters für das Führen von langsamen Elektrorollstüh- einen Trend zur Entwicklung von „Exotenfahrzeugen“ len im Straßenverkehr, um die Mobilität gehbehinderter und „Spaßmobilen“ gibt. Auf viele diese Fahrzeuge Kinder zu fördern. Hintergrund ist eine entsprechende „passt“ keine der derzeitigen Fahrerlaubnisklassen. Anfrage der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behin- Auch EG-Vorgaben fehlen, sodass sich künftig die Frage derte beim BMVBW. Bislang beträgt das Mindestalter stellt, ob wir für jedes auf dem Markt angebotene Fahr- 15 Jahre; jedoch werden in der Praxis schon heute sei- zeug, das eine Straßenzulassung besitzt, eine neue Fahr- tens der zuständigen Länderbehörden Einzelausnahmen erlaubnisklasse entwickeln und eine weitere Zersplitte- auf Antrag erteilt. Dies ist natürlich mit Verwaltungsauf- rung der Klassen fördern wollen. Hier ist der Weg über wand und Kosten für alle Beteiligten verbunden. Wir ha- eine Einzelfallbetrachtung gegebenenfalls mit entspre- ben daher die Frage, ob eine generelle Abschaffung des chenden Ausnahmen bei Härtefällen meines Erachtens Mindestalters für das Führen von langsam fahrenden oft der bessere. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5449

(A) Im Ergebnis schlagen wir eine Einbeziehung von Deutschen Schiffbaus völlig aus. Als stellvertretendes (C) dreirädrigen Leicht-Kfz in eine noch zu schaffende, neue Mitglied im Verteidigungsausschuss und als Hamburger Fahrerlaubnisklasse für vierrädrige Leicht-Kfz – so ge- Abgeordneter ist es mir daher ein wichtiges Anliegen, an nannte Micro-Cars, vor. Diese neue Klasse soll bzw. dieser Stelle auch einmal den Marineschiffbau zu thema- muss geschaffen werden, weil die Europäische Kommis- tisieren. sion zu vierrädrigen Leicht-Kfz ein Vertragsverletzungs- verfahren eingeleitet hat. Im Kern geht es dabei um die Bei einem Jahresumsatz der deutschen Schiffbauin- Frage, ob das Erfordernis der Fahrerlaubnis der Klasse B dustrie von etwa 8 Milliarden Euro entfallen 76 Prozent – PKW – zum Führen von vierrädrigen Leichtkraftfahr- auf den Handelsschiffbau und 23 Prozent auf den Mari- zeugen ein Handelshemmnis darstellt. Wenn man hier neschiffbau. Das ist eine enorme Summe, hinter der ent- Lösungen gegebenenfalls im Kompromisswege sucht, sprechende Ingenieurs- und Fertigungskapazitäten lie- muss eines immer beachtet werden: die Verkehrssicher- gen, die man nicht einfach unterschlagen darf. heit. Die Arbeiten für diese neue Klasse haben bereits Maßgebliches Kennzeichen für den deutschen Schiff- begonnen. Eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertretern von TÜV, DEKRA, Fahrlehrerverband und BMVBW, bau ist die Integration von Handels- und Marineschiff- hat die Arbeiten aufgenommen, um angemessene Prü- bau. Der militärische Schiffbau hat hier für den Erhalt fungs- und Ausbildungsanforderungen für eine neue hoch qualifizierter Ingenieurskapazitäten sowie für die Fahrerlaubnisklasse für drei- und vierrädrige Kraftfahr- kontinuierliche Auslastung und die Rentabilität des zeuge bis 45 km/h möglichst bald zu schaffen. Schiffbaus insgesamt große Bedeutung. Um dies zu ver- deutlichen: Im Jahre 2002 waren rund ein Fünftel der Lassen Sie mich damit abschließend zu Buchstabe b deutschen Schiffbauer im Bau oder in der Reparatur von dieses Tagesordnungspunktes kommen: der ersten Bera- Marineschiffen tätig gewesen. tung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes. Allerdings – und nun komme ich zur Kehrseite der Der Gesetzentwurf des Bundesrates auf Bundestags- Medaille – auch der Marineschiffbau kommt in Be- drucksache 15/1496 sieht im Wesentlichen eine Ände- drängnis. Die Aufträge für die deutsche Marine konnten rung des § 6 a Abs. 6 des Straßenverkehrsgesetzes vor. in den vergangenen Jahren nur teilweise die Auslastung Derzeit ist hier noch eine Mindestparkgebühr von der vorhandenen Marineschiffbau-Kapazitäten sicher- 0,05 Euro je angefangene halbe Stunde für Parkschein- stellen. automaten oder Parkuhren festgelegt. Künftig soll die Erhebung der Parkgebühren in die freie Disposition des Wenn wir uns aber politisch einig sind, dass wir auch Gebührengläubigers gestellt werden. Dies sind weit in der Bundesrepublik eine eigenständige wehrtechni- überwiegend die Kommunen. Damit wäre künftig auch sche Industrie mit bestimmten Kernfähigkeiten halten wollen, dann müssen wir auch hierfür die Voraussetzun- (B) die Zulassung eines kostenfreien Parkens in einem vor (D) Ort festzulegenden Zeitabschnitt möglich. Die Gebühren gen schaffen. Und wir haben in Deutschland gerade im könnten pro Zeitintervall schrittweise unterschiedlich Marineschiffbau Kenntnisse, die es in jedem Falle wert gestaltet werden. Es könnten auch kürzere Taktzeiten als sind erhalten zu bleiben. Häufig und zu Recht genannt eine halbe Stunde vorgegeben werden und die Gebühren sei hier stellvertretend der U-Boot-Bau, aber auch im könnten je nach Parkdruck gestaffelt werden. Bereich der Fregatten und Korvetten setzt unsere noch deutsche Marineindustrie überragende Ingenieurleistun- Sie können die Bewertung des Gesetzentwurfes durch die Bundesregierung ebenfalls der Bundestagsdrucksa- gen um. che 15/1496 entnehmen. Dieser grundsätzlich positiven Der Erhalt dieser Kernfähigkeiten, insbesondere der Stellungnahme schließe ich mich ausdrücklich an. Ange- ingenieurtechnischen Kapazitäten, erfordert aber aus be- sichts der von der CDU/CSU-Fraktion am 11. September triebswirtschaftlichen Gründen eine möglichst kontinu- veröffentlichten Pressemeldung mit einer ebenfalls posi- ierliche Auslastung. Diese kann aber bei planmäßiger tiven Stellungnahme zu dieser Gesetzesänderung dürfen Fortführung der Vorhaben für die deutsche Marine und wir einer sehr harmonischen Beratung im federführend bei der Erfüllung der bestehenden Exporterwartungen zuständigen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Woh- nur noch bis etwa 2006 als gesichert angesehen werden. nungswesen entgegensehen. Gleichzeitig muss man wissen, dass eine Verlagerung der Ingenieurkapazitäten auf technologisch hochwertige Anlage 8 zivile Schiffe nicht möglich ist. Wenn wir es aber nicht Zu Protokoll gegebene Reden schaffen, diese hochqualifizierten Ingenieure auszulas- zur Beratung über die Anträge: ten, geht das Know-how mittelfristig verloren. Im Er- gebnis sind somit die Kernfähigkeiten der deutschen – Deutschen Schiffbau aus der Schlechtwet- Marinewerften auf absehbare Zeit gefährdet. terlage in sicheres Fahrwasser leiten Und ich möchte an dieser Stelle einen anderen weit – Sicherung von Standort und Know-how des deutschen Schiffbaus verbreiteten Irrtum aufklären. Die angeführte Problema- tik trifft nicht nur die Küstenländer wie Schleswig- (Tagesordnungspunkt 13 und Zusatztagesord- Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, nungspunkt 5) Bremen und Hamburg. Nein – 22 Prozent der Zulieferin- dustrie des deutschen Schiffbaus liegen in Baden- Johannes Kahrs (SPD): Der Antrag der CDU blen- Württemberg und 15 Prozent in Bayern. Damit nehmen det in seiner Betrachtung ein wichtiges Standbein des beide Länder eine Spitzenstellung ein. 5450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Wenn ich jetzt den Blick auf den derzeit bevorstehen- Dr. Margrit Wetzel (SPD): Zweifellos macht die (C) den Verkauf von HDW richte, tun sich an dieser Stelle asiatische Konkurrenz der deutschen und der gesamten auf lange Sicht weitaus größere Probleme auf. Hier droht europäischen Schiffbauindustrie schwer zu schaffen. Mit tatsächlich der Ausverkauf deutscher Spitzentechnologie anhaltenden Dumpingpreisen hält Korea bis jetzt bereits und ich möchte an dieser Stelle einige Anmerkungen zu 55 Prozent der Schiffsneubauaufträge 2003. Finanzie- einer möglichen Lösung sagen – wie sie sich in Ansätzen rungs- und Planungskosten fließen nach wie vor nicht in auch in unserem Antrag wiederfindet. die Kalkulation koreanischer Werften ein. Trotz einer Staatsverschuldung von 40 Prozent des BIP interveniert Eher kurz- als mittelfristig muß sich auch die deut- die koreanische Notenbank am Devisenmarkt. sche Marineindustrie konsolidieren, will sie auf einem immer härter werdenden internationalen Markt weiterhin Japan bleibt offenbar unnachahmlich in der Stärkung bestehen können. der eigenen Industrie durch die inländische Wirtschaft. Es hält seine Stellung am Weltschiffbaumarkt zur Hälfte Der Verkauf von HDW eröffnet jetzt die Möglichkeit, allein durch die intensive Inlandsnachfrage. Aktuell einen starken Deutschen Marinewerftenverbund ins Le- wurden auch dort Wechselkursmanipulationen festge- ben zu rufen. stellt. Wenn man sich auf dem Markt umsieht, kommt für China agiert konkurrenzlos im Einfachschiffbau, ist eine Führungsrolle meiner Ansicht nach nur die Thys- inzwischen weltweit die Nummer eins in der Schiffs- sen-Krupp AG in Frage. Aber mit welcher Perspektive finanzierung und verdrängt europäische Banken mit sollte sich die Thyssen-Krupp AG mit mehr als 50 Pro- Niedrigzinsen bei internationalen Großkrediten. zent oder gar 100 Prozent bei HDW engagieren? Doch Riesige moderne Werften, billige Arbeitskräfte, ver- nur dann, wenn eine entsprechende Auftragslage eine besserte Infrastruktur, ständig steigende Produktivität wirtschaftliche Auslastung verspricht. Und diese Auslas- und immer höhere Qualität der Produkte: Das ist das tung wird nicht nur durch Exporte zu realisieren sein. Spektrum, gegenüber dem sich die deutschen Werften Hier haben wir als Politiker über die Gestaltungsmög- behaupten müssen. lichkeiten des Titels Schiffbau im Verteidigungshaushalt eine maßgebliche Verantwortung der wir uns bewusst Auch deutsche Schiffsfinanzierer sehen sich auf Er- sein müssen und die in diesem Zusammenhang nicht un- folgskurs, sie erwarten für 2003 ein Rekordjahr: Steuer- ter den Tisch gekehrt werden darf. vorteile, gute Renditen und die Klarheit bei der Tonna- gesteuer locken Kapitalanleger; die Charterraten steigen Eine solche nationale Werftenkonsolidierung ist auch deutlich, die Häfen verbuchen erkleckliche Umsatzzu- (B) zwingende Voraussetzung für mögliche weitere Schritte. wächse. Der Bedarf an neuen Schiffen ist vorhanden. (D) An erster Stelle wäre hier eine europäische Lösung nach Würden bei uns – wie Japaner in Japan – die deutschen dem erfolgreichen Vorbild der EADS vorstellbar. Aller- Reeder ihre Schiffe in Deutschland bestellen, so hätten dings – und das möchte ich hier einschränkend zu Proto- wir statt magerer 1,8 Prozent schon satte 25 Prozent der koll geben – würde ich mir hier eine Zusammenarbeit diesjährigen Neubauaufträge erhalten. 90 Prozent der von gleichberechtigten, frei am Markt operierenden Un- Neubauaufträge 2003 füllen die Auftragsbücher asiati- ternehmen wünschen. Einen Eingriff durch ausländische scher Werften! Deutsche Eigner betreiben 24 Prozent der staatlich kontrollierte Konzerne in unsere eigenen Struk- Welthandelsflotte, sie platzieren ihre Aufträge klar in turen sollten wir durchaus selbstbewusst ablehnen. Nur Asien. so ist eine faire, gleichberechtigte Partnerschaft und Ko- operation möglich. Umso schlimmer ist es, dass in deutschen wie in euro- päischen Werften immer wieder Leute entlassen werden Einer anderen möglichen Option sollte man sich müssen. Schiffbauliches Know-how geht uns damit ver- ebenfalls nicht verschließen – es wäre dies eine transat- loren und die betroffenen Arbeitnehmer sind arbeitslos lantische Kooperation. Bei all diesen Überlegungen dür- an einem weltweit boomenden Markt! Das ist schon eine fen wir aber nicht aus den Augen verlieren, dass Grund- besondere Schizophrenie! lage für solche Szenarien ein gestärkter deutscher Aber: die Industrie jammert nicht, sie ist sich ihrer Marinewerftenverbund ist. Stärken bewusst und blickt mutig nach vorn. Und dafür Bei allen denkbaren Formen der Kooperation müssen gebührt allen Beteiligten größter Respekt. wir aber Rahmenbedingungen schaffen, in denen ein In wirklich hervorragender Zusammenarbeit, mit ho- deutscher Partner stets gleichberechtigt ist. Nur dann hem Verantwortungsbewusstsein und großer Kompro- werden eine europäische und/oder die transatlantische missbereitschaft zwischen Industrie, Gewerkschaften, Lösung zu einem Erfolg führen. Egal von wie vielen Betriebsräten und Behörden wird der notwendige Stel- Säulen ein solches Haus getragen würde – wäre eine lenabbau so sozial verträglich wie möglich vorgenom- Säule schwächer als andere, liefe das Haus schnell Ge- men, ist oft mit Weiterqualifizierungsmaßnahmen für fahr in Schieflage zu geraten. Mitarbeiter verbunden, damit diese fit für andere Ar- beitsverhältnisse sind. Der vorgelegte Antrag ist unserer Ansicht nach gut geeignet, solche Schieflagen zu vermeiden. Es kann aber Apropos „andere Arbeitsverhältnisse“: Wir könnten nur ein Anfang sein und es ist an uns, die Umsetzung noch etliche zukunftsfähige maritime Industriebereiche kritisch und fördernd zugleich zu begleiten. im Zusammenwirken von Politik und Unternehmergeist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5451

(A) erschließen. Neben den vielfältigen nichtschiffbaulichen setzung eines maritimen Koordinators hat der Bundes- (C) maritimen Technologien, für die die Offshoretechnik nur kanzler wichtige Inititalzündungen gegeben für einen ein Beispiel ist, scheinen mir auch die Pilotprojekte der neuen Dialog zwischen Unternehmen, Gewerkschaften, Unterwasser-Kraftwerke in Norwegen und Großbritan- Politik und Wissenschaft, der auf breiter Basis ergebnis- nien hoch interessant zu sein. orientiert arbeitet und die maritime Politik der Bundes- regierung prägt. Der europäische Schiffbauverband CESA will mit dem Konzept Leader Ship 2015 die führende Rolle euro- Viele Veränderungen der politischen Rahmenbedin- päischer Werften für den komplexen Handelsschiffbau, gungen dienen der Schifffahrt und auch damit dem mari- für Spezialschiffe, Kreuzfahrtschiffe und Luxusjachten timen Standort Deutschland. Forschung, Entwicklung ausbauen. Dabei haben die technologische Kompetenz und der Ausbau der nichtschiffbaulichen maritimen und das Beherrschen komplexester Systeme, das viele Technologien werden unterstützt. Die maritime Wirt- deutsche Werften mit unterschiedlichsten Fähigkeiten schaft steht in engen Wechselbeziehungen, die sich ge- auszeichnet, eine faire Chance auf Marktführerschaft. genseitig stützen und stärken. Deshalb sind die mariti- Unsere Stärken sind die mittelständische Struktur, die men Konferenzen auch weit mehr als die Summe ihrer Vielseitigkeit und der Mix der Werften, die hohe Qualität Einzelentscheidungen! ihrer Produkte, die weltweit Standards setzt, wenn wir nur an die virtuelle Entwicklung und Fertigung denken, Vergessen wir auch nicht, dass etwa ein Viertel der an die Doppelhülle, die Weltmarktführerschaft bei Pro- deutschen Schiffbauproduktion im Bereich der Marine- duktentankern, deren Nachfrage aufgrund neuer Sicher- werften entsteht. Zu den Bemühungen um einen Marine- heitsbestimmungen deutlich gestiegen ist. werftenverbund, der eine starke Stellung in der europäi- schen Marinewerftenstruktur hat, wird mein Kollege Daneben verlangt das Konzept aber auch, wieder Fuß Johannes Kahrs noch Ausführungen machen. zu fassen beim Bau von Standardschiffen in Serienferti- gung: Nur damit können die Beschäftigungseffekte deut- Neu ist das 60-Millionen-Euro-Programm für die pro- lich erhöht werden. Potenzielle Auftraggeber sind reich- duktnahe Innovation, die den speziellen Bedürfnissen lich vorhanden. Neben den Großcontainerschiffen, die des Schiffbaus besser Rechnung trägt. Es ist auf die ge- wir Korea kaum mehr abnehmen können, müssen zahl- samte Wertschöpfungskette „Schiff“ bezogen und soll reiche Feederschiffe gebaut werden. Ein Feederschiff zugleich die Strukturverbesserungen bei den Werften un- trägt heute durchaus schon bis zu 4 000 TEU – ein loh- terstützen. nendes Geschäft, wenn wir es denn einwerben können. Diese Initiative findet unsere volle Unterstützung. Wir haben Haushaltsmittel eingestellt für die neue OECD-Exportkreditvereinbarung CIRR, die Unterstüt- (B) Aber das reicht nicht: Die Platzierung der Aufträge in zung langfristiger Bankkredite zu günstigen Festsatzzin- (D) Europa folgt deutlich dem Beihilferegime, der Nothilfe sen. Daraus resultierende Verluste dürfen mit staatlichen gegenüber dem asiatischen Dumping. Das Schiffbau-Re- Mitteln ausgeglichen werden. Die Bundesregierung hat kordjahr 2000 hat die Auslastung der Werften bis jetzt mit Nachdruck erfolgreich darauf hingewirkt, dass hem- einigermaßen gesichert. Die Fortsetzung der Beihilfen mende bürokratische Vorschriften der EU – wie die Ein- ist befristet, zunächst bis März 2004, weil man bis dahin zelnotifizierung bei FuE-Projekten – abgebaut werden. das Ergebnis der WTO-Klage erwartet hatte. Um Auf- träge tatsächlich akquirieren zu können, die den Werften Vereinbarungen über die Zulässigkeit von Landes- immerhin noch bis ins Jahr 2007 hinein Auslastung brin- bürgschaften für die Schiffbaukredite – für die Werften gen könnten, müssen die 6 Prozent Schiffbaubeihilfen unverzichtbar – sind unmittelbar vor dem Abschluss. aber auch gewährt werden. Wer den Markt beobachtet, Das sind sichtbare, schöne politische Erfolge, die unse- weiss, dass die Nachfrage gerade jetzt boomt, dass die ren Werften ganz konkret nützen und die aus diesem en- Aufträge in den kommenden Monaten platziert werden: gen Miteinander des stetigen Dialogs entwickelt wurden. Ich appelliere in aller Deutlichkeit und mit großem Darauf dürfen wir stolz sein! Dafür dürfen wir auch Nachdruck an unsere Haushaltspolitiker, den deutschen Danke sagen! Werften die notwendige Unterstützung nicht zu versagen und zu überprüfen, ob die im Haushalt vorgesehenen Wir halten nichts davon, die Anteile der Kofinanzie- Mittel ausreichen, die anstehenden Aufträge zu bedie- rung der Länder noch zu verändern. Wir alle wissen, nen. Wenn unsere Werften jetzt nicht zugreifen können, dass es sich um auslaufende Stützungsmaßnahmen han- gehen die Aufträge nach Asien oder an die europäischen delt, die mit der Streitbeilegung vor der WTO oder dem Wettbewerber! Abschluss des OECD-Abkommens, der für Ende 2005 erwartet wird, endgültig auslaufen dürften. Wenn das Wir müssen deshalb auch dafür sorgen, dass die Preisdumping ein Ende hat und Sanktionen gegen Ver- Schutzmaßnahmen gegen Preisdumping bis zum Ende stöße möglich sind, haben unsere starken deutschen des WTO-Streitbeilegungsverfahrens gegen Südkorea Werften auch wieder echte Chancen, Flaggschiffe in und beibehalten werden und auch keiner „Subventionsabbau- für Europa zu sein und zu bauen. Glück auf dabei! kommission“ zum Opfer fallen. Die Schiffbaubeihilfen sind keine Subventionen, sondern befristete Schutzmaß- nahmen und Nothilfe zum Überleben asiatischer Kampf- Wolfgang Börnsen (CDU/CSU): „Die europäischen preise. Werften sind in ihrer schwersten Krise seit 30 Jahren“, so die zusammenfassende Feststellung der EU-Kommis- Mit der Einberufung regelmäßiger nationaler mariti- sion zum jüngsten Bericht über die Lage des Schiffbaus. mer Konferenzen, dem Maritimen Bündnis und der Ein- Während der Schiffbau weltweit boomt und Jahr für Jahr 5452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) neue Rekorde bei den Auftragseingängen verzeichnet, dumpingverfahren vor der Welthandelsorganisation ge- (C) stürzt der europäische Schiffbau weiter ab – auf die gen Korea wird jedoch frühestens im Sommer 2004 Hälfte innerhalb nur einen Jahres. Nur noch 5,6 Prozent entschieden; Sanktionen greifen noch später. Bis dahin der weltweiten Neubauaufträge gingen im ersten Halb- stehen die Schiffbauer wieder im Regen. Einen „Zick- jahr 2003 nach Europa und 1,8 Prozent an die deutschen Zack-Kurs“ nennt der Sprecher der Papenburger Meyer- Schiffbauer, aber 53,9 Prozent nach Korea. Dabei wird Werft die Haltung der EU-Kommission, und ergänzt: weltweit jedes vierte Schiff von einem deutschen Auf- „Die EU schafft es einfach nicht, verlässliche Rahmen- traggeber bestellt. Noch vor sieben Jahren lagen die bedingungen zu setzen. Wir reden hier nicht über ein Schiffbauer in der EU und Korea mit jeweils 21 Prozent Haarshampoo für 1,99 Euro, sondern über eine Investi- Marktanteil gleich auf. Ursache ist die anhaltende Struk- tion von 400 Millionen Euro.“ turkrise im Schiffbau und die fehlende Planungssicher- heit bei den politischen Rahmenbedingungen, so die Gefahr droht auch auch von anderer Seite: EU-Wett- deutschen und europäischen Branchenvertreter. Selbst bewerbskommissar Mario Monti will die Landesbürg- die AWES-Länder mit Lohnvorteilen wie Polen sind schaften bei der Schiffsfinanzierung verbieten. Der bis klare Verlierer der Entwicklung. Japan – und jetzt auch vor kurzem zuständige Staatssekretär Dr. Axel Gerlach die VR China – sind die Gewinner im Jahre 2002. hat sich in beispielhafter Weise für den Erhalt der be- währten Finanzierung eingesetzt. Während seiner Amts- Auf dem Weltschiffbaumarkt geht es nicht mit fairen zeit als Koordinator für die maritime Wirtschaft hat er in Mitteln zu, gibt es keine gleichen Wettbewerbschancen kooperativer Zusammenarbeit stets versucht, die deut- für alle Schiffbauer. 20 Prozent unter den Herstellungs- schen Interessen zu wahren – doch des Kanzlers Rück- kosten verkauft Korea seine Schiffe, wie die EU-Kom- halt fehlte. Fünf Jahre lang haben die Bundesregierung mission im Mai 2003 in einer Untersuchung feststellte. wie die EU nichts, rein gar nichts gegen Koreas Dum- Bundeskanzler Schröder stellte im Mai auf der Lübecker pingpreise getan und auch bei den Bürgschaften wird nur Maritimen Konferenz fest: „Neben dem, was es ohnehin halbherzig gehandelt. Ein Seemannssprichwort lautet: an Wettbewerbsschwierigkeiten durch internationale „Wir können den Wind nicht beeinflussen, aber wir kön- Dumpingpraktiken und Quersubventionierungen gege- nen die Segel richtig setzen.“ Die Schiffbauer versuch- ben hat, kommen externe Einflüsse hinzu, die nicht un- ten stets, die Segel richtig im Wind zu halten; von der mittelbar mit diesem Wirtschaftszweig zu tun haben.“ EU-Kommission kam aber stets der Befehl zum Reffen. Doch statt Perspektiven aufzuzeigen, zählte er nur die Die Bundesregierung konnte sich auf die Takelage nicht halbherzigen Maßnahmen der Vergangenheit auf; so die festlegen und berief jedes Jahr eine maritime Konferenz sechsprozentige Abwehrbeihilfe für die Schiffbauer, de- ein. Versprochen wurde bei der ersten Konferenz eine ren Finanzierung sein klammer Hans zu zwei Dritteln Initialzündung für die maritime Wirtschaft. Außer Posi- (B) auf die ohnehin finanzschwachen Küstenländer abge- tionspapieren ist dabei nichts herausgekommen – leider! (D) schoben hat. Die Küste hätte nicht nur Worte, sondern Taten verdient. Auch zur Zukunft von HDW, der größten deutschen In Brüssel scheint es nun einen Umdenken zu geben. Werft, hat sich jetzt der Kanzler geäußert. Er befürwortet Ein hoher EU-Beamter räumte kürzlich ein: „Der Schiff- eine französische gegen eine US-Lösung bei einem mög- bau ist das ungeliebte Kind der EU“ und sprach von ei- lichen Verkauf. Aber wäre es nicht angebracht, auch auf ner „Hassliebe, die die Werften in schweres Fahrwasser eine deutsche Lösung zu setzen? Denn diese Werft ist gebracht hat.“ Jetzt will die Kommission gegensteuern nicht nur im Handelsschiffbau tätig, sondern besitzt eine und das Programm „Leader-Ship 2015“ vorlegen. Eine Schlüsselposition im Marineschiffbau. Hier erwarten wir Gruppe aus sieben EU-Kommissaren, Top-Managern der ein klares Wort aus der Regierung. Industrie und EU-Abgeordneten hat sich darin Gedanken gemacht. In der Zwischenzeit läuft die Zeit davon, so Erst letzte Woche forderten die Wirtschafts- und Ver- kritisieren die Branchenverbände in Hamburg und Brüs- kehrsminister der fünf Küstenländer in Husum, die Las- sel. Am Horizont ist bereits ein neues Problem aufge- ten gerechter zu verteilen. Auf 25 000 Schiffbauer an der taucht: Da alle Aufträge in Dollar abgerechnet werden, Küste kommen rund 70 000 Beschäftigte bei den Zulie- bleibt beim schwachen Dollar nur wenig in Euro übrig. ferern im Binnenland, vor allem in Bayern und Baden- Württemberg. Hier werden 80 Prozent der Wertschöp- Seit mehreren Jahren fordert die Union von der Bun- fung eines Schiffes produziert. Die Lasten tragen die desregierung, in WTO und bei den G-7- bzw. G-8-Gip- Küstenländer zum größten Teil allein. Schleswig-Hol- feln auf ein Welthandelsabkommen im Schiffbau zu stein und Hamburg verweigern sich jedoch, sodass es zu drängen und so lange die Werften zu schützen. Stattdes- einer zusätzlichen Wettbewerbsverzerrung innerhalb sen werden Konferenzen abgehalten, Positionspapiere Deutschlands kommt. Der Verweis des Kanzlers auf die beschrieben und um Zehntel-Prozentpunkte bei der Werftenhilfe ist deshalb für die Schiffbauer in Schles- Werftenhilfe gefeilscht. Doch Kanzler Schröder hat bei wig-Holstein und Hamburg falsch. Schleswig-Holstein keinem der Gipfeltreffen ein weltweites Antisubventions- schuf durch das jahrelange unsolidarische Verhalten ei- abkommen eingebracht. Unsere Werften sind bereit und nen Präzedenzfall. Es liefert damit den Gegnern der in der Lage, sich der Konkurrenz zu stellen, wenn es Werftenhilfe Argumente für deren generelle Abschaf- weltweit keine Wettbewerbsverzerrungen mehr gibt. fung. In diese Reihe der Versäumnisse passt die Missach- Nach dem Willen der EU-Kommission soll dies be- tung der Opposition. Heute wird auch über einen Antrag reits im März 2004 geschehen. Das eingeleitete Anti- von Rot-Grün debattiert, den außer den Regierungsfrak- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5453

(A) tionen bis gestern niemand kannte. Es ist ein unparla- Werften herbeigeführten Schwierigkeiten kritische Aus- (C) mentarisches Verhalten, Anträge ohne Beratung in den maße annehmen. Fachausschüssen im Plenum behandeln zu lassen. Eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Konkret für Deutschland bedeutet dies massive Auf- Thema ist so nicht möglich und wohl auch nicht er- tragseinbrüche und Arbeitsplatzverluste. An drei Punk- wünscht. Die heutige Debatte geht auf eine Initiative der ten lässt sich diese Entwicklung festmachen: Union vom 3. Juni zurück. Jeder Interessierte hatte die Erstens haben zahlreiche deutsche Werften in der Ver- Möglichkeit, sich mit diesem Antrag auseinander zu set- gangenheit angekündigt, Mitarbeiter entlassen zu müs- zen und konstruktive Änderungsanträge einzubringen. sen, weil neue Aufträge nicht in ausreichender Zahl he- Stattdessen betreibt Rot-Grün Aktionismus ohne ernst- reingenommen werden konnten. Um zwei Beispiele zu haften Lösungswillen. Damit schadet man den Interes- nennen: Die fusionierten Werften in Wismar und Warne- sen der Küste. münde, Aker Yards und Kvaerner, planen einen Abbau Kernstück unserer Forderungen – und deshalb unter- um circa 560 Mitarbeiter. Die größte deutsche Werft, streiche ich noch einmal unseren Antrag – ist die Schaf- HDW in Kiel, will sich von 750 Mitarbeitern trennen. fung weltweit fairer Wettbewerbsbedingungen im Han- Andere Standorte, andere Werften: Die Probleme sind delsschiffbau. Über den Weg dahin können wir hier die Gleichen, ob in Warnemünde oder in Kiel. Doch um gerne streiten. Die deutschen und europäischen Schiff- Mecklenburg-Vorpommern steht es besonders schlecht. bauer sind hoch innovativ und Technologieführer. Gegen Mecklenburg-Vorpommersche Werften haben Ärger mit Dumpingpreise aus Fernost können sie sich jedoch nicht der EU. Für die Sanierung der alten DDR-Werften flos- durchsetzen. Wir sind der Ansicht, Leistung muss sich sen EU-Subventionen. Im Gegenzug musste die Produk- lohnen. Aufgabe der Politik ist es, die dafür notwendigen tion begrenzt werden, durfte die Werftauslastung nur Rahmenbedingungen zu schaffen. Auf globalisierten 60 Prozent betragen. Heute läuft in Brüssel ein Rechts- Märkten lässt sich das nur durch einen internationalen streit wegen einer Strafe, die die EU der Warnemünder Ordnungsrahmen erreichen. Deshalb brauchen wir ein Werft wegen Kapazitätsüberschreitungen auferlegte. Welthandelsabkommen im Schiffbau im Rahmen der Bis Mitte 2004 sind die deutschen Werften noch mit Auf- OECD. Für dieses Ziel muss sich die Bundesregierung trägen aus den Jahren 2000 und 2001 beschäftigt. auf den G-7- bzw. G-8-Gipfeln einsetzen. Nur so werden Anschlussaufträge fehlen. Und damit fehlen auch die Vo- wir Fortschritte für die heimischen Schiffbauer erzielen. raussetzungen, um die überdurchschnittliche Ausbil- dungsbereitschaft und -kraft unserer Werften aufrechter- Die technologische Führung des deutschen und euro- halten zu können. Wir brauchen eine nationale päischen Schiffbaus muss auch für die Zukunft gesichert Ausbildungsoffensive und wir müssen unsere Schiffbau- (B) werden. Hierzu sind Begleitmaßnahmen in Forschung, industrie unterstützen, damit sie einen qualifizierten Bei- (D) Entwicklung und Innovation notwendig. Das EU-Pro- trag dazu leisten kann. gramm „LeaderSHIP 2015“ bietet hierfür gute Ansätze. Es ist unsere Aufgabe in Deutschland, diese Initiative Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Den schnellstmöglich durch nationale Maßnahmen zu flan- Werften geht die Arbeit aus. Und warum? In den Seg- kieren. Dann können wir auch den dramatischen Ar- menten Tanker-, Container- und Handelsschiffbau, ent- beitsplatzabbau im Schiffbau stoppen. Allein in diesem scheidend für Deutschland, konkurrieren derzeit Japan, Jahr gehen bei HDW in Kiel 750, bei der Meyer-Werft in Südkorea und China miteinander. Der Bau solcher Papenburg 800 und bei Aker in Mecklenburg-Vorpom- Schiffe erfolgt in diesen Ländern in Serienproduktion. mern 553 Werftarbeitsplätze verloren. Da der Wettbewerb fast ausschließlich über den Preis ge- führt wird, der nicht selten unter den Produktionskosten Die Werftindustrie – Flaggschiff der maritimen Wirt- liegt, werden kaum Gewinne erzielt. Da deutsche, wie schaft – gerät immer stärker in eine Schlechtwetterlage. alle EU-Werften, in diesen Marktsegmenten mit niedri- Die politischen Lotsen in Brüssel und Berlin geben seit ger Wertschöpfung nicht mehr konkurrieren können, Jahren keinen klaren Kurs vor. Wer so fahrlässig ver- geht die Produktion infolgedessen auf unseren Werften fährt, der bringt damit eine gesamte Industrie in eine zurück. Die Nachfrage auf dem Weltmarkt ist gegeben, Existenzkrise und setzt Tausende von Arbeitsplätze aufs in der mittelfristigen Entwicklung ist von einem deutli- Spiel. Wir, die Union, mahnen Handeln an, um eine Per- chen Wachstum auszugehen. An Bedeutung werden auf- spektive für den Schiffbau zu geben. wendige Fähr- und Passagierschiffe gewinnen, bei denen die deutschen Werften in der Vergangenheit systemtech- nisches Know-how und ihre partnerschaftlich ausgerich- Werner Kuhn (Zingst) CDU/CSU): Der 7. Schiff- tete Zusammenarbeit mit den leistungsfähigen deutschen baubericht der Europäischen Kommission nennt als Zulieferbetrieben erfolgreich zur Geltung bringen konn- Gründe für die Schwierigkeiten auf dem Schiffbauwelt- ten. markt ein Überangebot in der Vergangenheit, eine welt- weit rückläufige Konjunktur, die Nachwirkungen des Zu den weiteren Schiffsneubauten werden Doppelhül- 11. September 2001 und die politische Instabilität im lentanker gehören, die höchste Sicherheits- und Umwelt- Nahen Osten. Dies sind erschwerte Bedingungen, aber schutzanforderungen verlangen. Die von der EU geneh- sie sind für alle Schiffbaunationen gleich. Was uns viel migten Abwehrbeihilfen in Höhe von 6 Prozent stellen mehr Kopfzerbrechen bereitet und von der Kommission einen wichtigen Schritt dar, sie reichen aber bei weitem abermals bestätigt wurde, ist die Tatsache, dass die vom nicht aus, um das zusätzliche Preisdumping südostasiati- fernöstlichen Verdrängungswettbewerb für die EU- scher Werften auf Dauer zu bestehen. Wir brauchen faire 5454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003

(A) Wettbewerbsbedingungen für die Werften weltweit und den Werften unmittelbar Arbeitsplätze bedroht. Insofern (C) dürfen eine solche zwangsverordnete Fehlentwicklung ist eine Unterstützung der Politik geboten. nicht hinnehmen. Dazu muss sich auch die Bundesregie- Aufgrund der Haushaltslage muss man aber auch be- rung bekennen. Und dazu gehört auch, durch europäi- sondere Sorgfalt bei allen Subventionstatbeständen wal- sche Abwehrmaßnahmen gemeinsam gegen unfairen ten lassen. Deshalb muss auch gesagt werden, dass die Wettbewerb vorzugehen, solange dieser anhält. Da es deutsche Schiffbauindustrie auch unter fairen Wettbe- nach Aussage der Bundesregierung spätestens Ende werbsbedingungen aufgrund ihrer Strukturdefizite gerin- März 2004 keine Abwehrbeihilfen mehr geben wird, gere Marktchancen hätte. Die bestehenden Kosten- und wäre mein Vorschlag, eine Aufbauhilfe von 6 Prozent Produktivitätsdefizite gegenüber der fernöstlichen Kon- auszuhandeln, die investiert in intensivere, flexiblere kurrenz können nur von den Unternehmen selbst besei- und zeitnahe Förderung von Forschung, Entwicklung tigt werden. Die für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit und Innovation, es unseren Werften ermöglicht, sich im notwendigen Strukturverbesserungen können jedoch im Segment kleiner Spezialschiffe, wo Spitzentechnologie Interesse der Sicherung und Schaffung von wettbe- gefragt ist, marktführend behaupten zu können. werbsfähigen Arbeitsplätzen durch entsprechende Rah- Zweitens leidet die deutsche Zulieferindustrie unter menbedingungen begleitet werden. der sinkenden Inlands- und Auslandsnachfrage. Der Zur Unterstützung der Werften wurden bereits ver- Umsatz der etwa 400 Zulieferunternehmen mit rund schiedene Initiativen eingeleitet. So zielt das vom euro- 70 000 Mitarbeitern betrug 2002 Milliarden Euro, die päischen Schiffbauverband CESA initiierte Projekt Gesamtexportquote 60 Prozent. Deutsche Werften waren „LeaderSHIP 2015“ auf die Stärkung der europäischen mit Abstand der wichtigste Abnehmer. Die südostasiati- Werften im Bereich komplexer Handelsschiffe und auch schen Länder greifen zunehmend auf ihre eigenen Pro- Standardschiffe ab. Dieses Nebeneinander für zwei un- dukte zurück, die billiger sind, aber kaum den deutschen terschiedliche Bereiche des Schiffbaus ist für die deut- Qualitätsstandards entsprechen. sche Schiffbauindustrie typisch. Im Passagier- und Spe- Und drittens fehlen auch für den Marineschiffbau die zialschiffbau erfolgreiche, zumeist kleine oder Aufträge. mittelständische Werften arbeiten neben großen, Contai- nerschiffe bauenden Werften, die auf einem sehr schwie- Die seit Jahren chronisch unterfinanzierte Marine rigen Markt agieren. kann doch ihre vielen Aufträge schon lange nur noch un- Um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Schiffbauin- ter großen Mühen erfüllen. Es müssen die Voraussetzun- dustrie aufrechtzuerhalten, fördern wir Forschung und gen dafür geschaffen werden, eine wehrtechnische In- Entwicklung sowie die Einführung anwendungsorien- dustrie zu entwickeln, die vom Wettbewerb und nicht (B) tierter Innovationen. Erstmalig im Haushaltsjahr 2004 (D) von Staatswerften wie in Frankreich, Italien oder Spa- soll für die Förderung der Schiffswerften mit einem In- nien bestimmt wird. novationsbeihilfeprogramm mit einem Gesamtvolumen Für die deutsche Schiffbauindustrie wird sich die von 60 Millionen Euro für die Jahre 2004 bis 2007 be- schwierige Nachfragesituation unter fairen Wettbe- gonnen werden. Dabei sind auch umweltfreundliche An- werbsbedingungen ausgleichen. Denn unsere Werften triebstechnologien wie Biotreibstoffe und Windantriebe können auf ihre Stärken der Technologieführerschaft, zu erforschen. Bei diesem Programm wollen wir innova- der Termintreue und Flexibilität vertrauen. tive Schiffsentwicklungen bis hin zu Prototypen fördern. Bei entsprechendem Erfolg sollen beispielsweise Darle- Jetzt muß gehandelt werden, da sonst die deutschen hen für Innovationen an den Bund zurückgezahlt wer- Werften akut gefährdet sind. Womit auch unsere, von den. Bundeskanzler Schröder zur Chefsache erklärte mari- time Wirtschaft insgesamt eine Schlagseite bekäme, da Wir wollen keine strukturkonservierenden Subventio- der Schiffbau zum Kernbereich unserer maritimen Wirt- nen. Deshalb setzen wir auf die Förderung von Innovati- schaft zählt. onen, denn die ist auch unter ökonomischen Gesichts- punkten sinnvoll und vertretbar. Zugleich soll die Die bisher durchgeführten nationalen maritimen Kon- Gewährung von Mitteln zur Förderung von Innovation ferenzen, die ganz wesentlich dem Schiffbau dienen an die Erfüllung von Bedingungen geknüpft werden, die sollten, haben zu keinem Ergebnis geführt. Konferenzen geeignet sind, zur strukturellen Verbesserung der deut- sind zwar vernünftig, ersetzen aber kein politisches Han- schen Schiffbauindustrie beizutragen. Als Beispiel sei deln. die Gemeinschaftsentwicklung oder Mehrfachnutzung der Innovationen durch verschiedene Schiffbauunterneh- men genannt. Die europarechtliche Grundlage für dieses Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich Förderinstrument wird derzeit noch verhandelt, die Be- kenne die schwierige Situation, in der sich die deutsche willigungsrichlinie liegt noch nicht vor. Es besteht je- Schiffbauindustrie derzeit befindet. Die Auftragslage in doch Konsens, dass dieses Instrument auch in Zukunft Deutschland gestaltet sich schwierig. Auf dem durch ko- zulässig sein soll. reanische Dumpingpreise gestörten Schiffbauweltmarkt kann der deutsche Handelsschiffbau gegenwärtig nur Sie sehen, dass wir sehr wohl die Probleme der schwer neue Aufträge akquirieren; der Vorwurf des Schiffbauindustrie erkennen. Unsere Maßnahmen kön- Lohndumpings von Südkorea wird derzeit vor der WTO nen aber nur unterstützend und begleitend sein, denn die verhandelt. Durch die Probleme am Weltmarkt sind bei Strukturreformen müssen von den Unternehmen selbst Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2003 5455

(A) angegangen werden. Dafür wollen wir die richtigen zu- Partikuliere in der Lage sind, ohne eine Änderung des (C) kunftsweisenden Rahmenbedingungen gerne schaffen. § 6 b aus dieser Misere herauszukommen. Das von Staatssekretär Nagel propagierte „Bündnis für die Bin- nenschiffahrt“ bleibt solange eine hohle Phrase, wie Sie Hans-Michael Goldmann (FDP): Es ist positiv, dass wir uns wieder einmal mit maritimen Fragen befassen. nicht Ihre Finanzpolitiker überzeugen, einer Änderung Doch wieder einmal ist der Anlass eher negativ, und des § 6 b zuzustimmen. Die Binnenschiffer weisen zu zwar in zweifacher Hinsicht.: Wie alle Beteiligten wis- Recht darauf hin, dass wegen der investiven Effekte eine sen, ist die Wettbewerbssituation im Schiffbau nach wie Änderung des § 6 b den Steuerzahler gar nichts kosten vor geprägt von einem ruinösen Wettbewerb, ausgelöst würde. Der FDP-Antrag hierzu ist bereits im Verfahren. durch das viel beklagte Dumping der Koreaner. Eher Wenn Ihre Fraktionen sich einen Ruck geben könnten, traurig sind außerdem die Anträge die Sie, liebe Kolle- erreichten wir eben nicht nur viel für die Binnenschiff- ginnen und Kollegen von der CDU/CSU und von der fahrt, sondern auch für den Schiffbau. Bei einem Durch- Koalition, vorgelegt haben. Diese Anträge belegen ein- schnittsalter von 30 Jahren bei Tankschiffen und 50 Jah- drucksvoll, wie man mit vielen Worten die wenigen ren bei anderen Schiffen kann sich jeder selbst Möglichkeiten, die wir auf nationaler Ebene haben, dem ausrechnen, welchen enormen Nachholbedarf es in die- deutschen Schiffbau im internationalen Wettbewerb sem Bereich gibt. wirklich zu helfen, erfolgreich umschiffen kann. Wir sollten bei der Fachberatung einen interfraktionellen An- Im Moment erhalten europäische Werften gerade wie- trag gestalten, der möglichst hohe Substanz hat. Die Un- der einige Aufträge. Doch der Grund dafür ist leider terschiede scheinen mir überbrückbar zu sein. nicht positiv: Die koreanischen Werften sind so voll, dass sie Aufträge abweisen mussten. Wir sollten aber Unbestritten haben die Nationalen Maritimen Konfe- nicht den Fehler machen, nur auf Korea zu schauen. In renzen, insbesondere die letzte in Lübeck, Erfolge aufzu- China wächst ein weiterer mächtiger Konkurrent heran. weisen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, es Die Bundesregierung muss künftig stärker in Brüssel ist doch sinnvoll, das zu loben, was die Regierung rich- vorstellig werden, damit die EU-Kommission ihren Ein- tig macht, gerade da so etwas nicht so häufig vorkommt. satz in der WTO für einen fairen Wettbewerb im Schiff- Richtig ist aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen bau erhöht. Vor allem darf es nicht wieder zu einseitigen von Rot-Grün, dass die Konferenzen im Hinblick auf Vorleistungen kommen. Die Koreaner haben eindeutig den Schiffbau nicht für einen Durchbruch gesorgt haben. unter Beweis gestellt, dass sie mit Vorleistungen nicht zu Und da wären wir wieder bei unserem Ausgangspro- beeindrucken sind. Deshalb ist auch gerade die einzige blem: Wie können wir auf nationaler Ebene wirklich et- wirklich konkrete und nützliche Forderung im Antrag (B) was für den Schiffbau erreichen? der Koalition so wichtig: Das WTO-Verfahren gegen (D) Südkorea wird voraussichtlich nicht vor dem Sommer Da, wo dies möglich wäre, bleibt man auffällig allge- nächsten Jahres abgeschlossen sein; die befristeten Wett- mein oder klammert dies ganz einfach aus: Alle Fach- bewerbsbeihilfen laufen aber zum 31. März 2004 aus. leute wissen doch, dass die Binnenländer zu mehr als Hier ist die Bundesregierung dringend gefordert, sich zwei Dritteln von der Wertschöpfungskette im Schiffbau rechtzeitig in Brüssel für eine ausreichende Verlänge- profitieren, die Küste nicht einmal zu einem Drittel. Des- halb müssen wir dringend überprüfen, ob eine Verteilung rung einzusetzen. der auftragsbezogenen Schiffbauhilfen – ein Drittel Einige unserer europäischen Nachbarn handhaben die Bund, zwei Drittel Länder – noch hilfreich und sinnvoll Krise im Schiffbau um einiges klüger als wir Deutschen. ist. Das Problem wird ja auch noch dadurch vergrößert, So ist es schon erstaunlich, welch großes Auftragsvolu- dass das rot-grüne Schleswig-Holstein gar nicht in der men im Bereich des französischen und italienischen Lage ist, seinen Kofinanzierungsteil aufzubringen. Auch Kriegsschiffbaus geplant ist. Da könnten wir uns einiges den anderen Küstenländern fällt es immer schwerer, die abschauen – zumal der Einsatz am Horn von Afrika ge- hierfür benötigten Geldmittel aufzubringen. zeigt hat, wie dringend die Bundesmarine neues techni- Ein weiterer wichtiger Punkt, zu dem Sie sich leider sches Gerät benötigt. Doch anstatt wenigstens das Inves- ausschweigen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der titionsniveau zu halten, soll es nach 2004 drastisch Union und der Koalition, ist eine Ankurbelung des Neu- zurückgefahren werden. Deswegen ist der Hinweis im baus von Binnenschiffen. Lange warteten wir auf die Antrag von Rot-Grün auf einen besseren Marinewerft- Vorlage des von der Bundesregierung in Auftrag gegebe- verbund auch ein Stück Augenwischerei. Wir brauchen nen Gutachtens zu den Chancen der deutschen Binnen- vor allem stabile und sicherheitspolitisch sinnvolle Auf- schifffahrt. Die zentrale Forderung, eine Änderung des träge für die deutschen Marinewerften. Eine Reduzie- § 6 b Einkommensteuergesetz, ist bislang auf Ungnade rung der Investitionen in diesem Bereich um mehr als im Finanzministerium und bei den Finanzpolitikern von ein Drittel, wie ihn die Bundesregierung ab 2005 vor- CDU/CSU und SPD gestoßen. Dabei wissen wir Fach- sieht, ist eine Katastrophe für den maritimen Standort politiker doch alle parteiübergreifend, wie veraltet die Deutschland und wird zum Verlust von Spitzentechnolo- deutsche Binnenschifffahrtsflotte ist und wie wenig die gie führen.

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44 ISSN 0722-7980