12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL

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40 Jahre Grüne Der Widerspenstigen Zähmung

Vom Revoluzzer-Image ist 40 Jahre nach Gründung der Grünen nichts geblieben. Was macht der Erfolg mit der Partei?

Von Ralf Neukirch und Julia Amalia Heyer 10.01.2020, 18∶34 Uhr

Annalena Baerbock und mit Hamburgs Zweiter Bürgermeisterin (M.) Christian Charisius/ dpa

Da sitzen sie, die beiden Grünenchefs, im schnöden Tagungsraum eines Hamburger Hotels. In ihrer Mitte die Spitzenkandidatin für die Bürgerschaftswahl, Katharina Fegebank. Es ist der vergangene Dienstag, das Jahr ist noch jung, der Vorsatz dagegen, den Robert Habeck formuliert, ist älter.

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-00… 1/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL "Inhaltlich, personell und strukturell" wollen die Grünen "in die Mitte der Gesellschaft ausgreifen", sagt er. In der Person von Fegebank sitzt dieser Anspruch quasi neben ihm.

Fegebank ist Spitzenkandidatin für die Hamburger Bürgerschaftswahl. Ihr könnte am . Februar gelingen, was noch keiner Frau und keinem Grünen je gelang: einen Stadtstaat zu regieren – und damit eine letzte Bastion der Sozialdemokraten zu schleifen. Die Grünen liegen in den Umfragen gleichauf mit der SPD von .

Allein die Tatsache, dass die Regierungsübernahme möglich ist, zeigt, wie weit sich die Grünen von ihren Anfängen entfernt haben. Vor Jahren schlossen sich Wählerinitiativen, Bürgerbewegungen und andere Wahlvereinigungen zur Partei die Grünen zusammen. Sie nannten sich eine "Anti-Parteien-Partei" und waren vor allem eines: dagegen.

"Zwei Jahre geb ich denen", dröhnte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, als die Grünen erstmals ins Bonner Parlament kamen. "Dann gehen die Mann für Mann zur SPD über."

Es war eine historische Fehleinschätzung, die Geschichte verlief genau umgekehrt. Zu Beginn des Jahres sitzen die Grünen in Landesparlamenten und sind an Landesregierungen beteiligt. Sie regieren in Koalitionen mit Linken, Sozialdemokraten, Liberalen und Christdemokraten. Sie stellen die Oberbürgermeister in Großstädten wie , Hannover und Darmstadt. In Baden-Württemberg führt die erste grün-schwarze Koalition der Republik auf Landesebene.

Albert Ostertag/ picture alliance/dpa

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Fotostrecke 40 Jahre Grüne: Geschichte in Bildern

Es spricht viel dafür, dass die Grünen an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein werden. Während die etablierten Parteien sich in Machtkonflikten aufreiben, zelebrieren die Grünen ihre Einigkeit. Sie sind auf dem besten Weg, der CDU den Rang als Staatspartei abzulaufen.

Wie entstand aus einer Gruppe versprengter Protestbewegungen eine der erfolgreichsten Parteineugründungen der bundesdeutschen Geschichte? Was macht dieser Erfolg mit einer Partei? Wie viel bleibt von ihrer Gründungsidee übrig?

1980: Eben doch eine Partei

"Nachdem die hier Versammelten eine Satzung ...", der vollbärtige Hemdsärmelige stockt, dreht abrupt den Kopf weg vom Mikrofon, blickt auf den Zettel vor sich und schreit: "Was ist denn das hier für'n Text?" Auch sein Nebensitzer beugt sich jetzt über das Blatt.

Die Lage am Morgen – Ihr Morning-Briefing Jeden Morgen ordnen die politischen Autoren des SPIEGEL die Themen des Tages für Sie ein – kompakt, analytisch, meinungsstark. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-00… 3/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL

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"Eine Satzung verabschiedet haben oder was?", fragt ihn der Bärtige gereizt.

"Ja", sagt die Frau zu seiner Linken.

"Gewaltfrei und pazifistisch sind nicht dasselbe." ANDREAS CHUDOWSKI / DER SPIEGEL

. Januar , ein Schnipsel Bewegtbild vom Gründungsparteitag der Grünen, verewigt auf YouTube. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-00… 4/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL "Nachdem die hier Versammelten eine Satzung verabschiedet haben, beschließen sie, die SPV Die Grünen in die gleichnamige Bundespartei überzuleiten."

Aus der "Sonstigen Politischen Vereinigung" wurde eine Partei. Delegierte in der überfüllten Karlsruher Stadthalle jubelten. Karlsruhe, so der Kalauer, damit "Karl Marx Ruhe gibt".

In Karlsruhe kam zusammen, was bis dato nicht zusammengehörte: wertkonservative Biobauern, Öko- Hippies, Anti-AKW-Verfechter, Feministinnen, K-Gruppen mit viriler Schlagseite. Es waren die Bewegungen der Sechziger- und Siebzigerjahre, die Kleinparteien und Debattenzirkel, aus denen sich diese neue Bundespartei formte.

Gemeinsam war den Gründern allenfalls die Einigung auf vier Grundwerte, die bis heute gelten: ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei. Während die Untrennbarkeit des Ökologischen mit dem Sozialen heute wohl öfter bemüht wird denn je, haben die Prinzipien Basisdemokratie und Gewaltfreiheit über die Jahre gelitten. Aber, wie die grüne Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth mit erhobenem Zeigefinger sagt: "Gewaltfrei und pazifistisch sind nicht dasselbe." Semantische Tricks, die Grünen mögen so was.

Innenpolitik - Endlich erwachsen Innenpolitik - Endlich erwachsen

Kann eine Partei, die voraussichtlich der nächsten Bundesregierung angehört, basisdemokratisch funktionieren? https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-00… 5/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL Nö, findet Cem Özdemir, früher selbst Parteivorsitzender. "Unsere Satzung ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss."

Nö, findet auch der Bundesvorstand um Baerbock und Habeck und versucht seit Langem vergebens, die Satzung zu ändern.

Die Partei hat mittlerweile Mitglieder, aber wie zu Gründungszeiten reichen Unterschriften, um einen Parteitagsantrag zu stellen.

In der Anfangszeit war es eine gewisse Jutta Ditfurth, die viel zu sagen hatte. Die Tochter eines bekannten Fernsehmoderators der BRD stand und steht für eine Fundamentalopposition, wie sie bei den Grünen die allerersten Jahre auszeichnete. Ditfurth verließ die Partei, wie Tausende andere, als die sogenannten Realos nach und nach die Oberhand gewannen.

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-00… 6/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL

"Es war ein schwieriges Regieren." Katrin Göring-Eckardt ANDREAS CHUDOWSKI / DER SPIEGEL

"Beliebigkeit ist fast zu beliebig", sagt Ditfurth am Telefon, und man hört, dass der Kardinalvorwurf an die Grünen ihr zu sanft, zu freundlich daherkommt. An der Partei, die sie mitbegründet hat und die heute so erfolgreich ist, lässt Ditfurth kein gutes Haar.

Niemals Kriege, keine Atomenergie, Selbstbestimmung der Frau, weg mit dem Paragrafen ; das sei der Konsens gewesen bei den Grünen in den Achtzigerjahren, sagt Ditfurth. "Unsere Aufgabe war es, das alles in die bürgerliche Gesellschaft zu tragen. Und wir hatten damit riesigen Erfolg." Heute seien die Grünen "eine durch und durch bürgerliche Partei, mit all ihren Ambivalenzen, manchmal schimmert aus PR-Gründen noch was Alternatives durch, aber man orientiert sich an konservativen und manchmal an rechtskonservativen Kreisen". Für Ditfurth ist der Bruch der Grünen mit der Gründungsgeschichte unverzeihlich.

zogen die Grünen erstmals ins Bonner Parlament ein, mit Mandaten. Die Grünenikone sagte in feinstem Hausbesetzerjargon: "Jetzt wird der instandbesetzt."

In Bonn saßen nun der ehemalige CSU-Mann und Bundeswehrgeneral aus Bayern neben dem Hamburger Jürgen Reents, früher beim Kommunistischen Bund aktiv. Der Textilingenieur Eberhard Bueb kam über die FDP zu den Grünen, der Schweißer Willi Hoss war früher Mitglied der DKP.

Zwischenrufe, die den Neulingen galten, klangen so:

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"Haben Sie jemals gearbeitet?"

"Sie sehen auch so aus, als wenn Sie immer im Wald gelebt hätten!"

Die Fraktionssitzungen wurden öffentlich gehalten, und der Sound damals, er war ein anderer.

"Wir sind nicht die Partei der Mitte", rief Petra Kelly. "Wir sollten uns die Mitte nicht nehmen lassen", entgegnete .

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"Die Satzung ist nicht der Weisheit letzter Schluss." Cem Özdemir ANDREAS CHUDOWSKI / DER SPIEGEL

1985: Erstmals Rot-Grün

Es war ein Tabubruch, nicht nur in modischer Hinsicht. Am . Dezember stand ein Mann in Jeans und weißen Turnschuhen im hessischen Landtag, um als erster grüner Minister den Amtseid abzulegen. Der damalige Ministerpräsident Holger Börner sagte später: "Damals war ich schockiert. Wahrscheinlich brauchte Herr Fischer den Auftritt zur Imagepflege wie Indianer die Kriegsbemalung."

Die rot-grüne Koalition in Hessen war ein Meilenstein in der Geschichte der Partei. "Hessen war der erste Schritt auf einem langen Weg. Danach gab es kein Zurück mehr in die Fundamentalopposition", sagt , der Mann mit den Turnschuhen.

Dabei war es noch nicht lange her, dass Fischer sich mit Polizisten geprügelt hatte und von der Revolution träumte. Fischers Rabaukenimage, so erinnert sich sein Weggefährte Hubert Kleinert, habe die Ressentiments gegen die Koalition mit der SPD gemindert. Wenn schon mühsame Regierungsarbeit, "dann wenigstens mit Kämpferpose und alternativen Stilelementen", schreibt Kleinert. Deshalb die Turnschuhe.

DER SPIEGEL 3/2020

Auge um Auge

Warum nach der Exekution des Terror- Generals ein schmutziger Schattenkrieg droht

Zur Ausgabe

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-00… 9/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL

Wer sieht, mit welchem Eifer die Grünen heute in die Regierungen drängen, kann sich nur schwer vorstellen, wie ängstlich sie sich Mitte der Achtzigerjahre der Macht näherten. Jutta Ditfurth, damals Vorstandssprecherin, weigerte sich, das staatliche Gewaltmonopol anzuerkennen: Das Verhältnis der Grünen zum Staat könne nicht "volle Identifizierung" sein.

Dass ein Grüner ein Ministeramt übernahm, war aus dieser Sicht eine Kapitulation vor dem System – ein kalter Putsch der "Fischer-Gang", wie der Realo-Flügel abschätzig genannt wurde. Fischer wiederum klagte, die Fundis der Partei würden ihn "lauwarm anpinkeln". Er verlangte die Wahl eines neuen Vorstands. Die amtierenden Vorstandssprecher Ditfurth, Rainer Trampert und Lukas Beckmann wurden daraufhin mit großer Mehrheit im Amt bestätigt. So waren sie, die Grünen.

Kleidungstechnisch war die Koalition in Hessen stilbildend, politisch war sie kein Erfolg. Die Grünen wollten die Genehmigung für den Nuklearbetrieb Alkem verhindern. Die SPD hielt daran fest. Nach nicht einmal Monaten war die Regierung am Ende.

Wie umfassend die Grünen Jahrzehnte später in der Mitte der Gesellschaft ankommen würden, hätte sich selbst die Fischer- Gang nicht erträumt. "Ich ging ja davon aus, dass die Richtungsentscheidung in dem Moment, wo wir wieder in der Opposition sind, rückgängig gemacht wird. Erstaunlicherweise ist das nicht geschehen", sagt Fischer.

Nicht nur er selbst machte Karriere. Zu seinen Leuten gehörte auch der Grundsatzreferent im Umweltministerium, ein gewisser Winfried Kretschmann.

1990: Gesamtdeutsche Partei

Die Geschichte der Grünen lässt sich nicht schreiben ohne das protestantische Pfarrhaus. Es ist deshalb nur angemessen, dass https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-0… 10/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL in einem liebevoll renovierten Pfarrhaus in der Uckermark empfängt. Es passt zu einem Abschnitt der Grünengeschichte, in dem die Partei unverhofft eine neue Richtung nahm.

Schulz war Mitglied der DDR-Opposition, die sich zu wichtigen Teilen aus Kreisen der evangelischen Kirche gespeist hat. Westdeutsche Grüne wie Fischer hatten von der Revolution schwadroniert, die ostdeutschen Bürgerrechtler hatten sie umgesetzt. Das hinderte Leute wie Fischer nicht daran, auf die Kollegen aus dem Osten herabzublicken. "Er hat damals den Spruch gemacht: 'Wenn wir eine Revolution gemacht hätten, dann hätten wir keine runden Tische gemacht, dann hätten wir reinen Tisch gemacht'", sagt Schulz. Aus Fischers Sicht war klar, wer Koch war und wer Kellner.

Langjährige Grünenpolitiker Werner Schulz und : "Wir waren nicht in Fundamentalopposition"

Dass es dann anders kam, ist einem der hübschen Zufälle der Geschichte zu verdanken: Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einigten sich die Parteien darauf, dass es bei der ersten gesamtdeutschen Wahl eine Fünfprozenthürde für die neuen und eine für die alten Bundesländer geben solle. Die westdeutschen Grünen flogen mit , Prozent aus dem Bundestag. Die ostdeutsche Listenvereinigung konnte dagegen acht Abgeordnete ins Parlament entsenden.

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-0… 11/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL Die Neulinge, die in den Bonner Plenarsaal einzogen, unterschieden sich habituell und politisch von der Fischer- Gang: "Wir waren eine bürgerliche Opposition, die gegen einen vermeintlich linken Staat opponiert hat", sagt Schulz, der Parlamentarischer Geschäftsführer war. "Die westdeutschen Grünen verstanden sich als linke Opposition gegen einen bürgerlichen Staat."

Zudem waren die ostdeutschen Grünen näher an der politischen Wirklichkeit: Joschka Fischer hatte noch drei Monate vor dem Mauerfall gefordert, das Wiedervereinigungsgebot aus dem Grundgesetz zu streichen. "Die ostdeutschen Abgeordneten hatten eine Lebenserfahrung, von der wir als grüne Partei bis heute profitieren", sagt Parteigründer Lukas Beckmann.

Den acht Abgeordneten fehlte das linke Selbstverständnis der Parteifreunde aus dem Westen. Sie hatten nicht gegen den Vietnamkrieg demonstriert, sondern gegen einen Vasallenstaat der Sowjetunion. Sie waren für die Nato und hatten ein positives Verhältnis zum Westen. Auch innenpolitisch sahen sie viele Dinge anders. "Wir waren an der CDU näher dran, weil

einige DDR-Oppositionelle wie dort eingetreten sind", sagt Schulz. "Wir hatten sachliche Differenzen mit der Union, aber wir waren nicht in Fundamentalopposition zu denen."

Die Grundlage dafür, dass schwarz-grüne Bündnisse heute in der Partei denkbar sind, wurde von den Ostdeutschen gelegt.

1998: Bundesregierung

Sie trugen dunkle Dreiteiler: Joschka Fischer, der frühere Straßenkämpfer, und Jürgen Trittin, der einst Mao verehrte. Seriöser als die beiden Grünenminister wirkte keiner der Minister, die sich an diesem . Oktober zusammen mit Bundespräsident Roman Herzog vor der Villa

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-0… 12/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL Hammerschmidt in Bonn zum Gruppenfoto der ersten rot- grünen Bundesregierung aufgebaut hatten.

Es war der Moment, in dem die Grünen endgültig erwachsen geworden sind. Elf Jahre zuvor war der damalige Fraktionschef Thomas Ebermann auf dem Weg ans Rednerpult noch von Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger angeherrscht worden: "Machen Sie das Hemd zu." Die Zeit, als antibürgerliche Umgangsformen als Ausweis rebellischen Gedankenguts galten, waren endgültig vorbei.

Stattdessen wurde die Partei nun mit Problemen konfrontiert, die sie fast zerrissen. Sie musste den Kosovoeinsatz der Nato mittragen, den ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg. Für Joschka Fischer, den Außenminister, war es besonders schwierig. Auf dem Bielefelder Parteitag am . Mai erwischte ihn ein roter Farbbeutel.

Es war keineswegs ausgemacht, dass Fischer sich durchsetzen würde. "Wenn der Bundesvorstand für seinen Antrag keine Mehrheit bekommen hätte, wäre es das gewesen", sagt Fischer. "Ich wäre aufgestanden und hätte gesagt, ich trete zurück."

Langjährige Grünenpolitiker Lukas Beckmann und Renate Künast: Die prägende Generation

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-0… 13/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL Die Außenpolitik blieb für die Partei das schwierigste Kapitel. Im November stimmte der Bundestag über die Beteiligung am Nato-Einsatz in Afghanistan ab. Gerhard Schröder verband das Votum mit der Vertrauensfrage. Acht Abgeordnete der Grünen wollten gegen den Einsatz stimmen, damit hätte Schröder keine Mehrheit gehabt. Die Grünen lösten die Situation pragmatisch und ideologisch flexibel: Vier Parlamentarier mussten für den Einsatz stimmen, die vier anderen durften ihrem Gewissen folgen.

Militäreinsätze blieben nicht die einzige Zumutung für die Partei. "Es war ein schwieriges Regieren", sagt die heutige Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. "Ich habe einige Nächte mit Otto Schily durchgemacht. Das war nicht lustig, erst recht nicht nach dem . September. Schily war ein innenpolitischer Hardliner."

In der Partei mit ihrem feministischen Selbstverständnis gaben zwei Männer den Ton an. Fischer war dafür zuständig, die Seriosität der Grünen zu beweisen, Trittin sollte ihre Kernanliegen durchsetzen, vor allem den Atomausstieg. Beides gelang und noch einiges darüber hinaus. Die Koalition reformierte das Staatsbürgerschaftsrecht, es gab erstmals eingetragene Partnerschaften für Schwule und Lesben.

"Ein entscheidender Schritt war, als wir mit den , Prozent, die wir damals hatten, gesagt haben: Unsere Reformprojekte müssen für das ganze Land passen, nicht nur für unsere Wähler", sagt Göring-Eckardt. "Es gab damals mehrfach Ansprachen von Joschka und anderen vor der Fraktion: Leute, wir sind nicht mehr nur für unsere Klientel verantwortlich, sondern für das ganze Land." Den Satz könnte Robert Habeck heute im Schlaf herunterbeten.

Die Biegsamkeit hatte ihren Preis: "Wir haben, vor allem wegen des Kosovo, von bis Landtagswahlen verloren", erinnert sich Trittin. "Wir haben uns bei der Europawahl fast halbiert."

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-0… 14/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL Erstaunlich war nicht der Verlust, sondern dass die Grünen anders als die Sozialdemokraten ihre Anhänger wieder zurückgewinnen konnten. "Anders als die SPD haben wir nicht den Fehler gemacht, in Panik zu geraten", sagt Trittin. "Wir sind ruhig geblieben und haben uns zurückgekämpft."

Die Anti-Parteien-Partei wurde endgültig zu einer Partei, für die nach den Worten Trittins galt: "Wir können es nicht anderen überlassen, unsere Inhalte durchzusetzen." An dieser Haltung rütteln die Grünen seither nicht mehr.

2008: Neue Farbenlehre

Am Ende des Gesprächs sagt Anja Hajduk, sie hätte nicht gedacht, dass ihr zu diesem Thema noch so viel einfalle. Hajduk sitzt in ihrem Büro im zweiten Stock des Jakob-Kaiser- Hauses und hat bereits eine Stunde lang über das gesprochen, was damals als Zeitenwende verzeichnet wurde – die erste schwarz-grüne Koalition in .

Ihr Fazit dieser knapp zweieinhalb Jahre: Fehler sind in dieser Zeit einige passiert, aber an der Konstellation lag es nicht.

Es waren damals in Hamburg österreichische Verhältnisse, wenn man so möchte. Denn bevor der Erste Bürgermeister und Christdemokrat, , mit den Grünen regierte, paktierte er mit Ronald Schill, dem Rechtspopulisten, den er zum Innensenator machte.

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-0… 15/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL

Chronik der Grünen Januar 1980 Mai 1993

Gründungsparteitag der Bundespartei Die Fusion der gesamtdeutsc Grünen. Die »Anti-Parteien-Partei« will sich dem ostdeutschen Bünd vielfältig von den Etablierten abgrenzen.

ab 1983 Oktober 1998

Flügelkämpfe zwischen sogenannten Rot-grüne Koalition unte Realos (Realpolitikern) und Fundis Gerhard Schröder, Joschk (Fundamentalisten) Außenminister. Rot-Grün 2005 u.a. den Atomauss Erneuerbare-Energien-Ge März 1983 neues Staatsbürgerschaf Einzug in den Bundestag Mai 1999 Dezember 1985 Eine grüne Bundesversam Joschka Fischer ist erster grüner Kampfeinsatz der Nato im Minister auf Landesebene: Kriegsgegner attackieren Zur Vereidigung als hessischer mit einem Farbbeutelwu Umweltminister trägt er weiße Turnschuhe. April 2008 HEINZ WIESELER/PICTURE-ALLIANCE/DPA Erste schwarz-grüne Koa auf Landesebene (in Ham Oktober 1990

Listenverbindung der ostdeutschen Grünen Mai 2011 mit dem Bündnis 90, einer Sammlung von Bürgerrechts- und Freiheitsbewegungen Erster grüner Ministerprä Kretschmann (Baden-Wü

Okt./Nov. 2017

Dezember 1990 Sondierungen für eine Ja aus CDU/CSU, Grünen un Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl Bundestagswahl vom 24 scheitern die West-Grünen an der Gespräche scheitern am Fünfprozenthürde. Der ostdeutschen Liste Liberalen. Bündnis 90/Grüne gelingt der Einzug.

ab Januar 2018 Mai 1991 Neues Führungsduo Ann Parteiaustritt der »Radikalökologin« Jutta und Robert Habeck Umf In die Bundestagswahl führte die Grünen damals ein ungleiches Doppel, Jürgen Trittin und Renate Künast.

Für Trittin war Schwarz-Grün in Hamburg eher Notnagel als strategische Option. Für Künast hingegen hatte ein solches https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-0… 16/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL Bündnis durchaus "Strahlkraft weit über Hamburg hinaus".

"Wir hätten das alles etwas langsamer angehen sollen, dann hätten wir nicht am Volksentscheid für die Schulreform scheitern müssen", sagt Hajduk heute. Damals in Hamburg war sie Senatorin für Stadtentwicklung und Umwelt. Im Mai kam sie ins Amt, drei Monate später musste sie das umstrittene Kohlekraftwerk Moorburg genehmigen, gegen das die Grünen und ihre Sympathisanten jahrelang Sturm gelaufen waren. Es war ihr Sündenfall.

Die Strahlkraft war dahin, als das Bündnis zerbrach. Zu groß die Ambitionen bei den Grünen, zu unambitioniert die CDU. Ole von Beust hatte hingeschmissen. Es war Katharina Fegebank, heute Spitzenkandidatin der Hamburger Grünen für die Bürgerschaftswahl Ende Februar, die dieses Ende verkündete: "Unsere Erwartungen wurden nicht erfüllt."

An den Kommentar in der "FAZ", in dem es hieß, es sei nicht so sehr an den Grünen gescheitert als vielmehr an der haltlosen Hamburger CDU und dem Neubürgermeister , an den erinnert sich Anja Hajduk heute noch.

2013: Das Trauma

Kleines Zwinkern der Geschichte: Auch zu Beginn des Jahrzehnts befanden sich die Grünen wie heute in einem Umfragehoch.

Nach dem Reaktorunglück von Fukushima stieg die Popularität derer, die den Atomausstieg seit je propagierten.

Umfragewerte von mehr als Prozent befeuerten die Rede von der "neuen Volkspartei", ein Begriff, den die Grünen schon damals nicht mochten.

Plötzlich fragte man sich: Sind die Grünen wählbar für eine breite Mitte?

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-0… 17/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL Es ging jetzt nicht mehr nur darum, irgendwo mitzuregieren, sondern darum, eine Regierung zu führen.

Bunte Republik Wo die Grünen mitregieren Koalitionspartner CDU SPD FDP Linke

stärkste Partei/ stellt den Regierungschef

Bundesland Schleswig-Holstein

Hamburg

Bremen

Sachsen-Anhalt

Brandenburg

Berlin

Thüringen*

Sachsen

Hessen

Nun war er da, der Raum für eine dritte Kraft. Die Vorherrschaft der beiden etablierten Volksparteien begann zu bröckeln, dann zu zerbröseln. Winfried Kretschmann holte in Stuttgart , Prozent und wurde Ministerpräsident einer grün-roten Regierung. folgten Grün-Schwarz und , Prozent für "Kretsch".

Für die Bundesgrünen sah alles ziemlich gut aus Anfang . Bis sie in den Wahlkampf zogen. "Raubzug mit Ansage" nannte der SPIEGEL das Wahlprogramm.

Darin enthalten die Pläne für Steuern und Abgaben, die in Teilen selbst die kühnen Umverteilungsträume des

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-werden-40-der-widerspenstigen-zaehmung-a-00000000-0002-0001-0… 18/22 12.1.2020 Die Grünen werden 40: Der Widerspenstigen Zähmung - DER SPIEGEL Wunschpartners SPD überflügelten. All dem lag die irrige Annahme zugrunde, dass es sich bei den eigenen Wählern um selbstlose Altruisten handle. Das Ergebnis: , Prozent.

"Eine große Niederlage", erinnert sich Claudia Roth und guckt auch jetzt noch traurig drein. Der Schmach folgte der Rückzug all derer, die heute in der Partei "die prägende Generation" genannt werden. Roth gehört dazu, Renate Künast und auch Jürgen Trittin.

Der sitzt Mitte Dezember im Abgeordnetenrestaurant im Reichstag, schaufelt Senf auf seine Bulette und freut sich diebisch über den Sieg von "Eskia und Walter". Und darüber, dass selbst die Linken in der SPD Probleme haben mit den Namen ihrer neuen Vorsitzenden.

Angst davor, dass sich wiederholt?

Och, sagt Trittin. Die Unterschiede zu damals seien doch markant: "Wir sind in der Gesellschaft komplett anders verankert. Wir werden heute wahrgenommen als eine verlässliche Kraft, der man zurzeit sogar zutraut, besser regieren zu können als die Große Koalition."

Daran haben auch Greta und die Fridays ihren Anteil. Früher habe man von den Grünen erwartet, Oppositionspartei zu sein, sagt Trittin. "Heute sagen alle, wir sollen regieren."

Eigentlich war es schon beinahe so weit, dann platzten die Jamaikaverhandlungen, weil die FDP lieber doch nicht regieren wollte. Die etwas eigenwillige Pointe dabei: Seither könnte es kaum besser laufen für die Grünen. * Werner Schulz, Anja Hajduk, Lukas Beckmann, Renate Künast.

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