02/2017

Rückenwind für die Energiewende

Schwerpunkt Internationale Energiepolitik

Flucht, Migration, Integration Miteinander in Vielfalt. Ein Leitbild für die Einwanderungs­ gesellschaft

politik für europa #2017plus Viel Lärm um nichts? Vorschläge der Europäischen Kommission zur sozialen Dimension 02/2017

SCHWERPUNKT – INTERNATIONALE ENERGIEPOLITIK 2

3 Rückenwind für die Energiewende 11 Zwei Drittel Einsparpotenzial Internationale Ansätze auf dem Weg Wie die Ukraine bei der Energie­ zu nachhaltigen Energiequellen versorgung unabhängig werden kann 4 Kohle ade! 12 Umsteuern in die richtige Richtung Übergang ins postfossile Zeitalter Luftverschmutzung in China gerecht und fair gestalten 14 Wind, Sonne, Afrika 5 Der Just-Transition-Ansatz der Warum die grüne Revolution ­Gewerkschaften noch auf sich warten lässt 6 Nicht „ob“, sondern „wie schnell“ 15 Atomkraft, ja bitte? Die globale Energiewende nach dem Den Globalen Süden hat ein Abkommen von Paris nuklearer Goldrausch erfasst 7 Von den Kleinen lernen 16 Wege aus der Abhängigkeit Die sechs Großen Lateinamerikas Wie Jordaniens Energiesystem müssen beim Klimaschutz aufholen verbessert werden kann 8 Nicht ohne den Bürgermeister 18 Auf dem Weg zu 100 Prozent Um den Kampf gegen den Klima­ Erneuerbare Energien wandel zu gewinnen, braucht es im Globalen Süden die ­transformierten Kräfte der Städte 19 Energiearmut in Mexiko 10 Verantwortung des Nordens Warum Energieversorgung und Menschenrechte ­zusammengehören

THEMA 20 Flucht, Migration, Integration 24 »Un/Möglichkeiten« Politische Teilhabe von Geflüchteten 21 Miteinander in Vielfalt Ein Leitbild für die Einwanderungs­ 25 Menschen in Bewegung gesellschaft Fluchtursachen bekämpfen 23 #angekommen Der Integrationskongress

PROJEKTE 26 politik für europa 30 Koordination statt Dominanz #2017 plus Die europäische Ostpolitik Deutschlands 27 Konkurrierende Erzählungen über die Zukunft Europas 31 Kleine Etappen gesucht Europäische Verteidigung im Schlepp­ 28 Beunruhigende Ungleichheit tau des deutsch-französischen Motors? Lohndumping und die Folgen in Europa 32 Grenzüberschreitende Merkmale Populismus in Europa 29 Viel Lärm um nichts? Vorschläge der Europäischen 33 Hochburgen des Linkspopulismus Kommission zur sozialen Dimension Südeuropas politischer Wandel 33 Europa der zwei Geschwindigkeiten

NOTIZEN

34 Notizen 37 Leseempfehlungen EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser

er Klimawandel ist bereits weltweit spürbar. Er bedroht nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen, sondern auch die wirtschaftliche und IMPRESSUM soziale Entwicklung in vielen Ländern. Eine Wende hin zu sauberer, Herausgeber sicherer und bezahlbarer Energie ist dringend notwendig. Aber eine Friedrich-Ebert-Stiftung Dsolche globale Energiewende kann nur gelingen, wenn sie auch soziale Folgen Kommunikation und Grundsatzfragen berücksichtigt und möglichst vielen die Chance gibt, sich aktiv in diesen Prozess Godesberger Allee 149, D-53175 Bonn Tel. 0228_883-0 | [email protected] einzubringen. www.fes.de Insbesondere mit ihrer internationalen Arbeit will die Friedrich-Ebert-Stiftung Beiträge zu einer sozial-ökologischen Transformation leisten. Im Vordergrund Redaktion (Text) Peter Donaiski / Anja Papenfuß steht dabei, Stimmen aus dem Globalen Süden in den Debatten über eine gerechte Pressestelle Berlin und soziale inklusive globale Energietransformation Gehör zu verschaffen. Berichte Hiroshimastraße 17, D-10785 Berlin Tel. 030_269 35-7038 über Hintergründe, Zusammenhänge und Erfahrungen dieser Projekte finden Sie Fax 030_269 35-9244 in diesem Heft. [email protected] Populistische Bewegungen sind fast überall in Europa auf dem Vormarsch. Im Redaktion (Bild) Rahmen ihres stiftungsweiten europapolitischen Projekts fragt die FES, welche Katja Ulanowski, Kommunikation Handlungsspielräume demokratische Parteien in Europa nutzen können, um dem und Grundsatzfragen Trend hin zu populistischen Bewegungen wirksam zu begegnen. Im Hinblick auf Godesberger Allee 149, D-53175 Bonn Tel. 0228_883-7036 die besonderen Entwicklungen in Portugal, Spanien, Italien und Griechenland, wo Fax 0228_883-9207 sich Formen des Linkspopulismus herausgebildet haben, widmet sich die Fried- [email protected] rich-Ebert-Stiftung auch dem Verhältnis von Sozialdemokratie und linkem Popu- Layout und Satz lismus. Mehr dazu auf den Seiten 26 bis 35. Leitwerk. Büro für Kommunikation Außerdem stellen wir Ihnen das „Leitbild Einwanderungsgesellschaft“ vor, das www.leitwerk.com im Rahmen der Beschäftigung mit den Themen „Flucht, Migration, Integration“ Druck eine Expert_innenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung entwickelt hat. Das Druckerei Brandt GmbH Motto lautet: „Ein Miteinander in Vielfalt“. Bildnachweis 123rf.com: S. 15 BMUB / Susie Knoll: S. 6 Brot für die Welt: S. 19 Bundesregierung/Denzel: S. 22 Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. FES: S. 25, 35, 36 Die »info«-Redaktion picture alliance / dpa: S. 7, 12/13, 24, 30 picture alliance / Viktor Drachev/TASS/ dpa: S. 4 picture alliance / Eventpress: S. U2, 20/21 picture alliance / Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentralbild/ZB: S. U2, 2/3 picture alliance / John Heeneman: S. 14 picture alliance / Jochen Helle / www.bildarchiv-mo: S. 11 picture alliance / JOKER: Titel, S. 28 picture alliance / NurPhoto: S. 32 picture alliance / Photoshot: S. U2, 16/17, 26/27 picture alliance / Winfried Rothermel: S. 31 picture alliance / zb: S. 8 Jens Schicke: S. 22 SPD Parteivorstand / Susie Knoll / Florian Jaenicke: S. 10 Horst Wagner/ITUC: S. 5 Vislab, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie: S. 17 Reiner Zensen: S. 34

ISSN 0942-1351

Editorial 1 SCHWERPUNKT Internationale Energiepolitik

2 info 02/2017 EINLEITUNG Rückenwind für die Energiewende Internationale Ansätze auf dem Weg zu nachhaltigen Energiequellen Von Manuela Mattheß und Zina Arvanitidou

er Klimawandel gehört zu den größten Heraus- wurden dabei auch die Länder des Globalen Nordens auf forderungen des 21. Jahrhunderts. die hinteren Plätze verwiesen. Erneuerbare Energien sind Wenn es gelingen soll, die Belastungsgrenzen aber nicht nur gut fürs Klima, sondern könnten besonders der Erde nicht dauerhaft zu überschreiten, muss aufgrund ihrer dezentralen Einsatzmöglichkeiten einen Des zu einer umfassenden Transformation der globalen Wirt- erheblichen Beitrag zur Energieversorgung in ländlichen schafts- und Gesellschaftssysteme kommen. Im Mittelpunkt Regionen leisten. Dieser Trend ist ermutigend, aber kein steht dabei zweifellos die Transformation des Energiesek- Selbstläufer. Entwicklungsländer müssen durch verstärkte tors. Der Weg muss wegführen von fossilen und hin zu nach- internationale Kooperation, Aufbau von Kapazitäten und haltigen und erneuerbaren Energiequellen. finanzielle wie technologische Hilfe weiterhin unterstützt Eine globale Energietransformation ist mit verschiede- werden. nen Herausforderungen konfrontiert. Für viele Länder des Die globale Energietransformation ist nicht mehr aufzu- Globalen Südens stehen die Überwindung von Energiearmut halten, sie muss aber Fahrt aufnehmen, denn wir brauchen und der Zugang zu sauberer, sicherer und bezahlbarer Ener- sie jetzt und sofort – nicht nur für das 1,5- oder 2-Grad-Ziel, gie für alle Bürger_innen im Vordergrund. Damit sind auch sondern auch, um unserer globalen Verantwortung gerecht Fragen der menschlichen Entwicklung wie Gesundheit, zu werden und nachhaltige Entwicklung weltweit voranzu- wirtschaftlicher Fortschritt oder verbesserte Bildungs­ bringen. chancen verbunden. Im Globalen Norden muss dafür gesorgt Die Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützt eine solche sozi- werden, dass besonders energieintensive Verhaltensweisen al-ökologische Transformation. Seit 2011 sind wir zusätzlich abgelegt werden und mehr für energieeffizienten Verbrauch zu unserer bestehenden Infrastruktur mit vier Klimakoordi- getan wird. Reine Minderungsansätze werden langfristig nator_innen in Afrika, Lateinamerika, Asien sowie im Nahen nicht reichen, wenn sie nicht auch die Auswirkungen auf und Mittleren Osten und in Nordafrika aktiv. Wir unter­ den Beschäftigungssektor berücksichtigen. Klima- und stützen unsere Partner aus Politik, Gewerkschaft und Zivil- ­energiepolitische Ziele müssen mit beschäftigungspoliti- gesellschaft in der Stärkung von Gerechtigkeit und Solidari- schen Zielen verbunden werden, damit auch soziale tät als wichtigen Handlungsprinzipien der internationalen Ungleichheit bekämpft werden kann. Energie- und Klimapolitik. Im Vordergrund steht für uns, Das Pariser Klimaabkommen und die Ziele für nachhal- dass Stimmen aus dem Globalen Süden in den Debatten über tige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) nachhaltige Wirtschaftsformen, die Gestaltung globaler bieten einen wichtigen und positiven Gestaltungsrahmen Energietransformationswege, Klimagerechtigkeit und eine für eine globale Energietransformation. Zwar geben sie gerechte Weiterentwicklung der internationalen Klima­ keine Blaupause für eine Transformation vor, wohl aber die politik gehört und berücksichtigt werden. • konkrete Richtung in eine treibhausgasneutrale Zukunft. Sie unterstützen die Wichtigkeit eines schnellen und effek­ tiven Handelns und bieten dabei Orientierungshilfe für den großen „Transformationsdschungel“, mit dem sich viele Staaten konfrontiert sehen. Sie verschaffen der globalen Energietransformation dadurch wichtigen Rückenwind. Dieser hat bereits zu ersten Erfolgen geführt: Erneuerbare Manuela Mattheß ist Referentin Internationale Energie- Energien werden immer günstiger und Investitionen in sie und ­Klimapolitik der FES. steigen. 2015 markiert ein Rekordjahr: Noch nie wurde besonders in Ländern des Globalen Südens so viel in Zina Arvanitidou ist Projektsachbearbeiterin Internatio­ ­nachhaltige Energiequellen investiert und zum ersten Mal nale Energie- und Klimapolitik der FES.

Schwerpunkt 3 GEWERKSCHAFTSPOSITION Kohle ade! Übergang ins postfossile Zeitalter gerecht und fair gestalten Von Sharan Burrow

m die Zukunft der Menschheit zu sichern, sind Die Veränderungen im Energiesektor sind bereits im Gang. ehrgeizige Maßnahmen zum Klimaschutz absolut Weltweit waren im Jahr 2015 im Bereich der erneuerbaren unabdingbar. Es besteht kein Zweifel daran, dass Energien 8,1 Millionen Menschen beschäftigt. Investitionen in eine Welt ohne Kohlenstoff möglich ist. Es müs- erneuerbare Energien sind dabei, Investitionen in fossile Usen aber weitreichende Entscheidungen darüber getroffen Brennstoffe zu überholen. werden, wie dieser Übergang herbeigeführt werden soll. Die Dennoch können wir es nicht hinnehmen, dass Arbeits- Gewerkschaften haben bei den Klimaverhandlungen von kräfte und Gemeinden, die von fossilen Brennstoffen ab­ Paris hart für gerechte Übergänge (just transition) ge­ hängig sind, durch eine Verlagerung von Investitionen ins kämpft, mit dem Ergebnis, dass just transition als notwendi- Abseits geraten. Deswegen sollte eine industrielle Transfor- ger Bestandteil im Abkommen verankert wurde. mation neue Energiequellen samt neuer Unternehmen her- Die branchenspezifische wirtschaftliche Transformation, vorbringen, aber eben auch transparente Pläne für bereits vor der wir stehen, muss sich schneller vollziehen und wird existierende Unternehmen, damit auch diese zu erneuer­ gleichzeitig viel weitreichendere Folgen haben als jede baren Energien, Energiespeicherung und Energieeffizienz andere Transformation zuvor in unserer Geschichte. Sie über­gehen können – mit der Garantie für menschen­wür­ wird zu verarmten Arbeitskräften und schwachen Gemein- dige Arbeitsplätze. Es ist nicht hinnehmbar, dass diese den führen, wenn wir in unsere nationalen Entwicklungs- neuen Arbeitsplätze viel schlechter bezahlt werden als pläne neben Strategien für Industrie und Investitionen Arbeitsplätze im traditionellen Energiesektor. nicht auch inklusive Maßnahmen wie diese für gerechte Bei diesem Übergang geht es auch um neue industrielle Übergänge aufnehmen. Wir können Angst verhindern, Prozesse, neue Anforderungen an neue Arbeitsplätze, neue Widerständen und Konflikten zwischen Gemeinschaften und Investitionen und Möglichkeiten, ein gerechteres Wirt- Generationen entgegenwirken und zur Entstehung nach­ schaftssystem aufzubauen, in dem Emissionen besser redu- haltiger und menschenwürdiger Arbeitsplätze beitragen, ziert werden können, in dem die Widerstandsfähigkeit wenn wir als Gewerkschaften und Gemeinden an der Aus­ gefestigt und die Solidarität im Falle von klimabedingten arbeitung dieser Transition beteiligt werden. Schäden und Verlusten vor allem für diejenigen gesichert Die Menschen müssen in eine Zukunft blicken können, wird, die besonders hart von extremen Wetterbedingungen, die sie begreifen lässt, dass es trotz aller Bedrohungen den- Wasserknappheit oder dem Wechsel der Jahreszeiten betrof- noch sowohl Sicherheit als auch neue Möglichkeiten gibt. fen sind.

4 info 02/2017 KLIMASCHUTZ UND GEWERKSCHAFTEN Der Just-Transition-Ansatz der Gewerkschaften

Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) hat sich ambitionierte Klima­ schutzziele gesetzt. Vor dem Hintergrund des 2-Grad-Zieles beziehungswei­ se gar 1,5-Grad-Zieles fordert der IGB, dass die globalen Emissionen so schnell wie möglich und spätestens bis 2070 auf null gesenkt werden müssen (ITUC 2016). Die Zeiten seien vorbei, in denen der Klimaschutz als Jobkiller verschrien war. Stattdessen gebe es bei den allermeisten Klimaschutzmaß­ nahmen einen positiven Nettobeschäftigungseffekt. Insgesamt könnten so­ gar bis zu 60 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Ein Widerspruch zwischen Klimaschutz und guter Arbeit wird also nicht ge ­ sehen. Im Gegenteil: „Auf einem toten Planeten gibt es gar keine Jobs“ (ITUC 2016: 3, eigene Übersetzung). Zugleich betont der Gewerkschaftsan­ satz, dass weiterhin Millionen von Arbeiter_innen und deren Familien ihren Lebensunterhalt in Wirtschaftszweigen bestreiten, die massiv von der Pro­ duktion und dem Konsum von Kohle, Öl und Gas abhängig sind. In der Vergangenheit verliefen Prozesse des ökonomischen Strukturwandels häufig chaotisch – mit dem Ergebnis, dass die Arbeiter_innen und ihre Fami­ lien die Hauptlast der Veränderung tragen mussten. Die Definition einer just transition bezieht sich daher auf eine Transformation, die auf dem Weg zu einer klimafreundlichen und resilienten (widerstandsfähigen) Wirtschaft die positiven Nebeneffekte des Klimaschutzes maximiert und die negativen Auswirkungen für Arbeiter_innen und deren Gemeinden und Familien mini­ miert (ITUC 2015).

Quelle: Lukas Hermwille, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Wuppertal Institut Klima, Umwelt, Energie (2017): Auf dem Weg zu einer gerechten globalen Energietransformation? Berlin: ­Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 13 f.

Dabei ist es unerlässlich, den sozialen Dialog zwischen Den Arbeitnehmer_innen sollte mithilfe von Tarifver- Regierungen, Wirtschaftsvertreter_innen, den Gewerkschaf- handlungen die notwendige Unterstützung gewährt werden, ten und den Vertreter_innen der Zivilgesellschaft so zu falls Versetzungen oder Umschulungen notwendig sind. befördern, dass nationale, industrielle und gemeinschaft­ Die Renten für ältere Arbeitskräfte müssen gesichert sein. liche Planungen für den Übergang und für menschenwür- Wir müssen den Wohlstand, der auf der Basis der Produkti­ dige Arbeitsplätze gemeinsam ausgearbeitet werden. Sau- vität der Ressourcen entstanden ist, miteinander teilen. bere Technologien, Energieeffizienz, Modernisierung, Infra- Dies muss das Instrument werden, mit dem gerechte Löhne struktur, die umweltfreundlichen Standards entspricht, und menschenwürdige Arbeitsbedingungen innerhalb der Investitionen, Informationstechnologien und digitale Ver- planetarischen Grenzen sichergestellt werden können. triebssysteme sowie ein Bedarfsmanagement für alle Sekto- Für Eltern überall auf der Welt kann just transition starke ren einschließlich der vor- und nachgelagerten Lieferketten: Gemeinschaften und gute Arbeitsplätze für ihre Kinder sicher- Das ist das Gebot der Stunde. stellen. Just-Transition-Ansätze, die niemanden zurücklassen, Das ist die kohlenstofffreie Zukunft ohne Armut, die wir müssen dabei im Vordergrund stehen. uns für alle wünschen. • Für Gemeinden, die von Kohle und Öl abhängig sind, wird es lebenswichtig sein, sich durch Investitionen in neue Ener- giequellen, neue Industrien, neue Infrastrukturmaßnahmen und neue Arbeitsplätze zu modernisieren. In den Städten werden ganz besonders Arbeitsplätze in den Bereichen umweltfreundliches Bauen und Renovieren, E-Mobilität für eine große Anzahl an Menschen und ähnliche Dienstleistungen an Bedeutung gewinnen. Dafür sind lang- fristige Investitionen nötig. So können jedoch auch neue Arbeitsplätze geschaffen und das Wachstum kann ange­ kurbelt werden. Sharan Burrow ist General- In der Wirtschaft müssen erneuerbare Energien durch sekretärin d­ es Internationalen umweltfreundlichere industrielle Prozesse begleitet werden. Gewerkschaftsbunds.­

Schwerpunkt 5 POLITISCHE BILANZ Nicht „ob“, sondern „wie schnell“ Die globale Energiewende nach dem Abkommen von Paris Von Dr. Barbara Hendricks

Dr. Barbara Hendricks ist Bundesministerin für Umwelt, ­Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Bei der FES hielt sie unter anderem die Keynote-Speech bei einer Konferenz über den Pariser Klimagipfel.

nergieversorgung und Klimaschutz, das sind zwei gramm für unsere Volkswirtschaften, ein Treiber für Inno­ Themen, die nicht mehr getrennt voneinander vationen und Beschäftigung. Damit einher geht aber auch gedacht und behandelt werden können. Und zwar die Verantwortung, dass wir diese Modernisierung sozial im globalen Maßstab. Für mich als Bundesministe- gerecht gestalten müssen – bei uns und im globalen Maß- Erin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit stab. Es geht um eine sogenannte just transition. In Deutsch- steht das Thema der globalen Energieversorgung ganz land haben wir beispielsweise bei der Erarbeitung des zwangsläufig in einem Wechselverhältnis mit effektivem Kli- ­„Klima­schutzplans 2050“, der deutschen Klimaschutzlang­ maschutz. Der weltweite Energiebedarf muss schon in naher frist­strategie, von Anfang an einen breiten Dialogprozess Zukunft möglichst nachhaltig und klimafreundlich gedeckt e­r­möglicht, um größtmögliche Transparenz durch Beteili- werden. Daran kann es keinen vernünftigen Zweifel mehr gung sicherzustellen. Für mich war von Anfang an wichtig, geben. Wir wissen, dass eine auf fossilen Energieträgern dass Klimaschutz kein Elitenprojekt sein darf und deshalb beruhende Energieversorgung und die damit einhergehende möglichst von der gesamten Gesellschaft getragen werden globale Erwärmung unsere natürlichen Lebensgrundlagen muss. Dieser Ansatz gilt natürlich auch international. Wir gefährden, angefangen bei der individuellen Gesundheit bis werden den Kampf gegen die Erderwärmung und ihre Fol- hin zur internationalen Sicherheit. Hier gegenzusteuern, ist gen nicht gewinnen, wenn wir bestehende Ungerechtigkei- keine Frage des Ob, sondern vor allem eine Frage des Wie ten zementieren, und schon gar nicht, wenn wir neue und des Wie-schnell. Wir müssen Antworten auf die zentrale Ungerechtig­keiten zulassen. Frage geben, wie sich der nötige Strukturwandel auf dem Für die künftige internationale Energieversorgung bedeu-

Weg zu einer nachhaltigen und CO2-freien Energie­ tet dies, dass wir als Industrieländer die Entwicklungs- und versorgung sozialverträglich für alle steuern lässt. Schwellenländer partnerschaftlich darin unterstützen müs- Die Grundlagen sind bereits gelegt: Das Pariser Klima- sen, alternative Energiequellen zu Kohle, Öl und Gas zu nut- schutzabkommen markiert einen irreversiblen Wendepunkt zen. Es muss unser gemeinsames Interesse sein, dass wir alle und ist ein klares Bekenntnis der Weltgemeinschaft hin zu gemeinsam einen Pfad der wirtschaftlichen Entwicklung einer treibhausgasneutralen Wirtschafts- und Lebensweise einschlagen, der Rücksicht auf die Belastungsgrenzen der in diesem Jahrhundert. Das Abkommen ist auch deshalb so Umwelt nimmt. Die deutsche Bundesregierung steht in die- bedeutsam, weil es ein unmissverständliches Signal zum sem Zusammenhang fest zu ihrer Zusage, den Beitrag zur Umsteuern an die gesamte Weltwirtschaft und an die Finanz- internationalen Klimafinanzierung bis 2020 zu verdoppeln. märkte ausgesandt hat. Die Finanzmärkte sollen ihre Port­ So hat mein Ministerium beispielsweise mit der Internationa- folios an den Notwendigkeiten einer dekarbonisierten Welt- len Klimaschutzinitiative im Zeitraum zwischen 2008 und wirtschaft ausrichten. Andernfalls laufen sie Gefahr, in 2016 Maßnahmen zur nachhaltigen Energieversorgung mit „stranded assets“ zu investieren. rund 237 Millionen Euro gefördert und so die Energiewende Klimaschutz verursacht aber nicht nur Kosten, sondern in unseren Partnerländern unterstützt. Damit zeigen wir, ist schon heute vor allem ein Wachstumsmotor. Der Umstieg was möglich ist, wenn wir Energieversorgung und Klima- auf die Erneuerbaren ist ein großes Modernisierungspro- schutz konsequent zusammen denken. •

6 info 02/2017 BESTANDSAUFNAHME Von den Kleinen lernen Die sechs Großen Lateinamerikas müssen beim Klimaschutz aufholen Von Christian Denzin

eltweit geht Wirtschaftswachstum noch UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika den meisten immer mit einem steigenden Energiekon- Ländern der Region eine geringe Sensibilität für die Zusam- sum einher. Auch in Lateinamerika und der menhänge von Armut, Energieverbrauch und Nachhaltigkeit. Karibik lassen Fortschritte auf dem Weg zur Dabei könnte Lateinamerika in mehrerlei Hinsicht von WEntkoppelung von Wachstum und Energieverbrauch auf sich einer Transition hin zu erneuerbaren Energien profitieren. warten. Seit den 1970ern haben sich beide Faktoren im Schon jetzt verfügt der Subkontinent über die sauberste Gleichschritt entwickelt. Dabei spielten und spielen die fossi- Stromproduktion der Welt. Mit einem Anteil von erneuerba- len Energien noch immer eine tragende Rolle. Sie deckten ren Energien von 52,4 Prozent, die vor allem auf den hohen im Jahr 2013 knapp drei Viertel des Primärenergiebedarfs Anteil an Strom aus Wasserkraft zurückzuführen sind, in der Region ab. erreicht die Region einen mehr als doppelt so hohen Wert wie Brasilien und Mexiko sind die mit Abstand größten Ener- der globale Durchschnitt. giekonsumenten, gefolgt von Argentinien, Venezuela, Chile Auch wenn sie in den vergangenen Jahren gewachsen und Kolumbien. Zwar trägt das rohstoffreiche Lateinamerika sind, so sind die Anteile von Wind- und Solarenergie an der

viermal weniger zum globalen CO2-Ausstoß als die USA und Stromproduktion noch immer gering. Lateinamerikas Poten- Kanada bei, doch wird der Energieverbrauch laut der Inter­ zial im Feld der Erneuerbaren ist riesig, man denke an die amerikanischen Entwicklungsbank bis 2040 um mehr als Bedingungen für Windkraft in der argentinischen Pampa 80 Prozent steigen. Um die in Paris verabschiedeten Klima- oder für Solarenergie in den Wüsten Mexikos. Vor allem die ziele zu erreichen, müssen vor allem die sechs größten sechs größten Volkswirtschaften, allen voran Brasilien und Volkswirtschaften der Region – Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko, könnten durch den Aufbau von Wertschöpfungs- Kolumbien, Mexiko und Venezuela – ihre Ambitionen in und Produktionsketten im Bereich der Erneuerbaren auch Sachen Klimaschutz deutlich erhöhen. Den größten Anteil wirtschaftlich langfristig profitieren. Obwohl erste Politik- am Energieverbrauch haben dabei der Transportsektor und ansätze zum Ausbau erneuerbarer Energien festgelegt wur- die Industrie. den, sind die Ziele oftmals wenig ambitioniert. Dabei spielt die Gewinnung von fossilen Energieträgern In Lateinamerika sind es wieder einmal die kleinen Län- nicht nur für den eigenen Konsum eine entscheidende Rolle. der, die die Vorreiterrolle einnehmen. Costa Rica und Uru- So gehen knapp 50 Prozent des in der Region geförderten guay haben gezeigt, dass eine 100-prozentige Stromversor- Erdöls in den Export. Gemeinsam mit anderen nicht erneuer- gung durch erneuerbare Energien innerhalb kurzer Zeit baren Rohstoffen sind sie eine wichtige Einnahmequelle für erreicht werden kann. Klare regulatorische Rahmen, politi- die Staatshaushalte. sche Stabilität, funktionierende Institutionen und vor allem Lateinamerikas Energiewirtschaft ist geprägt von einer auch der politische Wille bilden in beiden Fällen wichtige hohen Konzentration, häufig in korruptionsanfälligen und Voraussetzungen für den Umbau der Energiesektoren. Wol- ineffizienten Staatsfirmen. Im Kontext schwacher staatlicher len Mexiko und Brasilien die strategische Chance der erneu- Institutionen und laxer Regulierungen birgt der Energiesek- erbaren Energien zum Umbau ihrer Wirtschaftssysteme und tor großes Konfliktpotenzial. Denn die Ausbeute von fossilen zur Reduktion von Abhängigkeiten anderer Sektoren nutzen, Rohstoffen verursacht neben Umweltschäden in den betrof- müssen sie ihre Ambitionen verstärken. Betrachtet man die fenen Gebieten auch soziale Konflikte und führt mitunter zu politischen Klassen in beiden Ländern, sind die Chancen Menschenrechtsverletzungen. dafür als eher durchwachsen einzuschätzen. • Obwohl hohe Subventionen von Strom, Gas und Benzin ein wesentlicher Bestandteil der Energiepolitik in Latein­ amerika sind, bleiben Umverteilungseffekte und Armutsredu- zierung durch eine gezielte staatliche Förderung gering. Im Gegenteil, die Energiesubventionen in Lateinamerika sind Christian Denzin ist Leiter des Regionalprojekts Sozial- häufig ineffizient, regressiv und ungerecht. So bescheinigt die öko­logische Transformation in Lateinamerika.

Schwerpunkt 7 GESAMTSCHAU Nicht ohne den Bürgermeister Um den Kampf gegen den Klimawandel zu gewinnen, braucht es die ­transformativen Kräfte der Städte Von Manuela Mattheß, Richard Probst, Marcus Schneider, Christian Denzin, Lara Hirschhausen und Sergio Grassi

ehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt rangig staatlicher Akteure geführt werden, finden die Stim- bereits heute in Städten. Obwohl die Urba­ men aus Städten und Kommunen und deren Potenzial für nisierungsraten von Kontinent zu Kontinent positive Veränderungen noch nicht ausreichend Gehör. variieren, ist die Tendenz weltweit steigend. Der internationale Klimaschutz wie auch eine globale MImmer mehr Menschen – besonders in den Ländern des Glo- Energietransformation können nur in Kooperation und Kon- balen Südens – drängen in der Hoffnung auf Arbeitsplätze, sultation mit kommunalen Akteuren umgesetzt werden, kei- Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung in die urba- nesfalls ohne sie. nen Zentren ihrer Region. Oft sind diese auf die großen Das globale Phänomen der Urbanisierung macht auch vor Zuzugswellen nicht vorbereitet. In vielen Fällen folgt auf die der Region des Mittleren und Nahen Ostens nicht halt. Hoffnung auf ein besseres Leben Armut. Die energiepolitische Hauptproblematik in den Städten der Auch aus energiepolitischer Perspektive stellen sich in Region des Mittleren und Nahen Ostens kann unter dem Satz den Städten große Herausforderungen. Während sie zu Zen- „Energie ist Verkehr und Verkehr ist Energie“ zusammen­ tren des ökonomischen Wachstums und der Produktion gefasst werden. Transport schlägt regional mit einem Drittel geworden sind, haben sie auch ihren Energieverbrauch des Energiekonsums zu Buche. Dazu kommt die mangelhafte ­massiv gesteigert und stehen beim weltweiten Ressourcen- Energieeffizienz. Einen wichtigen Beitrag zur Reduzierung verbrauch ganz oben auf der Liste. des Energieverbrauchs könnte mit dem Ausbau von kohlen- Zwei Drittel der globalen Emissionen entstehen in Städ- stoffarmen Nahverkehrssystemen geleistet werden. ten. Im Lichte der Ergebnisse der Klimakonferenz von Paris Die FES unterstützt lokale Initiativen in Amman, Beirut ist klar, dass beispielsweise ohne kohlenstoffarme Entwick- und Casablanca dabei, dieses wichtige Thema in die Öffent- lungskonzepte im öffentlichen Nahverkehr der Städte oder lichkeit zu bringen. In Amman gelang es dadurch nicht nur, konkrete Maßnahmen zu energieeffizienten Bauweisen nati- den ersten Netzplan des öffentlichen Nahverkehrs zu erar- onale und internationale Klimaschutzziele nicht eingehalten beiten, sondern ebenfalls, die erste Smartphone-App dazu werden können. zu entwickeln. Einige Städte der Region sind ebenfalls Teil Während viele der relevanten Verhandlungen zum Schutz internationaler Initiativen mit dem Ziel der Steigerung der des Klimas oder zum Ausbau erneuerbarer Energien vor Energieeffizienz und dem Aufbau von Resilienzkapazitä- allem auf internationaler Ebene unter der Einbindung vor- ten. Die FES unterstützt zudem in jährlichen Konferenzen

8 info 02/2017 aler Ungleichheit sind Konsequenzen von rapiden, unkon­ trollierten Urbanisierungsprozessen auf dem Subkontinent. Die FES engagiert sich in Lateinamerika bereits seit Jahren für nachhaltige Stadtentwicklungskonzepte, die auch Res- sourcenschutz und -effizienz im Blick haben. Seit 2010 bietet zum Beispiel das nationale Gemeindenetzwerk gegen den Klimawandel (Red Argentina de Municipios Frente al Cam- bio Climático) in Argentinien eine Plattform für die Umset- zung von Anpassungs- und Minderungsstrategien mit Fokus auf der städtischen Ebene. Auch in Asien wachsen Städte rasant, nirgendwo ent­ stehen mehr Megacitys als dort. Die Weiterentwicklung der Transportsysteme kann mit dem Bevölkerungswachstum und der steigenden Motorisierung häufig nicht Schritt hal- ten. Ähnliches gilt für die Frage, wie die Wasserversorgung für alle Menschen in Städten wie Jakarta mit 28 Millionen Einwohnern sichergestellt werden kann. Da der Urbanisie- rungstrend sich fortsetzen wird, ist eine Weiterentwicklung einer integrierten Stadtentwicklungspolitik erforderlich. FES-Büros in Asien arbeiten national wie regional mit Partnern an einem Projekt zum Thema „Soziale Stadt – Aspi- ration einer urbanen Transformation“, das gesamtgesell- schaftliche Fragen wie soziale Kohäsion, soziale Gerechtig- keit, soziale Teilhabe, soziale Mobilität und Chancengerech- tigkeit, Demokratie und nicht zuletzt Umweltgerechtigkeit angeht. Will man den Kampf gegen den Klimawandel gewinnen und nachhaltige Entwicklungspfade weltweit unterstützen, müssen die transformativen Kräfte der Städte und Kommu- nen genutzt werden. In den aktuellen turbulenten Zeiten muss besonders in der Energie- und Klimapolitik dafür gesorgt werden, dass sich breite Allianzen bilden, die sich ein regionales Netzwerk aus progressiven Akteuren in für nachhaltige Energiesysteme und mehr Ehrgeiz im inter­ ihren Bemühungen um sozialere und nachhaltigere Struk- nationalen Klimaschutz engagieren. turen in den Städten. In Städten bündeln sich lokale, nationale und globale In Afrika wird die Urbanisierung aufgrund des rasanten Herausforderungen, gleichzeitig können aber dort auch die Bevölkerungswachstums und einer bislang noch geringen Antworten auf die dringenden Fragen unserer Zeit gefun- Verstädterung am schnellsten voranschreiten. Bis 2025 wird den und konkrete Handlungsansätze erprobt werden. Daher für die meisten afrikanischen Städte eine Verdoppelung gilt es, dieses Potenzial in alle internationalen Debatten der Einwohnerzahlen prognostiziert. Dies wird die ohnehin und Verhandlungsprozesse einzubinden. • fragilen Energiesysteme extrem belasten. Damit Afrika im Gegensatz zu den Industrie- und Schwellenländern seinen wirtschaftlichen „take-off“ nachhaltig gestaltet, ist eine grüne Energierevolution unausweichlich. Diese gelingt aber Manuela Mattheß ist Referentin für internationale nur dann, wenn in den Städten des Kontinents breite Bünd- ­Energie- und Klimapolitik. nisse für eine demokratische und grüne Energiepolitik geschmiedet werden. Die FES engagiert sich hier vor allem Richard Probst ist Regionalkoordinator auf lokaler Ebene, um dort eine Diskussion von Konzepten Klima und Energie, FES-Jordanien. für eine verbesserte und nachhaltige Stadtentwicklung mög- Marcus Schneider ist Regionalkoordinator lich zu machen. Klima und Energie, FES-Madagaskar. Lateinamerika gehört zu den am stärksten urbanisierten Regionen der Welt – mittlerweile leben rund 80 Prozent der Christian Denzin ist Regionalkoordinator Bevölkerung in Städten. Diese tragen 70 Prozent zu den Klima und Energie, FES-Mexiko. Emissionen bei. Oft fehlen kohärente Planungsstrategien Lara Hirschhausen ist Assistentin im Regionalprojekt für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Überbelastete Ver- ­Sozial-Ökologische Transformation in Lateinamerika, kehrsinfrastrukturen, steigender Energiebedarf, Luftver- FES-Mexiko. schmutzung, unzureichende Wasserversorgung und ineffi­ ziente Abfallentsorgung, aber auch die Ausweitung von so­zi- Sergio Grassi ist Landesvertreter der FES in Indonesien.

Schwerpunkt 9 RAHMENSETZUNG Verantwortung des Nordens Warum Energieversorgung und Menschenrechte ­zusammengehören Von Dr. Bärbel Kofler

eltweit hat heute noch über eine Milliarde Energietransformation sind weiterhin große Anstrengungen Menschen keinen Zugang zu Elektrizität, notwendig. Während hier die Länder des Globalen Nordens wie aus dem neuen Bericht der Internatio- besonders in der Verantwortung stehen, müssen die Länder nal Energy Agency (IEA) und der Weltbank des Globalen Südens in ihren Transformationsanstrengun- Wvon April 2017 hervorgeht. Der mangelnde Zugang zu Ener- gen unterstützt werden. Bei der Umsetzung von Energie­ gie hemmt Entwicklung und erschwert die Verfügbarkeit von großprojekten, die einer großen Anzahl an Menschen sauberem Trinkwasser, die Lebensmittelproduktion und die Zugang zu Energie liefern und zur Entwicklung von Regio- Zubereitung von Nahrung in Haushalten. Betriebe können nen beitragen können, muss die Einhaltung von Umwelt- und nicht produzieren und somit keine Arbeitsplätze schaffen. Menschenrechtsstandards überprüft und kontrolliert wer- Krankenhäuser benötigen ebenso Energie wie Schulen und den, damit Energieversorgung und Menschenrechte mitein- Universitäten und Elektrizität ist häufig Voraussetzung für ander einhergehen. Mobilität und Teilhabe an Kommunikation und Information. Erneuerbare Energien und klimafreundlicher Strom kön- Dabei ist der Zugang zu Energie nicht nur aus der Perspektive nen darüber hinaus einen wichtigen und langfristen Beitrag der Entwicklung relevant, sondern auch aus menschenrecht- zur Bekämpfung der Armut weltweit leisten. Die Vereinten licher Sicht. Nationen haben im Rahmen der 17 Nachhaltigkeitsziele Zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Men- diese Thematik aufgegriffen. Mit Ziel 7 „Zugang zu bezahl- schenrechten („wsk-Rechte“), die im UN-Sozialpakt völker- barer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie rechtlich verankert sind, gehört auch das Recht auf Zugang für alle sichern“ und Ziel 13 „Umgehend Maßnahmen zur zu und Verfügbarkeit von Energie. Denn nur durch Energie- Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen versorgung lässt sich Chancengleichheit schaffen. Sie fördert ergreifen“ verpflichten sich alle Industrie-, Schwellen- und den Zugang zu dem Recht auf Bildung, Nahrung und kul­ Entwicklungsländer zu Maßnahmen, die zu klimafreund­ turelle Teilhabe. Energieversorgung ist nicht nur ein relevan- licher und nachhaltiger Entwicklung im Bereich Energie und ter Entwicklungsfaktor, sondern auch ein Menschenrecht. Umwelt beitragen. Menschenrechte werden bei den Nachhal- Aufgrund des Mangels an nachhaltig produzierter Elektri- tigkeitszielen als Querschnittsaufgabe angesehen. Gerade zität sind viele Menschen weltweit gerade beim Kochen und die „wsk-Rechte“ und die Menschenrechte der dritten Gene- Heizen auf gesundheitsschädliche Holzkohle oder Dung ration spielen hierbei eine wichtige Rolle. angewiesen und schaden damit langfristig sich und der Die Menschenrechte auf Zugang zu Energie und auf eine Umwelt. Neben dem Menschenrecht auf Gesundheit nimmt saubere Umwelt dürfen nicht gegeneinander ausgespielt wer- im Bereich der Energieversorgung das Menschenrecht auf den, sondern müssen für eine nachhaltige Entwicklung, zur eine saubere Umwelt, das zu den Menschenrechten der drit- Bekämpfung von Armut und zur Entlastung der Umwelt mit- ten Generation gehört, auch die „kollektiven Rechte der Völ- einander einhergehen. Deutschland muss hier seine Verant- ker“ genannt, eine wichtige Rolle ein. wortung wahrnehmen und weiterhin einen Schwerpunkt in Für die Bekämpfung des Klimawandels, die Stärkung von der Außen-, Entwicklungs-, Klima- und Wirtschaftspolitik Menschenrechten und eine sozial gerechte Entwicklung auf nachhaltige Energiepolitik legen. • bedarf es einer nachhaltigen und effizienten Energieversor- gung. Um gewährleisten zu können, dass in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren alle Menschen weltweit Zugang zu Elektrizität erhalten, muss international viel getan werden. Erneuerbare Energien und klimafreundlicher Strom können hierzu einen zentralen Beitrag leisten. Dabei muss die Ener- gieeffizienz gesteigert und Speichermöglichkeiten weiterent- wickelt werden. Erneuerbare Energien sind nicht nur gut für Dr. Bärbel Kofler, MdB, ist Beauftragte das Klima, sondern zudem noch dazu geeignet, um beson- der Bundesregierung für Menschen­ ders in ländlichen Gebieten durch deren dezentrale Einsatz- rechts­politik und Humanitäre Hilfe. ­ möglichkeiten Menschen Zugang zu sicherer und sauberer Sie leitet die AG ­„Klimawandel und Ent- Energie zu ermöglichen. Für die Umsetzung einer globalen wicklung“ der FES.

10 info 02/2017 ZIELBESTIMMUNG Zwei Drittel Einsparpotenzial Wie die Ukraine bei der Energieversorgung unabhängig werden kann Von Sergiy Savchuk

Auf dem zweiten Forum der Staatlichen Energieeinspar- ie Ukraine hat einen klaren Weg in die Energie­ und Energieeffizienzagentur der Ukraine (SAEE) nannte unabhängigkeit eingeschlagen. Deshalb gehört Ministerpräsident Wolodymyr Hroysman die Energieunab­ die Umsetzung energieeffizienter Maßnahmen hängigkeit von Russland als eines der drei Ziele, die mit seit Langem zu den vorrangigen Aufgaben der einer erfolgreichen Arbeit der SAEE erreicht werden kön­ Dukrainischen Regierung. Ich bin davon überzeugt, dass es für nen. Das zweite Ziel sei die volkswirtschaftlich wichtige Senkung des Pro-Kopf-Verbrauchs von Energie, der zurzeit die erfolgreiche Erfüllung dieser Aufgabe ein großes Po­ um das bis zu Dreifache über dem Durchschnittsverbrauch tenzial in der Ukraine gibt. Sie wird einen Wirtschafts­ in der Europäischen Union liegt. Das dritte Ziel sei der aufschwung bewirken, die Attraktivität für Investitionen ­positive Effekt, den ein geringerer Energieverbrauch auf ­e­r­höhen, neue Arbeitsplätze schaffen, zusätzliche finanzielle die Klimabilanz der Ukraine hat. Mittel für kommunale Haushalte generieren und das Wich- tigste: Der Wohlstand der Bevölkerung steigt und die Hand- lungsfähigkeit des Staates wird gefestigt. Dazu zählen Regierungsvertreter und Abgeordnete, kommu- Der Fokus der Reformen liegt im Bereich der öffentlichen nale Behörden, Geschäftsleute, Vertreter der Zivilgesell- Gebäude und der Wohnungswirtschaft. So existiert seit schaft sowie die internationale Gemeinschaft. Die SAEE Oktober 2014 dank der Tätigkeit unserer Agentur (SAEE) ein weiß es sehr zu schätzen, mit internationalen Organisatio- Energieeffizienzprogramm der Regierung („Programm der nen zusammenarbeiten zu können und Unterstützung von warmen Kredite“). Mittlerweile profitieren über 260.000 Expert_innen aus der EU zu erhalten. Haushalte von dem Programm, und es wurden bereits Ener- Die Staatliche Energieeinspar- und Energieeffizienzagen- gieeffizienzmaßnahmen in Höhe von insgesamt 3,6 Milliar- tur führt in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stif- den Hrywnja umgesetzt. Das entspricht 130 Millionen Euro. tung Lehrgänge und Seminare in den Regionen der Ukraine Die SAEE konzentriert sich auf die Frage der Energieeffi- durch. Unser Ziel ist es, den Bürgermeistern der Städte, den zienz in öffentlichen Gebäuden. In der Ukraine müssen Leitern der Gebietsverwaltungen, Führungskräften im Ener- 78.000 öffentliche Gebäude thermisch modernisiert werden. giesektor und Energie-Contracting-Unternehmen die Mög- Laut Einschätzung von Expert_innen ist der Verbrauch von lichkeiten und die Vorteile aufzuzeigen, die die Einführung Energieressourcen in der Ukraine für die Beheizung von von Energieeffizienzprojekten auf lokaler Ebene bietet. Bald öffentlichen Gebäuden um das Zwei- bis Dreifache höher als werden Informationsseminare über Energiemanagement in in den EU-Mitgliedstaaten. Durch geeignete Maßnahmen jeder Region stattfinden. • kann in solchen Gebäuden eine Energieeinsparung von 40 bis 70 Prozent erreicht werden. Dies bedeutet, dass um­ gerechnet jährlich 700 Millionen Kubikmeter Gas eingespart werden können. Am 26. April dieses Jahres beschloss die Regierung einen Maßnahmenplan für die Umsetzung von Energiemanage- ment in öffentlichen Gebäuden, der von der SAEE aus­ Sergiy Savchuk ist Leiter der Staat­ gearbeitet wurde. In der Ukraine hat sich ein starker Unter- lichen Energieeinspar- und Energie­ stützerkreis im Bereich der Energieeffizienz herausgebildet. effizienzagentur der Ukraine (SAEE).

Schwerpunkt 11 LÄNDERANALYSE Umsteuern in die richtige Richtung Luftverschmutzung in China Von Christoph Pohlmann und Stefan Pantekoek

ie zunehmende Luftverschmutzung in vielen asia- Zuletzt warnten Forscher des Umweltinstituts der Univer- tischen Megacitys ist ein Problem für die mensch­ sität Nanjing, dass Feinstaub zum größten Gesundheitsrisiko liche Entwicklung ebenso wie die soziale Stabilität und Kostenfaktor der chinesischen Stadtbevölkerung werde. in den betroffenen Ländern. Laut der Weltgesund- Ihre Langzeitstudie in 74 chinesischen Städten, die Ende 2016 Dheitsorganisation WHO befinden sich nur zwei der 20 am vorgestellt wurde, ergab, dass dies die Ursache für den Tod meisten von Smog belasteten Städte außerhalb Asiens. fast jedes dritten Chinesen in hoch belasteten Gebieten sei. Neben der globalen Sorge um wachsende Kohlenstoffdioxid- Laut Fachleuten sorgen Kohlekraftwerke sowie Zement-

Emissio­nen (CO2) in Asien angesichts des nach wie vor ver- und Stahlfabriken über das ganze Jahr für den Löwenanteil gleichsweise dynamischen Wirtschaftswachstums wächst der Smogbelastung. Kleine Haushalte auf dem Land, die mit in vielen Ländern auch der innenpolitische Druck auf Regie- billiger und extrem umweltbelastender Kohle heizen, tragen rungen, etwas gegen die massive Luftverschmutzung zu tun. zu den Spitzen im Winter bei. Laut der Umweltexpertin Wang In China sterben nach Schätzungen des Max-Planck-Insti- Shuxiao von der Tsinghua-Universität würde allein sauberere tuts rund 1,5 Millionen Menschen pro Jahr vorzeitig an den Kohle etwa 50 bis 80 Prozent weniger der gefährlichen Parti- Folgen von Luftverschmutzung. 90 Prozent der 190 Städte in kel verursachen. China leiden stetig unter der zum Teil extremen Belastung Die besondere Aufmerksamkeit auf China ist gerechtfer- mit Luftschadstoffen. Insbesondere der Nordosten Chinas tigt, schließlich ist China zum einen Hauptverursacher des

kämpft immer wieder mit gefährlichen Feinstaubwerten. Im CO2-Ausstoßes weltweit – inzwischen vor den USA – und Winter gehören die Negativmeldungen über den Pekinger zum anderen ist China mittlerweile zur globalen Führungs- Smog inzwischen auch zu einem festen Ritual in den deut- macht hinsichtlich der Energiewende geworden, zumindest schen Abendnachrichten. mit Blick auf die Leistungskapazität der jährlich neu instal- Der Smog, der aus feinen Aerosolpartikeln besteht, birgt lierten erneuerbaren Energien. viele Gefahren und kann zu Herz- und Atemwegs­ Es spricht vieles dafür, dass die chinesische Regierung erkrankungen, Lungenkrebs oder Asthma führen. Gegen die in der Tat die Ernsthaftigkeit des Problems erkannt hat. extreme Luftverschmutzung haben chinesische Behörden Offiziell spricht Premierminister Li Keqiang seit 2014 vom wiederholt Fahrverbote und Schul- und Kindergartenschlie- „Krieg“ gegen die Umweltverschmutzung. Gerade die ßungen angeordnet. wachsende chinesische urbane Mittelschicht fordert

12 info 02/2017 zunehmend eine Verbesserung der Luft-, Wasser- und Wirtschafts- und Entwicklungsmodells immer mehr Schritte Bodenqualität ein, auch aus Sorge um die Gesundheit ihrer in die richtige Richtung. (Einzel-)Kinder. Die aktuellen Entwicklungen in China mit Blick auf die Diese städtische Mittelschicht ist zugleich entscheidend Energiewende könnten Vorbildcharakter für andere Länder für die Systemstabilität; allein deshalb kann es sich die Kom- in Asien haben, insbesondere für große Schwellenländer mit munistische Partei Chinas (KPCh) nicht leisten, deren Sor- hohem CO2-Ausstoß wie Indien und Indonesien. Entschei- gen und wachsenden Unmut zu ignorieren. Dennoch gilt dend wird die Geschwindigkeit der notwendigen Verände- auch, dass die wachsende soziale Ungleichheit als noch rungsprozesse sein, zu denen schließlich auch ein Mentali- ­drängenderes Problem wahrgenommen wird. Bevölkerung tätswandel der aufstiegsorientierten Konsumenten gehören wie Partei und Regierung sehen sich also dem klassischen müsste. • Zielkonflikt zwischen Wirtschaftswachstum zur Wohlstands- steigerung und Umweltschutz gegenüber. Sollte sich das Wirtschaftsklima zu stark eintrüben, wird sich deshalb der Druck auf die Regierung erhöhen, kurzfristiger Wachstums- politik den Vorrang vor einer nachhaltigen Umsteuerung der chinesischen Volkswirtschaft zu geben. Letztlich ist jedoch davon auszugehen, dass gerade auf- grund des steigenden Wohlstandsniveaus insbesondere der urbanen chinesischen Bevölkerung die schrittweise Abkehr von fossilen Energieträgern gelingen wird. Dafür spricht auch, dass China trotz des Ausstiegs der USA aus dem Pariser Klimaabkommen unmissverständlich erklärt hat, an den ver- einbarten CO -Reduktionszielen festzuhalten. Auch wenn es 2 Christoph Pohlmann ist Landesvertreter der FES in China, bis zur Umsetzung der in den Parteistatuten der KPCh veran- Büro Peking. kerten „ökologischen Zivilisation“ noch ein weiter Weg sein dürfte, geht China inzwischen mit dem Umsteuern seines Stefan Pantekoek ist Leiter des Büros Shanghai der FES.

Schwerpunkt 13 ANALYSE Wind, Sonne, Afrika Warum die grüne Revolution noch auf sich warten lässt Von Marcus Schneider

m Jahr 2015 unterzeichnete die südafrikanische Regie- noch andere Vorteile. Anders als die fossilen Energiequellen rung eine Absichtserklärung zum Bau von acht neuen können sie in viel kleineren und damit preiswerteren Einhei- Atommeilern mit russischer Beteiligung. Diese Zahl ist ten installiert werden. So könnten auch ländliche Regionen aus zwei Gründen erstaunlich: Erstens leidet Afrika süd- jenseits der großen Stromerzeugung schnell über verlässli- Ilich der Sahara seit über einem Jahrzehnt an Investitions- che Energiequellen verfügen. mangel. Die Investitionen in den Energiesektor konnten Die Vorteile einer grünen Revolution liegen also auf der ­jahrelang nicht mit dem rapiden Wirtschafts- und Bevölke- Hand. Und auch, wenn viele Beobachter mittlerweile von rungswachstum mithalten. Die Konsequenz ist eine Energie- ihrer Unaufhaltsamkeit ausgehen, ist der Kampf noch nicht krise, die sich jedes Jahr verschlimmert und mit Südafrika entschieden. Ähnlich wie für die Energiewende in Deutsch- jetzt sogar die einzige industrialisierte Volkswirtschaft des land braucht es auch in den afrikanischen Staaten breite Kontinents erreicht hat. (zivil)gesellschaftliche und politische Koalitionen, um den Zweitens markieren Deals wie dieser auch die Wider- grünen Energieaufbruch voranzubringen. standsfähigkeit des fossilen Zeitalters. Genau hier setzt das Projekt „Sozialökologische Transfor- Seit einigen Jahren sind aber die einst als viel zu teuer mation in Subsahara-Afrika“ der Friedrich-Ebert-Stiftung an. bezeichneten erneuerbaren Energien auch ökonomisch wett- In Südafrika und Simbabwe sowie auf der regionalen Ebene bewerbsfähig geworden. Und so könnte Afrika seine Indust- der Gewerkschaftskooperation wird versucht, mit afrikani- rialisierung, anders als der Westen und die aufstrebenden schen Partnern die Energiewende von unten zu beschleuni- Wirtschaftsmächte aus Asien und Lateinamerika, tatsächlich gen. In Südafrika geht es unter dem Schlagwort der Energie- grün gestalten. demokratie vor allem um den Aufbau einer Allianz aus Das Potenzial für eine grüne Elektrifizierung des Konti- Gewerkschaften und Zivilgesellschaft, um die Vorherrschaft nents ist enorm. Allein mit Solarenergie ließen sich gigan­ des mächtigen „Energy-Minerals-Complex“ infrage zu stel- tische neun Terrawatt erzeugen. Die installierte Gesamt­ len. Der ökologische Imperativ einer Energiewende im Kohle- kapazität aller Stromerzeuger beträgt in Afrika südlich der land Südafrika wird dabei mit der Notwendigkeit, mehr sozi- Sahara heute gerade einmal 100 Gigawatt. Das ist nur halb ale Gerechtigkeit zu erlangen, verbunden. Damit wird das so viel wie in Deutschland und das, obwohl in diesem Teil häufig als kompliziert empfundene Energiethema aus dem des Kontinents eine Milliarde Menschen lebt. Über 620 Milli- Reich der Expertokratie in die breite demokratische Öffent- onen Afrikaner_innen haben überhaupt keinen Zugang zu lichkeit verlagert. elektrischer Energie – das ist trauriger Rekord unter allen Ähnlich gestaltet sich auch die Herausforderung in Sim- Kontinenten. babwe, wo unter den Einschränkungen eines sehr autokrati- Warum also lässt die grüne Energierevolution noch auf schen Regimes die Allianzbildung nicht einfach ist. Auch sich warten? Das liegt weniger an fehlenden ökologischen muss hier von jungen Kräften des Wandels noch viel Sensibi- oder ökonomischem Argumenten als vielmehr an der politi- lisierung betrieben werden, um der breiten Bevölkerung die schen Ökonomie des Energiesektors in den meisten afrikani- Wichtigkeit der Energiefrage näherzubringen. schen Staaten. Politik und wirtschaftliche Eliten – häufig eng Zudem wird auch auf regionaler Ebene mit Unterstützung verbunden in einem Netz wirtschaftlicher Abhängigkeit – der FES darauf hingearbeitet, die Gewerkschaften zu einer haben wenig Interesse an einem Ende des für sie lukrativen führenden Kraft der afrikanischen Energiewende zu machen. fossilen Zeitalters. Die Energiemonopolisten des Kontinents Das Southern African Energy Network (SAEN) zum Beispiel werden häufig als „cash cows“ missbraucht, die für eine kor- bemüht sich, direkt Einfluss auf die politischen Entscheidun- rupte Staatselite leicht erzielbare Dollargewinne bedeuten. gen innerhalb der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Noch besser als die Aufrechterhaltung dieser Selbstbedie- Afrika (SADC) zu nehmen. • nungssysteme sind aus Sicht der kleptokratischen Regieren- den nur noch Riesendeals, sei es für Kohle, Gas, gigantische Wasserkraftwerke oder gar Nuklearanlagen. Im Gegensatz dazu sind die Erneuerbaren unspektakulär. Sie hätten neben Marcus Schneider ist Regionalkoordinator Klima und ihrer ökologischen und ökonomischen Verträglichkeit auch Energie, FES-Madagaskar.

14 info 02/2017 PROJEKTERGEBNISSE Atomkraft, ja bitte? Den Globalen Süden hat ein nuklearer Goldrausch erfasst Von Dr. Sonja Schirmbeck und Richard Probst

us deutscher Perspektive gehört das Zeitalter Zudem liegen der Atomenergie gespürt bereits der Vergangen- sicherheitspoliti- heit an. Allerdings zeigt nicht nur ein Blick in sche Risiken in bei- europäische Länder wie Finnland oder England, den Regionen auf der Asondern auch nach Asien oder über das Mittelmeer, dass eine Hand. Dabei besteht das Risiko weniger darin, dass die Renaissance der Atomkraft im Gange ist. Atomprogramme militärisch weiterentwickelt werden. Viel- Die Atomenergie wird von ihren Befürwortern weiterhin mehr könnten die Reaktoren selbst Ziel von Angriffen sein. als moderne und klimafreundliche Form der Energiegewin- Eine in allen Ländern bereits jetzt spürbare Folge ist, dass nung dargestellt. Hiermit, so wird suggeriert, würde der Erforschung und Ausbau von erneuerbaren Energiequellen Energiehunger aufstrebender Volkswirtschaften gestillt, Ener- verschleppt werden. gieunabhängigkeit erworben, Macht und Prestige würden Die FES bietet daher in zahlreichen Ländern zivilgesell- gegenüber anderen Staaten demonstriert und gleichzeitig die schaftlichen Akteuren und progressiven politischen Ent- Ziele des Klimaabkommens von Paris erreicht. Risiken für scheidungsträger_innen eine Plattform, um sich kritisch mit Mensch und Umwelt sowie soziale und gesellschaftliche Fol- den jeweiligen Atomprogrammen auseinanderzusetzen. Ins- gekosten werden in den meisten Ländern nicht diskutiert. besondere die Erfahrungen mit dem deutschen Atomausstieg Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Ara- und der Energiewende werden dabei im bilateralen Aus- bien, Ägypten, Jordanien und der Türkei hat gleich mehrere tausch durch die FES dazu genutzt, um gesellschaftliche und Länder der Region des Mittleren und Nahen Ostens ein nuk- politische Debatten in den Projektländern anzustoßen. learer Goldrausch erfasst. Bereits im kommenden Jahr wer- Neben dem Nord-Süd-Dialog bietet die FES eine wichtige den die Emirate voraussichtlich das erste arabische Land Dialogplattform für den Süd-Süd-Austausch zwischen atom- sein, das einen Atomreaktor errichtet. Der erste von vier kritischen Akteuren. Dieser Dialog ist oft kein einfaches Reaktoren ist bereits zu über 80 Prozent fertiggestellt. Wäh- Unterfangen, denn eine kritische Auseinandersetzung mit rend Jordanien und Ägypten ihre ersten Reaktoren in zehn Atomenergie steht häufig nicht im Einklang mit dem wirt- Jahren in Betrieb nehmen wollen, soll der erste von 15 sau- schaftlichen Interesse der „Atomlobby“ sowie den politi- di-arabischen Reaktoren 2022 ans Netz gehen. In Asien sind schen Interessen eines Teils der Eliten. derzeit 34 Nuklearkraftwerke in China, Japan, , Das Beispiel Vietnam zeigt, dass diese Projektarbeit auch Indien und Südkorea im Bau. Allein Chinas Fünfjahresplan politische Früchte tragen kann. Nach einem Beratungsein- sieht sieben neue Reaktoren bis 2030 pro Jahr vor. Zudem satz einer lokalen NGO, unterstützt durch die FES, beschlos- planen Bangladesch, Indonesien, Malaysia und Thailand sen die Kommunistische Partei Vietnams und das Parlament, innerhalb der nächsten zehn bis 20 Jahre den Einstieg in die Pläne für einen „Atomeinstieg“ des Landes ad acta zu legen. Nuklearenergie. Für bereits in Vorbereitung befindliche Reaktorblöcke wurde Neben den bekannten ökologischen Problemen und hohen ein endgültiger Baustopp verfügt. Ausschlaggebend für diese Risikofaktoren – beispielsweise der Errichtung von Reakto- Entscheidungen war weniger die Gefahreneinschätzung, ren in Erdbebengebieten in Ägypten und der Türkei oder die sondern finanzielle Überlegungen. Bei einer Studienreise Planung eines AKWs an einem besonders taifungefährdeten nach Deutschland, aber auch durch die Beiträge von deut- Küstenabschnitt Vietnams – ergeben sich auch finanzielle schen, japanischen und südafrikanischen Expert_innen in und sicherheitspolitische Risiken. Viele Verantwortliche Vietnam, wurde den Verantwortlichen bewusst, dass Atom- rechnen schlichtweg nicht damit, dass selbst, wenn schwere strom keinesfalls billig ist, wenn der gesamte Lebenszyklus Unfälle ausbleiben, ein Atomeinstieg leicht zu einem GAU im eines AKW betrachtet wird. • Staatshaushalt führen kann. Vor allem die Kosten für die Wiederaufbereitung und Endlagerung nuklearer Abfälle Dr. Sonja Schirmbeck war bis Mai 2017 Regionalkoordina- sowie den Rückbau verstrahlter Reaktorblöcke werden nicht torin Klima und Energie, FES-Vietnam. einkalkuliert. Langfristige finanzielle Abhängigkeiten gegen- über anderen Staaten, die die Reaktoren errichten, werden Richard Probst ist Regionalkoordinator Klima und Energie, beiseitegewischt. FES-Jordanien.

Schwerpunkt 15 ENTWICKLUNGSPERSPEKTIVEN Wege aus der Abhängigkeit Wie Jordaniens Energiesystem verbessert werden kann Von Prof. Dr. Manfred Fischedick, Thomas Fink und Richard Probst

as Energiesystem in Jordanien ist mit erheblichen Herausforderung, die mit einer nachhaltigen Energieversor- Herausforderungen konfrontiert. Zum einen ver- gung verbundenen Chancen für die Industrie auszuschöpfen fügt das Land anders als zahlreiche Nachbarstaa- und so neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. ten kaum über fossile Energievorkommen und ist Zudem ist das zukünftige Energiesystem in Jordanien auch Dsomit zur Deckung der nationalen Nachfrage zu 97 Prozent auf eine Reduzierung des Ausstoßes von klimaschädlichen auf Importe angewiesen. Zum anderen haben die politischen Treibhausgasen auszulegen, um die in Paris bei der Klimakon- Umbrüche in der Region zu einer Verschärfung der sicheren ferenz 2015 gemachten nationalen Zusagen einzuhalten. Abdeckung der Energienachfrage geführt. Dazu zählen unter Dank hervorragender Bedingungen für die Nutzung der anderem mehrmalige Angriffe auf eine für die Gasversorgung Solar- und der Windenergie besteht im Land eine ideale Aus- Jordaniens zentrale Gaspipeline im ägyptischen Sinai sowie gangssituation zum Ausbau erneuerbarer Energien. Infolge- der hohe Flüchtlingszustrom aus Syrien und dem Irak. Allein dessen kommt der Steigerung des Anteils erneuerbarer Ener- heute leben neben den 6,5 Millionen Jordaniern bereits rund gien an der Stromerzeugung auch eine wesentliche Rolle in zwei Millionen Geflüchtete im Land. der 2007 entwickelten Energiestrategie des Landes zu. Dabei Jenseits dieser offenkundigen Herausforderungen gibt es verfolgt Jordanien die Zielsetzung, bis 2020 einen auf er­neu- im Land weitere Entwicklungstrends, die die Zunahme der erbaren Energien basierenden Stromerzeugungsanteil von Energienachfrage zukünftig nochmals verstärken. Bereits 20 Prozent zu erreichen und zusätzlich einen regenerativen heute leidet das Land an einer alarmierenden Wasserknapp- Anteil von zehn Prozent am gesamten Energiemix des Lan- heit. Die Notwendigkeit der Installation energieintensiver des. Die meisten der damit verbundenen Projekte befinden Anlagen zur Trinkwasserversorgung stellt das Land vor sich in der Entwicklung oder Umsetzung. große Herausforderungen. Die vorherrschende Sonnenscheindauer führt bereits All dies zwingt Jordanien zu einem raschen Aus- und heute mit zu den weltweit niedrigsten Stromgestehungs­ Umbau seines Energiesystems. Dabei sind verschiedene Ziele kosten in der Fotovoltaik. Zudem besitzt Jordanien seit miteinander in Einklang zu bringen. Einerseits hat das 2012 gesetzliche Rahmenbedingungen, die einen Ausbau zukünftige Energiesystem nicht nur zur Reduzierung der erneuerbarer Energien befördern. Abhängigkeit von Energieimporten beizutragen und dabei Neben den positiven Grundvoraussetzungen gibt es aller- zugleich die langfristige Wettbewerbsfähigkeit des Landes in dings auch Faktoren, die einen noch ambitionierteren Aus- Bezug auf Strompreise sicherzustellen. Anderseits besteht die bau erneuerbarer Energien hemmen.

16 info 02/2017 Trotz der konkurrenzfähigen Preise aus Solarstrom die Auswirkungen verschiedener energiepolitischer Ent- schrecken viele internationale und nationale Akteure vor wicklungspfade zu diskutieren. Im Mittelpunkt der Ver­ großen Investitionen in Jordanien zurück, da der Energie- anstaltungen stand, die häufig vernachlässigte soziale und sektor als korruptionsanfällig gilt. politische Dimension von Energiepolitik zu d­ iskutieren. • Zudem strebt das Land den Einstieg in die Atomkraft an, obwohl die heimische Industrie nicht über das Know-how für Errichtung und Betrieb kerntechnischer Anlagen verfügt. Die korrespondierenden Beschäftigungsimpulse aus einem möglichen Projekt sind als sehr gering einzuschätzen. Die mit dem Bau eines Kernkraftwerks verbundenen Konse­ quenzen für die nachhaltige Entwicklung des Energiesys- tems wurden in der Gesellschaft bislang nur sehr begrenzt in der notwendigen Breite diskutiert. Mit Blick auf eine nach- haltige Entwicklung des Energiesystems sind zukünftig eine umfassendere und ganzheitliche Bewertung und Gegenüber- stellung der unterschiedlichen Technologieoptionen erfor- derlich, auch um zukünftige Risiken sowie Ressourcen- und Infrastrukturengpässe zu vermeiden. Zur Stärkung des öffentlichen Diskurses über die Heraus- Prof. Dr. Manfred Fischedick ist Vizepräsident forderungen des Umbaus des Energiesystems veranstaltete des Wuppertal ­Instituts für Klima, Umwelt, Energie. die Friedrich-Ebert-Stiftung in Amman gemeinsam mit Thomas Fink ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie drei Forschungs­gruppe Zukünftige Energie- und Mobilitäts­ Fachkonferenzen, in denen Erfahrungen aus Europa, dem strukturen am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Mittleren Osten und Nordafrika eingebracht wurden. Energie. Die Veranstaltungen konnten zur Bildung einer wissen- schaftlich fundierten und unabhängigen Informationsbasis Richard Probst ist Regionalkoordinator Klima und Energie, beitragen. In den Veranstaltungen wurde damit begonnen, ­FES-Jordanien.

Schwerpunkt 17 PROGNOSE Auf dem Weg zu 100 Prozent Erneuerbare Energien im Globalen Süden Von Dr. Joachim Fünfgelt

ährend die Energiewende in Deutschland lich beschleunigt werden. Um die globale Erwärmung auf und Europa ins Stocken geraten ist, nimmt 1,5 Grad begrenzen zu können, müssen die jährlichen Inves- sie global immer mehr Fahrt auf. 2015 war in titionen in etwa verzehnfacht werden. Dafür bedarf es einer dieser Hinsicht ein Rekordjahr. Allein im umfassenden Reform der politischen und regulatorischen WStromsektor waren die Investitionen in Solar-, Wind- und Rahmenbedingungen. Beispielsweise sind die direkten Sub- Wasserkraft (etwa 265 Milliarden US-Dollar) doppelt so ventionen für fossile Energieträger weltweit immer noch hoch wie in neue Kohle- und Gaskraftwerke zusammen doppelt so hoch wie für erneuerbare Energien. Externe Kos- (130 Milliarden). Insbesondere Solar- und Windenergie wer- ten durch die Nutzung fossiler Energieträger sind meist den immer günstiger und können bereits heute in vielen nicht internalisiert und betragen etwa das Zehnfache aller Regionen fossile Energieträger preislich unterbieten. Diese Investitionen in erneuerbare Energien. Subventionen für Entwicklung zeigt sich auch auf dem Arbeitsmarkt: Über fossile Energien müssen also dringend abgebaut und externe acht Millionen Menschen arbeiten weltweit in der Erneuer- Kosten eingepreist werden. Deutschland als Ursprungsland barenbranche. Größtes Zugpferd beim Ausbau erneuerbarer der Energiewende müsste dabei den Weg weisen, entschlos- Energien ist inzwischen China, das rund 36 Prozent der glo- sen seine fossilen Subventionen abbauen und den Kohleaus- balen Investitionen auf sich vereint. Aber auch finanzschwä- stieg sozial gerecht gestalten. chere Länder wie Marokko, Jamaika, Honduras, Jordanien, Für Länder des Globalen Südens bieten erneuerbare Uruguay, Nicaragua, Mauretanien oder die Kapverden haben Energien enorme Entwicklungschancen. Weltweit hat noch im Jahr 2015 ein Prozent oder mehr ihrer Wirtschaftsleis- immer mehr als eine Milliarde Menschen keinen Zugang tung in den Ausbau erneuerbarer Energien investiert. zu Strom und knapp drei Milliarden haben keine modernen Für den Klimaschutz ist diese Entwicklung ein Hoff- Kochmöglichkeiten. Dabei ist der Zugang zu nachhaltiger nungsschimmer. Schließlich sind die Ziele des Pariser Kli- Energie ein Schlüssel zur Überwindung von Armut. Men- maabkommens nur mit 100 Prozent erneuerbarer Energien schen mit Zugang zu Energie haben bessere Bildungschan- bis 2050 erreichbar. Doch dafür muss deren Ausbau erheb- cen, sind mobiler, finden leichter Arbeit, haben durch Smart-

Metropolen und ihr Strom Woraus gewinnen Großstädte* dieser Welt ihren Strom? Anteile der Stromquellen in Prozent Regenerativ Nuklear Fossil k. A.**

1 Addis Abeba 13 Victoria

100% 100 6 4 7 9 2 10 5 8 2 Padua 12 Sydney 11 100 1 100

3 São Paulo 13 11 Mexico City 3 12 100 100

4 Zürich 5 Lissabon 6 Kopenhagen 7 Toronto 8 Rom 9 Paris 10 Los Angeles 5 16 10 27 73 37 60 37 60 53 38 38 75 27 9 5 5 53 3 9 58

* Auswahl aus 133 dokumentierten Städten; keine Daten für Deutschland verfügbar Quelle: Global Cities Report 2015 von CDP und AECOM, Stand 2015, rundungsbed. Differenz ** Nicht alle Städte haben 100 Prozent ihrer Stromquellen angegeben nach Globus 10560, © Leitwerk

18 info 02/2017 LÄNDERBERICHT Energiearmut in Mexiko Von Rigoberto Garcia Ochoa

phone und Computer Zugang zu Wissen und anderen as Phänomen Energiearmut liegt dann vor, wenn Per- Menschen und führen oft ein gesünderes Leben. Erneu- sonen an einem Mangel grundlegender Energie- erbare Energien eröffnen hierfür neue Möglichkeiten, dienstleistungen leiden, die zur Deckung der mensch- weil Sonne und Wind praktisch überall in Strom umge- lichen Grundbedürfnisse notwendig sind. In Mexiko wandelt werden können. Zugleich sind sie auch die ein- Dgewinnt Energiearmut als Forschungslinie und Thema öffentli- zigen Technologien, die es ermöglichen, perspektivisch cher Politik zunehmend an Bedeutung. allen Menschen auf der Erde Zugang zu Energie zu ver- Traditionellerweise war der Zugang zu elektrischer Ener- schaffen und gleichzeitig den Klimawandel einzu­ gie in Mexiko der meistgenutzte Indikator, um den Zusam- dämmen. menhang zwischen Energie und Armut zu untersuchen. Auf dem Parkett internationaler Klimaverhandlungen Wenngleich feststeht, dass der Zugang zu Energie eine not- haben Länder des Globalen Südens diese Chancen längst wendige Bedingung ist, um Energiedienstleistungen in erkannt. Während der Klimaverhandlungen in Marokko Anspruch nehmen zu können, ist dies bei Weitem nicht aus­ im November 2016 hat das Climate Vulnerable Forum reichend, damit Haushalte diese Dienstleistungen nutzen (CVF), das 49 der weltweit am stärksten vom Klimawan- können. Im Falle Mexikos beispielsweise haben rund 99 Pro- del betroffenen Länder vereint, ein Kommuniqué präsen- zent der Haushalte Zugang zu Elektrizität, dennoch benutzen tiert. Darin verpflichten sich die Mitgliedstaaten unter einige Holz oder Kohle zum Kochen oder besitzen ineffizi- anderem darauf, so schnell wie möglich und spätestens ente Haushaltsgeräte. 36,7 Prozent der Haushalte leiden bis 2050 auf 100 Prozent erneuerbare Energien umzustei- unter einer Form von Energiearmut. gen. Die CVF-Mitglieder sehen darin vor allem ökonomi- Energiearmut stellt also ein ernst zu nehmendes soziales sche Entwicklungschancen für mehr Jobs, bessere Bil- Problem dar, das die Lebensqualität von Millionen von Mexi- dung, universellen Energiezugang und ein effektives kanern beeinträchtigt. Um den Wohlstand, die Beschäfti- Gesundheitssystem. Und vor allem geben sie damit den gung und die Einkünfte der Mexi­kaner zu erhöhen, ist eine G-20-Staaten die Richtung vor, wie ambitionierte Klima- Politik der energietechnischen Transformation notwendig, schutzziele aussehen müssen. die eine intensive Nutzung erneuerbarer Energien und den Die ehrgeizigen Ziele im Globalen Süden und tech­ Einsatz von hocheffizienten Technologien anstößt. Eine sol- nische Innovationen im Erneuerbarensektor benötigen che Politik bringt ökonomische, soziale und umwelttechni- weiterhin politische, finanzielle und technische Unter­ sche Vorteile für die mexikanischen Haushalte, was in der stützung. Roadmaps, die den Weg hin zu „100 Prozent Folge zu einer wirklich nachhaltigen Entwicklung führt. erneuerbare Energien für alle“ konkretisieren und Min- So kann beispielsweise die Nutzung von erneuerbaren destausbauziele verbindlich festschreiben, müssen auf Energien und technisch effizienterer Ausrüstung die Ener- ­Länderebene partizipativ entwickelt werden. Das schafft giekosten der Haushalte senken. Auch Erkrankungen der Planungssicherheit und senkt Risiken für Investoren. Atemwege, die durch das Verbrennen von Holz und Kohle zur

Zusätzlich sind geeignete politische Rahmenbedingungen Lebensmittelzubereitung hervorgerufen werden, lassen sich notwendig. Diese sollten die gezielte Förderung dezentra- reduzieren. ler erneuerbarer Energien, die Einführung eines Preises für Da Energiearmut ökonomische, soziale und umwelttech- Kohlenstoffemissionen sowie den Abbau fossiler Subventi- nische Dimensionen umfasst, erscheint es sinnvoll, das onen beinhalten. Damit bieten sich ausreichend Möglich- Thema in die nationale Energie- und Klimapolitik Mexikos keiten, den Ausstieg aus fossilen Energien sozial gerecht zu mit messbaren und verifizierbaren Zielsetzungen zu integrie- gestalten. Länder wie Deutschland sollten diese Prozesse ren. Hierfür müssen Regierung und Zivilgesellschaft eng tatkräftig unterstützen. Denn gerade in schwierigen geo- zusammenarbeiten. • politischen Zeiten sind positive Beispiele und Vorreiter wie das Climate Vulnerable Forum wichtiger denn je. •

Rigoberto Garcia Ochoa ist ­Professor am Departamento de E­ studios Urba- nos y del Medio Ambiente El Colegio Dr. Joachim Fünfgelt ist Referent de la Frontera Norte (COLEF) und für Klima- und Energiepolitik bei langjähriger Projektpartner der FES Brot ­für die Welt. in Mexiko.

Schwerpunkt 19 THEMA

Flucht, Migration, Integration

Die Friedrich-Ebert-Stiftung setzt einen Schwerpunkt auf das Thema Flucht, Migration und Integration. Ziel sind eine inklusive Einwanderungs­ gesellschaft auf Basis der Grundwerte und Prinzipien der Demokratie und eine chancengleiche Teilhabe für alle Mitglieder der Gesellschaft. Dies ist für uns keine Utopie, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Im Herbst 2016 erschienen mehrere Gutachten zur Bildungsintegration, zur Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie ein internationaler Blick auf verschiedene Integrationspolitiken.

Das Themenportal »Flucht – Migration – Integration« informiert über sämtliche Veranstaltungen und Publikationen unter www.fes.de/fmi.

Am 6. und 7. März 2017 wurden alle Ergebnisse in einem großen Integrations­kongress in Berlin gebündelt: www.fes.de/de/angekommen

20 info 02/2017 KOMMISSIONSERGEBNISSE Miteinander in Vielfalt Ein Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft Von Aydan Özoğuz, Prof. Dr. Herbert Brücker und Farhad Dilmaghani

nsere Einstellung zur Einwanderung betrifft ist es umso wichtiger, dass Einwanderung aktiv gestaltet nicht weniger als das Selbstverständnis von Staat wird. Mittel dafür kann ein neues, verständliches Einwande- und Gesellschaft und die Rolle des Einzelnen rungsgesetz sein. Das Grundrecht auf Asyl kann und darf darin. Der Umgang mit Vielfalt und der Zugang aber nicht mit dieser Diskussion vermischt werden. Uzur Teilhabe sind Gradmesser für unsere Demokratie, für Lebensweisen haben sich über die Jahrzehnte weiterent- sozialen Frieden und Sicherheit. Eine von der Friedrich-­ wickelt Es gibt nicht die eine deutsche Identität – wie sollte Ebert-Stiftung eingesetzte überparteiliche Expert_innen- diese auch aussehen? Heute kann man Jahre oder Jahrzehnte kommission hat unter der Leitung der drei Autor_innen ein nach einer Einwanderung Deutsche oder Deutscher werden. Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft verfasst: „Mit­ Laut einer Studie der Humboldt-Universität zu Berlin sind einander in Vielfalt“. Dieses Leitbild nennt Grundpfeiler und das Sprechen der deutschen Sprache und die deutsche Staats- setzt Impulse für eine Gesellschaft, die offen ist und in der bürgerschaft als Kriterien des Deutschseins in unserer Gesell- Vielfalt gelebte Realität ist. schaft sehr viel wichtiger als deutsche Vorfahren. Vielfalt und gerechte Teilhabe sind die zentralen Werte Was aber führt zum Miteinander in Vielfalt? Die gemein- des Leitbilds. Wir brauchen ein gemeinsames Leitbild, hin- same Basis für das Zusammenleben ist die Akzeptanz des ter dem sich alle Menschen versammeln können, unabhängig Rechtsstaats als Fundament für soziale Gerechtigkeit und davon, welche demokratischen Überzeugungen sie haben, soziale Sicherheit. Das Grundgesetz und die darin veranker- woher sie kommen, woran sie glauben oder wie lange sie bei ten Grundrechte bilden hierfür die Grundlage. uns leben. Je mehr die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, Notwendig sind die Bereitschaft möglichst vieler, sich an umso wichtiger ist der Zusammenhalt bei uns daheim. Es der Demokratie zu beteiligen, und der Respekt gegenüber geht um ein gemeinsames Selbstverständnis in einem Land, dem anderen in seiner Andersartigkeit. Denn „gesellschaft­ das schon seit längerer Zeit um seine Identität ringt. Deutsch- licher Zusammenhalt in der Demokratie ist keine Tatsache land und seinen Nachbarn ging es schon immer am besten, und kein erreichbares Endziel, sondern ein politisch-sozialer wenn Identität nicht geschlossen oder völkisch verstanden Prozess“ (H.-G. Jaschke). Deshalb brauchen wir gleiche Teil- wurde. Gruppen von gerechter Teilhabe auszuschließen, hat habechancen für alle, das heißt, zentrale Desintegrations­ nie Gutes gebracht. mecha­nismen wie Arbeitslosigkeit, fehlender oder überteu- Migration ist seit jeher auch deutsche Realität und in erter Wohnraum, Perspektivlosigkeit und vor allen Dingen einer ökonomisch und digital immer enger vernetzten Welt die immer weiter aufgehende Schere zwischen Arm und wird es sie auch immer geben. Einwanderung ist nicht per se Reich müssen wir als strukturelle Integrationshemmnisse – Bedrohung, sondern birgt Potenzial – nicht zuletzt für den die jede und jeden betreffen können – bearbeiten. Arbeitsmarkt einer alternden und schrumpfenden Gesell- Darüber hinaus braucht es mehr Orte für Begegnung und schaft. Natürlich gibt es auch gesellschaftliche Konflikte, Konfliktlösung auf Augenhöhe. Da dies im Moment nicht wenn es um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit geht. Daher durchgehend der Fall ist, fordert die Kommission unter

Thema | F lucht, Migration, Integration 21 anderem die ­weitere interkulturelle Öffnung der Verwaltung, mehr Einwanderer in Parteien und Spitzenämtern, die struk- turelle Einbeziehung und Förderung von Migrantenorgani­ sationen und ein kommunales Wahlrecht für dauerhaft in Deutschland lebende Drittstaatsangehörige. Ein Bundespar­ tizipationsgesetz oder ein neues Staatsziel „Integration und Teilhabe“ im Grundgesetz könnten ebenfalls einen Beitrag leisten. Ja, es gibt im Moment viele Diskussionen und auch so manch einen Konflikt um Einwanderungsfragen. Wobei es häufig um Verteilungsfragen geht und manchmal schlicht um Rassismus. Die sich in den vergangenen Monaten aus- breitende Menschenfeindlichkeit in Diskussionen um Flücht- linge oder Integration ist nicht akzeptabel, denn sie wider- spricht den Grundrechten auf Asyl und Gleichbehandlung und verhindert konstruktive Lösungen. Adressat des Leitbilds sind alle in Deutschland lebenden Menschen. Das „Miteinander in Vielfalt“ braucht das Gespräch, manchmal auch den Streit, an dem sich viele ver- schiedene Akteure beteiligen können. Wir sind gespannt auf zahlreiche weitere Beiträge zu einer Leitbilddiskussion, von denen ein „Miteinander in Vielfalt“ lebt. •

Staatsministerin Aydan Özoğuz, MdB, ­Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration

Prof. Dr. Herbert Brücker, Humboldt-­ Universität zu Berlin, Universität ­Bamberg und Institut für Arbeitsmarkt- und B­ erufsforschung der B­ undes- ­agentur für Arbeit

Farhad Dilmaghani, Staats- sekretär a. D. und Vorsitzender von DeutschPlus e. V.

Miteinander in Vielfalt. Leitbild und Agenda der ­Einwanderungsgesellschaft. Ergebnisse einer Exper­ tenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung.

pp www.fes.de/de/themenportal-flucht-migration- integration/leitbild-miteinander-in-vielfalt

Die Kommission umfasste 38 Mitglieder aus Politik und Verwaltung, Verbänden und Gewerkschaft, ­Medien und Kultur, Zivilgesellschaft und Religions­ gemeinschaften. Eine vollständige Liste ist in der ­Publikation zu finden.

22 info 02/2017 #angekommen Der Integrationskongress

Rund 1000 Engagierte und Expert_innen aus Kommunen, Verbänden, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und Politik kamen vom 6. bis 7. März 2017 zu einem Integrationskongress zusammen, um über nahezu alle ­Facetten der Integration von Geflüchteten zu diskutieren.

eide Häuser der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin Zu den weiteren Elementen des Kongresses zählten meh- waren zwei Tage lang gefüllt mit motivierten Men- rere Studien und Gutachten aus der FES-Arbeit, die Ausstel- schen, die darüber nachdachten, mit welchen poli- lung »Menschen in Bewegung« sowie die gleichnamige Kurz- tischen und gesellschaftlichen Impulsen Integra- filmreihe verschiedener FES-Auslandsbüros. • Btion und Teilhabe in Deutschland gefördert werden können. Mehr als 100 Referent_innen lieferten Beiträge zum Kon- gress, darunter aus der Politik neben anderen die Bundes­ Kurzfilme zu Fluchtursachen und Migration integrationsbeauftragte Aydan Özog˘uz, MdB, Ministerprä­ pp www.fes.de/de/themenportal-flucht-migration- integration/mediathek sidentin Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz und SPD-Frak­ tionsvorsitzender . Internationale Gäste haben Erfahrungen unter anderem aus Griechenland, Die Ergebnisse des Kongresses unter Kanada, Polen und der EU eingebracht. pp www.fes.de/de/angekommen

Thema | F lucht, Migration, Integration 23 TAGUNGSBERICHT »Un/Möglichkeiten« Politische Teilhabe von Geflüchteten Von Felix Eikenberg

olitische Teilhabe ist mehr, als nur alle paar Jahre Zur Frage, wie Kommunen Möglichkeiten für wirksame wählen zu gehen. Politische Teilhabe drückt sich Teilhabe für alle ihre Bewohner_innen schaffen können, auch in der Mitgliedschaft in einer Partei, der Mit- merkte Klaus Dik Nielsen, Experte für Migration und Inklu- wirkung bei lokalen Bürgerinitiativen sowie der sion, an: „Geflüchtete sollten nicht in erster Linie als Hilfe- PBeteiligung an Protestaktionen oder Demonstrationen aus. empfänger gesehen werden, sondern als mündige Mitbür­ ­ Das Wahlrecht ist in Deutschland an die deutsche Staats- ger_innen. Daneben ist es wichtig, dass die Kommunen die bürgerschaft gebunden beziehungsweise auf kommunaler Arbeit der lokalen Migrant_innenorganisationen anerkennen. Ebene an die Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaats. Die Schließlich benötigen gerade diese Organisationen Unter- anderen Formen der politischen Teilhabe stehen dagegen stützung, etwa dadurch, dass sie besser in die Lage versetzt allen hier lebenden Menschen offen, also auch Geflüchteten. werden, Fördergelder zu beantragen und umzusetzen.“ • Auch sie haben die Möglichkeit, an der politischen Willens- bildung mitzuwirken, ihre Interessen zu artikulieren und die Gesellschaft mitzugestalten. Dazu bietet sich vor allem die lokale Ebene an. Die politische Teilhabe von Geflüchteten und Migran­- t_innen auf lokaler Ebene war daher eines der Themen auf der Fachtagung „Un/Möglichkeiten. Perspektiven auf die Teil- habe von Geflüchteten“. Sie wurde im März 2017 vom Forum Berlin der FES gemeinsam mit der W. Michael Blumen­ Felix Eikenberg koordiniert das Projekt „Flucht, Migration, thal Akademie des Jüdischen Museums Berlin organisiert. ­Integration“.

24 info 02/2017 REGIONALVERANSTALTUNG Menschen in Bewegung Fluchtursachen bekämpfen Von Dimitri Gvenetadze

uch wenn die Zahl der Flüchtlinge, die in Europa ankommen, in letzter Zeit stark gesunken ist, bedeutet dies nicht, dass die Fluchtursachen verschwunden sind. 65 Millionen Menschen, so ASchätzungen, sind derzeit auf der Flucht. Die Gründe, aus denen sich Menschen entschließen, ihre Heimatländer für eine unbestimmte Hoffnung auf ein besse- res Leben zu verlassen, sind unterschiedlich: staatliche Gewalt gegen Minderheiten, wirtschaftliche Not, Korruption und repressive politische Verhältnisse. Diese Fluchtursachen müssten bekämpft werden, um das Problem bei der Wurzel zu packen, so das Credo der Politik. Erfolge lassen auf sich warten. Doch sind die an­gewendeten Maßnahmen über- haupt mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer Podiumsdiskus- sion der FES im rheinland-pfälzischen Diez. Die SPD-Bundes- tagsabgeordnete Gabi Weber, der Geschäftsführer der Frie- densakademie Rheinland-Pfalz, Dr. Sascha Werthes, sowie Miguel Vicente, Beauftragter für Migration und Integration der Landesregierung Rheinland-Pfalz, beleuchteten die unterschiedlichen Ursachen von Flucht und diskutierten über Lösungen für die angespannte Lage. Restriktive Maßnahmen könnten auf Dauer keine Lösung sein, darüber herrschte Einigkeit bei den Diskutanten. Stattdes- sen sollte man sich, so Werthes, der Verantwortung Europas bewusst werden und dementsprechend handeln. Dazu gehöre eine Neugestaltung der Handelsverträge mit Afrika, da die bis- herige Handelspolitik lokalen Märkten keine Chance lasse. Im Rahmenprogramm der Diskussionsveranstaltung wurde die von der Friedrich-Ebert-Stiftung entwickelte Aus- stellung „Menschen in Bewegung – Warum Menschen ihr Land verlassen“ gezeigt, ebenso zwei Kurzfilme aus der gleichnamigen Reihe zu Fluchtursachen. •

INTERNATIONALE POLITIKANALYSE Fluchtursachen »Made in Europe«. Über europäische Politik und

Fluchtursachen »Made in Europe« ihren Zusammenhang mit Migration Über europäische Politik und ihren Zusammenhang mit Migration und Flucht und Flucht

FELIX BRAUNSDORF (HG.) November 2016 Hrsg. Felix Braundorf

n Wenn Europa seiner globalen Verantwortung gerecht werden will, muss es diese komplexen Zusammenhänge zwischen europäischer Politik und Migration bzw. Flucht verstehen. Das bildet die Grundvoraussetzung für Maßnahmen, die tatsächlich dazu beitragen können, die Zerstörung der Lebensgrundlage von Menschen zu http://library.fes.de/pdf-files/ verhindern. Dieser Verantwortung müssen sich die europäischen Staaten stellen. pp n Deshalb müssen Fluchtursachen »Made in Europe« konsequent angegangen werden. In einer zunehmend globalisierten Welt trägt Europa Mitverantwortung, etwa bei der Ausgestaltung von Handelsverträgen und der Einschränkung der Regulierungs- und Handlungsfähigkeiten von Staaten, der Sorgfaltspflicht für transnationale Konzerne, in Agrar- und Fischereipolitik, bei CO2-Emmissionen, militärischer Inter- iez/12983-20161207.pdf ventionspraxis oder europäischen Waffenexporten. Der vorliegende Band schärft dieses Verständnis und bietet Vorschläge für eine verantwortungsbewusste Politik der »Fluchtursachenbekämpfung«.

n Europa könnte damit maßgeblich zur Umsetzung der 2030-Agenda der Vereinten Nationen beitragen. Deren Nachhaltigkeitsziele betonen, dass alle Länder, auch reiche Industriestaaten, eine sozial, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltige Entwicklung Kurzfilme zu Fluchtursachen und Migration der Welt vorantreiben müssen, um kommenden Generationen ein erfülltes Leben zu ermöglichen – unabhängig davon, wo sie geboren werden. Denn Europa trägt nicht nur eine humanitäre Verantwortung gegenüber den Menschen, die hier Schutz suchen, sondern auch gegenüber den Menschen, deren Lebensgrundlage durch die pp www.fes.de/de/themenportal-flucht-migration-integration/ europäische Politik bedroht wird. mediathek

Dimitri Gvenetadze ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im FES-Büro Mainz.

Thema | F lucht, Migration, Integration 25 PROJEKTE

Drei Themen widmet sich die Friedrich-Ebert-Stiftung mit ihrem Projekt »Politik für Europa«: der wirtschaftlichen ­ und sozialen Krise, aufkommenden Zweifeln an der Demo­ kratie und außen- und sicherheitspolitischen Verwerfungen. Während die ersten beiden Herausforderungen die Sub­ stanz der politischen Integration beim Bürger infrage zu stellen drohen, könnte die äußere Bedrohung eher mehr Unterstützung für das europäische Projekt hervorbringen. Wir diskutieren progressive Politikvorschläge, die die Sorgen und Befürchtungen der Bürger_innen zur europäischen Integration aufnehmen, die europapolitische Rhetorik auf ihren Gehalt abklopfen und schließlich Anhaltspunkte für eine Europapolitik geben, die näher bei den Menschen ist.

Die FES identifiziert und formuliert in ihrem Projekt» Politik für Europa« alle Politikansätze und treibt so die Debatte über die Zukunft Europas voran.

26 info 02/2017 GASTBEITRAG Konkurrierende Erzählungen über die Zukunft Europas Von Prof. Dr. Emanuel Richter

as Weißbuch der Europäischen Kommission zur dynamik eingenistet haben. Sie verstehen diese Offenheit Zukunft Europas ist ein Novum in der Reihe der als einen politischen Gestaltungsauftrag, zu dem die Kom- Impulse, die aus der Kommission in Richtung der mission mit dem Weißbuch aufruft. Aus der Sicht des Euro- internen politischen und öffentlichen Debatte päischen Parlaments lenkt die Kommission mit dem Weiß- Düber die europäische Integration zu verzeichnen sind. Seit buch eher von den situationistischen und erratischen Stra­ Beginn der supranationalen Integration 1951 gab es ein tegien zur europäischen Krisenbewältigung ab, die von „Masternarrativ“ der EU-Dynamik, das von der Kommission ­führenden nationalen Regierungen betrieben werden und sorgsam gepflegt wurde: Die EU reguliert immer tiefer in die fernab von durchdachten Abwägungen supranationaler ehemaligen Domänen der Nationalstaaten hinein und ihr Handlungsoptionen angesiedelt sind. Die Wissenschaft Mitgliederkreis wird immer größer, sie führt zwingend zur schließlich registriert einen Pluralismus an Leitbildern, der Staatsähnlichkeit und bewegt sich auf die Finalität des euro- dem Integrationsgeschehen lange Zeit gefehlt hatte, sieht päischen Bundesstaats zu. Die Leitmotive hießen: immer aber nach wie vor keine demokratisch fundierte Gestal- dichter, immer größer, immer mächtiger und am Ende steht tungsfähigkeit, die der schwindenden öffentlichen Akzep- die Konvergenz auf allen Ebenen. tanz entgegenwirken könnte. Die analytische Betrachtung Bereits in den 1990er-Jahren zeichnete sich ab, dass diese der Zukunftsperspektiven durch die Wissenschaftler_innen funktionalistische Dynamik schnell brüchig werden kann. wirft jedenfalls Fragen auf, die in dem agilen Treiben des Insbesondere die – bei dem Brüsseler Treffen vielfach erör- Brüsseler Politikbetriebs und in seinem beflissenen Dienst terte – Verfehlung einer wirtschaftlichen, aber auch politi- an der supranationalen Sache unterzugehen drohen. Die schen und kulturellen Konvergenz der Mitgliedstaaten hat Politiker_innen klären wiederum nüchtern über das strate- die Störungen eines solchen eindimensionalen Integrations- gische Handeln von Funktionseliten auf, die mit der jeweili- verlaufs deutlich werden lassen. Das hat im Kreis der maß- gen Politikgestaltung erst einmal ihrer eigenen Wiederwahl geblichen Akteure Irritation und Ratlosigkeit hervorgerufen, zuarbeiten müssen. Die Gestaltungselemente für die Zukunft in der europäischen Öffentlichkeit aber auch Verzweiflung Europas stellen sich also je nach Professionsprofil als höchst und Abtrünnigkeit in die Betrachtung der Supranationalität vielschichtig dar. In dieses Gestrüpp von Sachzwängen, hineingebracht. Der „permissive consensus“ der Bürge- Interessenpolitik, Binnendynamiken und Rahmenbedin­ r_innen Europas, der bislang zur bereitwilligen Akzeptanz gungen der europäischen Integration zu blicken, erwies sich aller Integrationsschritte beigetragen hatte, solange der indi- jedenfalls für alle Seiten als überaus loh­nenswert. • viduelle Nutzen erkennbar blieb, ist deshalb aufgebrochen. Süd- und Osteuropäer schätzen den Nutzen der EU ganz anders ein als Nord- und Westeuropäer, populistische Bewe- gungen predigen gar die »Exit«-Option – und ein Mitglied- staat praktiziert sie schon. Hier trafen nun die verschiedenen Sichtweisen der Teil- nehmer_innen des Brüsseler Dialogs auf das Weißbuch auf- einander: Brüsseler Politikberater sehen das Weißbuch, zu Prof. Dr. Emanuel Richter lehrt Politische dem sie mit eigenen Anregungen beigetragen haben, als Wissenschaft an der RWTH Aachen lobenswertes Zugeständnis an die Existenz von alternativen und ­ist Mitglied des Auswahlausschus­ Verlaufsformen und Narrativen, die sich in der Integrations- ses der Studien­förderung in der FES.

PROJEKTE | POLITIK FÜR EUROPA 27 STUDIEN UND PROJEKTE Beunruhigende Ungleichheit Lohndumping und die Folgen in Europa Von Jörg Bergstermann

ie Bekleidungsindustrie steht für eine traurige ihrer Bevölkerung verloren. In den Aufnahmeländern hat europäische Realität: Das Zahlen sehr niedriger die Einwanderung oft nationalpopulistische Tendenzen Löhne ist weitverbreitet und für viele Beschäf- gestärkt.“ tigte insbesondere im östlichen Europa bleiben Die FES unterstützt Gewerkschaften und zivilgesell- Dsogar existenzsichernde Löhne ein ferner Wunschtraum. schaftliche Organisationen in einer Vielzahl von Ländern In der neuen FES-Analyse „Wer soll die Lücke schließen? und Projekten insbesondere in Mittelost- und Südosteuropa – Wirtschaft und Wohlstand in Mittelost- und Südosteuropa in der Debatte darum, was „faire“ und „gleiche“ Bezahlung und die Möglichkeiten der Gewerkschaften“ stellen Valeska ausmacht und wie erreicht werden kann, dass sich die Hesse und Daniel Reichart fest: „Die positive Trendwende in ­Lohn­entwicklung wieder stärker an der Produktivitäts­ der Wirtschaftsentwicklung bedeutet für viele Menschen entwicklung orientiert. keine Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen. Gleichwohl steht grundsätzlich die Frage im Raum, wie (…) Auf dem Westbalkan lebt rund ein Drittel aller Haushalte zukünftig in Europas Ländern faire Einkommen und soziale in Armut, mehr als doppelt so viel wie in der EU.“ Michael Gerechtigkeit vorangetrieben werden können, wenn in den Dauderstädt und Cem Keltek titeln in einer aktuellen meisten Ländern die Tarifbindung zurückgeht oder sogar FES-Studie eingängig, dass „Europas Ungleichheit: relativ gezielt zurückgetrieben wird. • stabil, absolut beunruhigend“ sei. Dabei weisen die Autoren nachdrücklich auf die politischen Folgen dieser Entwicklung hin: „Die wohl wichtigste Folge ist die hohe Auswanderung aus ärmeren EU-Mitgliedstaaten in reichere. (…) Länder wie Jörg Bergstermann ist Koordinator der Gewerkschafts­ Rumänien, Litauen und Lettland haben etwa zehn Prozent programme in Europa und Nordamerika.

28 info 02/2017 KOMMENTAR Viel Lärm um nichts? Vorschläge der Europäischen Kommission zur sozialen Dimension Von Dr. Dominika Biegon

ie Europäische Kommission hat mit den Ende LÄNDERSTUDIEN April veröffentlichten Vorschlägen zur sozialen Dimension der Europäischen Union eine längst EU-Reformprojekte über­fällige Debatte über die Neuausrichtung des Deuropäischen Integrationsprozesses angestoßen. Zentrales In einer breit angelegten Studie, die die Friedrich-­­ Ebert-Stiftung in Kooperation mit dem Institut für Dokument ist dabei die Empfehlung der Kommission zur ­europäische Politik anfertigt, wird untersucht, für Schaffung einer europäischen Säule sozialer Rechte, in der welche sozialen Leuchtturmprojekte es politische 20 Prinzipen festgeschrieben sind, die für die Bereiche Mehrheiten in der EU gibt. In 27 Länderstudien soll Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeits- eine Übersicht zu diversen EU-Reformprojekten er­ bedingungen sowie Sozialschutz und soziale Inklusion gel- stellt werden. Die Ergebnisse sollen im Oktober 2017 ten sollen. veröffentlicht werden. Sind das die richtigen Antworten auf die Vertrauenskrise der EU in der Bevölkerung und können die Vorschläge tat- sächlich zu einer Stärkung eines sozialen Europas beitragen? prozess und spielt damit den Ball zurück an die Mitglied­ Bei dem Vorschlag der Kommission handelt es sich um staaten. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die Kom- einen Prinzipienkatalog, der Leitlinien für zukünftige Geset- mission stattdessen konkrete soziale Leuchtturmprojekte zesinitiativen bieten soll. Diese Prinzipien leiten sich, laut definiert hätte, die für die Bürgerinnen und Bürger, un­mit- Kommission, aus dem bereits existierenden europäischen telbar ersichtlich, einen Mehrwert geschaffen und der Euro- und internationalen rechtlichen Besitzstand ab. Mit anderen päischen Union damit ein sozialeres Antlitz verliehen hätten. Worten: Es handelt sich lediglich um eine pointierte Zusam- Nun liegt es an den Mitgliedstaaten, die Vorschläge der menfassung bereits geltender Prinzipien. Welchen Mehrwert Kommission mit Leben zu füllen. In deren Papier zur sozia- hat also ein Dokument, in dem Prinzipien, die sich aus gelten- len Dimension ist der Weg, den die Staaten gehen könnten, dem Recht ergeben, einfach nur zusammengefasst werden? vorgezeichnet. Hier rät die Kommission: „Wer mehr im sozi- Es bleibt unklar, welche konkreten Maßnahmen daraus in alen Bereich tun will, tut mehr.“ Im Rahmen einer verstärk- Zukunft abgeleitet werden. ten Zusammenarbeit könnten sich einige Mitgliedstaaten, Die Auflistung der sozialen Fortschritte der Mitgliedstaa- beispielsweise die Euro­zonenländer, entscheiden, die sozi- ten, durch die die Umsetzung der vorgeschlagenen Prin­ ale Dimension zu ver­tiefen und gemeinsam Rechtsakte zu zipien regelmäßig überprüft werden soll, bleibt ähnlich vage. verabschieden, die für die Länder dieser Gruppe verbindlich Im gemeinsamen Beschäftigungsbericht sind schon seit eini- sind. Konkret könnte diese soziale Avantgarde Mindeststan- gen Jahren soziale und beschäftigungspolitische Schlüssel­ dards der sozialen Grundsicherung festlegen, eine europäi- indikatoren enthalten, aus denen sich die zum Teil beunruhi- sche Koordinierung der Mindestlohnpolitik vorantreiben gende soziale Schieflage in der EU ablesen lässt. Die Ergeb- sowie die europäische Strukturförderung durch einen neuen nisse des gemeinsamen Beschäftigungsberichts haben aber Fonds ausbauen, der auf öffentliche Investitionen ausgerich- bislang in den länderspezifischen Empfehlungen im Ver- tet ist und konjunk­turelle Impulse setzen kann. • gleich zu fiskalpolitischen Reformvorschlägen und wett­ bewerbsorientierten Strukturreformen nur eine untergeord- nete Rolle gespielt. Ein umfassendes soziales Monitoring kann nur ein erster Schritt sein. Vielmehr wäre eine verbind- liche Regelung notwendig, mit der sichergestellt wird, dass die Ergebnisse diverser sozialer Monitoringprozesse auch tatsächlich zu einer sozial ausgewogeneren europäischen Wirtschaftspolitik beitragen. Die Kommission versteht die europäische Säule sozialer Dr. Dominika Biegon ist Referentin für europäische Rechte als einen Auftakt für einen breiteren Diskussions­ Wirtschafts- und Sozialpolitik.

PROJEKTE | POLITIK FÜR EUROPA 29 POSITIONSBESTIMMUNG Koordination statt Dominanz Die europäische Ostpolitik Deutschlands Von Peer Teschendorf

as dominante Deutschland kommt zurück – so mit dem „Blick der Anderen“, wie die deutsche Ostpolitik in die Sorge nach der Wiedervereinigung der bei- elf Staaten, sowohl innerhalb der EU als auch außerhalb, den Staatsteile im Jahr 1990. Die zum Teil als bewertet wird. Reaktion auf diese Sorgen, zum Teil aufgrund Trotz sehr unterschiedlicher Positionen, gerade, was den Ddes eigenen Selbstverständnisses begründete außenpoliti- Umgang mit Russland angeht, herrscht doch eine große Über- sche Zurückhaltung führte dann aber zu einer ganz anderen einstimmung in der Einschätzung der Rolle Deutschlands. Kritik. Das wirtschaftlich stärkste Land sollte sich mehr an Deutlich wird, dass das Engagement Deutschlands durchaus den internationalen Bemühungen zur Beilegung von Krisen, geschätzt wird und die wirtschaftliche wie politische Macht Konflikten und auch Kriegen beteiligen. als Vorteil im Konflikt mit Russland gesehen wird. 2011 brachte der damalige polnische Außenminister Erwartet wird die Übernahme einer koordinierenden Radoslav Sikorski die veränderten Erwartungen der Partner und integrierenden Rolle, an deren Ende eine gemeinsame Deutschlands in einer Rede in Berlin mit dem Satz „Ich außenpolitische Position der EU-Staaten steht. Zugunsten fürchte deutsche Macht weniger als seine Untätigkeit“ auf einer solchen gemeinsamen Position sind die Partner in der den Punkt. Der Aussage folgte allerdings auch die Präzi­ EU bereit, ihre eigenen Positionen zurückzustellen. Aller- sierung: Deutschland müsse bei Reformen führen, aber nicht dings nur, wenn die eigene Position gehört und ernst genom- dominieren. men wird sowie Erfahrungen auch abgefragt werden. Part- Erwartet wird also ein Balanceakt, dessen Schwierigkeit ner außerhalb der EU würden eine so herbeigeführte Einig- sich gerade in der Rolle Deutschlands in der europäischen keit der Europäer begrüßen. • Ostpolitik zeigt. In der durch den Krieg in der Ukraine ver- schärften Konfrontation mit Russland handelt Deutschland in herausgehobener Position. Seit Beginn der Proteste auf dem Kiewer Maidan 2014 sind die deutschen Außenminister kontinuierlich um Vermittlung bemüht. Wird dieses Enga­ gement aber von den anderen Staaten in Europa auch befür- Peer Teschendorf ist Referent für Russland, Belarus und wortet oder nur geduldet? Eine aktuelle Publikation schaut die Ukraine.

30 info 02/2017 EXPERTENTREFFEN Kleine Etappen gesucht Europäische Verteidigung im Schlepptau des deutsch-französischen Motors? Von Sidonie Wetzig und Dr. Uwe Optenhögel

Politisch scheinen beide Länder in die gleiche Richtung zu streben: mehr Europa in der Verteidigung. Ein gegensei­tiges Grundvertrauen gewähr- leistet eine wichtige Voraussetzung dafür. Zwischen politischen Beteue­ rungen und vereinzelten Berührungs- punkten wie der als eher symbolisch betrachteten deutsch-französischen Bri­ gade fehlen substanzielle Ansätze für eine Zusammenarbeit, die Ausgangs- punkt einer weiteren europäischen Kooperation sein könnten. Ausschlaggebend dafür ist die Tatsa- che, dass Deutschland und Frankreich eopolitische Kräfteverschiebungen, multiple unterschiedliche strategische Ausrichtungen mitbringen. Bedrohungen im Inneren, der angekündigte Beide Länder müssen weitere Anstrengungen unternehmen, ­Brexit und die neue Unberechenbarkeit des um prinzipiell Gewünschtes auch praktisch umzusetzen. wichtigsten Verbündeten USA konfrontieren die Beschworen wurde von allen Sprecher_innen die „Stän- GEuropäische Union mit der Frage, wie sie ihre Gemeinsame dige Strukturierte Zusammenarbeit“, die schon im Vertrag Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiterentwi- von Lissabon vorgesehen ist. Jetzt müssen konkrete Projekte ckeln will, um als globaler Akteur zu bestehen. einer solchen Politik angestoßen werden. Mit diesem Ansatz Reicht der schnell und unerwartet entstandene Druck können sich einzelne Mitgliedstaaten zusammenschließen, aus, um nach Jahren der Stagnation zu einer verbesserten die eine stärkere Zusammenarbeit wünschen, ohne auf Kooperation und Arbeitsteilung zu kommen und Schritte in zögerlichere Mitglieder warten zu müssen. Gleichzeitig wäre Richtung einer Verteidigungsunion zu tun? Werden die Mit- diese Kooperation stark an die EU-Institutionen gekoppelt. gliedstaaten über ihre nationalen Schatten springen und So würden Transparenz und Koordination mit anderen gemeinsam mit den Brüsseler Institutionen Europas stra­ Feldern der EU-Außenpolitik in einem Europa der unter- tegische Autonomie stärken, wie es in der neuen Globalen schiedlichen Geschwindigkeiten nicht auf der Strecke blei- Strategie der Union postuliert wird? Und wie kann diese ben. Statt über das Fernziel einer europäischen Armee zu Autonomie komplementär zur NATO aussehen? philosophieren, wurden Elemente für die Kooperation in die Zusammen mit dem französischen Thinktank IRSEM Diskussion gebracht, die kleinere Etappen für eine konkrete (Institut de Recherche Stratégique de l'École Militaire) und Zusammenarbeit ermöglichen. • dem Brüsseler Thinktank Friends of Europe lud die Fried- rich-Ebert-Stiftung im März französische und deutsche Expert_innen ein, um einen Blick auf die Rolle zu richten, die Frankreich und Deutschland in diesem Prozess spielen können. Kann der deutsch-französische Motor auch einen Dr. Uwe Optenhögel leitet das Europa-Büro der FES Fortschritt in der GSVP bedeuten? Kann er die bestehende in Brüssel. Kooperation zwischen Frankreich und Großbritannien ergänzen? Sidonie Wetzig ist Referentin im Europa-Büro.

PROJEKTE | POLITIK FÜR EUROPA 31 BESTANDSAUFNAHME Grenzüberschreitende Merkmale Populismus in Europa Von Freya Grünhagen

ie beauftragen gezielt Meinungsforschungsinstitute, diese Entwicklung. Vor allem jedoch sahen sie zum anderen um die politische Agenda proaktiv setzen zu können eine enge Verbindung mit drei elementaren Krisen europäi- (ungarische Regierungspartei Fidesz); sie arbeiten eng scher Demokratien: Krisen der Verteilung, der Identität und mit einem Radiosender (Radio Maria) zusammen, der demokratischen Repräsentation. Sum ihren Diskurs in gängige konservativ-katholizistische Die Expertendebatte widmete sich vor allem der Frage, Weltbilder einzubinden (polnische Regierungspartei PiS); welche Handlungsspielräume demokratische Parteien in und manchmal veröffentlichen sie auch ihr Wahlprogramm Europa nutzen können, um dem Zuwachs populistischer Ent- schlichtweg im Format von IKEA-Katalogen (spanische Oppo- wicklungen effektiv zu begegnen. sitionspartei Podemos): Populistische Bewegungen sind fast Da Populismus gezielt Ängste schürt, Gesellschaften spal- überall in Europa auf dem Vormarsch und als Regierungs- tet und mit Hassbotschaften arbeitet, kann er nicht als ein und Oppositionsparteien oder auch als Bewegungen auf der legitimer Ausdruck von Widerstand betrachtet werden. Straße halten sie das demokratische Europa in Atem. Demokratische Parteien sollten ihm dementsprechend klar Neu sind dabei die schnelle Entwicklung dieser Bewegun- entgegentreten: zum Beispiel, indem sie Hassbotschaften mit gen, ihr hoher transnationaler Vernetzungsgrad, der große einer klaren Haltung kontern, eigene, positive Botschaften Raum, den sie in der Politik- und Medienlandschaft – ein- entwickeln und nicht zuletzt auch den Anspruch dieser schließlich der sozialen Medien – bereits einnehmen, und Bewegungen widerlegen, eine Politik für abgehängte Bevöl- nicht zuletzt der hohe Zulauf, den sie zum Teil erfahren. kerungsgruppen anzubieten. Wesentlich dabei ist nach Maß- Warum aber verfangen ihre Kritik am „Establishment“ und gabe der Expert_innen in jedem Fall, nicht in den Anhän- ihr Anspruch, als einzig wahre Vertreter des Volkes für „die ger_innen populistischer Bewegungen das Problem zu sehen, Verlierer“ einzustehen, bei so vielen Menschen so sehr, dass sondern in ihrer Politik: „Go for the ball, not for the man“, diese bereit sind, ihnen nahezu alles zu glauben – und, mehr wie es der dänische Experte plakativ formulierte. • noch, zu verzeihen? In der extrem effizienten Öffentlichkeits- und Vernet- zungsarbeit populistischer Bewegungen sahen bei einem Workshop Anfang März 2017 in Berlin Expert_innen aus elf Freya Grünhagen ist Referentin im Referat Westeuropa/ Ländern in Nord-, Süd-, West- und Osteuropa die Ursache für Nordamerika.

32 info 02/2017 ANALYSE Hochburgen des Linkspopulismus Südeuropas politischer Wandel Von Gero Maas

eit der Finanz- und Eurokrise und nochmals ver- und die Aus- und Rückwirkungen auf die Sozialdemokratie stärkt durch die Migrationskrise geht eine Populis- unterschiedlich dar. muswelle durch Europa. Während der Norden eher Für die griechische Sozialdemokratie ist der Ausgang im Zeichen des Rechtspopulismus steht, schossen bereits bekannt: Sie wurde durch die griechische Syriza mar- Sim Süden linke soziale Bewegungen aus dem Boden. Die ginalisiert. Syriza schaffte es, nicht nur die Sozialdemokra- Bandbreite des Populismus ist auch im Süden weit – so die ten, sondern auch die Konservativen aus der Regierungsver- Erkenntnis eines gemeinsamen Workshops der FES mit dem antwortung zu drängen. spanischen Onlinemagazin „Agenda Pública“ in Madrid. Dass die Sozialdemokratie nicht immer in einem Rivali- Zunächst ging es um die linke und rechte Variante des tätsverhältnis mit dem Linkspopulismus stehen muss, bewie- Populismus: Der Rechtspopulismus einerseits positioniert sen dagegen die Parteien in Portugal. Dort bildeten alle drei sich gegen eine liberale Wertewelt, spielt mit der Angst der Parteien links der Mitte unter Führung des Sozialdemokra- Bürgerinnen und Bürger und grenzt Migrantinnen und ten António Costa eine Koalition, indem unüberbrückbare Migranten aus. Der Linkspopulismus richtet sich jedoch ideologische Differenzen ausgeklammert wurden und man gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die ganz sich auf Gemeinsamkeiten und kurz- bis mittelfristig anste- im Sinne des verstorbenen argentinischen Vordenkers des hende Fragen konzentrierte. So konnte die konservative Linkspopulismus – Ernesto Lacau – gegen die Interessen des Regierung abgelöst werden – für die portugiesischen Sozial- Volkes stünden. Im Gegensatz zum Rechtspopulismus wer- demokraten eine erfolgreiche strategische Entscheidung: Sie den die Migrantinnen und Migranten bewusst nicht ausge- legten in den Meinungsumfragen zu. schlossen, vielmehr wird mit den politischen und ökonomi- Auch in Spanien bot sich nach den Wahlen vom Dezember schen Kräften des globalisierten Neoliberalismus ein anderer 2015 und nochmals nach den Neuwahlen im Juni 2016 die Gegner definiert. Hier positioniert sich der Linkspopulismus Option einer linken Mehrheit zwischen Podemos, der PSOE klar ideologisch und versucht, für eine sozial gerechtere Welt und der neuen liberalen Bürgerpartei (Ciudadanos). Jedoch zu kämpfen. Dies steht im Gegensatz zum ausgrenzenden erschwert die traditionell eher konfrontative politische Kultur Rechtspopulismus, der mit seinen xenophobischen Strate- des Parteiensystems Kooperation, parlamentarische Duldung gien die Macht der weißen Eliten erhalten möchte. oder gar Koalition. Letztlich entschlossen sich die Sozialdemo- In den vier südeuropäischen EU-Mitgliedsländern Por­ kraten, die konservative Minderheitsregierung zu unterstüt- tugal, Spanien, Italien und Griechenland stellt sich die Sze- zen – parteiintern eine sehr umstrittene Entscheidung, die mit nerie mit Blick auf die Herausbildung des Linkspopulismus dem Rücktritt des gesamten Vorstands und später des Vorsit- zenden endete. Der innerparteiliche Lagerkampf blieb nicht ohne Auswirkungen. In den jüngsten Meinungsumfragen überholte Podemos die Sozial­demokraten. DISKUSSION Seit ihrer Gründung 2014 war die linkspopulistische Pode- Europa der zwei Geschwindig­keiten mos national wie in den Regionalparlamenten im Schnell- durchlauf zur dritten politischen Kraft geworden. Trotz ihrer Unzufriedenheit und Populismus machen sich in den EU-Mit­ erfolgreichen Etablierung in der institutionellen Parteienland- gliedstaaten breit, der Brexit hat einen nachhaltigen Schock schaft sieht sie sich immer noch als außen­parlamentarische hinterlassen. Die EU muss sich erneuern, doch welche Refor­ Bewegung. Andererseits versteht sie sich jedoch auch als neuer men sind nötig, um die Bürger_innen ins „Haus Europa“ zu­ „wahrer Sachverwalter“ der sozialen Demokratie. rückzuholen? Wie geht es weiter im Verhältnis zwischen Sozial­demokratie Mit dieser Frage beschäftigt sich die FES auch abseits der Me ­ tropolen. Neben Vertreter_innen aus Politik und Wissen ­ und linkem Populismus? Darauf zu vertrauen, dass die neuen schaft war Anfang April auch die dama­lige SPD-Generalse­ Bewegungen mit der Überwindung der wirtschaftlichen Krise kretärin, Dr. Katharina Barley, nach Trier gekommen, um wieder von der politischen Bühne verschwinden werden, über „Europa im Umbruch“ zu diskutieren. wäre zu kurz gedacht. Sie sind zu einem Teil der Parteien- Fazit der Runde im Grenzland: Damit Europa nicht an bü­ landschaft geworden. Gefragt ist ein konstruktiver Dialog, rokratischem Übergewicht erkrankt und letztlich bewe­ um inhaltliche wie strategische Gemeinsamkeiten auf Zeit gungsunfähig wird, brauche es eine differenzierte Integrati­ on: ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Man müsse den auszuloten, wenn man einer mehr­heitsfähigen Alternative einzelnen Staaten die Möglichkeit geben, die europäische zu den Mitte-­Rechts-Parteien den Weg ebnen will. • Integration in dem Tempo durchzuführen, das sie für ange­ messen halten. Gero Maas leitet das FES-Büro in Madrid.

PROJEKTE | POLITIK FÜR EUROPA 33 Notizen

++ „Die Hassindustrie – Antisemitismus und Rassis- mus im letzten Jahrhundert“, so lautete der Titel einer Konferenz, die anlässlich des Internationalen Tages gegen Rassismus von der FES-Israel in Koopera- tion mit dem Massuah Institut am 21. März veranstal- tet wurde. Als Hauptredner trat der Präsident des Rechnungshofes und Bürgerbeauftragte Joseph Haim Shapira auf. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde außerdem ein neuer Flügel des Massuah-Museums, der eine Ausstellung zur „Hassindustrie“ beherbergt, offiziell eröffnet. ++

++ Unter dem Titel „Schreiben über Rechts“ bietet das Projekt „Gegen Rechtsextremismus“ seit 2012 regel­ mäßig Fortbildungsseminare für Journalistinnen und Journalisten an. Wie sollten Medien über Rechtsextremismus und Rassis- mus berichten, ohne den Rechten damit zugleich eine Bühne zu bieten? Und was bedeuten die neuen Heraus- forderungen durch erstarkenden Rechtspopulismus, grassierende Fake News und Medienbashing für den Journalismus? In den Seminaren reflektieren Journalistinnen und Journalisten aller Mediengattungen aus ganz Deutsch- land ihre Arbeit, tauschen Erfahrungen und Recherche- tipps aus, überprüfen Interviewstrategien und diskutie- ren mit erfahrenen Fachjournalist_innen über aktuelle Tendenzen in der rechten Szene. Auf diese Weise ist über die Jahre ein aktives Netzwerk entstanden. ++

++ So wie Auschwitz ein Synonym für die Schoah ist, so steht Paul Celans „Todesfuge“ symbolhaft für die dichterische Verarbeitung dieses Grauens. Am Vorabend des diesjährigen Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialis- mus lud das Projekt „Gegen Rechtsextremis- mus“ der Friedrich-Ebert-Stiftung zu einem Paul-Celan-Abend ein. Arrangiert als ein Dialog durch die Zeit, verband die konzertante Lesung Gedichte Paul Celans und Auszüge des „Herz- zeit“-Briefwechsels mit Ingeborg Bachmann (gelesen von Britta Shulamit Jakobi und Hanno Dinger) mit musikalischen Interpretationen sei- ner Texte durch den Trompeter Nate Wooley und das New Yorker MIVOS-Quartett. ++

34 info 02/2017 ++ Die Global Labour University wurde als Netzwerk von Gewerkschaften, Universi­ ++ Für seine exzellente täten und der Internationalen Arbeitsorga- Jugendarbeit erhielt das nisation gegründet, um gemeinsam hoch- FES-Büro in Benin zum wertige Qualifizierungsprogramme zu ent- zweiten Mal in Folge wickeln. Unterstützt von der FES werden einen „Oscar“. Der Preis Masterstudiengänge in fünf Ländern ange- wird durch die Organisa- boten, u. a. zu nachhaltiger Entwicklung, tion „Conseil Consultative internationalen Arbeitsnormen und multi- de la Jeunesse“ vergeben. nationalen Unternehmen. Ausgezeichnet wird das Seit 2015 finden „Massive Open Online 2014 gestartete Nach- Courses“ statt, um netzbasiert den Qualifi- wuchsförderprogramm zierungsbedarf von Gewerkschafter_innen „Jeunes Leaders du und arbeitsrechtlichen Aktivist_innen der Bénin“, das jährlich 25 Teilnehmer_innen ausbildet. Es geht Zivilgesellschaft auch jenseits klassischer dabei um die inhaltliche Vermittlung unterschiedlicher The- Masterprogramme zu bedienen. menfelder, persönliche Entwicklungsmöglichkeiten sowie Mit virtuellen und aufwendig animierten strategische Schulungen. Das Programm stützt sich auf die Vorlesungen, umfangreichem Begleitmate- Ergebnisse einer nationalen Befragung zur Situation und zu rial, Interviews mit lokalen Fallbeispielen den politischen Perspektiven der Jugend in Benin. Es steht und der Möglichkeit des Austauschs in Chats exemplarisch für eine Reihe von Jugendprogrammen, die die und Foren wurden seit 2015 mehr als 10.000 FES in ganz Afrika durchführt. ++ Menschen rund um den Globus erreicht. ++

++ In Prag wurde Ende Februar der siebte Jahrgang der Akademie der Sozialen Demokratie vom tschechi- schen Außenminister Lubomír Zaorálek eröffnet. In sechs Wochen- endseminaren werden jungen tsche- chischen und slowakischen Teilneh- mer_innen die Grundwerte der Sozi- alen Demokratie vermittelt sowie ++ Vor vier Jahren kamen beim Einsturz der Rana-Plaza- Kompetenztrainings durchgeführt. Bekleidungs­fabrik in Bangladesch über 1100 Menschen ums Leben. Der slowakische Premierminister Der Jahrestag dieser vermeidbaren Tragödie ruft die Verantwor- Robert Fico diskutierte mit den Teil- tung der Sozialpartner bei der Ausgestaltung der Arbeitsbedin- nehmer_innen Ende März über euro- gungen in allen Industriezweigen des Landes in Erinnerung. papolitische Fragen. ++ Im Bemühen um eine umfassende Vertretung der Arbeitnehmer­ interessen wurde die „Academy of Work“ ins Leben gerufen. Dieses Gemeinschaftsprojekt, an dem neben dem Gewerkschaftsthinktank Bangladesh Institute of Labour Studies und der BRAC University auch die FES ++ Im Rahmen seines Staatsbesuchs in beteiligt ist, soll Gewerkschafterinnen und Gewerkschaf- Deutschland Anfang Februar 2017 traf der uru- ter in einem dreimonatigen Trainingsprogramm intensiv guayische Präsident Tabaré Vázquez auf be­son- mit den Themen „industrielle Beziehungen“, „Sozial- deren Wunsch mit dem Vorstand der FES und partnerschaft“ sowie „Handel und Globalisierung“ ver- weiteren Politiker_innen in kleinem Kreise traut machen. zusammen. An der offiziellen Eröffnung der „Academy of Work“ Der Präsident dankte für das wertvolle und nahmen am 20. April in Dhaka u. a. der stellvertretende langjährige Engagement der Stiftung bei so Vorsitzende der FES und ehemalige Vorsitzende von wichtigen Themen wie Arbeitsmarkt- und Sozi- Internationalem Gewerkschaftsbund und DGB, Michael alpolitik sowie Inklusion und Jugendförderung. Sommer, sowie der Minister für Arbeit und Beschäftigung Die FES fungiere als Dialogplattform des Ver- von Bangladesch, Mujibul Haque, teil. ++ trauens zwischen verschiedenen gesellschafts- politischen Akteuren. ++

Notizen 35 ++ Als einzige der deutschen politischen Stif- tungen hat die Friedrich-Ebert-Stiftung in Kigali, der Hauptstadt von Ruanda, eine eigene Ver- tretung eingerichtet. Eröffnet wurde das Büro am 17. Februar 2017 vom Vorsitzenden der FES, Ministerpräsident a. D. Kurt Beck. In seiner Festrede würdigte er die beeindruckenden ­Leistungen des Landes seit dem Genozid 1994, betonte aber auch die Bedeutung von sozialer Gerechtigkeit und von breiter politischer Parti- zipation für die weitere Entwicklung Ruandas. Die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft zum Thema soziale Sicherheit sowie die Stärkung der ­Bürgerbeteiligung stellen Schwerpunkte der Arbeit des neuen FES-Büros in Ruanda dar. ++

++ Was bewegt die israelische Jugend? Eine Jugendstudie zu dieser Frage haben die FES und das MACRO Center for Political Economics im April in Israel vorgestellt. Die Studie stellt die demo- grafische Entwicklung der israelischen Bevöl- kerung dar und befragt jüdische und arabi- - sche Jugendliche zu ihren Zukunfts­ ++ Fabriken ohne Menschen und denkende Autos – perspektiven sowie politischen und gesell- das sind Visionen, die vor dem Hintergrund der rasen schaftlichen Einstellungen. Bemerkenswert den Innovationsgeschwindigkeit schon längst nicht ist, dass junge Israelis immer mehr zur politi- mehr undenkbar sind. Mit der Technik verändern sich schen Rechten tendieren. Auffällig ist auch, aber nicht nur Produktionsprozesse, sondern auch das dass arabische Jugendliche zunehmend opti- gesellschaftliche Miteinander. Obwohl die sozial- und mistisch in die Zukunft blicken, wohingegen arbeitspolitischen Folgen der sogenannten vierten jüdische Jugendliche pessimistischer einge- industriellen Revolution schwer abzuschätzen sind, stellt sind als in der Vergangenheit. Gleichzei- - müssen schon jetzt entscheidende Weichenstellungen tig zeichnet sich ein wachsender Vertrauens- für die nächsten 20 Jahre vorgenommen werden. Wel verlust gegenüber staatlichen Institutionen ab. che das sein sollen, dieser Frage widmeten sich bei Sämtliche Ergebnisse der Studie: ­ ­ der Münchener Podiumsdiskussion „Wenn Roboter - www.fes.org.il. ++ Steuern zahlen“ Prof. Dr. Sabine Jeschke, der Landtags abgeordnete Harald Güller und der Hauptgeschäfts führer der Vereinigung++ der bayerischen Wirtschaft, Bertram Brossardt.

++ Der Weinbau spielt in Rheinland-Pfalz eine sehr wichtige Rolle – mit steigender Tendenz. Nach wie vor ist es ist mit Abstand das größte Erzeu- gerland in Deutschland. Gleichzeitig ist der Weinbau mit der Tourismus­ förderung auf regionaler Ebene verbunden. Zusätzlich findet auch ein ­Generationswechsel statt, der zu dynamischen Veränderungen beiträgt. „Innovation und Zukunft – im Weinbau gut aufgestellt“ war daher der Titel des weinbaupolitischen Seminars, das vom FES-Regionalbüro Mainz in Schloss Waldthausen veranstaltet wurde. Rund 120 Gäste aus den Bereichen Weinwirtschaft und Politik sowie ein interessiertes Fachpublikum nahmen an der ganztägigen Veranstaltung teil. Die rheinland-pfälzische Minister- präsidentin Malu Dreyer, Landtagspräsident Hendrik Hering, die deutsche Weinkönigin Lena Endesfelder sowie der FES-Vorsitzende Kurt Beck nahmen an dem Seminar teil. ++

36 info 02/2017 Leseempfehlungen

FORUM BERLIN NETZWERK BILDUNG INTERNATIONALE POLITIKANALYSE

Gewerkschaften Umgang mit INTERNATIONALE POLITIKANALYSE Die Schatten­ und Rechtsextre- Hetero­genität wirtschaft Die schattenwirtschaft überwinden mismus in Europa Umgang mit in Schule überwinden Heterogenität

Richard Stöss Joseph e. stiglitz, Mark pieth in Schule und Unterricht Januar 2017 Joseph E. Stiglitz, Richard Stöss und Unterricht n Weltweit wächst der Konsens darüber, dass Steueroasen – Jurisdiktionen, die globa- le Standards zur unternehmerischen und finanziellen Transparenz unterlaufen – ein globales Problem darstellen: Sie ermöglichen Geldwäsche sowie Steuervermeidung GEWERKSCHAFTEN UND und Steuerhinterziehung und begünstigen damit Kriminalität und eine unannehm- RECHTSEXTREMISMUS bar hohe Ungleichheit bei der Verteilung des globalen Wohlstands. Mark Pieth n Als führende Wirtschaftsakteure sind die Vereinigten Staaten und Europa in der Miriam Vock Miriam Vock Pflicht, Finanzplätze zur Einhaltung globaler Transparenzstandards zu zwingen. Dass IN EUROPA sie hierzu über die erforderlichen Instrumente verfügen, zeigte sich eindrucksvoll und Anna Gronostaj bei der Bekämpfung des Terrorismus. Dass sie gegen Korruption sowie Steuerver- meidung und -hinterziehung nicht entsprechend vorgehen, zeigt die Macht jener Interessengruppen, die von der Geheimhaltung profitieren.

n Wo es in der globalisierten Welt Schlupflöcher gibt, werden Gelder durch diese Schlupf- und Anna Gronostaj löcher fließen. Daher bedarf es eines globalen Systems der Transparenz. Die USA und die EU sind der Schlüssel dafür, dass sich die Waagschale zur Transparenz hin neigt, aber das kann nur ein Anfang sein: Jeder Staat muss seine Rolle als Teil der Weltgemeinschaft übernehmen, um der Schattenwirtschaft ein Ende zu machen; und besonders wichtig ist es hierbei, dass aus den heutigen Steueroasen Führungspersönlichkeiten hervorge- FES hen, die zeigen, dass es Alternativmodelle für Wachstum und Entwicklung gibt. GEGEN n Staaten sollten sich proaktiv positionieren – nicht nur gegenwärtige Mindeststan- RECHTS dards erfüllen, sondern ihr wirtschaftliches Entwicklungsmodell am neuesten Stand EXTREMISMUS der Entwicklung dieser Standards ausrichten. Jedes Land muss sorgfältig abwägen, Forum Berlin ob es in einem nie endenden Wettlauf versuchen soll, mit der Fortentwicklung inter- nationaler Standards Schritt zu halten, oder als Vorbild dienen und selbst Standards setzen möchte, denen nachzueifern schließlich andere sich genötigt sehen.

WISO-DISKURS WISO-DIREKT INTERNATIONALE POLITIKANALYSE

INTERNATIONALE POLITIKANALYSE René Bormann, Tilman Bracher, Bert Leerkamp, Ulrich Hatzfeld, Helmut Holzapfel, Ulrike Reutter, Einwanderung Oliver Schwedes und Martin Stuber Mobilität 2050 – Der Blick der Anderen neu gestalten – demokratisch, nachhaltig Deutsche Ostpolitik DISKURS 4 / 2017 DIREKT MOBILITÄT 2050 – Der Blick der Anderen demokratisch, nachhaltig und digital vernetzt transparent, attrak- und digital vernetzt Deutsche Ostpolitik aus Sicht der Partner aus Sicht der Partner

zugleich gute Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung AUF EINEN BLICK der Beschäftigten: Wettbewerbsfähigkeit muss mit „Guter Zwar ist zurzeit vieles in Bewegung beim Thema Arbeit“ statt mit einem Wettlauf zur Kostensenkung verknüpft Mobilität – Ambitionen für dringend notwendige ver- werden. Zweitens beenden Qualitätsstandards den Missstand, kehrspolitische Neuorientierungen sind aber nicht dass intermodale Wettbewerbsverzerrungen fast immer zulasten tiv, einfach erkennbar. Doch klar ist auch: Wenn es um die Zukunft solcher Verkehrsträger gehen, die für eine gute Daseinsvorsorge MATTHIAS JOBELIUS UND PEER TESCHENDORF (HRSG.) Matthias Jobelius der Mobilität in Deutschland geht, reicht es nicht aus, und hohe Umweltverträglichkeit stehen. April 2017 mehr Investitionen zu fordern und technologische oder Die Beschlüsse der G7 und des UN-Klimagipfels von Paris systemische Innovationen zu fördern. Der nachfolgende René Bormann, erfordern eine Dekarbonisierung des Verkehrs bis 2050. Bereits Text stellt Eckpunkte einer längst überfälligen Verkehrs- 2030 muss das CO2-Äquivalent im Verkehr nach dem „Klimaschutz- wende zur Diskussion. Er konzentriert sich dabei auf plan 2050“ der Bundesregierung von 160 Millionen Tonnen n Nach anfänglicher Sorge vor einem Wiedererstarken Deutschlands nach der Wieder- „lange Entwicklungslinien“ und anstehende Richtungs- (2014) auf 98 Millionen Tonnen (2030) sinken. Auch hier ist eine vereinigung wuchsen mit der Zeit die Erwartungen an Deutschland, sich außenpoli- Uwe Hunger entscheidungen. gestaltende Verkehrspolitik gefordert. tisch gemäß seinem wirtschaftlichen und politischen Gewicht einzusetzen. und Peer Teschendorf Kulturwandel im Verkehrsverhalten stärken n In der Ukraine-Krise war zu beobachten, dass Deutschland diese neue Rolle zuneh- 05/2017 Moderne Mobilitätspolitik muss auch den beginnenden Kultur- mend akzeptiert. Zugleich zeigt sich in den Bewertungen der deutschen Ostpolitik Soziale Kontakte zu pflegen oder an Kulturveranstaltungen wandel im Verkehrsverhalten stärken. Ein Perspektivwechsel Tilman Bracher, seitens der Partner aber deutlich, was mit den Erwartungen an ein stärkeres deut- teilzunehmen sind menschliche Grundbedürfnisse. Öffentliche deutet sich an, der Lebensqualität nicht mehr mit „Freiheit durch Uwe Hunger und Sascha Krannich sches Engagement verbunden wird. Einrichtungen sowie Arbeitsplätze müssen mit begrenztem Geschwindigkeit“ verbindet. Im Mittelpunkt stehen dabei die Aufwand erreichbar sein. Die Wirtschaft ist auf zuverlässigen Neubewertung der aktiven Mobilität (zu Fuß oder per Fahrrad) n Die Heterogenität der Erwartungen, Interessen und Sorgen – insbesondere in Bezug EINWANDERUNG NEU GESTALTEN – und effizienten Warentransport angewiesen. Mobilität ist also und die Entlastung von negativen Effekten des Verkehrs wie Lärm, elementar für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Um Abgase und Unfälle. Ein betont funktionaler Blick auf Mobilitäts- auf Russland und die Krim-Annexion –, erschweren eine gemeinsame Politik der EU. TRANSPARENT, ATTRAKTIV, EINFACH und Sascha Krannich dies zu garantieren, ist eine gestaltende Mobilitätspolitik angebote könnte auch rational geprägten Diskursen über Strate- Deutschlands Haltung gegenüber Russland wird zwar von vielen als zu zurückhal- (HRSG.) erforderlich. gien der Verkehrsverlagerung oder -vermeidung den Weg bereiten. tend angesehen, dennoch wird eine koordinierende Rolle Berlins in der EU-Ostpolitik Bert Leerkamp, akzeptiert. Mobilität sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig gestalten n Der Wunsch nach einer stärkeren Rolle Deutschlands ist folglich nicht als Auffor- Mobilität muss dabei dauerhaft so gestaltet werden, dass Umwelt derung zu Führung oder gar Dominanz zu verstehen. Vielmehr wird erhofft, dass und Klima weniger belastet werden, der Ressourcenverbrauch Deutschland die Koordination und Integration der Partner innerhalb der EU ermög- sinkt und Mobilität für alle Menschen verfügbar und bezahlbar licht. bleibt – unabhängig von Herkunft, körperlicher Konstitution, Alter und Geschlecht, mit oder ohne Kinder. Zur Teilhabe- gerechtigkeit gehört auch die Barrierefreiheit von Mobilitäts- Ulrich Hatzfeld, angeboten. > Die europäische Verkehrspolitik der Binnenmarktöffnung war und ist in erster Linie an ökonomischen Kriterien orientiert; soziale und ökologische Ziele hatten nur nachrangige Bedeutung. Faire Wettbewerbsbedingungen auf Basis von Qualitätsstandards versprechen hingegen doppelt Gewinn. Erstens gewährleisten sie wirtschaftlichen Erfolg für die Unternehmen und garantieren Helmut Holzapfel, Ulrike Reutter, Oliver Schwedes und Martin Stuber

MEDIENPOLITIK AKADEMIE MANAGEMENT UND POLITIK INTERNATIONALE POLITIKANALYSE

#wortgewalt(ig) Politik und INTERNATIONALE POLITIKANALYSE Bekämpfung

#wortgewalt(ig) Leser_innen- und Nutzer_innen-Kommentare Leser_innen- Akademie Management und Politik Glaub­würdigkeit der Kapitalflucht in Medienöffentlichkeiten Bekämpfung der Kapitalflucht aus Afrika Politik und „Zeit„zu„handeln und Nutzer_innen-­ Glaubwürdigkeit So können Parteien aus Afrika So können Parteien und LÉONCE NDIKUMANA politische Akteure das Vertrauen April„2017 der Bürger_innen zurückgewinnen! Katrin Matuschek und Valerie Lange „„ „Kapitalflucht„aus„Afrika„ist„keine„neue„Erscheinung;.„Schätzungen„zufolge„hat„der„ Kommentare und politische Akteure Erdteil„seit„den„1970ern„über„eine„Billion„US-Dollar„durch„Kapitalflucht„verloren.„Das„ Zeit zu handeln übersteigt„bei„weitem„die„Summe,„die„der„Kontinent„im„selben„Zeitraum„in„Form„of- fizieller„Entwicklungshilfe„erhalten„oder„sich„geliehen„hat.

„„ Wäre„dieses„Kapital„im„Lande„verblieben„und„investiert„worden,„wären„die„Länder„ Afrikas„ihrem„Ziel,„die„Armut„um„bis„zu„2,5„Prozent„schneller„zu„reduzieren,„rascher„ nähergekommen.„Sie„wären„zweifellos„in„einer„besseren„Ausgangslage„für„das„Er- reichen„der„Nachhaltigen„Entwicklungsziele„(Sustainable Development Goals,„SDG).„ in Medienöffentlich- das Vertrauen „„ „Ein„Schlüsselmechanismus„bei„der„Kapitalflucht„ist„die„Über-„bzw.„Unterfakturierung„ beim„Güterhandel„(Trade Misinvoicing),„insbesondere„auf„dem„Rohstoffsektor,„einer„ Branche,„die„von„multinationalen„Konzernen„(multinational corporations,„MNC)„be- Léonce Ndikumana herrscht„wird.„Begünstigt„wird„diese„Praxis„durch„eine„mangelhafte„Durchsetzung„ geltender„Regelungen,„undurchsichtige„Handelsstatistiken„sowie„die„Möglichkeiten„ multinationaler„Gesellschaften,„sich„ihre„komplexen„Strukturen„zunutze„zu„machen„ und„Gewinne„durch„Falschangaben„beim„Handelsverkehr„sowie„steuerliche„Arbitra- gen„zu„verschieben. keiten der Bürger_innen „„ „Die„Bekämpfung„der„Kapitalflucht„bedarf„gemeinsamer„und„koordinierter„Anstren- gungen„der„afrikanischen„Staaten„und„ihrer„ausländischen„Partner,„um„die„Transpa- Vertrauen renz„im„internationalen„Handels-„und„Finanzverkehr„zu„erhöhen, „den„Grundsatz„der„ Rechenschaftspflicht„im„internationalen„Anleihe-„und„Kreditwesen„zu„stärken„und„ ein„scharfes„Vorgehen„gegen„Steuerhinterziehung„und„Geldwäsche„im„Güterhandel„ é zu„ermöglichen.„Der„weltweite„Dialog„zur„Entwicklungsfinanzierung„muss„sich„weg„ von„einer„Erhöhung„der„Hilfen„für„Afrika„dahin„bewegen,„den„illegalen„Export„afri- kanischen„Kapitals„zu„verhindern.„Ein„produktiveres„Modell„für„eine„weltweite„Part- nerschaft„mit„Afrika„hilft„dem„Erdteil„dabei,„mehr„eigene„Ressourcen„zu„erschließen„ Andreas Vogel Misstrauen zurückgewinnen! und„das„Kapital„im„Lande„zu„halten. ZU EINER GLAUBWÜRDIGEN POLITIK Katrin Matuschek und Valerie Lange

POLITIK FÜR EUROPA #2017PLUS SOZIALE DEMOKRATIE #2017PLUS

EU-Flüchtlings­ Das neue politik „Magische Viereck“ in der Krise Zur Neu-Vermessung des Wohlstands Blockaden, in Deutschland (2009 – 2015) Entscheidungen, Sebastian Dullien

Petra Bendel Sebastian Dullien EU-FLÜCHTLINGSPOLITIK Das neue „Magische Viereck“ IN DER KRISE Lösungen Zur Neu-Vermessung des Wohlstands Blockaden, Entscheidungen, in Deutschland (2009 – 2015) Lösungen

gute gesellschaft – politik für europa soziale demokratie # 2017 plus Petra Bendel # 2017 plus

www.fes.de/de/publikationen Hier finden Sie sämtliche aktuelle Publikationen der FES Wie hält es Europas Linke mit der Migration?

»Ein wichtiger Beitrag zu einer zentralen gesellschaftlichen Debatte unserer Zeit.«

Hubertus Heil SPD-Generalsekretär

Michael Bröning / Christoph P. Mohr (Hg.) Flucht, Migration und die Linke in Europa

400 Seiten Broschur 26,00 Euro ISBN 978-3-8012-0506-5

Wie hält es Europas Linke mit der Migration? Welche Antworten bieten progressive Parteien auf aktu- elle Herausforderungen? Welche Schwierigkeiten sehen sie? Welche Rolle spielen Flucht, Migration und Integration für Wählerinnen und Wähler? Was heißt das für politische Parteien und Bewegungen? Darüber schreiben Aydan Özoguz, Wolfgang Merkel, Ahmad Mansour, David Goodhart, Sheila Mysorekar und viele andere mehr.

Flucht und Migration gelten spätestens seit der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 als wahlentscheidende Themen. Wie diskutiert die linke Mitte Europas über migrationspolitische Herausforderungen? Welche Rolle spielen parteitaktische Überlegungen? Welche die Moral? Was sind die Positionen und welche Trends zeichnen sich ab? Der vorliegende Band versammelt zwölf europäische Fallstudien und bietet eine ebenso kontroverse wie realistische Bestandsaufnahme der aktuellen Debatte.

Verlag J. H. W. Dietz Nachf. – www.dietz-verlag.de

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